Das Heuerverhältnis unter dem Seearbeitsgesetz: Das Arbeitsverhältnis auf See, seine Geschichte und seine Besonderheiten im internationalen Kontext [1 ed.] 9783428581344, 9783428181346

»The Seafarer’s Employment Relationship under the German Maritime Labour Act – Labour at Sea, its History and its Partic

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Das Heuerverhältnis unter dem Seearbeitsgesetz: Das Arbeitsverhältnis auf See, seine Geschichte und seine Besonderheiten im internationalen Kontext [1 ed.]
 9783428581344, 9783428181346

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Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 364

Das Heuerverhältnis unter dem Seearbeitsgesetz Das Arbeitsverhältnis auf See, seine Geschichte und seine Besonderheiten im internationalen Kontext

Von

Friedrich Goecke

Duncker & Humblot · Berlin

FRIEDRICH GOECKE

Das Heuerverhältnis unter dem Seearbeitsgesetz

Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Jacobs, Hamburg Prof. Dr. Rüdiger Krause, Göttingen Prof. Dr. Sebastian Krebber, Freiburg Prof. Dr. Thomas Lobinger, Heidelberg Prof. Dr. Markus Stoffels, Heidelberg Prof. Dr. Raimund Waltermann, Bonn

Band 364

Das Heuerverhältnis unter dem Seearbeitsgesetz Das Arbeitsverhältnis auf See, seine Geschichte und seine Besonderheiten im internationalen Kontext

Von

Friedrich Goecke

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 978-3-428-18134-6 (Print) ISBN 978-3-428-58134-4 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2020 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 23. Juni 2020 statt. Rechtsprechung und Literatur wurden bis November 2019 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard). Herr Professor Thüsing hat mir nicht nur die Erstellung dieser Arbeit ermöglicht und sie begleitet. Er hat darüber hinaus bereits im Studium meine Begeisterung für das Arbeitsrecht geweckt, die mir bis heute berufliche Erfüllung bringt. Ich danke Herrn Prof. Dr. Raimund Waltermann für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und für die Empfehlung der Arbeit zur Aufnahme in diese Schriftenreihe. Herrn Prof. Dr. Philipp Reuß danke ich für die rasche Terminierung und die reibungslose Durchführung der Disputation. Wertvolle inhaltliche Anregungen für diese Arbeit habe ich von Herrn Christian Bubenzer vom Referat ISM / ILO der BG Verkehr und von Herrn Prof. Dr. Robert Peetz erhalten. Von unschätzbarem Wert waren auch die eindrücklichen Alltagserfahrungen an Bord, die Herr Joannis Joisten als erfahrener Seefahrer mit mir geteilt hat. Herrn Rechtsanwalt Jürgen Siemers von der Kanzlei CMS Hasche Sigle danke ich für zwei Jahre lehrreicher Zusammenarbeit in der seearbeitsrechtlichen Beratung. Mit meinen Freunden Dr. Jan-Hendrik Seifer und Dr. Oliver Hofmann habe ich Freud und Leid eines Promotionsstudenten geteilt, sie waren eine wichtige persönliche Bereicherung in diesem spannenden Lebensabschnitt. Der größte Dank gilt meiner Familie. Meine Frau, Dr. Ricarda Braun, hat diese Arbeit nicht nur geduldig Korrektur gelesen – sie war in jeder Phase des Projekts mein bedingungsloser Rückhalt. Meinen Schwestern, Dr. Theresa Goecke und Dr. Charlotte Pannhausen, danke ich für die Liebe und Herzenswärme, mit der sie mich durch Studium und Promotion begleitet habe. Meine Eltern, Prof. Dr. Oskar Goecke und Mechtild Goecke, haben diese Arbeit gleich mehrfach sorgfältig gelesen und korrigiert. Sie waren mir – in der Promotion wie in den anderen Stationen meines Lebens – eine unerschöpfliche Quelle an Kraft, Großzügigkeit und Zuneigung. Ihnen ist diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Düsseldorf, im Februar 2021

Friedrich Goecke

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 A. Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 § 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 B. Anfänge der Seeschifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 C. Römische Kaiserzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 D. Oströmisches Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 E. Mittelalter: Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 I. Schiffsbetrieb des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 II. Seerechtsquellen des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 III. Heuerverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2. Die „reinste Form der Genossenschaft“ in Amalfi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Die übrigen italienischen Handelsstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Besonderheiten des nordeuropäischen Rechtskreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 IV. Personenrechtliches Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Kein staatlicher Einfluss im nordeuropäischen Rechtskreis bis zum 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2. Autorität des Schiffsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 F. 14. bis 16. Jahrhundert: Beginn der abhängigen Beschäftigung auf See . . . . . . . . 45 I. Schiffsbetrieb ab Ende des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Frachtverträge und Seedarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Wachsender staatlicher Einfluss auf die Seefahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Hervorgehobene Rolle des Schiffers im nordeuropäischen Rechtskreis . . . 47 II. Seerechtsquellen ab Ende des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

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Inhaltsverzeichnis III. Heuerverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Beginn einer abhängigen Beschäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Grundsatz: „Die Fracht ist die Mutter der Gage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. „Recht der Führung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 4. Entwicklung der Fürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 5. Kündigung des Heuervertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 6. Pflichten des Schiffsmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 IV. Personenrechtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 G. 17. bis 19. Jahrhundert: Erosion genossenschaftlicher Elemente und Ende der Segelschifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Schiffsbetrieb des 17. bis 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 II. Heuerverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Rückgang genossenschaftlicher Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2. Monatliche Heuerzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Verbreitung des staatlichen Einflusses auf das Heuerverhältnis . . . . . . . . . . 62 a) Der Wasserschout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Schutzmechanismen vor Vertragsbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 III. Personenrechtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Schwindende Bedeutung des Schiffsrats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2. Höhepunkt und Ende der umfassenden Disziplinargewalt . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 H. Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert: Dampfschifffahrt und Verelendung des Seearbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 I. Schiffsbetrieb Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . 66 1. Aufkommen von Dampfschifffahrt und Großreederei . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2. Verändertes Berufsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Beginn der Organisation der Seeleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Erste einheitliche Gesetzgebung im deutschen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 II. Heuerverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Heuerverhältnisse auf unbestimmte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Erste Arbeitszeitregelung in der preußischen Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . 70 3. Weiterer Rückgang genossenschaftlicher Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4. Arbeits- und Lebensverhältnisse an Bord bis 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 5. Schutzgesetze von 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Seemannsordnung von 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 b) Gesetzgebung gegen den Missbrauch durch Heuerbaasen . . . . . . . . . . . . 74 6. Vordringen der Tarifverträge ab Anfang des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 75 7. Weitere Verbesserungen in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

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III. Personenrechtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 I. Seemannsgesetz von 1957: Angleichung an das Landarbeitsverhältnis . . . . . . . . . 79 I. Schiffsbetrieb seit den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Ausbau der Handelsflotte nach dem 2. Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Internationale Regulierung der Arbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 II. Neureglung durch das Seemannsgesetz von 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Heuerzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 3. Heuerfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4. Urlaubs- und Landgangsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 5. Kündigungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 6. Arbeitsschutz und Arbeitszeitschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 7. Weitere Abwertung der Rolle des Kapitäns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 III. Personenrechtliche Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 J. Seit den 1960er Jahren: Ausflaggung und Internationales Seeschifffahrtsregister 87 I. Trend zur Ausflaggung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 II. Zweitregister in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 III. Auswirkungen des Zweitregisters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 K. Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 § 3 Die Maritime Labour Convention (MLC) 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 B. Zustandekommen des Übereinkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I. Entscheidung für eine Neukodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Nachprüfung geltender Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Auswirkungen der Strukturänderungen in der Seeschifffahrt . . . . . . . . . . . . 97 II. Von der Idee zur Ratifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 C. Struktur und Inhalt der MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 I. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 II. Regelungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Titel 1: Mindestanforderungen an Seeleute für die Arbeit auf einem Schiff 104 2. Titel 2: Beschäftigungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Titel 3: Unterkünfte, Freizeiteinrichtungen und Verpflegung . . . . . . . . . . . 107

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Inhaltsverzeichnis 4. Titel 4: Gesundheitsschutz, Medizinische Betreuung, Soziale Betreuung und soziale Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5. Titel 5: Erfüllung und Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 a) Verantwortlichkeit des Flaggenstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 b) Verantwortlichkeit des Hafenstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 c) Verantwortlichkeit des Vermittlerstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 III. Besondere Strukturmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Konsolidierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Aktualisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Flexibilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 a) Programmsatz: Unflexibel in den Rechten – Flexibel in der Umsetzung 116 b) Im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 IV. EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 D. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

§ 4 Das Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I. MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Kauffahrteischiff, das die Bundesflagge führt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Besatzungsmitglied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 b) Keine Besatzungsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Insbesondere: Nicht zum Schiffsbetrieb gehörende Personen . . . . . . . . . 133 aa) Zeitlich begrenzter Aufenthalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Bestimmung der Begrenzungszeiträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 cc) Keine Besatzungsmitglieder trotz unbegrenzten Bordaufenthalts . . . 137 d) Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4. Rechtswahl, Internationales Seeschifffahrtsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 a) Bedeutung von § 1 SeeArbG und Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO . . . . . . . . . . . 140 b) Objektives Heuervertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 c) Inhalt und Bedeutung von § 21 Abs. 4 Flaggenrechtsgesetz . . . . . . . . . . 143 aa) Wortlaut der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 bb) Zentrale Aussagen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 cc) Behandlung durch das Bundesarbeitsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 dd) Fortgeltung dieser Grundsätz auch unter der Rom I-VO . . . . . . . . . 147 ee) Eingriffsnormen i. S. d. Art. 9 Rom I-VO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

Inhaltsverzeichnis

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ff) Tarifverträge auf ISR-Schiffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 d) Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 B. Reederbegriff und Reederhaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 I. MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3. Reederhaftung nach § 4 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Verwendung des Reederbegriffs im 3. Abschnitt des SeeArbG . . . . . . . 157 c) Rechtsverhältnis zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer . . . . . . . . . . 159 aa) Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 bb) Vergleich mit der Arbeitnehmerüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 cc) Automome Bestimmung des Rechtsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . 161 d) Reihenfolge der Verantwortlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 e) Haftung des Reeders für Zahlungsverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 C. Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I. Einleitung, MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Vorvertragliche Übermittlungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Inhalte des Heuervertrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Angaben zu Reeder und Arbeitgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Angaben zum Schiff der Dienstleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 c) Angaben zur Dauer des Heuerverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4. Informationspflichten nach § 29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 D. Dienst- und Folgeleistungspflichten, Heuerzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 II. Dienstleistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 1. Dienstleistungspflicht des § 32 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2. Pflichten zur Gefahrenabwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Anwesenheitspflicht, Landgangsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4. Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 III. Anordnungsbefugnis und Folgeleistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Anordnungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Zwangsweise Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

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Inhaltsverzeichnis 3. Folgeleistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 IV. Heuerzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2. Arten der Heuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Modalitäten der Heuerzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 V. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 E. Arbeits- und Ruhezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 I. Einleitung, MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Höchstarbeitszeit oder Mindestruhezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Normalarbeitszeit i. S. d. Norm A2.3 Abs. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Regelarbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 a) Abgrenzung zur Höchstarbeitszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Hafen- und Seearbeitszeit nach §§ 43, 44 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 c) Regelarbeitszeit des Servicepersonals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 aa) Bedeutung der Regelarbeitszeit für das Servicepersonal . . . . . . . . . 199 bb) Lage der Regelarbeitszeit; Sonn- und Feiertagsarbeit . . . . . . . . . . . . 201 d) Regelmäßige Arbeitszeit auf Zwei-Wachen-Schiffen . . . . . . . . . . . . . . . 202 3. Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4. Ruhepausen und Ruhezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 5. Arbeitszeit in besondere Ausnahmefällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 a) Arbeitszeitverlängerung in Gefahrensituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 b) Arbeitszeitverlängerung in sonstigen dringenden Fällen . . . . . . . . . . . . . 209 6. Vergütung für Mehr- und Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit . . . . . 210 a) Vorgaben des Seearbeitsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 b) Tarifliche Pauschalierung von Überstunden und SFN-Arbeit . . . . . . . . . 211 7. Tarifvertragliche Abweichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Tariföffnungsklausel des § 49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 b) Insbesondere § 49 Abs. 1 Nr. 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 aa) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 bb) Öffnung der Regelarbeitszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 cc) Öffnung der Mindestruhezeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 dd) Einschränkung der Tariföffnung des § 49 Abs. 4 . . . . . . . . . . . . . . . 216 ee) Zwischenergebnis zur Tariföffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Offshore-Arbeitszeitverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1. Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Inhaltsverzeichnis

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2. Offshore-Arbeitszeitverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 a) Arbeitszeitregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Einzelprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 aa) Begriff der „Offshore-Tätigkeiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 bb) Räumliche Geltung bereits im Hafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 cc) Inseln als Ort der Ausgleichszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 dd) Rechtliche Einordnung von Transportzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 IV. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 F. Urlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 I. MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 2. Anwendung der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Überblick über die Urlaubsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4. Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Mindesturlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 b) Keine Wartezeit und sofortige Fälligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 c) Festlegung des Urlaubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Zusammenhängende Gewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 bb) Urlaubsort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 cc) Umfang des Wahlrechts und Kostentragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 d) Gesetzliche Verlängerung statt Abgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 e) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 G. Heimschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 I. MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Heimschaffungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3. Modalitäten der Heimschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 H. Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 II. Seearbeitsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Ordentliche Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 a) Verhaltensbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 aa) Sozialer Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252

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Inhaltsverzeichnis bb) Schiffssicherheit und Erfolg der Schiffsunternehmung . . . . . . . . . . . 255 cc) Dienstzeit und Bordfreizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 b) Personenbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 aa) Eignungsmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 bb) Krankheitsbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 cc) Mangelnde Umsetzungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 c) Betriebsbedingte Kündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 aa) Allgemeine Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 bb) Kündigung bei Ausflaggung oder Aufgabe der Reederstellung . . . . 264 2. Außerordentliche Kündigung durch den Reeder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 3. Außerordentliche Kündigung durch das Besatzungsmitglied . . . . . . . . . . . . 269 a) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 b) Rechtliche Einordnung der Regelbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 c) Pflichtverletzung des Kapitäns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 d) Besondere Kündigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 4. Weitere kündigungsrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 a) Kündigungsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Kündigungs- und Klagefristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 I. Kontrolle und Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 I. Einleitung und Einordnung der Kontrollinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 II. Beschwerdeverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Grundsätzliche Bedeutung des Beschwerdeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 2. Beschwerdeverfahren an Bord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 3. Beschwerdeverfahren im Hafenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 III. Kontrolle durch den Flaggenstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 2. Ablauf der Flaggenstaatkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3. Ausstellung der Schiffszertifikate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 a) Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 b) Seearbeitszeugnis und Seearbeits-Konformitätserklärung . . . . . . . . . . . . 285 4. Prüfungsintervalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 5. Verlust der Gültigkeit der Schiffszertifikate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 IV. Kontrolle durch die Hafenstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 1. Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 2. Hafenstaatkontrolle durch die MLC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 a) Aufgabe und Rechtsquellen der Hafenstaatkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . 290 b) Prüfungsmaßstab der Hafenstaatkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 c) Überprüfungsintervalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Inhaltsverzeichnis

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d) Ablauf der Überprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 e) Problem: Anscheinsbeweis und Erstüberprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 aa) Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 V. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 § 5 Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

§ 1 Einleitung A. Einführung in die Thematik „Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön, denn da kann man fremde Länder und noch manches and’re sehn. Hola-hi, hola-ho […].“ Zitiert nach einem alten Seemannslied, ca. 1900.1

Kein Beruf wird im Volksmund so verklärt wie der des Seemanns. Die Liedersammlung „Die Mundorgel“ zählt zwölf Lieder, die sich mit der Arbeit und dem Leben auf See beschäftigen. Romane wie „Moby-Dick“ von Herman Melville und „Der Seewolf“ von Jack London sind weltweit Klassiker der Jugendliteratur. Die Assoziationen sind dieselben: Der Seemannsberuf verspricht Freiheit, Abenteuer und Lebenslust. Eine solche Idealisierung wird dem Beruf des Handwerkers oder des Land- oder Fabrikarbeiters nicht zuteil. Interessant ist, dass die beschriebenen Darstellungen die offensichtlichen Nöte der Seeleute gar nicht verschweigen. So beschreiben die Seemannslieder durchaus die Themen Gewalt, Hunger, Trunkenheit oder die mangelnde Hygiene an Bord.2 Diese Eindrücke scheinen jedoch im Angesicht der unendlichen Weite des Meeres zu verblassen. „Das Leben des Seemanns ist ein steter Zwang, eine Kette von übermäßigen Anstrengungen, Entbehrungen und Nöten, für die er von keiner Seite Anerkennung erfährt, und sehr, sehr arm an Freuden.“ Zitiert nach einem Gutachter, der im Gesetzgebungsverfahren zur Seemannsordnung von 1902 das Leben und Arbeiten auf See beschreibt, ca. 1900.3

Bei nüchterner historischer Betrachtung erreicht um das Jahr 1900 die Verelendung des Arbeitnehmers auf See ihren Höhepunkt. Als an Land die Zehn-StundenWoche eingeführt wird und sich der Arbeiter, vor allem Dank gewerkschaftlicher

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Liedtext, Herkunftsangaben und Interpretation abrufbar unter: https://deutschelieder.wordpress.com/tag/seemannslied/, letzter Abruf vom 14.10.2019. 2 Aus dem eben zitierten „Eine Seefahrt die ist Lustig“ (Lied 228): „Und er haut ihm vor’n Dassel, dass er in die Kohlen fällt“; aus „Il était un petit navire“ (Lied 225): „Au bout de cinq à six semaines, les vivres vinrent à manque“; aus „Ja, alle wollen nach Island gehen“ (Lied 226): „Wir trinken bis zum letzten Cent auf unser Wohl“; aus „Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn“ (Lied 224): „Dat Deck weer von Isen, vull Schiet un vull Smeer“, jeweils zitiert aus der Mundorgel. 3 Raab, Die Nothflagge weht, S. 69 m. w. N.

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§ 1 Einleitung

Organisation,4 zu emanzipieren beginnt, arbeiten viele Seeleute unter widrigsten Bedingungen ohne arbeitszeitrechtliche Beschränkung und sind einer umfassenden Disziplinargewalt des Kapitäns unterworfen.5 Das Seearbeitsverhältnis wird in der zeitgenössischen Literatur als „Zwangsarbeitsverhältnis“ bezeichnet.6 Der Gesetzgeber erkennt dies und stattet den Seemann im Laufe des 20. Jahrhunderts nach und nach mit denselben Rechten aus wie den Landarbeitnehmer. Die vorliegende Arbeit beschreibt, wie sich das Arbeitsverhältnis auf See entwickelt hat und wie es unter dem am 1. August 2013 in Kraft getretenen Seearbeitsgesetz ausgestaltet ist.7 Die historisch betrachtet wichtigste Weichenstellung zum Seearbeitsverhältnis hat der Gesetzgeber bereits bei der Schaffung des Seemannsgesetzes von 1957 vorgenommen: Die Grundsätze des Arbeitsrechts für an Land Beschäftigte sind auch für Besatzungsmitglieder von Seeschiffen zu übernehmen, sofern die Besonderheiten der Seeschifffahrt abweichende Regelungen nicht unumgänglich erscheinen lassen.8 Bereits das Seemannsgesetz geht somit davon aus, dass Land- und Seearbeitsverhältnis grundsätzlich anzugleichen sind. Diese Vorstellung übernimmt der Gesetzgeber für das Seearbeitsgesetz.9 Betrachtet man die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses, so ist diese Angleichung alles andere als selbstverständlich. Zwar unterliegen sowohl Land- als auch Seearbeitsverhältnis einem durch die Veränderung der sozialpolitischen, technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bedingten Wandel. Trotzdem hat sich das Seearbeitsverhältnis weitgehend unabhängig vom Landarbeitsverhältnis entwickelt. Die Nachzeichnung dieser Entwicklung beginnt mit der Frage: Wer ist Seemann? Diese Frage beantworten die Epochen höchst unterschiedlich. Der Seemann im römischen Recht ist Sklave. Der Seemann im Mittelalter ist der Kaufmann, der als Unternehmer seine Waren auf ein Schiff bringt, diese Waren selbst begleitet und im Schiffsrat wichtige wirtschaftliche und nautische Fragen mitentscheidet. Später ist der Seemann die abhängig beschäftigte, im Gesamtbetrieb des Schiffes unverzichtbare und gut ausgebildete Arbeitskraft, die eine schiffsinterne Karriere durchlaufen kann. Ende des 19. Jahrhunderts ist der Seemann der Heizer oder Kohlenzieher, der an Land keine Arbeit gefunden hat und der unter härtesten Bedingungen unter Deck die Kesselöfen des Dampfschiffs befeuert. Heutzutage ist der Seemann der gut ausgebildete Schiffsoffizier oder die Bedienungskraft an Bord des Kreuzfahrtschiffes ebenso wie der philippinische Matrose, der auf Basis eines

4 Siehe hierzu auch das Kapitel „Von der Notwendigkeit der Gewerkschaften und der Mitbestimmung“ in Thüsing, Mit Arbeit spielt man nicht!, S. 116 ff. 5 Siehe §§ 72 ff. SeemO 1872. Ausführlich hierzu unten unter § 2 H. II. 6 Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 97. 7 Seearbeitsgesetz (SeeArbG) vom 20. April 2013 (BGBl. I S. 868), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. März 2019 (BGBl. I S. 346). 8 So die amtl. Begründung zum Seemannsgesetz von 1957, BT-Drucks. 2/2962, S. 41. 9 Vgl. BT-Drucks. 17/10959, S. 1 f.

A. Einführung in die Thematik

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Zehnmonatsvertrags für einen nach deutschen Verhältnissen sehr geringen Lohn auf dem Schiff eines deutschen Reeders unter liberianischer Flagge arbeitet.10 Die Geschichte des Landarbeitsverhältnisses läuft weitgehend gradlinig: vom Leibeigenen über den Arbeiter der Industrialisierung hin zu einem durch gewerkschaftliche Organisation und staatlichen Arbeitsschutz zum selbstbewussten Vertragspartner gewordenen Arbeitnehmer.11 Unmündigkeit und wirtschaftliche Ungleichheit gegenüber dem Arbeitgeber nehmen im Laufe der Geschichte ab, Teilhabe und Umfang des staatlichen Schutzes nehmen zu.12 Anders im Seearbeitsverhältnis: Hier folgen Epochen der Partizipation, der privilegierten Abhängigkeit, der Verelendung, der Angleichung an das Landarbeitsverhältnis und der Gefahr der erneuten Verelendung infolge des globalisierten Arbeitsmarkts aufeinander. Die Eigenständigkeit des Seearbeitsverhältnisses ist kein rein historischer Befund. Dies zeigt sich bereits in der Regelungsbreite des Seearbeitsgesetzes. Das Gesetz regelt – im deutschen Arbeitsrecht einzigartig – nicht nur die Arbeits-, sondern auch die Lebensbedingungen an Bord. Notwendig ist dies aufgrund der zeitlosen Besonderheiten der Arbeit auf See. Auf kaum ein anderes Arbeitsverhältnis wirken die äußeren Elemente so stark ein wie auf das Seearbeitsverhältnis. Dies gilt zunächst mit Blick auf die Arbeitsbedingungen. Hier richten sich die Arbeitszeiten und der Aufenthalt des Besatzungsmitglieds nach den Bedürfnissen des Schiffsbetriebs. Sämtliche an Bord anfallende Aufgaben müssen zwangsläufig von dem auf dem Schiff vorhandenen Personal erledigt werden. Gleiches gilt für die Lebensbedingungen. Das Schiff ist Arbeitsstätte und gleichzeitig Lebensmittelpunkt des Arbeitnehmers auf See. Er ist von der Außenwelt weitgehend isoliert und entfernt sich von den ihn schützenden sozialen und rechtlichen Institutionen. Eine Bestandsaufnahme des Seearbeitsverhältnisses im Jahr 2019 muss aus drei Perspektiven erfolgen: Erstens einer historischen Perspektive, da sich im Seearbeitsgesetz Vorschriften finden, die sich entweder nur historisch erklären lassen oder die einen historisch gewachsenen Missstand beseitigen. Zweitens aus einer Angleichungsperspektive: Es ist seit Schaffung des Seemannsgesetzes erklärtes Ziel des Gesetzgebers, Land- und Seearbeitsverhältnis anzugleichen. Eine vom Landarbeitsrecht abweichende Regelung muss aufgrund der Besonderheiten der See-

10 Zu den Hintergründen, warum gerade Seeleute von den Philippinen einen so hohen Anteil an den weltweit tätigen Seeleuten ausmachen, siehe Tietz, Aufsteiger im Unterdeck, S. 62 ff. 11 Ein kurzer Abriss über die Geschichte des Arbeitsrechts findet sich bei Dütz/Thüsing, § 1 Rn. 7 ff. Ausführlich hierzu Becker, Arbeitsvertrag und Arbeitsverhältnis in Deutschland, S. 44 ff. 12 Eine mögliche Einschränkung zu diesem Befund dürfte sein, dass sich die vormals in der hausgenossenschaftlichen Produktionsform tätigen Handwerker mit Einführung der Gewerbefreiheit Anfang des 19. Jahrhunderts selbstständig machen konnten. Allerdings führte die hohe Anzahl an Kleinunternehmern im Handwerk dazu, dass viele Gesellen aufgrund der Konkurrenzsituation ihre Selbstständigkeit einbüßten und in der Industrie Arbeit suchten, vgl. Becker, ebd., S. 60 f.

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§ 1 Einleitung

schifffahrt unumgänglich sein.13 Mithin ist bei einer solchen Regelung stets die Besonderheit der Seeschifffahrt herauszuarbeiten, die die Abweichung rechtfertigt. Drittens ist eine internationale Perspektive einzunehmen. Durch die Möglichkeit der Ausflaggung in sog. „Billigflaggen“14 fahren im Jahr 2016 weltweit 70 % aller Schiffe unter einer Flagge, die nicht der Nationalität des Schiffseigentümers entspricht.15 Nur 242 der 2.410 im deutschen Eigentum stehenden Seehandelsschiffe fahren unter deutscher Flagge.16 Der Arbeitsmarkt für Seeleute gilt seit Ende der 1980er Jahre als vollkommen globalisiert.17 Fast die Hälfte der weltweit beschäftigten Seeleute stammt aus China, den Philippinen, Indonesien oder Indien.18 Im Wettbewerb der Flaggenstaaten um möglichst günstige Rahmenbedingungen für die Reeder ist bis Ende des 20. Jahrhunderts in der weltweiten Seeschifffahrt ein „Teufelskreis aus sehr geringen Frachtraten, sehr schlechten Arbeitsbedingungen, geringen gesetzlichen Standards und der Unwilligkeit zur Durchsetzung dieser Standards“ entstanden.19 Als Reaktion auf diesen Befund hat die Internationale Arbeitsorganisation (engl.: International Labour Organization – ILO) im Jahr 2006 das Seearbeitsübereinkommen, die Maritime Labour Convention 2006 (wie im allgemeinen Sprachgebrauch auch im Folgenden stets nur: MLC) angenommen.20 Sie setzt als „Bill of Rights“21 der Seeleute internationale Standards für die Arbeits- und Lebensbedingungen auf Seeschiffen. Sie bezweckt außerdem, den Flaggenstaaten

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BT-Drucks. 2/2962, S. 41. Ausführlich zu den rechtlichen Hintergründen der Ausflaggung McConnell/Devlin/ Doumbia-Henry, The MLC 2016, S. 24 ff. m. w. N. Zum Begriff der „Billigflagge“, siehe ausführlich unten unter § 2 J. I. 15 United Nations Conference on Trade and Development – UNCTAD, Review of Maritime Transport 2017, S. 31, abrufbar unter: http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/rmt2017_en.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 16 Siehe die Übersicht „Flaggenstruktur der deutschen Handelsflotte“ des Verbands Deutscher Reeder, abrufbar unter: http://www.reederverband.de/daten-und-fakten/infopool.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. 17 ILO, The impact on seafarers’ living and working conditions of changes in the structure of the shipping industry – Report for discussion at the 29th Session of the Joint Maritime Commission, JMC/29/2001/3, S. 33, im Folgenden: JMC-Report, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/libdoc/ilo/2001/101B09_3_engl.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 18 United Nations Conference on Trade and Development – UNCTAD, Review of Maritime Transport 2016, S. 44, abrufbar unter: http://unctad.org/en/PublicationsLibrary/rmt2016_en.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 19 JMC-Report, S. 93. 20 Zur Rechtsnatur der MLC instruktiv Müller, Das Heuerverhältnis, S. 47 ff. 21 Der Begriff „Bill of Rights“ wird sowohl von der ILO selbst als auch in der Literatur verwendet, siehe stellvertretend die Presssemitteilung der ILO zur deutschen Ratifikation der MLC, abrufbar unter: http://www.ilo.org/berlin/presseinformationen/WCMS_219684/lang-de/index.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019; siehe auch Bollé, in: International Labour Review, Volume 145, S. 135. 14

B. Gang der Untersuchung

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und Reedern durch Schaffung eines „level playing fields“22 den fairen Wettbewerb in der internationalen Handelsschifffahrt zu ermöglichen und so dem Unterbietungswettbewerb um immer günstigere Personalkosten Einhalt zu gebieten.23 Die drei aufgezeigten Perspektiven zeichnen die Aufgabe des Seearbeitsgesetzes vor. Es muss die Vorgaben der MLC mit dem seit dem Seemannsgesetz bestehenden Gebot zur Angleichung an das Landarbeitsverhältnis und dem historisch gewachsenen Regelungsbestand in Einklang bringen. Gleichzeitig muss es das Spannungsfeld zwischen einer im internationalen Wettbewerb dringend notwendigen Deregulierung und den hohen – da möglichst „landarbeitsrechtsgleichen“ – nationalen Schutzstandards auflösen.

B. Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit betrachtet das Seearbeitsverhältnis aus den drei genannten Perspektiven: der historischen, der internationalen und der nationalen (Angleichungs-)Perspektive. Aufgrund des bereits vor Verabschiedung des Seearbeitsgesetzes im internationalen Vergleich hohen deutschen Schutzniveaus rückt sie vor allem die historische und die mit dem Landarbeitsverhältnis vergleichende Perspektive in den Vordergrund. Die historische Perspektive ist aus zwei Gründen interessant: Zum einen fehlt es in der Literatur bisher an einer ausführlichen Darstellung der Geschichte des Seearbeitsverhältnisses. Wie zu zeigen sein wird, entwickelt sich das Seearbeitsrecht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weitgehend unabhängig vom Landarbeitsrecht, sodass eine umfassendere historische Darstellung bereits aus diesem Grund geboten ist. Wer würde schon vermuten, dass es auf See bereits im 13. und 14. Jahrhundert einen Mindestlohn und das Verbot der Austauschkündigung gab? Zum anderen enthält das Seearbeitsgesetz rechtliche Besonderheiten, die sich nur historisch erklären lassen. Daher wird zunächst dargestellt, wie sich das Seearbeitsverhältnis entwickelt hat. Der Blick geht hier von der genossenschaftlich geprägten Schiffsunternehmung des Mittelalters über die Anfänge einer abhängigen Beschäftigung mit der immer stärkeren Hierarchisierung des Bordbetriebs und über die Verelendung der Arbeitnehmer auf den Dampfschiffen schließlich hin zum Seemannsgesetz. Unter diesem gleicht der Gesetzgeber zwar das Seearbeitsverhältnis dem Landarbeitsverhältnis weitgehend an. Diese Angleichung wird jedoch durch den internationalen Wettbewerb der Billigflaggen bald infrage gestellt. Da in keinem anderen Arbeitsverhältnis Lebens22

Ähnlich wie der Begriff der „Bill of Rights“ wurde der Begriff „level playing field“ von der ILO selbst geprägt und von der Literatur übernommen, vgl. den Artikel „Basic facts on the Maritime Labour Convention 2006“, abrufbar unter: https://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/what-it-does/WCMS_21 9665/lang-en/index.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019; vgl. auch Noltin, RdTW 2017, 1. 23 Siehe hierzu unten unter § 3 A.

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§ 1 Einleitung

und Arbeitssphäre so sehr miteinander verschmelzen, wird neben den Arbeitsbedingungen auch betrachtet, wie der Arbeitnehmer an Bord lebt und welche Rechte die Schiffsautorität ihm gegenüber hat. Bei der Betrachtung werden, woimmer es möglich ist, Erkenntnisse in erster Linie aus den historischen Gesetzessammlungen gewonnen. Das letzte Kapitel des historischen Teils der Arbeit leitet zum internationalen Teil über. Dem Wettbewerb der Flaggenstaaten darum, den Reedern, auch auf Kosten der Arbeitnehmer, einen immer preisgünstigeren Schiffsbetrieb zu ermöglichen, begegnet die ILO mit der Schaffung der Maritime Labour Convention. Eine Betrachtung des Seearbeitsgesetzes ohne eine Betrachtung der Vorgaben der MLC ist nicht möglich. Erstens, da die MLC zumindest der äußere Anlass für die deutsche Neuregelung ist. Die das Seearbeitsrecht betreffenden EU-Richtlinien übernehmen die Inhalte der MLC nahezu vollständig.24 Aufgrund der Pflicht zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung sind bei Auslegungsfragen zum Seearbeitsgesetz die Vorgaben der MLC zu beachten.25 Zweitens, weil sie den internationalen Standard setzt, mit dem die deutsche Flagge im Wettbewerb steht. Drittens, weil die Hafenstaatkontrollen im Ausland deutsche Schiffe an den Vorschriften der MLC messen und viertens, da sie die Mindeststandards für ausländische Arbeitnehmer auf deutschen Schiffen setzt, die nicht dem deutschen Arbeitsvertragsstatut unterliegen.26 Die Arbeit beleuchtet zunächst das Zustandekommen der MLC und beschreibt, warum sie, anders als vorausgegangene Konventionen im Seearbeitsrecht, voraussichtlich auf eine breite Akzeptanz in der Praxis treffen wird. Besonderes Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den Mechanismen, mit denen die langfristige Geltung der MLC sichergestellt werden soll. Überblicksartig folgt eine Darstellung der Regelungsgegenstände der MLC. Sie soll – zunächst rein beschreibend – einen Eindruck von den internationalen Schutzstandards vermitteln. Den Hauptteil der Arbeit stellt die handbuchartige Darstellung des Seearbeitsgesetzes dar. Sie konzentriert sich hierbei auf die Vorschriften zu den Arbeitsbedingungen und damit auf den ersten und dritten Abschnitt des Gesetzes (§§ 1 – 9 „Allgemeine Vorschriften“ sowie §§ 28 – 79 „Beschäftigungsbedingungen“). Sofern für das Verständnis der nationalen Vorschriften von Bedeutung, wird jedes Kapitel von einer kurzen Beschreibung der Vorgaben der MLC eingeleitet. Die Themen werden entsprechend ihrer Reihenfolge im Gesetz behandelt. Daher beginnt die Arbeit mit der Darstellung des Anwendungsbereichs, insbesondere mit Blick auf die Frage, wer nunmehr „Besatzungsmitglied“ im Sinne des Seearbeitsgesetzes ist. Aufgrund der großen praktischen Bedeutung wird auch die Frage der Rechtswahl in der gebotenen Kürze dargestellt. Sodann werden der Reederbegriff und die neu eingeführte Reederhaftung erläutert. Ebenso wie der folgende Abschnitt über den Vertragsschluss ist diese Thematik stark von den Vorgaben der MLC geprägt. Pro24 25 26

Siehe hierzu unten unter § 3 C. IV. Instruktiv hierzu: Müller, Das Heuerverhältnis, S. 90 ff. § 9 SeeArbG.

B. Gang der Untersuchung

25

blematisiert wird in beiden Abschnitten insbesondere die vom Gesetzgeber nicht sauber vorgenommene Trennung zwischen den Begriffen „Reeder“ und „Arbeitgeber“. Im Anschluss an den Abschnitt über die – streng zu trennenden – privatrechtlichen Dienstleistungs- und öffentlich-rechtlichen Folgeleistungspflichten folgt die Darstellung der aus dem Landarbeitsrecht bekannten Schutzvorschriften zu Arbeitszeiten, Urlaub und Kündigung. Mit dem Urlaubsrecht verwandt ist als Besonderheit des Seearbeitsverhältnisses das Heimschaffungsrecht. Bei allen Regelungsbereichen wird beantwortet, ob die Abweichungen vom Landarbeitsverhältnis durch die Besonderheiten der Seeschifffahrt und/oder durch die Vorgaben der MLC geboten sind oder ob sie vielmehr – möglicherweise überkommenen – historisch gewachsenen Vorstellungen entsprechen. Schließlich erläutert ein Kapitel die Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten der Flaggen- und Hafenstaaten. Eine praxistaugliche Darstellung der Beschäftigungsbedingungen auf See muss eine Darstellung des Kontrollsystems enthalten, da dieses durch das Seearbeitsgesetz und die MLC neu eingeführt wird und daher zu diesem Thema in der Praxis die meisten Fragen aufkommen. Auch gilt ein weltweites Kontrollsystem als unerlässliche Voraussetzung dafür, dass sich die von der MLC geschaffenen Standards in der Praxis durchsetzen. Einen besonderen Fokus legt die Darstellung auf die neu eingeführten Zeugnisdokumente und ihre Rolle als Anscheinsbeweis für einen ordnungsgemäßen Schiffsbetrieb im Rahmen der Hafenstaatkontrollen. Abgerundet wird die Arbeit durch ein abschließendes Thesenpapier, das das Seearbeitsgesetz im Ganzen, aber vor allem mit Blick auf die historische Aufgabe, das Seearbeitsverhältnis dem Landarbeitsverhältnis anzugleichen, bewertet. Die vorliegende Arbeit hat nicht den Anspruch, sämtliche Rechtsprobleme des Seearbeitsverhältnisses zu behandeln. Einen Kommentar kann sie daher nicht ersetzen. Auch fragt sie nicht für sämtliche Regelungsgegenstände der MLC, ob der deutsche Gesetzgeber sie in Übereinstimmung mit der Konvention umgesetzt hat.27 Sie hat aber den Anspruch, die wichtigsten Fragen praxistauglich zu beantworten. Sie geht dort in die Tiefe, wo in der Praxis häufig Fragen aufkommen: etwa zur OffshoreArbeit, zu den Arbeitszeiten oder zur Hafenstaatkontrolle. Grundkenntnisse des deutschen Arbeitsrechts setzt die Arbeit voraus, daher wird etwa auf eine breite Darstellung allgemeiner Grundsätze zum Kündigungs-, Urlaubs- oder Arbeitszeitrecht verzichtet. Um rein beschreibende Passagen weitgehend zu vermeiden, wird die Kenntnis des Gesetzestexts zum Seearbeitsgesetz (bzw. das Zurhandliegen eines Exemplars) ebenfalls vorausgesetzt. In die Arbeit eingeflossen sind Erkenntnisse, die der Verfasser in Gesprächen mit Seeleuten, Vertretern von Reedereien und der Dienststelle Schiffssicherheit sowie mit Rechtsanwälten und Fachautoren sammeln konnte. Ebenfalls eingeflossen sind Erfahrungen aus einer zweijährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Wirtschaftskanzlei, die Reedereien in sämtlichen Fragen des Seearbeitsrechts berät. 27 Diese Thematik behandelt die Dissertation von Robert Peetz: Die Übereinstimmung des deutschen Rechts mit der Maritime Labour Convention, 2006.

§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses A. Einleitung Eine umfassende Darstellung der Geschichte des seemännischen Arbeitsrechts sucht man in der rechtsgeschichtlichen Literatur vergeblich. Teilweise wird diese Thematik randnotizartig im Zusammenhang mit der Geschichte des Seehandels behandelt,1 teilweise wird die Untersuchung auf einzelne Epochen begrenzt.2 Die vorliegende Darstellung reiht sich ein in eine dritte Gruppe, nämlich solcher Werke, die die Geschichte des Seearbeitsrechts im Zusammenhang mit einer zeitgenössischen Kommentierung darstellen.3 Woher kommt das mangelnde Interesse in der Literatur? Zunächst einmal ist der Begriff „Seearbeitsrecht“ historisch schwer greifbar. Eine abhängige Beschäftigung hat es im Mittelalter kaum gegeben, und dort, wo es sie gegeben hat, ist sie selten rechtlich kodifiziert. Der Seehandelsbetrieb ist genossenschaftlich organisiert: Die Beteiligten der Schiffsunternehmung sind entweder Seefahrer, die sich als Kaufleute betätigen („Das Schiff sucht die Ladung“), oder Kaufleute, die gemeinschaftlich ein Schiff mieten und auf diesem auch seemännische Arbeiten verrichten („Die Ladung sucht das Schiff“). Damit ist das Seehandelsrecht zugleich auch das Seearbeitsrecht des Mittelalters. Eine klare persönliche Anknüpfung findet das Seearbeitsrecht erst mit dem Beginn einer abhängigen Beschäftigung im 14. Jahrhundert. Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Vielzahl partikular- und gemeinrechtlicher Quellen, aus denen sich schwer ein „roter Faden“ feststellen lässt, der eine in sich geschlossene Darstellung der Geschichte des Seearbeitsrechts ermöglicht. Während nahezu alle nordeuropäischen und hanseatischen Seerechte auf die sog. Rôles d’Oléron zurückzuführen sind,4 wird das Seerecht des Mittelmeeres durch die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Handelsstädte geprägt. Eine Vereinheitlichung findet erst statt, als die umfassende Rechtssammlung Konsulat der See Eingang in diese Rechtsordnungen findet und die alten Bestimmungen verdrängt.5 1

So etwa bei Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 5 ff., 33 ff. Vgl. beispielsweise O’Sullivan, Die Ahndung von Rechtsbrüchen der Seeleute im mittelalterlichen Hamburgischen und Hanseatischen Seerecht (1301 – 1482); Van der Decken, Das Seearbeitsrecht im Hamburgischen Stadtrecht, 1301 – 1603. 3 Jeweils die Anfangskapitel von Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 1 ff.; Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 8 ff. 4 Ausführlich Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 44. 5 Ebd., S. 57 f. 2

A. Einleitung

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Die folgende Darstellung untersucht, wann, wo und warum sich die heute bekannten und als selbstverständlich wahrgenommenen Elemente des Seearbeitsrechts herausgebildet haben. Hierzu gehört auch die Frage, wie sich die Entwicklungen des Seehandels auf die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord niedergeschlagen haben. Hierbei soll mit Beginn der abhängigen Beschäftigung zwischen zwei Rechtsverhältnissen unterschieden werden: dem vertraglichen Verhältnis des Schiffsmanns6 zu seinem Arbeitgeber einerseits und dem personenrechtlichen Verhältnis des Schiffsmanns zur Schiffsautorität andererseits. Holzschnittartig mag man diese auch beschreiben als das „Recht des Schiffsmanns“ und das „Recht am Schiffsmann“. Was genau zeichnet dieses personenrechtliche Verhältnis aus? Die personenrechtliche Stellung des Schiffsmanns ist von der des Landarbeitnehmers naturgemäß verschieden. Der Schiffsmann entfernt sich durch seine Ausreise aus dem Heimathafen nicht nur von seiner sozialen Infrastruktur, sondern auch von den staatlichen Institutionen, die ihm Schutz bieten und ein normwidriges Verhalten durch und gegen ihn sanktionieren können. Das auf See befindliche Schiff bildet einen sozialen und rechtlichen Mikrokosmos, in welchem eine Schicksalsgemeinschaft Tag und Nacht zusammenlebt und den vielgestaltigen Gefahren der Seeschifffahrt ausgesetzt ist. Die Fehlertoleranz ist äußerst gering: Der Verstoß eines Einzelnen gegen die Regeln der nautischen Kunst gefährdet Schiff und Mannschaft. Dies gilt umso eher, je geringer das Schiff technisch entwickelt ist. Auch kann eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Seeleuten große Störungen des sozialen Gefüges an Bord verursachen. Dieser Gefahrenlage geschuldet ist das unbedingte Bedürfnis, die Verhältnisse an Bord umfassend und vollständig zu regeln und den gegebenen Regeln zur Durchsetzung zu verhelfen.7 Die Regeln und Durchsetzungsmechanismen sind ein Teil der sog. Schiffsgewalt. Diese Schiffsgewalt umfasst nach heutigem Verständnis die Befugnisse über das Schiff als solches, die Befugnisse über die Ladung und die Befugnisse über die auf dem Schiff befindlichen Personen.8 Auch umfasst sie während der Reise die Wahrnehmung all jener Funktionen, die auf dem Festland der Staatsgewalt zukämen.9 Ob die – im Fokus dieser Arbeit stehende – Schiffsgewalt in personenrechtlicher Hinsicht öffentlich-rechtlicher oder privatrechtlicher Natur ist, wird historisch unterschiedlich beantwortet. Das Seearbeitsgesetz unterscheidet, wie auch bereits das Seemannsgesetz, streng zwischen einer privatrechtlich begründeten Dienstleis6

In diesem Kapiel werden die Begriffe Schiffsmann und Seemann synonym verwendet. Welcher Begriff in diesem Abschnitt gewählt wird, hängt mit der jeweils üblichen Bezeichnung in den Rechtsquellen ab. So ist die Bezeichnung „Schiffsmann“ oder „Schiffsleute“ in den mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Quellen üblich, während die preußischen Gesetzgebungen von „Seemann“ oder „Seeleute“ sprechen. Dasselbe gilt für die Bezeichnung des Schiffsführers als „Schiffer“ oder „Kapitän“: Der „Schiffer“ wird erst unter der starken militärischen Prägung des preußischen Schiffsbetriebs (hierzu unter: § 2. H. III.) zum „Kapitän“. 7 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 40, spricht von einer „Schiffsverfassung“. 8 Ehlers, NZA 2017, 361; Schaps/Abraham, Vor § 511 Rn. 10. 9 Ehlers, ebd. Zu den Begriffsverständnissen der früheren Zeit, siehe die Nachweise bei Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 28.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

tungspflicht und einer öffentlich-rechtlichen Folgeleistungspflicht eines Besatzungsmitglieds.10 Eine solche Unterscheidung ist den älteren Gesetzgebungen unbekannt. Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Idee, dass die Schiffsgewalt ein in der Staatsgewalt wurzelndes Institut ist, unbekannt. Vielmehr war sie eine ausschließlich privaten Interessen dienende Befehlsgewalt des Schiffsführers über die Schiffsmannschaft.11 Weber spricht von einer „mangelnden staatsrechtlichen Durchbildung der Schiffsgewalt bei einseitiger Bevorzugung alles Privatrechtlichen“.12 So ist, historisch gesehen, der Schiffsmann gewissermaßen „Bürger im Staate Schiff“. Die Entwicklung der Rechte und Pflichten des Schiffsmanns wird im Folgenden beschrieben.

B. Anfänge der Seeschifffahrt Die Ostsee gilt als „Wiege der deutschen Seeschifffahrt“.13 Dort finden spätestens ab der Bronzezeit regelmäßig Schifffahrten zum Zwecke des Handels statt. Dies ist unter anderem verbürgt durch den Fund russischer Steinwerkzeuge auf schwedischem Gebiet.14 Weitere Werkzeug- und Waffenfunde zeugen von einer direkten Verbindung zwischen der deutschen und der schonenschen Küste sowie zwischen den Küsten Norwegens und Jütlands.15 Einiges deutet sogar darauf hin, dass es zu dieser Zeit direkten Schiffsverkehr zwischen Nordengland und der Westküste des nördlichen Gotlands gibt.16 Felsenzeichnungen aus dem heutigen Schweden zeigen, dass für eine solche Reise geeignete Schiffe bereits gebaut werden können. Diese Schiffe sind jedoch solchen, die zur selben Zeit im Mittelmeerraum gebaut werden, technisch unterlegen.17

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§§ 32 und 124 SeeArbG. Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 77. 12 Ebd. 13 Vogel, Geschichte der deutschen Seeschiffahrt, S. 2. 14 Montelius, Praehistorische Zeitschrift 2/1910, 249, 255; Vogel, ebd., S. 25. 15 Montelius, ebd., S. 249, 254; siehe auch die grafische Darstellung der Seeverkehrswege der Bronzezeit bei Vogel, ebd., S. 24. 16 Montelius, ebd. S. 249, 258, führt seine Behauptung auf die Tatsache zurück, dass zahlreiche Grabmäler nach englischem Vorbild in Mittelschweden gefunden worden sind, nicht jedoch in anderen Teilen des Nordens oder auf einer gedachten Festlandroute zwischen England und Mittelschweden. Außerdem wurden Steinwerkzeuge skandinavischer Herkunft auf den britischen Inseln gefunden. Ferner weisen Felsenzeichnungen nördlich vom heutigen Göteborg auf eine direkte Seeverbindung hin; vgl. auch Vogel, ebd., S. 26 – 30. 17 Die Schiffe waren mit bis zu 40 Männern besetzt und wurden durch Ruder fortbewegt. Sie hatten keinen Mast und kein Segel, vgl. Vogel, ebd., S. 31 (siehe hier auch die Abbildungen). Im Mittelmeerraum dagegen war die Segelkunst bereits verbreitet, vgl. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 8. 11

B. Anfänge der Seeschifffahrt

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Über die Rechtsordnung, die auf den Schiffen gilt, gibt es keine Überlieferungen.18 Hieraus wird geschlossen, dass die Urform des Seehandels der genossenschaftliche Kleinbetrieb sein muss.19 Die Seefahrer sind – etwa durch gemeinsame Erbauung, Kauf oder Aneignung – gemeinschaftliche Eigentümer eines Schiffes.20 Sie kaufen auf gemeinsame Rechnung Handelsgegenstände (meist Werkzeuge und Waffen, wichtige Bedeutung hat zudem der Bernsteinhandel), die sie andernorts gewinnbringend verkaufen.21 Sie sind gleichzeitig Seeleute, Ladungsinteressenten und Reeder. Wirtschaftliche Fragen werden von ihnen gemeinsam beraten und entschieden.22 Dieses genossenschaftliche Element setzt sich in personenrechtlicher Hinsicht in der Schiffsgewalt fort. Einen obrigkeitlichen Herrschaftsanspruch über das Schiff gibt es nicht.23 Trotzdem verlangen die Verhältnisse auf dem Schiff klare Regeln. Denn während sich bei der Binnenschifffahrt eine Reise nur über wenige Stunden erstreckt und im Hinblick auf äußere Einflüsse berechenbar ist, wächst bei der Fahrt auf hoher See das Bedürfnis, der Unberechenbarkeit der äußeren Elemente ein einheitliches und planmäßiges Verhalten entgegenzusetzen. Eine handlungsfähige, befehlende, gegebenenfalls zwingende und strafende Gewalt an Bord wird zur Notwendigkeit.24 Als Leiter einer Seefahrt agiert der Steuermann, dessen Befehle das Verhalten der Schiffsinsassen lenken. Eine ausgeprägte nautische Kompetenz ist aufgrund der einfachen Schiffsbauweise nicht erforderlich und sie ist beim Steuermann in der Regel nicht ausgeprägter als bei anderen Teilnehmern der Schiffsreise.25 Der Steuermann ist daher auch nicht der Träger der Schiffsgewalt, sondern nur ihr Organ. Die Schiffsgewalt liegt in der Hand der Gesamtheit der Schiffsinsassen. Von ihr leitet der Steuermann seine Autorität ab.26 Die Gesamtheit der Seefahrer ist nicht nur in wirtschaftlicher und disziplinarischer, sondern auch in nautischer Hinsicht die befehlende Instanz.27 Die Schiffsgewalt des Steuermannes reicht daher nur so weit, wie die Schiffsmannschaft sie anerkennt.28

18 Herding, Machtbefugnisse des Kapitäns, S. 7; v. Kaufmanns, Die öffentlich-rechtlichen Machtbefugnisse des Kapitäns, S. 1. 19 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 5 f.; Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 36 Fn. 6. Weber erklärt dies damit, dass sich niemand, der nicht selbst an der Fahrt teilnahm, vernünftigerweise an ihr beteiligen konnte, da kein Gesetz ihn geschützt hätte. 20 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 147. 21 Montelius, Praehistorische Zeitschrift 2/1910, 249, 254; Vogel, Geschichte der deutschen Seeschiffahrt, Bd. I, S. 26 f. 22 Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 36. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Herding, Machtbefugnisse des Kapitäns, S. 7; Weber, ebd. 27 Weber, ebd. 28 Ebd., S. 37.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

C. Römische Kaiserzeit Im römischen Kaiserreich erreicht der Seehandel bis dahin unbekannte und später für lange Zeit unerreichte Dimensionen. Die Handelsrouten erstrecken sich über sämtliche Binnenmeere des Reiches und die Küsten der anliegenden Ozeane und reichen im Osten bis nach China.29 Gerade der staatliche Getreidehandel ist für die Versorgung der Städte von überragender Bedeutung.30 Der florierende Mittelmeerhandel wird zum Garant des Wohlstands im Reich.31 Zudem kennt das römische Kaiserreich bereits die Passagierschifffahrt mit eigens für die Personenbeförderung ausgestatteten Schiffen.32 Ein besonderes Seerecht ist im römischen Kaiserreich nicht kodifiziert. Vielmehr geht das Seerecht im allgemeinen Verkehrsrecht auf und wird um einige aus dem antiken Griechenland übernommene Regelungsgegenstände erweitert.33 Es findet üblicherweise eine Trennung der Aufgaben statt: Es wird zwischen Ladungsinteressent bzw. Befrachter (mercator), Reeder (excercitor navis), Schiffer34 (magister navis) und Schiffsmannschaft (nautae) unterschieden.35 Sowohl in der Definition ihrer Aufgaben als auch im Verhältnis zueinander entsprechen sie den heutigen Verhältnissen: Reeder ist der, „dem alle Einkünfte und Gewinne zufallen, mag er selbst Eigentümer des Schiffes sein oder es vom Eigentümer für einen Pauschalpreis gechartert haben, sei es für bestimmte Zeit oder auf Dauer.“36 Der Schiffer ist „derjenige, dem die ganze Verantwortung für das Schiff übertragen ist.“37 Er ist, so 29

Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 37, 70. Ebd.; Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 132. 31 Götz, Die Verkehrswege, S. 462. 32 Dig. 14, 1, 1, 2, hier, wie auch im Folgenden zitiert nach der Übersetzung von Wilhelm Simshäuser, in: Corpus Iuris Civilis III: Dig. 11 – 20. 33 Nach Schomberg, The Maritime Laws of Rhodes, S. 37, fand eine kultivierte Handelsschifffahrt seit ca. 1400 v. Chr. bei den Kretern statt. Es folgen die Lydier (1200 v. Chr.), die Tharker (1000) und die Rhodier (900), die Schomberg als die „ersten Legislatoren der See“ bezeichnet. Nach Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 37, 72, ist die Seefahrt der römischen Kaiserzeit die „Erbin der tausendjährigen phönizisch-hellenischen Erfahrung“. Namentlich übernommen wurden die Vorschriften über den Seewurf (Dig. 14, 2) und über das Seedarlehen (Dig. 22, 2). Weitere Nachweise bei Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 56; siehe instruktiv zum römischen Seerecht Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 37, 41 ff. 34 Wie bereits zu den Begriffen „Schiffsmann“ und „Seemann“ erklärt, orientiert sich auch die Bezeichnung des Schiffsführers als „Schiffer“ oder „Kapitän“ an der in der jeweiligen Epoche gebräuchlichen Verwendung. 35 Dies ist der Regelfall. Es gibt auch andere, an den Urformen orientierte Betriebsweisen, bei denen beispielsweise Reeder und Schiffer identisch und die Schiffsleute zugleich Ladungsbeteiligte sind, siehe Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 168. 36 Dig. 14, 1, 1, 16: Exercitorem autem eum dicimus, ad quem obventiones et reditus omnes perveniunt, sive is dominus navis sit sive a domino navem per aversionem conduxit vel ad tempus vel in perpetuum. 37 Dig. 14, 1, 1, 1: Magistrum navis accipere debemus, cui totius navis cura mandata est; vgl. auch Ashburner, Rhodian Sea Law, Introduction S. 130. 30

C. Römische Kaiserzeit

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konkretisiert es Kritz, der, „der für einen Anderen ein Schiff führt und auf diese Weise den Erwerb treibt, der mit dem Transporte von Gütern oder Personen erreicht wird.“38 Als gesetzlicher Vertreter des Reeders, zu dem er in einem Dienst- oder Auftragsverhältnis steht,39 und schließt er in dessen Namen die Verträge mit den freien Seeleuten ab.40 Der Reeder trägt die wirtschaftliche Verantwortung für die Unternehmung, der Schiffer die seemännische. Er führt das Kommando über das Schiff, entscheidet über den Schiffswurf41, die Umladung auf Leichterschiffe und den Loskauf von Piraten, ohne hierfür der Zustimmung der anwesenden Ladungsinteressenten zu bedürfen.42 Üblich ist es zudem, dass ein Reeder mehrere Schiffer beschäftigt, die dann entweder eine gemeinsame oder eine nach Vorgabe des Reeders geteilte Verantwortung für das Schiff haben.43 Die Befrachter schließlich begleiten ihre Waren meist nicht, da sie am Zielhafen Agenten und Kommissionäre haben.44 Die Schiffsmannschaft besteht vornehmlich aus Sklaven.45 Diese sind seemännisch gut geschult und entstammen überwiegend den griechischen, phönizischen und afrikanischen Küstenländern.46 Auch der Schiffer ist häufig ein Sklave.47 Sofern die Sklaven im Dienste des Reeders oder Schiffers stehen, ersetzt die potestas dominica – die Herrschaft bzw. Verfügungsmöglichkeit des Herrn über seinen Sklaven – die Schiffsgewalt.48 Möglich ist es auch, dass der Eigentümer seine Sklaven nach den Regeln der locatio conductio rei – also nach den Regeln der Sachmiete – an Schiffer oder Reeder vermietet.49 Eine Fürsorge erfahren diese Schiffsleute lediglich aus der Motivation heraus, ihre Arbeitskraft zu erhalten.50

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Kritz, Das Pandectenrecht, S. 295. Dig. 14, 1, 1, 18; 14, 1, 1, 20. 40 Dig. 14, 1, 1, 7. 41 Schiffswurf meint das Überbordwerfen von Ladungsgegenständen, um das Schiff in einer Notsituation zu retten. 42 Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 36, 64. Dieser weiter: Dass der Schiffer die anwesenden Ladungseigentümer, Mannschaft und Schiffsoffiziere beim Schiffswurf zu Rate zieht, ist selbstverständlich. Eine solche in seinem Ermessen stehende Ratschlagung ist allerdings scharf von einer rechtlichen Zwangspflicht zu unterscheiden, ebd., S. 69. 43 Dig. 14, 1, 1, 13. 44 Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 36, 70. 45 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 14; Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 37, 69; Haerle, Der Heuervertrag, S. 1; Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 8; Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 132; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 5. 46 Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 36, 69 f. 47 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 132. Dies belegen auch Dig. 14, 1, 1, 4; 14, 1, 1, 16. 48 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 14; Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 22. 49 Hanses, ebd. 50 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 194. 39

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Vereinzelt sind auch freie Männer Teil der Schiffsbesatzungen.51 Besondere Vorschriften über die mit ihnen abgeschlossenen Verträge sind nicht überliefert. Die vorherrschende Sklavenarbeit beeinflusst die Verträge der freien Schiffsleute negativ.52 Da Sklaven und freie Schiffsleute in der Praxis unter denselben Umständen arbeiten, bilden sich besondere Regeln für die Inhalte des Vertrags zwischen Reeder und freiem Schiffsmann nicht heraus.53 Der Arbeitsvertrag der freien Schiffsleute folgt daher den Grundsätzen der Dienstmiete nach dem Vorbild der Sachmiete.54 Haftungsrechtlich steht der Reeder für Handlungen der von ihm eingesetzten freien Seeleute entsprechend der Haftung des Herrn über seinen Sklaven ein.55 Die Ursprünge des Heuervertrags, wie man ihn heute kennt, sind nach dem Gesagten nicht im römischen Recht zu finden.56 Sofern Wagner behauptet, die gesamte Entwicklung des Seehandelsbetriebs vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert weise, je näher es auf die Gegenwart zugeht, immer größere Ähnlichkeit mit den Verhältnissen der römischen Kaiserzeit auf,57 so verdient dies im Hinblick auf die Rechtsverhältnisse der Schiffsmannschaft keine Zustimmung. Die Sklavenarbeit lässt sich naturgemäß mit keiner Form des freiwillig eingegangenen Vertragsverhältnisses vergleichen. Im Übrigen ist Wagner aber zuzustimmen. Anders als später im Mittelalter ist in der Seeschifffahrt der Moderne und der römischen Kaiserzeit das Über- und Unterordnungsverhältnis von Schifffahrtsunternehmer und Schiffsmann in wirtschaftlicher und personenrechtlicher Hinsicht stark ausgeprägt. Auch ist richtig, dass die quantitativen Dimensionen des römischen Seehandels im Mittelalter nicht erreicht werden.58 Gesetzliche Kodifikationen sorgen für Rechtssicherheit und eine gerechte Risikoteilung zwischen Reeder und Befrachter. Durch das Sklaventum steht der Schiffsunternehmung eine ausreichende Zahl sachkundiger Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Handelswege zu Land und zu See sind weitreichend und befriedet, die Piraterie fast gänzlich verschwunden.59 Die Handelsschiffe sind voluminös und aufgrund der Entwicklung der nautischen Geographie und der Astronomie gut navigierbar.60 Unter diesen Rahmenbedingungen bringt die römische Kaiserzeit den ersten kapitalistischen Schiffsbetrieb hervor. Zwar liefert diese Epoche noch keine Blaupause für das Arbeitsverhältnis in der modernen Schifffahrt, wie sie dies für einige Bereiche des Seerechts tut. Es gibt hier jedoch zum ersten Mal ein festes 51 Haerle, Der Heuervertrag, S. 1; Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 8. 52 Pappenheim, Geschichte des Seerechts, S. 172. 53 Ebd.; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 6. 54 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 172. 55 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 6. 56 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 172. 57 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 6, 7. 58 Goldschmidt, ZHR Bd. 35, 37, 72. 59 Ebd., S. 71. 60 Ebd., S. 71: Die Transportschiffe tragen bis zu 800 Tonnen und können bei günstigem Wind über 150 Kilometer am Tag zurücklegen.

D. Oströmisches Reich

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Rollenverständnis der an der Seefahrt Beteiligten. Gerade der Kapitän als Verantwortlicher in nautischer Hinsicht nimmt erstmals die tragende Rolle ein, die er bis heute innehat.

D. Oströmisches Reich Die erste umfassende Kodifikation von seerechtlichen Bestimmungen ist die sog. Rhodische Sammlung.61 Sie ist auf die isaurischen Kaiser des byzantinischen Reiches (Mitte des 8. Jahrhunderts) zurückzuführen62 und behält durch die mittel- und spätbyzantinische Zeit bis ins 15. Jahrhundert im oströmischen Reich Geltung.63 Die Rhodische Sammlung umfasst drei Teile bzw. Bücher: Einen Prolog, der die – angebliche64 – Entstehungsgeschichte der Sammlung nachzeichnet, sowie zwei Gesetzestexte, die die Rechtsverhältnisse des Seehandels ausführlich regeln. Die Verhältnisse des Seehandels haben sich nach dem Zerfall des römischen Reiches geändert. Störfaktoren verändern die Rahmenbedingungen des Seehandels. An Land sieht sich das oströmische Reich seit Anfang des 7. Jahrhunderts der Bedrohung durch die Sassaniden, Westgoten, Normannen und Slawen ausgesetzt. Hinzu kommen innere Unruhen durch den Bilderstreit im 8. Jahrhundert. Auf See blüht die Piraterie wieder auf.65 Durch die arabische Expansion werden weite Teile des Mittelmeeres zu einem „muslimischen Meer”.66 Der Handel zwischen Orient und Nordwesteuropa findet daher nunmehr zum großen Teil nicht mehr über das Mittelmeer, sondern über das Schwarze Meer, die russischen Flüsse und die Ostsee statt.67 Infolgedessen sinkt das Handelsvolumen und das Reedereigeschäft verschwindet fast vollständig.68 Anstelle einer kapitalistischen Unternehmung tritt ein kleinerer, mehr an den Urformen der Handelsschifffahrt orientierter Schiffsbetrieb.69

61 Zugrunde gelegt wird bei der Analyse die Übersetzung aus dem Griechischen und Kommentierung von Engelbrecht, Sammlung aller Seerechte, S. 1 ff. Noch ausführlicher und mit englischer Übersetzung und Kommentierung Ashburner, Rhodian Sea Law, S. 57 ff. 62 v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 294. 63 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 60. 64 Der Prolog enthält eine Art historische Einleitung, nach welcher die Gesetze durch mehrere römische Kaiser bestätigt wurden. Da jedoch mittlerweile bekannt ist, dass die Gesetze nach den Lebzeiten der genannten Kaiser geschaffen wurden, gilt es als erwiesen, dass es sich um eine Geschichtsfälschung handelt, vgl. v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 318; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 59. 65 Den Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen und dem Rückgang des Seehandels stellt v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 317, her. 66 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 23. 67 Ebd. 68 v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 318. 69 Ebd.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Während sich im römischen Recht Ladungsinteressent, Reeder, Schiffer und Schiffsmannschaft noch klar voneinander trennen lassen, beginnt nun der Prozess der Verschmelzung dieser Rollen.70 Einen Reeder kennt die Gesetzessammlung nicht mehr, es wird nur noch unterschieden zwischen Schiffer, Schiffsleuten, Befrachter bzw. Kaufmann und Mitreisenden.71 Zwischen diesen kommen verschiedene Arten von Gesellschaften vor: Gesellschaften von Händlern, die sich auf gemeinsame Rechnung ein Schiff mieten oder kaufen; Gesellschaften von mehreren Schiffseigentümern, die das Schiff für eigene Rechnung befrachten, gegebenenfalls mit Hilfe externer Kapitalgeber; Gesellschaften von mehreren Eigentümern verschiedener Schiffe; Gesellschaften von Schiffseigentümern, Ladungsinteressenten und der Schiffsmannschaft.72 Der Angleichung in wirtschaftlicher Hinsicht folgt eine Angleichung in nautischer Hinsicht. Es ist üblich, dass sich die Kaufleute am Schiffsdienst beteiligen.73 Der Schiffer hat, wenn er das in Not geratene Schiff durch Schiffswurf retten will, vorher die Kaufleute zu befragen, die hierüber abstimmen.74 Die Schiffsmannschaft besteht aus drei verschiedenen Arten von Schiffsleuten: aus solchen, die sich gegen einen festen Lohn verheuern, aus solchen, die statt eines festen Lohns einen Anteil am Gewinn der Reise erhalten und schließlich aus Sklaven, die dem Schiffer von ihren Herren vermietet werden.75 In Bezug auf ihre personenrechtliche Stellung an Bord stehen jedoch sämtliche Beteiligte gleich. Sie alle müssen jede Anordnung des Schiffers befolgen: „Und wenn ein Seemann sich verheuert hat, so ist er wie ein Sklave, der sich verkauft hat und er hat jede Anordnung auszuführen. Und wenn er ausgesandt wird, so hat er seine Pflichten gewissenhaft ausführen und keinen Diebstahl oder anderes Fehlverhalten zu begehen, sondern mit Eifer zu handeln und Wohlwollen zu ernten; dann wird er einen Zusatzlohn 70

Goldschmidt, ZHR 35, 37, 80. v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 316. 72 Buch III, Kap. 17 u. 21; Ashburner, Rhodian Sea Law, Introduction S. 235. 73 Ashburner, ebd. 74 Buch III, Kap. 9. Dies zeigt die Übersetzung von Ashburner, Rhodian Sea Law, S. 87: „If the captain is deliberating about jettison, let him ask the passengers who have goods on board; and let them take a vote what is to be done“. Die Übersetzung Engelbrechts stellt dies nicht eindeutig heraus: „Wenn der Schiffer eine Beratschlagung hält, um das Schiff durch Werfen zu erleichtern, so soll er die Passagiere fragen, wie viel Geld ein jeder von ihnen im Schiffe hat.“ Die Übersetzung Ashburners ist vorzuziehen, da andere Kapitel deutlich machen, dass sich die Kaufleute auch in nautischen Fragen gegen den Schiffer durchsetzen konnten, vgl. Buch III, Kap. 39. Die Übersetzung Engelbrechts wird auch von Goldschmidt, ZHR 35, 37, 82 f. Fn. 111 nachdrücklich in Frage gestellt, der allerdings davon ausgeht, dass sich der Schiffer nicht an die Beratungsergebnisse halten muss. 75 Ashburner, Rhodian Sea Law, Introduction S. 417; v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 317 Fn. 76; siehe hierzu auch die Zusatzkapitel I – IV, die in den einigen Manuskripten des Rhodischen Seerechts als weitere Kapitel des Dritten Buchs dargestellt werden, Originaltext bei Ashburner, Rhodian Sea Law, S. 45 f., die englische Übersetzung bei dems., S.121 f. Von der Zugehörigkeit dieser Kapitel zum dritten Buch wird in neuerer Zeit gemeinhin ausgegangen, vgl. Ashburner, ebd.; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 59. 71

D. Oströmisches Reich

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erhalten. Wenn er aber Gold oder Silber stiehlt, soll er seine Freiheit und seinen Lohn verlieren und ein Sklave werden, und er muss seine Bestrafung erdulden.“76

Das Prinzip der Risikoteilung ist im Rhodischen Seerecht allgegenwärtig. Ausnahmslos alle Schäden, die ohne Verschulden einer der Parteien das Schiff oder die Ladung treffen, sind nach genau festgelegten Anteilen gemeinschaftlich zu tragen.77 So findet eine Gegenseitigkeitsversicherung von Ladung und Schiff gegen die Gefahren des Seeverkehrs statt.78 Modifikationen gibt es dort, wo sich Kaufleute und Schiffer über den Verlauf der Seereise uneins sind. Läuft das Schiff auf Geheiß des Schiffers und gegen den Willen der Kaufleute unplanmäßig einen Hafen an und entsteht hier ein Schaden an Schiff oder Ladung, so haften die Kaufleute nicht für das Schiff, während ihnen der Schiffer für die Ladung haftet. Dasselbe gilt andersherum für den Fall, dass die Kaufleute über eine Landung bestimmen.79 Diese Gegenseitigkeitsversicherung erstreckt sich auch auf die Seeleute, die gegen einen festen Lohn angestellt sind und auf die Sklaven. Beide haben im Falle des Schiffswurfs eine Kontributionspflicht, auch wenn diese nachrangig gegenüber der der Kaufleute ist.80 Ein weiteres genossenschaftliches Element im Verhältnis von Schiffer und Schiffsmannschaft besteht darin, dass sie den übrigen Reisenden gemeinschaftlich den Schaden zu ersetzen haben, der dadurch entsteht, dass das Schiff aufgrund einer gemeinsamen Nachlässigkeit von Schiffer oder Mannschaft einen Schaden erleidet.81 Eine Ersatzpflicht besteht auch in dem Fall, dass Schiffer und Mannschaft verderbliche Ladung nicht vor Wasser schützen.82 Die Schiffsmannschaft wird hierbei haftungsrechtlich als Einheit betrachtet. Sofern ein einzelner Schiffsmann bei einer im Kollektiv wahrzunehmenden Aufgabe nachlässig ist, hat die Schiffsmannschaft in ihrer Gesamtheit den Schaden zu ersetzen.83 Das byzantinische Seerecht weist sowohl Elemente der römischen Kaiserzeit als auch Elemente der im Mittelalter aufkommenden genossenschaftlichen Handelsschifffahrt auf. Es kommt sowohl das klassische Frachtgeschäft als auch eine Gesellschaft zwischen Schiffer und Befrachter vor.84 Entsprechend sind die Einwirkungsmöglichkeiten der Kaufleute auf die Ziele der Schiffsunternehmung und auf nautische Entscheidungen gestiegen. Diese Entwicklungen setzen sich in den Pflichten der Schiffsleute fort. Entsprechend ihrer neuen Rolle als Gesellschafter der 76 Kapitel I Quattuor Capitula Codicum, nach der englischen Übersetzung von Ashburner, ebd., S. 121. 77 Buch III, Kap. 9, 10, 27, 31, 33, 36, 40, 41. 78 Goldschmidt, ZHR 35, 37, 85; v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 317. 79 Buch III, Kap. 39. 80 Buch III, Kap. 9, 38. 81 Buch III, Kap. 10. 82 Buch III, Kap. 34, 38. 83 Ebd. 84 Goldschmidt, ZHR 35, 37, 88.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Schiffsunternehmung müssen sie, wenn auch nicht vorrangig, zum Schiffswurf beitragen. So machen die Unternehmensformen der römischen Kaiserzeit den genossenschaftlichen Unternehmungen des Mittelalters im Laufe der Zeit Platz.85 Die byzantinische Epoche ist damit, auch was die Entwicklung der Rechtsverhältnisse der Seeleute angeht, als Grenzepoche zwischen dem Kaiserreich und dem Mittelalter anzusehen.86

E. Mittelalter: Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb I. Schiffsbetrieb des Mittelalters Die soeben beschriebene Rückkehr zu den Urformen des Seehandels nach Ende des römischen Kaiserreichs hat zwei Auswirkungen. Zum einen eine massive Verkleinerung des Handelsvolumens, zum anderen eine möglichst breite Verteilung des der Schiffsunternehmung immanenten Risikos. Im neuen Jahrtausend wird sich Zweiteres nicht ändern.87 Bis zum Aufkommen der Dampfschifffahrt im 19. Jahrhundert bleibt es dabei, dass sich ein großkapitalistisches Reedereigeschäft nicht lohnt und folglich nicht entsteht.88 Ein Handelsbetrieb, in welchem die Rollen des Reeders und des Befrachters eng verwoben sind, begegnet den Gefahren der Seefahrt besser, indem es die Risiken verteilt und die Beteiligten zu einer wirtschaftlichen Schicksalsgemeinschaft macht. Reeder, Schiffer und Befrachter sind entweder personenidentisch oder tragen als Gesellschafter gemeinschaftlich die Risiken der Schiffsunternehmung. Das Handelsvolumen indes steigert sich ab dem 12. Jahrhundert deutlich. Städtegründungen und der Aufschwung alter Städte, in denen eine neue Gesellschaftsgruppe von Kaufleuten und Fernhändlern an Einfluss gewinnt, sowie die erfolgreiche Zurückdrängung der arabischen Herrschaft im Mittelmeer, schaffen für den Schiffshandel günstige Rahmenbedingungen.89 Der Entwicklung des Seehandels zuträglich sind zudem die Kreuzzüge, die in den Jahren 1096 bis 1272 neben den Kreuzfahrern auch große Pilgerscharen von den italienischen Hafenstädten aus in den Nahen Osten treiben.90 Zu Anfang des zweiten Jahrtausends beheimatet die Handelsstadt Venedig 3000 Handelsschiffe, die bis zu 40 Meter lang sein und bis zu 85

Ebd. Ebd.; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 5, sieht diese Zeit als „Grenzscheid“ zwischen der antiken und der modernen Periode der Seeschifffahrt. Die Zweite habe sich im „bewussten Gegensatz“ zur Ersten entwickelt. Präziser wäre es hier wohl, von einem „zwangsläufigen Gegensatz“ zu sprechen, da der Übergang zur genossenschaftlich geprägten Schiffsunternehmung maßgeblich der Verschlechterung der Rahmenbedingungen geschuldet ist. 87 v. Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts, S. 317 f. 88 Siehe hierzu ausführlich Kapitel § 2, F – H. 89 Ausführlich Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 24 ff. 90 Ebd., S. 25. 86

E. Mittelalter: Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb

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500 Tonnen tragen können.91 Zur Sicherung seiner Handelswege besitzt die Stadt, ebenso wie auch die Städte Genua und Pisa, eine stehende Kriegsflotte.92 Der Handel dieser Städte ist nicht mehr auf den Mittelmeerraum beschränkt. Die Handelsrouten erstrecken sich auch über das Schwarze Meer und die Atlantikküste bis an die Nordsee. Hier werden nicht nur Handelsbeziehungen zur später erblühenden Hanse aufgenommen, sondern auch Seefahrtstechniken ausgetauscht.93 Auch im norddeutschen Raum erblüht zum Ende des 12. Jahrhunderts der Handel. Hier entstehen nach dem Vorbild des 1158 gegründeten Lübeck zahlreiche neue Hafenstädte, die einen regen Seehandel entwickeln.94

II. Seerechtsquellen des Mittelalters Die Seerechtsquellen im Mittelalter lassen sich in drei Rechtskreise aufteilen: einen romanischen, einen germanischen und einen westfränkischen.95 Die Quellen des romanischen Rechtskreises sind an das byzantinische Seeecht angelehnt und prägen die Mittelmeerländer, namentlich Italien, Spanien und Südfrankreich.96 Ihnen wird gemeinhin der stärkste Einfluss auf die Entwicklung des Seerechts zugeschrieben.97 Die wichtigsten Seerechtsquellen sind die Partikularrechte der großen Handelsstädte des Mittelmeers, namentlich Amalfi, Pisa, Venedig und Genua.98 Besonders hervorzuheben ist unter diesen noch einmal das pisanische Recht. Es wird für die Stadt Marseille rezipiert und beeinflusst auch die iberischen Gesetzgebungen.99 Bis zur Verbreitung des Konsulat der See im Mittelmeerraum und den Rôles d’Oléron im germanischen und westfränkischen Rechtskreis100 bestimmt das Stadtrecht der Mittelmeerstädte wesentlich die Entwicklung des Seerechts.

91

Ebd. Ebd., S. 25, 30. 93 Ebd., S. 29. 94 Ebd., S. 40. 95 Goldschmidt, ZHR 35, 321, 322; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 34, zählt für das Mittelalter den westfränkischen und germanischen Rechtskreis zusammen. 96 Goldschmidt, ebd. Dieser rechnet dem germanischen Rechtskreis die Partikularrechte Niederdeutschlands, Hollands, Englands, Skandinaviens und des Baltikums zu. Zum westfränkischen Rechtskreis zählt er Nord- und Westfrankreich und die westlichen Niederlande. Eine Auflistung sämtlicher wichtiger mittelalterlicher Partikularrechtsquellen findet sich bei Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 60. 97 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 9; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 37. 98 Obwohl die Handelsbedingungen in diesen Städten im Wesentlichen gleich waren, lässt sich ein gegenseitiger Einfluss der Gesetzgebungen nicht nachweisen, vgl. Wagner, ebd., S. 38. 99 Ebd., S. 39. 100 Zu diesen beiden Gesetzessammlungen, siehe unten unter § 2 F. 92

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

III. Heuerverhältnis 1. Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb Ab dem 11. Jahrhundert entsteht der genossenschaftliche Schiffsbetrieb des Mittelalters. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich weniger ein festes wirtschaftliches Schema, als vielmehr die Idee, Erfolg und Risiko der Schiffsunternehmung zu teilen. Wie diese Teilung der Risiken aussieht, hängt von der Finanzkraft und der nautischen Expertise der Beteiligten ab.101 Das wohl wichtigste und am weitesten verbreitete genossenschaftliche Verhältnis ist das zwischen dem Befrachter und dem externen Kapitalgeber. Der Befrachter, der gleichzeitig die Waren auf der Reise mitbegleitet und auch seemännische Dienste verrichtet, und der externe Kapitalgeber stellen im Verhältnis eins zu zwei Kapital für eine Schiffsunternehmung zur Verfügung. Der realisierte Gewinn wird dann hälftig aufgeteilt.102 Üblich ist auch eine Form der Gesellschaft, bei der der Kaptialgeber das gesamte Kapital zur Verfügung stellt und drei Viertel des Reisegewinns erhält.103 Die dem Befrachter entstehenden Auslagen werden mit dem Reisegewinn verrechnet; für den üblichen Fall, dass der Befrachter mehrere Vertragsverhältnisse eingeht, geschieht dies anteilig.104 Zu den Auslagen gehören Lebensunterhalt, Kleidung oder die Aufwendungen bei Krankheit sowie die Begräbniskosten im Todesfall.105 2. Die „reinste Form der Genossenschaft“ in Amalfi Die Verschmelzung der Rollen von Reeder, Ladungsinteressent, Kapitän und Schiffsmannschaft findet sich am vollkommensten in Amalfi, das mit der Tabula Amalphitana106 eine der bedeutendensten Gesetzessammlungen des Mittelalters hervorbringt. Die Tabula stammt aus dem 11. Jahrhundert und ist, wie andere Gesetzgebungen des Mittelalters auch, aus der Praxis des ansässigen Seegerichtshofs hervorgegangen.107 Der Schiffsbetrieb von Amalfi wird als „reinste Form der Ge101

Ausführlich hierzu Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 11 ff. Diese Form der Gesellschaft wird in Amalfi und Pisa als societas maris, in Venedig als collegantia und in Genua und Marseille als societas bezeichnet, vgl. Wagner, ebd. Im nordgermanischen Raum ist sie als wedderleghinge bekannt, vgl. Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 15. 103 Abweichend heißt eine solche Gesellschaft in Venedig rogadia und in Genua und Marseille acomendatio, vgl. Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 11. Im Nordgermanischen heißt sie sendeve, vgl. Abel, ebd. 104 Unter Umständen geschieht dies „pro rata“, da ein Befrachter mehrere Vertragsverhältnisse der oben genannten Art abzuschließen pflegt, vgl. Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 11. 105 Ebd. 106 Zugrunde gelegt ist die Übersetzung von Twiss, Monumenta Juridica, S. 1 ff, im Folgenden: Tabula. 107 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 62. 102

E. Mittelalter: Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb

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nossenschaft“ bezeichnet.108 Die Seeleute treten nicht mehr als Sklaven oder einfache Befehlsempfangende auf, sondern nehmen neben dem Reeder und den Ladungsinteressenten nunmehr die Rolle von Gesellschaftern in einer sog. Colonna ein. Es steht in ihrer Mitverantwortung, auf gemeinsame Rechnung für die Anschaffung von Ladungsgegenständen zu sorgen.109 Die getroffene Unterscheidung zwischen nautae und socii110 deutet darauf hin, dass es außer den Schiffsleuten, die meist Gesellschafter sind, auch sonstige Ladungsinteressenten gibt, die keine nautischen Funktionen innehaben. Wie in den übrigen italienischen Handelsstädten üblich, begleiten sie gegen Zahlung eines Entgelts ihre Waren auf dem Schiff und werden hierdurch Teil der Schiffsunternehmung.111 Während in anderen Handelsstädten das Schiff Mittel zum Zwecke des Handels ist („Die Ladung sucht das Schiff“), gilt in Amalfi: „Das Schiff sucht die Ladung“. Können die Seeleute das Kapital für den Ankauf der Ladungsgegenstände nicht aus eigenen Mitteln aufbringen, so ist ein Schiffseigentümer verpflichtet, ihnen ein Darlehen zu gewähren.112 An- und Verkauf von Ladungsgegenständen erfolgen nach Willen und durch Mehrheitsbeschluss der Mannschaft.113 Der Gewinn der Schiffsunternehmung wird gemäß ihrer Frachtanteile unter den Seeleuten aufgeteilt.114 In nautischer Hinsicht steht die Herrschaft über das Schiff grundsätzlich der Gesamtheit der Reisenden zu.115 3. Die übrigen italienischen Handelsstädte In Pisa116 ist es üblich, dass sich eine Gemeinschaft von Ladungsinteressenten, sog. henticales, zusammenfindet, um eine Seehandelsreise zu unternehmen.117 Die Gemeinschaft der Ladungsinteressenten übernimmt die Stellung des Reeders. Sie mietet oder kauft ein Schiff und stellt die nötigen Hilfspersonen, sog. supersalientes, 108

Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 9. Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 13; Haerle, Der Heuervertrag, S. 1; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 9. 110 Tabula, Kap. 23. 111 Die Behauptung Abels, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 13, es gebe außer Reeder und Seeleuten keine Ladungsinteressenten an Bord, ist somit anzuzweifeln. Nach Tabula, Kap. 23 muss der Reeder den Seeleuten und den Beteiligten Rechenschaft ablegen: „Item finito viagio et extractis expensis patronus debet reddere rationem nautis vel sociis (…)“. Auch externe Geldgeber können mit „socii“ nicht gemeint sein, die „socii“ offensichtlich auf dem Schiff fuhren, Tabula, Kap. 10, 13. 112 Tabula, Kap. 17. 113 Tabula, Kap. 18. 114 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 9. 115 Tabula, Kap. 10. 116 Die bedeutendste Gesetzessammlung ist hier das constitutum usus von 1161, welches der Praxis des pisanischen Seegerichtshofs hervorgegangen ist, vgl. Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 39. 117 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 14. 109

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

ein. Diese erhalten entweder einen festen Lohn oder das Recht, eine bestimmte Warenmenge auf eigene Rechnung mitführen zu dürfen.118 Die Seeleute sind, anders als in Amalfi, keine Mitunternehmer, sondern Angestellte. Sie unterstehen der Schiffsgewalt der henticales.119 Im venezianischen Recht120 ist die Teilung der Aufgaben ausgeprägter. Die Organisation des Seehandels ähnelt hier mehr dem Reedereiwesen der Neuzeit als der genossenschaftlichen Kaufmannsschifffahrt des vorangegangenen Jahrtausends.121 Reeder (patronus), Kapitän (nauclerius), Ladungsinteressent (mercatores) und Schiffsmannschaft (marinarii) werden unterschieden.122 Die Herrschaftsgewalt über das Schiff liegt bei der Gemeinschaft von Ladungsinteressenten und den Vertretern der Reeder, welche in gesetzlich begrenzter Anzahl an der Reise teilnehmen.123 Die marinarii werden vom patronus mit einer festen Heuer bezahlt.124 Ein Seemann darf ohne Zustimmung der Mehrheit der mercatores nicht entlassen werden.125 Zum Schutz von Mensch und Ladung wird im venezianischen Seeverkehr erstmals eine sog. Freibordmarkierung eingeführt, die die maximale Eintauchtiefe des Schiffes regelt und es vor Überladung schützen soll.126 Eine solche Freibordmarkierung wird erst im Jahr 1875 in England wieder eingeführt (sog. Plimsoll-Marke) und alsbald zum Standard der weltweiten Seeschifffahrt.127 Im genuesischen Recht schließlich ist die Schiffsmannschaft allein vom Reeder abhängig, der das Schiff auf der Handelsreise begleitet.128 4. Besonderheiten des nordeuropäischen Rechtskreises Der im nordeuropäischen Rechtskreis vorherrschende Schiffsbetrieb ähnelt dem Schiffsbetrieb Amalfis.129 Hier ist es zunächst allein die Genossenschaft der Schiffseigentümer, die den Seehandel betreibt. Externe Ladungsinteressenten, also 118 Dieses sog. Recht der Führung findet sich als ein zentrales Recht der Kaufleute im 14. – 16. Jahrhundert wieder, siehe unten unter § 2 F. II. 3.; vgl. auch Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 15; Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 168; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 14. 119 Wagner, ebd. 120 Insb. das Capitulare nauticum (im Folgenden: „Cap. Naut.“), abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, V, S. 20 ff. 121 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 31. 122 Cap. Naut., Kap. 3 ff. 123 Cap. Naut., Kap. 31. Vgl. hierzu auch Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 15. 124 Cap. Naut., Kap. 28. 125 Cap. Naut., Kap. 46. 126 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 31. 127 Ebd. 128 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 15. 129 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 31.

E. Mittelalter: Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb

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solche Kaufleute, die nicht gleichzeitig Schiffseigentümer sind, gibt es zunächst nicht.130 Entsprechend ist die Größe einer Schiffsunternehmung von vornherein begrenzt. Der Erwerbsgenossenschaft der Schiffseigentümer fehlt es an kaufmännischen Kenntnissen und vor allem an den nötigen Geldmitteln. Andererseits mangelt es den kapitalstarken Landkaufleuten an seemännischer Expertise, um in den lukrativen Seehandel einzusteigen.131 Der Seehandel allein durch die Schiffseigentümer ist bis zu Anfang des 13. Jahrhunderts vorherrschend. Ab diesem Zeitpunkt führt das Institut der Schiffsmiete Schiffseigentümer und Ladungsinteressenten zusammen. Die Schiffseigentümer beladen das Schiff weiterhin mit eigener Ware, nehmen aber zusätzlich Landkaufleute gegen Zahlung einer Vergütung zum Bestimmungshafen mit.132

IV. Personenrechtliches Verhältnis 1. Kein staatlicher Einfluss im nordeuropäischen Rechtskreis bis zum 13. Jahrhundert Die Betrachtungsweise, das Schiff als schwimmenden Teil des Staatsgebiets anzusehen, entstammt erst der Mitte des 20. Jahrhunderts.133 Doch bereits im Laufe des späten Mittelalters beginnt die Staatsgewalt, die personenrechtlichen Verhältnisse an Bord zu regeln. Im römischen Recht machte das Sklaventum besondere Regeln zur personenrechtlichen Seite der Schiffsgewalt überflüssig und auch bis ins 13. Jahrhundert enthält sich die Staatsgewalt der Einmischung in die personenrechtlichen Beziehungen an Bord vollständig.134 Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung an Land sind für die Schiffsinsassen nicht von Bedeutung. Weder findet eine Verleihung staatlicher Befugnisse statt, noch sind Vorkommnisse an Bord der Gerichtsbarkeit an

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Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 14. Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 38. 132 Ebd., S. 39. 133 Art. 5 des Übereinkommens vom 29.4.1958 über die Hohe See, welches im Rahmen der Genfer UN-Seerechtskonferenz verabschiedet wurde und eines von vier Übereinkommen der Genfer Seerechtskonvention ist; abrufbar unter: https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19580064/index.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. In deutsches Recht überführt wurde das Übereinkommen durch das Gesetz zum Übereinkommen vom 29. April 1958 über die Hohe See vom 21. September 1972 (BGBl. II, S. 1089). 134 Ausführlich hierzu Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 42 ff., auch mit Blick auf das allgemeine Rechtssetzungsbestreben der Staatsgewalt bis ins 13. Jahrhundert: „Die Territorialherren sind nur selten fähig, die Bedürfnisse nichtagrarischer Wirtschaftsformen richtig zu würdigen; durch eigene Gesetze den Seeverkehr zu regeln, war ihnen natürlich erst recht unmöglich.“ 131

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Land unterworfen.135 Die Gewalt über das Schiff und die hierauf befindlichen Personen und Sachen ist damit von der Staatsgewalt vollkommen unabhängig. Allerdings orientiert sich der zur Bestrafung berufene Schiffsrat136 bei der Ahndung von Vergehen auf See an den an Land üblichen Strafen.137 Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts greifen auf deutschem Raum die Stadtrechte Seebräuche auf und kodifizieren diese in ihren Statuten.138 Erstmals werden handelsrechtliche Normen erlassen und Seeschiedsgerichte mit staatlicher Autorität versehen.139 Als erste Stadt führt Hamburg mit einem Statut von 1270 die Pflicht zur Flaggenführung ein.140 2. Autorität des Schiffsrats Das späte Mittelalter wird den Schiffer kennen, der dem Schiffsmann als Vertragspartner und als befehlende Autorität gegenübersteht. Anders sind die Verhältnisse zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert. Unter den mittelalterlichen Rechtsordnungen des Mittelmeers und Nordeuropas ist der Schiffer als „Erster unter Gleichen“ nicht mehr als ein „technischer Leiter“ der Schiffsunternehmung.141 In nautischer und personenrechtlicher Hinsicht wird die Schiffsgewalt – mit Blick auf die Gleichstellung der Beteiligten in wirtschaftlicher Hinsicht folgerichtig – im Mittelalter von allen an Bord befindlichen Personen gemeinsam im sog. Schiffsrat ausgeübt.142 Diesem Schiffsrat gehören grundsätzlich sämtliche wirtschaftlich an der Schiffsunternehmung Beteiligten an. Dort, wo sich die Beteiligten in Ladungsinteressenten, Reeder, Schiffer und Seeleute unterscheiden lassen, besteht der Schiffsrat aus Repräsentanten der jeweiligen Gruppen.143 Die Kompetenzen des Schiffsrats reichen weit. So werden Streitigkeiten zwischen Schiffsleuten auf See vor dem Schiffsrat entschieden und nicht vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit.144 Dies

135

Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 41. Zum Schiffsrat, siehe ausführlich sogleich unter § 2 E. III. 2. 137 Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 44. 138 Übersicht bei Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 43 f. 139 Zuerst in Lübeck im Jahr 1188, andere Küstenstädte folgen im 13. Jahrhundert, ebd. 140 Statut von Hamburg von 1270, Kap. XXVI, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 337 ff. 141 Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 25. 142 Siehe Statut von Schleswig von ca. 1150, Kap. LXXI, nach welchem die Schiffsleute (Sciplüde) die Reise unter Umständen ohne den Schiffer (Scipper) fortsetzen können, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 230 ff. 143 So z. B. in Venedig, wo er aus drei mercatores, einem patronus und dem nauclerus besteht, vgl. Cap. Naut., Kap. 88. 144 Statut von Hadersleben von 1292, Art. XXXIII, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 233. 136

E. Mittelalter: Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb

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gilt auch für Klagen von Nicht-Besatzungsmitgliedern gegen Schiffsleute.145 In Kapitaldelikten übt der Schiffsrat eine strafrichterliche Funktion aus.146 Strafen werden auch durch ihn vollstreckt.147 Mit der Entstehung der Stadtrechte ändert sich diese gerichtliche Zuständigkeit dahingehend, dass sämtliche Straftaten der ansässigen Schiffsleute, auch solche, die nicht im Heimathafen begangen werden, der Gerichtsbarkeit der Seestädte unterliegen.148 Obwohl sie dem Schiffer immer größere Kompetenzen zuschreiben, sehen viele Rechtsordnungen bis zum 16. Jahrhundert vor, dass er zur Feststellung eines Fehlverhaltens an Bord des Zeugnisses einer bestimmten Anzahl von anderen Schiffsleuten bedarf.149 Neben der Rechtsprechungsbefugnis kommt dem Schiffsrat ein Mitspracherecht bei Fragen der Schiffsführung zu. Dies betrifft insbesondere solche Fragen, in denen seemännische Erfahrung eine Rolle spielt. So entscheidet die Mehrheit des Schiffsrats, ob die Witterungsbedingungen in einem Hafen das Auslaufen des Schiffes ermöglichen.150 Eine Mitentscheidungsbefugnis besteht auch in der Frage des Schiffswurfs.151 Im Hamburgischen Recht entscheidet die Mehrheit des Schiffsrats bis ins 17. Jahrhundert hinein, ob bei einem schweren Unfall das Schiff aufgegeben oder repariert wird.152 Die Zurückhaltung der Staatsgewalt hinsichtlich der auf dem Schiff herrschenden Rechtsverhältnisse hat zur Konsequenz, dass das Mittelalter die Unterscheidung zwischen einer privatrechtlichen und einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung eines Schiffsmanns nicht kennt.153 Die Pflicht zur Einhaltung der Borddisziplin, die man im 19. Jahrhundert als vertragliche und heutzutage als öffentlich-rechtliche Verhaltenspflicht begreift,154 besteht nur gegenüber den anderen Mitgliedern der Schicksalsgemeinschaft. Dies wird auch dadurch verdeutlicht, dass es üblich ist, eine 145 Lübecker Stadtrecht von 1240, Art. LXXXIV, abgedruckt bei und nach der Übersetzung von Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 400 ff.: „Si quelqu’un vient former une demande contre quelqu’un de l’équipage, devant le patron et des gens qui se trouvent à bord, à raison d’une dette ou pour toute autre cause, le patron et des gens de l’équipage statueront suivant le droit maritime.“ 146 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 169. 147 Statut von Schleswig von ca. 1150, Kap. LXXIII. 148 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 42. 149 Hanserezess von 1378, Art. III, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, II, S. 455 ff.; Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XXX, abgedruckt bei Engelbrecht, Sammlung aller Seerechte, S. 116 ff. 150 Rôles d’Oléron, Art. II, abrufbar auf der Internetseite der Bibliothèque nationale de France; abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6105243f/f3.image.r=; letzter Abruf vom 14.10.2019; Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Titel XIV Art. IX, abgedruckt bei Langenbeck, Hamburgisches Schiff- und See-Recht, S. 22 ff. 151 Rôles d’Oléron, Art. VIII; Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Titel XIV Art. XXXI. 152 Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Titel XIV Art. VI. 153 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 20. 154 Siehe § 120 SeeArbG.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

aufgrund einer Disziplinlosigkeit zu zahlende Geldbuße unter den übrigen Schiffsleuten zu verteilen.155 Verhaltensbedingt auferlegte Geldbußen haben also eine Schadensersatzfunktion zugunsten der Bordgemeinschaft.

V. Zusammenfassung Gebietsübergreifend gibt es weder im Mittelmeerraum noch im nordeuropäischen Raum einen Schiffsbetrieb mit der heute bekannten Arbeitsteilung. Reeder und Schiffer sind, im Norden noch häufiger als im Süden, personenidentisch.156 Der Befrachter begleitet bis ins 15. Jahrhundert hinein seine Waren selbst. Auch dort, wo die genannten Rollen nicht verschmolzen sind, stehen sie in einem engeren Verhältnis zueinander. Die seemännischen Entscheidungen werden im Schiffsrat getroffen, der entweder beratschlagende oder beschlussfassende Funktionen ausübt.157 Die Schiffsbesatzung partizipiert in aller Regel an den Gewinnen, die die Schiffsunternehmung mit sich bringt.158 Durch die unterschiedlichen Arten des Schiffsbetriebs am Anfang des zweiten Jahrtausends fällt es schwer, bei der Untersuchung eines seemännischen Arbeitsrechts die persönliche Anknüpfung zu finden. Verschiedene Personengruppen führen seemännische Aufgaben aus. Der Reisende, der gleichermaßen Kaufmann und Schiffsmann ist, die aus dem pisanischen und venizianischen Recht bekannten Hilfsmannschaften oder schließlich der Reeder selbst, der meist zugleich Schiffer ist: sie alle sind historische Vorgänger der heutigen Besatzungsmitglieder. Auch dort, wo es üblich ist, dass Schiffseigentümer oder Ladungsinteressenten abhängige Hilfskräfte beschäftigen, findet sich keine Kodifizierung ihrer Rechte. Fest steht, dass sie für ihre Dienste bezahlt werden, sei es mit einer festen Heuer oder mit dem Recht, Waren mitzuführen. Wie schon im Rhodischen Seerecht ist im mittelalterlichen Schiffsbetrieb das Prinzip der Risikoteilung allgegenwärtig. Hauptsächlich zwischen Reeder und Ladungsinteressent, doch auch unter Einbeziehung der Schiffsmannschaft finden Gegenseitigkeitsversicherungen statt. In tatsächlicher und in wirtschaftlicher Hinsicht ist jeder Beteiligte Teil einer Schicksalsgemeinschaft.

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Siehe beispielsweise die Art. VII und VIII des Hamburgisches Stadtrechts von 1292, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 337, nach denen ein wachegehender Seemann, der ohne Erlaubnis schläft, eine Strafe zu zahlen hat (Art. VII), die ebenso der Lohn eines seekrank gewordenen Seemanns (Art. VIII) gleichermaßen auf Schiffer und Besatzung aufzuteilen ist. 156 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 14; Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 168. 157 Pappenheim, ebd., S. 168. 158 Ebd.

F. 14. bis 16. Jahrhundert: Beginn der abhängigen Beschäftigung auf See

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F. 14. bis 16. Jahrhundert: Beginn der abhängigen Beschäftigung auf See I. Schiffsbetrieb ab Ende des Mittelalters 1. Frachtverträge und Seedarlehen Während bis zum Ende des 13. Jahrhunderts die Mittelmeerstädte den Seehandel prägen, blüht in der Hochzeit der Hanse der Seeverkehr in Nord- und Ostsee auf. Neben diesen beiden Kerngebieten dehnen sich die Handelsrouten der Hanse bis zur Atlantikküste Portugals aus.159 Die Dominanz der Hanse wird erst im Ende des 15. Jahrhunderts durch die entstehenden Sonderinteressen der Hansestädte und das Erstarken der niederländischen Seefahrt beendet.160 Das Volumen des Seehandels vergrößert sich weiterhin. Es ist üblich, dass eine Vielzahl von Beteiligten, unter ihnen oft auch der Schiffer, als Partenreeder gemeinsame Eigentümer eines Schiffes sind.161 Häufig stehen die Schiffe auch im Eigentum großer Handelshäuser.162 Die im Mittelalter auftretenden Gesellschaftsverhältnisse zwischen Reeder und Ladungsinteressenten werden ersetzt durch Verträge, wie sie auch in der Gegenwart anzutreffen sind.163 Beim sog. Chartervertrag stellt der Schiffseigentümer sein Schiff einem Befrachter zur Verfügung. Beim sog. Stückgütervertrag, der dem heute bekannten Frachtvertrag entspricht, übernimmt der Schiffseigentümer selbst die Beförderung.164 Beim Stückgütervertrag, der im Laufe der Zeit den Chartervertrag verdrängt, stehen zwei Arten von Ladungsinteressenten in Geschäftsbeziehung miteinander. Einerseits der Absender bzw. Befrachter, der den Frachtvertrag mit dem Reeder abschließt, andererseits der Empfänger, der zunächst am Frachtvertrag nicht beteiligt ist und daher aus diesem nur als Vertreter des Befrachters Rechte ableiten kann.165 Anders als im genossenschaftlichen Schiffsbetrieb erwirtschaftet der Reeder seinen Gewinn nun hauptsächlich durch den Abschluss von Verträgen mit den Ladungsinteressenten.166 Es ist jedoch nach wie vor üblich, dass die Ladungsinteressenten auf dem Schiff anwesend sind und ihre Waren selbst begleiten.167 Obgleich hierdurch sowohl im nordeuropäischen Rechtskreis als auch im Mittelmeerraum ein „reiner“ Reedereibetrieb entsteht, wird sich bis ins 19. Jahrhundert die kapitalisti159 160 161 162 163 164 165 166 167

Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 41. Ebd., S. 42. Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 43. Ebd., S. 28. Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 20. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 138. Ebd. Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 20. Ebd.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

sche Großreederei nicht ausbilden. Eine solche Risikozentrierung wird erst mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt stattfinden.168 Zu Beginn der Zeit der Frachtverträge bleiben die Parteien weiterhin bestrebt, die Risiken der Schiffsunternehmung nicht zu bündeln, sondern zu verteilen. Wo vorher stets galt, dass das Risiko der Schiffsunternehmung unter den an ihr beteiligten Mitgliedern aufzuteilen war („ein Schiff, viele Risikoträger“), so gilt nunmehr, dass Ladungsinteressenten ihre Waren auf mehrere Schiffe verteilen, um das Risiko zu streuen („ein Risikoträger, viele Schiffe“).169 Demselben Gedanken entspringt, dass ein Reeder nicht etwa ein oder mehrere Schiffe erwirbt, sondern eine Vielzahl von Schiffsparten170 verschiedener Schiffe.171 Die Finanzierung der Frachtgeschäfte übernehmen externe Kapitalgeber, allerdings nicht mehr als Gesellschafter, sondern als Darlehensgeber. Bis zum Aufkommen des Versicherungswesens im 15. Jahrhundert ist das Seedarlehen im Mittelalter das wichtigste Mittel zur Finanzierung einer Seeunternehmung.172 Für den Kapitalgeber hat die Handelsunternehmung den Charakter eines Spekulationsgeschäfts. Er lässt sich das investierte Kapital hoch verzinsen und trägt im Gegenzug das Risiko der Schiffsunternehmung.173 Bei Erfolg der Unternehmung liegt der zurückzuzahlende Zins deutlich über dem gewöhnlichen Satz,174 während der Darlehensgeber bei Scheitern der Unternehmung Zinsen und Kapital verliert.175 Ähnlichen Regeln folgt die aus dem germanischen Rechtskreis stammende Bodmerei. Bei dieser übernimmt der Darlehensgeber gegen eine Prämie und gegen die Verpfändung des Schiffs und der Ladung die Seegefahr.176 Eine Zäsur in der Geschichte des Seehandels bedeutet das Aufkommen des Versicherungsgeschäfts im 15. Jahrhundert. Hierdurch und aufgrund der weiteren Verbreitung von Handelsniederlassungen, insbesondere im Raum der Hanse, endet endgültig die Praxis, dass die Kaufleute ihre Waren begleiten. Auch endet die Sitte, dass Reedervertreter während der Schiffsreise die Schiffsbesatzung kontrollieren.177

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Ebd. Ebd. 170 Die Partenreederei war bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Seehandelsrechts am 25.4.2013 in § 489 HGB a. F. geregelt. Dessen Abs. 1 lautete: „Wird von mehreren Personen ein ihnen gemeinschaftlich zustehendes Schiff zum Erwerbe durch die Seefahrt verwendet, so besteht eine Reederei.“ 171 Das Eigentum an einem Schiff wird bereits im Mittelalter in bis zu 100 Parten aufgeteilt, vgl. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 148; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 21. 172 Wagner, ebd., S. 25. 173 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 153; Wagner, ebd. 174 Gewöhnlich sind Prämien von bis zu 35 %, vgl. Pappenheim, ebd.; Wagner, ebd. 175 Pappenheim, ebd. 176 Ebd., S. 154, 165. 177 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 19; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 23. 169

F. 14. bis 16. Jahrhundert: Beginn der abhängigen Beschäftigung auf See

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Die Position des Schiffers wird hierdurch aufgewertet: Nunmehr ist er es, der für die schadlose Ablieferung der Ware haftet.178 2. Wachsender staatlicher Einfluss auf die Seefahrt Ab dem 13. Jahrhundert wächst der staatliche Kontrolleinfluss auf die Seefahrt. Dies betrifft zum einen die Schiffssicherheit. Es werden, auch im Interesse der Seeleute, Mannschaftsstärken und der Schiffsbau- und Ausrüstungsstandard geregelt.179 Zum anderen beginnt der Staat, den Wirtschaftsfaktor Seefahrt in protektionistischer Weise für sich zu nutzen. Einheimischen Schiffsleuten ist es verboten, auf fremden Schiffen zu anzuheuern, umgekehrt werden Fremde von der heimischen Seefahrt ausgeschlossen.180 So sind Nicht-Einheimische bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts oft gesetzlich an der Erbauung und am Erwerb von Schiffen gehindert. Ferner gelten für sie Begrenzungen bei der Befrachtung von Schiffen.181 Der staatliche Einfluss geht in der Hansestadt Hamburg so weit, dass die Höhe der Heuer der Seeleute verbindlich festgelegt wird.182 Eine solche Regelung bleibt aber die Ausnahme. Ab dem 16. Jahrhundert beginnen die Gesetzgebungen, das Verhalten der Seeleute an Bord zu regeln. Das Lübecker Seerecht von 1542183 verbietet beispielsweise das Abhalten von Trink- und Beischlaf-Orgien an Bord und die grundlose Zurückweisung der Speise durch den Schiffsmann.184 Außerdem wird der Schiffer unter Strafandrohung verpflichtet, dem Rat der Stadt Gesetzesverstöße auf dem Schiff anzuzeigen.185 3. Hervorgehobene Rolle des Schiffers im nordeuropäischen Rechtskreis Eine Besonderheit des nordeuropäischen Rechtskreises besteht darin, dass hier sehr viel früher als im Süden die Person des Schiffers als nautischer Verantwortlicher der Schiffsunternehmung hervortritt.186 Hierfür erhält er besondere Vergütungen, die ihm die Finanzkraft verleihen, nach einigen Dienstjahren ein Schiff auf eigene

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Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 25. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 157. 180 Ebd., S. 174. 181 Ebd., S. 133. 182 Hamburgisches Stadtrecht von 1292, Art. XVII. 183 Abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 425 ff. 184 Lübecker Seerecht von 1542, Art. XXV, XXXIII, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 425 ff. 185 Lübecker Seerecht von 1542, Art. XL. 186 Haerle, Der Heuervertrag, S. 3; Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 168. 179

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Rechnung auszurüsten und es fortan als Reeder zu betreiben.187 Selbst später, als der Reederbetrieb wieder in größerem Umfang stattfindet, ist der Schiffer meist Mitunternehmer des Reeders und als solcher quotenmäßig an der Fracht beteiligt.188 Erst in den späten Gesetzgebungen der Hanse des 16. und 17. Jahrhunderts tritt er wieder als Angestellter des Reeders auf.189 Es liegt aber weiterhin in seiner Hand, die Heuerverhältnisse mit den Schiffsleuten abzuschließen. Zum Reeder steht er hierbei in einem Geschäftsbesorgungsverhältnis.190 Der Schiffer allein ist für die Durchführung des Heuerverhältnisses in eigenem Namen verantwortlich. Ihm gegenüber ist der Schiffsmann zur Erfüllung des Vertrags verpflichtet.191 Dementsprechend steht der Schiffsmann zu keiner Zeit in einem Vertragsverhältnis zum Reeder, sondern verpflichtet sich stets einem bestimmten Schiffer auf einem bestimmten Schiff.192 Wenn der Schiffer sein Schiff oder seine Schiffspart verkauft, sind die Schiffsleute nicht weiter dem Schiff verpflichtet.193 Bleibt der Schiffer trotz des Schiffsverkaufs an Bord, so bleiben die vertraglichen Verpflichtungen der Schiffsleute unberührt.194

II. Seerechtsquellen ab Ende des Mittelalters Das Spätmittelalter wird ganz maßgeblich von zwei gemeinrechtlichen Gesetzgebungen geprägt, namentlich vom Konsulat der See195 (im Folgenden: Konsulat) und von den Rôles d’Oléron196. Das Konsulat gilt als die „Mutter aller Seerechte im 187 Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 40. Nach dem Hamburgischen Stadtrecht von 1497, Titel XIV Art. XXIV, steht es einem abhängig beschäftigten Steuermann frei, sich bei einem Schiffskauf aus seinem Vertragsverhältnis mit dem Reeder zu lösen. Der Schiffskauf durch den Steuermann muss also möglich gewesen sein. 188 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 168. 189 Siehe Titel IVArt. V des Revidierten Hanseatischen Seerechts von 1614, abgedruckt bei Engelbrecht, Sammlung aller Seerechte, S. 127 ff., der festlegt, dass der Schiffer, wenn er den Seemann zu Unrecht vor der Abreise entlässt, diesem einen Teil der Heuer zahlen muss, ohne dies dem Reeder in Rechnung stellen zu können. Es wird deutlich, dass der Schiffer zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) in einem Gesellschafts-, sondern vielmehr in einem Geschäftsbesorgungsverhältnis zum Reeder steht. 190 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 20. 191 Ebd. 192 Ebd., S. 21. 193 Siehe Kap. XI des Lübecker Seerechts von 1299, abgedruckt bei abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 404 ff. 194 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 21. 195 Abgedruckt bei und übersetzt von von Engelbrecht, Sammlung aller Seerechte, S. 189 ff. 196 Der Text der Rôles d’Oléron ist abrufbar auf der Internetseite der Bibliothèque Nationale de France; abrufbar unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6105243f/f3.image.r=, letzter Aufruf vom 14.10.2019.

F. 14. bis 16. Jahrhundert: Beginn der abhängigen Beschäftigung auf See

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Mittelmeergebiet“.197 Es entsteht um 1370 als Aufzeichnung von Gewohnheitsrecht in Barcelona.198 Seine Bedeutung ist kaum zu überschätzen. In knapp 300 mitunter sehr ausführlichen Vorschriften werden sämtliche Fragen des Seehandelsrechts, darunter auch die Rechtsverhältnisse der Personen an Bord geregelt. Die Sammlung enthält detaillierte Vorschriften über die Verhältnisse zwischen Reeder, Schiffer und Mannschaft. Der Einfluss des Konsulats reicht bis in die Gesetzgebungen der Moderne, da zahlreiche folgende europäische Gesetzgebungen Anleihen am Konsulat nehmen.199 Während bis zum Ausgang des Mittelalters die Gesetzgebung des Mittelmeerraumes die Entwicklung des Seehandels maßgeblich geprägt hat, gewinnen seit Ende des 13. Jahrhunderts die Gesetzgebungen des nordeuropäischen Raums an Einfluss.200 Von größter Bedeutung ist hierbei das Seerecht von Oléron, das sich bereits im 13. Jahrhundert aus der Rechtsprechung des dortigen Seegerichtshofs entwickelt hat.201 Es wird zu Anfang des 15. Jahrhunderts teilweise vom Wisby’schen Seerecht202 rezipiert und geht mit diesem im sog. Waterrecht auf.203 Es wird schließlich in allen deutschen Hansestädten als subsidiäres Recht rezipiert, in welchen bis dahin das Hamburgische (für die Nordsee) und das Lübecker Stadtrecht (Ostsee) maßgeblich gewesen sind.204 Seine Geltung erstreckt sich über die gesamte kastillianische und französische Atlantikküste bis hin nach England.205 Mit den Rôles d’Oléron beginnt sich ein seemännisches Arbeitsrecht auf deutschem Raum herauszubilden.206

III. Heuerverhältnis 1. Beginn einer abhängigen Beschäftigung Das Heuerverhältnis als obligatorischer Vertrag zwischen Reeder und Schiffsmann erfährt durch das Konsulat seine Ausbildung. Die Schiffsleute können auf verschiedene Arten vergütet werden. Am häufigsten verheuert sich der Schiffsmann für die Dauer einer einzelnen Reise.207 Sowohl die nordeuropäischen als auch die 197

Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 10. Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 57. 199 Ebd., S. 58. 200 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 18. 201 Die Bedeutung Olérons gründet vor allem auf seinem Salzreichtum. Dieses Salz wird unter anderem für den Handel mit Heringen – einem der wichtigsten Handelsartikel des damaligen Nordeuropas – benötigt, vgl. Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 19. 202 Abgedruckt bei Engelbrecht, Sammlung aller Seerechte, S. 77 ff. 203 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 44. 204 Ebd. 205 Ebd.; Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 76. 206 So sieht es auch Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 44. 207 Haerle, Der Heuervertrag, S. 3. 198

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

mittelmeerischen Rechtsordnungen kennen weiterhin die Verheuerung auf einen Fracht- oder Gewinnanteil.208 Eine solche ist zwar in vielen Rechtsordnungen des späten 19. Jahrhunderts noch vorgesehen, hat aber zu diesem Zeitpunkt an Bedeutung verloren.209 Während das Konsulat die Monatsheuer bereits kennt, kommt diese im nordeuropäischen Rechtskreis erst seit dem 17. Jahrhundert vor.210 Ab dem 14. Jahrhundert wird der Schiffsmann, der sich gegen ein fest bemessenes Gehalt verheuert, im europäischen Raum zum Leitbild der Beschäftigungsformen auf einem Schiff. Vertragspartner des Schiffsmanns ist im Geltungsbereich des Konsulats der senyor de nau.211 Er ist der geschäftsführende Reeder, der die Schiffsunternehmung begleitet und für Abschluss und Durchführung der Heuerverträge mit den Seeleuten und dem nauclerus, dem nautischen Direktor, verantwortlich ist.212 Während früher die Schiffsleute mitunter nur mit der Zustimmung der Ladungsinteressenten entlassen werden konnten, kann der senyor de nau nach dem Konsulat Entlassungen eigenständig vornehmen und ist lediglich zur Ergänzung der Schiffsmannschaft verpflichtet.213 Auch die Schiffsgewalt liegt in seinen Händen, während der nauclerus lediglich ausführend und beratend, vergleichbar einem heutigen Schiffsoffizier, tätig ist.214 Neben seiner Stellung als nautischer Verantwortlicher besitzt der senyor de nau eine gesetzliche Vertretungsmacht für die übrigen Reeder und Ladungsinteressenten.215 Später ist es die Regel, dass auch der senyor de nau in einem Abhängigkeitsverhältnis zu dem oder den Reedern steht.216 Eine wichtige Rolle beim Vertragsschluss der Schiffsleute nimmt der sog. Schiffsschreiber ein. Dieser hat in den Gebieten des Mittelmeerraums die Rolle eines Schiffsnotars inne und beurkundet alle rechtlich bedeutsamen Geschäfte an Bord.217 Der Heuervertragsschluss nach dem Konsulat kann entweder durch Eintragung in die Urkundenrolle des Schiffsschreibers oder durch Handschlag stattfinden.218 Daneben kommt als formaler Akt des Vertragsschlusses das Aushändigen eines Handgelds in Betracht.219

208

Rôles d’Oléron, Art. XVI; Konsulat, Kap. 135; Wisby’sches Seerecht, Art. XXX. Pöhls, Gemeines Handelsrecht, S. 253; vgl. auch den in der Praxis außerhalb der Fischerei kaum noch bedeutsamen § 38 Abs. 2 SeeArbG. 210 Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 31 m. w. N. 211 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 10. 212 Ebd.; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 18. 213 Wagner, ebd. 214 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 12. 215 Ausführlich hierzu Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 170. 216 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 12. 217 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 176; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 21; siehe ausführlich zum Schiffsschreiber Konsulat, Kap. 55 – 58. 218 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 10. 219 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 176. 209

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Anfang des 15. Jahrhunderts entwickelt sich im nordeuropäischen Rechtskreis das Institut der Musterung.220 Die Musterung bezeichnet nach dem Verständnis des späten 20. Jahrhunderts die vom Seemannsamt vorgenommene Eintragung eines Seemanns in die Musterrolle eines Schiffes.221 Ursprünglich ist die Musterung rein privatrechtlicher Natur und dient der Besichtigung und Überprüfung der angeheuerten Mannschaft hinsichtlich ihrer Tauglichkeit durch den Reeder.222 Die Gültigkeit des Heuervertrages ist von einer erfolgreichen Musterung abhängig.223 2. Grundsatz: „Die Fracht ist die Mutter der Gage“ Dass die Schifffahrt sich im Hinblick auf die Heuerverhältnisse noch nicht von der genossenschaftlichen Betriebsweise gelöst hat, zeigt der Grundsatz „Die Fracht ist die Mutter der Gage“.224 Dieser wird vor allem durch das Konsulat ausgebildet, gilt aber auch im nordeuropäischen Rechtskreis als stillschweigend vereinbarte Grundlage des Heuervertrags.225 Die Heuer ist dem Grunde und der Höhe nach von der durch den Reeder verdienten Fracht abhängig. Sie ist nur dann zu zahlen, wenn der Reeder die Beförderung der Güter bewirkt und die Fracht verdient hat. Erhöht oder verringert sich die Fracht, so ändert sich entsprechend auch die Heuer.226 Verdient ist die Heuer in der Regel mit Ende der Reise.227 Dem Bedürfnis der Schiffsleute, auch während der Reise über Geldmittel zu verfügen, wird dadurch Rechnung getragen, dass entweder ein Handgeld als Heuervorschuss zu bezahlen ist oder von vornherein ein Teil der Heuer vor oder während der Reise fällig wird.228 Gebräuchlich ist es dementsprechend, die Heuerzahlung auf Abreise, Ankunft im Löschhafen und Heimkehr zu dritteln.229 Die teilweise Vorauszahlung der Heuer bleibt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts üblich.230

220

Ebd. Vgl. § 13 SeemG. 222 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 176. 223 Ebd., S. 177. 224 Begriff unter anderem nach Monnerjahn, Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 11; siehe auch Konsulat, Kap. 167: „[…] so das Schiff Fracht verdient, so auch [die Schiffsleute] ihren Lohn.“. 225 So Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 34, der dies damit begründet, dass der feste Heuerlohn aus der Verheuerung auf den Frachtanteil entstammt und eine Unabhängigkeit der Heuerforderung von der Frachtforderung des Schiffers bzw. Reeders die Entwicklung des Heuervertrags aus dem genossenschaftlichen Schiffsbetrieb konterkarieren würde. 226 Lübecker Seerecht von 1299, Art. XXXV; Konsulat, Kap. 135. 227 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 188. 228 Ebd. 229 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 36 m. w. N. 230 § 45 Abs. 1 SeemO 1902. § 47 Abs. 2 SeemO 1902 verweist hinsichtlich des zu zahlenden Handgelds auf den Ortsgebrauch des Anmusterungshafens. 221

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

3. „Recht der Führung“ Als zentrales Recht der Schiffsleute aus dem Heuerverhältnis rückt das „Recht der Führung“ in den Vordergrund.231 Hiernach darf der Schiffsmann ein bestimmtes Quantum an Waren auf dem Schiff mitführen, um hiermit auf eigene Rechnung Handel zu treiben. Der Schiffer muss ihm hierfür einen Teil des Laderaums zur Verfügung stellen.232 Die mitgeführte Warenmenge ist geringer als zu Zeiten, in denen der Schiffsmann als Ladungsinteressent auftrat.233 Das Recht der Führung wird eher als Bonus zur Heuerforderung betrachtet, was sich auch daran zeigt, dass die erlaubte Warenmenge abhängig ist vom Rang des Schiffsmanns.234 Die wirtschaftliche Bedeutung dieses Instituts für den Schiffsmann verdeutlicht auch die Tatsache, dass einige Rechtsordnungen den Schiffer verpflichten, dem Schiffsmann ein Darlehen für den Erwerb der Führung zu geben.235 Zudem sind die geführten Güter mit dem Privileg der Zollfreiheit versehen und von der Kontributionspflicht beim Schiffswurf befreit oder zumindest privilegiert.236 Mit dem Recht der Führung verwandt sind die sog. Pacotillenverträge, die ebenfalls ein einträgliches Geschäft für die Seeleute sind. Hier füllt der Schiffsmann den ihm auf dem Schiff zur Verfügung stehenden Raum mit Waren, die ihm ein Dritter zur Verfügung stellt, um diese entweder auf gemeinsame Rechnung oder auf Kommission für den Dritten zu verkaufen.237 Mit Aufkommen der Kaperfahrt kommt für Schiffsleute auf Kaperschiffen ein weiterer Heueranteil hinzu. Der Mannschaft steht hier neben der gewöhnlichen Heuer in der Regel ein Teil des Beuteerlöses, die sog. Prise, zu, die die gewöhnliche Heuer mitunter um ein Vielfaches übersteigt.238 4. Entwicklung der Fürsorge Mit Beginn der abhängigen Beschäftigung kommt der Schiffsmann in den Genuss der Fürsorge, die ihm durch den Reeder oder den Schiffer zuteil wird. Während es früher üblich war, dass sich die Schiffsleute auf der Reise selbst verpflegten, wird nun die Verpflegung als Nebenleistung zum Heuervertrag zur Regel.239 Dieser Verpflegungsanspruch beschränkt sich jedoch bis ins 17. Jahrhundert auf die Zeit, in der sich 231

Vgl. Konsulat, Kap. 128. Ebd. 233 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 186. 234 Ebd.; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 19. 235 Haerle, Der Heuervertrag, S. 3. 236 Befreiung von der Kontributionspflicht nach dem Konsulat, Kap. 128; Privilegierung nach dem Hamburgischen Stadtrecht von 1292, Art. XXVII und den Rôles d’Oléron, Art. VIII. 237 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 187; Pöhls, Gemeines Handelsrecht, S. 275. 238 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 55. 239 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 190. 232

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das Schiff tatsächlich auf See befindet.240 Das Konsulat schreibt, ähnlich den Speiserollen der Gesetzgebungen des 20. Jahrhunderts, bereits detailliert vor, welche Speisen der Mannschaft wie oft zu gewähren sind: „Ein Schiffer […] muss dem Volk dreimal in der Woche Fleisch zu essen geben; nämlich sonntags, dienstags und donnerstags, und die anderen Wochentage Suppe; und alle Abende Zugemüse […].“241 Eine solche Regelung findet sich in den hanseatischen und skandinavischen Gesetzgebungen erst ab dem 16. Jahrhundert.242 Auch etabliert sich die Fürsorgepflicht des Schiffers für den kranken und verletzten Schiffsmann. Es ist bereits im 14. Jahrhundert anerkannt, dass der Schiffer in der Pflicht steht, einen verletzten oder erkrankten Schiffsmann heilen zu lassen und ihm seine Heuer fortzuzahlen.243 Die Rechtsordnungen differenzieren in der Regel: Vor Abreise des Schiffes muss der Schiffer den kranken Schiffsmann an Land bringen und ihm Pflege besorgen, er muss aber nicht auf dessen Genesung warten, sondern kann weiterreisen.244 Der Schiffsmann erhält seinen Lohn, abzüglich der Pflegekosten. Erkrankt der Seemann während einer Reise, erhält er seine Verpflegung auf Schiffskosten und wird, wenn es möglich ist, heimgeschafft.245 In den hanseatischen Rechtsordnungen wird diese Fürsorgepflicht später dahin erweitert, dass, wenn ein Seemann bei der Verteidigung des Schiffes arbeitsunfähig wird, der Reeder „ihm frei Brot sein Leben lang verschafft oder sonst eine billige Verehrung nach Gelegenheit dafür zukehrt“.246 Bis ins 20. Jahrhundert stattet die Gesetzgebung den bei der Schiffsverteidigung zu Schaden gekommenen Schiffsmann mit beson-

240 Siehe hierzu beispielsweise das Revidierte Hanseatische Seerecht von 1614, Tit. IV Art. XXIII, nach dem ein Schiffer (nur) dann seiner Mannschaft Kost und Trank schuldet, wenn das Schiff aufgrund besonderer Umstände länger in einem fremden Hafen liegt. 241 Konsulat, Kap. 142. 242 Lübecker Seerecht von 1542, Art. X, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 425 ff.; Dänisches Seerecht von 1561, Art. XXIX, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 241 ff.; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. IV Art. VII. 243 Vgl. die nahezu wortgleichen Vorschriften: Rôles d’Oléron, Art. VII; Wisby’sches Seerecht, Art. XIX; Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XLVI; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. XIV Art. II, letzteres zitiert: „Würde jemand krank auf dem Schiff, ausgenommen der See-Krankheit, der Schiffer ist schuldig denselben aus dem Schiff bringen zu lassen und in eine Herberge zu legen und ihm zu leihen Licht, da er des Nachts bey sehen mag; auch seiner durch einen Schiffsmann oder andre pflegen und warten zu lassen. Desgleichen mit Speiß und Trank ihn zu versehen, wie ers im Schiff hat. Und wann er also zur Nothdurft versehen, darf der Schiffer mit dem Schiff nach ihm nicht warten, sondern mag wohl zu Seegel gehen. Sofern der Kranke wieder geneset, so soll er aller seiner Heuer geniessen, stürbe er aber, die Heuer kriegen die Erben.“ 244 Ebd. 245 Rôles d’Oléron, Art. VII; Wisby’sches Seerecht, Art. XIX. 246 Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XXXVI; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. XIV Art. III.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

deren Privilegien aus.247 Regelmäßig kann ein Schiffsmann weder Heuerzahlung noch Heilungskosten beanspruchen, wenn er durch eigenes Verschulden, etwa durch Schlägerei, Trunkenheit oder infolge des unerlaubten Entfernens vom Schiff erkrankt oder verletzt wird.248 5. Kündigung des Heuervertrags Besondere Regeln für die Kündigung eines Seemanns bilden sich im Laufe des späten Mittelalters heraus und bleiben bis in die Neuzeit hinein erhalten. Anerkannt ist das Kündigungsrecht des Schiffsmanns bei Wechsel des Schiffers.249 Ebenso verbreitet ist die Kündigungsmöglichkeit des Schiffers bei Seedienstuntauglichkeit des Schiffsmanns.250 Unterschiedlich bewerten die Rechtsordnungen den Fall, dass ein Schiffsmann die Tätigkeiten auf See aufgrund persönlicher Unfähigkeit nicht ausführen kann. Während das Wisby’sche Seerecht dem Schiffer hier ein uneingeschränktes Kündigungsrecht zugesteht und dem Schiffsmann zusätzlich eine Strafzahlung auferlegt,251 beschränkt das Konsulat die Kündigungsmöglichkeit auf den Fall, dass sich ein einfacher Matrose als Zimmermann oder Steuermann ausgibt.252 Wenig nachsichtig ist die Gesetzgebung gegenüber seekrank gewordenen Seeleuten. Sie verlieren ihren Heueranspruch.253 Im Übrigen stehen verhaltensbezogene Kündigungsgründe im Mittelpunkt. So berechtigt in zahlreichen Rechtsordnungen die selbstverschuldete Arbeitsunfähigkeit des Schiffsmanns durch Trunkenheit, Schlägerei oder Seekrankheit den Schiffer zur Vertragsauflösung.254 Dasselbe gilt für den Fall, dass sich Schiffsleute gegen den 247

§ 61 Abs. 3 SeemO 1902, RGBl. 1902, Nr. 27 S. 175: „Ist der Schiffsmann bei der Vertheidigung des Schiffes zu Schaden gekommen, hat er auf eine angemessene, im Streitfalle vom Seemannsamte vorläufig festzusetzende Belohnung Anspruch.“ 248 Rôles d’Oléron, Art. VI; Wisby’sches Seerecht, Art. XVIII. 249 Konsulat, Kap. 145. 250 Wisby’sches Seerecht, Art. II. 251 Ebd.: „Wenn sich jemand, als Steuermann, Loots oder Schiffsmann annehmen lässet, und sein Amt nicht versteht […] so soll er dem Schiffer sein Geld wiedergeben, und noch halb so viel, als ihm Lohn oder Häuer versprochen worden, dazu legen.“ 252 Konsulat, Kap. 121. 253 Nach dem Hamburgischen Stadtrecht von 1292, Art. VIII, wird die verlorene Heuer zu gleichen Teilen zwischen Schiffer und Schiffsvolk aufgeteilt. 254 Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Tit. XIV Art. XVII: „Wird ein Schiffsknecht in Trunckenheit, Hader oder Zank verwundet, so ist sein Schiffer nicht schuldig, denselbigen heilen zu lassen, besondern er mag ihn aus dem Schiffe wegschaffen, und häuren einen anderen in seine Stätte“. Nahezu wortgleich: Rôles d’Oléron, Art. VI. Die Trunkenheit der Seeleute scheint ein gewichtiges Problem für die Schiffer bzw. Reeder gewesen zu sein. Vielsagend schreibt ein spanisches Gesetz aus dem 16. Jahrhundert: „Nüchternheit ist eine große Tugend bei einem Schiffsmann oder Matrosen, und es ist kein geringes Lob, wenn sie von ihm sagen, er sei ein nüchterner Kerl“, zitiert nach Langenbeck, Hamburgisches Schiffs- und See-Recht, S. 53.

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Schiffer auflehnen,255 und für die Ketzerei.256 Einige Rechtsordnungen sprechen auch schlicht von einer „bösen Tat“, die eine Kündigung rechtfertigt.257 Das Wisby’sche Seerecht enthält als erste Rechtsordnung eine Abmahnpflicht des Schiffers. Hiernach muss der Schiffer einen Schiffsmann, mit dem er im Streit liegt, zunächst ermahnen bevor ihr ihm kündigen darf. Kündigt er ihm, obgleich er nach der Ermahnung sein Verhalten verbessert hat, so muss der Schiffer ihm die vertragsgemäße Heuer zahlen.258 Das Konsulat enthält auch Verbote der Austauschkündigung. So darf der senyor de nau dem Schiffsmann nicht kündigen, weil er einen in der Lohnhöhe günstigeren Schiffsmann anstellen möchte.259 Verboten ist auch die Entlassung zugunsten eines Verwandten des senyor de nau.260 Ein Kündigungsrecht des Seemanns bei Fehlverhalten des Schiffers kennt das Mittelalter nicht.261 Die Kündigungsgründe, die ihm zur Seite stehen, sind Heirat, Pilgerfahrt, ranghöhere Tätigkeit auf einem anderen Schiff262 sowie die Aufgabe der Seefahrt.263 Das Wisby’sche Seerecht erkennt ein Kündigungsrecht des Schiffsmanns an, wenn das Ziel der Reise planwidrig geändert wird.264 6. Pflichten des Schiffsmanns Der Inhalt der vertraglichen Hauptpflichten des Schiffsmanns ergibt sich aus den tatsächlichen Bedürfnissen an Bord. Hier kann unterschieden werden zwischen schiffsbezogenen und ladungsbezogenen Arbeiten. Hauptpflicht des Schiffsmanns ist es, zusammen mit den übrigen Mitgliedern der Schiffsmannschaft die sichere Navigation des Schiffes zu gewährleisten. Ausdrücklich erwähnt wird in vielen Rechtsordnungen die Pflicht, im Notfall alle nötigen Arbeiten zur Rettung des Schiffs und der Ladung zu leisten.265 Die ladungsbezogenen Arbeiten sind ebenfalls Teil der heuervertraglichen Verpflichtung.266 Daher ist es einem Schiffsmann ausdrücklich verboten, das Schiff zu verlassen, ehe die Ladung gelöscht ist.267 255 Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Tit. XIV Art. XXVII; Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XXX; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. III Art. VIII. 256 Konsulat, Kap. 122. 257 Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Tit. XIV Art. XXII. 258 Wisby’sches Seerecht, Art. XXVI. 259 Konsulat, Kap. 123. 260 Konsulat, Kap. 124. 261 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 28. 262 Konsulat, Art. 153; zu Letzterem, siehe auch Wisby’sches Seerecht, Art. LXIII; Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Titel XIV Art. XXIV. Diese Vorschrift hat sich bis in das 20. Jahrhundert hinein gehalten, vgl. § 74 Abs. 1 Nr. SeemO 1902. 263 Wisby’sches Seerecht, Art. LXIV. 264 Ebd. 265 Rôles d’Oléron, Art. III; Wisby’sches Seerecht, Art. XV, XVI. 266 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 29. 267 Rôles d’Oléron, Art. XVIII.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Im nordeuropäischen Rechtskreis ist es üblich, dass die Seeleute, obgleich sie nur mit dem Reeder oder Schiffer in einem Vertragsverhältnis stehen, von den Ladungsinteressenten Zahlungen für Dienste an der Ladung erhalten, so z. B. das Winde- oder Kühlgeld.268 Diese Kosten werden später dahingehend neu verteilt, dass der Reeder bzw. Schiffer ein Drittel, die Ladungsinteressenten zwei Drittel zahlen.269 In der Folgezeit gehen die Lasten ganz auf den Reeder über und die Schiffsleute sind allein diesem verpflichtet.270 Noch in den Rechtsordnungen des 20. Jahrhunderts sind die ladungsbezogenen Arbeiten Teil des Heuervertrags.271 Allerdings ist dies bald praktisch überholt, denn mit dem Einzug der Dampfschifffahrt können die Schiffsbesatzungen die immer größere Menge an Ladung gar nicht bewältigen. Daher sind ab Ende des 19. Jahrhunderts vorwiegend sog. Schauerleute272 für die Ladungsarbeiten im Hafen zuständig.273 Eine zentrale Dienstpflicht des Schiffsmannes ist die Bordanwesenheitspflicht. Das Verlassen des Schiffes ist stets an die Erlaubnis des Schiffers geknüpft und davon abhängig, ob genügend Seeleute zur Bewachung des Schiffes vorhanden sind.274 Zuwiderhandlungen können eine Schadensersatzpflicht oder, so der Schaden nicht bezahlt werden konnte, eine Gefängnisstrafe zur Folge haben.275 Solche Regelungen werden sich bis in das 20. Jahrhundert hinein halten.276

IV. Personenrechtliche Stellung In merklichem Gegensatz zu den genossenschaftlichen, fast demokratischen, Strukturen des Frühmittelalters beginnt mit dem Aufkommen der abhängigen Beschäftigung auch in personenrechtlicher Hinsicht eine Hierarchisierung des Schiffsbetriebs. Die Gesetzgebungen des späten Mittelalters verleihen dem Schiffer die Befehlsgewalt über die auf dem Schiff befindlichen Personen. Diese sind ihm zu Gehorsam verpflichtet und werden bei Verstößen gegen die Gehorsamspflicht bestraft.277 In den spätmittelalterlichen Seerechten wird ein Schiffsmann, der aufgrund 268

Hamburgisches Stadtrecht von 1292, Art. XVI; Lübecker Seerecht von 1299, Art. XX. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 183 270 Ebd.; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 26. 271 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 30. 272 Schauerleute sind Hafenarbeiter, deren Aufgabe das Stauen und Beladen von Frachtschiffen ist. Meist sind sie ehemalige oder arbeitslose Seeleute, die sich als Tagelöhner verdingen. 273 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 30. 274 Rôles d’Oléron, Art. V; siehe zur Bordanwesenheitspflicht auch das Hanseatische Seerecht von 1591, Art. XXII; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. IV Art. VI. 275 Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XVI; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. IV Art. XVIII. 276 § 96 Abs. 2 SeemO 1902. 277 Beispielsweise: Konsulat, Kap. 159; Wisby’sches Seerecht, Art. XLIV. 269

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einer ausstehenden Lohnforderung den Schiffsdienst verweigert, als Meuterer angesehen.278 Die Dienstleistungspflicht des Schiffsmanns wird also einerseits durch den Arbeitsvertrag, andererseits auch durch die Schiffsgewalt des Schiffers begründet: Der Schiffsmann kann, auch wenn er einen Anspruch auf Heuerzahlung hat, diesen Anspruch nicht durch Zurückhaltung seiner Arbeitsleistung oder mit anderen Mitteln der Selbsthilfe durchsetzen.279 Zur Durchsetzung seiner Befehlsgewalt stehen dem Schiffer umfassende Zwangsmittel zur Verfügung. Das Recht, Zwangsmittel anzuwenden, ist im Mittelalter anerkanntes Gewohnheitsrecht und bedarf daher keiner ausdrücklichen Erwähnung in den Rechtsordnungen.280 Vielsagend titelt eine Vorschrift des Konsulats: „Was ein Matrose alles von seinem Schiffer ertragen soll“ und beschreibt die vom Schiffsmann zu erduldenden Disziplinierungen.281 Inhaltsgleiche Vorschriften finden sich in zahlreichen wichtigen Rechtsquellen des späten Mittelalters.282 Der Schiffer kann einen Schiffsmann, der sich seinen Anordnungen widersetzt, von Bord verweisen und ihn an Land aussetzen.283 Durch den wachsenden staatlichen Einfluss und die Verleihung staatlicher Autorität an die Seegerichte werden die im Mittelalter noch anzutreffenden strafrichterlichen Befugnisse des Schiffers auf vorbereitende Handlungen, insbesondere die vorläufige Festnahme, beschränkt.284 Allerdings liegt bei es leichteren Delikten im Ermessen des Schiffers, ob er den Schiffsmann der Gerichtsbarkeit aussetzt.285 So 278

Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 44. Abel, ebd., S. 45. Dem geht aber ein detaillierter Lohnfindungsprozess voraus: Der Verheuerung auf eine bestimmte Reise ist das Problem immanent, dass sich das Reiseziel verändern kann. Hierfür sehen die Hanseatischen Gesetzgebungen eine Erhöhung der Heuer vor. Wie diese Erhöhung aussieht, hat der Schiffer mit den Schiffsleuten zu verhandeln und bei fehlender Einigung sollen unparteiische Schiffsleute hierüber entscheiden: Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XXIV; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. IV Art. XX, XXI. 280 Abel, ebd., S. 46. 281 Konsulat, Kap. 162: „Ein Matrose ist schuldig, Scheltworte von einem Schiffer zu ertragen. Und wenn derselbe ihm nachläuft, so soll er bis ans Vorderteil des Schiffes fliehen und sich an der Seite des Bratspießes stellen, und wenn der Schiffer dahin kommt, soll er an die andere Seite herumlaufen, und wenn ihn der Schiffer auch auf die andere Seite verfolgt, so mag er sich verteidigen und Zeugen rufen, dass der Schiffer ihm gefolgt ist“. 282 Rôles d’Oléron, Art. XII; gleichlautend das Wisby’sche Seerecht, Art. XXIV, nach welchen ein Schiffsmann, der den Schiffer zuerst schlägt, „eine Hand verliert“; Hamburgisches Stadtrecht von 1497, Titel XIV Art. XX. 283 Rôles d’Oléron, Art. XIII, wonach er ihm aber zuerst die Speise zu versagen hat; Konsulat, Art. 122, hier nach fünf Verstößen; Wisby’sches Seerecht, Art. XXII. Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XXX. 284 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 48; siehe auch das Revidierte Hanseatische Seerecht von 1614, Titel III Art. XI: „Den Thäter soll der Schiffer in die Eisen schlagen, und ins erste Gericht bringen, damit er allda seine Straff empfahe.“ 285 Konsulat, Kap. 164: „Ein Matrose, der Gut, oder Geräthe oder Waare, die im Schiff ist, stielet, soll seinen Lohn und das Gut, das er im Schiffe hat, verlieren, und der Schiffer kann ihn 279

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

kommen dem Schiffer in der Zeit zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert nicht mehr strafrichterliche Funktionen zu, vielmehr trägt er nur die Verantwortung der Entdeckung und Festnahme eines Beschuldigten.286 In skandinavischen Seerechten kann der Schiffer bis ins 19. Jahrhundert hinein kleinere Delikte strafrichterlich aburteilen und vollstrecken.287 Vergleicht man das Konsulat mit den nordeuropäischen Gesetzgebungen, so findet man im Norden eine herausgehobene Stellung des Schiffers im Schiffsrat. Bei Streitigkeiten zwischen zwei Schiffsleuten hat er allein und nicht als Teil des Schiffsrats zu entscheiden.288 Ebenso kann er ohne den Schiffsrat zur Aufrechterhaltung der Schiffsordnung Bußen gegen die Schiffsleute verhängen.289 Ist er und nicht ein Reeder Arbeitgeber der Schiffsleute, ist er berechtigt, ohne Mitwirkung des Schiffsrats Entlassungen vorzunehmen.290

V. Zusammenfassung Mit dem Konsulat der See, den Rôles d’Oléron und den Gesetzgebungen der Hanse bilden sich erstmals Elemente eines seemännischen Arbeitsrechts heraus.291 Durch das Aufkommen der Frachtverträge wird der genossenschaftliche Schiffsbetrieb ersetzt durch einen Schiffsbetrieb, in dem die Aufgaben der Beteiligten immer klarer aufgeteilt sind. Der Reeder, im nordeuropäischen Raum oft personenidentisch mit dem Schiffer, ist in der Regel nicht mehr gleichzeitig Kaufmann, sondern transportiert ihm nicht gehörende Ware auf seinem Schiff. Die Schiffsleute werden meist vom Schiffer angestellt und partizipieren nicht mehr direkt an den Gewinnen der Schiffsunternehmung. In zwei Punkten bleiben die Rechtsordnungen dem genossenschaftlichen Gedanken verpflichtet. Zum einen durch den Grundsatz „Die Fracht ist die Mutter der Gage“ durch den der Schiffsmann wirtschaftlich mit der Schiffsunternehmung verhaftet wird. Zum anderen macht das Recht der Führung den Schiffsmann zu einem „Ladungsinteressenten in eigener Sache“, der sich durch die Mitnahme von Waren ein nicht unbedeutendes „Zubrot“ zu seiner Heuer verdient. Im Übrigen bilden sich zahlreiche Institute heraus, die das heutige Seearbeitsverhältnis kennt. Etwa der Verpflegungsanspruch des Schiffsmannes, der im Konsulat anfassen, und in den Stock legen lassen, und ihn die ganze Reise gefangen halten und ihn nachher, wenn er will, den Gerichten übergeben.“ 286 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 48. 287 Ebd., S. 49, mit Hinweisen auf das schwedische und dänische Seerecht. 288 Rôles d’Oléron, Art. XII; Statut von Hadersleben von 1292, Art. XXXIII. 289 v. Kauffmanns, Die öffentlich-rechtlichen Machtbefugnisse des Kapitäns, S. 5. 290 Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 49, der überhaupt die Konzentration der Schiffsgewalt auf den Schiffsführer auf das Bedürfnis zurückführt, dass es bei Desertion und Disziplinlosigkeit seitens der Mannschaft eine Handhabe des Schiffers geben musste; siehe auch v. Kauffmanns, ebd. 291 So sieht es auch Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 44.

G. 17. bis 19. Jahrhundert: Erosion genossenschaftlicher Elemente

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noch umfassender als in den Gesetzgebungen der Hanse geregelt ist, oder der Anspruch auf Krankenfürsorge. Obgleich erst im 19. Jahrhundert gesetzlich verankert, hat der erkrankte oder verletzte Seemann einen gewohnheitsrechtlich anerkannten Anspruch auf Heimschaffung.292 Zahlreiche Rechtsordnungen kennen bereits Vorschriften zur Kündigung des Heuervertrags. Sofern die wichtigen Gesetzgebungen der Zeit ein Kündigungsrecht eines Seemanns bei einer ranghöheren Tätigkeit auf einem anderen Schiff vorsehen, zeigt sich hierin etwas, das es im Arbeitsverhältnis auf Land erst im 19. Jahrhundert geben wird: die Möglichkeit, „Karriere zu machen“.293 Es kann vorkommen, dass ein talentierter und gut ausgebildeter Matrose die schiffsinterne Hierarchie durchläuft, an deren Ende das Kapitänsamt stehen kann.294 Die Erklärung ist einfach: Das Schicksal der Schiffsunternehmung ist in der Segelschifffahrt maßgeblich an die fachlichen Kompetenz seiner Mitglieder, gleich welchen Ranges, geknüpft – und das auf eine Art und Weise, wie es das Landarbeitsverhältnis nie kennen wird. Die Arbeit des Seemanns ist auf See nicht auswechselbar, in Notsituationen ist eine falsche Entscheidung mitunter nicht korrigierbar. So lange dies so ist, wird der Gefahrgemeinschaft auf dem Schiff stets ein Element der Klassenlosigkeit und der Durchlässigkeit innewohnen. Mögen die Schiffsleute ab dem späten Mittelalter in der Regel nicht mehr Gesellschafter der Schiffsunternehmung sein; ohne die sichere Navigation des Schiffes ist der wirtschaftliche Erfolg einer Schiffsreise undenkbar. So liegt bis zum Aufkommen der Dampfschifffahrt Ende des 19. Jahrhunderts jede Unternehmung ganz maßgeblich in der Hand der kundigen Schiffsbesatzung, deren handwerklich anspruchsvolle Arbeit nicht nur über Gewinn und Verlust, sondern auch über Leben und Tod entscheiden kann.

G. 17. bis 19. Jahrhundert: Erosion genossenschaftlicher Elemente und Ende der Segelschifffahrt I. Schiffsbetrieb des 17. bis 19. Jahrhunderts Durch die koloniale Expansion Großbritanniens und der Niederlande werden die Hanse und die Handelsmächte des Mittelmeers aus der atlantischen Seefahrt verdrängt. Sie sind von nun an nur noch Hausmächte in den Randmeeren.295 Den Welthandel dominieren fortan die Seehandelskompanien der nordwesteuropäischen Atlanktikanrainerstaaten. Der technische Fortschritt in Schiffsbau, Navigation und

292

Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 194. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 107. 294 Ebd. 295 Selbst die Handelsschifffahrt in der Ostsee ist im 17. Jahrhundert zu gut 75 % in niederländischer Hand, vgl. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 71, 77. 293

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Kartographie geht nunmehr von diesen Staaten aus.296 Im Welthandel, insbesondere im Asienhandel, sind zunächst die Niederlande führend. Hier gründen mehrere kleinere Handelskompanien im Jahr 1602 die Vereenigde Oost-Indische Compagnie (VOC). Die VOC erhält nicht nur das Monopolrecht auf den gesamten Seehandel im Indischen und Pazifischen Ozean, sondern auch Hoheitsrechte wie das Kaperrecht, das Recht zur Errichtung von staatlichen Festungen und Faktoreien sowie das Recht, bindende Verträge mit den Obrigkeiten der ansässigen Völker und Stämme zu schließen.297 Mit Hilfe einer protektionistischen Handelsgesetzgebung, Freibeuterei und schließlich durch den siegreichen Ausgang der ersten drei englisch-niederländischen Seekriege gelingt es Großbritannien, sich ab der Mitte des 17. Jahrhunderts als zweite Vormacht des weltweiten Seehandels zu etablieren.298 Es dominiert den Handel auf dem indischen Subkontinent, während die Niederlande in Südostasien vorherrschende Handelsmacht bleiben.299 Der Seehandelsbetrieb der deutschen Handelsstädte unterscheidet sich bis zum frühen 19. Jahrhunderts nicht wesentlich von dem durch das Konsulat und die hanseatischen Seerechte geprägten Schiffsbetrieb.300 Dort, wo die Reederei nicht als kaufmännisches Nebengewerbe an große Handelshäuser angeschlossen ist, finden sich stets kleinere, meist in Parten aufgeteilte Reedereien, die Seehandel nach Vorbild des ausgehenden Mittelalters betreiben.301 Auch die großen Seefahrtsnationen besinnen sich nach dem Untergang der großen Handelskompanien auf diese Art des Seehandels.302

296

Hervorzuheben sind hier die Errungenschaften der Niederlande: Im 17. Jahrhundert wird die Wissenschaft der Kartographie nachhaltig von ihnen geprägt. Auch im Schiffsbau setzen sie Maßstäbe: Schiffsbauer entwickeln hier im 1600 die Fluyt (dt.: Fleute), ein langes, rein nach Funktionalität ausgerichtetes Frachtschiff, das durch seine standardisierte Bauweise schnell und kostengünstig zu bauen ist. Dieser Schiffstyp wird über das gesamte 17. Jahrhundert hinweg in kaum veränderter Gestalt in allen europäischen Nationen gebaut, Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 67, 76 f. 297 Ausführlich hierzu Nagel, Die Ostindienkompanie, S. 103 ff.; vgl. auch Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 75. Die zwei Jahre zuvor gegründete East India Company (EIC) erhält gleichermaßen ein königliches Handelsmonopol für den Asienhandel und adaptiert von nun an weitgehend die Organisation der niederländischen Konkurrentin, vgl. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 81. 298 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 72. 299 Ebd., S. 82. 300 Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 32. 301 Ebd., S. 33. 302 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 93 f.

G. 17. bis 19. Jahrhundert: Erosion genossenschaftlicher Elemente

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II. Heuerverhältnis 1. Rückgang genossenschaftlicher Elemente Auch wenn die Schiffsleute ab dem 15. Jahrhundert immer seltener Gesellschafter der Schiffsunternehmung, sondern vielmehr Arbeiter in Abhängigkeitsverhältnissen waren, so hatte der Grundsatz „Die Fracht ist die Mutter der Gage“ doch noch für eine Teilhabe am Risiko der Schiffsunternehmung gesorgt. Ansprüche waren dem Grunde und der Höhe nach davon abhängig, ob und in welcher Höhe die Schiffsunternehmung Gewinn abwarf.303 Anstelle dieser Risikoteilung zeigt sich nun eine weitere Abschmelzung des genossenschaftlichen Elements. Die Heuerzahlung ist dem Grund und der Höhe nach nicht mehr vom Gewinn der Unternehmung abhängig, sondern allein davon, dass das Frachtgut nicht untergeht.304 Auch das Recht der Führung, das sowohl im Mittelmeerraum als auch im nordeuropäischen Rechtskreis eine wichtige Einkommensquelle der Seeleute war, verliert ab Ende des 16. Jahrhunderts an Bedeutung. So bestimmt das Revidierte Hanseatische Seerecht von 1614, dass den Schiffsleuten nur noch auf der Rückreise zum Heimathafen das Recht der Führung zusteht.305 Dem Schiffer wird es gestattet, dem Schiffsmann das Recht der Führung durch Zahlung einer höheren Heuer „abzukaufen“.306 Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf den vielgestaltig vorkommenden Missbrauch des Rechts durch die Schiffsleute. Statt mit dem geführten Gut auf eigene Rechnung zu handeln, werden die Waren zugunsten und auf Rechnung Dritter geführt, sodass sich der Reeder einer Konkurrenzsituation durch die eigenen Schiffsleute ausgesetzt sieht.307 Dies ist umso schädlicher, da die Schiffsleute die mengenmäßige Beschränkung der Führung oft missachten und auch verbotene Waren verladen.308 Auch nachdem dem Schiffsmann ein gesonderter Raum zur Unterbringung der Führung verwehrt ist, bleibt es üblich, dass der Schiffsmann seinen Logisraum mit den Waren befüllt, ehe die Gesetzgebung im 19. Jahrhundert auch dies verbietet.309 Ebenfalls abgeschafft wird das bis ins 17. Jahrhundert anerkannte Recht des sog. Mattenschüttelns , nach welchem die Seeleute bei einem Getreidetransport das Recht haben, eine gewisse Menge Korn für sich zu behalten.310

303

Siehe hierzu oben unter § 2 F. III. 2. Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 35; Haerle, Der Heuervertrag, S. 3; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 29. 305 Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Titel XIII Art. I. 306 Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Titel XIII Art. II. 307 Siehe hierzu bereits oben unter § 2 F. II. 3. 308 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 186. 309 Art. 534 ADHGB, abgedruckt im Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes Band 1869, Nr. 32, S. 493 ff. 310 Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Titel XIII Art. VII. 304

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

2. Monatliche Heuerzahlung Das stetig wachsende Handelsvolumen und die immer weitläufigeren Handelsrouten in der Schifffahrt bringen es mit sich, dass die Reisen immer länger werden können und ihre Dauer damit unvorhersehbarer wird.311 Zudem etabliert sich neben der Linienschifffahrt, bei der das Schiff in geregelten Abständen zwischen zwei bestimmten Häfen pendelt, zum Ende des 18. Jahrhunderts die Trampschifffahrt.312 Hier fährt das Schiff ohne vorher festgelegte Route von Hafen zu Hafen, wobei der Schiffer in jedem Hafen neue Frachtverträge abschießt und der nächste Zielhafen danach bestimmt wird, wo eine gewinnbringende Veräußerung der geladenen Güter zu erwarten ist.313 Das hanseatische Seerecht sieht daher vor, dass, wenn die Reise weit länger als geplant dauert, eine Anpassung der Heuer stattzufinden hat.314 Die Heuerberechnung für eine Reise wird unzweckmäßig und durch eine monatliche Berechnung ersetzt. Mit dem Preußischen Allgemeinen Landrecht wird die monatliche Bezahlung zur Regel.315 3. Verbreitung des staatlichen Einflusses auf das Heuerverhältnis a) Der Wasserschout Ab dem 17. Jahrhundert wächst auch im nordeuropäischen Rechtskreis der Einfluss der öffentlichen Verwaltung auf das Heuerverhältnis. In den Hansestädten wird das Amt des sog. Wasserschouts geschaffen. Dieser ist ein für seemännische Angelegenheiten zuständiger Beamter, der unter anderem ein Register über alle seefahrenden Personen der jeweiligen Hansestadt führt.316 Das Register enthält die wichtigsten Angaben zur Person des Schiffsmanns.317 Der Wasserschout führt darüber hinaus die Anmusterung durch, die nunmehr kein rein privatrechtliches Institut ist, sondern eine öffentliche Verlautbarung des Heuervertrags in Gegenwart von

311

Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 31. So dauert etwa eine Schiffsreise von Europa nach Ostasien anderthalb bis zwei Jahre, vgl. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 92. 312 Ausführlich Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 95. 313 Ebd. 314 Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XXIV; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. IVArt. XX, XXI: Wie diese Erhöhung aussieht, hat der Schiffer mit den Schiffsleuten zu verhandeln und bei fehlender Einigung sollen unparteiische Seeleute hierüber entscheiden; siehe hierzu auch bereits die Rôles d’Oléron, Art. XX, die für die Verheuerung auf Frachtanteil vorsehen, dass sich bei Verlängerung der Reise der Frachtanteil erhöht. 315 Preußisches ALR, Buch II Titel VIII § 1536, abgedruckt bei Hattenhauer, Allgemeines Landrecht. 316 In Frankreich findet seit Mitte des 17. Jahrhunderts die Registrierung mittels der sog. inscription maritime statt, die der Registrierung beim Wasserschout entspricht, vgl. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 175. 317 Pappenheim, ebd.

G. 17. bis 19. Jahrhundert: Erosion genossenschaftlicher Elemente

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Schiffer und Mannschaft.318 Außerdem überwacht der Wasserschout die ordnungsgemäße Bezahlung der Schiffsleute. Er kümmert sich um deren soziale Belange und organisiert unter anderem die Heimschaffung im Ausland verletzter und erkrankter Seeleute sowie im Todesfall Witwen- und Waisenzahlungen an die Angehörigen. Auch nimmt er Beschwerden von Schiffsleuten entgegen und dokumentiert, untersucht und schlichtet Streitigkeiten zwischen Schiffsleuten, Schiffern und Reedern.319 b) Schutzmechanismen vor Vertragsbruch Seit Beginn der abhängigen Beschäftigung ist es sowohl im Mittelmeerraum als auch im nordeuropäischen Rechtskreis üblich, dem Schiffsmann einen Vorschuss auf seine Heuer in Form eines Handgelds zu geben.320 Diese Vorleistung des Schiffers eröffnet Missbrauchsmöglichkeiten. Es ist gängige Praxis, dass Schiffsleute aufgrund einer höher dotierten Beschäftigungsmöglichkeit einen einmal geschlossenen Vertrag einseitig aufkündigen oder mit dem ihnen im Voraus gezahlten Handgeld entlaufen, ohne den Schiffsdienst überhaupt angetreten zu haben.321 Auch ist es weit verbreitet, dass Schiffer sich gegenseitig die Schiffsmannschaften ausspannen.322 Ein solcher Vertragsbruch ist aus zwei Gründen besonders folgenschwer: Zum einen ist die Möglichkeit des Entkommens vor der Strafverfolgung im Hafen bzw. auf einem anderen Schiff erhöht, sodass der Vertragsbruch in den wenigsten Fällen geahndet werden kann. Zum anderen kann eine nicht ordnungsgemäße Besetzung des Schiffes zu einer empfindlichen Verzögerung der Abfahrt führen.323 Aus diesem Grund gestalten die hanseatischen Gesetzgebungen des 17. Jahrhunderts das früher noch für beide Parteien anerkannte Rücktrittsrecht vor Reiseantritt nur noch als einseitiges Recht des Schiffers aus.324 In strafrechtlicher Hinsicht wird dem Vertragsbruch durch harte Strafen begegnet. So sehen die nordeuropäischen Gesetzgebungen seit dem 15. Jahrhundert Strafen wie Brandmarkung, Stäupen oder auch die Todesstrafe vor.325 318

Ebd., S. 177. v. Kaltenborn, Grundsätze des Seerechts, S. 196. 320 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 176. 321 Ebd., S. 175; Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 49. 322 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 22; siehe hierzu das Hanseatische Seerecht von 1591, Art. XLIX und ebenso das Revidierte Hanseatische Seerecht von 1614, Tit. IV Art. II: „Dieweil oft befunden, dass ein Schiffer dem andern sein Volk abheuert, wann sie schon etliche Zeit in des andern Kost gewesen, es sey mit höherer Heuer oder guten Worten, so soll solcher dem Schiffer da er von scheidet, die halbe Heuer, so er bedinget, wiederum geben, und der Schiffer, der ihn also abspannet soll 10 Thaler verbrochen haben; den halben Teil an die Herrn, die andere Hälfte an der Schiffer Gesellschaft.“ 323 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 175, 181. 324 Vgl. Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XLII; Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614, Tit. IV Art. V; Preußisches ALR, Buch II Tit. VIII § 1552. 325 Todesstrafe nach Danziger Willkür von 1455, abgedruckt – ohne Artikelangabe – bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 461 ff.; Brandmarkung nach dem Revidierten Hanseatischen 319

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Um die Problematik des Vertragsbruchs zu entschärfen, sind die Schiffer seit dem späten 16. Jahrhundert verpflichtet, nur solche Seeleute anzuheuern, die ein Führungszeugnis, sog. Genugsam Paßbort,326 vorweisen können. Die unentgeltliche Ausstellung eines solchen Dokuments ist die Pflicht eines jeden Schiffers.327 Das Anheuern von Seeleuten ohne ein solches Führungszeugnis steht unter Strafe.328 Ab dem 18. Jahrhundert führen die Dokumentation von Vertragsschlüssen in Seefahrtsbüchern und die von der öffentlichen Hand durchgeführte Anmusterung dazu, den Praktiken des Vertragsbruchs Einhalt zu gebieten.329

III. Personenrechtliche Stellung 1. Schwindende Bedeutung des Schiffsrats Auch im Hinblick auf die Schiffsgewalt zeigt sich immer mehr die endgültige Verabschiedung von genossenschaftlichen Elementen. Entscheidungen in nautischen Fragen trifft zwar weiterhin der Schiffsrat, dieser besteht aber nur noch aus wenigen herausgehobenen Mitgliedern der Mannschaft, meist den Schiffsoffizieren.330 Das Preußische Seerecht von 1727 bestimmt noch, dass der Schiffer bei allen wichtigen und sonderbaren Vorfällen mit seinen Schiffsleuten zu beratschlagen und „nach dem Gutachten und Rat der Vornehmsten zu handeln“ hat.331 Auch der verkleinerte Schiffsrat verliert jedoch im Laufe der Zeit an Bedeutung, da seine vormals bindenden Beschlüsse zu bloßen Empfehlungen an den Schiffer werden.332 Ab dem

Seerecht von 1614, Tit. IVArt. XXV: „Würde einig Boetsmann oder Officier, wann er die halbe Heuer empfangen, vom Schiff entlaufen, dem soll, da er betreten, ein Botshaek auf die Backen gebrannt werden“. Das Stäupen bezeichnet eine Körperstrafe, bei der der Verurteilte an eine Säule (Staupsäule) gefesselt und mit Schlaginstrumenten gezüchtigt wird, vgl. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 182. 326 Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XVIII, XLIX; ebenso das Revidierte Hanseatische Seerecht von 1614, Tit. IVArt. I; siehe auch Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 23; Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 175; Surland, Grundsätze des europäischen Seerechts, S. 51. 327 Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XIX. 328 Hanseatisches Seerecht von 1591, Art. XVIII. 329 Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 182. 330 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 15, spricht von einem „aristokratischen Charakter“ der Schiffsgewalt; siehe hierzu auch Haerle, Der Heuervertrag, S. 4; Wagner, Handbuch des Seerechts, S. 31. 331 Preußisches Seerecht von 1727, Kap. III Art. LIX. 332 Vgl. §§ 1463 ff. des Preußischen ALR, Buch II Titel VIII: Hier ist der Schiffsrat noch verpflichtend zu halten, der Schiffer ist aber an dessen Meinung nicht gebunden. Er macht sich jedoch dann möglicherweise schadensersatzpflichtig, wenn aus der Nichtbefolgung des Rates ein Schaden entsteht und er dem Rat „ohne erhebliche Gründe“ zuwider gehandelt hat.

G. 17. bis 19. Jahrhundert: Erosion genossenschaftlicher Elemente

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19. Jahrhundert konzentriert sich die Schiffsgewalt allein in der Person des Schiffers.333 2. Höhepunkt und Ende der umfassenden Disziplinargewalt Die Disziplinargewalt an Bord ist weitreichend und erfährt zwischen dem 13. und dem späten 18. Jahrhundert kaum Veränderungen.334 Der Schiffer hat zur Aufrechterhaltung der Schiffsordnung im Wesentlichen freie Hand bei der Disziplinierung der Seeleute. Das Preußische Seerecht von 1727 legt es in die Hand des Schiffers, die Schiffsleute, die es „verdient haben, […] gebührend […] zu bestrafen.“335 Zu dieser Zeit hat das Ausmaß der möglichen Disziplinarstrafen seinen Höhepunkt erreicht. Mit dem Preußischen ALR verabschieden sich die Gesetzgebungen von der Idee einer allumfassenden Disziplinarmacht. Das Schiffsvolk, so die in Gesetzesform gegossene Idee, solle zum Schiffer stehen „wie das Gesinde zum Dienstherrn“.336 So sieht das ALR als mögliche Zwangsmittel zur Disziplinierung der Schiffsleute nur noch mäßige Schläge, kurze Gefängnisstrafen oder Geldbußen vor.337 Nach dem Gesetz über die Aufrechterhaltung der Mannszucht auf Seeschiffen von 1841 dürfen die genannten Mittel nur noch bei einer Gefahr für das Schiff oder bei Gewalttätigkeiten oder Meuterei des Schiffsmanns angewendet werden.338 1864 werden schließlich Körperstrafen als Mittel der Disziplinierung abgeschafft.339

IV. Zusammenfassung Das 17. und 18. Jahrhundert bringt im Seearbeitsrecht im deutschen Raum kaum neue Entwicklungen. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die Entwicklung des Seehandels in anderen Ländern vollzieht. Die Hanse hat ihre Blütezeit längst hinter sich. Selbst auf der Ostsee, wo die Hanse seit ihrer Gründung Hausmacht gewesen ist, wird der Seehandel von anderen Nationen dominiert. Mit den Ostindienkompanien und der fortschreitenden Kolonialisierung erreicht der See333 Vgl. § 485 ADHGB: „Wenn der Schiffer in Fällen der Gefahr mit den Schiffsoffizieren einen Schiffsrath zu halten für angemessen findet, so ist er gleichwohl an die gefaßten Beschlüsse nicht gebunden; er bleibt stets für die von ihm getroffenen Maaßregeln verantwortlich.“ 334 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 66. 335 Preußisches Seerechts von 1727, Kap. IV Art. XXI; siehe auch Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 66. 336 Preußisches ALR, Buch II Kap. VIII § 1534. 337 Preußisches ALR, Buch II Kap. VIII § 1604. 338 § 2 des Gesetzes zur Aufrechterhaltung der Mannszucht auf Seeschiffen, abgedruckt in der Gesetzessammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1841, S. 64. 339 § 29 des Gesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der Schiffsmannschaft auf den Seeschiffen vom 26.3.1864, abgedruckt in der Gesetzessammlung für die Königlich-Preußischen Staaten, 1864, S. 693 ff.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

handel endgültig die Weltmeere und wird auch hier zu einer Massenerscheinung. Hiermit geht einher, dass auf den großen Frachtschiffen die Anzahl der Arbeitskräfte deutlich zunimmt. Der Bedarf an Seeleuten ist hoch, gleichermaßen auch der „Verschleiß“. Auf der bis zu vierjährigen Reise eines Handelsschiffes von Mitteleuropa nach Südostasien beträgt die Sterblichkeitsrate der Seeleute bis zu 50 %.340 Die räumlichen und hygienischen Verhältnisse an Bord sind katastrophal,341 erst im 20. Jahrhundert wird es Regelungen über die Logis der Seeleute geben. Im nordeuropäischen Raum dehnt sich der staatliche Einfluss auf die Arbeitsverhältnisse der Seeleute merklich aus. Aus dem Verlangen heraus, einen ordnungsgemäßen und desertionsfreien Schiffsbetrieb zu gewährleisten, wird das Heuerverhältnis durch Musterungsverfahren und Registrierungspflicht unter behördliche Aufsicht gestellt. Einmal mehr zeigt sich hierin die im Vergleich zum Landarbeitsverhältnis hervorgehobene Bedeutung des einfachen Arbeiters für den Gesamtbetrieb. Dort, wo der Arbeiter mit seinen Fähigkeiten leicht ersetzbar ist, bedarf es keines dem Vertragsschluss vorgeschalteten Verfahrens über die Bestimmung der Tauglichkeit. Dort, wo der Ausfall des Arbeitnehmers nicht automatisch den gesamten Arbeitsbetrieb gefährdet, bedarf es keiner drakonischen Strafe für das Fernbleiben von der Arbeitsstelle. Mögen auch die genossenschaftlichen Elemente rückgängig und die Disziplinargewalt des Schiffers auf seinem historischen Höhepunkt angelangt sein; das Seearbeitsverhältnis ist nach wie vor geprägt von einer Abhängigkeit der Schiffsunternehmung von dem fachlichen Geschick und der absoluten Zuverlässigkeit des Einzelnen.

H. Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert: Dampfschifffahrt und Verelendung des Seearbeitsverhältnisses I. Schiffsbetrieb Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts 1. Aufkommen von Dampfschifffahrt und Großreederei Ab Mitte des 19. Jahrhunderts steht die Schifffahrt vor dem Umbruch von der Segel- zur Dampfschifffahrt.342 Es kommt auf dem Gebiet des Deutschen Reichs zu einer massiven Expansion des Seehandels.343 Hauptfaktor hierfür ist das starke Wachstum des Welthandels, das befeuert wird durch imperialistische Bestrebungen der europäischen Seemächte.344 Diese Bestrebungen sind im deutschen Kaiserreich 340 341 342

S. 32. 343 344

Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 79. Ebd. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 98; Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, Hanses, ebd. Ebd.

H. Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert: Dampfschifffahrt

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besonders ausgeprägt. Gestützt von einer umfangreichen Subventionspolitik345 wächst die Gesamttonnage der deutschen Handelsflotte zwischen den Jahren 1850 und 1912 um das Fünf- bis Sechsfache, während sich beispielsweise die Gesamttonnage der französischen Handelsflotte in demselben Zeitraum lediglich verdoppelt.346 Vor dem ersten Weltkrieg ist Deutschland nach England die größte Seehandelsnation der Welt.347 Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entwicklung der deutschen Seeschifffahrt ist die Auswanderungsbewegung in die „Neue Welt“. Nach Bekanntwerden der Goldfunde in Kalifornien reisen allein im Jahr 1854 200.000 Auswanderer aus dem Deutschen Bund in die Vereinigten Staaten.348 Insgesamt brechen zwischen 1870 und 1900 rund 2,5 Millionen Auswanderer von deutschem Boden aus nach Nordamerika auf.349 Die größten deutschen Reedereien – der Norddeutsche Lloyd und die HAPAG – verzeichnen zu dieser Zeit bis zu zwei Drittel ihrer Gewinne aus dem transatlantischen Passagierverkehr.350 In wirtschaftlicher Hinsicht kommt es zu einer Vergrößerung des Reedereibetriebs. Die Parten-Reederei, in der mehrere Gesamteigentümer ein Schiff auf gemeinsame Rechnung betreiben, wird verdrängt durch die kapitalstarke Großreederei, die meist als Aktiengesellschaft organisiert ist.351

2. Verändertes Berufsbild Das Berufsbild des Seemanns verändert sich grundlegend. Auf Segelschiffen war ein umfassendes Wissen über die Funktionseinheit Schiff erforderlich. Nicht selten kam es vor, dass ein talentierter und gut ausgebildeter Schiffsmann eine schiffsinterne Karriere durchlief, an deren Ende das Kapitänsamt stehen konnte.352 Nunmehr ist die Arbeit auf Dampfschiffen von einer umfangreichen Arbeitsteilung innerhalb der Mannschaft geprägt. Klassische seemännische Aufgaben hat nur noch das Deckspersonal. Das Berufsbild des Seemanns geht in neuen Berufen wie Heizer, Kohlenzieher oder Maschinisten auf.353 Die in ihrer Ausstattung immer luxuriöser werdenden Passagierschiffe bringen als neue Berufsgruppe das Bedienungs- und Betreuungspersonal hervor.354 Auf einem Transatlantikdampfer des frühen 345

Zu nennen ist hier vor allem die Gründung von sog. „Übersee-Banken“ und die Subventionierung der Dampferlinien ab 1885, vgl. Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 36. 346 Ebd., m. w. N. 347 Ebd. 348 Ebd., S. 34 m. w. N. 349 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 104. 350 Ebd. 351 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 55; Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 33 f. m. w. N. 352 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 107. 353 Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 179. 354 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 108.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

20. Jahrhunderts macht dieses Personal über 50 % der Besatzung aus, die Berufsgruppen mit nautischer Expertise hingegen weniger als 10 %.355 Die Arbeiten unter Deck, insbesondere die der Heizer und Kohlenzieher, werden häufig von schifffahrtsfremden und unterqualifizierten Arbeitern durchgeführt, die an Land keine Beschäftigung finden.356 Die Mannschaft unter Deck, so schreibt es die zeitgenössische Literatur, bestehe vielfach aus „unerfahrenen, daneben körperlich und geistig heruntergekommenen Menschen.“357 In der internationalen Linienschifffahrt, insbesondere nach Ostasien, gehen die Reeder ab Ende des 19. Jahrhunderts dazu über, ausländische, insbesondere asiatisch- und afrikanischstämmige Seeleute auf den Schiffen zu beschäftigen, die das tropische Klima des Indischen Ozeans und des Südchinesischen Meeres gewohnt sind.358 Nichteuropäische Seeleute sind regelmäßig vom persönlichen Geltungsbereich der nun häufiger geschlossenen Tarifverträge ausgeschlossen und werden zu weit niedrigeren Heuern beschäftigt.359 Begründet wird dies mit der angeblich geringeren Leistungsfähigkeit der fremdstämmigen Seeleute und mit arbeitsmarktpolitischen Interessen ihrer Heimatländer.360 3. Beginn der Organisation der Seeleute Die im Zuge der Industrialisierung im Landarbeitsrecht vordringende Organisation der Arbeitnehmer in Gewerkschaften geht an den Seeleuten zunächst vorüber. Der Zusammenschluss ist bereits räumlich erschwert, da sich nur eine geringe Anzahl von Seeleuten gleichzeitig im Heimathafen befindet. Darüber hinaus verhindert die strenge Reglementierung des Lebens an Bord und die Disziplinarmacht des Schiffers die Durchführung von Arbeitskämpfen an Bord, da die Seeleute befürchten mussten, sich der strafbewehrten Meuterei verdächtig zu machen.361 Auch schmälert die bereits angesprochene Unterschiedlichkeit der seemännischen Berufsbilder die Bereitschaft zum Zusammenschluss.362 Eine Solidarisierung der kleinen Gruppe nautisch qualifizierter Seeleute mit der großen Gruppe ungelernter 355 Ebd., mit weiteren Angaben zur Besatzung der Transatlantik-Passagierschiffe Deutschland und Normandie; vgl. hierzu auch die Besatzungsliste des bis heute wohl bekanntesten Transatlantik-Passagierschiffs, der RMS Titanic, abrufbar unter: https://www.encyclopedia-titanica.org/titanic-crew-list/, letzter Abruf vom 14.10.2019. 356 Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 179. 357 Zitiert nach Raab, Die Nothflagge weht, S. 75. 358 Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 12; siehe hierzu auch § 35 der Seemannsordnung von 1902, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1902, Nr. 27, Seite 175 ff., der die Seearbeitszeit in den Tropen auf acht Stunden täglich beschränkt. 359 Ehlers, ebd. 360 Ebd. 361 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 56; Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 221. 362 Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 222.

H. Mitte 19. bis Anfang 20. Jahrhundert: Dampfschifffahrt

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Seeleute unter Deck findet aufgrund eines Standesdenkens der hochqualifizierten Seeleute zunächst nicht statt.363 Der Möglichkeit des Streiks wird durch die Seemannsordnung 1872 bereits dadurch Einhalt geboten, dass sie die „gemeinschaftliche Verweigerung des Gehorsams“ mit Gefängnisstrafe sanktioniert.364 Eine inhaltsgleiche Regelung findet sich später auch in der Seemannsordnung von 1902.365 Infolgedessen gewinnen die Gewerkschaften für die Seeleute erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts an Bedeutung. Als Folge des Hamburger Hafenstreiks im Jahr 1897 wird auf dem „Ersten deutschen Seemannskongreß“ ein Jahr später der „Seemannsverband in Deutschland“ gegründet, in welchem sich lokale Vereinigungen von Matrosen und Heizern zusammenschließen.366 Bis 1910 sind 30 % der deutschen Seeleute gewerkschaftlich organisiert.367 4. Erste einheitliche Gesetzgebung im deutschen Raum Während die handelsrechtlichen Fragen des Seehandels umfassend in Handelsgesetzbüchern geregelt werden, fehlt es an einer einheitlichen Regelung für die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord.368 Eine solche wird erstmals im norddeutschen Bund initiiert.369 Im Anschluss an diese Bemühungen wird am 27. Dezember 1872 die erste gesamtdeutsche Seemannsordnung verkündet.370 Sie ist inhaltlich die Vorläuferin der Seemannsordnung von 1902, des Seemannsgesetzes und des Seearbeitsgesetzes.

II. Heuerverhältnis 1. Heuerverhältnisse auf unbestimmte Zeit Seit dem Aufkommen der festen Vergütung ab dem 14. Jahrhundert war das Heuerverhältnis im Regelfall für eine Reise oder auf einen relativ kurzen Zeitraum bemessen. Nunmehr tritt die kurzzeitige Verheuerung mit der Technisierung des Schiffsbetriebs durch die Dampfschifffahrt und den Ausbau des Linienschiffsverkehrs in den Hintergrund. Mit wachsender Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit der Schiffsunternehmungen steigt die Bereitschaft der Reeder, Heuerverträge auch für 363

Ebd. § 87 SeemO 1872, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1872, Nr. 33, S. 409 ff. Dennoch kommt es zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einigen streikbedingten Erfolgen der Seeleute, vgl. Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 36. 365 § 101 SeemO 1902. 366 Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 222. 367 Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 53. 368 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 15. 369 Ebd. m. w. N. 370 Seemannsordnung von 1872, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1872, Nr. 33, S. 409 ff. 364

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

einen längeren Zeitraum einzugehen.371 Mit der Seemannsordnung von 1902 etabliert sich der auf unbestimmte Zeit geschlossene Vertrag.372 Diese Verträge können indes ohne besondere Kündigungsgründe und ohne lange Kündigungsfristen gekündigt werden.373 Üblich ist eine Kündigungsfrist von 24 Stunden in jedem Ladeoder Löschhafen.374 2. Erste Arbeitszeitregelung in der preußischen Gesetzgebung Parallel zum Landarbeitsrecht gibt es zur Mitte des 19. Jahrhunderts erste Vorschriften über die Arbeitszeit der Seeleute. Nach dem preußischen Gesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Schiffsmannschaft auf Seeschiffen von 1864 ist ein Seemann außer in Notfällen im Hafen zu nicht mehr als zwölf Arbeitsstunden verpflichtet.375 Die sonst gleichlautende Vorschrift der Seemannsordnung von 1872 sieht nur noch 10 Arbeitsstunden vor, die aber in dringenden Fällen überschritten werden dürfen.376 Es entsteht die Praxis, Lade- und Löscharbeiten als „dringende Arbeiten“ anzusehen und damit den gewährten Arbeitsschutz weitgehend auszuhebeln.377 Die Seearbeitszeit hingegen wird erst im 20. Jahrhundert geregelt. Auf Segelschiffen ist ein Zwei-Wachen-System378 üblich, womit bereits das Wachegehen täglich zwölf Stunden einnimmt. Zudem muss die Nachtwache auch mehrere Stunden tagsüber an Deck sein.379 3. Weiterer Rückgang genossenschaftlicher Elemente Mit Einführung des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch (ADHGB) etabliert sich endgültig der Reeder als Vertragspartner des Seemanns. Beim Vertragsschluss tritt ihm zwar nach wie vor der Schiffer gegenüber, nunmehr allerdings im Namen und auf Rechnung des Reeders.380 Üblich bleibt weiterhin, dass der 371

Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 179. § 28 SeemO 1902. Indes hält sich die Möglichkeit einer Verheuerung für die Dauer einer Reise bis ins Seemannsgesetz von 1957, vgl. § 23 SeemG. Zur Mitte des 20. Jahrhunderts kommt ein solcher Heuervertrag jedoch meist nur bei Schiffsüberführungen vor, vgl. amtl. Begründung zum Seemannsgesetz, BT-Drucks. 2/2962, S. 49. 373 § 27 Abs. 3 SeemO 1902. 374 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 54. 375 § 28 des Gesetzes betreffend die Rechtsverhältnisse der Schiffsmannschaft auf den Seeschiffen. 376 § 31 SeemO 1872; ebenso § 35 SeemO 1902. 377 Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 30 f. 378 Das Zwei-Wachen-System (auch als Wache-um-Wache-System bezeichnet) bedeutet, dass sich zwei Wachmannschaften nach einem bestimmten Rhythmus, in der Regel nach 4 Stunden, ablösen. 379 Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 182. 380 Art. 495 ADHGB. 372

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Vertrag nur für ein bestimmtes Schiff abgeschlossen wird, nunmehr aber unabhängig von der Person des Kapitäns.381 Im ADHGB findet erstmals eine Unterscheidung zwischen einer persönlichen (vollständigen) Haftung des Reeders und einer (beschränkten) Haftung „mit Schiff und Fracht“ für Heuerforderungen statt.382 Grundsätzlich haftet der Reeder persönlich. Wenn das Schiff ohne sein Verschulden – etwa durch Schiffsunglück oder Schiffsraub – vor Vollendung der Reise verloren geht, haftet er nur mit Schiff und Fracht.383 Mit der Seemannsordnung von 1872 wird dieses wichtige Relikt des Grundsatzes „Die Fracht ist die Mutter der Gage“384 ausdrücklich zugunsten einer umfassenden persönlichen Haftung für Heuerforderungen aufgegeben.385 Auch sieht die Seemannsordnung von 1872 erstmals eine strenge Trennung zwischen festem Lohn und dem als Lohn zugestandenen Teil der Fracht oder des Gewinns vor.386 Seit jeher war es geschriebenes oder ungeschriebenes Gesetz, dass ein Seemann alles nach seinen Kräften Mögliche zu tun hat, um das Schiff und die Ladung vor Schaden zu bewahren.387 Unterschiede bestehen in der Sanktionierung bei Untätigkeit in einer Notsituation.388 Vor dem 19. Jahrhundert sahen die Rechtsordnungen regelmäßig verpflichtende Belohnungen für die Anstrengungen der Seeleute in solchen Situationen vor. Das ADHGB sieht solche Anstrengungen nunmehr nur als Erfüllung der Pflichten aus dem Heuervertrag an und verzichtet auf einen gesonderten Anspruch der Seeleute.389 Eine wirtschaftliche Partizipation an der Schiffsrettung besteht damit nicht mehr. 4. Arbeits- und Lebensverhältnisse an Bord bis 1902 Auf den Dampfschiffen des späten 19. Jahrhunderts herrschen „kaum vorstellbare Lebensverhältnisse“.390 Die Platznot auf den Schiffen ist dadurch bedingt, dass sich die Schiffsbesatzungen um das Fünf- bis Sechsfache vergrößern und großer Teil des Schiffsraums von den Dampfkesseln eingenommen wird.391 Die hygienischen Verhältnisse an Bord sind „verheerend“.392 Mitunter sind Wasch- und Baderäume nicht 381

1902. 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392

Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 18; vgl. auch §§ 34, 69 SeemO Art. 453 ADHGB. Ebd. Siehe hierzu oben unter § 2 F. II. 2. § 68 SeemO 1872. § 69 SeemO 1872. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 184 Ebd. Ebd. Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 98. Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 58. Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 34.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

einmal vorhanden.393 Sicherheitsvorschriften für die Arbeit an Bord existieren zunächst nicht.394 Zwar ist die Beköstigung der Seeleute seit 1872 durch eine verbindliche Speiserolle geregelt.395 Es ist aber geübte Praxis, dass Kapitäne ihre Schiffsköche gegen Belohnung dazu anhalten, den finanziellen Aufwand für die Beköstigung so gering wie möglich zu halten. So werden verdorbene Lebensmittel in der Regel nicht weggeworfen, sondern verteilt.396 Die Seearbeitszeit, die im Gegensatz zur Landarbeitszeit noch nicht geregelt ist, beträgt regelmäßig 31 1/2 Stunden in einem Zeitraum von 48 Stunden, wobei es in der Regel keine zusammenhängenden Schlafzeiten gibt.397 Diese Arbeitsbedingungen führen dazu, dass die Selbstmordrate bei Kohlenziehern, dem niedrigsten Berufsstand des Schiffspersonals, etwa zwanzigmal so hoch ist wie bei der vergleichbaren Arbeitnehmerschaft an Land, während die Selbstmordrate der Segelschiffsbesatzungen noch unter derjenigen der Landarbeitnehmer gelegen hatte.398 Die Hamburg-Amerika-Linie gibt im Jahr 1901 an, dass knapp jeder zehnte angemusterte Seemann vom Schiffsdienst desertiert.399 5. Schutzgesetze von 1902 Es wird offensichtlich, dass die vorhandenen Schutzvorschriften nicht mehr ausreichen, um das Leben und Arbeiten der auf dem Schiff tätigen Personen zu regeln. Daher kommt es zum Anfang des 20. Jahrhunderts zu zwei Gesetzen, die einen Meilenstein in der Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen darstellen. a) Seemannsordnung von 1902 In der Seemannsordnung von 1902 wird durch das Wache-um-Wache-System eine Mindestruhezeit von zwölf Stunden festgeschrieben, allerdings ohne die Maßgabe, dass diese Ruhezeit zusammenhängend zu gewähren ist.400 Die Hafen393

Raab, Die Nothflagge weht, S. 81. Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 98. 395 § 12 SeemO 1872. 396 Raab, Die Nothflagge weht, S. 82; Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 188. 397 Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 33; Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 98; Raab, Die Nothflagge weht, S. 73. 398 Vgl. Raab, Die Nothflagge weht, S. 74 m. w. N.: Die Zahlen sind bekannt aufgrund einer von der Reichsregierung veranlassten Erhebung durch die Seeberufsgenossenschaft im Zeitraum von 1889 bis 1897. 399 Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 35. 400 § 36 SeemO 1902. In der Seemannsordnung 1902 ist grundsätzlich noch das ZweiWachen-System, in der transozeanischen Fahrt das Drei-Wachen-System vorgeschrieben, § 36 Abs. 2 SeemO 1902. 394

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arbeitszeit beträgt höchstens zehn Stunden, wobei in dringenden Fällen mehr gearbeitet werden darf. Wie bereits unter der Geltung der Seemannsordnung von 1872 neigt die Praxis zu einer extensiven Auslegung des Dringlichkeitsbegriffs. Unter „dringenden Fällen“ werden alle Arbeiten zum Klarmachen des Schiffes bei der Weiterreise verstanden, womit die Höchstarbeitszeitregelung ausgehebelt wird.401 Für den Fall, dass der Seemann über zehn Stunden im Hafen arbeitet, ist zwingend eine Überstundenvergütung zu zahlen.402 Die Sonn- und Feiertagsarbeit wird sowohl im Hafen als auch auf See eingeschränkt.403 Für Schlepp- und Bergungsschiffe werden aufgrund der Unregelmäßigkeit ihrer Einsätze Ausnahmen vom gewöhnlichen Arbeitszeitregime festgeschrieben.404 Die Fürsorgepflicht des Reeders für verletzte und erkrankte Seeleute wird erweitert, indem sie bereits bei Anmusterung beginnt und unabhängig vom Verschulden des Seemannes gewährt wird.405 Der Seemann hat einen Anspruch auf Heuerfortzahlung im Krankheitsfall, solange er sich an Bord befindet. Für die Dauer des Aufenthalts in einer Krankenanstalt ist ein Viertel der Heuer zu zahlen, sofern der Seemann Unterhaltspflichten hat.406 Die Auszahlung der Heuer unterliegt besonderen Bestimmungen. So darf sie nicht in Gast- und Schankwirtschaften und nur unter Aufsicht des Seemannsamts ausgezahlt werden.407 Zudem ist über die verdiente Heuer ein Abrechnungsbuch zu führen, das u. a. die geleisteten Überstunden des Seemanns auflistet.408 Schließlich enthält eine aufgrund der Seemannsordnung von 1902409 erlassene Bekanntmachung vom 2. Juni 1905410 erstmals detaillierte Regelungen zu Logis und Einrichtung auf den Schiffen. So sehr die Festschreibung von Mindestbedingungen für die Ausstattung der Schiffe als Fortschritt betrachtet werden kann, ist dennoch zu 401

Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 184. § 35 SeemO 1902. Eine entsprechende Regelung für die Seearbeitszeit kennt die Seemannsordnung von 1872 noch nicht. 403 §§ 37, 38 SeemO 1902. 404 § 135 SeemO 1902; siehe auch § 139 SeemG. Auch die Tarifverträge für Seeleute auf solchen Schiffen sind, gerade in Bezug auf das Arbeitszeitrecht, unterschiedlich von Tarifverträgen der Seeleute auf anderen Schiffen, vgl. Anlage IV MTV-See; eingehend zur Entwickung der Schlepper-Tarifverträge bei Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 4 f. 405 §§ 59 ff. SeemO 1902. Eine Ausnahme von der Fürsorgepflicht besteht, wenn die Krankheit oder Verletzung durch eine strafbare Handlung des Seemanns entstanden ist, § 62 SeemO 1902. 406 § 61 SeemO 1902. 407 § 46 SeemO 1902. 408 § 49 SeemO 1902. 409 § 56 Abs. 2 SeemO 1902. 410 Bekanntmachung, betreffend die Logis-, Wasch-, und Baderäume sowie Aborte für die Schiffsmannschaft auf Kauffahrteischiffen, RGBl. 1905 Nr. 29 S. 563, im Folgenden: LogisBekanntmachung 1905. Die Seemannsordnung von 1872 hatte lediglich einen der Größe des Schiffes angemessenen Logisraum verlangt. 402

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beachten, dass sich diese Mindestbedingungen an den Verhältnissen der älteren und kleineren Dampfschiffe ausrichten.411 So sieht die Verordnung unter anderem vor, dass im Schlafraum 3,5 Kubikmeter Luftraum pro Mann vorhanden sein muss.412 Selbst dieser Wert wird regelmäßig unterschritten und häufig nur in den besseren Logisräumen an Bord von Überseedampfern erreicht.413 Die nunmehr vorgeschriebene Kojenbreite beträgt 60 cm und 2-Mann-Kojen werden abgeschafft.414 Die Schiffsneubauten nach dem ersten Weltkrieg sind demgegenüber mit größeren Kajüten, separaten Mannschaftsdecks und geräumigen Speisesälen für die Seeleute ausgestattet.415 b) Gesetzgebung gegen den Missbrauch durch Heuerbaasen Ferner widmet sich die Gesetzgebung dem Problem der Ausbeutung der Seeleute durch Arbeitsvermittler, sog. Heuerbaasen.416 Eine solche Ausbeutung findet im Laufe des 19. Jahrhunderts in einem kaum vorstellbaren Maße statt:417 Die Arbeitsvermittler sehen sich im Hafen einem Seemann gegenüber, der oftmals seit vielen Monaten zur See gefahren und ein Alltagsleben an Land nicht gewohnt ist. Da er auf See keine Möglichkeit hat, seine Heuer auszugeben, ist er hierzu während seines kurzen Hafenaufenthalts umso mehr geneigt. Dies macht sich der Arbeitsvermittler zunutze. Er empfängt den Seemann unmittelbar nach dessen Ankunft, bietet ihm häufig Alkohol an und stellt ihm neue, besser bezahlte Anheuerungsmöglichkeiten in Aussicht. Bis zum neuen Dienstantritt stellt der Arbeitsvermittler dem Seemann entgeltlich eine Unterkunft zur Verfügung und achtet darauf, dass der Seemann sein Geld „kontrolliert“, also entweder bei ihm oder bei mit ihm im Geschäft stehenden Gastwirten ausgibt. Wenn der Seemann sein Geld ausgegeben hat, stellt der Arbeitsvermittler ihm einen Kredit zur Verfügung, der mithilfe des Heuervorschusses der neuen Anstellung zurückgezahlt wird.418 Carl Legien fasst zu411

Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 192. § 1 Nr. 1 Logis-Bekanntmachung 1905. 413 Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 192. 414 § 1 Nr. 8 Logis-Bekanntmachung 1905. 415 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 58 f. 416 Nachdem die englische Gesetzgebung bereits 1854 tätig wurde und vereinzelt auf deutschem Boden die Konzessionspflicht für Arbeitsvermittler eingeführt worden war, hob Gewerbeordnung von 1869 die Konzessionspflicht wieder auf, vgl. Pappenheim, Geschichte des Seehandels, S. 178. 417 Die folgende Schilderung fasst die Ausführungen von Neuhäuser, Arbeitsvertrag des Schiffsmannes, § 6 Abschn. I, zusammen; siehe hierzu auch Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 33; Raab, Die Nothflagge weht, S. 70 f.; Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 204. 418 Nach Neuhäuser, ebd., kommt es auch vor, dass Schiffer und Arbeitsvermittler bei dieser Form der finanziellen Ausbeutung des Seemanns zusammenarbeiteten: Der Schiffer sorgt durch besonders harte Disziplinarstrafen dafür, dass der Seemann abwanderungswillig und daher der „helfenden Hand“ des Arbeitsvermittlers umso aufgeschlossener ist. Dass diese Geschäfts412

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sammen: „Noch ehe der Seemann an Bord des Schiffes ist, hat er den größten Teil oder die ganze Monatsheuer in den Händen der ,Landhaifische‘ gelassen.“419 Als Antwort auf diese Praktiken macht das Stellenvermittlungsgesetz von 1902420 die gewerbsmäßige Heuervermittlung erlaubnispflichtig und bestimmt, dass ein gewerbsmäßiger Vermittler keine Vermietung von Wohn- und Schlafstätten, keine Gast- oder Schankwirtschaft, keinen Handel mit Ausrüstungsgegenständen und kein Geschäft eines Geldwechslers oder Pfandleihers betreiben darf.421 Darüber hinaus werden die Vermittlungsgebühren, die hälftig von Seemann und Reeder zu bezahlen sind, gesetzlich bestimmt und dürfen nicht zuungunsten des Seemanns erhöht werden.422 Zeitgleich sorgt die Verbreitung von reedereieigenen Heuerbüros dafür, dass die gewerbsmäßige Heuervermittlung zurückgeht.423 Diese Heuerbüros werden wenige Jahre später durch paritätisch besetzte Vermittlungsstellen ersetzt.424

6. Vordringen der Tarifverträge ab Anfang des 20. Jahrhunderts Abgesehen von den genannten Gesetzen wird es bis zur Verabschiedung des Seemannsgesetzes im Jahr 1957 nicht mehr zu nennenswerten gesetzgeberischen Änderungen im Bereich der Arbeits- und Lebensbedingungen auf See kommen. Grund hierfür ist das Vordringen der Tarifverträge. Nachdem es bereits Ende des 19. Jahrhunderts erste Tarifabschlüsse über Heuersätze gegeben hatte,425 wird 1918 das erste umfassende Tarifwerk über „Heuersätze und Arbeitsbedingungen für die deutschen Seefrachtschiffe“ zwischen dem Zentralverein Deutscher Reeder und den zuständigen Arbeitnehmerverbänden geschlossen.426 Dieses Tarifwerk wird in den folgenden Jahren modifiziert, ehe im Jahre 1925 der erste Manteltarifvertrag für die Seeschifffahrt geschlossen wird.427 Die Tarifverträge der 1920er Jahre sind für die Seeleute teilweise ein Rückschritt, teilweise ein Fortschritt. So werden die Bepraktiken der Arbeitsvermittler nicht nur vereinzelt auftraten, legt die Regelungsdichte nahe, mit der die Seemannsordnung von 1902 diesen Praktiken begegnet, dazu sogleich. 419 Zitiert nach Hanses, Die rechtliche Stellung des Kapitäns, S. 98. 420 Gesetz betreffend die Stellenvermittlung für Schiffsleute, Deutsches Reichsgesetzblatt Band 1902 Nr. 27 S. 215 ff., im Folgenden: StellenvermittlungsG 1902. 421 § 3 StellenvermittlungsG 1902. 422 § 4 StellenvermittlungsG 1902. 423 Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 16; Neuhäuser, Arbeitsvertrag des Schiffsmannes, S. 72 m. w. N. 424 Ehlers, ebd. 425 Siehe die Nachweise bei Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 206. 426 Auf Arbeitnehmerseite beteiligt waren der Verband Deutscher Seeschiffervereine, der Verein Deutscher Kapitäne und Offiziere der Handelsmarine, der Verband Technischer Schiffsoffiziere und der Deutsche Transportarbeiterverband, vgl. Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 3. 427 Manteltarifvertrags vom 25.3.1925, abgedruckt und kommentiert von Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 24 ff, im Folgenden: MTV-See 1925.

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stimmungen der §§ 35 ff. SeemO 1902 zur Überstundenvergütung durch für die Seeleute ungünstige Tarifbestimmungen ersetzt.428 Ebenso werden die Kündigungsfristen für Reeder und Schiffsoffiziere entgegen § 27 SeemO 1902 unterschiedlich ausgestaltet.429 Andererseits wird das für Schiffe ab 2.000 Bruttoregistertonnen430 vorgeschriebene Drei-Wachen-System und die daraus folgende achtstündige Seearbeitszeit auf Schiffe außerhalb der transozeanischen Fahrt ausgedehnt.431 Auch wird das Heimschaffungsrecht der Seeleute erweitert.432 Dies alles geschieht contra legem, da § 1 Abs. 2 SeemO 1902 die Vorschriften des Gesetzes für grundsätzlich zwingend und auch zugunsten der Seeleute für nicht abdingbar erklärt. Durch die Tarifverträge entsteht damit ein Gewohnheitsrecht,433 das auch durch die Seemannsämter angewendet wird, die eine Anmusterung „laut Tarif“ vornehmen.434 Erst das Seemannsgesetz von 1957 legt die grundsätzliche Unabdingbarkeit seiner Vorschriften zuungunsten der Seeleute fest.435 7. Weitere Verbesserungen in der Weimarer Republik Eine Erweiterung erfährt die soziale Absicherung der Seeleute im Jahr 1928 durch die Errichtung der See-Krankenkasse.436 Nunmehr sind auch die Familienangehörigen des Seemanns krankenversichert.437 Außerdem wird der Anspruch des Seemanns auf Krankenfürsorge erweitert, indem der Anspruch auf gesetzliche Krankenfürsorge neben die Reederfürsorge tritt und ruht, wenn diese greift.438 Eine wichtige Verbesserung bringt eine Verordnung von 1935,439 die die oben beschriebene Praxis unterbindet, dass der Reeder die Verpflegung der Mannschaft 428

Vgl. hierzu § 11 MTV-See 1925. § 43 MTV-See 1925. 430 „Bruttoregistertonne“ (BRT) ist eine früher verwendete Maßeinheit zur Bestimmung der Schiffsgröße. Sie richtet sich nach dem umbauten Schiffsraum und wurde mittlerweile von der Maßeinheit „Bruttoraumzahl“ ersetzt. Diese ergibt sich aus dem gesamten umbauten Raum des Schiffes und wird je nach Schiffstyp mit einem Faktor zwischen 0,22 und 0,32 multipliziert, vgl. Bubenzer, in: Praxishandbuch Seearbeitsrecht, S. 435. 431 § 15 MTV-See 1925. 432 § 46 MTV-See 1925. 433 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 61 f.; Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 5, 13 f.; Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 18. 434 Abel, Grundzüge des Seearbeitsrechts, S. 62; Ehlers, ebd., S. 13 f. 435 § 10 SeemG 1957. 436 Eingerichtet durch das Gesetz über die Krankenversicherung der Seeleute, RGBl. 1927 I S. 337 ff. 437 § 482 Reichsversicherungsordnung. 438 § 480 Reichsversicherungsordnung. 439 Erste Verordnung auf Grund des Gesetzes über die Ermächtigung des Reichsarbeitsministers zum Erlaß sozialer Schutzvorschriften für die Besatzung von Seeschiffen und Hochseefischereifahrzeugen vom 14.2.1935, RGBl. 1935 II S. 115 ff, im Folgenden: SeeSchutzvorschriftenVO 1935. 429

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auf den Schiffskoch überträgt.440 Ab einer gewissen Schiffsgröße wird zudem die Beschäftigung eines Schiffskochs vorgeschrieben.441

III. Personenrechtliche Stellung Die Größe und technische Komplexität des Betriebs der immer größer werdenden Dampfschiffe rufen das Bedürfnis nach der Konzentration der Befehlsgewalt in einer Person hervor. Weber fasst zusammen: Nicht als Familienvater vermochte der Schiffsführer […] eine Besatzung zu lenken, die gegen früher auf das Fünf- bis Zehnfache anwuchs, nicht eine Beratung mit Rede und Gegenrede konnte dem Beschluss in Gefahr vorgehen: der strenge militärische Befehl, an dessen Entstehung kein fremder Wille mitwirkt, und für dessen Folgen der Befehlende allein einzustehen hat, musste das Tun und Lassen an Bord regeln, wenn der Schiffsdienst sicher und ohne Störung funktionieren sollte.442 Zeitgenössische Autoren erkennen in der Schiffsgewalt des 19. Jahrhunderts eine der Monarchie ähnliche Herrschaft.443 Bernsten kommentiert: „Gegenwärtig ist also der Absolutismus des Schiffers die Herrschaftsform, welche rücksichtlich der auf dem Schiffe befindlichen Personen gilt […].“444 In den ersten preußischen Gesetzgebungen scheint das Verhältnis zwischen Schiffer und Mannschaft paternalistisch. So werden die Schiffsleute ausdrücklich als „Schiffskinder“ bezeichnet.445 Ähnliches gilt für das 18. Jahrhundert, wo das Verhältnis von Schiffer und Mannschaft vergleichbar ist „mit der Stellung des Gesindes zum Dienstherrn“.446 Die Seemannsordnungen von 1872 und 1902 gehen hingegen davon aus, dass die Befehlsgewalt des Kapitäns über die Schiffsmannschaft eine (quasi-)militärische ist. So heißt es im Gesetzgebungsverfahren zur Seemannsordnung von 1902, dass der Seemann einen Beruf habe, „der ähnlich dem Berufe des Soldaten“447 sei und dass in der Seefahrt „eine andere, straffere Disziplin notwendig sei als in irgendeinem anderen Gewerbe“.448 Der neuen, militärorientierten Geisteshaltung entsprechend wird aus dem Schiffer nun der Kapitän.449 440

Spethmann, Schiffahrt in Schleswig Holstein 1864 – 1939, S. 188. §§ 2, 3 See-SchutzvorschriftenVO 1935. 442 Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 58. 443 Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 16; Ähnlich Weber, ebd., der die Schiffsgewalt als eine „militärisch-monarchische Herrschaft“ bezeichnet. 444 Bernsten, ebd. 445 Statut von 1597, Art. XI, X, abgedruckt bei Pardessus, Lois Maritimes, III, S. 469 ff. 446 So ausdrücklich das Preußische ALR, Buch II Kap. VIII § 1534. 447 Zitiert nach Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 48. 448 Ebd. 449 Weber, Die Schiffsgewalt des Kapitäns, S. 58; vgl. auch § 3 SeemO 1902. 441

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Die Befehlsgewalt des Kapitäns ist, da nun die letzten Elemente des Schiffsrats verschwunden sind, allumfassend: Die Mannschaft ist ihm zu unbedingter Treue und Gehorsamkeit sowohl an Bord als auch an Land verpflichtet.450 Seine Befehlsgewalt wird durch gesetzliche Strafandrohungen bei Missachtung gestärkt.451 So setzt die Seemannsordnung von 1902 den Widerstand gegen den Kapitän dem Widerstand gegen die Staatsgewalt gleich.452 Die Disziplinarmaßnahmen sind in den Seemannsordnungen von 1872 und 1902 jedoch stark eingeschränkt. So darf der Kapitän zwar alle zur Aufrechterhaltung der Ordnung erforderlichen Maßregeln ergreifen.453 Er darf aber Leibesstrafen, Einsperrungen, Geldbußen und längere Kostschmälerungen nicht als Strafmittel einsetzen.454 Diese Einschränkung ist hinfällig bei einer „Widersetzlichkeit oder bei beharrlichem Ungehorsam“. In diesem Fall ist der Kapitän „zur Anwendung aller Mittel befugt, welche erforderlich sind, um seinen Befehlen Gehorsam zu verschaffen“.455 Wenn zu befürchten ist, dass die Seeleute sich ihrem Dienst durch Desertion entziehen, darf er ihr Eigentum in Verwahrung nehmen.456

IV. Zusammenfassung Während frühere Gesetzgebungen das Verhältnis von Schiffer und Schiffsvolk als ein paternalistisches Rechtsverhältnis betrachten, in dem es – mit den Worten Bohns457 – eine „seit alters aus der Achtung und Anerkennung des seemännischen Handwerks erwachsene gegenseitige Treueverpflichtung“ gibt, betrachtet die Schiffsführung der Dampfschiffe die Arbeiter unter Deck als ersetzbare und, umso mehr nach den ersten Versuchen gewerkschaftlicher Organisation, disziplinierungsbedürftige Arbeitskräfte.458 Geffken zieht einen Vergleich zum Landarbeitsverhältnis des ausgehenden 19. Jahrhunderts und bemerkt: Zu genau der Zeit, wo sich das Recht der abhängig Arbeitenden in der Gewerbeordnung erstmals über das Niveau feudaler Unterdrückung erhob, wo die Existenz freier Lohnarbeiter auch juristisch durchgesetzt wurde, griff das Recht der Seeleute auf feudale Rechtselemente zurück, obgleich sich gerade in der Seefahrt das genossenschaftliche Element sehr lange gehalten hat.459 450

§ 30 SeemO 1872; § 34 SeemO 1902. Bernsten, Die Schiffsgewalt, S. 74. 452 Vgl. §§ 103 f. SeemO 1902 und §§ 114 f. des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich von 1876, Deutsches Reichsgesetzblatt 1876, Nr. 6, S. 39 ff.; ebenso § 89 SeemO 1872. 453 § 79 SeemO 1872; § 91 SeemO 1902. 454 § 79 SeemO 1872; § 91 SeemO 1902. 455 § 79 SeemO 1872; wortgleich § 91 SeemO 1902. 456 § 78 SeemO 1872; § 90 SeemO 1902. 457 Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 108. 458 Ebd., S. 109. 459 Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 32. 451

I. Seemannsgesetz von 1957: Angleichung an das Landarbeitsverhältnis

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Mit dem Einzug der Dampfschifffahrt kommt es bei den unteren Berufsgruppen der Schiffsbesatzung zu einer Verelendung der Arbeitsbedingungen an Bord. In der Segelschifffahrt lernt auch der einfache Seemann die Funktionseinheit Schiff stets als Ganze kennen und erwirbt sich dadurch schnell eine Fachkompetenz, die ein Landarbeiter auf einer vergleichbaren Hierarchieebene kaum erlangen kann. Dies verkehrt sich nunmehr ins Gegenteil. Die unterste Berufsgruppe an Bord, die Heizer und Kohlenzieher, wird aus Arbeitern rekrutiert, die an Land keine Beschäftigung finden. Diese führen auf See im heißen und schlecht belüfteten Maschinenraum körperliche Schwerstarbeit aus, ohne auch nur eine zusammenhängende Nachtruhe zu haben.460 Zwar hat es auch in der Segelschifffahrt weder eine geregelte Seearbeitszeit noch Regelungen zur Logis der Seeleute gegeben. Indes wirken nun Enge, Lautstärke, Hitze, körperliche Anstrengung und Eintönigkeit der Arbeit als Multiplikatoren.461 Die Aufsplitterung des Seemannsberufs bewirkt, dass der Corpsgeist früherer Tage verschwindet. Die Seefahrtsunternehmung ist keine Schicksalsgemeinschaft mehr, sondern ein streng in Klassen unterteilter Betrieb.462 War das Über- und Unterordnungsverhältnis früher ein paternalistisches, so ist es nun ein militärisches. Desertionen und Selbstmorde zeugen von der großen Not, die unter den Seeleuten herrscht. Erste nennenswerte Verbesserungen bringt die Seemannsordnung von 1902, welche das Zwei-Wachen-System auf See festschreibt, Logisvorschriften einführt und die Fürsorge der Seeleute verbessert. Ab den 1920er Jahren sorgen Tarifverträge für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, vor allem im Arbeitszeitrecht. Bis zum heutigen Tag ist das Tarifrecht die zentrale Rechtsquelle des Seearbeitsrechts. Sowohl das Seemannsgesetz von 1957 als auch das Seearbeitsgesetz von 2013 sind maßgeblich den jeweiligen Manteltarifverträgen nachempfunden.

I. Seemannsgesetz von 1957: Angleichung an das Landarbeitsverhältnis I. Schiffsbetrieb seit den 1950er Jahren 1. Ausbau der Handelsflotte nach dem 2. Weltkrieg Nach dem 2. Weltkrieg steigert sich das weltweite Handelsvolumen beträchtlich.463 Große Öl- und Chemikalientanker befahren die Meere. Die Erfindung des Containers ermöglicht immer großvolumigeren und effizienteren Handel in der Stückgutfracht.464 Daneben führt die Containerisierung dazu, dass der Umschlag im 460 461 462 463 464

Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 109. Ebd. Ebd. Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 115. Ebd., S. 116.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Hafen nunmehr hauptsächlich von Lastkränen erledigt werden kann.465 Von verschwindend geringer Bedeutung ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die „klassische“ Linien-Passagierfahrt.466 Ein „Comeback“ feiern ab den 1990er Jahre die bis heute immer beliebter werdenden Kreuzfahrten.467 2. Internationale Regulierung der Arbeitsbedingungen Die Seeschifffahrt sei das internationalste aller Gewerbe, denn kein anderes scheine stärker den Gesetzen des internationalen Wettbewerbs zu unterliegen. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Seeleute setze daher in besonderer Weise die Anwendung der internationalen Arbeitsgesetzgebung voraus – so wird der damalige Präsident des ILO-Verwaltungsrats, Arthur Fontaine, im Jahr 1929 zitiert.468 In den 1920er Jahren beginnt der Prozess der Internationalisierung des Seearbeitsrechts. Seit 1920 ruft die Internationale Arbeitskonferenz (engl.: International Labour Conference – ILC) im Zehnjahres-Rhythmus die Seeschifffahrtstagung (Special Maritime Session) ein, die sich ausschließlich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten befasst. Hierbei berät der ebenfalls 1920 gegründete Paritätische Seeschifffahrtsausschuss (engl.: Joint Maritime Commission – JMC) den Verwaltungsrat der ILO über Fragen des maritimen Arbeitsrechts.469 Bis zum Jahr 1946 verabschiedet die ILO Konventionen zu nahezu allen wichtigen Themen des Seearbeitsrechts.470 In den folgenden dreißig Jahre werden geltende Konventionen überarbeitet, ergänzt und angepasst. Einen bedeutenden Meilenstein stellt die Konvention Nr. 147 über Mindestbedingungen in der Seeschifffahrt von 1976 dar, die die Standards vieler geltender Konventionen zusammenfasst.471 Damit ist die Konvention Nr. 147 die Vorgängerin des Seearbeitsübereinkommens. 465

Ebd., S. 117. Ebd., S. 119. 467 Ebd. m. w. N. 468 Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 171. 469 Ausführlich hierzu McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 38 f. 470 Bis zum Jahr 1946 werden neben den bereits genannten Konventionen u. a. verabschiedet Übereinkommen über: Medizinische Untersuchung jugendlicher Seeleute (1921, Nr. 16); Heimschaffung (1926, Nr. 23); Befähigungsnachweise der Schiffsoffiziere (1936, Nr. 53); Bezahlten Urlaub (1936, Nr. 54); Reederfürsorge (1936, Nr. 55); Krankenversicherung (1936, Nr. 56); Arbeitszeit (1936, Nr. 57); Verpflegung (1946, Nr. 68); Soziale Sicherheit (1946, Nr. 70); Altersrente (1946, Nr. 71); Seetauglichkeitsuntersuchungen (1946, Nr. 73) Befähigungsnachweise für Seeleute (1946, No. 74); Unterkünfte (1946, Nr. 92). Eine Liste aller ILOKonventionen ist abrufbar unter: http://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12000:0::NO, letzter Abruf vom 14.10.2019. 471 Folgende Konventionen werden von der Konvention Nr. 147 zusammengefasst: Übereinkommen über: Mindestalter (Übereinkommen Nr. 7, 1920), Krankenfürsorge (Nr. 55, 1936; Nr. 56, 1936; Nr. 130, 1969), ärztliche Untersuchung (Nr. 73, 1946), Unfallverhütung (Nr. 134, 1970), Logis (Nr. 92, 1949), Verpflegung (Nr. 68, 1946), Befähigungsnachweise der Schiffs466

I. Seemannsgesetz von 1957: Angleichung an das Landarbeitsverhältnis

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II. Neureglung durch das Seemannsgesetz von 1957 1. Zielsetzung Das Seemannsgesetz von 1957 vollzieht die Entwicklung nach, die das Tarifrecht in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, teilweise gegen die ausdrücklichen Vorgaben der schnell veraltenden Seemannsordnung von 1902,472 vorgezeichnet hat. Das Deutsche Reich war 1933 aus der Internationalen Arbeitsorganisation ausgetreten und hatte die wesentlichen Fortschritte des internationalen Arbeitsrechts nicht nachvollzogen.473 Das Seemannsgesetz beabsichtigt, „die Grundsätze des Arbeitsrechts für an Land beschäftige Arbeitnehmer auch für die Besatzungsmitglieder von Seeschiffen [zu übernehmen].“ Abweichende Regelungen seien „nur dort vertretbar, wo die Besonderheiten der Seeschiffahrt sie unumgänglich erscheinen lassen.“474 Erleichtert wird diese Zielsetzung dadurch, dass der Dieselmotor die Dampfmaschine als vorherrschenden Schiffsantrieb ersetzt und unter Deck damit keine Heizer, Trimmer und Kohlenzieher mehr beschäftigt werden müssen.475 Der Erfahrung der ersten Jahrhunderthälfte Rechnung tragend, ist das Gesetz ausdrücklich darauf angelegt, Rahmenvorschriften zu schaffen, die durch die Arbeitsvertrags- und insbesondere die Tarifvertragsparteien näher ausgestaltet werden können. Folgerichtig wird die Unabdingbarkeitsvorschrift des § 1 Abs. 2 SeemO 1902 hinfällig.476 Zentrale Regelungsgegenstände, die gegenüber der Seemannsordnung von 1902 eine Veränderung erfahren, sind Heuerzahlung, Urlaub und Landgang, Kündigung, Arbeitsschutz, Schutzvorschriften für Frauen und Jugendliche, Arbeitszeit und Mehrarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit sowie Regelungen zur Aufsicht des Arbeitsschutzes.477 Insbesondere mit Blick auf solche Berufsgruppen, die auf Passagierschiffen keine seemännischen Tätigkeiten ausführen, unterscheidet das Seemannsgesetz erstmals zwischen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Schiffsbetrieb tätigen Personal (Besatzungsmitglieder i. S. d. § 3 SeemG 1957) und sonstigen im Rahmen des Schiffsbetriebs tätigen Personen (§ 7 SeemG 1957).478 Abgesehen von Vorschriften zur Krankenfürsorge und Heimschaffung findet für diese Beschäftigtengruppe das Landarbeitsrecht Anwendung (§ 81 SeemG 1957). offiziere (Nr. 53; 1936), Heuerverträge (Nr. 22, 1926), Heimschaffung (Nr. 23, 1926) und Vereinigungsfreiheit (Nr. 87, 1948; Nr. 98, 1949). Konvention Nr. 147 ist abrufbar unter: https://www.ilo.org/dyn/normlex/en/f?p=NORMLEXPUB:12100:0::NO::P12100_ILO_ CODE:C147, letzter Abruf vom 14.10.2019. 472 Hier hierzu ausführlich unten unter § 2 H. II. 6. 473 BT-Drucks. 2/2962, S. 39. 474 Ebd., S. 41. 475 Ausführlich zu den Auswirkungen der Umstellung auf den Dieselmotor Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 111 ff. 476 BT-Drucks. 2/2962, S. 39. 477 Ebd., S. 42. 478 Die Gesetzesbegründung nennt hier: Angestellte oder Arbeiter in Buchhandlungen, Blumenläden und Friseurgeschäften, BT-Drucks. 2/2962, S. 43.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

2. Heuerzahlung Nachdem nunmehr unbefristete Heuerverträge der Standard sind, ist die Regelung der Seemannsordnung, wonach die Heuer grundsätzlich erst am Ende der Reise fällig wird, nicht mehr zeitgemäß.479 Die Legitimation der verspäteten Lohnzahlung wird unter anderem mit der historischen Erfahrung begründet, dass ein gewisser Betrag zur Deckung von Geldstrafen und als Sicherung gegen das Entweichen bis zur Beendigung des Dienstes in der Hand des Reeders verbleiben müsse.480 Da die Sanktionierung von arbeitsrechtlichen Verstößen längst auf staatliche Institutionen verlagert ist und das Entweichen vom Schiffsdienst nur noch in engen Grenzen unter Strafe steht,481 ist die verspätete Auszahlung der Heuer nicht mehr gerechtfertigt. Das Seemannsgesetz führt folglich die monatliche Heuerzahlung ein.482 Außerdem werden die Regelungen zum Ziehschein aus den Tarifverträgen in das Seemannsgesetz übernommen. Der Reeder wird verpflichtet, auf Verlangen des Besatzungsmitglieds einen Teil der Monatsheuer an einen Familienangehörigen auszuzahlen.483 3. Heuerfortzahlung im Krankheitsfall Die Heuerfortzahlung im Krankheitsfall wird erweitert. Der Seemann hat einen Anspruch gegen den Reeder auf Entgeltfortzahlung im Ausland, unabhängig davon, ob er für seine Heilbehandlung das Schiff verlassen muss oder nicht.484 Darüber hinaus muss der Reeder bei einer länger dauernden Erkrankung im Ausland die Beträge vorschießen, die der Seemann von der deutschen Sozialversicherung im Anschluss an die Entgeltvorzahlung erhalten würde.485 4. Urlaubs- und Landgangsanspruch Erstmals hat das Besatzungsmitglied einen gesetzlichen Urlaubsanspruch gemäß den allgemeinen Vorschriften.486 Die Seemannsordnung hatte noch keine Vorschriften zu Urlaubsansprüchen erhalten und auch einen Anspruch auf Landgang nur restriktiv gewährt.487 Die Vorschriften über den Landgang werden nach Vorbild der Tarifverträge ausgeweitet. Anstelle eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt tritt ein grundsätzlicher Anspruch, das im Hafen liegende Schiff zu verlassen. Zuwider479 480 481 482 483 484 485 486 487

§ 45 Abs. 1 SeemO 1902. Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 1. Aufl., S. 197. § 116 SeemG 1957. § 31 SeemG 1957. § 36 SeemG 1957. § 47 SeemG 1957. § 47 Abs. 2 SeemG 1957. § 55 ff. SeemG 1957. Vgl. § 34 Abs. 3, § 37 Abs. 4 SeemO 1902.

I. Seemannsgesetz von 1957: Angleichung an das Landarbeitsverhältnis

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handlungen gegen diese Vorschriften seitens des Kapitäns oder des Reeders werden als Ordnungswidrigkeit qualifiziert.488 Dem Besatzungsmitglied steht ein außerordentliches Kündigungsrecht zu, wenn ihm zustehender Urlaub nicht gewährt wird.489 5. Kündigungsschutz Die Angleichung des Kündigungsschutzes an die Vorschriften des Landarbeitsrechts hatte bereits vor Verabschiedung des Seemannsgesetzes im Zuge der Neufassung des Kündigungsschutzrechts im Jahr 1951 stattgefunden. Das Kündigungsschutzgesetz vom 10.8.1951490 ist mit Ausnahme des dritten Abschnitts auch für See- und Binnenschifffahrtsbetriebe anwendbar.491 Die Kündigungsfrist für die Kündigung eines Seemanns wird, entsprechend den Tarifverträgen, auf 48 Stunden festgesetzt und soll den kurzen Hafenliegezeiten sowie der Tatsache Rechnung tragen, dass eine faktische Beendigung des Heuerverhältnisses nur im Hafen möglich ist.492 § 65 Abs. 3 SeemG 1957 legt fest, dass das ordentlich gekündigte Heuerverhältnis grundsätzlich bis zur Ankunft des Schiffes in Deutschland fortbesteht. Die Kündigung muss schriftlich erfolgen.493 Gründe für eine außerordentliche Kündigung sind im Seemannsgesetz aufgelistet.494 Dies soll der Rechtsklarheit dienen und der erschwerten Möglichkeit, auf See professionellen Rechtsrat einzuholen, Rechnung zu tragen.495 6. Arbeitsschutz und Arbeitszeitschutz Durch das Seemannsgesetz erhält das Seearbeitsverhältnis erstmals ein vollständiges Arbeitsschutzrecht. Der allgemeine öffentliche Arbeitsschutz für das Landarbeitsverhältnis hatte die Seeschifffahrt aus seinem Anwendungsbereich ausgeklammert.496

488

§§ 63, 126 Nr. 5 SeemG 1957. § 69 Nr. 4 SeemG 1957. 490 BGBl. I, S. 499. 491 § 21 KSchG 1952: Die Binnenschifffahrt wurde bereits durch § 1 der 22. Durchführungsverordnung Gesetz zur Ordnung der Nationalen Arbeit vom 30.3.1943, RGBl. I 1943 S. 174, in den allgemeinen Kündigungsschutz einbezogen. Zu beachten ist § 22 Abs. 1 S. 2 KSchG 1952, der die Gesamtheit der Seeschiffe eines Schiffsbetrieb als „Betrieb“ ansieht, vgl. nunmehr auch § 24 Abs. 2 KSchG. 492 BT-Drucks. 2/2962, S. 58; siehe hierzu auch Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 96 ff. 493 § 64 Abs. 1 SeemG 1957. 494 §§ 66 ff. SeemG 1957. 495 BT-Drucks. 2/2962, S. 57. 496 Ebd., S. 62. 489

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Auf See wird im Grundsatz der Acht-Stunden-Tag und damit eine 48-StundenWoche festgelegt.497 Allerdings enthält das Gesetz großzügige Ausnahmevorschriften, die eine Arbeitszeitverlängerung durch den Kapitän auf bis zu 90 Stunden Mehrarbeit im Monat in dringenden Fällen ermöglichen.498 Die Vorschriften über die Lage der Arbeitszeit finden in diesen Fällen keine Anwendung.499 Als „dringende Fälle“ im Sinne der Vorschrift führt die Gesetzesbegründung neben arbeitstechnischen auch wirtschaftliche Gründe an, aus denen sich eine Notwendigkeit zur Mehrarbeit ergeben kann.500 Damit folgt die Begründung dem seit Schaffung von Arbeitszeitvorschriften stets erkennbaren Muster, Ausnahmevorschriften zur Ermöglichung von Mehrarbeit extensiv auszulegen. Ein auf See verbrachter Sonn- oder Feiertag ist erstmals zwingend durch einen freien Werktag auszugleichen.501 7. Weitere Abwertung der Rolle des Kapitäns Während die Seemannsordnung von 1902 den Kapitän grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich ihrer Vorschriften herausnahm, gelten zahlreiche Arbeitnehmerschutzvorschriften des Seemannsgesetzes auch für den Kapitän. So gelten für ihn weitgehend die Vorschriften zu Vertragsschluss, Unterbringung, Krankenfürsorge, Urlaub und Landgang.502 In kündigungsrechtlicher Hinsicht wird er bereits mit dem Kündigungsschutzgesetz von 1952 dem Landarbeitnehmer – und in dieser Hinsicht nicht etwa dem leitenden Angestellten nach § 12 KSchG 1952 – gleichgestellt.503 Im Ergebnis gelten für den Kapitän nur noch dann Sondervorschriften, wenn sich dies aus der Natur der Sache ergibt, etwa im Rahmen der Bordanwesenheitspflicht.504 Im Verhältnis zur Schiffsmannschaft nimmt er zwar nach wie vor das Direktionsrecht des Arbeitgebers wahr.505 Im Verhältnis zum Reeder ist der einstige „Master under God“ aber weitgehend zum einfachen Arbeitnehmer geworden.

III. Personenrechtliche Stellung Die Blickrichtung des Gesetzgebers, das Heuerverhältnis an das Landarbeitsverhältnis anzunähern, ist auch in personenrechtlicher Hinsicht erkennbar. Ging die 497 498 499 500 501 502 503 504 505

§§ 86 f. SeemG 1957. §§ 90 f. SeemG 1957. § 91 Abs. 3 SeemG 1957. BT-Drucks. 2/2962, S. 65. § 93 SeemG 1957. § 80 Abs. 1 SeemG 1957. Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 105 m. w. N. § 63 SeemG 1957. § 29 Abs. 1 S. 2 SeemG 1957.

I. Seemannsgesetz von 1957: Angleichung an das Landarbeitsverhältnis

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Seemannsordnung noch von einer militärisch geprägten Befehlsgewalt des Kapitäns aus, bestimmt das Seemannsgesetz, dass die Schiffsbesatzung vertrauensvoll und unter gegenseitiger Rücksichtnahme zusammenzuarbeiten hat, um Ordnung und Sicherheit an Bord zu erhalten.506 Zwar gehen die Befugnisse des Kapitäns über das Direktionsrecht der Gewerbeordnung hinaus, jedoch nur in dem Maße, wie die Sicherheit des Schiffsbetriebs dies erfordert. Hatte § 91 Abs. 2 SeemO 1902 die Anwendung von Zwangsmitteln bei „Widersetzlichkeit oder beharrlichem Ungehorsam“ zugelassen, beschränkt das Seemannsgesetz sie auf solche Fälle, in denen Menschen oder Schiff eine unmittelbare Gefahr droht.507 Die Disziplinarstrafgewalt nimmt das Gesetz vollends aus den Händen des Kapitäns und legt sie in die Hände der Staatsgewalt an Land.508 Die Ahndung von Vergehen oder Ordnungswidrigkeiten ist damit ausschließlich den Gerichten bzw. den Seemannsämtern als Verwaltungsbehörden vorbehalten.509 Die Straftatbestände selbst werden im Vergleich zur Seemannsordnung reduziert. Der Tatbestand des „Entweichens“, welcher früher als „Desertion“ mitunter unter Todesstrafe stand, ist nunmehr nur in Fällen erfüllt, in denen sich das Besatzungsmitglied in einem ausländischen Hafen dem Dienst entzieht und hierdurch eine Verzögerung der Reise herbeiführt.510 Auch der Tatbestand der Befehlsverweigerung wird eingeengt. Die Seemannsordnung von 1902 bestimmte noch eine „unweigerliche“ Gehorsamspflicht in Ansehung des Schiffsdienstes sowie die Pflicht, „jederzeit alle für Schiff und Ladung übertragene Arbeiten zu verrichten.“511 Die Verletzung der Dienstpflicht, unabhängig davon, ob sie vertraglich geschuldet ist, war nach § 96 SeemO 1902 strafbewehrt. Das Seemannsgesetz unterscheidet nun zwischen einer privatrechtlichen Dienstpflicht und einer öffentlich-rechtlichen Folgepflicht des Besatzungsmitglieds.512 Hinsichtlich der Dienstpflicht des Seemanns ist gesetzlich geregelt, dass er Arbeiten zu verrichten hat, zu denen er im Rahmen des Heuerverhältnisses verpflichtet ist.513 Der Hinweis des Gesetzes auf die Anordnungsbefugnis des Vorgesetzten ist lediglich eine Umschreibung des Direktionsrechts des Arbeitgebers.514 Der Kaptän erhält zur Aufrechterhaltung der Ordnung an Bord eine – vom Direktionsrecht streng zu unterscheidende515 – oberste 506

§ 107 SeemG 1957, siehe hierzu auch BT-Drucks. 2/2962, S. 71. § 108 Abs. 3 SeemG 1957. 508 Vgl. § 108 ff. SeemG 1957, ausführlich hierzu Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 120; Trinkhaus, RdA 1957, 368, 371. 509 BT-Drucks. 2/2962, S. 71. 510 § 116 Abs. 1 SeemG 1957. 511 § 34 SeemO 1902. 512 Lindemann/Bemm, SeemG, § 29 Rn. 1 m. w. N.; Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 34. 513 § 29 SeemG 1957. 514 BT-Drucks. 2/2962, S. 50; Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 34. 515 BT-Drucks. 2/2962, S. 70 f. 507

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Anordnungsbefugnis und die Möglichkeit, die Anordnungen zur Abwendung einer unmittelbaren Gefahr mit Zwangsmitteln durchzusetzen.516 Spiegelbildlich besteht eine Folgeleistungspflicht der Seeleute.517 Eine Verletzung der Folgeleistungspflicht ist nur noch dann strafbewehrt, wenn hierdurch Menschen, Schiff oder Ladung gefährdet werden.518

IV. Zusammenfassung Die Verelendung der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord endet in den 1950er Jahren mit der Einführung des Dieselmotors. Heizer und Kohlenzieher werden nicht mehr benötigt, an ihre Stelle tritt seemännisch geschultes Fachpersonal. Die Aufgaben an Bord des Schiffes ähneln immer mehr den Aufgaben eines Landarbeitnehmers. Durch verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten nimmt die Isolation des Schiffes auf hoher See ab und die Einflussmöglichkeit des Reeders zu. Dies ermöglicht, auch unter dem Einfluss der Tarifverträge und des internationalen Arbeitsrechts, die Annäherung des Seearbeitsverhältnisses an das Landarbeitsverhältnis. Unterschiede soll es nach dem ausdrücklichen Willen des deutschen Gesetzgebers nur dort geben, wo die Besonderheiten der Seearbeit dies zwingend erfordern. Entsprechend wird der Seemann in arbeitsvertraglichen und arbeitsschutzrechtlichen Fragen dem Landarbeitnehmer weitgehend gleichgestellt. Besonderheiten gelten für die Arbeitszeit. Hier gilt zwar im Grundsatz der AchtStunden-Tag, jedoch ermöglichen zahlreiche Sonderbestimmungen eine darüber hinausgehende Arbeitszeit. Die Überstunden in dringenden Fällen sind nicht täglich oder wöchentlich, sondern nur monatlich begrenzt. Aufgrund des unregelmäßigen Arbeitsanfalls auf See wird es üblich, im Manteltarifvertrag eine Pauschalabgeltung für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sowie eine Überstundenpauschale festzulegen. Seit der ersten Festlegung einer Seearbeitszeit durch die Seemannsordnung von 1902 bis zum heutigen Tage ist das Arbeitszeitrecht eine der kontroversesten Materien des Seearbeitsrechts. Der Kapitän, der einst Schiffseigentümer, Kaufmann, Arbeitgeber, Steuermann, Richter und Schlichter in einer Person war, nimmt mit dem Seemannsgesetz eine Arbeitnehmerstellung gegenüber dem Reeder ein. Ihm steht zwar noch die oberste Befehlsgewalt über das Schiff zu, indes geht seine Entscheidungsbefugnis, abgesehen von nautischen Fragen, immer weiter zurück.

516 517 518

§ 108 Abs. 1, 3 SeemG 1957. § 108 Abs. 3, 4 SeemG 1957. § 117 Abs. 1 SeemG 1957.

J. Seit den 1960er Jahren: Ausflaggung

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J. Seit den 1960er Jahren: Ausflaggung und Internationales Seeschifffahrtsregister I. Trend zur Ausflaggung Ab den 1960er Jahren beginnt der Prozess der Ausflaggung.519 Reedereien beginnen, ihre Schiffe in Ländern mit sog. Billigflaggen520 zu registrieren. In den Billigflaggen-Staaten sind aus dem Seehandel gezogene Gewinne in geringem Maße oder gar nicht zu versteuern.521 Gleichzeitig verfügen die Staaten über nur geringe Arbeitsschutz- und Sicherheitsbestimmungen.522 Die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord von Schiffen auf internationaler Fahrt verschlechtern sich zusehens.523 Die Besatzungen der Schiffe kommen zum Großteil nicht mehr aus den traditionellen Flaggenstaaten, sondern aus Staaten mit geringeren Arbeitskosten.524 519 Das Phänomen der systematischen Ausflaggung geht auf die Zeiten der amerikanischen Prohibition zurück. Um den Fahrgästen auf ihren Schiffen Alkohol anbieten zu können, ließen amerikanische Reeder seit 1922 ihre Schiffe im panamesischen Schiffsregister eintragen, vgl. im Ganzen: Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 132 ff. 520 Der Begriff „Billigflagge“ ist im Fachvokabular des Seearbeits- und handelsrechts weit verbreitet und wird dort, ohne dass er zwingend eine sozialpolitische Bewertung insinuiert, verwendet. Dies übernimmt die folgende Darstellung. Wann eine Flagge als Billigflagge gilt, bestimmt sich nach den folgenden, zuerst im sog. Rochdale-Report von 1970 aufgelisteten und mittlerweile weltweit anerkannten sechs Kriterien, zitiert nach Lindemann, Übereinkommen Nr. 147, S. 5: 1. Das Eintragungsland gestattet den Besitz und/oder die Kontrolle seiner Handelsschiffe durch Personen, die nicht Bürger seines Staates sind. 2. Die Möglichkeit, ein Schiff eintragen zu lassen, ist leicht. Ein Schiff kann für gewöhnlich in einem Konsulat im Ausland eingetragen werden. Ebenso wichtig ist der Umstand, dass die Umschreibung in ein anderes Register nach Wunsch und Wahl des Eigentümers keiner Beschränkung unterliegt. 3. Einkünfte aus Schifffahrt werden im Eintragungsland überhaupt nicht besteuert oder die Steuern sind niedrig. Eine Eintragungsgebühr und eine auf der Tonnage beruhende Jahresgebühr bilden normalerweise die einzigen fiskalischen Belastungen. Auch kann eine Garantie gewährt oder eine annehmbare Regelung hinsichtlich zukünftiger Steuerbefreiung erzielt werden. 4. Das Eintragungsland ist ein Staat von geringer politischer Macht, der – unter allen vorhersehbaren Umständen – keinen nationalen Bedarf an dem gesamten bei ihm eingetragenen Schiffsraum haben wird (und doch können die Einnahmen aus sehr geringfügigen Gebühren auf eine sehr umfangreiche Tonnage durchaus eine beträchtliche Auswirkung auf dessen Volkseinkommen und die Zahlungsbilanz ausüben). 5. Die Bemannung von Schiffen mit ausländischen Seeleuten ist großzügig erlaubt. 6. Das Eintragungsland besitzt weder die Macht noch den Verwaltungsapparat, um irgendwelche Regierungs- oder internationalen Vorschriften wirksam durchzusetzen, noch hat es den Wunsch oder die Macht, die Gesellschaften selbst zu kontrollieren. 521 Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 132. 522 Ebd. 523 Ebd., S. 128. 524 Ebd., S. 129.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

In den 1950er Jahren stammen viele dieser Seeleute aus Skandinavien. In den 1960er und Anfang der 1970er Jahren nehmen Arbeitskräfte aus südeuropäischen und afrikanischen Ländern den prozentual größten Anteil unter den Seeleuten auf Schiffen mit Billigflaggen ein. Ab Ende der 1970er Jahre etablieren sich Indien und die Philippinen als „Hauptversorger“ des weltweiten Arbeitsmarkts für Seeleute.525 Die Lohnkosten für den Reeder liegen in den 1980er Jahren bei 5 – 20 % des in Deutschland üblichen Niveaus.526 Hierdurch sowie durch geringere Sicherheitsstandards auf den Schiffen können die jährlichen Gesamtkosten des Schiffsbetriebs um über 60 % gesenkt werden.527 Durch die Ausflaggungen verachtzehnfacht sich zwischen den Jahren 1945 und 1957 die Gesamttonnage der Billigflaggen Liberia, Panama, Costa Rica und Honduras.528 1966 wird Liberia zur größten Handelsflotte weltweit.529 Die Ölkrisen der 70er Jahre beschleunigen diese Entwicklungen. Der nun aufkommende Trend zur Energieeinsparung führt zu einer geringeren Nachfrage bei Transportleistungen von Öl-, Kohle und Gastankern und damit zum Einbruch der weltweiten Nachfrage nach Seetransporten.530 Die hieraus folgende Konkurrenzsituation unter den Schifffahrtsunternehmen führt zu einer erneuten Welle von Ausflaggungen.531 Im Jahr 1987 wird erstmals von deutschen Reedern eine größere Gesamttonnage unter fremden Flaggen als unter der Bundesflagge betrieben.532 Zwischen den Jahren 1977 und 1987 sinkt die Gesamttonnage der deutschen Handelsschifffahrt von 9,3 auf 3,8 Millionen Bruttoregistertonnen, was einen Weltmarktanteil von unter einem Prozent ausmacht.533 Gleichzeitig sinkt das Bordpersonal auf Seeschiffen unter deutscher Flagge von über 55.000 im Jahr 1971 auf unter 20.000 im Jahr 1988.534 Durch das Überangebot an Schiffsraum durch Billigkonkurrenz sind die traditionellen Reedereien der Industrienationen nicht mehr wettbewerbsfähig. Das Leitbild der traditionellen Reederei, in der das Schiffsmanagement aus einer Hand betrieben wird, wird abgelöst durch Gesellschaften, die den Schiffsbetrieb externen Bemannungsagenturen, Instandhaltungs- und Beratungsunternehmen übertragen.535 525

Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 200. Däubler, Kampf um einen weltweiten Tarifvertrag, S. 11. 527 Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 138. 528 Geffken, Seeleutestreik und Hafenarbeiterboykott, S. 72 f. m. w. N. 529 Ebd., S. 76. 530 Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 136. 531 Ebd. 532 Amtl. Begründung zum Gesetz zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister – ISR) vom 23. März 1989, im Folgenden auch: „ISR-Gesetz“, BGBl. I, S. 550 ff., BTDrucks. 11/2161, S. 4. 533 Ausführlich hierzu Hauschka/Henssler, NZA 1988, 597, 600 ff. 534 BT-Drucks. 11/2161, S. 4. 535 Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 139. 526

J. Seit den 1960er Jahren: Ausflaggung

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II. Zweitregister in Deutschland Auf diese Entwicklungen reagiert die deutsche Politik mit der Einführung eines Internationalen Schiffsregisters.536 Die Schaffung eines solchen Registers nach Vorbild anderer Industrienationen537 ermöglicht es den nationalen Reedern, ihr Schiff zwar unter den nationalen Arbeitsschutzstandards zu betreiben, hinsichtlich der Arbeitsverträge aber ausländische, vornehmlich philippinische Arbeitnehmer, zu im internationalen Wettbewerb üblichen Heuern zu beschäftigen.538 Ein solches Register war für die Bundesrepublik eine struktur- und arbeitsmarktpolitische Notwendigkeit geworden. Ohne die Schaffung eines Zweitregisters, so die Gesetzesbegründung, bestünde die Gefahr einer Totalausflaggung der deutschen Handelsflotte mit erheblichen Risiken für die Bundesrepublik als exportorientierter Handelsnation, für einen endgültigen Verlust der Berufsgruppe qualifizierter deutscher Seeleute und für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Krisenfall. Die internationale Schifffahrtstätigkeit von Unternehmen aus Europa unter ihrer Heimatflagge könne in Zukunft nur aufrechterhalten werden, wenn die heimischen Wettbewerbsbedingungen an die des Weltmarktes angepasst würden.539 Das Flaggenrechtsgesetz wird infolgedessen um die Vorschrift des § 21 Abs. 4 ergänzt. Diese bestimmt, dass Arbeitsverhältnisse von ausländischen Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschiffahrtsregister (im Folgenden auch: „ISR“) eingetragenen Kauffahrteischiffes540 beim Fehlen einer Rechtswahl nicht schon aufgrund der Tatsache, dass das Schiff die Bundesflagge führt, dem deutschen Recht unterliegen. In sozialversicherungsrechtlicher und arbeitsschutzrechtlicher Hinsicht sind die ausländischen Besatzungsmitglieder den deutschen Besatzungsmitgliedern gleichgestellt.541

III. Auswirkungen des Zweitregisters In der Folge erhalten die ausländischen Seeleute zunächst nicht den von der Neureglung bezweckten Schutz durch die Tarifverträge ihrer Heimatgewerkschaf536 Gesetz zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister – ISR) vom 23. März 1989, BGBl. I, S. 550 ff. 537 Namentlich Frankreich, Großbritannien, Norwegen, Dänemark, Schweden, Luxemburg, Belgien und Portugal und Kanada haben bis zur Schaffung des deutschen Zweitregisters ein Internationales Schiffsregister geschaffen, vgl. die amtl. Begründung zum ISR-Gesetz, BTDrucks. 11/2161, S. 4; siehe instruktiv zu der Verbreitung von Zweitregistern Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 140 f. 538 Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 A. II. 4. c). 539 BT-Drucks. 11/2161, S. 4. 540 Zum Begriff des Kauffahrteischiffs, der weitgehend dem Begriff des Handelsschiffs i. S. d. §§ 476 ff. HGB entspricht, siehe unten unter § 4 A. II. 2. 541 BT-Drucks. 11/2161, S. 5.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

ten. Nur wenige dieser Gewerkschaften erfüllen die Voraussetzungen des § 21 Abs. 4 S. 2 FlaggenRG, da sie in der Regel auf die Anwendbarkeit des Rechts und den Gerichtsstand ihres Heimatstaates bestehen, und sind daher lediglich gebündelte Heuerverträge ohne normative Wirkung.542 Die so entstehende Lücke schließt die Internationale Transportarbeiter-Föderation ITF. Vertreten durch die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV)543 schließt sie mit Wirkung zum 1. Oktober 1995 mit dem Verband Deutscher Reeder (VDR) einen Rahmentarifvertrag, den sog. ISR-Flottenvertrag (engl.: GIS-Fleet Agreement).544 In diesem werden grundlegende Arbeitsbedingungen festgeschrieben (z. B. Arbeitszeitregelungen, Mindesturlaub, Heimschaffung, Medizinische Betreuung, Entschädigung bei Invalidität und Arbeitsunfällen) und Grundsätze über Mindestheuern aufgestellt. ISR-Flottenvertrag wird ergänzt durch sog. ISR-Sonderverträge (engl.: Special Agreement to the GIS-Fleet Agreement) zwischen den einzelnen Reedereien und der ITF.545 Die Einführung des Internationalen Seeschifffahrtsregisters kann allerdings in den kommenden Jahren den Trend zur Ausflaggung nicht stoppen.546 Auch die Einführung sog. State Aid Guidelines auf EU-Ebene, die eine Tonnagebesteuerung nicht nach Ladung, sondern nach Tonnagekapazität ermöglichen und es außerdem den Mitgliedstaaten erlauben, auf die Erhebung von Einkommensteuern und Sozialabgaben zu verzichten, zeitigt keine Erfolge.547

IV. Zusammenfassung Das Seemannsgesetz formuliert erstmals den Anspruch, die Arbeitsbedingungen auf See denjenigen an Land anzugleichen. Tatsächlich sind die Vorschriften des Seemannsgesetzes zu Urlaub, Kündigung und Direktionsrecht den Vorschriften des Landarbeitsrechts sehr ähnlich. Bedeutende Unterschiede bleiben im Arbeitszeitrecht. Ob diese Unterschieden zwingenden Bedürdnissen folgen – denn nach dem Anspruch des Seemannsgesetzes sollen Unterschiede nur dort vorkommen, wo es die Besonderheiten der Seeschifffahrt zwingend erfordern – ist zweifelhaft. Denn zu oft 542

Lindemann, § 1 Rn. 34. Die ÖTV ging im Jahr 2001 in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) auf, vgl. http://www.verdi.de/++co++c8092400-9848-11e1-6941-0019b9e321cd, letzter Abruf vom 14.10.2019. 544 Abgedruckt bei Däubler, Kampf um einen weltweiten Tarifvertrag, S. 96. Ob es sich indes bei diesem Vertragswerk um einen Tarifvertrag i. S. d. § 1 TVG handelt, ist mangels Klärung der Tariffähigkeit der ITF umstritten: Thüsing/Goertz, Anmerkung zu BAG 16.2.2000 – 4 AZR 14/99, AP TVG § 2 Nr. 54, lehnen die Tariffähigkeit der ITF ab; Zachert NZA 2000, 121, befürwortet sie. Das BAG, ebd., hat die Frage offen lassen. 545 Ausführlich hierzu Lindemann, § 1 Rn. 36. 546 Dirks, in: Senghaas-Knobloch/Dirks/Liese, Internationale Arbeitsregulierung, S. 146 m. w. N. 547 Ebd. 543

K. Abschließende Betrachtung

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werden die Ausnahmetatbestände zur Mehrarbeit im Sinne des Arbeitgebers extensiv ausgelegt, und gelten bereits dann, wenn dies für den Schiffsbetrieb – und damit auch für den Reeder – zweckmäßig, nicht aber zwingend notwendig ist. Eine klare Angleichung zum Landarbeitsverhältnis folgt in personenrechtlicher Hinsicht, wo sämtliche Relikte der Disziplinargewalt ersetzt werden durch ein dem Landarbeitsrecht vergleichbares Direktionsrecht des Arbeitgebers. Dieses wird ergänzt durch moderate ordnungsrechtliche Befugnisse des Kapitäns. In den letzten dreißig Jahren ist es nicht mehr das Fehlen nationaler Standards, das sich negativ auf die Arbeits- und Lebensbedingungen auswirkt, sondern die Möglichkeit der Reeder, den nationalen Standards durch Ausflaggung zu entgehen. Die großen Seehandelsnationen heißen – jedenfalls der Flaggenführung nach – nicht mehr Spanien, Großbritannien oder Deutschland, sondern Panama, Liberia und Malta. In dem vom Wettbewerb um immer niedrigere Arbeitsbedingungen geprägten Seehandel liegt es daher maßgeblich in den Händen des internationalen Gesetzgebers, dem Kampf um immer billigere Seeschifffahrt auf dem Rücken der auf See Beschäftigten Einhalt zu gebieten.

K. Abschließende Betrachtung Gut ausgebildete Seeleute haben in der Vergangenheit Aufstieg und Niedergang von Städten und Nationen beeinflusst. So wird das Erblühen von Seestädten wie Marseille und Barcelona im 14. Jahrhundert maßgeblich auf die Zuwanderung gut ausgebildeter Genueser Seefahrer und Schiffsbauer zurückgeführt.548 Die geschichtsträchtigen Expeditionen Magellans und Vasco da Gamas wären nicht möglich gewesen ohne die Seeleute, die in der berühmten Seefahrtsschule von Amalfi ausgebildet wurden.549 Britische Seefahrer waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus einer armen und überwiegend agrarisch strukturierten Nation eine Weltmacht wurde.550 Die Geschichte des Seearbeitsrechts lässt sich in drei Phasen einteilen: die Phasen der Partizipation, der Verelendung und der Angleichung. Hierbei kann die erste Phase noch einmal unterteilt werden in eine „reine“ Partizipation und eine „Partizipation in Abhängigkeit“. Die Phase der „reinen Partizipation“ kennt keine abhängige Beschäftigung der Seeleute. Vielmehr nehmen diese als Unternehmer an der Handelsreise teil. In dieser Zeit betätigen sich Händler als Seefahrer („die Ladung sucht das Schiff“) oder auch Seefahrer als Händler („das Schiff sucht die Ladung“).551 Teilnahme an der 548 549 550 551

Bohn, Geschichte der Seefahrt, S. 31. Ebd. Ebd., S. 59. Siehe hierzu oben unter § 2. E. III.

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§ 2 Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

Schiffsunternehmung und Partizipation an ihrem Risiko und Gewinn gehen miteinander einher. Der genossenschaftlichen Idee entspricht es auch, dass nautische und wirtschaftliche Fragen der Schiffsunternehmung durch den Schiffsrat entschieden werden, der zudem Strafen verhängen und vollstrecken kann. Erste Kodifizierungen eines seemännischen Arbeitsrechts finden sich ab dem 14. Jahrhundert. Im nördlichen Europa durch die Rôles d’Oléron, im südlichen Europa durch das Konsulat der See werden erstmals die Vertragsverhältnisse der abhängig beschäftigten Seeleute umfassend geregelt. Hier finden sich erste Regelungen zur Kündigung und zur Fürsorge. Andere Fragen wie die Heimschaffung und die Disziplinargewalt des Schiffers sind nicht bzw. nicht detailliert geregelt, allerdings sind sie seit Ende der genossenschaftlichen Handelsschifffahrt gewohnheitsrechtlich anerkannt. Sowohl im arbeitstechnischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht nehmen die Seeleute eine für eine fremdbestimmte Erwerbstätigkeit ungewöhnlich bedeutsame Stellung ein. Durch den Grundsatz „Die Fracht ist die Mutter der Gage“ sind sie existenziell mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmung verbunden. Zudem werden sie durch das Recht der Führung selbst zu Ladungsinteressenten. Auch wenn ihr Mitspracherecht in nautischen und wirtschaftlichen Fragen durch eine zunehmende Hierarchisierung des Bordbetriebs immer geringer wird und zum 17. Jahrhundert kaum noch Bedeutung hat, nehmen sie an Erfolg und Risiko der Unternehmung teil. Ihr ganzheitliches Wissen über die Funktionseinheit Schiff macht sie nicht nur innerhalb der Gefahrengemeinschaft des Schiffes unentbehrlich, sondern ermöglicht es ihnen auch, in der schiffsinternen Hierarchie aufzusteigen. Demgegenüber werden die Seeleute mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt zu „Verschleißsubjekten“. Die Aufgabenteilung auf den Dampfschiffen führt dazu, dass die Funktionseinheit Schiff nicht mehr von einer homogenen Gruppe von umfassend ausgebildeten Seeleuten gelenkt wird. Vielmehr bedienen Kohlenzieher und Heizer unter Deck in härtester Knochenarbeit die Maschinen der Dampfschiffe. Die neuen Arbeitsbedingungen unter Deck führen zu einer Verelendung des Seearbeitsverhältnisses. Verstärkend wirkt hierbei, dass dem auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Schiffsbetrieb der kapitalistischen Großrederei erst in den 1920er Jahren ein für ihre Arbeitsbedingungen auch kampfesweise einstehendes Arbeitnehmerkollektiv gegenübersteht. Bis dahin treffen, für die Seeleute fatal, Massenbetrieb, Profitstreben und Ersetzbarkeit der menschlichen Arbeitskraft auf mangelhaften Arbeitnehmerschutz. Der aus einem Corpsgeist entstammende und Hierarchieebenen übergreifende Respekt der Besatzungsmitglieder untereinander weicht einer militärähnlichen Befehlsstruktur. Das Seearbeitsverhältnis ist damit in der Dampfschifffahrt für die Mehrzahl der Beschäftigten zum unternormigen Abhängigkeitsverhältnis geworden. Mit der Verwendung von Dieselmotoren auf Seeschiffen beginnt die Periode des Seearbeitsrecht, in der das Seearbeitsverhältnis an das Landarbeitsverhältnis angeglichen wird. Maßgeblich beeinflusst von der Entwicklung des Tarifwesens und des

K. Abschließende Betrachtung

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internationalen Arbeitsrechts, ist es das erklärte Ziel des Seemannsgesetzes von 1957, nur dort Abweichungen vom Landarbeitsverhältnis zuzulassen, wo die Eigenheiten der Seefahrt dies zwingend erfordern. Doch der so geschaffene hohe nationale Standard der Arbeitsbedingungen hat einen Preis: Die hohen Personalkosten bedeuten für die europäischen Seefahrtsnationen einen massiven Standortnachteil im internationalen Wettbewerb. Reeder aus wohlhabenden Nationen gehen dazu über, ihre Schiffe auszuflaggen und auf ihren Schiffen überwiegend ausländische, insbesondere asiatische Seeleute einzustellen. Das Seearbeitsübereinkommen, welches 2013 in Kraft tritt und den deutschen Gesetzgeber zu einer Überarbeitung des Seearbeitsrechts veranlasst, hat das Ziel, einen für sämtliche Flaggenstaaten verbindlichen Standard in den Lebens- und Arbeitsbedingungen von Besatzungsmitgliedern zu schaffen.552 So sicher es scheint, dass durch das Übereinkommen zumindest die gröbsten Auswüchse eines andauernden Wettbewerbs um die niedrigst möglichen Arbeitskosten beseitigt werden, so unsicher ist es, ob durch das Übereinkommen in Deutschland der Trend zur Ausflaggung gestoppt oder zumindest gebremst wird. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob die aktuelle Epoche des Seearbeitsrechts als diejenige in die Geschichte eingehen wird, in der die deutsche Flagge – wie es ein Reedereivertreter im Gespräch mit dem Verfasser prophezeit – „endgültig zum Anachronismus“ wird.

552

Siehe hierzu sogleich unten unter § 3 B. II.

§ 3 Die Maritime Labour Convention (MLC) 2006 A. Einleitung Ein Blick auf die Geschichte der ILO-Konventionen im Seearbeitsrecht zeigt, dass es auf internationaler Ebene auch vor Inkrafttreten der Maritime Labour Convention im Jahr 2013 nicht an materiellen Bestimmungen zur Regelung des Seearbeitsverhältnisses fehlte. Keine andere Branche hat im Laufe der bald hundertjährigen Geschichte der Organisation so viel gesetzgeberische Aufmerksamkeit erfahren.1 Bezeichnend sind aber die folgenden Zahlen: Während die ersten acht ILO-Konventionen zum Seearbeitsrecht von durchschnittlich 47 Staaten ratifiziert wurden, liegt der Durchschnitt bei den letzten acht der MLC vorangegangenen ILO-Konventionen bei zehn Ratifizierungen.2 Damit ist die Aufgabe der Konvention vorgezeichnet. Sie muss nicht zuvorderst neue materiell-rechtliche Standards schaffen, sondern vielmehr bereits existierende Standards zusammenfassen, vereinheitlichen und mit schlagkräftigen Durchsetzungsmechanismen versehen. Bildlich gesprochen hat also das Übereinkommen nicht die Aufgabe, das Rad neu zu erfinden, sondern vielmehr die vorhandenen Räder zu reparieren und zu einem funktionierenden und widerstandsfähigen Fahrzeug zusammenzusetzen. Die MLC konsolidiert 37 der 40 ILO-Konventionen zum Seearbeitsrecht.3 Als erste Konvention der ILO fasst die MLC nahezu den gesamten Fundus der gesetzgeberischen Aktivität in einer Branche zusammen. Der Breite und Tiefe, in der sie sämtliche Bereiche des Seearbeitsverhältnisses regelt, verdankt sie die Bezeichnung „Super-Konvention“.4 Sie soll als „Meilenstein in der Entwicklung des am stärksten globalisierten Wirtschaftssektors der Welt“5 eine „Bill of Rights“ für 1,2 Millionen Seeleute weltweit sein und Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb in der 1

Ausführlich Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 206. ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Appendix B, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc94/rep-i-1a.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 3 Art. X. Nicht in der MLC konsolidiert sind zwei Konventionen über die Ausweisdokumente der Seeleute (Nr. 108 und Nr. 185) und die Konvention über Seemannsrenten (Nr. 71). 4 Blanck, Tulane Maritime Law Journal, Winter 2006, S. 36; Zimmer, EuZA 2015, 297, nennt die MLC „das Jahrhundertprojekt der ILO“. 5 McConell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 17. 2

A. Einleitung

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weltweiten Handelsschifffahrt schaffen.6 Die Erwartungen an die MLC sind hoch. Sie gilt als der überfällige Versuch der Mitgliedstaaten, die ihnen entglittene Regelungsgewalt über die Arbeits- und Lebensbedingungen auf Schiffen wieder zu erlangen.7 Selbst über ihre Bedeutung für das Seearbeitsrecht hinaus wird ihr eine überragende Rolle für das internationale Arbeitsrecht zugeschrieben: Die beteiligten Interessengruppen seien „Fackelträger der ILO-Kampagne für die Förderung menschenwürdiger Arbeit weltweit“.8 Die MLC sei ein erster Schritt der ILO, das gestörte Gleichgewicht zwischen Freiheit und Regulierung des Welthandels in Angriff zu nehmen.9 Sie soll also nicht nur weltweite Standards in der Seearbeit setzen, sondern darüber hinaus ein Präzedenz-Instrument für die universelle Anwendung von Mindeststandards in der globalen Arbeitswelt sein.10 Die MLC fügt sich als vierte Säule in das Normengerüsts der internationalen Gesetzgebung über Sicherheits- und Qualitätsstandards in der Seeschifffahrt ein.11 Sie komplementiert die Schlüsselkonventionen der International Maritime Organization – IMO12, namentlich die Konventionen über die Schiffssicherheit (International Convention for the Safety of Life at Sea – SOLAS), den Meeresumweltschutz (International Convention for the Prevention of Marine Pollution from Ships – MARPOL 73/78) und die Seeleuteausbildung (International Convention on Standards of Training, Certification and Watchkeeping for Seafarers – STCW).13 Einige Kommentatoren sehen die MLC zugleich als Vervollständigung der UN-Seerechtskonvention von 1982 (United Nations Convention on the Law of the Sea – 6

MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/what-it-does/faq/ WCMS_238010/lang-en/index.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019; siehe auch Bollé, in: International Labour Review, Volume 145, S. 135. 7 Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 214. 8 ILC, 89th Session, Report of the Director-General: Reducing the decent work deficit – a global challenge, Kap. 1.2, 2.5, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc89/rep-i-a.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 9 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 34. 10 Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 194. 11 Vgl. MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, S. 4; Blanck, Tulane Maritime Law Journal, Winter 2006, S. 37; Zimmer, EuZA 2015, 297, 298. 12 Die Internationale Seeschifffahrts-Organisation (engl.: International Maritime Organization – IMO) ist, ebenso wie die ILO, eine Sonderorganisation der UN. Ihre Aufgabe ist es, globale Standards für die Sicherheit und den Umweltschutz in der internationalen Handelsschifffahrt zu setzen, http://www.imo.org/About/Pages/Default.aspx, letzter Abruf vom 14.10.2019. Die IMOKonventionen sind abrufbar unter: http://www.imo.org/en/About/Conventions/ListOfConventions/Pages/Default.aspx, letzter Abruf vom 14.10.2019. 13 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Conference Guide, S. 1, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc94/guide.pdf, letzter Abruf am 14.10.2019.

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§ 3 Die Maritime Labour Convention (MLC) 2006

UNCLOS),14 die zwar als „Verfassung der Meere“ ihrem Selbstverständnis nach alle das Seerecht betreffenden Fragen regelt,15 tatsächlich aber das Schiff als Arbeitsplatz nur unzureichend behandelt.16 Ob die MLC diese hohen Erwartungen erfüllen kann, wird erst in einigen Jahren absehbar sein. Die Idee, der MLC eine Vorreiterrolle in der internationalen Arbeitsgesetzgebung zuzuschreiben, ist durchaus naheliegend. Denn welche Industrie eignet sich besser, ein solches Musterinstrument zu schaffen, als der erste internationalisierte Wirtschaftszeig der Geschichte, in welchem – auch heute noch einzigartig – die Arbeitnehmer aus verschiedensten Ländern auf einem Arbeitsplatz tätig sind, der sich in verschiedenen Jurisdiktionen bewegt? Der folgende Überblick vollzieht zunächst die Geschichte der MLC nach, vom Aufruf des Paritätischen Seeschifffahrtsausschusses aus dem Jahr 2001, die Arbeitsbedingungen in der Seeschifffahrt grundlegend neu zu regeln, bis zum Inkrafttreten der MLC am 20. August 2013. Dem folgt eine Darstellung der MLC in der gebotenen Kürze. Aufgrund der Regelungsbreite und -tiefe beschränkt sich die Darstellung an dieser Stelle darauf, rein beschreibend einen Überblick über die Regelungsgegenstände zu geben. Wie bereits im Gang der Untersuchung dargelegt, ist ein solcher Überblick das für das Verständnis des deutschen Seearbeitsrechts unverzichtbar.17 Gegebenenfalls näher erläutert werden die Vorgaben dann im Rahmen der Thematik in den Kapiteln zum Seearbeitsgesetz. Aufgrund der historischen Erfahrung der mangelhaften Durchsetzung geltender Standards liegt ein besonderer Augenmerk auf den Strukturmerkmalen der MLC, die ein Auseinanderfallen von auf dem Papier bestehenden und in der Praxis gelebten Standards verhindern sollen.

B. Zustandekommen des Übereinkommens I. Entscheidung für eine Neukodifikation Die Einführung eines umfassenden internationalen Regelwerks zu den Arbeitsbedingungen in der Seeschifffahrt kann im Wesentlichen auf zwei zur Mitte der 1990er Jahre gewonnene Erkenntnisse zurückgeführt werden. Zum einen die Erkenntnis, dass die internationalen Regelungen zu den Arbeitsbedingungen auf Seeschiffen inhaltlich veraltet waren und über unzureichendes Ratifikationsniveau verfügten. Zum anderen wurde deutlich, dass sich die strukturellen Änderungen des 14

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 6. Siehe die Präambel der UNCLOS, abrufbar unter: http://www.un.org/depts/los/convention_agreements/texts/unclos/unclos_e.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 16 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 6 f. 17 Siehe oben unter § 1 B. 15

B. Zustandekommen des Übereinkommens

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weltweiten Seehandels immer gravierender auf die Arbeitsbedingungen der Seeleute auswirkten. 1. Nachprüfung geltender Standards Im Rahmen der 81. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz im Jahr 1994 wurde eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die geltende Konventionen auf ihre Überarbeitungsbedürftigkeit untersuchen sollte.18 Die Überprüfung förderte bei den seearbeitsrechtlichen Konventionen einen erheblichen Aktualisierungsbedarf zutage: Sechs Konventionen wurden für zeitgemäß befunden, sieben für überarbeitungsbedürftig und dreizehn für völlig überholt.19 Während die Ratifikationsstaaten der drei wichtigsten IMO-Konventionen MARPOL, SOLAS und STCW jeweils 99 % der Welthandelstonnage repräsentierten,20 lag der Repräsentationsgrad für die bis dato wichtigste Konvention zu Arbeitsbedingungen in der Seeschifffahrt, Konvention Nr. 147, nur bei 60 %. Neben der „Flucht“ der Flaggenstaaten vor internationaler Regulierung der Arbeitsbedingungen21 lag die geringe Ratifikationsdichte vor allem darin begründet, dass viele Konventionen im Seearbeitsrecht nur einen isolierten Problembereich regelten.22 Das internationale Seearbeitsrecht war um die Jahrtausendwende eher ein Flickenteppich als ein zusammenhängendes Regelwerk. 2. Auswirkungen der Strukturänderungen in der Seeschifffahrt Den zweiten wichtigen Anstoß zu einer Neustrukturierung des internationalen Seearbeitsrechts gab der Report zur 27. Tagung des Paritätischen Seeschifffahrtsausschusses im Januar 2001 über den Einfluss der Strukturänderungen in der Seeschifffahrt auf die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord (im Folgenden: JMCReport).23 Dieser legte den Zusammenhang zwischen dem verschärften Wettbewerb in der internationalen Seeschifffahrt und den sich stetig verschlechternden Arbeitsbedingungen auf den Schiffen offen.24 Befeuert durch staatliche Subventionen war es in den 1970er Jahren zunächst zu einer massiven Ausweitung des Schiffbaus 18

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 39. Ebd., S. 40. 20 Siehe zum aktuellen Stand der Ratifizierung sämtlicher IMO-Konventionen: http://www.imo.org/en/About/Conventions/StatusOfConventions/Pages/Default.aspx, letzter Abruf vom 14.10.2019. 21 Siehe hierzu unten unter § 3 B. II. 22 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 43. 23 Zusammengefasst in: ILO, The impact on seafarers’ living and working conditions of changes in the structure of the shipping industry – Report for discussion at the 29th Session of the Joint Maritime Commission, JMC/29/2001/3, im Folgenden: JMC-Report, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/libdoc/ilo/2001/101B09_3_engl.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 24 Ebd., S. 27. 19

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§ 3 Die Maritime Labour Convention (MLC) 2006

in Osteuropa, Japan, Südostasien und Lateinamerika gekommen. In der Folge sanken weltweit die Schiffspreise und Frachttarife. Der so entstandene Kostendruck wurde durch die Senkung der Arbeitskosten gemindert.25 Denn Flexibilisierungsmöglichkeiten in den Bereichen Besatzungsstärke, Schiffssicherheit und Umweltschutz waren durch zunehmend dichtere internationale Regulierung kaum vorhanden. Die Arbeitsbedingungen der Seeleute wurden als „schwächstes Glied“ im Normengerüst des internationalen Seerechts ausgemacht.26 Die Ausflaggung der Schiffe bzw. die Eintragung der Schiffe in Zweitregistern der traditionellen Seefahrtsnationen ermöglichte es den Reedern, die kostenintensiven Crews aus den traditionellen Schifffahrtsnationen durch Arbeitskräfte aus Entwicklungsländern zu ersetzen.27 Die Ausflaggung wurde damit zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit für die Reeder.28 Der internationale Arbeitsmarkt für Seeleute wies in den 1990er Jahren drei Besonderheiten auf.29 Erstens gestatteten es die Rechtsordnungen der Flaggenstaaten, Seeleute unabhängig von ihrer Nationalität einzustellen. Der Markt war somit vollkommen globalisiert.30 Zweitens waren die Abnehmer der Arbeitskräfte außergewöhnlich gut vernetzt. Die Zusammenarbeit zwischen Reedern, Schiffsmanagement-Unternehmen und Crew-Managern mit Bemannungsagenturen und Ausbildungseinrichtungen stellte eine effiziente Versorgung mit Arbeitskräften sicher. Die Abnehmer konnten die Besatzungen dadurch nach Belieben auswählen und zusammensetzen.31 Drittens überstieg das Angebot an Seeleuten die Nachfrage bei Weitem.32 Der Kostendruck im internationalen Seehandel führte ferner dazu, dass die Schiffseigentümer dazu übergingen, ihre Schiffe nicht mehr selbst, sondern durch beauftragte Dienstleister zu betreiben (sog. Vertragsreeder, engl.: ship manager).33 Auf Grundlage eines Bereederungsvertrages konnten hierdurch alle traditionellen Reederaufgaben, seien es kaufmännische (Vercharterung, Hypotheken, Versicherungen), technische (Wartung, Trockendockarbeiten, Besichtigungen) oder besatzungsspezifische (Personalsuche, Anstellung und Ausbildung) Funktionen, ausgegliedert werden.34 Die Beziehung zwischen Reeder und Besatzungsmitglied verlor 25

Ebd. Ebd., S. 93. 27 Ebd., S. 28. 28 Ebd. 29 Zusammenfassung nach ebd., S. 30 ff. 30 Ebd., S. 30. 31 Ebd., S. 31 f. 32 Ebd., S. 33: Verfügbar waren ca. 823.000 Seeleute, während die Nachfrage bei ca. 599.000 Seeleuten lag. 33 Ebd., S. 7: In dem, gerade in der Schifffahrtskrise am Anfang der 1980er Jahre häufig vorkommenden Fall, dass Reeder ihre Kredite nicht mehr bedienen konnten, waren es die Banken und anderen Darlehensgeber, die das Schiff im Zwangsvollstreckungsfall bis zum Veräußerungsbeschluss weiter betrieben und hierfür einen Vertragsreeder anstellten. 34 Ebd., S. 13 ff. 26

B. Zustandekommen des Übereinkommens

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hierdurch ihre Unmittelbarkeit. Eine wohlverstandene Fürsorge, die der „klassischer Reeder“ dem Besatzungsmitglied aus einem paternalistischen Selbstverständnis heraus zuteil werden ließ,35 wurde undenkbar. Die Praxis der Ausflaggung führte dazu, dass sich die Arbeitsbedingungen in der weltweiten Seeschifffahrt nicht mehr nach internationalen Standards richteten, sondern vielmehr nach den nationalen Gesetzen solcher Flaggenstaaten, in denen diese Standards – sei es aufgrund mangelnder Ratifikation oder mangelnder Bereitschaft, ratifizierte Standards durchzusetzen – keine Rolle spielten.36 Der JMC-Report schloß mit folgendem Aufruf: „This vicious circle involving extremely low freight rates, very poor conditions, low standards enforced by inadequate regulation and reluctance to enforce must be broken. This can only be done if it is the will of the industry at the international level since there is growing support from many of the major flag States. The first step must be to adopt minimum standards which are supported by all the parties concerned: Governments, shipowners and seafarers. Care must be taken to avoid adjusting these standards to the lowest common denominator or adopting unrealistically high standards which are not easily enforceable. These standards should then be implemented and strictly enforced […]. Furthermore, enforcement must be tight and transparent, probably relying as much on the efficiency of port state control as on flag state implementation. It should be impossible to run ships if the relevant ILO standards are not fully applied. Their application should be as universal as technical standards are.“37

II. Von der Idee zur Ratifikation Der Paritätische Seeschifffahrtsausschuss rief den ILO-Verwaltungsrat einstimmig dazu auf, eine dreiseitige Arbeitsgruppe (tripartite working group) aus Regierungsvertretern, Reedern und Seeleuten zu gründen, die als „Speerspitze“ den Entwicklungsprozess des Übereinkommens begleiten sollte.38 Das Verhandlungsziel der Seeleute – hauptsächlich vertreten durch die Internationale TransportarbeiterFöderation (International Transport Workers’ Federation – ITF) war es, einen festen, nicht durch nationale Ausnahmevorschriften flexibilisierbaren Stamm von Mindeststandards mit universeller Geltung zu schaffen.39 Die Reeder hatten insbesondere das Interesse, durch die Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen ausgeglichene Wettbewerbsbedingungen („a level playing field“) in der Handelsschifffahrt zu 35

Siehe hierzu oben unter § 2 F. und G. JMC-Report, S. 91. 37 Ebd., S. 93. 38 ILO, Governing Body, Report of the 29th Session of the Joint Maritime Commission, GB.280/5, Abs. 7, 9a, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/gb/docs/gb280/pdf/gb-5.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 39 Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 208. 36

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§ 3 Die Maritime Labour Convention (MLC) 2006

schaffen. Die Vereinheitlichung der Standards sollte aus Sicht dieser Reeder zu hohe – gewerkschaftlich erkämpfte oder staatlich vorgegebene – oder zu niedrige – von unternormigen Flaggen bestimmte – Mindestbedingungen vermeiden.40 Die Interessen der Regierungen waren unterschiedlich gelagert. Repräsentanten der Billigflaggen waren bestrebt, den Mitgliedstaaten einen weiten Spielraum bei der Umsetzung des MLC zu lassen, und sprachen sich daher für weitgehende Flexibilisierungsmöglichkeiten aus.41 Zudem wehrten sie sich gegen eine Erweiterung der Hafenstaatkontrolle, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit, Schiffe aufgrund von Verstößen gegen die MLC festhalten zu können.42 Die meisten Regierungen sahen hingegen in einer verschärften Hafenstaatkontrolle ein wichtiges Mittel, die einheitliche Anwendung von Mindeststandards zu gewährleisten. Sie waren entschlossen, den Billigflaggen das Standardsetzungsmonopol zu entziehen und hierfür einen klaren Stamm an unveräußerlichen Rechten für die Seeleute festzuschreiben.43 Beobachter beschrieben die Verhandlungen der dreiseitigen Arbeitsgruppe als konstruktiv und zielgerichtet.44 Dies war durch zwei Tatsachen bedingt: Zum einen herrschte ein breiter Konsens über die Überarbeitungsbedürftigkeit des bisherigen Systems.45 Zum anderen waren die beiden zentralen Ziele der Verhandlungsparteien, das „level playing field“ für Reeder und Regierungen und die „Bill of Rights“ für die Seeleute nicht nur miteinander vereinbar, sondern sie bedingten einander. Ein „level playing field“ würde nicht entstehen können, wenn es nicht weltweit gültige Mindeststandards gäbe. Denn diese schlössen es aus, dass sich Staaten mit unternormigen Arbeitsbedingungen Wettbewerbsvorteile verschaffen könnten und ein neuerlicher Unterbietungswettbewerb entstünde. Auf der anderen Seite wäre die Durchsetzbarkeit von weltweiten Mindeststandards nur dort möglich, wo diese Standards von der Praxis angenommen und sich keine Vermeidungs- und Umgehungsstrategien etabilieren würden. Diese Kohärenz der beiden Ziele führte dazu, dass bereits früh im Verhandlungsprozess eine grundsätzliche Einigkeit über die von dem Übereinkommen umfassten Themengebiete und über seinen strukturellen Aufbau herrschte.46

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Ebd. ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, First Meeting, Final Report, TWGMLS/2001/10, Abs. 85, abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/WCMS_153447/lang-en/in dex.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 42 Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 209 f. 43 ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, First Meeting, Final Report, TWGMLS/2001/10, Abs. 70. 44 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 52. 45 Ebd. 46 Ebd. 41

B. Zustandekommen des Übereinkommens

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Die Arbeit der beiden dreiseitigen Gruppen mündete schließlich in dem Entwurf für ein überarbeitetes Seearbeitsübereinkommen (Recommended Draft).47 Dieser wurde im September 2004 einer vorbereitenden Tagung des ILO-Verwaltungsrats (Preperatory Technical Maritime Conference – PTMC) vorgelegt.48 Da die technischen Kommittees der PTMC bei einigen strittigen Fragen keine Einigung erzielten konnten, wurden sämtliche strittigen Textpassagen aus dem Entwurf gestrichen, um sie in einem neuen, größeren Gremium zu behandeln.49 So trat im April 2005 ein Plenum aus 171 Regierungsvertretern aus 69 Ländern, 44 Reeder- und 34 Seeleutevertretern zu einem Tripartite Intersessional Meeting zusammen. Diesem gelang es, nahezu alle verbliebenen Streitpunkte abschließend zu lösen.50 Nach rund fünfjährigen Verhandlungen und Diskussionen wurde das Seearbeitsübereinkommen schließlich auf der 94. Sitzung der Internationalen Arbeitskonferenz am 23. Februar 2006 in Genf verabschiedet.51 Dabei erreichte es bei der Abstimmung das historische Höchstergebnis von 314 Dafür-Stimmen bei vier Enthaltungen.52 Durch die Ratifikation Russlands und der Philippinen am 20. August 2012 wurde das von der MLC geforderte Ratifikationsniveau von 30 Mitgliedern, die zusammen eine Bruttoraumzahl53 von 33 Prozent der Welthandelsflotte verfügen, erreicht.54 Entsprechend der Vorgabe des Artikel VIII Abs. 4 MLC trat das Übereinkommen zwölf Monate nach Erreichen der Ratifikationsschwellen am 20. August 2013 in Kraft. Die Ratifikation durch die Bundesrepublik Deutschland erfolgte am

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ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards (Second Meeting), First preliminary draft of provisions for the new consolidated maritime labour Convention, TWGMLS/2002/3, abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/WCMS_153447/lang-en/in dex.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 48 ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Allgemeine Bemerkung Nr. 1, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/german/standards/relm/maritime/pdf/cmlc-comment.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 49 Ebd., S. 21. 50 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 59 m. w. N. 51 Ausführlich hierzu Blanck, Tulane Maritime Law Journal, Winter 2006, S. 37. 52 ILC 94th (Maritime) Session, Provisional Records Nr. 17, S. 14 ff., abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/ilc/ilc94/pr-17.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 53 Definition nach Bubenzer, in: Praxishandbuch Seearbeitsrecht, S. 435: Die Bruttoraumzahl (im Folgenden auch: BRZ), engl.: gross tonnage (GT), bezeichnet das Maß für die Gesamtgröße eines Schiffes und hat die frühere verwendete Maßeinheit „Bruttoregistertonne“ (BRT) abgelöst. Die Bruttoraumzahl ergibt sich aus dem gesamten umbauten Raum des Schiffes und wird – je nach Schiffstyp multipliziert mit einem Faktor zwischen 0,22 und 0,32. 54 Vgl. Art. VIII Abs. 3 MLC.

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§ 3 Die Maritime Labour Convention (MLC) 2006

26.6.2013.55 Bis Oktober 2019 wurde die MLC von 94 Mitgliedstaaten der ILO ratifiziert. Diese repräsentieren 93 % der Welthandelstonnage.56

C. Struktur und Inhalt der MLC I. Aufbau Die MLC besteht aus drei Regelungsebenen: den Artikeln („articles“), den Regeln („regulations“) und dem Code, der wiederum aus Normen („standards“) und Leitlinien („guidelines“) besteht.57 Die 16 Artikel enthalten zunächst einleitende Definitionen, grundlegende Rechte der Seeleute sowie eine Verantwortungszuweisung für die Durchsetzung dieser Rechte an die Flaggenstaaten.58 Sodann werden Aufbau der Konvention und die in ihr enthaltenen Flexibilisierungsmöglichkeiten beschrieben und das Verfahren zur Kündigung sowie zur Änderung des Übereinkommens dargelegt.59 Die Regeln beschreiben abstrakt und in kurzen Worten den Gegenstand des Rechts der Seeleute60 („Seeleute dürfen…“, „Alle Seeleute haben…“) oder des Umsetzungsbefehls an die Mitgliedstaaten („Jedes Mitglied hat sicherzustellen/ vorzuschreiben…“). Sie benennen stets ein individuelles Recht (z. B. Recht auf Heuerzahlung, Regel 2.2; Recht auf geregelte Arbeits- und Ruhezeiten, Regel 2.3), eine institutionelle Garantie (z. B. Arbeitsvermittlungssystem, Regel 1.4; Sozialsystem, Regel 4.5) oder ein Verbot (z. B. Verbot der Beschäftigung Minderjähriger, Regel 1.1; Verbot der Beschäftigung ohne Nachweis der medizinischen, fachlichen Tauglichkeit, Regeln 1.2, 1.3), ohne deren Inhalte näher zu beschreiben. Erklärend geht jeder Regel eine kurze Bemerkung über ihren Zweck61 voraus. Artikel und Regeln verstehen sich als Grundsatzkatalog von Rechten und Garantien, die der 55 Gesetz zu dem Seearbeitsübereinkommen, 2006, der Internationalen Arbeitsorganisation vom 23. Februar 2006, BGBl. II, S. 736. 56 Siehe die Übersicht über die Ratifikationsstaaten auf der Homepage der ILO, abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/database-ratification-imple mentation/lang-en/index.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 57 Im Folgenden sind zitierte Artikel, Regeln, Normen und Leitlinien, sofern sie nicht ausdrücklich anders bezeichnet sind, Vorschriften der MLC. 58 Artt. I – V. 59 Artt. VI, VII sowie Art. IX ff. 60 Die engliche Sprachfassung der MLC verwendet den Begriff „seafarer“. Die deutsche Sprachfassung übersetzt diesen, anders als das Seearbeitsgesetz, mit „Seeleute“. Die nachfolgenden Ausführungen zur MLC übernehmen diese Begriffswahl. 61 So die deutsche Übersetzung des englischen Begriffs „Purpose“. Die MLC verwendet die Begriffe Ziel und Zweck weitgehend synonym. Auch wenn dies sprachlich ungenau ist, wird diese Verwendung übernommen.

C. Struktur und Inhalt der MLC

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weiteren Ausgestaltung bedürfen. Begründet liegt dies vor allem darin, dass eine zu detaillierte Festschreibung von Standards nach den Erfahrungen mit IMO-Konventionen die zukünftige Weiterentwicklung des Instruments behindern würde.62 Im Code sind die Einzelheiten zur Durchführung der Regeln geregelt. Er besteht aus verbindlichen Normen (Teil A) und nicht verbindlichen Leitlinien (Teil B). Die Normen gestalten das Recht bzw. den Umsetzungsbefehl der Regel aus und sind damit das materielle Herzstück der Konvention. Sie sind verbindlich, können jedoch grundsätzlich durch „im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen“ umgesetzt werden, wenn ein Mitglied zu einer Umsetzung nach den Vorgaben der Normen nicht in der Lage ist.63 Die Leitlinien sind unverbindliche Empfehlungen zur Umsetzung der Vorgaben der Normen. Ein Mitgliedstaat hat sie bei der Umsetzung lediglich gebührend in Erwägung zu ziehen.64 Die Umsetzung einer Norm entgegen den Vorgaben der zugehörigen Leitlinie soll gegenüber der ILO zu einem erhöhten Begründungsaufwand führen, ob die Umsetzung erfolgt ist.65 Entsprechend ihres unverbindlichen Charakters ist Teil B des Codes nicht Gegenstand der Überprüfung im Rahmen der Hafenstaatkontrollen.66 Nicht Teil der MLC, sondern als Anleitung zu dem Übereinkommen verstehen sich die ebenfalls in den Vertragstext aufgenommenen Erläuternden Anmerkungen zu den Regeln und dem Code des Seearbeitsübereinkommens.67 Das Zusammenspiel der Bestimmungen der MLC wird beschrieben als „Kaskade steigender Spezialität, Flexibilität und Verpflichtungsgrad“.68 Sie führt vom Programmsatz des Artikels („Alle Seeleute haben ein Recht auf menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord“)69, über den Rechtsgrundsatz, die Institutsgarantie oder das Verbot der Regel („Jedes Mitglied hat sicherzustellen, dass […] angemessene Unterkünfte […] vorhanden sind“)70 hin zum Code, der eine verbindliche Norm („die lichte Höhe hat in allen Unterkünften […] mindestens 203 Zentimeter zu betragen“)71 und eine unverbindliche Umsetzungsempfehlung („Bei 62

ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, Second Meeting, ITF Submission to the High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, Abs. 5, abrufbar unter: https://www.ilo.org/public/libdoc/ilo/2002/102B09_486_engl.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 63 Art. VI Abs. 1, 3. 64 Art. VI Abs. 2 S. 2. 65 MLC, Erläuternde Anmerkungen zu den Regeln und dem Code, Abs. 10; ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Allgemeine Bemerkung Nr. 15. 66 Regel 5.2.1 Abs. 3 S. 2. 67 Vgl. MLC, Erläuternde Anmerkungen zu den Regeln und dem Code, Abs. 1. 68 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 123. 69 Art. IV Abs. 3. 70 Regel 3.1 Abs. 1. 71 Norm A3.1 Abs. 6 lit. a).

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Seeleuten, die die Aufgaben von Unteroffizieren ausführen, sollte die Belegung von Schlafräumen zwei Personen pro Raum nicht überschreiten“)72 enthält. Durch die beschriebene Regelungsstruktur nimmt die MLC Abstand von der in anderen Konventionen der ILO und der IMO üblichen Herangehensweise, verbindliche und unverbindliche Vorschriften in verschiedenen Instrumenten niederzulegen73 oder einen Katalog von allgemeinen Rechtssätzen durch Detailregelungen im Anhang zu ergänzen.74 Statt zunächst nach Hierarchie der Normen zu trennen, sind die materiellen Vorschriften („Die Regeln und der Code“) unter fünf Titeln nach Themen angeordnet und erst innerhalb dieser Titel hierarchisch von der Regel bis zur Leitlinie dargestellt. Der Zusammenhang der Normen spiegelt sich im Nummerierungssystem der MLC wider; thematisch zusammengehörige materielle Vorschriften sind auf verschiedenen Hierarchieebenen stets identisch nummeriert (z. B.: Regel 3.2; Norm A3.2; Leitlinie B3.2).

II. Regelungsbereiche Die Regeln und der Code enthalten unter fünf Titeln die folgenden Regelungsbereiche: Titel 1: Mindestanforderungen an Seeleute für die Arbeit auf einem Schiff Titel 2: Beschäftigungsbedingungen Titel 3: Unterkunftsräume, Erholungseinrichtungen, Nahrungsmittel und Verpflegung Titel 4: Gesundheitsschutz, medizinische Betreuung, soziale Betreuung und soziale Sicherheit Titel 5: Erfüllung und Durchsetzung der Anforderungen

1. Titel 1: Mindestanforderungen an Seeleute für die Arbeit auf einem Schiff Titel 1 legt die persönlichen Voraussetzungen für eine Beschäftigung auf See fest und stellt Grundsätze zur Arbeitsvermittlung auf. Seeleute müssen mindestens 16 Jahre alt sein.75 Eine Altersgrenze von 18 Jahren gilt für Nachtarbeit und gesundheits- und sicherheitsgefährdende Arbeiten.76 Ausführlich regelt die MLC 72

Leitlinie B3.1.5 Abs. 4. Meist werden verbindliche Bestimmungen in einem Übereinkommen getroffen, nicht verbindliche in einer ergänzenden Empfehlung zu dem Übereinkommen, vgl. ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Allgemeine Bemerkung Nr. 4. 74 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 139 m. w. N. 75 Regel 1.1. 76 Norm A1.1 Abs. 2. 73

C. Struktur und Inhalt der MLC

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Voraussetzungen über die gesundheitliche und fachliche Eignung der Seeleute.77 Insbesondere muss die gesundheitliche Eignung durch ein den Vorschriften der STCW-Konvention entsprechendes Zeugnis nachgewiesen werden.78 Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit Arbeitsvermittlern, die die wirtschaftliche Unterlegenheit der Seeleute ausnutzen,79 verpflichtet die MLC ihre Mitgliedstaaten, den Seeleuten den Zugang zu einem unentgeltlichen Anwerbungs- und Arbeitsvermittlungssystem zu ermöglichen.80 Sofern es sich um private Arbeitsvermittlungen handelt, müssen diese einem vereinheitlichten Zulassungssystem, welches nach Beratung mit den Sozialpartnern einzurichten ist, unterliegen.81 2. Titel 2: Beschäftigungsbedingungen Titel 2 setzt den Rahmen für Mindestarbeitsbedingungen an Bord. Namentlich legt die MLC hier den Mindestinhalt des Heuervertrags, die Modalitäten der Heuerzahlung, die Arbeitszeiten, den Jahresurlaub, die Heimschaffung und Entschädigungsgrundsätze für Verletzung, Schaden oder Arbeitslosigkeit bei Schiffsverlust oder Schiffbruch fest. Sie verpflichtet Mitgliedstaaten dazu, Schiffe unter ihrer Flagge in Übereinstimmung mit internationalen Übereinkommen, insbesondere der SOLAS und der STCW-Konvention, zu besetzen sowie darauf, die Beschäftigung im Seeschifffahrtssektor zu stärken.82 Da die MLC die Kontrolle durch die Seeleute selbst als Teil des neu geschaffenen Kontrollsystems betrachtet, will sie sicherstellen, dass die Seeleute umfassend über ihre Rechte aus dem Heuervertrag im Bilde sind.83 Regel 2.1 regelt daher Form und inhaltliche Anforderungen des Vertragsschlusses. Der Heuervertrag ist schriftlich abzufassen und den Seeleuten rechtzeitig vor Vertragsschluss zur Verfügung zu stellen, um ihnen die Prüfung der Vertragsbedingungen zu ermöglichen.84 Der Heuervertrag muss die in Norm A2.1 Abs. 4 a) – k) aufgeführten Mindestangaben enthalten. Ebenfalls der Transparenz hinsichtlich der Arbeitsbedingungen dient die Vorschrift, dass einschlägige Kollektivvereinbarungen sowie ein Musterheuervertrag an Bord auszulegen sind.85

77

Regel 1.2, 1.3. Norm A1.2 Abs. 3. 79 Siehe hierzu oben unter § 2 H. II. 5. b) sowie unter § 3 B. I. 2. 80 Regel 1.4. 81 Norm A1.4 Abs. 2. 82 Vgl. in der genannten Reihenfolge Regel 2.1 – Regel 2.8. 83 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 279. Hierzu ausführlich unten unter § 4 C. 84 Regel 2.1 Abs. 2. 85 Norm A2.1 Abs. 2. 78

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Regel 2.2 regelt die Modalitäten der Heuerzahlung. Die Auszahlung der Heuer darf nicht in größeren als monatlichen Zeitabständen erfolgen.86 Seeleute müssen eine Abrechnung erhalten, die gegebenenfalls den Wechselkurs enthält, sofern die Zahlungen in einer anderen Währung als vertraglich vereinbart erfolgen.87 Schließlich müssen die Seeleute in die Lage versetzt werden, ihre Heuer an ihre Familien oder Unterhaltsberechtigte überweisen zu können.88 Regel 2.3 stellt sicher, dass die Seeleute geregelte Arbeits- und Ruhezeiten haben. Die Mitgliedstaaten haben hier entweder eine Höchstarbeitszeit oder eine Mindestruhezeit vorzuschreiben.89 Im Rahmen einer solchen Regelung darf die Höchstarbeit in einem Zeitraum von 24 Stunden 14 Stunden und in einem Zeitraum von sieben Tagen 72 Stunden nicht überschreiten. Wählt der Mitgliedstaat eine Mindestruhezeitenregelung, so müssen die Ruhezeiten mindestens zehn Stunden in einem Zeitraum von 24 Stunden und 77 Stunden in einem Zeitraum von sieben Tagen betragen.90 Ebenfalls vorgeschrieben sind die Aufteilung der Ruhezeiten und die Möglichkeit der Außerkraftsetzung des Arbeitszeitregimes in Notfällen.91 Regel 2.4 bestimmt den Mindesturlaub der Seeleute. Berechnungsgrundlage für den Mindesturlaub sind 2,5 Kalendertage (und nicht Werktage) für jeden Dienstmonat.92 Die Fragen, ob der Urlaub zu bezahlen ist, ob Landgang oder Feiertage auf die Urlaubszeit anzurechnen sind und ob den Seeleuten ein Mitspracherecht bei der Frage zukommt, wann und an welchem Ort der Urlaub zu gewähren ist, sind im verbindlichen Teil A des Codes nicht geregelt. Dieser bestimmt lediglich, dass die „besonderen Bedürfnisse der Seeleute zu berücksichtigen“ und dass „berechtigte Arbeitsversäumnisse“ nicht auf den Urlaub anzurechnen sind.93 Ein Anrechnungsverbot für Feiertage, für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, Unfall oder Mutterschaft, für Zeiten des Landgangs sowie für Ausgleichsfreizeiten findet sich lediglich in den unverbindlichen Leitlinien.94 Regel 2.5 gibt den Seeleuten ein Recht auf für sie kostenfreie Heimschaffung. Ein solcher Anspruch besteht dann, wenn ein Heuervertrag im Ausland aufgrund Zeitablaufs endet, eine Kündigung durch den Reeder oder eine berechtigte Kündigung durch den Seefahrer vorliegt und wenn der Seefahrer im Ausland arbeitsunfähig wird.95 Der Heimschaffungsanspruch kann von einer Vordienstzeit an Bord abhängig 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Norm A2.2 Abs. 1. Norm A2.2 Abs. 2. Norm A2.2 Abs. 3, 4. Norm A2.3 Abs. 2. Norm A2.3 Abs. 5. Norm A2.3 Abs. 6, Abs. 14. Norm A2.4 Abs. 2. Norm A2.4 Abs. 1, 2. Leitlinie B2.4.1 Abs. 3, 4. Norm A2.5 Abs. 1.

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gemacht werden, die nicht länger als zwölf Monate sein darf.96 Kommt der Reeder seinen Verpflichtungen zur Heimschaffung nicht nach, muss der Flaggenstaat die Heimschaffung veranlassen. Kommt auch dieser seiner Verpflichtung nicht nach, kann der Hafenstaat die Heimschaffung veranlassen, wobei ihm die hierbei anfallenden Kosten durch den Flaggenstaat zu ersetzen sind.97 Regel 2.6 sieht eine angemessene finanzielle Entschädigung für die Seeleute vor, die aufgrund eines Schiffbruchs oder aufgrund des Verlustes eines Schiffes verletzt wurden, Schäden erlitten haben oder arbeitslos geworden sind. Die Höhe der Entschädigung für die Arbeitslosigkeit wird im verbindlichen Teil des Codes nicht geregelt. Leitlinie B2.6.1 Abs. 1 empfiehlt, die tatsächlichen Heuereinbußen zu ersetzen, wobei eine Beschränkung der Gesamtentschädigung auf zwei Monatsheuern von der Leitlinie als angemessen betrachtet wird. Regel 2.7 verpflichtet die Mitgliedstaaten vorzuschreiben, dass sie Regelungen zur Besatzungsstärke der Schiffe festschreiben, die gewährleisten, dass der Schiffsbetrieb sicher, effizient und gefahrlos verläuft. Diese Vorschrift ist von geringer praktischer Relevanz, da sie keine konkreten Mindestvorgaben enthält. Die Besatzungsstärke der Schiffe ist detailliert im STCW-Code der IMO geregelt. Regel 2.8 schreibt schließlich vor, dass Mitgliedstaaten über eine Politik verfügen müssen, um die Beschäftigung im Seeschifffahrtssektor zu stärken und die berufliche Entwicklung und Qualifizierung der Seeleute zu fördern. Norm A2.8 Abs. 3 bestimmt hierbei, dass Berufsbild und Ausbildung der Seeleute gemeinsam mit den Sozialpartnern zu entwickeln sind. 3. Titel 3: Unterkünfte, Freizeiteinrichtungen und Verpflegung Während Titel 2 die Arbeitsbedingungen der Seeleute regelt, befasst sich Titel 3 mit den Lebensbedingungen auf dem Schiff. Regel 3.1 regelt die Unterkünfte und Freizeiteinrichtungen der Seeleute. Die zugehörige Norm A3.1 gehört zu den detailliertesten Vorschriften des Codes. Die hierin niedergelegten Anforderungen gelten nur für Schiffe, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der MLC in dem jeweiligen Flaggenstaat gebaut werden.98 Für AltSchiffe gelten die Vorgänger-Standards der ILO,99 soweit sie zum Zeitpunkt des Schiffsbaus für den jeweiligen Mitgliedstaat anwendbar waren.100 Norm A3.1 Abs. 6, 7 regeln zunächst die Größe, Lage auf dem Schiff und Beschaffenheit der Unterkünfte im Allgemeinen. In Abs. 9 finden sich ausführliche Bestimmungen über die 96

Norm A2.5 Abs. 2 lit. b). Norm A2.5 Abs. 5. 98 Regel 3.1 Abs. 2. 99 Namentlich die Übereinkommen Nr. 92 und Nr. 133 über die Quartierräume der Besatzung an Bord von Schiffen. 100 Regel 3.1 Abs. 2. 97

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Schlafräume an Bord. Verbindlich festgelegt sind hier die Größe der Kojen,101 Größe, Belegung und Möblierung der Schlafräume,102 Größe und Ausstattung der Messen103 und die Anforderungen an die Sanitäreinrichtungen104. Zudem muss das Schiff über Kranken-, Wasch-, Freizeit- und Büroräume verfügen.105 Nach Beratung mit den Sozialpartnern können die Mitgliedstaaten Schiffe mit einer Bruttoraumzahl von weniger als 200 von einzelnen Anforderungen befreien.106 Regel 3.2 verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass auf ihren Schiffen genügend Verpflegung und Trinkwasser von geeigneter Qualität mitgeführt und ausgegeben wird. Die Seeleute haben während ihrer Tätigkeit an Bord Anspruch auf kostenfreie Verpflegung.107 Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass die Speisen kulturellen Eigenheiten und religiösen Gebräuchen der Seeleute Rechnung tragen.108 Ab einer Besatzungsstärke von zehn Mitgliedern ist ein ausgebildeter Schiffskoch zu beschäftigen.109 4. Titel 4: Gesundheitsschutz, Medizinische Betreuung, Soziale Betreuung und soziale Sicherheit Titel 4 regelt die medizinische Betreuung der Seeleute an Bord und an Land, den Gesundheitsschutz, den Zugang zu sozialen Einrichtungen an Land und die soziale Sicherheit der Seeleute. Regel 4.1 verpflichtet die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass für Seeleute unter ihrer Flagge ein angemessener und kostenfreier Gesundheitsschutz besteht, während sie an Bord arbeiten.110 Hierbei haben der Gesundheitsschutz und die medizinische Betreuung soweit wie möglich dem Schutz bzw. der Betreuung zu entsprechen, der Landarbeitnehmern zukommt.111 Verbindlich vorgeschrieben wird die medizinische Ausstattung eines Schiffes.112 Auf Schiffen mit mehr als 100 Personen in internationaler Fahrt muss ein Schiffsarzt an Bord sein, auf sonstigen Schiffen eine Person, die nach den Anforderungen der STCW-Konvention medizinisch geschult ist.113 Eine 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113

Norm A3.1 Abs. 9 lit. e). Norm A3.1 Abs. 9 lit. f) – o). Norm A3.1 Abs. 10. Norm A3.1 Abs. 11. Norm A3.1 Abs. 12 – 17. Norm A3.1 Abs. 20. Regel 3.2 Abs. 2. Regel 3.2 Abs. 1, Norm A3.2 Abs. 2 lit. a). Norm A3.2 Abs. 5. Regel 4.1 Abs. 1. Norm A4.1 Abs. 1 lit. b). Norm A4.1 Abs. 4. Norm A4.1 Abs. 4 lit. b), c).

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funkärztliche Beratung muss Schiffen auf See rund um die Uhr zur Verfügung stehen.114 Regel 4.2 enthält eine Reihe von finanziellen Verpflichtungen des Reeders. Es soll sichergestellt werden, dass Seeleute gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Verletzung und Tod im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit geschützt sind. Der kurzfristige Schutz der Regel 4.2 ergänzt die Vorschriften zum langfristigen sozialen Schutz der Seeleute in Regel 4.5. Regel 4.2 statuiert eine verschuldensunabhängige Kostentragungspflicht des Reeders für die durch Krankheit und Verletzung an Bord zwischen Dienstantritt und Heimschaffung entstehenden Kosten.115 Der Reeder hat die Kosten der Bestattung der Seeleute zu tragen, wenn sie in dem genannten Zeitraum versterben.116 Haben die Krankheit oder die Verletzung eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge, hat der Reeder die volle Heuer zu zahlen, solange sich die Seeleute an Bord befinden oder bis sie heimgeschafft worden sind.117 Darüber hinaus ist zumindest ein Teil der Heuer bis zum Zeitpunkt der Genesung zu zahlen oder bis ein Anspruch auf Geldleistungen nach der Gesetzgebung des jeweiligen Mitgliedstaates besteht.118 Der Zeitraum, für den die beschriebenen Kostentragungspflichten bestehen, kann auf 16 Wochen begrenzt werden.119 Die Mitgliedstaaten können Ausnahmen von der Kostentragungspflicht vorsehen, wenn die Verletzung außerhalb des Schiffsdienstes eingetreten ist, die Krankheit oder Verletzung durch vorsätzliches Fehlverhalten der Seeleute eingetreten ist oder wenn die Krankheiten oder Gebrechen bei Vertragsschluss verschwiegen worden sind.120 Ein Mitgliedstaat kann den Reeder von der Kostentragungspflicht für medizinische Betreuung, Verpflegung, Unterkunft und Bestattung befreien, sofern die entsprechenden Kosten von staatlichen Stellen übernommen werden.121 Regel 4.3 befasst sich mit dem Arbeitsschutz der Seeleute. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, nach Beratung mit den Sozialpartnern ein Management des Arbeitsschutzes an Bord der Schiffe auszuarbeiten.122 Hierfür hat ein Mitgliedstaat Rechtsvorschriften oder sonstige Maßnahmen zur Risikobewertung, zur Ausbildung und Unterweisung der Seeleute, zur Unfallprävention und zur Überprüfung von Arbeitsbedingungen zu erlassen.123 Die getroffenen Rechtsvorschriften und Maß-

114 115 116 117 118 119 120 121 122 123

Norm A4.1 Abs. 4 lit. d). Norm A4.2 Abs. 1 lit. a). Norm A4.2 Abs. 1 lit. d). Norm A4.2 Abs. 3 lit. a). Norm A4.2 Abs. 3 lit. b). Norm A4.2 Abs. 2, 4. Norm A4.2 Abs. 5. Norm A4.2 Abs. 6. Regel 4.3 Abs. 2. Norm A4.3 Abs. 1, 2.

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nahmen sind in Beratung mit den Sozialpartnern regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls zu überarbeiten.124 Regel 4.4 ist an die Hafenstaaten gerichtet und verpflichtet diese, den Seeleuten innerhalb der Grenzen der Sicherheitsbestimmungen des jeweiligen Hafenstaates Zugang zu Sozialeinrichtungen und -diensten zu verschaffen. Solche sind nach Leitlinie B4.4.2 Abs. 2 etwa Versammlungs- und Freizeiträume, Sport- und Bildungseinrichtungen und Einrichtungen für Religionsausübung. Regel 4.5 regelt den Zugang der Seeleute und ihrer Angehörigen zu den Sozialsystemen. Die Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass Seeleute, die ihrer Gesetzgebung unterliegen, einen Anspruch auf Schutz der sozialen Sicherheit haben, der nicht weniger günstig ist als für Arbeitnehmer an Land.125 Verpflichtet werden sowohl die Flaggenstaaten als auch die Heimatstaaten der Seeleute.126 Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, durch bi- und multilaterale Übereinkünfte zusammenzuarbeiten, um die Zuständigkeiten zwischen Heimat- und Flaggenstaat zu regeln.127 5. Titel 5: Erfüllung und Durchsetzung Titel 5 regelt die Erfüllung und Durchsetzung der MLC. Adressat der Vorschriften sind Flaggenstaaten, Hafenstaaten und die Herkunftsstaaten der Seeleute. Die Rechte und Garantien der MLC werden damit einem System vielschichtiger, sich ergänzender Kontrollen unterworfen, das ein kontinuierliches „Erfüllungsbewusstsein“ der Akteure sicherstellen soll.128 Anders als die Normen anderer Titel sind die Normen des Codes in Titel 5 nicht durch „im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen“ ersetzbar, sondern insgesamt verbindlich.129 a) Verantwortlichkeit des Flaggenstaats Regel 5.1.1 schreibt einleitend die Verantwortlichkeit des Flaggenstaates für die Durchführung der MLC fest. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, ein wirksames System zur Überprüfung und Zertifizierung der Seearbeitsbedingungen einzurichten. Nach dem Vorbild der IMO-Konventionen kann ein Mitgliedstaat hierbei auch öffentliche Einrichtungen oder andere Organisationen eines anderen Mitgliedstaats

124

Norm A4.3 Abs. 3. Regel 4.5 Abs. 3. 126 Norm A4.3 Abs. 3, 5. 127 Norm A4.5 Abs. 8. 128 ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Bemerkung Nr. 35 Abs. 5. 129 Titel 5 Abs. 2. 125

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ermächtigen. An der Verantwortung des Flaggenstaats für die Überprüfung und Zertifizierung ändert eine solche Ermächtigung nichts.130 Regel 5.1.2 greift Regel 5.1.1 Abs. 3 auf und schreibt fest, über welche Eigenschaften im Hinblick auf Organisationsstruktur und Fachkunde öffentliche Einrichtungen und nichtstaatliche Organisationen, sog. Anerkannte Organisationen (engl.: Recognized organizations – [ROs]), verfügen müssen, um zur Zertifizierung und Überprüfung der Seearbeitsbedingungen ermächtigt werden zu können.131 Die Mitgliedstaaten haben die von ihnen ermächtigten Anerkannten Organisationen zu beaufsichtigen.132 Regel 5.1.3 regelt die Zertifizierungspflicht von Schiffen mit einer Bruttoraumzahl von 500 oder mehr in internationaler Fahrt. In Bezug auf andere Schiffe besteht zwar nicht die Pflicht, aber das Recht darauf, sie zertifizieren zu lassen.133 Die Zertifizierung erfolgt dadurch, dass der Flaggenstaat dem Schiff nach Prüfung der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord ein Seearbeitszeugnis (engl.: Maritime Labour Certificate – MLC134) und eine Seearbeits-Konformitätserklärung (engl.: Decraration of Maritime Labour Compliance – DMLC) ausstellt.135 Für beide Dokumente ist ein verbindliches Muster im Anhang der MLC vorgesehen.136 Regel 5.1.4 verpflichtet die Flaggenstaaten, ein Kontroll- und Überwachungssystem einzurichten, das die Durchführung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicherstellt. Die zuständige Stelle des Flaggenstaats hat für die Überprüfungen eine ausreichende Zahl qualifizierter Inspektoren zu bestellen.137 Der Flaggenstaat muss sicherstellen, dass die Inspektoren mit den für die Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Rechten ausgestattet sind. Die Inspektoren müssen das Schiff betreten, untersuchen und gegebenenfalls festhalten dürfen.138 Die Ergebnisse der Inspektionen sind zur Information der Seeleute auf dem Schiff auszuhängen.139 Regel 5.1.5 regelt das Beschwerdeverfahren an Bord. Ein Mitgliedstaat muss über ein Verfahren verfügen, welches eine gerechte, wirksame und zügige Behandlung 130

Regel 5.1.1 Abs. 3. Vgl. hierzu im Einzelnen Norm A5.1.2 Abs. 1. 132 Norm A5.1.2 Abs. 3. 133 Norm A5.1.3 Abs. 2. 134 Im Folgenden wird aufgrund der Übereinstimmung dieser Abkürzung mit der für das Seearbeitsübereinkommen gebräuchlichen Abkürzung stets der deutsche Begriff verwendet. Ein Muster des Seearbeitszeugnisses ist im Praxishandbuch Seearbeitsrecht, S. 256 ff., abgedruckt. 135 Regel 5.1.3 Abs. 3 – 5. Ein Muster der Seearbeits-Konformitätserklärung ist im Praxishandbuch Seearbeitsrecht, S. 265 ff. abgedruckt, siehe ausführlich hierzu unten unter § 4 I. III. 3. 136 Norm A5.1.3 Abs. 9, Anhang A5-II. 137 Norm A5.1.4 Abs. 3. 138 Norm A5.1.4 Abs. 7. 139 Norm A5.1.4 Abs. 12. 131

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von Beschwerden der Seeleute hinsichtlich ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen ermöglicht.140 Seeleute müssen stets das Recht haben, sich unmittelbar beim Kapitän oder bei einer externen Stelle zu beschweren.141 Die innerstaatlichen Beschwerdeverfahren müssen den Seeleuten die Möglichkeit geben, sich während des Beschwerdeverfahrens begleiten oder vertreten zu lassen. Außerdem müssen die Verfahren Vorkehrungen gegen die Schikanierung von Seeleuten wegen der Einreichung einer Beschwerde treffen.142 Den Seeleuten ist eine Kopie des geltenden Beschwerdeverfahrens an Bord auszuhändigen, einschließlich der Kontaktinformationen über die zuständige Stelle des Flaggenstaats und über eine Vertrauensperson an Bord, die ihnen bei anfallenden Beschwerden zur Seite stehen könnten.143 Regel 5.1.6. verpflichtet die Mitgliedstaaten, eine amtliche Untersuchung schwerer Seeunfälle durchzuführen, bei denen Menschen verletzt wurden oder ums Leben kamen und an denen Schiffe unter seiner Flagge beteiligt waren. b) Verantwortlichkeit des Hafenstaats Die Bestimmungen unter Regel 5.2 richten sich an die Hafenstaaten. Sie behandeln die Hafenstaatkontrolle und das Beschwerdeverfahren an Land. Die MLC verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht zur Durchführung von Hafenstaatkontrollen.144 Hafenstaaten, die Überprüfungen zu den Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord durchführen, müssen dies aber im Einklang mit den zwingenden Vorschriften der MLC tun.145 Regel 5.2.1 beschreibt die Grundsätze und den Ablauf der Kontrollen ausländischer Schiffe im Hafen eines anderen Mitgliedstaats. Die Regel verpflichtet die Mitgliedstaaten, Seearbeitszeugnis und Seearbeits-Konformitätserklärung als Anscheinsbeweis für die Erfüllung der Anforderungen der MLC anzuerkennen. Infolgedessen ist die Überprüfung in den Hafenstaaten, außer in den ausdrücklich im Code festgeschriebenen Fällen, auf die Prüfung dieser Dokumente beschränkt.146 Der Ablauf einer Hafenstaatkontrolle ist detailliert im verbindlichen Teil des Codes festgeschrieben.147 Regel 5.2.2 räumt den Seeleuten das Recht ein, Beschwerden hinsichtlich der Arbeits- und Lebensbedingungen auf ihrem Schiff im Hafenstaat einzureichen. Der Hafenstaatkontrolleur hat aus die Beschwerde hin stets eine Untersuchung der Ar140

Regel 5.1.5 Abs. 1. Norm A5.1.5 Abs. 2. 142 Norm A5.1.5 Abs. 3. 143 Norm A5.1.5 Abs. 4. 144 Art. V Abs. 4. 145 ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Bemerkung Nr. 37 Abs. 2. 146 Regel 5.2.1 Abs. 2, siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. IV. 2. e). 147 Norm A5.2.1 Abs. 1, siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. IV. 2. d). 141

C. Struktur und Inhalt der MLC

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beits- und Lebensbedingungen einzuleiten.148 Er hat sich darum zu bemühen, eine Beilegung der Beschwerde an Bord zu fördern.149 Wenn der Gegenstand der Beschwerde nicht nur einzelne Seeleute, sondern die Arbeits- und Lebensbedingungen im Allgemeinen betrifft, soll eine „Genauere Überprüfung“150 eingeleitet werden.151 Fördert diese Überprüfung schwere Mängel zutage, so kann die Hafenstaatkontrolle Abhilfemaßnahmen anordnen und das Schiff gegebenenfalls bis zur Behebung der Mängel festhalten.152 c) Verantwortlichkeit des Vermittlerstaats Regel 5.3 spricht nicht Hafen- oder Flaggenstaat an, sondern den Staat, in dem die Seeleute angeworben werden (engl.: labour supply state). Die Vorschriften unter Regel 5.3 dienen der Kontrolle und Durchsetzung von Regel 1.4 zur Anwerbung und Arbeitsvermittlung. Nach Regel 5.3 Abs. 1 ist für die Erfüllung der MLC-Vorschriften zur Anwerbung und Arbeitsvermittlung sowie für den sozialen Schutz der Seeleute neben dem Flaggenstaat auch der Staat verantwortlich, dessen Staatsangehörigkeit der betreffende Seefahrer besitzt oder in dem dieser ansässig ist. Dies gilt nur, soweit die MLC – wie etwa in Norm A4.5 Abs. 3 zur sozialen Sicherheit – eine solche Verantwortung ausdrücklich zuweist. Für die Anwerbungs- und Vermittlungsdienste, die in seinem Staatsgebiet errichtet werden, hat jeder Mitgliedstaat ein Überprüfungs- und Überwachungssystem einzurichten sowie rechtliche Verfahren wegen Verletzungen der in Norm A1.4 niederlegten Anforderungen vorzusehen.153

III. Besondere Strukturmerkmale Um ihrem Anspruch gerecht zu werden, eine „Bill of Rights“ für die Seeleute in der internationalen Handelsschifffahrt zu sein und den Reedern ein weltweites „level playing field“ zu bieten, muss die MLC universelle Geltung beanspruchen.154 Eine solche Geltung ist nur zu erreichen, wenn sie den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung genügend Raum für die Beachtung nationaler Besonderheiten lässt. Das Übereinkommen muss zudem wehrhaft in der Durchsetzung der in ihr verbürgten Rechte sein und auf Änderungen in der weltweiten Handelsschifffahrt reagieren können. Um dies

148 149 150 151 152 153 154

Norm A5.2.2 Abs. 1, 2. Norm A5.2.2 Abs. 3. Siehe zu diesem Begriff ausführlich unten unter § 4 I. IV. 2. d). Leitlinie B5.2.2 Abs. 1. Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. IV. 2. d). Norm A5.3. Ausführlich hierzu McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 81 ff.

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gewährleisten zu können, enthält die MLC vier zentrale „Nachhaltigkeitselemente“:155 - ihre Struktur als konsolidiertes und umfassendes Übereinkommen, in dem sämtliche Bereiche der Arbeits- und Lebensbedingungen auf Seeschiffen zusammengefasst geregelt sind; - ihre Aktualisierungsmechanismen, die es ermöglichen, auf die technische und wirtschaftliche Entwicklung der internationalen Handelsschifffahrt zu reagieren; - ihre Flexibilisierungsmöglichkeiten, die es erlauben, auf die Bedürfnisse jedes Mitgliedstaats eingehen zu können; - ihre Kontrollinstrumente, die das in der Vergangenheit erlebte Auseinanderdriften von niedergeschriebenen und tatsächlich durchgesetzten Standards zu verhindern.

1. Konsolidierung Ein zentraler Grund für das unbefriedigende Ratifikationsniveau der früheren ILO-Instrumente war die mangelnde Koordinierung der Vorschriften. Die ILO hatte bis zur Verabschiedung der MLC 40 Instrumente geschaffen, die sich zum Teil inhaltlich überschnitten.156 Diese Isolierung der Regelungsgegenstände führte zu einem Ratifikations-Stau bei den Mitgliedstaaten.157 Mit der Konvention Nr. 147 über die Mindestnormen in der Handelsschifffahrt versuchte die ILO bereits 1976 eine Zusammenfassung der geltenden arbeitsrechtlichen Standards. Indes beschränkte sich die Konvention darauf, in ihrem Anhang auf die zusammenzufassenden Konventionen zu verweisen, und enthielt selbst keine Mindeststandards. Dies führte dazu, dass sie im Rahmen der Hafenstaatkontrollen als schwer justiziabel galt und trotz des vergleichsweise beachtlichen Ratifikationsniveaus nicht die intendierte universelle Bedeutung erlangen konnte.158 Die MLC beschränkt sich daher nicht auf Verweisungen auf andere Konventionen, sondern formuliert und strukturiert die in diesen verbürgten Rechte neu. Sie legt besonderen Wert auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Konventionstexts.159 Dies soll nicht nur die Ratifikation erleichtern, sondern es auch den Seeleuten ermöglichen, sich Kenntnisse über ihre Rechte zu verschaffen. So integriert die MLC die Seeleute in das System der fort-

155 Vgl. auch ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Allgemeine Bemerkung Nr. 12, der die letzten drei Elemente ausdrücklich nennt. 156 Siehe hierzu ausführlich McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 65 ff. 157 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Part I Abs. 12. 158 Siehe hierzu bereits oben unter § 3 B. I. 1. 159 ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Allgemeine Bemerkung Nr. 11.

C. Struktur und Inhalt der MLC

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gesetzten Kontrolle, mit dem die universelle Anwendung des Übereinkommens sichergestellt werden soll, und macht sie zum Wächter über ihre eigenen Rechte.160 2. Aktualisierung Ein strukturelles Problem der bisherigen ILO-Konventionen zum Seearbeitsrecht bestand in der Schwierigkeit, sie durch ein geeignetes Aktualisierungsverfahren effektiv an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Gewöhnlich erfolgte die Änderung der Konventionen durch Verabschiedung einer neuen, überarbeiteten Konvention zu demselben Thema unter Befreiung der Mitgliedstaaten von ihren Verpflichtungen unter der alten Konvention.161 Selbst kleinste Detailänderungen konnten mithin nur durch die Seeschifffahrtstagung der ILC beschlossen werden.162 Ein solcher Aktualisierungsmechanismus ist bereits aufgrund ihres Detailreichtums für die MLC unbrauchbar.163 Eine Aktualisierung, so das Ziel der Verhandlungspartner, sollte ohnehin auf Jahre nicht notwendig werden, da die Vorschriften der MLC hinreichend „zeitlos“ gefasst seien.164 Aus diesem Grund ist die MLC auch die erste ILO-Konvention, die keine Ordnungsnummer trägt (sie wäre Konvention Nr. 186 gewesen).165 Inhaltliche Änderungen sollen nicht durch eine NachfolgeKonvention, sondern durch Anpassung der MLC selbst eingeführt werden. Für eine solche Anpassung sieht die MLC zwei mögliche Änderungsverfahren vor: Das Änderungsverfahren des Art. XIV MLC ist dem ursprünglichen Ratifikationsverfahren nachgebildet und erfordert entsprechend das Erreichen eines von der Tonnage und von der Anzahl der ratifizierenden Staaten abhängigen Quorums. Mit diesem Verfahren können Vorschriften auf jeder Hierarchieebene (Artikel, Regeln und Code) geändert werden. Demgegenüber enthält Art. XV MLC ein neuartiges Änderungsverfahren allein zur Anpassung der Vorschriften des Codes. Eine zentrale Rolle bei diesem Änderungsverfahren nimmt ein vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes eingesetzter dreigliedriger Sonderausschuss (engl.: Special Tripartite Committee) bestehend aus Regierungsvertretern und Repräsentanten der Seeleute und Reeder ein.166 Diese Repräsentanten haben wie die Regierungen der ILO-Mitgliedstaaten ein Vorschlagsrecht für Änderungen des Codes.167 Die Mitgliedstaaten der ILO können innerhalb eines Zeitraums von in der Regel sechs Monaten Bemerkungen und Änderungen vorbringen.168 Sodann entscheidet der dreigliedrige 160 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Part I Abs. 17. 161 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 86. 162 Ebd. 163 Ebd. 164 Ebd., S. 138. 165 Ebd., S. 87. 166 Art. XIII. 167 Art. XV Abs. 2. 168 Art. XV Abs. 3.

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Sonderausschuss mit einer qualifizierten Zweidrittelmehrheit über die Annahme des Vorschlags.169 Die angenommenen Änderungen werden der ILC auf ihrer nächsten Tagung zur Zustimmung vorgelegt. Für die Zustimmung ist eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Delegierten erforderlich.170 Eine von der Konferenz beschlossene Änderung gilt dann als angenommen, wenn nicht mehr als 40 Prozent der ratifizierenden Mitglieder, auf die mindestens 40 Prozent der Gesamttonnage entfällt, innerhalb von zwei Jahren ihr Nichteinverständnis erklären.171 Die Besonderheit des neuen Verfahrens, welches sich in ähnlicher Form auch in den IMO-Konventionen SOLAS172, MARPOL173 und STCW174 findet, ist also die stillschweigende Annahme (engl: tacit amendment) der Änderungen durch die Mitgliedstaaten. So wird aus einer „Ratifikationslast“ eine „Nicht-Ablehnungslast“. Hierdurch soll dem Phänomen begegnet werden, dass Mitgliedstaaten einer Änderung des Übereinkommens grundsätzlich zustimmend gegenüberstehen, die auf nationaler Ebene erforderlichen Schritte zur förmlichen Zustimmung aber nicht schnell genug gegangen werden können.175 3. Flexibilisierung a) Programmsatz: Unflexibel in den Rechten – Flexibel in der Umsetzung Neben der Frage nach der Ausgestaltung der Hafenstaatkontrolle war die Flexibilität bei der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten der zentrale Streitpunkt in den Verhandlungen zur MLC.176 Wie erzielt ein Übereinkommen universelle Akzeptanz unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Anspruchs, einen Katalog von unveräußerlichen Rechten festzuschreiben? Der gefundene Programmsatz lautet, das Übereinkommen solle unflexibel sein im Hinblick auf die in ihm verbürgten Rechte, jedoch flexibel in der Umsetzung dieser Rechte in die nationalen Rechtsordnungen.177 Es stellt sich die Frage, wann eine Vorschrift ein „Recht“ ist und wann sie nur der „Umsetzung“ eines Rechts dient. Nicht zutreffend wäre hier die Gleichsetzung eines „Rechts“ mit der „Verbindlichkeit“ einer Vorschrift im Sinne des Übereinkommens (Artikel, Regel, Code A – diese sind für die Mitgliedstaaten verbindlich) und entsprechend die Gleichsetzung der „Umsetzung“ mit einer unverbindlichen 169

Art. XV Abs. 4. Art. XV Abs. 5. 171 Art. XV Abs. 7. 172 Art. VIII, (b), (vi), (2) SOLAS. 173 Art. 16, (2), (f) MARPOL. 174 Art. XII, (1), (a), (vii) STCW. 175 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 240. 176 Ebd., S. 52 m. w. N. 177 ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, First Meeting, Final Report, TWGMLS/2001/10, Appendix Abs. 1 a. E.: „(…) inflexible with respect to rights, flexible with respect to implementation“. 170

C. Struktur und Inhalt der MLC

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Vorschrift (Code B – dieser ist für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich). Eine Vorschrift kann also „verbindlich“ und gleichzeitig „flexibilisierbar“ sein. Die Grenze zwischen dem – unflexiblen – Recht und der – flexiblen – Umsetzung zieht das Übereinkommen selbst durch die Regelung des wichtigsten Flexibilisierungsinstruments, der Zulässigkeit von „im Wesentlichen gleichwertigen“ Vorschriften. Gemäß Art. VI Abs. 3 MLC kann ein Mitgliedstaat, der nicht in der Lage ist, die Rechte und Grundsätze in der in Teil A des Codes dargelegten Weise zu verwirklichen, diese grundsätzlich durch Maßnahmen umsetzen, die den Bestimmungen des Teils A „im Wesentlichen gleichwertig“ sind. Die Grenze zwischen unflexiblen Rechten und flexibler Umsetzung dieser Rechte wird damit vor dem verbindlichen Teil A des Codes gezogen. Dieser ist zwar verbindlich, dennoch enthält er durch den Spielraum der Mitgliedstaaten kein Rechte, sondern lediglich einen Umsetzungsbefehl zu dem auf höherer (nämlich der Regel-) Ebene festgeschrieben Recht. Hiervon gehen auch die Erläuternden Anmerkungen zur MLC aus, indem sie im Zusammenhang mit Teil A des Codes von der „Flexibilität bei der Durchführung“ sprechen.178 Aufgrund der überragenden Bedeutung einer weltweiten, einheitlichen und effektiven Kontrolle, sind die Vorschriften des Codes des Titel 5 nicht durch „im Wesentlichen gleichwertige“ Regelungen ersetzbar.179 b) Im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen Die Bewertung der Frage, wieviel Spielraum das Übereinkommen den Mitgliedstaaten lässt, hängt entscheidend von dem Verständnis der „wesentlichen Gleichwertigkeit“ von Maßnahmen ab, mit denen Mitgliedstaaten die Normen des Codes ersetzen können. Das Konzept der Flexibilisierung durch „im Wesentlichen gleichwertige“ Regelungen findet sich auch in anderen Konventionen der ILO180 sowie in den IMO-Konventionen SOLAS181 und MARPOL182. Der Begriff soll in der MLC aber autonom auszulegen sein.183 Das Übereinkommen selbst sagt wenig zum Begriffsverständnis: Eine „wesentliche Gleichwertigkeit“ solle dann vorliegen, „wenn sich der Mitgliedstaat vergewissert hat, dass [die abweichenden Maßnahmen] der vollen Erreichung des allgemeinen Ziels und Zwecks der Bestimmungen von Teil A des betreffenden Codes förderlich sind“ und er „die Bestimmungen von Teil A

178

MLC, Erläuternde Anmerkungen zu den Regeln und dem Code, Abs. 8. Titel 5 Abs. 2 MLC. 180 Vgl. Art. 2, lit. a), iii Konvention Nr. 147 oder Art. 6 Abs. 6 Konvention Nr. 185 über Ausweise der Seeleute. 181 SOLAS Chapter I, Part A, Regulation 5, lit. a). 182 MARPOL Annex I, Regulation 3. 183 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Part II Note 6 Abs. 11; siehe hierzu auch McConnell/Devlin/ Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 219. 179

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des betreffenden Codes durchführt“.184 Dies ist inhaltsleer, wenn nicht gar zirkelschlüssig: Gleichwertig ist, was Ziel und Zweck gleichwertig fördert. Dazu das folgende Beispiel:185 Ausdrücklicher Zweck der Regel 3.1 zu Unterkünften und Freizeiteinrichtungen ist, „sicherzustellen, dass für Seeleute angemessene Unterkünfte und Freizeiteinrichtungen vorhanden sind.“ So hat nach Abs. 1 der Regel „jedes Mitglied […] sicherzustellen, dass auf Schiffen unter seiner Flagge angemessene Unterkünfte […] vorhanden sind und instand gehalten werden, die [für] Gesundheit und Wohlbefinden förderlich sind.“ Die Regel sagt damit nicht mehr aus als der ihr vorangestellte Zweck. In Teil A des Codes finden sich dann detaillierte Vorschriften. Geregelt ist beispielsweise die Größe der Schlafräume,186 die Größe der Kojen187 und sogar die Größe und Beschaffung der Kleiderschränke188. Nach der Vorgabe der MLC ist nun Ziel und Zweck dieser Normen festzulegen. Geht es ganz konkret um die Größe der Ausstattung? Geht es – etwas allgemeiner – um ein „Mehr“ an Privatsphäre oder an Besitzstand, oder geht es – noch allgemeiner – um die Frage des Wohlbefindens des Besatzungsmitglieds? Und auch wenn sich die Frage nach Ziel und Zweck der Norm klar beantworten ließe, wäre die Frage nach der Gleichwertigkeit noch nicht gelöst. Denn was verschafft den Seeleuten ein „im Wesentlichen gleichwertiges“ Maß an Privatsphäre? Ein zusätzlicher Urlaubstag? Zusätzlich gewährter Landgang? Die Vergrößerung oder eine bessere Ausstattung von gemeinschaftlich genutzten Räumen? Oder kommt eine Gleichwertigkeit von vornherein nicht in Betracht? Allgemein formuliert: Können Ziel und Zweck der Norm auch dadurch erreicht werden, dass man ihren Tatbestand verkürzt und dafür – gewissermaßen als Kompensation – in einem anderen, verwandten Regelungsbereich den Schutzstandard erhöht? Hinweise für die Beantwortung dieser Fragen enthält die MLC nicht. Eine regelungsbereichsübergreifende Gleichwertigkeit ist aus zwei Gründen abzulehnen. Zum einen widerspricht sie dem Aufbau des MLC. Die allgemein formulierte Regel wird von einer detailliert formulierten Norm des Codes ausgefüllt. Die MLC verlangt für die Gleichwertigkeit eine Förderung des Ziel und Zwecks des detaillierten Codes und gerade nicht eine Förderung des Ziel und Zwecks der allgemeinen Regel. Eine regelungsbereichsübergreifende Gleichwertigkeit könnte Ziel und Zweck der Regel, nicht jedoch Ziel und Zweck der Norm des Codes fördern. Zum anderen wäre ein abweichendes Verständnis im Hinblick auf den verbindlichen Charakter des Teils A des Codes nicht zulässig. Zwar ist, wie oben erwähnt,189 auch eine verbindliche Vorschrift flexibilisierbar. Allerdings würde eine regelungsgegenstandübergreifende Flexibilisierung zur Aushöhlung einzelner Regelungsgegenstände führen. Dies ist mit der Vorgabe der Verbindlichkeit nicht mehr 184 185 186 187 188 189

Art. VI Abs. 4. Beispiel nach McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 222. Norm A3.1 Abs. 9 lit. f). Norm A3.1 Abs. 9 lit. e). Norm A3.1 Abs. 9 lit. n). Siehe oben unter § 3 C. III. 3. a).

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vereinbar. In dem genannten Beispiel kann damit eine „wesentliche Gleichwertigkeit“ nicht durch zusätzliche Urlaubstage oder Landfreizeit hergestellt werden. Damit bleibt die Frage, wie sich Ziel und Zweck einer Norm des Codes bestimmen lassen. Diese müssen jedenfalls inhaltlich enger gefasst sein als bei der Regel, aber nicht so eng, dass eine Flexibilisierung von vornherein unmöglich ist. Ziel und Zweck einer Norm müssen umso enger gefasst werden, je mehr der Normengehalt wichtige Rechtsgüter des Besatzungsmitglieds berührt. So lassen sich Norm A3.1 Abs. 9 lit. n) – Mindestgröße von Kleiderspind und Kommode im Schlafraum – und lit. o) – Ausstattung der Schlafräume mit Tischen und Stühlen – zu einem weiten Regelungszweck „Gewährleistung einer angemessenen Ausstattung“ zusammenfassen, während die Norm zur Kojengröße den engen Regelungszweck hat, die Größe der Schlafgelegenheit zu bestimmen. Denn die letztgenannte Norm betrifft ein höheres Rechtsgut (Gesundheit) des Besatzungsmitglieds als die Normen zur Ausstattung (Besitzstand; Privatsphäre). Für die angesprochenen Beispiele ergeben sich damit folgende Ergebnisse: Ziel und Zweck der Norm A3.1 Abs. 9 lit. e) (Mindestmaße der Kojen) ist die Regelung der Größe der Schlafgelegenheit. Diese ist durch die Norm fest bestimmt und im Interesse der Gesundheit der Seeleute nicht flexibilisierbar. Regelungsziel der Normen A.3.1 Abs. 9 lit. n), o) (Mindestgröße der Möblierung bzw. Ausstattung des Schlafraums) ist – insoweit allgemeiner gefasst – der Besitzstand der Seeleute. Als „im Wesentlichen gleichwertige“ Regelungen wären solche denkbar, die ein „Weniger“ an Ausstattung in den Schlafräumen mit einem „Mehr“ an Ausstattung in anderen Räumen, etwa Aufenthaltsräumen oder Messen, vorsehen. Die Beispiele zeigen auf, dass das Tatbestandsmerkmal der „wesentlichen Gleichwertigkeit“ schwer justiziabel ist.190 Entsprechend den Vorgaben der MLC geht es in der Anwendung vor allem darum, Ziel und Zweck der entsprechenden Vorschrift des Codes nach den oben genannten Maßstäben herauszuarbeiten und die abweichende Maßnahme vor dem Hintergrund dieses Ziel und Zwecks zu bewerten. Die Entscheidung über die „wesentliche Gleichwertigkeit“ ist auch im Hinblick auf die Struktur der MLC zu treffen: Die Gleichwertigkeit darf weder dazu führen, dass eine Flexibilisierungsmöglichkeit nicht besteht, noch dazu, dass eine „Über-Flexibilisierung“ den Unterschied zwischen verbindlichen Normen (Code, Teil A) und unverbindlichen Leitlinien (Code, Teil B) verwischt. Sie darf keinesfalls einem Mitgliedstaat einen Wettbewerbsvorteil ermöglichen, der geeignet ist, das „level playing field“ im Wettbewerb zu untergraben. 4. Kontrolle Titel 5 der MLC enthält – wie bereits dargestellt191 – umfassende Durchsetzungsund Kontrollmechanismen. Das Übereinkommen, so formuliert es die ILC bei der 190 191

So auch die Kritik von McConnell/Devlin/Doumbia/Henry, The MLC 2006, S. 221. Siehe hierzu oben unter § 3 C. II. 5. sowie unten unter § 4 I.

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Verabschiedung, enthalte ein System der fortgesetzten Kontrolle auf jeder Ebene.192 Der Seefahrer ist über seine Rechte im Heuerverhältnis umfassend zu informieren und wird über das Beschwerdesystem an Bord und an Land zur „Kontrollinstanz von unten“. Der Reeder entwirft einen Maßnahmenkatalog zur Umsetzung der nationalen Gesetze an Bord seiner Schiffe und stellt gemeinsam mit dem Kapitän als „Kontrollinstanz von innen“ die Durchsetzung dieses Katalogs sicher. Der Flaggenstaat überprüft die Schiffe und die vom Reeder zur Umsetzung der nationalen Gesetzgebung getroffenen Maßnahmen und stellt dem Schiff ein Zeugnis aus, welches diesem die Konformität mit den die MLC umsetzenden nationalen Regelungen bescheinigt und welches die Kontrolle der Hafenstaaten erleichtern soll. Zudem erstattet der Flaggenstaat ebenso wie der Heimatstaat der Seeleute der ILO gemäß Artikel 22 der ILO-Verfassung einen jährlichen Bericht über das Kontroll- und Zertifizierungssystem („Kontrollinstanz von oben“). Schließlich stellt die Hafenstaatkontrolle das wichtigste und schärfste Kontrollinstrument der MLC dar. Mitgliedstaaten können die Schiffe anderer Staaten in ihren Häfen auf Mängel an Bord überprüfen und gegebenenfalls festhalten. Durch diese „Kontrolle von außen“ wirken die Mitgliedstaaten aktiv an der Kontrolle der Umsetzung der MLC durch andere Staaten mit. Die Flaggenstaaten erhalten damit einen neuen „Rechenschaftsgegner“. Sie müssen die Umsetzung der MLC nicht nur gegenüber der ILO rechtfertigen, sondern im Ergebnis auch gegenüber den anderen Mitgliedstaaten. Die Spieler auf dem „level playing field“ werden damit gleichzeitig seine Verteidiger.

IV. EU-Recht Auf europäischer Ebene wurden weite Teile der MLC zur Durchführung der Vereinbarung zwischen dem Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) über das Seearbeitsübereinkommen 2006 vom 19. Mai 2008 nach Art. 155 AEUV193 in die Richtlinie 2009/13/EG überführt.194 Die Vereinbarung enthält verbindliche Vorschriften zu nahezu allen Regelungsbereichen der MLC und übernimmt deren Inhalt und Systematik weitgehend.195 Die Richtlinie 1999/63/EG, die ebenfalls zur

192 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Part I Abs. 17. 193 Zum Zeitpunkt der Vereinbarung noch Art. 139 EVG. 194 Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009L0013&from=EN, letzter Abruf vom 14.10.2019. 195 Vgl. hierzu auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 70 ff. Ausgenommen sind die für die europäische Praxis kaum relevanten Vorschriften zur Arbeitsvermittlung (Regel 1.4, Regel 5.3). Ferner ausgenommen sind die Vorschriften zu Heuer (Regel 2.2) und Sozialer Sicherheit (Regel 4.5). Die Hafenstaatkontrolle ist in einer eigenen Richtlinie geregelt.

D. Zusammenfassung und Bewertung

121

Durchführung einer zwischen ECSA und ETF196 getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten erlassen wurde, wurde durch Richtlinie 2009/13/EG geändert. Ebenfalls den Vorgaben der MLC angepasst wurde die Hafenstaatkontrollrichtlinie 2009/16/EG.197 Die Flaggenstaatkontrolle erfährt durch die die Richtlinie 2013/54/EU über bestimmte Verantwortlichkeiten der Flaggenstaaten für die Einhaltung und Durchsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006198 ebenfalls eine Neuregelung nach den Vorgaben der MLC.

D. Zusammenfassung und Bewertung Von einigen Autoren wird die MLC überschwänglich als „Erfolgsmodell“ gefeiert.199 Die lange Geschichte des Auseinanderfallens zwischen dem normierten und dem gelebten Standard in den Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute gebietet jedoch Vorsicht bei der Bewertung. Die MLC wirkt durch die vier beschriebenen Nachhaltigkeitsmerkmale den gröbsten strukturellen Fehlern in der internationalen Gesetzgebung entgegen. Das Übereinkommen fasst sämtliche Bereiche der Arbeits- und Lebensbedingungen in einem einheitlichen, verständlichen Text zusammen. Ein neuer Aktualisierungsmechanismus sorgt für die Möglichkeit einer schnellen Anpassung der Vorschriften des Codes. Es enthält Flexibilisierungsmöglichkeiten, insbesondere die Möglichkeit, die Vorschriften des Codes durch „im Wesentlichen gleichwertige“ Maßnahmen zu ersetzen. Schließlich sieht die MLC umfassende Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen vor, um die Einhaltung der Mindestarbeits- und Lebensbedingungen sicherzustellen. Bei der Bewertung der Nachhaltigkeitsmerkmale zeigt sich: Die MLC ist klar verständlich gefasst und für die Mitgliedstaaten daher leicht umsetzbar. Dies wird auch belegt durch die Tatsache, dass 94 der ILO-Mitgliedstaaten das Übereinkommen ratifiziert haben, die über 90 % der Welthandelstonnage repräsentieren.200 Auch 196 Der für die Arbeitnehmer unterzeichnende Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (Federation of Transport Workers’ Unions in the European Union – FST) wurde in die ETF einfusioniert. 197 Diese ist abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2009:131:0057:01 00:DE:PDF, letzter Abruf vom 14.10.2019. 198 Abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX%3A32013L0054, letzter Abruf vom 14.10.2019. 199 Lavelle/Abel, The Maritime Labour Convention, S. 1; McConnell/Devlin/DoumbiaHenry, The MLC 2006, S. 91. 200 Siehe die Übersicht auf der Homepage der ILO: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/database-ratification-imple mentation/lang-en/index.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019.

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das neue Änderungsverfahren hat sich bereits mehrfach bewährt und rasche Anpassungen des Codes ermöglicht.201 Viel stärker noch hängt der Erfolg oder Misserfolg der MLC an der Funktionsfähigkeit der beiden letztgenannten Nachhaltigkeitselemente. Sind die Flexibilisierungsmöglichkeiten zu ausgeprägt, lässt bereits die MLC selbst unerwünschte Unwuchten im „level playing field“ zu. Sind die Flexibilisierungsmöglichkeiten zu eng, werden die Standards in der Praxis häufig nicht angenommen und es werden Wege gefunden, die Standards zu umgehen. Die MLC neigt, indem sie die Vorschriften des Codes für durch „im Wesentlichen gleichwertige“ Maßnahmen ersetzbar erklärt, zu einer großzügigen Flexibilisierungsmöglichkeit. Hier wird es entscheidend darauf ankommen, wie der Begriff der „im Wesentlichen gleichwertigen Maßnahmen“ von den Mitgliedstaaten verstanden wird. Erste Erfahrungen deuten darauf hin, dass Mitgliedstaaten von diesem Flexibilisierungsinstrument nur sehr zurückhaltend Gebrauch machen.202 So flexibel die MLC bei der Umsetzung der in ihr festgeschriebenen Rechte der Seeleute ist, so unflexibel ist sie bei den Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen. Die Stärkung der Hafenstaatkontrolle wird dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten sich gegenseitig in Bezug auf die Einhaltung der Mindeststandards bei den Arbeits- und Lebensbedingungen kontrollieren können. Durch die nunmehr bestehende Möglichkeit, ein Schiff bei einem qualifizierten Verstoß gegen die MLC festzuhalten, hat die Hafenstaatkontrolle ein scharfes Druckmittel, um Reeder und Flaggenstaaten zur Einhaltung des Übereinkommens anzuhalten. Obwohl es noch Unklarheiten über die Rolle der neu eingeführten Schiffszertifikate gibt,203 ist die Verschärfung der Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen der entscheidende Faktor dafür, dass die MLC die Arbeits- und Lebensbedingungen entscheidend verbessern wird. Erste Zahlen zur Hafenstaatkontrolle lassen die vorsichtige Deutung zu, dass der letzte Versuch der ILO-Mitgliedstaaten, die Regelungsgewalt über die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Seeschifffahrt wieder an sich zu nehmen, geglückt ist.204

201 So wurde zuletzt im Februar 2016 das Erneuerungsverfahren für Schiffszertifikate in Norm A5.1.3 Abs. 3, 4 vereinfacht und der Begriff des Arbeitsunfalls (Leitlinien B4.3.1 und B4.3.6) erweitert. Bereits 2014 wurde die Pflicht der Mitgliedstaaten erweitert, Sicherungsmechanismen für den Fall zu schaffen, dass der Reeder seinen Verpflichtungen zur Heimschaffung oder zur finanziellen Absicherung der im Falle der Arbeitsunfähigkeit nicht nachkommen kann, Norm A4.2. 202 International Labour Office, Second meeting of the Special Tripartite Committee established under Article XIII of the Maritime Labour Convention, 2006, STCMLC/2016/7, Final Report, Abs. 16, abrufbar unter: https://www.ilo.org/public/libdoc/ilo/2002/102B09_494_engl.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 203 Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV. 2. e). 204 Siehe hierzu unten unter § 4 I. V.

§ 4 Das Seearbeitsgesetz Das Seearbeitsgesetz ist seit dem 1. August 2013 in Kraft.1 Neben ihm wurden zahlreiche weitere Gesetze und Verordnungen zur Umsetzung der MLC erlassen. Außer den das Seearbeitsgesetz ergänzenden seeverkehrs-, arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften2 sind hier insbesondere zu nennen die See-UnterkunftsVerordnung3, die See-Arbeitszeitnachweis-Verordnung4, die Maritime-MedizinVerordnung5, die Seearbeitsüberprüfungs-Verordnung6, die Schiffsbesetzungs-Verordnung7, die Seeleute-Befähigungs-Verordnung8 sowie die Offshore-Arbeitszeitverordnung9. Das Gesetz ist weniger Resultat einer parteipolitischen als vielmehr einer streng praxisorientierten Konsensfindung. Bereits Jahre vor Beginn des Gesetzgebungsprozesses standen die Sozialpartner in einem konstruktiven Dialog miteinander.10 Ferner ist der politische Gestaltungsspielraum durch die tatsächlichen Verhältnisse der Seeschifffahrt im Seearbeitsverhältnis eingeschränkter als im Landarbeitsverhältnis. So folgen beispielsweise Höchstarbeitszeiten und Dienstleistungspflichten auf See sehr viel häufiger als an Land dem „Diktat des Notwendigen“. In der Gesamtschau wurde – ähnlich wie dies im Rahmen der MLC der Fall war11 – der Gesetzgebungsprozess als „Beispiel gelebter Sozialpartnerschaft“ gelobt.12 1 Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. April 2013 (BGBl. I, S. 868). 2 Vgl. Artt. 2 – 5 des Gesetzes zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens 2006 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 20. April 2013. 3 See-Unterkunftsverordnung vom 25. Juli 2013 (BAnz AT 30.7.2013 V1). 4 See-Arbeitszeitnachweisverordnung vom 25. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2795), zuletzt geändert durch Gesetz vom 18. Juli 2017 (BGBl. I, S. 2745). 5 Maritime-Medizin-Verordnung vom 14. August 2014 (BGBl. I, S. 1383), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Juli 2017 (BGBl. I S. 2581). 6 Seearbeitsüberprüfungs-Verordnung vom 25. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2800). 7 Schiffsbesetzungsverordnung vom 18. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2575), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. Juli 2017 (BGBl. I, S. 2581). 8 Seeleute-Befähigungsverordnung vom 8. Mai 2014 (BGBl. I, S. 460), zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Juni 2016 (BGBl. I, S. 1257). 9 Offshore-Arbeitszeitverordnung vom 5. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2228). 10 BT-Ausschussdrucks. 17(11)1004, S. 18. 11 Siehe hierzu oben unter § 3 B. II. 12 So der CDU-Abgeordnete Wadepuhl im Rahmen der 2. und 3. Lesung, vgl. BT-Plenarprotokoll 17/222, S. 27641. Ähnlich äußerten sich im Rahmen der Sachverständigenanhörung auch die Sozialpartner, vgl. BT-Protokoll 17/116, S. 1817.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Zwar war das Inkrafttreten der MLC der Anlass für die Schaffung des Seearbeitsgesetzes.13 Eine grundlegende Reformbedürftigkeit des in weiten Teilen noch in seiner Ursprungsfassung aus dem Jahre 1957 bestehenden Seemannsgesetzes bestand jedoch unabhängig von internationalen Vorgaben.14 Das Seemannsgesetz ging von dem überkommenen Leitbild eines bei einem deutschen Reeder angestellten deutschen Seemann aus.15 Das öffentlich-rechtliche Musterungsverfahren16 vor Dienstantritt war ebenso unzeitgemäß wie die extensive Strafandrohung bei Verletzung der Folgeleistungspflicht.17 So veraltet Vorstellungen des Seemannsgesetztes von 1957 60 Jahre später in einigen Punkten erscheinen, so wichtig und aktuell ist eine entscheidende Weichenstellung, die das Seemannsgesetz vornahm: Das Postulat, den Arbeitnehmer auf See nur dort anders zu behandeln als den Arbeitnehmer an Land, wo die Besonderheiten der Seeschiffahrt dies unumgänglich machen.18 Hieraus folgt ein Angleichungsgebot, das auch der Gesetzgeber des Seearbeitsgesetzes zu befolgen hat.19 Dieses Angleichungsgebot hat zwei Ausprägungen: Zum einen darf der Gesetzgeber dort, wo es die Besonderheiten der Schifffahrt nicht gebieten, mithin in „schifffahrtsneutralen“ Bereichen, kein Sonderarbeitsrecht für Seeleute schaffen. Zum anderen ist er gehalten, besondere Rechte und Pflichten zu schaffen, wo die Besonderheiten des Lebens und Arbeitens auf See es erfordern. So besteht im Seearbeitsverhältnis – anders als im Landarbeitsverhältnis – das Bedürfnis nach Regelungen über Verpflegung, Unterkunft oder Heimschaffung. Gleichzeitig darf der Gesetzgeber dem Besatzungsmitglied Pflichten auferlegen, die notwendig sind, um den besonderen Gefahren der Seeschifffahrt zu begegnen, etwa erweiterte Gefahrtragungs-, Anwesenheits- und Folgeleistungspflichten oder die Pflicht, bis zu den Grenzen einer erweiterten Höchstarbeitszeit zu arbeiten. Nach dem Angleichungsziel des Gesetzgebers sind diese Rechte und Pflichten mithin so auszugestalten, dass sie den Arbeitnehmer auf See gegenüber dem Landarbeitnehmer weder bevorzugen noch benachteiligen. Sowohl die Erweiterung der Rechte als auch die Erweiterung der Pflichten des Besatzungsmitglieds dürfen daher lediglich Angleichungskorrekturen gegenüber dem Landarbeitsverhältnis sein: Eine Erweiterung eines Rechts muss dazu dienen, einen dem Seearbeitsverhältnis immanenten Nachteil für das Besatzungsmitglied zu kompensieren; eine Erweiterung einer Pflicht dazu, einen der Seefahrt immanenten Nachteil für die Schiffsunternehmung abzumildern. 13

BT-Drucks. 17/10959, S. 1. Ebd. 15 Vgl. §§ 24, 27 SeemG, die ausschließlich von einem Vertragsschluss zwischen Seemann und Reeder ausgehen sowie § 55 Abs. 1 SeemG, der davon ausgeht, dass Urlaub grundsätzlich im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu gewähren ist. 16 §§ 13 ff. SeemG, siehe hierzu BT-Drucks. 17/10959, S. 56. 17 Vgl. § 115 SeemG. 18 BT-Drucks. 2/2962, S. 41, siehe hierzu bereits oben unter § 2 I. II. 19 Vgl. BT-Drucks. 17/10959, S. 1 f., wonach das Seearbeitsgesetz „modernisiert“ werden muss. 14

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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Damit stellen sich bei Analyse des Seearbeitsgesetzes drei zentrale Fragen: Erstens, ob die zwingenden Vorgaben der MLC durch das Seearbeitsgesetz umgesetzt worden sind. Zweitens, ob der Gesetzgeber das Angleichungsgebot beachtet hat. Drittens ist zu fragen, ob das Gesetz – möglicherweise unter Verletzung der Umsetzungs- oder Angleichungspflicht – noch historische Besitzstände enthält, derer es sich hätte entledigen müssen. Wie bereits im Gang der Untersuchung beschrieben, setzt die folgende Darstellung den Schwerpunkt auf die Beantwortung der beiden letzten Fragen.20 Ebenfalls angedeutet wurde, warum ein Verständnis des Seearbeitsgesetzes ohne die Betrachtung der Vorgaben der MLC ist nicht möglich ist. Daher ist, soweit geboten, jedem Kapitel eine kurze Darstellung dieser Vorgaben vorangestellt. Ferner konzentiert sich die Darstellung auf die im Kern arbeitsrechtlichen Vorschriften des Gesetzes und damit auf dessen dritten Anschnitt („Beschäftigungsbedingungen“). Aufgrund der überragenden praktischen Relevanz werden die den 5. Titel der MLC („Erfüllung und Durchsetzung der Anforderungen“) umsetzenden Vorschriften ebenfalls dargestellt.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes I. MLC Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der MLC ist weit gefasst. Die Geltung des Übereinkommens ist weder auf Schiffe ab einer bestimmten Größe beschränkt noch auf bestimmte auf dem Schiff arbeitende Personengruppen. Seeleute sind nach Verständnis des MLC „alle Personen, die in irgendeiner Eigenschaft an Bord eines Schiffes […] beschäftigt oder angeheuert sind oder arbeiten“, Art. II Abs. 1 lit. f). Mit „Schiff“ meint die MLC Seeschiffe (engl.: seagoing ships), also solche Schiffe, die nicht ausschließlich auf Binnengewässern, in geschützten Gewässern oder in deren unmittelbarer Nähe oder in Gebieten verkehren, die einer Hafenordnung unterliegen, Art. II Abs. 1 lit. i). Es muss sich um gewerblich genutzte Schiffe handeln, Art. II Abs. 4. In Zweifelsfällen legt die MLC es in die Hände der Mitgliedstaaten, die Begriffsbestimmungen auszufüllen. Nach Art. II Abs. 3 MLC hat die zuständige Stelle jedes Mitgliedstaats – in Deutschland ist dies die Dienststelle Schiffssicherheit der Berufsgenossenschaft Verkehrswirtschaft Post-Logistik Telekommunikation21 – in Zweifelsfällen nach Anhörung der Sozialpartner zu entscheiden, ob bestimmte Personengruppen als Seeleute anzusehen sind. Dasselbe gilt für die Frage, ob eine bestimmtes Schiff oder eine bestimmte Schiffsgruppe unter den Geltungsbereich der MLC fällt, Art. II Abs. 5.

20

Siehe oben unter § 1 B. Vgl. § 6 Abs. 1, 2 des Gesetzes über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Seeschiffahrt (Seeaufgabengesetz). Im Folgenden: „BG Verkehr“. 21

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Die den Mitgliedstaaten eingeräumte Definitionshoheit ist durchaus bedeutsam. Sie ermöglicht es diesen beispielsweise, mobile Offshore-Anlagen aus dem Schiffsbegriff der MLC herauszunehmen.22 Ferner ist es den Mitgliedstaaten möglich, die nationale Küstenschifffahrt mit kleineren Schiffen aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens herauszunehmen. Außerdem können Staaten, die aus mehreren Inseln bestehen, den Schiffsverkehr zwischen diesen Inseln rechtlich als Binnenschifffahrt qualifizieren.23 Die Definitionshoheit über den Begriff „Seeleute“ soll es den Mitgliedstaaten ermöglichen, Personengruppen aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens herauszunehmen, die aufgrund der Art und Weise ihrer Tätigkeit an Bord keines besonderen seearbeitsrechtlichen Schutzes bedürfen.24 Indes würde es die Intention des Seearbeitsübereinkommens, Mindeststandards für alle an Bord tätigen Arbeitnehmer festzuschreiben, konterkarieren, wenn die Mitgliedstaaten freie Hand darin hätten, Arbeitnehmergruppen aus dem Anwendungsbereich des seearbeitsrechtlichen Schutzes herauszunehmen. Daher hat die Internationale Arbeitskonferenz gleichzeitig mit der Verabschiedung der MLC eine Resolution verabschiedet, die bestimmt, wann ein „Zweifelsfall“ i. S. d. Art. II Abs. 1 lit. f) vorliegen kann.25 Dies soll dann der Fall sein, wenn die Tätigkeit des Arbeitnehmers ihrer Art nach nicht Teil des gewöhnlichen Schiffsbetriebs ist, beispielsweise bei Wissenschaftlern, Forschern, Offshore-Technikern, Lotsen, Ladungsinspektoren und Hafenkommissaren oder wenn die Bordtätigkeit des Arbeitnehmers nur gelegentlich und zeitlich begrenzt erfolgt, beispielsweise bei Unterhaltungskünstlern, Reparaturpersonal, Gutachtern oder Hafenarbeitern.26 Kriterien für die mögliche Herausnahme von Personengruppen sind: Dauer des Aufenthalts an Bord, Häufigkeit der Einsätze an Bord, Ort der üblichen Arbeitsstelle, Zweck des Bordaufenthalts sowie der Schutz, den der betreffende Arbeitnehmer ohne die Geltung der MLC-Vorschriften hat.27 Anders als in anderen internationalen Übereinkommen, so etwa in SOLAS oder MARPOL, ist der Anwendungsbereich der MLC nicht von vornherein auf Schiffe ab einer gewissen Größe beschränkt. Die Mitgliedstaaten erhalten aber die Möglichkeit, in Bezug auf Schiffe mit einer Bruttoraumzahl von weniger als 200, die nicht zu internationalen Reisen28 verwendet werden, die Anwendung bestimmter Einzel22

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 196 m. w. N. Ebd., S. 186, die als Beispiel die Phillippinen nennen. 24 ILC, Governing Body: Matters arising from the 94th (Maritime) Session (2006) of the International Labour Conference: Resolution concerning information on occupational groups, GB.295/4, S. 8, abrufbar unter: http://www.ilo.org/public/english/standards/relm/gb/docs/gb295/pdf/gb-4.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 9. 27 Ebd., S. 10. 28 Nach der insoweit maßgeblichen Definition der Regel 5.1.3 Abs. 1 S. 2 meint „Internationale Reise“ eine Fahrt von einem Land zu einem Hafen außerhalb dieses Landes. 23

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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heiten auszusetzen. Voraussetzung ist, dass die zuständige Stelle des Mitgliedstaats in Beratung mit den Reeder- und Seeleuteverbänden entscheidet, dass die Anwendung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht angemessen oder möglich ist und der einschlägige Regelungsgegenstand durch innerstaatliche Rechtsvorschriften, Gesamtarbeitsverträge oder sonstige Maßnahmen abweichend geregelt ist, Art. II Abs. 6. Die Regelungsinhalte von Art. II Abs. 5 und Abs. 6 sind trennscharf zu unterscheiden. Abs. 5 („Im Zweifelsfall hat die zuständige Stelle jedes Mitglieds nach Anhörung der in Betracht kommenden Verbände der Reeder und der Seeleute zu entscheiden, ob dieses Übereinkommen für ein Schiff oder eine bestimmte Gruppe von Schiffen gilt.“) stellt den Mitgliedstaaten im Zweifelsfall die Entscheidung anheim, ob ein Fahrzeug unter die Schiffsdefinition der MLC fällt. Keinesfalls hingegen ermöglicht es Abs. 5 den Mitgliedstaaten, die Anwendung der MLC für Schiffe, die unstreitig unter die Schiffsdefinition fallen, auszuschließen. Ein solcher Ausschluss ist allein nach Abs. 6 unter den dort genannten, soeben beschriebenen, Voraussetzungen zulässig.29 Das beschriebene Verständnis des Abs. 5 ergibt sich zwar nicht ohne Weiteres aus dem Wortlaut,30 der auch ein Verständnis in dem zweitgenannten Sinne (Entscheidungsmöglichkeit der Mitgliedstaaten nicht nur über die Schiffsdefinition, sondern allgemein über den Anwendungsbereich der MLC) ermöglicht.31 Die Systematik des Art. II und die Entstehungsmaterialien zur MLC sind jedoch eindeutig. Die in Art. II Abs. 6 aufgestellten Voraussetzungen für die Herausnahme eines Schiffes oder einer Schiffskategorie vor der Geltung der MLC wären überflüssig, wenn Mitgliedstaaten eine Herausnahme schon unter den vereinfachten Anforderungen des Abs. 5 vornehmen könnten. Dies unterstreichen auch die Entstehungsdokumente zur MLC. Die Einschränkung des Art. II Abs. 4 („Sofern nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt wird, gilt dieses Übereinkommen für alle Schiffe […]“) ist darauf bezogen, dass Mitgliedstaaten einzelne, sonst verbindliche, Vorschriften der MLC (etwa: Norm A3.1 Abs. 21 zu Unterkünften auf kleineren Schiffen) für bestimmte, genau bezeichnete, Schiffstypen für unanwendbar erklären können sollten, nicht aber das gesamte Übereinkommen.32 Das Übereinkommen stellt mithin strenge Anforderungen an eine Herausnahme eines Schiffes aus seinem 29 So auch McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 202 f., die den ungenauen Wortlaut der Vorschriften kritisieren und das genannte Verständnis des Art. II Abs. 5 überzeugend mit einem systematischen Vergleich zu anderen Konventionen begründen: Die von Art. II Abs. 5 gewählte Formulierung ist aus anderen Konventionen übernommen, wo sie sich unstreitig auf die Frage der Definitionshoheit über den Schiffsbegriff bezieht. 30 Im Übrigen auch nicht aus der englischen Sprachfassung. Diese lautet: „In the event of doubt as to whether this Convention applies to a ship or particular category of ships, the question shall be determined by the competent authority in each Member after consultation with the shipowners’ and seafarers’ organizations concerned.“ 31 Ebenso, indes mit demselben Ergebnis wie hier, McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 202. 32 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Part I Abs. 12.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Geltungsbereich, was in der Praxis, gerade in Bezug auf große, gewerblich genutzte Yachten, für einigen Unmut gesorgt hat.33

II. Seearbeitsgesetz 1. Einleitung Nach § 1 Abs. 1 S. 1 des Seearbeitsgesetzes34 regelt das Gesetz die Arbeits- und Lebensbedingungen von Seeleuten an Bord von Kauffahrteischiffen. Damit sind die zentralen Fragestellungen zum Anknüpfungsbereich vorgezeichnet. Welche Personen sieht das Gesetz als „Seeleute“ an? Was ist ein Kauffahrteischiff? Wann führt es die Bundesflagge? Alle drei Fragen in einer angemessenen wissenschaftlichen Tiefe zu beantworten und die umfassende in der Rechtsprechung entwickelte Kasuistik35 darzustellen, würde bereits den Rahmen dieser Arbeit sprengen und doch hätte man damit die in der Praxis bedeutsamste Frage noch gar nicht beantwortet. Denn diese lautet: Wann kann trotz grundsätzlicher Anwendbarkeit des Seearbeitsgesetzes eine abweichende Rechtswahl getroffen werden? 2. Kauffahrteischiff, das die Bundesflagge führt Eine Definition des „Schiffs“ enthält weder das Seearbeitsgesetz noch die MLC. In den Begriffsbestimmungen der MLC wird lediglich klargestellt, dass ein Schiff im Sinne der MLC ein Seeschiff und kein Binnenschiff ist, Art. II Abs. 1 lit. i). Ein Schiff, so befand es ein englisches Gericht im Jahr 1926, sei wie ein Elefant. Schwer zu beschreiben, aber man erkenne es mit Sicherheit, wenn man vor ihm stehe.36 Seit dem Jahr 1926 und auch seit dem Jahr 1951, in dem der BGH Schiffe im Rechtssinne definierte als „schwimmfähige, mit einem Hohlraum versehene Fahrzeuge von nicht unbedeutender Größe, deren Zweckbestimmung es mit sich bringt, auf dem Wasser bewegt zu werden“,37 hat sich die Typenvielfalt der Schiffe deutlich vergrößert.38 Dennoch wird man anhand dieser Definition die notwendigen Abgrenzungen treffen können. Von praktischer Bedeutung sind vor allem die in der Offshore-Industrie eingesetzten Fahrzeuge. So ist es bei einer auf See eingesetzten Hubinsel oder einem Errichterschiff zwar nicht die vorrangige, aber dennoch eine notwendige Zweck33 http://www.superyachtnews.com/business/20625/superyachts-under-500gt-to-complywith-mlc.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. 34 Paragraphen ohne nähere Bezeichnung sind im Folgenden stets solche des Seearbeitsgesetzes. 35 Siehe allein zum Begriff des Kauffahrteischiffs die ausführlichen Nachweise bei Lindemann, Einf. Rn. 31. 36 Zitiert nach Rainey, Lloyd Maritime and Commercial Law Quarterly 2013, 50 ff. 37 BGH, Urt. v. 14.12.1951 – I ZR 84/51, NJW 1952, 1135. 38 Siehe mit umfassenden Nachweisen aus der Rechtsprechung Lindemann, Einf. Rn. 31.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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bestimmung, sie bzw. es auf dem Wasser zu bewegen, damit sie an ihrem Einsatzort durch das Herunterfahren von Standfüßen vorübergehend mit dem Meeresgrund verbunden werden können.39 Nach dem gesetzgeberischen Willen soll es sich bei beiden Fahrzeugen um Schiffe i. S. d. Seearbeitsgesetzes handeln.40 Keine Schiffe hingegen sind stationäre Einrichtungen wie Plattformen, die dauerhaft mit dem Meeresboden verankert sind und daher, selbst wenn sie zur Einsatzstelle gebracht werden, keine Zweckbestimmung besitzen, auf dem Wasser bewegt zu werden.41 Auf diesen gelten die Sondervorschriften des Offshore-Arbeitsverhältnisses.42 Ein Schiff ist dann ein Kauffahrteischiff, wenn es zum Erwerb durch Seefahrt bestimmt ist. Ein Erwerb durch Seefahrt liegt vor, sobald das Schiff gewerbsmäßig eingesetzt wird.43 Neben der Beförderung von Personen und Gütern über See sind unter anderem erfasst: Fischerei, Bergungs- und Schleppdienste, Verkehrssicherungs-, Bagger- und Krandienste und – für den wachsenden Industriezweig der Offshore-Windenergie von großer Bedeutung – Errichtungsarbeiten auf See. Ferner erfasst sind Forschungstätigkeiten, Piratenabwehrbegleitdienste und Seebestattungen.44 Solange es für gewerbliche Zwecke eingesetzt wird, spielt es keine Rolle, ob das Schiff im Eigentum eines privaten oder eines hoheitlichen Trägers steht.45 Das Recht bzw. die Pflicht zur Führung der Bundesflagge ergibt sich aus dem Flaggenrechtsgesetz46, das ergänzt wird durch die Flaggenrechtsverordnung47. Die Eintragung des Schiffes in das Internationale Seeschifffahrtsregister nach § 12 FlaggenRG ändert nichts daran, dass das Schiff flaggenrechtlich die Bundesflagge führt. Für die Zeit, in der das Schiff nach § 7 FlaggenRG ausgeflaggt ist, führt es nicht die Bundesflagge. Nicht anwendbar ist das Seearbeitsgesetz nach § 1 Abs. 1 S. 2 auf gewerblich genutzte Sportboote unter 24 Metern Länge, wenn auf diesen nicht mehr als zwei Personen beschäftigt sind. Nach der amtlichen Begründung zum Seearbeitsgesetz stützt sich der Gesetzgeber bei der Herausnahme auf Art. II Abs. 5 und damit darauf, dass es sich bei den genannten Sportbooten bereits nicht um ein „Schiff“ nach der

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Siehe ausführlich zur Funktionsweise von Hubinseln Sorgatz, Schiff & Hafen 03/2012, S. 66 ff. 40 BT-Ausschussdrucks. 17(11)1004, S. 17; siehe auch BNPM/Peetz, § 1 Rn. 4. 41 BNPM/Noltin, § 1 Rn. 4. 42 Siehe zum Arbeitszeitrecht in der Offshore-Industrie unten unter § 4 E. III. 2. 43 BNPM/Noltin, § 1 Rn. 5. 44 Liste nach ebd., § 1 Rn. 7. 45 Ebd. 46 Gesetz über das Flaggenrecht der Seeschiffe und die Flaggenführung der Binnenschiffe vom 26. Oktober 1994 (BGBl. I, S. 3140), zuletzt geändert am 18. Juli 2016 (BGBl. I, S. 1666). 47 Flaggenrechtsverordnung vom 4. Juli 1990 (BGBl. I, S. 1389), zuletzt geändert am 29. März 2017 (BGBl. I, S. 626).

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Definition der MLC handelt.48 Eine Herausnahme nach Art. II Abs. 6 wäre von vornherein nicht mit den Vorgaben der MLC in Einklang zu bringen gewesen, da die Herausnahme nach § 1 Abs. 1 S. 2 nicht auf Schiffe in nationaler Fahrt beschränkt ist. Doch auch eine Herausnahme nach Art. II Abs. 5 ist nicht unbedenklich. Denn die MLC verzichtet im Gegensatz zur Konvention Nr. 14749 auf die Herausnahme von bestimmten gewerblich genutzten Vergnügungsschiffen wie etwa Segelyachten aus ihrem Anwendungsbereich. Trotzdem ist die Herausnahme angemessen. Die einzigen Seeleute auf einem solchen Sportboot sind die durch Anlage 4 der SeeSportbootverordnung50 vorgeschriebenen qualifizierten Schiffsführer.51 Solche Schiffsführer verdienen in aller Regel ihren Lebensunterhalt nicht auf den Schiffen, sondern werden nur für eine Reise angestellt.52 Dies rechtfertigt es, nach den oben beschriebenen Kriterien der ILO zu Art. II Abs. 5,53 die Sportboote von vornherein aus dem Anwendungsbereich der MLC herauszunehmen. Wie schon unter Geltung des Seemannsgesetzes sind Beschäftigte an Bord von Binnenschiffen vom Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen, § 1 Abs. 2. Die Abgrenzung erfolgt nach der Verordnung über die Schiffssicherheit in der Binnenschifffahrt.54 Auf die bauliche Eigenschaft des Schiffes kommt es nicht an. Entscheidend ist, ob das Schiff tatsächlich die Binnengewässer verlässt.55 Aufgrund der im Vergleich zu § 484 Abs. 1 HGB a. F. engeren Bestimmung des § 1 FlaggenRG, nach der das Schiff zum Erwerb durch Seefahrt bestimmt sein muss, unterwirft ein lediglich einmaliges oder unerhebliches Überschreiten der Grenzen der Binnenschifffahrtsuntersuchungsordnung ein Binnenschiff nicht dauerhaft den Bestimmungen des Seearbeitsgesetzes.56

48 BT-Drucks. 17/10959, S. 61; siehe zur Abgrenzung zwischen Art. II Abs. 5 und Abs. 6 MLC oben unter § 4 A. I. 49 Art. 1 Abs. 4 der Konvention Nr. 147. 50 Verordnung über die Inbetriebnahme von Sportbooten und Wassermotorrädern sowie deren Vermietung und gewerbsmäßige Nutzung im Küstenbereich vom 29. August 2002 (BGBl. I, S. 3457), zuletzt geändert am 3. Mai 2017 (BGBl. I, S. 1016). 51 BT-Drucks. 17/10959, S. 60. 52 BT-Drucks. 17/10959, S. 60 f. 53 Siehe hierzu oben unter § 4 A. I. 54 Binnenschiffsuntersuchungsordnung vom 6. Dezember 2008 (BGBl. I, S. 2450), zuletzt geändert am 2. März 2017 (BGBl. I, S. 330). Zur Abgrenzung zwischen See- und Binnenschifffahrt, siehe ausführlich Bubenzer/Peetz/Mallach/Bubenzer, § 1 Rn. 5. 55 BT-Drucks. 17/10959, S. 61; BNPM/Noltin, § 1 Rn. 13; Lindemann, § 1 Rn. 22. 56 BNPM/Noltin, ebd.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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3. Besatzungsmitglied a) Überblick Als durchaus weitsichtig empfand sich der deutsche Gesetzgeber im Jahre 1956 bei Schaffung des Seemannsgesetzes, als er nicht nur Seeleute im Schiffsdienst, sondern auch „sonstige im Rahmen des Schiffsbetriebs an Bord tätige Personen“ in den Anwendungsbereich des Gesetzes aufnahm. Unter diese Personengruppe sollten „Angestellte […] in Buchhandlungen und Blumenläden“ auf Fahrgastschiffen fallen.57 Solche Personen würden zwar zurzeit noch nicht auf Schiffen unter Bundesflagge beschäftigt, mit ihrer Beschäftigung sei allerdings zu rechnen, weshalb man die Bestimmung vorsorglich eingefügt habe.58 Damit sollte der Gesetzgeber Recht behalten. Heutzutage zählen einige Kreuzfahrtschiffe über 1.000 Angestellte in den Bereichen Fahrgastbetreuung und -unterhaltung, Dienstleistung und Verkauf.59 Insbesondere mit Blick auf Arbeitnehmer auf diesen Schiffen entschieden sich die Mütter und Väter der MLC, den Begriff der Seeleute denkbar weit zu fassen.60 Im Einklang mit der MLC sind daher nach § 3 Abs. 1 „Seeleute“ i. S. d. Seearbeitsgesetzes „alle Personen, die an Bord des Schiffes tätig sind, unabhängig davon, ob sie vom Reeder oder einer anderen Person beschäftigt oder als Selbstständige tätig sind, einschließlich der zu ihrer Berufsausbildung beschäftigten (Besatzungsmitglieder).“

Das Gesetz verwendet die Begriffe „Seeleute“ und „Besatzungsmitglieder“ synonym61 und unterscheidet sich somit grundlegend von der Systematik des Seemannsgesetztes. Dieses hatte zwischen Kapitän, Besatzungsmitgliedern und sonstigen im Rahmen des Schiffsbetriebs tätigen Besatzungsmitgliedern unterschieden.62 Hiervon abweichend geht das Seearbeitsgesetz nunmehr von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis aus: Besatzungsmitglied ist jeder, dessen Arbeitsplatz das Schiff ist, es sei denn, dass das Gesetz ausdrücklich etwas anderes bestimmt. Zu den Besatzungsmitgliedern i. S. d. § 3 gehören damit, unabhängig davon, ob sie beim Reeder oder bei einer anderen Person oder Organisation beschäftigt sind: - die Arbeitnehmer im Schiffsdienst, namentlich Kapitän, Schiffsoffiziere (engl.: Officers: Ingenieure; technische und nautische Offiziere; Schiffselektrotechniker; Elektriker) und Mannschaftsgrade (engl.: Ratings: Decksleute, hierunter: Bootsund Zimmermann, Matrose, Decksmann, Deckshelfer; Maschinenleute, hierunter: Schiffsmechaniker, Decksschlosser, Lagerhalter, Pumpenmann, Maschinen57 58 59 60 61 62

Amtl. Begründung zu § 7 SeemG, BT-Drucks. 2/2962, S. 43. Ebd. McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 181. Ebd. BT-Drucks. 17/10959, S. 61. §§ 2 – 7 SeemG, siehe hierzu bereits oben unter § 2 I. II. 1.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

wart, Maschinenmann; Verpflegungs- und Bedienungspersonal, hierunter: Koch, Kochsmaat, Kochshelfer, Steward);63 - die Arbeitnehmer, deren Tätigkeit nicht seemännischer Art ist, also nicht umittelbar mit den Schiffsbetrieb zusammenhängt, deren regelmäßiger Arbeitsplatz dennoch das Schiff ist.64 Hierzu gehört das Servicepersonal sowie Angestellte von Dienstleistungs- und Verkaufsgeschäften an Bord. Diese Arbeitnehmergruppe entspricht der Gruppe der „sonstigen im Rahmen des Schiffsbetriebs tätigen Personen“ nach § 7 SeemG. Ferner zählen hierzu solche Arbeitnehmer, die wegen der zeitlichen Begrenzung ihrer Tätigkeit nach § 3 Abs. 3 grundsätzlich nicht zu Besatzungsmitgliedern zählen, die jedoch die vorgesehenen zeitlichen Begrenzungen überschreiten, ohne dass eine Genehmigung der BG Verkehr hierzu vorliegt;65 - zur Berufsausbildung an Bord Beschäftigte, § 3 Abs. 2; - Selbstständige, die an Bord tätig sind, wobei § 148 im Einzelnen bestimmt, welche Vorschriften des Seearbeitsgesetzes für sie Anwendung finden. Die Eigenschaft als Besatzungsmitglied endet dann, wenn der Arbeitnehmer nicht mehr an Bord eines Schiffes eingesetzt wird, sondern beispielsweise in den Landbetrieb des Reeders wechselt.66 Unschädlich ist es hingegen, wenn das Besatzungsmitglied lediglich für eine kurze Zeit im Landbetrieb des Reeders aushilft, solange diese Arbeiten für die Tätigkeit des Arbeitnehmers nicht prägend sind.67 Ferner berührt ein Einsatz an Land seine Eigenschaft als Besatzungsmitglied nicht, wenn ihn das Seearbeitsgesetz ausdrücklich vorsieht (etwa: Fortbildung oder Verlade-, Lasch- und Ladungssicherungsarbeiten an Land, wobei letztgenannte Arbeiten in der Praxis kaum noch von Besatzungsmitgliedern übernommen werden).68 Mangels einer Tätigkeit an Bord keine Besatzungsmitglieder sind Fahrgäste, zu denen auch mitreisende Partner von Besatzungsmitgliedern zählen.69 Haben Fahrgäste angestelltes Personal dabei, so wird dieses nicht i. S. d. § 3 an Bord tätig, sondern befindet sich lediglich bei Gelegenheit einer anderweitigen Tätigkeit an Bord und ist nicht in den laufenden Bordbetrieb eingebunden.70 Dasselbe gilt für 63

Die Berufsbezeichnungen sind dem Heuertarifvertrag für die deutsche Seeschifffahrt (HTV-See) entnommen. Eine aktuelle Fassung des HTV-See ist abrufbar unter: https://www.deutsche-flagge.de/de/redaktion/dokumente/dokumente-sonstige/htv-see-2018gueltig-ab-1-september-2018.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 64 Definition nach BNPM/Noltin, § 3 Rn. 6. Zu den Einschränkungen nach § 3 Abs. 3, siehe sogleich unter § 4 A. II. 3. b). 65 Lindemann, § 3 Rn. 17. 66 BNPM/Noltin, § 3 Rn. 9; Lindemann, § 3 Rn. 8. 67 So auch BNPM/Noltin, ebd. 68 Ebd. 69 Ebd., § 3 Rn. 7. 70 Dies hebt auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 120, hervor, die insofern darauf abstellt, dass der Tätigkeitsschwerpunkt außerhalb des Schiffsbetriebs liegt.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

133

Arbeitnehmer, die sich nur in einem Hafen und für kurze Zeit an Bord eines Schiffes aufhalten, etwa Hafenarbeiter, Hafenablöser oder Mitarbeiter von Seemannsmissionen und Gewerkschaften.71 „An Bord des Schiffes tätig“ ist dahingehend auszulegen, dass der Arbeitnehmer zumindest auch während der Fahrtzeiten und nicht ausschließlich während der Hafenliegezeiten des Schiffes an Bord tätig ist. Aus Angleichungsgesichtungspunkten ist es dem Gesetzgeber verwehrt, Arbeitnehmer in den Anwendungsbereich des Seearbeitsgesetzes aufzunehmen, deren Arbeitsbedingungen sich nicht von denen eines Landarbeitnehmers unterscheiden. Auch der Gesetzgeber geht von einem solchen Verständnis aus, da er bei Schaffung der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 – 4 davon ausging, bestimmte Arbeiten würden aus Wirtschaftlichkeitsgründen während der Fahrt erfolgen. Für solche Arbeiten hat er die genannten Ausnahmevorschriften geschaffen, für Arbeiten, die ausschließlich im Hafen stattfinden, hingegen nicht.72 b) Keine Besatzungsmitglieder § 3 Abs. 3 korrigiert den weit gefassten Begriff des Besatzungsmitglieds nach § 3 Abs. 1. Die in Abs. 3 genannten Personen arbeiten zwar auch an Bord eines Schiffes, allerdings ist es aufgrund der Art und/oder Dauer ihrer Tätigkeit an Bord nicht sachgerecht, sie als Besatzungsmitglieder zu qualifizieren. Es ist aber geboten, auch für diese Nicht-Besatzungsmitglieder vereinzelte Schutznormen des Seearbeitsgesetzes für anwendbar zu erklären, vgl. § 3 Abs. 4. Die ausgenommenen Personengruppen lassen sich in drei Kategorien aufteilen: Lotsen- und Kontrollpersonal, (Fach-)Schüler im Praktikum und, praktisch am bedeutsamsten, Arbeitnehmergruppen außerhalb des gewöhnlichen Schiffsbetriebs. Die Aufzählung des § 3 Abs. 3 ist abschließend.73 Für die genannten Arbeitnehmer gilt das Seearbeitsgesetz nur, soweit § 3 Abs. 4 dies ausdrücklich anordnet. Folgerichtig zur strengen Trennung zwischen privatrechtlicher Dienstleistungs- und öffentlich-rechtlicher Folgeleistungspflicht74 gelten für die Nicht-Besatzungsmitglieder i. S. d. § 3 Abs. 3 nur die Vorschriften zur Folgeleistungspflicht nach §§ 120 ff., da das Bedürfnis für die Einhaltung der Ordnung an Bord bereits an die bloße Anwesenheit an Bord geknüpft ist. c) Insbesondere: Nicht zum Schiffsbetrieb gehörende Personen Die in der Praxis wichtigste Personengruppe ist diejenige, die die Gesetzesbegründung als „nicht zum gewöhnlichen Schiffsbetrieb gehörende“ Personen be-

71 72 73 74

BNPM/Noltin, § 3 Rn. 7. Siehe hierzu ausführlich Müller, Das Heuerverhältnis, S. 112 ff. Vgl. BT-Ausschussdrucks. 17(11)1009, S. 4, 9 ff. BT-Drucks. 17/10959, S. 61. Siehe hierzu unten unter § 4 D. III.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

zeichnet.75 Ihre Herausnahme aus dem Anwendungsbereich des Seearbeitsgesetzes ist dadurch gerechtfertigt, dass sie überwiegend an Land tätig und nicht in den regulären Bordbetrieb eingegliedert sind.76 aa) Zeitlich begrenzter Aufenthalt Nach § 3 Abs. 3 Nr. 2, 3 gehört hierzu Reparatur- und Wartungspersonal, welches in der Regel nicht länger als 96 Stunden an Bord tätig ist. Zum Reparaturpersonal gehören nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2. Personen, die im Auftrag einer Werft oder eines Anlagenherstellers zur Ausführung von Gewährleistungsarbeiten oder Garantiearbeiten oder anderen an Bord notwendigen Arbeiten oder zur Einweisung der Besatzung an Bord tätig sind. Der persönliche Anwendungsbereich des § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 ist weiter. Das hier genannte Reparatur- und Wartungspersonal muss nicht im Auftrag einer Werft oder eines Anlagenherstellers an Bord sein, sondern es wird in der Regel vom Reeder beauftragt.77 Es muss sich, anders als unter Nr. 2, um unaufschiebbare Arbeiten handeln, die nicht durch die Besatzungsmitglieder ausgeführt werden können oder dürfen. Der Gesetzgeber versucht, durch die Herausnahme des vorübergehend an Bord tätigen Reparatur- und Wartungspersonals, das Spannungsfeld zwischen einerseits dem umfassenden Schutz von Arbeitnehmern auf See und andererseits einer pragmatischen Handhabung von Wartungs- und Reparaturarbeiten im laufenden Schiffsbetrieb aufzulösen. Würde man die anfallenden Arbeiten ausschließlich im Hafen erledigen, wäre durch die langen Hafenliegezeiten ein wirtschaftlicher Schiffsbetrieb wesentlich erschwert.78 Keine Besatzungsmitglieder sind Reederei- und Ladungsinspektoren, die auf Grundlage der Reiseplanung nicht länger als 72 Stunden an Bord tätig sind, § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 4. Zu Reederei- und Ladungsinspektoren zählen maritime Sachverständige, Havariekommissare und Schiffsagenten.79 Ziel der Vorschrift ist es, Landarbeitnehmern bzw. Dienstleistern von Reedereien auch während der Schiffsreise den Zugang zum Schiff zu verschaffen.80 Ferner sind Künstler, die zur Unterhaltung der Fahrgäste nicht länger als 72 Stunden an Bord tätig sind, keine Besatzungsmitglieder, § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 5. Ihre Herausnahme trägt der hohen Abwechslungsdichte des Unterhaltungsprogramms auf Fahrgastschiffen, insbesondere Kreuzfahrtschiffen, Rechnung und ermöglicht es den Reedereien oder deren Vertragspartnern, Unterhaltungskünstler, etwa Artisten, Musiker, Entertainer oder Schauspieler, für einen begrenzten Zeitraum einzustellen, ohne sie unter den besonderen Schutz des Seearbeitsgesetzes zu stellen. Anders als 75 76 77 78 79 80

BT-Drucks. 17/10959, S. 62. Lindemann, § 3 Rn. 17. BNPM/Noltin, § 3 Rn. 18. Vgl. BT-Ausschussdrucks. 17(11)1009, S. 4, 9 ff. BNPM/Noltin, § 3 Rn. 21. Ebd.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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die Personengruppen nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, 3 kann der Aufenthalt von Unterhaltungskünstlern nicht aufgrund einer Einzelfallgenehmigung der BG Verkehr nach § 3 Abs. 3 S. 2 verlängert werden.81 Grund hierfür ist, dass Unterhaltungskünstler nicht mit einem vergleichbaren tarifvertraglichen Schutz ausgestattet sind wie die Arbeitnehmer nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, 3.82 bb) Bestimmung der Begrenzungszeiträume Die zeitlichen Begrenzungen, die § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 – 5 aufstellen, werfen drei zentrale Fragen auf, deren Beantwortung sich nicht ohne Weiteres aus dem Gesetz ergibt. Unklar bleibt, ob der 96- bzw. 72 Stunden-Zeitraum, in dem eine Personengruppe an Bord sein darf, ohne als Besatzungsmitglied zu gelten, auf die Arbeitszeit oder auf die Anwesenheitszeit bezogen ist. Fraglich ist auch, inwieweit die 96-Stunden-Zeiträume im Einzelfall überschritten werden dürfen, da sie laut Gesetz nur „in der Regel“ eingehalten werden müssen. Schließlich ist zu klären, welches Ereignis das Ende der Zeiträume auslöst. Die zeitlichen Begrenzungen stellen darauf ab, dass die jeweilige Personengruppe nicht länger als 96 (bzw. 72) Stunden an Bord tätig ist. Offen bleibt, ob hiermit – wie es bereits die Teilbarkeit der Stundenanzahl durch 24 (Stunden) nahelegt – die Anwesenheitszeit des Arbeitnehmers an Bord oder vielmehr die tatsächlich geleistete Arbeitszeit gemeint ist, womit die Ruhezeiten in Abzug zu bringen wären. Der Wortlaut, mit dem Noltin83 sich – ohne weitere Auslegungsbemühungen – für die zweitgenannte Variante entscheidet, ist nicht eindeutig. Versteht man den Begriff „tätig sein“ funktionsbezogen, so ist jemand „an Bord tätig“, dessen Bordanwesenheit sich damit erklärt, dass er dort arbeitet und nicht etwa Passagier ist. Der Arbeitnehmer des Anlagenherstellers, § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, ist im 96-StundenZeitraum – unabhängig davon, ob er sich in einer Arbeits- oder Ruhephase befindet – „an Bord tätig“, der Passagier oder die mitgereiste Ehefrau gerade nicht. Andererseits ließe sich das „Tätigsein“ mit Noltin84 arbeitstechnisch verstehen. Besagter Arbeitnehmer ist zwischen 9 und 18 Uhr an Bord „tätig“, in der verbleibenden Zeit lediglich an Bord „anwesend“. Ein Blick auf andere Vorschriften zeigt, dass das Seearbeitsgesetz das „Tätigsein“ im erstgenannten Sinne und damit funktionsbezogen versteht. Seeleute i. S. d. § 3 sind Personen, die an Bord des Schiffes „tätig sind“. Sie werden nicht dadurch zu Nicht-Besatzungsmitgliedern, dass sie sich in einer Ruhephase befinden. Die teleologische Auslegung bestätigt diesen Befund. Würde man die 96- bzw. 72-Stunden Zeiträume nur durch die „reinen“ Arbeitszeiten „füllen“, hätte es der Vertragsarbeitgeber in der Hand, durch Gestaltung der individuellen Arbeitszeit die Bordanwesenheit des Arbeitnehmers selbst zu bestimmen. 81 82 83 84

Siehe hierzu sogleich unter § 4 A. II. 3. c) bb). Vgl. BT-Drucks. 17/10959, S. 62. BNPM/Noltin, § 3 Rn. 19. Ebd.; Bubenzer/Peetz/Mallach/Bubenzer, § 3 Rn. 6.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

So würde ein lediglich abends auftretender Künstler auf einem Fahrgastschiff nahezu unbegrenzt ohne den besonderen seearbeitsrechtlichen Schutz an Bord bleiben dürften. Dies ist vor dem Hintergrund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des § 3 nicht hinzunehmen. Für eine funktionsbezogene Auslegung spricht außerdem, dass eine längere Anwesenheitsdauer an Bord das zwingende Bedürfnis nach einem Heimschaffungsanspruch hervorruft, der den in § 3 Abs. 3 Nr. 2 – 5 genannten Personen gemäß § 3 Abs. 4 gerade nicht zusteht. Auch die Entstehungsdokumente zum Seearbeitsgesetz sprechen dafür, dass die genannten Zeiträume als Zeiten der Bordanwesenheit zu verstehen sind. In den Sachverständigenanhörungen forderten Arbeitgeberverbände eine Änderung dahingehend, dass die in § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 – 5 genannten Zeiträume ausdrücklich nicht als Bordanwesenheitszeit, sondern als tatsächliche Arbeitszeit zu verstehen sein sollten.85 Die geforderte Änderung blieb aus. § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 – 5 ist mithin dahingehend auszulegen, dass es sich bei den genannten Zeiträumen um Bordanwesenheitszeiten handelt. Zu klären ist ferner, unter welchen Umständen Überschreitungen der RegelZeiträume nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 – 4 zulässig sind. Die Gesetzesbegründung und sonstigen Entstehungsmaterialien geben hierauf keine Antwort. Vor dem Hintergrund des durch § 3 geschaffenen Regel-Ausnahme-Verhältnisses und vor dem Hintergrund der auf Antrag möglichen Erweiterung der Bordanwesenheitszeiträume für das in § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, 3 genannte Personal86 auf bis zu drei Wochen gemäß § 3 Abs. 3 S. 2 ist hier eine enge Auslegung geboten. Richtigerweise ist auf den Planungshorizont abzustellen. Entscheidend ist, dass die betreffende Gewährleistungs- oder Garantiearbeit (Nr. 2), die Reparatur- und Wartungsarbeit (Nr. 3) oder Inspektion (Nr. 4) bei vernünftiger Planung nicht mehr als die genannte Zeit in Anspruch nimmt.87 Außerplanmäßige, vom Reeder nicht zu vertretende Ereignisse, die eine längere Tätigkeit an Bord erforderlich machen, sind für den Status der betreffenden Person als Nicht-Besatzungsmitglied unschädlich. Sofern aber eine vernünftige Planung eine Tätigkeitsdauer vermuten lässt, die über die genannten Zeiträume hinausgeht, hat der Reeder bzw. der andere Arbeitgeber88 eine Ausnahmegenehmigung nach § 3 Abs. 3 S. 2 zu stellen, wenn er verhindern will, dass die betreffenden Personen als Besatzungsmitglieder behandelt werden. Werden die genannten Zeiträume sehenden Auges überschritten, so gelten die betreffenden 85

BT-Ausschussdrucks. 17(11)1004, S. 4, 9. Nach § 3 Abs. 3 S. 2 kann die BG Verkehr auf Antrag genehmigen, dass eine zu diesen Personengruppen gehörende Person über den jeweils genannten Zeitraum hinaus bis zu drei Wochen an Bord tätig sein kann, ohne Besatzungsmitglied zu sein. Voraussetzung ist, dass die Tätigkeit auf einer bestimmten Schiffsreise erfolgt und eine über den genannten Zeitraum hinausgehende Tätigkeit an Bord für die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe erforderlich ist, die nicht von den Besatzungsmitgliedern erfüllt werden kann. 87 So wohl auch Lindemann, § 3 Rn. 17, der nur bei einer planmäßigen Überschreitung der Zeiträume die genannte Personengruppe als Besatzungsmitglieder behandeln will. 88 Zu Begriff und Problematik des „anderen Arbeitgebers“, siehe ausführlich unten unter § 4 B. II. 3. 86

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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Personen als Besatzungsmitglieder und sind mit sämtlichen Rechten aus dem Seearbeitsgesetz ausgestattet.89 Aus ähnlichen Erwägungen heraus ist die Frage zu beantworten, durch welches Ereignis der 96- bzw. 72-Stunden-Zeitraum endet. Stellte man sich auf den Standpunkt, dass die Bordtätigkeit i. S. d. § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 – 5 mit jedem Landgang endet und bei Weiterfahrt des Schiffes neu zu laufen beginnt, würde das RegelAusnahme-Verhältnis des § 3 ins Gegenteil verkehrt. Gerade bei Schiffen, die eine kurze Hafenfolge haben, würde der Arbeitnehmer hierdurch zum Quasi-Besatzungsmitglied, ohne unter dem Schutz des Seearbeitsgesetzes zu stehen. Richtigerweise muss die Reise des Arbeitnehmers nach dem 96- bzw. 72-Stunden-Zeitraum enden, indem entweder das Schiff an seinen Heimathafen zurückkehrt oder der Arbeitnehmer in einem anderen Hafen endgültig von Bord geht. cc) Keine Besatzungsmitglieder trotz unbegrenzten Bordaufenthalts Keine Besatzungsmitglieder sind Wissenschaftler, die vorübergehend an Bord tätig sind, § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 6. Wissenschaftler im Sinne der Vorschrift ist, wer eine ernsthafte und planmäßige, auf Erkenntnisgewinn gerichtete Tätigkeit ausübt, die nur an Bord eines Schiffes ausgeübt werden kann.90 Hierzu gehören neben meeresbiologischen und geologischen Tätigkeiten auch Gutachtertätigkeiten für die Errichtung von Offshore-Anlagen.91 Das Tatbestandsmerkmal „vorübergehend“ ist dahingehend zu verstehen, dass der Arbeitnehmer seinen Lebensunterhalt gewöhnlich an Land bestreitet und damit nicht Teil des üblichen Schiffsbetriebs ist.92 Mangels einer zeitlichen Begrenzung sind unter Nr. 6 auch längere, mehrmonatige Aufenthaltszeiten zulässig.93 Von wachsender Bedeutung in der Praxis sind die Sicherheitskräfte privater Bewachungsunternehmen. Diese sind nach § 3 Abs. 3 Nr. 11 unabhängig von der Länge der Bordanwesenheit keine Besatzungsmitglieder. Das Aufkommen von Piraterie,94 insbesondere im Golf von Aden vor der Küste Somalias, hat immer mehr Reeder in den letzten Jahren veranlasst, private Wachdienstunternehmen auf ihren

89

Lindemann, § 3 Rn. 17. BNPM/Noltin, § 3 Rn. 23. 91 Ebd. 92 So wohl auch Lindemann, § 3 Rn. 21, der darauf abstellt, dass die wissenschaftliche Tätigkeit nicht zum gewöhnlichen Schiffsbetrieb gehören darf. 93 BNPM/Noltin, § 3 Rn. 23. 94 Laut einer Studie von Weltbank, Vereinten Nationen und Interpol verursacht die Piraterie weltweit einen jährlichen Schaden von rund 18 Milliarden Euro. Zwischen 2005 und 2012 sind bis zu 413 Millionen Dollar Lösegeld von Piraten kassiert worden, etwa 2,7 Millionen Dollar pro Überfall, vgl. http://www.zeit.de/politik/ausland/2013-11/piraten-seefahrt-sicherheitskraefte, letzter Abruf vom 14.10.2019 90

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Schiffen zu beschäftigen.95 Üblicherweise sind vier Sicherheitskräfte pro Einsatz an Bord. Die Verfahrensabläufe und Einsatzmodalitäten im Fall eines Piratenangriffs werden in der Regel zwischen Reederei, Kapitän und dem Einsatzleiter der Sicherheitskräfte im Vorhinein festgelegt.96 Der deutsche Gesetzgeber hat im Jahr 2013 durch das Gesetz zur Einführung eines Zulassungsverfahrens für Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen97 eine rechtliche Grundlage für diese Einsätze geschaffen. Durch dieses Gesetz wurde unter anderem eine Zulassungspflicht für Bewachungsunternehmen geschaffen, die Bewachungsaufgaben auf See ausüben.98 Ferner wurden waffenrechtliche Regelungen neu gefasst,99 und die Seeschiffbewachungsverordnung100 nebst Durchführungsverordnung101 erlassen. Die Sicherheitskräfte sind nur für den Zeitraum an Bord, in dem die Gefahrengebiete (sog. high risk areas)102 durchquert werden. Daher ist es gerechtfertigt, sie vom besonderen seearbeitsrechtlichen Schutz auszunehmen.103 Ebenfalls von wachsender Bedeutung sind Personen, die sich auf einem Schiff befinden, um von dort aus besondere Tätigkeiten zur Errichtung, zur Änderung oder zum Betrieb von Bauwerken, künstlichen Inseln oder sonstigen Anlagen auf See durchzuführen. Auch solche Offshore-Arbeitnehmer104 sind nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 keine Besatzungsmitglieder. Sie arbeiten, anders als Besatzungsmitglieder, nicht auf dem Schiff sondern vom Schiff aus. Insofern ist auf den bei der Errichtung und Wartung von Offshore-Anlagen eingesetzten Schiffen zu unterscheiden zwischen Errichter- bzw. Wartungspersonal einerseits und Betreiberpersonal der Schiffe andererseits. Das Betreiberpersonal bedient das Schiff, das Errichterpersonal bedient sich des Schiffes. Zum Errichterpersonal zählen etwa Vermesser, Statiker, Architekten, Betonbauer, Schweißer und Elektriker,105 die letzten beiden Gruppen jedoch nur, wenn sie Arbeiten an der Offshore-Anlage und nicht am Schiff selbst durchführen. Ferner gehören zum Errichterpersonal Taucher, die von Bord des Schiffes aus 95

BNPM/Noltin, § 3 Rn. 29. Ebd., § 3 Rn. 30. Zur Letztentscheidungsbefugnis des Kapitäns, siehe unten unter § 4 D. III. 1. 97 BGBl. I, 362. 98 Siehe § 31 GewO. 99 Siehe § 28a WaffG. 100 Verordnung über die Zulassung von Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen vom 11. Juni 2013 (BGBl. I, S. 1562). 101 Verordnung zur Durchführung der Seeschiffbewachungsverordnung vom 21. Juni 2013 (BGBl. I S. 1623), zuletzt geändert durch Gesetz vom 29. März 2017 (BGBl. I, S. 626). 102 Als solche gelten neben dem Golf von Aden auch der Golf von Guinea und Indonesien, vgl. beispielsweise die Angaben eines Sicherheitsdientleistungsanbieters: https://www.result-group.com/site/wp-content/uploads/WorldThreatMap2019-large.png, letzter Abruf vom 14.10.2019. 103 BT-Drucks. 17/10959, S. 62. 104 Vgl. die zu § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 gleichlautende Definition des § 55 S. 1 Nr. 3. 105 Diese Beispiele nennen auch BNPM/Noltin, § 3 Rn. 25; Maul-Sartori, NZA 2013, 821, 823. 96

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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unterseeische Arbeiten verrichten.106 Enthält das Schiff besondere bedienbare Vorrichtungen für den Offshore-Betrieb, gehören die bedienenden Arbeitnehmer zum Betreiberpersonal des Schiffes. Daher sind Mechaniker, die die Hubfüße eines Hubschiffes auf dem Boden verankern, ebenso Besatzungsmitglieder wie Techniker, die an Bord eines Kabellegers Seekabel auf dem Meeresboden verlegen.107 In der Praxis umstritten ist, wie Kranführer an Bord eines Schiffes mit fest installierten Lastkränen einzuordnen sind.108 Richtigerweise ist zu unterscheiden: Ist der Arbeitnehmer – in der Praxis der häufigere Fall – Teil der regelmäßigen Besatzung eines bestimmten Schiffs und bedient dessen Kran, gehört er zum Betreiberpersonal des Schiffes und ist damit Besatzungsmitglied i. S. d. § 3 Abs. 1 SeeArbG. Wird er hingegen auf verschiedenen Schiffen an verschiedenen Kränen eingesetzt, so arbeitet er vom Schiff aus und ist somit nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 kein Besatzungsmitglied. Übt der Arbeitnehmer neben seiner Tätigkeit als Kranführer weitere seemännische Aufgaben aus, so ist er von vornherein Besatzungsmitglied.109 Befindet sich der Kran auf einer Plattform oder einer künstlichen Insel, die nicht unter den Schiffsbegriff des § 1 fällt, ist der Kranführer stets Offshore-Arbeitnehmer. d) Zusammenfassung und Bewertung Die MLC definiert den Begriff der „Seeleute“ zunächst weit und legt es in Zweifelsfällen in die Hand der Mitgliedstaaten zu entscheiden, ob die MLC für eine Arbeitnehmergruppe Anwendung finden soll. In einer die MLC ergänzenden Resolution gibt die Internationale Arbeitskonferenz den Mitgliedstaaten Kriterien an die Hand, wann sie von einem Zweifelsfall ausgehen können und von welchen Kriterien sie sich bei der Auflösung dieses Zweifelsfalls leiten lassen sollen.110 Hiernach ist ein Zweifelsfall nicht nur annehmen, wenn ein Arbeitnehmer lediglich vorübergehend an Bord ist, sondern auch dann, wenn die Tätigkeit eines Arbeitnehmers nicht zum gewöhnlichen Schiffsbetrieb zählt.111 Damit wird der ursprünglich weite persönliche Anwendungsbereich der MLC stark eingeschränkt: „Seeleute“ im Sinne der MLC sind alle Personen, die an Bord tätig sind, es sei denn, sie sind nur vorübergehend an Bord oder ihre Tätigkeit ist eine solche, die nicht zum gewöhnlichen Schiffsbetrieb zählt. In diesem Fall können die Mitgliedstaaten über die Anwendbarkeit der MLC entscheiden.

106

BNPM/Noltin, § 3 Rn. 25. Ebd. 108 Bubenzer, Schiff & Hafen 2013, 74; Maul-Sartori, NZA 2013, 821, 823. 109 So auch Bubenzer, Schiff & Hafen 2013, 74, 75; zu undifferenziert hingegen MaulSartori, ebd. 110 ILO Resolution concerning information on occupational groups, S. 4 ff., abrufbar unter: http://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/@ed_norm/@normes/documents/publication/ wcms_088130.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 111 Ebd., S. 5. 107

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Der deutsche Gesetzgeber macht von der Flexibilisierungsmöglichkeit großzügig Gebrauch. Das Seearbeitsgesetz listet zwölf Personengruppen auf, die nicht zu den Besatzungsmitgliedern zählen. Einerseits handelt es sich um Personen, die generell nicht zu den Besatzungsmitgliedern zählen, andererseits um Personen, die nur dann nicht zu Besatzungsmitgliedern zählen, wenn sie nur für eine begrenzte Zeit an Bord sind. Um das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 3 nicht umzukehren, ist es wichtig, Regel und Ausnahme trennscharf zu unterscheiden. Gerade für die zweitgenannte Gruppe an Nicht-Besatzungsmitgliedern stellt das Gesetz dem Rechtsanwender Auslegungsaufgaben: Handelt es sich bei den Begrenzungszeiträumen um Zeiten der reinen Arbeit oder um Bordanwesenheitszeiten? Welche Ereignisse lösen die Begrenzungszeiträume aus? Und inwieweit dürfen die Zeiträume, die nur „in der Regel“ einzuhalten sind, überschritten werden? Aus der unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit der verschiedenen Berufsgruppen auf See folgt, dass der Gesetzgeber den seearbeitsrechtlichen Schutz von besonderen Tatbestandsvoraussetzungen abhängig macht, insbesondere von der Länge des Bordaufenthalts. Dass er diese Tatbestandsmerkmale nicht klarer fasst und ihr Umfang erst durch weitgehende Auslegungsbemühungen sichtbar wird, ist ein klares Versäumnis. Es führt zu einer Rechtsunsicherheit in der Praxis, die durch die Zusammenfassung aller an Bord Beschäftigten unter dem Begriff „Besatzungsmitglieder“ verhindert werden sollte. Dass ein Arbeitnehmer nicht klar erkennt, ob er unter den Schutz des Seearbeitsgesetzes fällt, läuft zudem dem zentralen Anliegen der MLC zuwider, die Arbeitnehmer durch eine transparente Darstellung zum Hüter über ihre eigenen Rechte zu machen. 4. Rechtswahl, Internationales Seeschifffahrtsregister a) Bedeutung von § 1 SeeArbG und Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO In früheren Jahren war die Vorgängernorm des § 1 Seearbeitsgesetz, § 1 Seemannsgesetz, noch als internationale Kollisionsnorm betrachtet worden.112 Mit Inkrafttreten der Art. 27 ff. EGBGB hatte § 1 Seemannsgesetz nur noch eine rein materiell-rechtliche, innerstaatliche Bedeutung.113 Dies gilt nun auch für § 1 Seearbeitsgesetz.114 Im Rahmen der Rechtswahl unterscheiden sich Heuerverhältnisse nicht von anderen Arbeitsverhältnissen. Daher unterliegen Heuerverhältnisse nach Art. 8 Abs. 1 S. 1 Rom I-VO grundsätzlich dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl der Parteien darf jedoch nach Art. 8 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO nicht dazu 112

Nr. 7.

BAG, Urt. v. 30.5.1963 – 5 AZR 326/62, AP Internationales Privatrecht, Arbeitsrecht

113 BAG, Urt. v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/8, NZA 1990, 841; BAG, Urt. v. 3.5.1995 – 5 AZR 15/ 94, NZA 1995, 1191; Lindemann, § 1 Rn. 2, 24 m. w. N.; Müller, Das Heuerverhältnis, S. 98; Gräf, ZfA 2012, 556, 568. 114 Lindemann, § 1 Rn. 24; MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 83; BNPM/Noltin, § 1 Rn. 1.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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führen, dass den Besatzungsmitgliedern der Schutz entzogen wird, der ihnen durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem mangels einer Rechtswahl anzuwendenden folgenden Absätzen des Artikels nicht abgewichen werden darf. In der internationalen Seeschifffahrt sind Vertragsklauseln üblich, nach denen das „Recht des Flaggenstaats“ gilt.115 Eine solche Klausel ist weder überraschend noch unangemessen i. S. d. § 305c, § 307 BGB.116 Das Besatzungsmitglied ist über die Regelungen der Art. 8 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 – 4 Rom I-VO hinreichend geschützt.117 b) Objektives Heuervertragsstatut Der gewöhnliche Arbeitsort des Besatzungsmitglieds i. S. d. Art. 8 Abs. 2 Rom IVO ist das Schiff. Die herrschende Meinung sieht den Arbeitsort „Seeschiff“ als dem Staat zugehörig, dessen Flagge das Schiff führt.118 Dies wird damit begründet, dass das Flaggenstaatsprinzip des Art. 92 UNCLOS das Territorialprinzip ergänzt.119 Ferner wird die Betrachtung des Flaggenstaats als gewöhnlicher Arbeitsort der umfassenden Verantwortung gerecht, die internationale Übereinkommen in Bezug auf Arbeits- und Lebensbedingungen dem Flaggenstaat auferlegen, vgl. Art. 94 Abs. 3 lit. b) UNCLOS, Regel 5.1 MLC. Die teilweise vorgeschlagene Einschränkung, den gewöhnlichen Arbeitsort für Schiffe, die unter Billigflaggen fahren, abweichend zu bestimmen, überzeugt nicht.120 Zum einen handelt es sich bei den Billigflaggen um einen rein sozialpolitischen Begriff ohne rechtliche Grundlage,121 da MLC und UNCLOS nicht zwischen „gewöhnlichen“ und „billigen“ Flaggen unterscheiden. Zum anderen fehlen belastbare Kriterien, um eine solche Unterscheidung vorzunehmen. Schließlich findet sich in Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO ein geeignetes Korrektiv, durch das im Einzelfall unter Berücksichtigung der Gesamtheit der Umstände das Heuerstatut unabhängig von der Flagge zu bestimmen ist.122 115

BNPM/Noltin, Einf. Rn. 35. Ebd. 117 Ebd. 118 Zu Art. 19 Nr. 2 lit. a) EuGVVO, auch unter Hinweis auf Art. 92 UNCLOS, BAG, Urt. v. 24.9.2009 – 8 AZR 306/08, NZA-RR 2010, 604; zustimmend BNPM/Noltin, Einf. Rn. 36; Gräf, ZfA 2012, 557, 571; Magnus, IPrax 2010, 27, 31; Mankowsi, RabelsZ 53, 487, 504; Martiny, RIW 2009, 737; ablehnend Palandt/Thorn, Rom I-VO Art. 8 Rn. 12; Deinert, RdA 2009, 144, 147. 119 BNPM/Noltin, Einf. Rn. 36. 120 So aber Palandt/Thorn, Rom I-VO Art. 8 Rn. 12. 121 BNPM/Noltin, Einf. Rn. 37; Gräf, ZfA 2012, 556, 585. 122 Der EuGH hat im Fall Voogsgeerd (EuGH 15.12.2011 – C-384/10, NZA 2012, 227) zu Art. 6 EVÜ entschieden, dass die Frage des gewöhnlichen Arbeitsorts unter Berücksichtigung des Wesens der Arbeit in der Seefahrt zu bestimmen sei. Hierbei seien sämtliche Umstände zu berücksichtigen, die die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnen, insbesondere, in welchem Staat sich der Ort befindet, von dem aus der Arbeitnehmer seine Transportfahrten durchführt, Anweisungen zu diesen Fahrten erhält und seine Arbeit organisiert, sowie der Ort, an dem sich seine Arbeitsmittel befinden. Ein Hinweis auf die Bedeutung der Flagge fehlt in der Entscheidung, was in der Literatur zu Irritationen geführt hat, siehe BNPM/Noltin, Einf. Rn. 38 116

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Eine Einschränkung von dem Grundsatz, dass sich der gewöhnliche Arbeitsort des Schiffes nach der Flagge richtet, liegt vor, wenn das Schiff gewöhnlich in einem Teil des Meeres unterwegs ist, welchen das UNCLOS-Übereinkommen einem Staat zuordnet. So ist auf einem Schiff, das überwiegend im Küstenmeer (Art. 2, 3 UNCLOS), in der Anschlusszone (Art. 10 Abs. 4, 5 UNCLOS) oder in der Ausschließlichen Wirtschaftszone (Art. 55 UNCLOS)123 unterwegs ist, bei der Bestimmung des gewöhnlichen Arbeitsortes auf den betreffenden Staat abzustellen.124 Nicht sachgerecht hingegen ist es, den gewöhnlichen Arbeitsort mithilfe des Festlandsockels125 zu bestimmen, da seine Ausdehnung sehr unterschiedlich ist.126 Die geographische Zuordnung der UNCLOS überlagert damit in den genannten Fällen das Flaggenstaatsprinzip.127 Ferner ist Art. 8 Abs. 2 S. 1 2. Alt. Rom I-VO zu beachten. Der gewöhnliche Arbeitsort kann nicht nur der Staat sein, in dem der Arbeitnehmer seine Arbeit verrichtet, sondern auch der Staat, von dem aus er dies tut. Im internationalen Seearbeitsrecht kommt diese Regelanknüpfung insbesondere in Fällen in Betracht, in denen Schiffe ständig und regelmäßig an einen bestimmten Ort zurückkehren, von dem aus sie und ihre Besatzungen eingesetzt werden, etwa im zwischenstaatlichen Fährverkehr oder bei Kreuzfahrten.128 Insbesondere ist Art. 8 Abs. 2 S. 1 2. Alt. Rom I-VO einschlägig, wenn die Beschäftigten am Ausgangs- bzw. Rückkehrort weitere

sowie Gräf, ZfA 2012, 557, 576, der eine Auseinandersetzung mit dem Flaggenstaatsprinzip für „zwingend erforderlich“ hält. 123 Die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) ist nach Art. 55 – 57 UNCLOS das jenseits des Küstenmeeres gelegene und an dieses angrenzende Gebiet. Die AWZ darf sich nicht weiter als 200 Seemeilen von den Basislinien erstrecken, von denen aus die Breite des Küstenmeeres gemessen wird. 124 Staudinger/Magnus, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 147; MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 88; differenzierend zwischen Küstenmeer und Ausschließlicher Wirtschaftszone Gräf, ZfA 2012, 556, 580. 125 Der Festlandsockel eines Küstenstaats umfasst den jenseits seines Küstenmeers gelegenen Meeresboden und Meeresuntergrund der Unterwassergebiete, die sich über die gesamte natürliche Verlängerung seines Landgebiets bis zur äußeren Kante des Festlandrands erstrecken oder bis zu einer Entfernung von 200 Seemeilen von den Basislinien, von denen aus die Breite des Küstenmeers gemessen wird, wo die äußere Kante des Festlandrands in einer geringeren Entfernung verläuft, Art. 76 Abs. 1 UNCLOS. 126 So besteht zwischen den Festlandsockeln von Russland und Grönland nur eine Distanz von wenigen hundert Kilometern. In jüngerer Zeit beschäftige die Reichweite des russischen Festlandsockels die Tagespresse. Russland machte Ansprüche auf die Öl- und Gasreserven in der Arktis unter Verweis auf die Reichweite seines Festlandsockel geltend, siehe exemplarisch: http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/russland-militaerpraesenz-artkis, letzter Abruf vom 14.10.2019. 127 Staudinger/Magnus, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 147; Gräf, ZfA 2012, 556, 565, 581; offengelassen von MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 89. 128 Staudinger/Magnus, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 148.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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Arbeitspflichten wie Ladungs-, Wartungs- oder Abrechnungsarbeiten zu verrichten haben.129 Die von Deinert130 als maßgeblich vorgeschlagene Regelanknüpfung an den – nach der eindeutigen Systematik des Art. 8 Rom I-VO subsidiären131 – Arbeitsort der Niederlassung nach Art. 8 Abs. 3 Rom I-VO begegnet neben systematischen auch praktischen Bedenken, da diese Anknüpfung aufgrund der Besonderheiten der internationalen Seeschifffahrt nicht zu sachgerechten Ergebnissen führt. In der Praxis kommt es häufig vor, dass eine Niederlassung lediglich die Einstellung des Besatzungsmitglieds vornimmt, ohne dass der Ort der Niederlassung sonstige Bezüge zum Arbeitsverhältnis aufweist.132 c) Inhalt und Bedeutung von § 21 Abs. 4 Flaggenrechtsgesetz aa) Wortlaut der Vorschrift Die Einrichtung eines internationalen Schiffsregisters unter deutscher Flagge war sozialpolitisch hoch umstritten.133 Die rechtliche Diskussion entflammte vor allem an § 21 Abs. 4 Flaggenrechtsgesetz. Dieser sichert die Schaffung des deutschen Zweitregisters arbeitsrechtlich ab134 und lautet: „Arbeitsverhältnisse von Besatzungsmitgliedern eines im Internationalen Seeschiffahrtsregister eingetragenen Kauffahrteischiffes, die im Inland keinen Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt haben, unterliegen bei der Anwendung des Artikels 8 [der Rom I-Verordnung] vorbehaltlich anderer Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft nicht schon auf Grund der Tatsache, daß das Schiff die Bundesflagge führt, dem deutschen Recht. Werden für die in Satz 1 genannten Arbeitsverhältnisse von ausländischen Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen, so haben diese nur dann die im Tarifvertragsgesetz genannten Wirkungen, wenn für sie die Anwendung des im Geltungsbereich des Grundgesetzes geltenden Tarifrechts sowie die Zuständigkeit der deutschen Gerichte vereinbart worden ist […].“ 129

Ebd., der richtigerweise die Parallele zum Flugpersonal zieht, welches der europäische Gesetzgeber bei der Klarstellung der Formulierung von Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO im Blick hatte, siehe die Begründung zum Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 15.12.2005, KOM (2005) 650, abrufbar unter: http://wko.at/rp/internet/Newsletter/2007/Verlinkungen/VorschlagROM.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019; a. A. unter Hinweis auf die Subsidiarität des Art. 8 Abs. 2 S. 1 2. Alt. Gräf, ZfA 2012, 556, 589. 130 Deinert, RdA 2009, 144, 147. 131 Instruktiv Gräf, ZfA 2012, 556, 575; Auf die Subsidiarität hat auch der EuGH in der Rechtssache Voogsgeerd, EuGH, Urt. v. 15.12.2011 @ C-384/10, NZA 2012, 227 deutlich hingewiesen. 132 MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 93; im Ergebnis zustimmend Staudinger/ Magnus, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 147. 133 Lindemann, § 1 Rn. 30 m. w. N. 134 MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO Art. 8 Rn. 93.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

bb) Zentrale Aussagen des BVerfG Aufgekommenen Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift135 hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 10.1.1995136 eine Absage erteilt und die Verfassungsgemäßheit der Vorschrift bejaht. Bemerkenswert an diesem, für die deutsche Seeschifffahrt richtungsweisenden Urteil war, dass sich das Gericht ausführlich mit der Praxis der Ausflaggung den Folgen für das deutsche Seearbeitsverhältnis auseinandersetzte. Es trifft folgende zentrale Aussagen zu § 21 Abs. 4 FlaggenRG: - Die Vorschriften des § 21 Abs. S. 4 S. 1 und 2 FlaggenRG sind angesichts der besonderen Bedingungen der internationalen Handelsschifffahrt verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. § 21 Abs. 4 S. 1 schreibt eine Auslegung von Art. 30 EGBGB (nunmehr Art. 8 Rom I-VO) vor, nach der auf Zweitregisterschiffen die arbeitsrechtlichen Bestimmungen desjenigen Staats gelten, auf den die Gesamtheit aller maßgeblichen Umstände im Sinne von Art. 30 Abs. 2 2. Hs EGBGB (Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO) hindeutet. Diese Umstände – zu denen neben der Flagge etwa Nationalität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Ort des Vertragsabschlusses, Vertragssprache, Zahlungsort und -modalitäten für die Heuer gehören – ergeben beim Anheuern von Seeleuten im Ausland durchweg eine engere Verbindung zu dem ausländischen Staat. Ergänzend bestimmt § 21 Abs. 4 S. 2, dass deutsches Tarifrecht nur kraft ausdrücklicher Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien gelten soll. Damit können Reeder verhindern, dass Kollektivvereinbarungen mit ausländischen Arbeitnehmerorganisationen an deutschem Tarifrecht gemessen werden.137 - Die Regelungen des Flaggenrechtsgesetzes verletzen nicht die Koalitionsfreiheit der deutschen Gewerkschaften. Zwar wird den deutschen Gewerkschaften die Chance genommen, ausländische Seeleute als Mitglieder zu gewinnen. Diese Beeinträchtigung ist angesichts der Besonderheiten der geregelten Materie nicht zu beanstanden. Die Besonderheiten der Seeschifffahrt, in der der Arbeitsmarkt in vollem Umfang internationalisiert ist und die in einem Raum stattfindet, der von der deutschen Gesetzgebung nicht mit alleinigem Gültigkeitsanspruch beherrscht wird, führten zu einer Erweiterung der Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers. Dieser steht vor der Alternative, den deutschen Grundrechtsstandard entweder ungeschmälert zu wahren, gleichzeitig aber ein Anwendungsfeld zu verlieren, oder aber dem Grundrechtsstandard praktisch das Anwendungsfeld zu erhalten, gleichzeitig aber eine Minderung des Grundrechtsstandards in Kauf zu nehmen. Dass der Gesetzgeber den zweiten Weg gewählt und damit Positionen von Koalitionen aufgegeben hat, die sich in der internationalen Rechtswirklichkeit oh135 Geffken, NZA 1989, 88, 89 ff; Hauschka/Henssler, NZA 1988, 597 ff.; Herber, Hansa 1988, 645 ff. 136 BVerfG, Urt. v. 10.1.1995 – 1 BvR 1/90 (u. a.), NJW 1995, 2339. 137 Ebd., S. 2339.

A. Der Anwendungsbereich des Gesetzes

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nehin nicht behaupten lassen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber dadurch zugleich hinreichende Anreize für deutsche Reeder schafft, ihre Schiffe weiter unter deutscher Flagge und damit wenigstens teilweise im Rahmen deutschen Rechts zu betreiben. Diesem Ziel dient § 21 Abs. 4 FlaggenRG, da sie deutsche Reeder veranlassen soll, ihre Schiffe weiter unter deutscher Flagge zu betreiben. Dies schützt wichtige Gemeinschaftsgüter, da im Interesse des deutschen Außenhandels eine leistungsfähige Handelsflotte erhalten bleibt. Ferner wird erreicht, dass auf den betroffenen Schiffen weiterhin deutsche Sicherheitsvorschriften und Sozialversicherungsstandards gelten. Es wird zudem sichergestellt, dass besonders qualifizierte Arbeitsplätze Seeleuten vorbehalten bleiben, die nach den hohen deutschen bzw. europäischen Standards ausgebildet sind. Vor dem Hintergrund, dass deutsche Reeder ohne die erleichterte Möglichkeit, Verträge auf Grundlage fremder Rechtsordnungen abzuschließen, ihre Schiffe verstärkt ausflaggen würden, ist die herbeigeführte Veränderung der objektiven Anknüpfungsmerkmale für das Arbeits- und Tarifvertragsstatut den Gewerkschaften zuzumuten.138 - Die Berufsfreiheit der deutschen Seeleute wird nicht verletzt. Die Vorschrift verringert zwar möglicherweise die Chancen deutscher Seeleute, auf deutschen Handelsschiffen anzuheuern. Selbst wenn in dieser tatsächlichen Auswirkung eine Beschränkung der Berufswahl läge, so wäre diese jedoch mit Art. 12 Abs. I GG vereinbar, weil die Regelung in Verbindung mit der Schiffsbesetzungsverordnung139 darauf angelegt ist, deutschen Seeleuten angesichts der drohenden Ausflaggung zumindest einen gewissen Anteil an Arbeitsplätzen zu erhalten.140 - Auch sind Menschenwürde und Handlungsfreiheit der Seeleute mit ausländischem Wohnsitz nicht verletzt. Soweit Seeleute auf Schiffen, die im Internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragen sind, tatsächlich ausbeuterischen Arbeitsbedingungen unterliegen, folgt daraus noch nicht die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Regelung. Dass für Arbeitsverhältnisse auf Seeschiffen die Rechtsordnung des Staates gelten soll, zu dem das Arbeitsverhältnis nach den gesamten Umständen die engere Verbindung aufweist, erscheint sachgerecht und greift, für sich betrachtet, in Grundrechte der Seeleute mit Wohnsitz im Ausland nicht ein. Dass deren Heimatrechtsordnungen möglicherweise ausbeuterische Vertragsgestaltungen zulassen, braucht sich der deutsche Gesetzgeber bei der Schaffung von Regelungen des internationalen Privatrechts grundsätzlich nicht in Rechnung zu stellen. Der Gesetzgeber hat zwar den Abschluss von Verträgen zu „Billigheuern“ erleichtern wollen. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass er eine Ausbeutung der betroffenen Seeleute beabsichtigt oder auch nur gebilligt hat. 138

Ebd., S. 2340. Schiffsbesetzungsverordnung vom 18. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2575), zuletzt geändert durch Art. 12 des Gesetzes vom 17. Juli 2017 (BGBl. I, S. 2581). 140 BVerfG, Urt. v. 10.1.1995 – 1 BvR 1/90 (u. a.), NJW 1995, 2339, 2341. 139

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Für eine pauschale Würdigung ausländischer Rechtsordnungen in diesem Sinne gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte.141 - Ferner steht die Vorschrift auch mit Art. 3 GG in Einklang. Sie führt zwar zu einer ungleichen Behandlung von deutschen und ausländischen Seeleuten auf Schiffen, die im Internationalen Schifffahrtsregister eingetragen sind. Die Ungleichbehandlung knüpft jedoch an Unterschiede an, die unter Berücksichtigung der Besonderheiten des zu regelnden Sachverhalts die differenzierende Regelung rechtfertigen. Während Seeleute mit Wohnsitz oder ständigem Aufenthalt im Inland ihren Unterhalt und den ihrer Familien in Deutschland bestreiten müssen, geben die ausländischen Seeleute ihre Heuer überwiegend in ihren Heimatländern aus. Der allgemeine Lebensstandard und damit auch die Lebenshaltungskosten sind dort erheblich niedriger als in Deutschland. Die Heimatheuern sind dem Lohnniveau in den Herkunftsländern angepasst und entsprechen den dortigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen. Diese Unterschiede rechtfertigen bei einem Sachverhalt, der von vornherein nur einen begrenzten Bezug zu Deutschland hat und bei dem die Bedingungen des internationalen Arbeitsmarktes besonders stark durchschlagen, eine Differenzierung.142 cc) Behandlung durch das Bundesarbeitsgericht Das Bundesarbeitsgericht griff die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf und entschied, dass sich Arbeitsverhältnisse von Seeleuten aus dem Nicht-EGAusland auf im Internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragenen Seeschiffen unter deutscher Flagge mangels Rechtswahl nach dem Recht desjenigen Staates richten, zu dem sich aus der Gesamtheit der Umstände die engere Verbindung ergibt.143 Aufbauend auf der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts bestätigte das Bundesarbeitsgericht, dass § 21 Abs. 4 S. 1 für Art. 30 EGBGB (nunmehr Art. 8 Rom I-VO) eine Auslegung vorschreibt, dass das Heuervertragsstatut von Seeleuten auf Schiffen im Internationalen Seeschifffahrtsregister ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass das Schiff die Bundesflagge führt, zu ermitteln ist. Damit gelten die arbeitsrechtlichen Bestimmungen desjenigen Staates, auf den die Gesamtheit aller maßgeblichen Umstände i. S. d. Art. 30 Abs. 2 2. Hs EGBGB (nunmehr Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO) hindeutet. Diese Umstände sind: Einsatzort des Schiffes, Ort des Vertragsschlusses oder der Anwerbung, Nationalität des Besatzungsmitglieds, regel-

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Ebd., S. 2341 f. Ebd., S. 2342; insgesamt der Entscheidung zustimmend Lindemann, § 1 Rn. 32; MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 96; Höfft, NJW 1995, 2329; kritisch Geffken, NZA 1995, 504 ff.; Lagoni, JZ 1995, 499 ff.; Wimmer, NZA 1995, 250; ebenfalls eher kritisch Gräf; ZfA 2012, 556, 595 mit Verweis auf eine gebotene enge Auslegung der Ausweichklausel. 143 BAG, Urt. v. 3.5.1995 – 5 AZR 15/94, NZA 1995, 1191. 142

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mäßiger Aufenthaltsort des Besatzungsmitglieds bei Vertragsschluss, Sprache des Heuervertrags und Währung der Heuerzahlung.144 dd) Fortgeltung dieser Grundsätz auch unter der Rom I-VO Trotz anhaltender Kritik145 hat § 21 Abs. 4 FlaggenRG nach der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung auch unter Geltung der Rom I-VO146 nur materiell-rechtliche, innerstaatliche Bedeutung als „Interpretationsnorm“.147 Auch das Seearbeitsgesetz geht davon aus, dass unter deutscher Flagge eine abweichende Rechtswahl getroffen werden kann, da sein § 9 Abs. 2 ausdrücklich diesen Fall regelt. Hiernach sind die Mindestanforderungen an Arbeits- und Lebensbedingungen der MLC auch in dem Fall zu beachten, dass eine abweichende Rechtswahl getroffen worden ist. Ist das Heimatrecht der Seeleute günstiger als die Bestimmungen der MLC, bleiben die heimatrechtlichen Regelungen gemäß Art. 8 Abs. 1 Rom I-VO anwendbar.148 In jüngerer Zeit ist § 21 Abs. 4 FlaggenRG auch im Zusammenhang mit Ansprüchen ausländischer Besatzungsmitglieder nach dem Mindestlohngesetz diskutiert worden.149 Richtigerweise sind die Vorschriften des Mindestlohngesetzes vor dem Hintergrund des § 21 Abs. 4 FlaggenRG so auszulegen, dass sie ausländische Besatzungsmitglieder nicht erfassen, die sich lediglich zu kurzzeitiger Arbeit im Anwendungsbereich des Gesetzes aufhalten.150 ee) Eingriffsnormen i. S. d. Art. 9 Rom I-VO Nach Art. 9 Rom I-VO, der nach herrschender Meinung neben Art. 8 Anwendung findet,151 lassen die Kollisionsnormen des vertraglichen Schuldrechts – wie Art. 8 144 BAG, ebd; zustimmend Günther/Pfister, ArbRAktuell 2014, 451; Mankowski, RabelsZ 53, 487, 510 f.; Reder in: Hdb. EU-WirtschaftsR Kap. R. Rn. 219; siehe hierzu auch die Beispiele aus der Rechtsprechung bei Lindemann, § 1 Rn. 26; kritisch Gräf, ZfA 2012, 556, 595, der bemängelt, das BAG habe „in methodisch zu beanstandender Weise direkt auf die Ausweichklausel abgestellt und dadurch ihr(en) Ausnahmecharakter und das Gebot einer restriktiven Auslegung verkannt“. 145 BNPM/Noltin, § 1 Rn. 40 f. 146 Siehe auch das Gesetz zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung (EG) Nr. 593/2008 (BGBl. I, 1574), welches die Weitergeltung des § 21 Abs. 4 FlaggenRG anordnet. 147 Begriff nach MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 98; zustimmend Reder, in: Hdb. EU-WirtschaftsR Kap. R. Rn. 219; kritisch Gräf, ZfA 2012, 556, 604 f., der unter Hinweis auf die Normenhierarchie von Rom I-VO und FlaggenRG zu dem Ergebnis kommt, dass für Besatzungsmitglieder auf Zweitregisterschiffen uneingeschränkt die gleichen Regeln zur Bestimmung des Arbeitsvertragsstatuts gelten wie für Besatzungsmitglieder auf anderen Schiffen unter deutscher Flagge. 148 BNPM/Noltin, Einf. Rn. 41. 149 Müller, Das Heuerverhältnis, S. 238 f. m. w. N. 150 Ausführlich hierzu ebd., S. 241 m. w. N. 151 MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 131 m. w. N.; Gräf, ZfA 2012, 556, 607.

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Rom I-VO – die Anwendung derjenigen Bestimmungen des deutschen Rechts unberührt, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln (sog. Eingriffsnormen).152 Dies sind solche Bestimmungen, deren Zweck sich nicht im Ausgleich widerstreitender privater Interessen erschöpft, sondern mit denen zumindest auch öffentliche Gemeinwohlinteressen verfolgt werden.153 Zu diesen Eingriffsnormen zählen die durch die MLC verbindlich festgeschriebenen Mindestarbeits- und Lebensbedingungen.154 Ferner sind auch die zwingenden Bestimmungen des Mutterschutzgesetzes, § 3 EFZG und die in § 2 AEntG aufgeführten Normen Eingriffsnormen,155 ebenso der besondere Kündigungsschutz von Betriebsverfassungsorganen und Schwerbehinderten.156 Keine Eingriffsnormen sind dagegen die Vorschriften des Seearbeitsgesetzes zu Heueranspruch und Urlaubsvergütung sowie Verpflegungsgeld für den Urlaub, ferner nicht § 613a BGB, die Vorschriften des §§ 1 – 14 KSchG157 oder der Anspruch nach § 8 TzBfG.158 ff) Tarifverträge auf ISR-Schiffen Auf Schiffen, die unter einer Billigflagge fahren, ist es in den letzten 30 Jahren üblich geworden, dass die Internationale Transportarbeiter-Föderation (engl.: International Transport Workers’ Federation – ITF) sich um den Abschluss von Kollektivvereinbarungen mit Reederverbänden für Arbeitnehmer ohne wirkungsvolle gewerkschaftliche Vertretung bemüht.159 Die ITF ist eine weltweite Dachorganisation nationaler Gewerkschaften des Transportgewerbes. Die Gewerkschaft ver.di ist Mitglied der ITF.160 Mit Wirkung zum 1.10.1995 schlossen der Verband Deutscher Reeder und die Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr, handelnd für die ITF, einen Rahmentarifvertrag für ausländische Seeleute auf Schiffen, die im Internationalen Schiffsregister eingetragen sind (sog. ISR-Flottenvertrag, engl: GIS-Fleet 152 Siehe mit ausführlichen Hinweisen zum Vertragsstatut von Seeleuten auf ISR-Schiffen BAG, Urt. v. 3.5.1995 – 5 AZR 15/94, NZA 1995, 1191. Instruktiv zu Eingriffsnormen nach Art. 9 Rom I-VO MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 120 ff. 153 St. Rspr., statt vieler: BAG, Urt. v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, NZA 2002, 734. 154 BNPM/Noltin, Einf. Rn. 44. 155 BAG, Urt. v. 12.12.2001 – 5 AZR 225/00, NZA 2002, 734; BAG, Urt. v. 18.4.2012 – 10 AZR 200/11, NZA 2012, 1152. 156 BAG, Urt. v. 24.8.1989 – 2 AZR 3/89, NZA 1990, 841. 157 So noch unter Geltung des Seemannsgesetzes BAG, Urt. v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/82, NZA 1993, 743; BAG, Urt. v. 1.7.2010 – 2 AZR 270/09, NZA 2012, 760; zustimmend MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 132. 158 BAG, Urt. v. 13.11.2007 – 9 AZR 134/07, NZA 2008, 761. 159 Ausführlich hierzu Lindemann, § 1 Rn. 36 ff.; BNPM/Noltin, Einf. Rn. 49 ff.; 160 Vgl.: http://www.itfglobal.org/en/about-itf/itf-affiliates/?Country=8623&s=5542, letzter Abruf vom 14.10.2019.

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Agreement). Der ISR-Flottenvertrag enthält allgemeine Arbeitsbedingungen, Versicherungsleistungen bei Krankheit oder Arbeitsunfällen sowie einen Heuertarif. Der Rahmentarifvertrag wird ausgefüllt durch einen sog. ISR-Sondervertrag (engl: Special Agreement to the GIS-Fleet Agreement), der zwischen der ITF und Reeder bzw. Reederverband abgeschlossen wird.161 Das Bundesarbeitsgericht geht davon aus, dass Bestimmungen in den mit der ITF geschlossenen Verträgen keine zwingende Wirkung i. S. d. § 4 Abs. 1 TVG haben.162 Für ausländische Seeleute, die auf im Internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragenen Seeschiffen beschäftigt sind, enthält der zwischen VDR und ITF geschlossene Sondervertrag zum ISR-Flottenvertrag daher keine Regelungen, die die unmittelbare Geltung des Heuertarifvertrages und Manteltarifvertrages für die deutsche Seeschifffahrt (HTV- und MTV-See) für die betroffenen Seeleute begründen. Dies begründet das BAG damit, dass die einschlägigen Bestimmungen des Sondervertrags163 dahingehend auszulegen sind, dass sie lediglich schuldrechtliche und keine normativen Verpflichtungen der Parteien regeln.164 Die Frage, ob es sich bei der ITF um eine tariffähige Spitzenorganisation i. S. d. § 2 Abs. 3 handelt, hat das BAG ausdrücklich offengelassen.165 Die heute herrschende Meinung verneint dies.166 Damit ist es im Ergebnis in der Praxis unstrittig, dass die Vereinbarungen zwischen ITF und Reedern bzw. Reederverbänden nicht normativ, sondern lediglich schuldrechtlich wirken.

161 Ausführlich zu Geschichte und Systematik der ISR-Verträge Lindemann, § 1 Rn. 36; siehe die aktuellen ITF-Vertragsmuster unter: http://www.itfseafarers.org/itf_agreements.cfm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 162 BAG, Urt. v. 16.2.2000 – 4 AZR 14/99, AP TVG § 2 Nr. 54 mit Anm. Thüsing/Goertz. 163 Art. 1 des infrage stehenden Sondervertrags lautete: „Die Reederei verpflichtet sich […] alle Seeleute, die ein deutsches oder ein EU-Zertifikat besitzen oder sich in der Ausbildung für ein solches Zertifikat befinden sowie alle berechtigten Seeleute in Übereinstimmung mit dem Heuertarifvertrag (HTV) und dem Manteltarifvertrag (MTV) zu beschäftigen, der jeweils zwischen der Gewerkschaft ÖTV und dem Verband Deutscher Reeder VDR/VDK ausgehandelt wird und […] alle anderen Besatzungsmitglieder in Übereinstimmung mit dem gültigen ISR-Flottenvertrag […] zu beschäftigen […]“, zitiert nach: BAG, ebd. 164 BAG, Urt. v. 16.2.2000 – 4 AZR 14/99, AP TVG § 2 Nr. 54 mit Anm. Thüsing/Goertz. 165 Ebd.; BAG, Urt. v. 14.4.2004 – 4 AZR 322/03, juris. 166 So bereits unter Hinweis auf die mangels satzungsmäßiger Aufgabe fehlende Berechtigung der ITF zum Abschluss von Tarifverträgen Thüsing/Goertz in ihrer Anmerkung zu BAG, Urt. v. 16.2.2000 – 4 AZR 14/99, AP TVG § 2 Nr. 54. Thüsing/Goertz kommen ebenfalls zu einer schuldrechtlichen Wirkung der Bestimmungen des Sondervertrags, greifen jedoch die Begründung des BAG an. Das Gericht habe nicht berücksichtigt, dass es sich bei der ITF um einen internationalen Zusammenschluss handele und daher bei der Auslegung der Bestimmungen zu beachten sei, dass in einigen Ländern der Organisationsmitglieder Tarifverträge lediglich schuldrechtliche, nicht hingegen normative Wirkung hätten. Die Tariffähigkeit lehnt auch BNPM/Noltin, Einf. Rn. 49, ab; bejahend Zachert, NZA 2000, 121; offengelassen von BAG, Urt. v. 14.4.2004 – 4 AZR 322/03, juris.

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d) Zusammenfassung und Bewertung Die Bestimmung des objektiven Heuervertragsstatuts ist nach wie vor umstritten. Die herrschende Meinung geht davon aus, dass der gewöhnliche Arbeitsort i. S. d. Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO der Staat ist, dessen Flagge das Schiff führt. Ausnahmen gelten dann, wenn sich das Fahrtgebiet des Schiffes gewöhnlich in den Küstengewässern oder in der Ausschließlichen Wirtschaftszone eines anderen Staates befindet oder wenn das Schiff eine Basis hat, zu der es regelmäßig zurückkehrt.167 Der deutsche Gesetzgeber unternimmt mit § 21 Abs. 4 S. 1, 2 FlaggenRG den Versuch, eine bestimmte Lösung – die (Nicht-)Maßgeblichkeit der Flagge für die Bestimmung des objektiven Vertragsstatuts – in einem unionsrechtlich geregelten Bereich zu verhindern.168 Bundesverfassungsgericht, Bundesarbeitsgericht und die herrschende Literatur sehen in dieser Norm keinen Verstoß gegen die Rom I-VO, sondern verstehen sie als „Interpretationsnorm“.169 Sie ist daher trotz aller Bedenken für den deutschen Rechtsanwender verbindlich.170 Das Heuervertragsstatut von Seeleuten auf Schiffen im Internationalen Seeschifffahrtsregister ist damit ohne Rücksicht auf die Tatsache, dass das Schiff die Bundesflagge führt, zu ermitteln. Damit gelten die arbeitsrechtlichen Bestimmungen desjenigen Staates, auf den die Gesamtheit aller maßgeblichen Umstände i. S. d. Art. 8 Abs. 4 Rom I-VO hindeutet. Sehr deutlich zeigt das Bundesverfassungsgericht das Dilemma des Gesetzgebers auf und billigt dessen Lösung: Der Preis dafür, dass ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland mit seinem hohen Arbeitnehmerschutzniveau eine Handelsflotte unterhält, ist die Konzession, dass ausländische Arbeitskräfte weitgehend unter ausländischen Arbeitsbedingungen auf deutschen Schiffen arbeiten können. Ohne diese Möglichkeit, so betont es das Gericht, würden deutsche Reeder ihre Schiffe ausflaggen und die deutsche Flagge mit ihren hohen Schutzstandards und damit auch das deutsche Seemannshandwerk in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.

B. Reederbegriff und Reederhaftung I. MLC „Reeder“ ist nach der Begriffsbestimmung des Art. II Abs. 1 lit. j) „der Eigner des Schiffes oder jede andere Organisation oder Person, wie der Leiter, Agent oder Bareboat-Charterer, der vom Reeder die Verantwortung für den Betrieb des Schiffes übernommen hat und der sich mit der Übernahme dieser Verantwortung bereit erklärt hat, die Aufgaben und Pflichten zu erfüllen, die dem Reeder nach der MLC auferlegt werden, 167 168 169 170

MüKoBGB/Martiny, Rom I-VO, Art. 8 Rn. 87 f. Ebd., Rn. 98. Siehe hierzu bereits oben unter § 4 A. II. 4. c) dd). Ebd.

B. Reederbegriff und Reederhaftung

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ungeachtet dessen, ob andere Organisationen oder Personen bestimmte dieser Aufgaben oder Pflichten im Auftrag des Reeders erfüllen.“

Die Definition entspricht sinngemäß der Definition des (für den Schiffsbetrieb verantwortlichen) „Unternehmens“ (engl.: company) nach dem ISM-Code der SOLAS-Konvention.171 Dies führt dazu, dass die Verantwortlichkeit für Schiffssicherheit und Meeresumweltschutz und die Verantwortlichkeit für Arbeits- und Lebensbedingungen nach der MLC in der Hand derselben natürlichen oder juristischen Person liegen. Diese Harmonisierung war eines der zentralen Anliegen der MLC.172 Die inhaltliche Offenheit des Reederbegriffs („Eigner […] oder jede andere Organisation, die vom Reeder die Verantwortung für das Schiff übernommen hat“) dient dazu, die Verantwortlichkeit unabhängig von der Bezeichnung der Person oder Organisation, und damit unabhängig von organisatorischen und vertraglichen Besonderheiten, zu bestimmen.173 Die Definition enthält zwei praktisch bedeutsame Aussagen. Erstens stellt sie klar, dass auch eine andere Person oder Organisation als der Reeder Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein kann. Weiterhin stellt sie klar, dass in diesem Falle der Reeder für die Erfüllung der Pflichten und Aufgaben nach dem Seearbeitsgesetz verantwortlich bleibt. Hintergrund der Regelung einer solchen Verantwortung des Reeders ist, dass das Entstehen von Verantwortungsketten verhindert werden soll, in denen der Reeder die Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmitglieder an Subunternehmer auslagert, die wiederum die Verantwortung an eine dritte Partei übergeben.174 Sowohl die Seeleute als auch das Kontrollpersonal im Rahmen der Hafenstaatkontrolle175 sollen einen Ansprechpartner haben, in dessen Händen die

171 Vgl. Art. A 1.1.2. des ISM-Codes: „Der Ausdruck Unternehmen bezeichnet den Eigner des Schiffes oder eine beliebige sonstige Organisation oder Person (wie z. B. den Geschäftsführer oder den Bareboatcharterer), die vom Schiffseigner die Verantwortung für den Betrieb des Schiffes übernommen hat und die durch Übernahme dieser Verantwortung zugestimmt hat, alle durch den ISM Code dem Schiffseigner auferlegten Pflichten und Verantwortlichkeiten zu übernehmen.“ Der ISM-Code ist abrufbar unter: http://www.imo.org/en/OurWork/HumanElement/SafetyManagement/Pages/ISMCode.aspx, letzter Abruf vom 14.10.2019. 172 Siehe beispielsweise die Guidelines for control officers carrying out inspections under the Maritime Labour Convention, 2006, sog. PSCO-Guidelines, S. 6. Diese sind abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/WCMS_153447/lang-en/in dex.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 173 Vgl. MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, S. 38; McConnell/ Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 189. 174 ILC 94th (Maritime) Session, Geneva, 2006, Report of the Committee of the Whole, Rn. 129, abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/WCMS_153447/lang-en/in dex.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 175 Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen unabhängig von der Rechtsbeziehung zwischen Vertragsarbeitgeber und Reeder liegt.176 Über die Frage, in welcher Rechtsbeziehung der Reeder zu Seeleuten steht, die mit ihm nicht arbeitsvertraglich verbunden sind, schweigt die MLC. Die Definition des Reederbegriffs in Art. II Abs. 1 lit. j) erhellt diese Frage ebensowenig wie Art. II Abs. 1 lit. g). Sofern nach dieser Vorschrift der Beschäftigungsvertrag (engl.: seafarers’ employment agreement) sowohl einen Arbeitsvertrag (engl.: contract of employment) als auch einen Heuervertrag (engl.: articles of agreement) einschließe, ist hiermit nicht einerseits ein Vertrag mit dem Reeder, andererseits ein Vertrag mit dem Vertragsarbeitgeber gemeint. Vielmehr bringt die Definition lediglich zum Ausdruck, dass solche Vorschriften auf das Arbeitsverhältnis Anwendung finden können, die nicht ausdrücklich im Arbeitsvertrag genannt sind, insbesondere Kollektivvereinbarungen.177 Eine Antwort auf die Frage nach der Rechtsbeziehung zwischen dem Reeder und Seeleuten enthält Norm A2.1 Abs. 1 lit. a). Hiernach müssen innerstaatliche Rechtsvorschriften vorsehen, dass Seeleute über einen von den Seeleuten und dem Reeder oder einem Vertreter des Reeders unterzeichneten Beschäftigungsvertrag für Seeleute verfügen, der angemessene und MLC-konforme Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord vorsieht. Die Norm sieht damit ausdrücklich vor, dass ein jedes Tätigwerden an Bord eines Schiffes einen Vertrag mit dem Reeder voraussetzt. Da es die MLC gleichzeitig ermöglicht, dass auch eine andere Person oder Organisation als der Reeder Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein kann, muss es sich bei dem Vertrag zwischen Reeder und Besatzungsmitglied nicht zwingend um einen Arbeitsvertrag handeln.178 Vielmehr genügt es, wenn der Reeder auf dem Vertragsdokument eine Garantie abgibt, für die Einhaltung der Rechte des Besatzungsmitglieds einzustehen.179 Der Reeder muss somit nach der Vorgabe der MLC Vertragspartei der Seeleute werden, nicht aber Vertragspartei des Arbeitsvertrags. Es genügt vielmehr eine Verantwortungszuweisung an den Reeder, die gewährleistet, dass das Besatzungsmitglied bei Nichterfüllung der MLC-Standards durch den Vertragsarbeitgeber Erfüllung vom Reeder verlangen kann. Hieraus folgt, dass nach den Vorgaben der MLC der Reeder nicht primär oder vorrangig für die Einhaltung der Mindestbedingungen nach der MLC verantwortlich ist – er ist immer auch verantwortlich. Den Vorgaben der MLC entspricht es daher, wie es die ILO in ihren Leitlinien zur praktischen Implementierung der MLC ausdrücklich formuliert, dass der Reeder entweder gemeinsam mit dem Arbeitgeber für die Einhaltung der MLC

176 ILC 94th (Maritime) Session, Geneva, 2006, Report of the Committee of the Whole, Rn. 129. 177 Vgl. MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, S. 36. 178 Vgl. auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 189. 179 Ebd., S. 36, 38.

B. Reederbegriff und Reederhaftung

153

verantwortlich ist oder gegenüber dem Besatzungsmitglied als Garant für dessen Rechte auftritt.180

II. Seearbeitsgesetz 1. Einleitung Das Seearbeitsgesetz enthält in § 4 eine zentrale Neuerung zum Seemannsgesetz. Zum einen definiert die Vorschrift den Begriff des Reeders, zum anderen erklärt sie den Reeder, unabhängig von seiner Stellung als Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds, als diesem gegenüber für die Einhaltung der Rechte und Pflichten aus dem Seearbeitsgesetz verantwortlich. Das Seemannsgesetz war noch von einem bereits vor Schaffung des Seearbeitsgesetzes überkommenen Reederbegriff ausgegangen, indem es „Reeder“ synonym für „Arbeitgeber“ verwendete. Wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, benutzt auch das Seearbeitsgesetz mitunter – in klarem Widerspruch zur Definition des § 4 Abs. 1 – den Begriff des Reeders in demselben Sinne wie das Seemannsgesetz. Wenn das Seearbeitsgesetz von „Reeder“ spricht, können drei natürliche oder – in aller Regel – juristische Personen gemeint sein, die nach den Definitionen Lindemanns181 wie folgt zu unterscheiden sind: - Der Eigner-Reeder ist Eigentümer des Schiffes. Er ist Reeder im Sinne des § 476 HGB.182 Reeder im Sinne des Seearbeitsgesetzes ist er nur dann, wenn er nicht die Verantwortung für das Schiff an einen Management-Reeder übertragen hat, § 4 Abs. 1 Nr. 1; - Der Management-Reeder ist nicht Eigentümer des Schiffes, hat aber vom EignerReeder die Verfügungsgewalt über das Schiff einschließlich Arbeitgeberfunktion durch einen Management- oder Gesellschaftsvertrag übernommen.183 Der Management-Reeder ist Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 und verdrängt in dieser Position den Eigner-Reeder, der seearbeitsrechtlich keine Rolle mehr spielt; - Der andere Arbeitgeber ist kein Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1. Er steht in einem Vertragsverhältnis mit dem Reeder, aufgrund dessen er bestimmte Aufgaben an Bord durchführt, für welche er das Besatzungsmitglied einstellt. Wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, verwendet das Seearbeitsgesetz mitunter fälschlicherweise nicht den Begriff des anderen Arbeitgebers, sondern den des Reeders. Sowohl der andere Arbeitgeber als auch der Reeder sind dem beim anderen Ar-

180

Ebd. Lindemann, § 4 Rn. 5 f. 182 § 476 HGB lautet: „Reeder ist der Eigentümer eines von ihm zum Erwerb durch Seefahrt betriebenen Schiffes.“ 183 Lindemann, § 4 Rn. 5. 181

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

beitgeber angestellten Besatzungsmitglied zur Einhaltung der Vorschriften des Seearbeitsgesetzes verantwortlich.184

2. Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 „Reeder im Sinne [des Seearbeitsgesetzes] ist 1. der Eigentümer des Schiffes oder 2. jede andere Organisation oder Person, die vom Eigentümer des Schiffes die Verantwortung für den Betrieb des Schiffes übernommen und die sich mit der Übernahme dieser Verantwortung in dem Vertrag mit dem Eigentümer verpflichtet hat, die Aufgaben und Pflichten zu erfüllen, die dem Reeder nach diesem Gesetz und den anderen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens auferlegt werden.“

§ 4 Abs. 1 enthält erstmals eine Legaldefinition des arbeitsrechtlichen Reederbegriffs. Die Vorschrift stellt fest, dass es für jedes Schiff nur einen Reeder im Sinne des Seearbeitsgesetzes gibt. Dies ist nach der widerlegbaren Vermutung des § 4 Abs. 1 der Eigentümer des Schiffes, § 4 Abs. 1 Nr. 1, wenn dieser nicht einer anderen Organisation oder Person die Verantwortung für den Betrieb des Schiffes einschließlich der Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben und Pflichten nach dem Seearbeitsgesetz vertraglich übertragen hat, § 4 Abs. 1 Nr. 2.185 Die vertragliche Übertragung der Verantwortung nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 unterliegt keinen Formvorschriften. In der nationalen und internationalen Praxis bedienen sich die Parteien regelmäßig der Vertragsmuster des Baltic and International Maritime Council – BIMCO, welche nunmehr Klauseln für die Übernahme der Verantwortung für Arbeits- und Lebensbedingungen der auf dem Schiff beschäftigten Arbeitnehmer nach Vorgabe der MLC enthalten.186 Reeder kann jede natürliche oder juristische Person 184

Hierzu im Einzelnen unten unter § 4 B. 3. c). Wie Lindemann, § 4 Rn. 7 f., und auch Zimmer, EuZA 2015, 297, 303, richtigerweise anmerken, ist es zweitrangig, wie die Vertragsbeziehung zwischen Eigner-Reeder und Management-Reeder ausgestaltet ist. Entscheidend ist, wer der sog. DoC-Holder ist, also auf wen das Document of Compliance nach den Vorschriften des International Safety Management Code (ISM-Code) ausgestellt ist. Dieses ist derjenigen Person oder Organisation (company) auszustellen, die nach dem ISM-Code die Verantwortung für die Schiffssicherheit übernommen hat. Der Begriff der Company nach Abs. 1.1.2 des ISM-Codes entspricht wortgleich dem Reederbegriff der MLC. Hierdurch wird ein Gleichlauf der Verantwortung für Schiffssicherheit und Arbeits- und Lebensbedingungen gewährleistet. Ebenso wie für die Ausstellung der Seearbeits-Konformitätserklärung ist die Dienststelle Schiffssicherheit für die Ausstellung des DoC nach dem ISM-Codes zuständig, vgl. Anlage 2 der Schiffssicherheitsverordnung. 186 BIMCO MLC Clause for SHIPMAN 2009: „For the purposes of this Clause: ,MCL‘ means the International Labour Organisation (ILO) Maritime Labour Convention (MLC 2006) and any amendment thereto or substitution thereof. ,Shipowner‘ shall mean the party named as ,shipowner‘ on the Maritime Labour Certificate for the Vessel. a) Subject to Clause 3 (Authority of the Managers), the Managers shall, to the extent of their Management Services, assume the Shipowner’s duties and responsibilities imposed by the MLC for the Vessel, on behalf of the Shipowner. 185

B. Reederbegriff und Reederhaftung

155

sowie jede Personengesellschaft oder Personenmehrheit sein, die Träger von Rechten und Pflichten sein kann.187 Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 kann auch sein, wer als letztes Glied einer Vertragskette die Verantwortung für Schiff und Besatzung übernommen hat.188 Als Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 kommen insbesondere in Betracht: der Ausrüster, § 477 BGB,189 hier insbesondere der Bareboat-Charterer, § 553 HGB,190 sowie der in internationalen Verträgen oft anzutreffende „Vertragsreeder“.191 Dieser ist eine natürliche oder juristische Person, die sich verpflichtet hat, die Pflichten und Aufgaben aus der MLC und anderer internationaler Einkommen für den Reeder zu übernehmen.192 In aller Regel nicht Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 ist eine Crewing-Agentur, die entweder als Verleiher i. S. d. § 1 AÜG nach § 4 Abs. 2 „anderer Arbeitgeber“ des Besatzungsmitglieds ist oder lediglich den Vertragsschluss zwischen Reeder und Besatzungsmitglied vermittelt.193 In BIMCO-Standardverträgen sind Crewing-Agenturen regelmäßig neben dem Eigentümer des Schiffes und dem Vertragsreeder als dritte Partei genannt, die für die Personalauswahl auf einem vom Vertragsreeder betriebenen Schiff zuständig sind, aber im Verhältnis zum Besatzungsmitglied keine Verpflichtungen aus der MLC übernehmen sollen.194

b) The Owners shall ensure compliance with the MLC in respect of any crew members supplied by them or on their behalf. c) The Owners shall procure, whether by instructing the Managers under Clause 7 (Insurance Arrangements) or otherwise, insurance cover or financial security to satisfy the Shipowner’s financial security obligations under the MLC.“; abrufbar unter: https://www.bimco.org/contracts-and-clauses, letzter Abruf vom 14.10.2019. 187 BNPM/Noltin, § 41 Rn. 2; siehe auch § 2 FlaggenRG. 188 BNPM/Noltin, § 41 Rn. 5. 189 Vgl. § 477 Abs. 1, 2 HGB: „Ausrüster ist, wer ein ihm nicht gehörendes Schiff zum Erwerb durch Seefahrt betreibt. Der Ausrüster wird im Verhältnis zu Dritten als Reeder angesehen“. Instruktiv zur Stellung des Ausrüsters Ramming, Seehandelsrecht, § 477 Rn. 2 ff. 190 Eine Bareboat-Vercharterung ist eine Schiffsmiete, bei der der Vermieter verpflichtet wird, dem Mieter ein bestimmtes Seeschiff ohne Besatzung zu überlassen und ihm den Gebrauch dieses Schiffes während der Mietzeit zu gewähren, Definition nach Lindemann, Einl. Rn. 107. Ein Bareboat-Charterer ist der typische und häufigste Fall des Ausrüsters i. S. d. 477 HGB, siehe Ramming, Seehandelsrecht, § 477 Rn. 13. 191 BT-Drucks. 17/10959, S. 63. Der Vertragsreeder entspricht dem in den BIMCOStandardverträgen aufgeführten ship manager, BNPM/Noltin, § 4 Rn. 7. Vertragsreeder ist im Vergleich zum Ausrüster und Bareboat-Charterer der weitere Begriff. Ausrüster und BareboatCharterer sind stets auch Vertragsreeder. 192 BNPM/Noltin, ebd. 193 Ebd. 194 Vgl. das Standard Crew Management Agreement des BIMCO, Section 2 Clause 4, abrufbar unter: https://www.bimco.org/contracts-and-clauses/bimco-contracts, letzter Abruf vom 14.10.2019.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

3. Reederhaftung nach § 4 Abs. 2 a) Einleitung Das Seemannsgesetz hatte es noch als selbstverständlich angesehen, dass Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds und Reeder des Schiffes ein und dieselbe natürliche oder juristische Person sind. So verwendete die Gesetzesbegründung zum Seemannsgesetz den Begriff „Arbeitgeber“ lediglich abgrenzend vom „Reeder“ und verstand den „Arbeitgeber“ ausschließlich als Arbeitgeber in einem Landarbeitsverhältnis.195 Das Seearbeitsgesetz löst die Reederstellung von der Arbeitgeberstellung, ohne indes den Reeder von der Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen der auf seinem Schiff beschäftigten Besatzungsmitglieder freizuzeichnen. So lautet § 4 Abs. 2: „Der Reeder ist für die Einhaltung der Rechte und Pflichten nach diesem Gesetz und den anderen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens verantwortlich. Dies gilt auch dann, wenn 1. eine andere Organisation oder Person bestimmte Aufgaben und Pflichten im Auftrag des Reeders erfüllt oder 2. eine andere Organisation oder Person Arbeitgeber oder Ausbildender eines Besatzungsmitglieds ist (anderer Arbeitgeber).“

Die Vorschrift des § 4 Abs. 2 führt neben dem Eigner- und Management-Reeder eine dritte Personengruppe ein, die Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein kann: den „anderen Arbeitgeber“. Der Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 überträgt dem anderen Arbeitgeber im Rahmen eines Pachtvertrages oder auf anderer vertraglicher Grundlage bestimmte an Bord anfallende Arbeiten zur selbständigen Ausführung. Solche Arbeiten können etwa sein: der Betrieb des Bordrestaurants, des WellnessBereiches oder eines Ladengeschäftes auf einem Passagierschiff.196 Ferner kann der andere Arbeitgeber ein Leiharbeitsunternehmen sein, welches sich gegenüber dem Reeder nach § 4 Abs. 1 zur Personalgestellung auf einem von diesem betriebenen Schiff verpflichtet.197 Für den Fall, dass Reeder- und Arbeitgeberstellung auseinanderfallen, stellt § 4 Abs. 3 klar, dass „unabhängig von der Verantwortung des Reeders nach Absatz 2 […] auch der andere Arbeitgeber für die Einhaltung der Rechte und Pflichten des Reeders nach diesem Gesetz und den anderen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens verantwortlich [ist].“198

Damit stellen sich drei zentrale Fragen. Zunächst stellt sich die Frage, in welchem Rechsverhältnis der Reeder zu einem Besatzungsmitglied steht, welches bei einem anderen Arbeitgeber i. S. d. § 4 Abs. 2 Nr. 2 beschäftigt ist (der Übersichtlichkeit 195 196 197 198

BT-Drucks. 2/2962, S. 71, 90. BT-Drucks. 17/10959, S. 63. Lindemann, § 4 Rn. 9. Siehe hierzu unten unter § 4 B. II. 3.

B. Reederbegriff und Reederhaftung

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halber im Folgenden: „Fremdarbeitnehmer“). Zweitens ist zu klären, in welcher Reihenfolge Reeder und Vertragsarbeitgeber dem Fremdarbeitnehmer für die Einhaltung der Vorschriften des Seearbeitsgesetzes verantwortlich sind. Drittens, in welchem Umfang der Reeder dem Fremdarbeitnehmer verantwortlich ist. Vorangestellt ist aber zu klären, ob der Reeder dem Besatzungsmitglied nicht bereits originär nach den jeweiligen Vorschriften des 3. Abschnitts verantwortlich ist, da dort stets der Reeder und nicht der Arbeitgeber als Anspruchsgegner des Besatzungsmitglieds genannt wird. b) Verwendung des Reederbegriffs im 3. Abschnitt des SeeArbG § 4 gibt eine klare Systematik vor. Es kann eine andere Person oder Organisation als der Reeder Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein. Der Reeder bleibt dem Besatzungsmitglied auch in diesem Fall – in noch zu klärender Art und Weise – für die Einhaltung der Rechte aus dem Seearbeitsgesetz verantwortlich. Arbeitgeberund Reederfunktion sind mithin nach § 4 voneinander zu trennen. Diese klare Trennung hebt das Seearbeitsgesetz im Folgenden wieder vollständig auf. In Anlehnung an die – nunmehr nach der Vorgabe des § 4 überkommenen – Begrifflichkeit des Seemannsgesetzes verwendet es den Begriff „Reeder“ wieder synonym mit „Arbeitgeber“. So heißt es beispielsweise in § 28 Abs. 1 S. 2: „Durch den Heuervertrag wird ein Heuerverhältnis zwischen dem Reeder und dem Besatzungsmitglied begründet.“ Die Vorschrift steht scheinbar im direkten Widerspruch zu § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, nach dem eine andere Organisation oder Person als der Reeder Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein kann. Die Gesetzesbegründung löst den Widerspruch fast beiläufig auf. Hier heißt es: „Ist der Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds nicht der Reeder, sondern ein anderer Arbeitgeber im Sinne von § 4 Absatz 2, ist der Heuervertrag zwischen diesem und dem Besatzungsmitglied zu schließen.“199 Hinsichtlich der Pflicht zur rechtzeitigen Übermittlung des Heuervertrags durch den Reeder nach § 28 Abs. 1 S. 3200 bestimmt die Gesetzesbegründung: „Satz 3 verpflichtet den Reeder oder den anderen Arbeitgeber, dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vor Vertragsabschluss den Entwurf des Heuervertrages […] zu übermitteln.“ Aus der Gesetzesbegründung geht mithin auch an dieser Stelle deutlich hervor, dass § 28 Abs. 1 mit „Reeder“ den Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds meint.201 Dass nicht beide – Reeder und Vertragsarbeitgeber – gleichzeitig gemeint sind, verdeutlicht die Formulierung „oder dem anderen Arbeitgeber […]“ sowie das Fehlen des Wortes „auch“ in der erstgenannten Fundstelle zu § 28 Abs. 1 S. 2. Die falsche – da nicht mit der Systematik des § 4 übereinstimmende – Verwendung des Reederbegriffs zieht sich durch das gesamte Seearbeitsgesetz. So vereinbaren nicht Reeder und Besatzungsmitglied die Zahlung der Heuer in einer bestimmten Währung, § 39 Abs. 1 S. 2, sondern die Arbeitsvertragsparteien. Durch 199 200 201

BT-Drucks. 17/10959, S. 73. Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 C. II. 2. Zustimmend Müller, Das Heuerverhältnis, S. 145.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

die ungenaue Begriffsverwendung kommt es auch innerhalb ein und desselben Regelungsbereichs zu direkten Widersprüchen. So bestimmt § 42 Abs. 3 – in Übereinstimmung mit der Systematik des § 4 – zur Verantwortung über die Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften: „Der Kapitän hat für die Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften der Besatzungsmitglieder zu sorgen. Für Besatzungsmitglieder, die nicht beim Reeder beschäftigt sind, haben deren Arbeitgeber […] und der Kapitän gemeinsam für die Einhaltung […] zu sorgen.“

Zu den Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten regelt jedoch § 48 Abs. 1 S. 1: „Der Reeder und der Kapitän haben dafür zu sorgen, dass auf dem Schiff folgende Arbeitszeiten und Ruhezeiten der Besatzungsmitglieder eingehalten werden.“

Nach dem bloßen Wortlaut der Vorschrift schriebe § 48 dem anderen Arbeitgeber – im Widerspruch zu § 42 – keine Verantwortung zu. Die ungenaue Verwendung des Reederbegriffs ist nicht nur in solchen Vorschriften zu finden, die dem Besatzungsmitglied Rechte einräumen, sondern auch in solchen, die Rechte des Arbeitgebers bzw. Pflichten des Besatzungsmitglieds regeln. So bestimmt § 65, dass das Heuerverhältnis durch den Reeder und durch das Besatzungsmitglied gekündigt werden kann.202 Kündigungsberechtigt kann aber nur derjenige sein, mit dem das Heuerverhältnis besteht, mithin der Vertragsarbeitgeber.203 Ähnliches gilt für § 62 Abs. 1 S. 2: Die Information über das Fortbestehen einer Erkrankung über das Urlaubsende hinaus liegt in erster Linie im Interesse des Vertragsarbeitgebers. Daher ist das Besatzungsmitglied verpflichtet, die Erkrankung diesem und nicht dem Reeder unverzüglich mitzuteilen.204 Eine ausdrückliche verallgemeinernde Aussage, wann der Gesetzgeber bei der Verwendung des Begriffs „Reeder“ den Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 meint und wann den Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds, ist weder in der Gesetzesbegründung noch in der Literatur ersichtlich. Lediglich zu einzelnen Vorschriften weist die Gesetzesbegründung ausdrücklich aus, dass der Vertragsarbeitgeber gemeint sei.205 Robert Peetz geht in der Kommentierung der Vorschriften des 3. Abschnitts („Beschäftigungsbedingungen“ – §§ 28 – 80) davon aus, dass „Reeder“ stets als „Arbeitgeber“ zu lesen ist.206 Dem ist zuzustimmen. Die ausdrückliche Regelung einer umfassenden Reederhaftung des § 4 Abs. 2 wäre überflüssig, wenn der Reeder direkt, also über die Anordnung der Vorschriften des 3. Abschnitts über Beschäftigungsbedingungen verantwortlich wäre. Die Vorschrift, nach der der Reeder „auch dann“ haftet, ist nur 202 Vgl. auch § 67 Abs. 1, nach dem der „Reeder das Heuerverhältnis aus wichtigem Grund […] nach § 626 [BGB] kündigen“ kann. 203 Zustimmend BNPM/Peetz, § 65 Rn. 6. 204 Hiervon geht wohl auch BNPM/Peetz, § 58 Rn. 10, aus, der als Anspruchsgegner hinsichtlich des Urlaubsanspruchs ebenfalls den Arbeitgeber, nicht den Reeder, ansieht. 205 BT-Drucks. 17/10959, S. 73, 74, 75, 79, 84, 85. 206 BNPM/Peetz, Vor § 28 Rn. 17, § 42 Rn. 11, § 58 Rn. 10, § 65 Rn. 6, § 67 Rn. 1, § 73 Rn. 1.

B. Reederbegriff und Reederhaftung

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dann sinnvoll, wenn sich seine Verantwortung nicht bereits ohnehin aus der jeweiligen Vorschrift ergibt. Dass auch der Gesetzgeber selbst von diesem Verständnis ausgeht, zeigt die amtliche Begründung zu § 28 Abs. 2. Hiernach ist die Aufnahme von Name und Anschrift des Reeders in einem mit einem anderen Arbeitgeber geschlossenen Heuervertrag erforderlich. Dies sei für den Fall von Bedeutung, „dass der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen aus dem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens nicht nachkommt und sich das Besatzungsmitglied deshalb an den Reeder wenden kann.“207

Mithin geht die Gesetzesbegründung davon aus, dass zunächst der Vertragsarbeitgeber für die Einhaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen verantwortlich ist. c) Rechtsverhältnis zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer aa) Meinungsstand in der Literatur Die ersten Ansätze der Literatur, das Rechtsverhältnis zwischen Reeder und dem Fremdarbeitnehmer zu qualifizieren, haben Ergebnisformeln produziert, die eine rechtliche Begründung weitgehend schuldig bleiben. Nach Noltin ist „dogmatische Grundlage der zivilrechtlichen Reederhaftung ein originär entstandenes gesetzliches Heuerverhältnis sui generis im Sinne von § 311 BGB ohne primäre Leistungspflichten, das durch die Tätigkeit des Besatzungsmitglieds an Bord begründet und gleichzeitig begrenzt wird.“208

Dieses gesetzliche Heuerverhältnis, so Noltin weiter, begründe nach §§ 311 Abs. 3, 241 Abs. 2 gegenseitige Pflichten zur Rücksichtnahme, jedoch bestünden keine gegenseitigen primären Haupt- und Nebenpflichten.209 Lindemann nähert sich der Frage nach dem Rechtsverhältnis zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer mit Blick auf die internationalen Vorgaben der MLC. Diese seien eindeutig in dem Sinne zu verstehen, dass der Reeder unabhängig von seiner Arbeitgeberstellung der gesamtverantwortliche Vertragspartner des Besatzungsmitglieds bleibe. Es gehe bei der Reederhaftung um eine unzweideutige und robuste vertragliche Verantwortlichkeit des Reeders bei jedweder Form der Beschäftigung. Unabhängig von der Hinzuziehung weiterer Arbeitgeber bleibe der Reeder „primärer Vertragspartner“ des Besatzungsmitglieds und als solcher verpflichtet, alle Anforderungen des Seearbeitsübereinkommens – seien sie privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur – zu erfüllen.210 Bubenzer ordnet die Reeder-Verantwortung nach § 4 Abs. 2 als öffentlichrechtliche Einstandspflicht ein. Komme der andere Arbeitgeber seinen arbeits207 208 209 210

BT-Drucks. 17/10595. BNPM/Noltin, § 4 Rn. 14. Ebd. Ähnlich auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 172 ff. Lindemann, § 4 Rn. 13.

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rechtlichen Verpflichtungen nicht nach, müsse der Reeder entweder unmittelbar oder mittelbar im Wege der Ersatzvornahme die Leistungen erbringen, zu denen der andere Arbeitgeber arbeitsvertraglich verpflichtet ist.211 Die wichtigsten Literaturmeinungen weichen damit erheblich voneinander ab. Während Noltin ein gesetzliches Heuerverhältnis annimmt, aus dem keine Primärpflichten entstehen, nimmt Lindemann an, dass es sich bei dem Reeder um den primären Vertragspartner des Besatzungsmitglieds handelt. Bubenzer geht ebenfalls von einem gesetzlichen Schuldverhältnis aus. bb) Vergleich mit der Arbeitnehmerüberlassung Das Verhältnis von Reeder und Fremdarbeitnehmer weist gewisse Ähnlichkeiten zum Verhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer auf.212 Hier wie dort führt der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung in einer räumlichen Sphäre aus, die maßgeblich von einer natürlichen oder juristischen Person beherrscht wird, die nicht sein Arbeitgeber ist. Ebenso wie § 1 Abs. 1 AÜG geht auch § 4 Abs. 2 Seearbeitsgesetz davon aus, dass das Besatzungsmitglied mit dieser Person nicht arbeitsvertraglich verbunden ist, bzw. im Falle des Seearbeitsgesetzes nicht arbeitsvertraglich verbunden sein muss. Wie das Seearbeitsgesetz schweigt auch das AÜG zu der Frage nach dem Rechtsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und dem „Sphärenbeherrschenden“.213 Hierin erschöpfen sich aber die Parallelen zwischen dem Verhältnis von Reeder und Fremdarbeitnehmer einerseits und Entleiher und Leiharbeitnehmer andererseits. Dem Reeder stehen, anders als dem Entleiher, in der Regel keinerlei arbeitsrechtlich begründete Weisungsbefugnisse gegenüber dem Fremdarbeitnehmer zu. Der Leiharbeitnehmer ist dem Entleiher zur Arbeitsleistung verpflichtet,214 das Besatzungsmitglied dem anderen – seinem – Arbeitgeber. Eine Ausnahme ist freilich dort gegeben, wo der Reeder gleichzeitig Entleiher im Sinne des AÜG ist.215 Die Einflusssphäre des Reeders, die das Besatzungsmitglied betritt, ist eine andere als die des Entleihers. Von der Betriebsdefinition Huecks ausgehend,216 ist das Besatzungs211

Bubenzer, TransportR 2014, 393, 395. Zur dogmatischen Einordnung des Rechtsverhältnisses zwischen Entleiher und Leiharbeitnemer, siehe Thüsing-AÜG/Thüsing, AÜG, Einf. Rn. 37. 213 Röller, in: Küttner, Personalbuch, „Arbeitnehmerüberlassung/Zeitarbeit“, Rn. 39 ff.; Schüren/Schüren, Einl., Rn. 120 ff.; Thüsing-AÜG/Thüsing, ebd. 214 Thüsing-AÜG/Thüsing, ebd. 215 Dies ist allerdings keinesfalls immer der Fall, wie es Zimmer, EuZA 2015, 297, 304, nahelegt. 216 Hiernach ist ein Betrieb eine organisatorische Einheit ist, innerhalb derer der Arbeitgeber allein oder zusammen mit seinen Arbeitnehmern mit Hilfe sächlicher oder immaterieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt, die sich nicht in der Befriedigung von Eigenbedarf erschöpfen, vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Bd. I, S. 93. 212

B. Reederbegriff und Reederhaftung

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mitglied, anders als der Leiharbeitnehmer, nicht in den Betrieb des Reeders eingebunden. Denn der Vertragsarbeitgeber verfolgt einen eigenen arbeitstechnischen Zweck, zu deren Erfüllung er sich dem Reeder gegenüber verpflichtet hat. Das Besatzungsmitglied ist mithin nicht in der arbeitstechnischen Einheit, sondern in der Lebens- und Arbeitsraumgemeinschaft des Reeders eingebunden.217 Während die Verantwortungszuweisung für den öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz nach § 11 Abs. 6 AÜG nach ganz herrschender Meinung auf der Einwirkungsmöglichkeit des Entleihers auf die mögliche Gefahrenquelle Betrieb beruht,218 kann sich die Begründung der Verantwortungszuweisung an den Reeder nicht allein auf diesen tatsächlichen Grund beschränken. Zwar beherrscht allein der Reeder die Gefahrenquelle Schiff. Allerdings erschöpft sich die Verantwortung des Reeders für den Fremdarbeitnehmer nicht in den schiffssicherheitsrechtlichen Vorschriften. Er ist vielmehr – sphärenunabhängig – verantwortlich für die Einhaltung aller Rechte und Pflichten nach dem Seearbeitsgesetz und den anderen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens. Die Verantwortung besteht mithin auch für solche Bereiche des Arbeitsschutzes, denen der Vertragsarbeitgeber des Besatzungsmitglieds näher steht als der Reeder, beispielsweise bei der Einhaltung der Höchstarbeitszeit oder des Mindesturlaubs. Das Verhältnis zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer ist damit ein grundlegend anderes als das Verhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer. Demnach weist das Leiharbeitsverhältnis keine belastbaren Parallelen auf, die es ermöglichen würden, bei der Bestimmung des Rechtsverhältnisses zwischen Reeder und Besatzungsmitglied Anleihen am Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zu nehmen. cc) Automome Bestimmung des Rechtsverhältnisses Legte man den bloßen Wortlaut des § 28 zugrunde, so würde die Bestimmung des Rechtsverhältnisses zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer keine Probleme bereiten, da stets von einem Heuerverhältnis auszugehen wäre. Dass diese Sichtweise jedoch nicht der Intention des Gesetzgebers entspricht, wurde bereits ausführlich erläutert.219 Die Gesetzesbegründung zu § 28 weist nicht nur aus, dass auch ein anderer Arbeitgeber Heuervertragspartei sein kann. Sie zeigt überdies auch, dass durch die Vorschrift die Vorgaben des Seearbeitsübereinkommens, namentlich Norm A2.1 Absatz 1 lit. a) und c), umgesetzt werden sollen.220 Norm A2.1 Abs. 1 lit. a) sieht vor, dass Reeder und Besatzungsmitglied in jedem Fall in einem Vertragsverhältnis stehen müssen und der Reeder hierbei entweder mit dem Arbeitgeber für die Einhaltung der MLC verantwortlich ist oder gegenüber dem Besatzungsmitglied 217 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt freilich auch hier, sofern der Reeder gleichzeitig Entleiher i. S. d. AÜG ist. 218 BeckOKArbR/Motz, AÜG, § 11 Rn. 42; vgl. auch Aligbe, ArbR Aktuell 2014, 146. 219 Siehe hierzu oben unter § 4 B. II. 3. b). 220 BT-Drucks. 17/10959, S. 73 f.

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als „Garant“ für dessen Rechte auftritt.221 Diese nach der MLC zwingende Stellung des Reeders als Vertragspartei des Fremdarbeitnehmers setzt § 28 nicht hinreichend um, wenn – was nach der Gesetzesbegründung ausdrücklich der Fall ist – der Begriff des „Reeders“ den „Arbeitgeber“ des Besatzungsmitglieds meint. Der Gesetzgeber wird damit Opfer seiner eigenen Ungenauigkeit bei der Verwendung des Reederbegriffs: Nimmt man ihn in § 28 „beim Wort“, so verweigert er – entgegen der Konzeption des § 4 Abs. 2 SeeArbG – die Möglichkeit des Heuervertragsschlusses mit einem anderen Arbeitgeber. Legt man die Vorschrift nach systematischen Gesichtspunkten sowie anhand des ausdrücklich geäußerten gesetzgeberischen Willens aus und ersetzt den Begriff „Reeder“ durch den des „Arbeitgebers“, kommt es zu einem Umsetzungsdefizit mit Blick auf die MLC. Denn dann schweigt das Gesetz zur Rolle des Reeders beim Vertragsschluss. Dieser Widerspruch muss im Wege der Auslegung aufgelöst werden. Dass die Nicht-Nennung einer Vereinbarung mit dem Reeder keinesfalls Intention des Gesetzgegebers war, sondern vielmehr auf der falschen Verwendung des Reederbegriffs beruht, zeigt § 29. Dieser sieht ausdrücklich vor, dass, wenn der Heuervertrag mit einem anderen Arbeitgeber abgeschlossen ist, die Kopie einer Ausfertigung des Heuervertrages mitzuführen ist, auf der der Reeder mit seiner Unterschrift seine Verantwortung nach § 4 Absatz 2 bestätigt hat. Das Seearbeitsgesetz geht mithin davon aus, dass der Reeder im Falle des Heuervertragsschlusses mit einem anderen Arbeitgeber den Heuervertrag ebenfalls unterschreiben muss.222 Damit ist § 28 Abs. 1 im Zusammenhang mit § 29 Abs. 1 S. 4 zu wie folgt lesen: Sofern das Heuerverhältnis eines Besatzungsmitglieds mit einem anderen Arbeitgeber geschlossen wird, hat der Reeder auf dem Vertragsdokument seine Gesamtverantwortung nach § 4 Abs. 2 zu bestätigen. Diese Bestätigung ist – aufgrund der ausdrücklichen gesetzgeberischen Intention, Norm A2.1 Abs. 1 lit. a) umzusetzen – konstitutiv und damit unverzichtbarer Teil des Vertragsschlusses zwischen Besatzungsmitglied und dem anderen Arbeitgeber.223 Die Reederhaftung hat mithin nicht nur eine gesetzliche, sondern aufgrund der zwingend bei Vertragsschluss durch den Reeder abzugebenden Gesamtverantwortungserklärung, auch eine vertragliche Grundlage. Der Reeder verpflichtet sich im Rahmen des Heuervertragsschlusses, seine gesetzlichen Pflichten aus § 4 Abs. 2 auszuführen, namentlich für die Durchführung der gesetzlichen Mindestbedingungen einzustehen. Die Reederhaftung ist somit eine vertragliche Einstandspflicht in Bezug auf die gesetzlichen Mindestbedingungen des Seearbeitsgesetzes und andere die MLC umsetzende 221

Siehe hierzu oben unter § 4 B. I. Dass der Reeder die von § 29 Abs. 1 S. 4 geforderte Unterschrift auf dem Heuervertragsdokument und nicht auf der Kopie desselben zu leisten hat – beide Varianten wären dem Wortlaut der Vorschrift nach möglich – zeigt die Gesetzesbegründung, nach der der Reeder auf einer Ausfertigung des Heuervertrages durch Unterschrift seine Gesamtverantwortung zu bestätigen hat, BT-Drucks. 17/10959, S. 75. 223 Anders unter Hinweis auf die Vergleichbarkeit des § 28 mit §§ 11 AÜG und 11 BBiG Müller, Das Heuerverhältnis, S. 142. 222

B. Reederbegriff und Reederhaftung

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Rechtsvorschriften. Die Einstandspflicht des Reeders weist damit Ähnlichkeiten zur Sachwalterhaftung nach § 311 Abs. 3 BGB auf. Als Sachwalterhaftung bezeichnet man die Eigenhaftung von Personen, die im Rahmen von Verhandlungen über wirtschaftlich bedeutsame Geschäfte in besonderem Maße Vertrauen für sich persönlich in Anspruch nehmen und dadurch dem anderen Teil eine zusätzliche persönliche Gewähr für das Zustandekommen und die Erfüllung des Vertrags bieten.224 Sie werden zu „Garanten der Vertragsdurchführung“, selbst für den Fall, dass der eigentliche Vertragspartner sich nicht als vertrauenswürdig erweist.225 Ähnliches gilt für den Reeder: Das Besatzungsmitglied begibt sich im Vertrauen auf dessen sichere und vorschriftsgemäße Schiffsführung und die Gewährung von Arbeitsschutzstandards in die Lebens- und Arbeitsraumsphäre des Reeders, der die Gewähr für die Einhaltung der Schutzvorschriften des Seearbeitsrechts bietet. Anders als im Rahmen der Sachwalterhaftung ergibt sich das Schuldverhältnis zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer nicht aus der Beeinflussung des Vertragsschlusses zwischen den eigentlichen Vertragsparteien, sondern bereits einen originären Vertragsschluss zwischen Reeder und Besatzungsmitglied. Entgegen der Ansicht Noltins226 ist eine Beschränkung auf Sekundäransprüche abzulehnen. Eine solche Beschränkung enthält weder das Seearbeitsgesetz noch die MLC. Vielmehr kann der Fremdarbeitnehmer auch Erfüllungsansprüche gegen den Reeder geltend machen. Dies kommt etwa dann in Betracht, wenn der Vertragsarbeitgeber sich weigert, dem Besatzungsmitglied ihm gesetzlich vorgeschriebenen Urlaub oder eine gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit zu gewähren.227 d) Reihenfolge der Verantwortlichkeit Die zweite zentrale Frage ist, in welcher Reihenfolge Reeder und Vertragsarbeitgeber dem Fremdarbeitnehmer für die Einhaltung der Rechte aus dem Seearbeitsgesetz verantwortlich sind. Ebenso wie die Frage nach dem Rechtsverhältnis zwischen Reeder und Fremdarbeitnehmer beantwortet das Seearbeitsgesetz diese Frage nicht ausdrücklich. Sofern Lindemann,228 der den Reeder als „primären Vertragspartner“ ansieht, hieraus eine lediglich subsidiäre Haftung des Vertragsarbeitgebers herleiten möchte, überzeugt dies nicht. Es widerspricht der gesetzlichen Konzeption des § 4 Abs. 3, wonach der andere Arbeitgeber unabhängig von der Verantwortung des Reeders für die Einhaltung der Rechte und Pflichten aus dem Seearbeitsgesetz und anderer die MLC umsetzenden Rechtsvorschriften verantwortlich ist. Außerdem verkennt diese

224 225 226 227 228

MüKoBGB/Emmerich, BGB, § 311 Rn. 187 m. w. N. Ebd. BNPN/Noltin, § 4 Rn. 14. Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 F. II. 4. b). Lindemann, § 4 Rn. 13.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Ansicht, dass die Reederverantwortlichkeit auf die Einhaltung der gesetzlichen Mindestbedingungen und keinesfalls auf die Vertragsdurchführung gerichtet ist.229 Aus der Gesetzesbegründung zu § 28 folgt, dass die Aufnahme von Name und Anschrift des Reeders in den mit einem anderen Arbeitgeber geschlossenen Heuervertrag insbesondere für den Fall von Bedeutung ist, dass „der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen aus dem Gesetz oder anderen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Seearbeitsübereinkommens nicht nachkommt und sich das Besatzungsmitglied deshalb an den Reeder wenden kann.“230

Damit geht die Gesetzgesbegründung davon aus, dass eine Inanspruchnahme des Reeders durch den Fremdarbeitnehmer nur in dem Fall infrage kommt, in dem der Vertragsarbeitgeber die Erfüllung verweigert. Dies bestätigt auch § 58 Abs. 1 S. 3, wonach der Reeder dem Fremdarbeitnehmer Urlaub gewähren kann, sofern der andere Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Urlaubsgewährung nicht nachkommt.231 Mithin sieht das Seearbeitsgesetz vor, dass vorrangig der Vertragsarbeitgeber zur Erfüllung der Mindestanforderungen verpflichtet ist und eine Haftung des Reeders erst subsidiär in dem Fall besteht, dass der Vertragsarbeitgeber seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Dies entspricht auch den praktischen Bedürfnissen an Bord. Es ist nicht sachgerecht, dass das Besatzungsmitglied vom Reeder beispielsweise die Einhaltung seiner Höchstarbeitszeit einfordern kann, bevor es dies von seinem Vertragsarbeitgeber gefordert hat. Ebensowenig sollte der Reeder einem Urlaubsbegehren entsprechen können, bevor es mit dem Vertragsarbeitgeber abgesprochen ist. Bereits die Tatsache, dass das Seearbeitsgesetz die arbeitsvertragliche Verbindung mit einem anderen Arbeitgeber als dem Reeder zulässt, spricht dafür, diesen auch als vorrangig Verantwortlichen für die Wahrnehmung der Rechte des Besatzungsmitgliedes anzusehen. Die Handlungsfähigkeit und die betrieblichen Belange des Vertragsarbeitgebers würden in unzulässiger Weise beschnitten, wenn der Reeder in Regelungsbereichen, die betriebliche Belange des Vertragsarbeitgebers berühren, vor diesem die Gelegenheit zur Erfüllung erhielte. Dieser Rechtsgedanke kommt in der Vorschrift des § 58 Abs. 1 S. 3 zum Ausdruck.232 Die Vorschrift enthält einen allgemeinen Rechtsgedanken, der sich auch auf andere Regelungsbereiche übertragen lässt: Das Besatzungsmitglied muss seinem Vertragsarbeitgeber die Möglichkeit geben, seine Verpflichtungen zu erfüllen, bevor es sich an den Reeder wendet.233 Dies 229

Siehe hierzu unten unter § 4 B. 3. e). BT-Drucks. 17/10959 S. 74. 231 Entgegen dem missverständlichen Wortlaut der Vorschrift haftet der Reeder auch im Rahmen der Urlaubsgewährung lediglich für die gesetzlichen Mindestbedingungen, nicht für die Vertragsdurchführung, vgl. BT-Drucks. 17/12420, S. 20. 232 Siehe hierzu weiter oben in diesem Absatz. 233 Anders wohl Müller, Das Heuerverhältnis, S. 288, die aus § 58 Abs. 1 S. 3 SeeArbG keine Notwendigkeit eines vorgeschalteten Urlaubsverlangens gegenüber dem Vertragsarbeitgeber liest. Dies scheint jedoch mit Blick auf den Wortlaut der Vorschrift schwer vertretbar. 230

B. Reederbegriff und Reederhaftung

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ist auch deshalb naheliegend, da Reeder und Vertragsarbeitgeber dem Besatzungsmitglied auf unterschiedliche Weise verpflichtet sind. Während der Vertragsarbeitgeber zur Durchführung des Arbeitsvertrags verpflichtet ist, steht der Reeder lediglich für die gesetzlichen Mindestbedingungen des Seearbeitsgesetzes und anderer die MLC umsetzenden Vorschriften ein.234 Würde man den Reeder als vorrangig verantwortlich ansehen, so käme es zu einer Teilung dieser vorrangigen Verantwortung. Der Reeder wäre verantwortlich für die Gewährung der gesetzlichen Mindestbedingungen, der Vertragsarbeitgeber für die Gewährung der darüber hinausgehenden vertraglichen Vereinbarungen. Ein Besatzungsmitglied, dem vertraglich 40 Kalendertage Urlaub zustehen, müsste sich für die Gewährung von 30 Urlaubstagen, vgl. § 57 Abs. 1, an den Reeder wenden und für die Gewährung der weiteren 10 Tage an den Vertragsarbeitgeber. Gleiches würde bei der Einhaltung von vertraglichen und gesetzlichen Höchstarbeitszeiten gelten. Die Reederhaftung nach § 4 Abs. 2 ist demzufolge eine vertraglich begründete subsidiäre Ausfallhaftung, wobei das Besatzungsmitglied die Erfüllung der gesetzlichen Mindestbedingungen zunächst von seinem Vertragsarbeitgeber einfordern muss.235 Um den von der Reederhaftung intendierten Schutz des Besatzungsmitglieds zu wahren, genügt die endgültige und ernsthafte Verweigerung des Vertragsarbeitgebers, um die Haftung des Reeders zu eröffnen.236 e) Haftung des Reeders für Zahlungsverpflichtungen Nach § 4 Abs. 4 S. 1 haftet der Reeder für Zahlungsverpflichtungen des anderen Arbeitgebers aus dem Heuerverhältnis wie ein Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat. Diese bürgenähnliche Haftung des Reeders ist an die Generalunternehmerhaftung des § 14 AEntG angelehnt237 und findet sich auch in § 13 MiLoG.238 Die Haftung nach § 4 Abs. 4 S. 1 erstreckt sich auf sämtliche auf Geld gerichteten vertraglichen Forderungen, die ihre Grundlage im Heuerverhältnis haben.239 Zu ihnen gehören Heuerzahlungen einschließlich Zuschlägen, Verpflegungsgeld, Entgeltfortzahlung, Reeder-Krankengeld, Krankentagegeld, Urlaubsentgelt, Urlaubsabgeltung, Reisekosten im Rahmen des Urlaubs und der Heimschaffung, Annahmeverzugslohn oder Abfindungsansprüche.240 Die Vorschrift ordnet damit eine Ausfallhaftung für Zahlungsansprüche des Vertragsarbeitgebers 234

Siehe hierzu unten unter § 4 B. II. 3. d). So wohl auch Kühn, NZA Online Aufsatz 2/2016 S. 4 f. Müller, Das Heuerverhältnis, S. 185, legt § 4 Abs. 2 dahingehend aus, dass der Reeder stets sämtliche Arbeitgeberpflichten gegenüber dem Besatzungsmitglied selbst zu erfüllen hat. 236 Kühn, ebd. 237 BNPM/Noltin, § 4 Rn. 19. 238 Ausführlich hierzu Thüsing-MiLoG/Lelley, MiLoG, § 13 Rn. 18 ff. sowie ThüsingMiLoG/Mohr, AEntG, § 14 Rn. 26. 239 BNPM/Noltin, § 4 Rn. 20. 240 Ebd. 235

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an.241 Das Besatzungsmitglied muss den Anspruch innerhalb gegebenenfalls bestehender tariflicher Ausschlussfristen geltend machen.242 Es muss sich nach § 768 BGB die dem Vertragsarbeitgeber zustehenden Einreden entgegenhalten lassen und kann sich auf eine Verjährung der Hauptschuld berufen, selbst wenn die Verjährung der Hauptschuld erst nach Erhebung der Bürgschaftsklage eintritt.243 Nach § 774 Abs. 1 BGB geht die Forderung des Besatzungsmitglieds gegen den Vertragsarbeitgeber nach Befriedigung seiner Ansprüche auf den Reeder über.244 Die Haftung des Reeders für die Verpflichtung zur Heuer- oder Vergütungszahlung erstreckt sich dabei auf die übliche Vergütung, es sei denn, dass sich ein abweichender Anspruch aus einer vom Reeder unterschriebenen Ausfertigung des Heuer- oder Berufsausbildungsvertrages ergibt, § 4 Abs. 4 S. 2. Die übliche Vergütung meint die Vergütung aus den einschlägigen Tarifverträgen, § 612 Abs. 2 BGB, was in der Regel die Vergütung nach dem HTV-See ist.245 Für solche Besatzungsmitglieder, mit denen eine abweichende Rechtswahl getroffen wurde, sind entsprechende ausländische oder internationale Tarifverträge zugrunde zu legen.246 Die weitergehende Haftung nach § 4 Abs. 4 S. 2 2. Hs setzt voraus, dass sich der Reeder ausdrücklich hierzu verpflichtet hat. Hierzu reicht es nicht aus, dass der Reeder nach § 29 Abs. 1 S. 4 seine Einstandspflicht nach § 4 Abs. 2 erklärt, denn zu einer solchen Erklärung ist er ohnehin verpflichtet.247 Vielmehr muss sich aus der Erklärung des Reeders der eindeutige Wille ergeben, auch über die gesetzliche Verpflichtung zur Haftung in Höhe der üblichen Vergütung hinaus für die Heuerverpflichtung in vertraglicher Höhe haften zu wollen.

III. Zusammenfassung und Bewertung Erstmals definieren MLC und ihr folgend das deutsche Seearbeitsgesetz den Begriff des Reeders. Derjenige, der die Verantwortung für den Schiffsbetrieb übernimmt, übernimmt auch die Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord. Die Festlegung dieses Prinzips war eine praktische Notwendigkeit, um eine Weiterreichung der Verantwortung für die Besatzungsmitglieder durch Bereederungsvertragsketten zu verhindern und eine transparente Verantwortungszuweisung herzustellen. Das Besatzungsmitglied hat nunmehr ein klares Bild darüber, wer ihm gegenüber für die Einhaltung seiner gesetzlichen Rechte verantwortlich ist. 241

Ebd., § 4 Rn. 19. Siehe hierzu BAG, Urt. v. 12.1.2005 – 5 AZR 617/01, NZA 2005, 627. 243 MüKoBGB/Habersack, BGB, § 773 Rn. 5 m. w. N. 244 Ausführlich Müller, Das Heuerverhältnis, S. 243. 245 BNPM/Noltin, § 4 Rn. 21. Eine Übersicht der in der Seeschifffahrt gültigen Tarifverträge findet sich bei Lindemann, Vorbem. Abschn. 3 Rn. 13. 246 BNPM/Noltin, ebd. 247 A. A. Lindemann, § 4 Rn. 10. 242

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Dadurch, dass qua Definition der „Reeder“ im Sinne der MLC stets dem „Unternehmen“ im Sinne des ISM-Codes entspricht, kommt es hinsichtlich der Verantwortlichkeiten für die Arbeits- und Lebensbedingungen, die Schiffssicherheit und den Meeresumweltschutz zu einem Gleichlauf. Die Hafenstaatkontrolle, die die Einhaltung beider Instrumente kontrolliert, wird hierdurch vereinfacht.248 Die Verantwortung für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmitglieder liegt nunmehr in der Hand derjenigen Person oder Organisation, die die Sanktionen der Hafenstaatkontrolle am meisten zu befürchten hat. Die Einhaltung der MLC wird damit für den Reeder zur wirtschaftlichen Notwendigkeit. Das Prinzip der Verantwortungszuweisung an den Reeder ist begrüßenswert. Wichtige Fragen werden jedoch nicht beantwortet. In welchem rechtlichen Verhältnis stehen Besatzungsmitglied und Reeder zueinander, wenn das Besatzungsmitglied einen anderen Arbeitgeber hat? Ist der Reeder oder der Vertragsarbeitgeber vorrangig in Anspruch zu nehmen? Welche Rolle spielt der Reeder beim Vertragsschluss zwischen Vertragsarbeitgeber und Besatzungsmitglied? Erst der Blick auf die Entstehungsdokumente der MLC liefert Antworten: Die MLC will die Verantwortlichkeit für die Arbeits- und Lebensbedingungen in der Person des Reeders bündeln und verpflichtet Reeder und Besatzungsmitglied zum Vertragsschluss. Gleichzeitig erkennt sie an, dass der Reeder nicht Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein muss. Daraus folgt, dass jedes Tätigwerden an Bord einen Vertragsschluss mit dem Reeder voraussetzt, in dem der Reeder die Übernahme der Verantwortung für die Einhaltung der Vorschriften der MLC garantiert. Nicht vorausgesetzt ist hingegen der Abschluss eines Arbeitsvertrags. Eine Verantwortungsreihenfolge in dem Sinne, dass Reeder oder Vertragsarbeitgeber vorrangig für die Einhaltung der MLC verantwortlich sind, sieht das Übereinkommen nicht vor. Auch der deutsche Gesetzgeber stellt den Rechtsanwender vor einige Herausforderungen. Obgleich er die Arbeitgeberstellung von der Reederstellung lösen will, verwendet er den Begriff des Reeders synonym für „Arbeitgeber“. Erst ein ausführlicher Blick in die Gesetzesbegründung und auf die Systematik des Gesetzes schafft hier Klarheit: In Umsetzung der Norm A2.1 Abs. 1 lit. a) sieht auch das Seearbeitsgesetz vor, dass der Reeder bei jedem Heuervertragsschluss zwischen Fremdarbeitnehmer und anderem Arbeitgeber i. S. d. § 4 Abs. 2 eine Einstandszusage hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die Mindestarbeitsbedingungen abgibt. Diese Einstandspflicht – auch dies zeigt erst die Gesetzesbegründung – setzt jedoch voraus, dass das Besatzungsmitglied seinen Anspruch vorher beim Vertragsarbeitgeber geltend gemacht hat. Damit handelt es sich bei der Reederhaftung um eine vertraglich begründete Garantiehaftung, die greift, wenn der Vertragsarbeitgeber die Einhaltung der Mindestschutzvorschriften ablehnt.249 248

Ausführlich: Bubenzer, Schiff & Hafen 2014, 75. Müller, Das Heuerverhältnis, S. 190, kommt über die Figur das „partiellen Arbeitgebers“ zu vergleichbaren Ergebnissen. Richtigerweise muss die Frage nach der Arbeitgeberstellung des Reeders gegenüber dem Fremdarbeitnehmer inbesondere mit Blick auf das na249

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Trotz der verbleibenden Unklarheiten ist die klare Verantwortungszuweisung an den Reeder ein bedeutender Fortschritt. Sie wird als „Herzstück der MLC“250 bezeichnet, da sie im internationalen Schiffsverkehr einen zentralen Missstand beseitigt: die Ungewissheit darüber, wer für Mindeststandards einzustehen hat. Dies ist mit dem Reeder derjenige, der die Arbeits- und Lebensraumgemeinschaft „Schiff“ eröffnet und – dies ist von großer Bedeutung251 – der auch durch die Hafenstaatkontrolle sanktioniert werden kann. Diese Möglichkeit der Sanktionierung könnte ein tragender Grund dafür werden, dass Reeder ihre – in früherer Zeit bereits aus ideellen, paternalistischen Gründen empfundene – Verantwortung für die Arbeitsund Lebensbedingungen der Seeleute wieder als eine eigene, originäre Aufgabe betrachten bzw. betrachten müssen. Eine „Flucht aus der Verantwortung“ ist dem Reeder nun jedenfalls nicht mehr möglich.

C. Vertragsschluss I. Einleitung, MLC Regel 2.1 der MLC enthält Vorschriften über Abschluss und Mindestinhalt der Beschäftigungsverträge der Seeleute. Sie will sicherstellen, dass Seeleute einen angemessenen Beschäftigungsvertrag haben. Die Angemessenheit ist in einem formellen, nicht in einem materiell-inhaltlichen Sinne zu verstehen. Geregelt wird nicht die Angemessenheit des Vertragsinhalts, sondern die Angemessenheit des Vertragsschlusses als äußerer Vorgang. Diese ist nur dann gegeben, wenn der Vertrag derart abgefasst ist, dass sich die Seeleute über die Vertragsbedingungen informieren, diese prüfen und über die Annahme des Vertrags frei entscheiden können, vgl. Regel 2.1 Abs. 1, 2. Die herausragende Bedeutung eines unerzwungenen und wohl überdachten Vertragsschlusses hat der Gesetzgeber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt.252 Dass das Problem des unter Zwang zustande gekommenen Heuerverhältnisses keine rein historische Problematik ist, zeigte der JMC-Report der ILO.253 „Desperate owners find desperate crews“, so beschrieb der Report die Situation auf dem ostasiatischen Arbeitsmarkt, auf dem Bemannungsagenturen, die bewusst internationale Vorschriften missachten, auf ein Überangebot an arbeitslosen Seeleuten treffen und diese zu niedrigen Löhnen und ohne Ansehung ihrer Qualifikation einstellen.254 Der Zusammenhang zwischen einem wohl informierten Vertragsschluss und der Einhaltung der Arbeitsschutzstandards auf dem Schiff ist ohne tionale arbeits- und sozialrechtliche Haftungsregime klar beantwortet werden, vgl. hierzu ebd., S. 190 ff. 250 McConnell/Devlin/Doubia-Henry, The MLC 2006, S. 291. 251 Dies heben auch McConnell/Devlin/Doubia-Henry, ebd., hervor. 252 Siehe oben unter § 2 H. II. 5. 253 Zu diesem, siehe ausführlich oben unter § 3 B. I. 254 JMC-Report, S. 44 ff.

C. Vertragsschluss

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Weiteres ersichtlich. Nur das hinreichend über seine Arbeitsbedingungen informierte Besatzungsmitglied kann seine Rechte beim Arbeitgeber geltend machen. Ferner ermöglicht die transparente Darstellung der Vertragsbedingungen es dem Besatzungsmitglied, sich bei Missachtung seiner Rechte im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens an dritte Stellen zu wenden und gegebenenfalls Maßnahmen der Hafenstaatkontrolle auszulösen.255 Dass die Besatzungsmitglieder durch die transparente Abfassung ihrer Rechte in den Stand gesetzt werden, sich über ihre Arbeitsbedingungen zu informieren und hierdurch Hüter ihrer eigenen Rechte werden, ist ein integraler Teil des durch die MLC geschaffenen Kontrollsystems.256

II. Seearbeitsgesetz 1. Einleitung Der Vertragsschluss im Seearbeitsverhältnis erfährt durch das Seearbeitsgesetz eine grundlegende Neuregelung. Unter Geltung des Seemannsgesetzes war die Dokumentation des Vertragsschlusses durch ein schriftliches Vertragsdokument nicht erforderlich. So forderte § 24 Abs. 1 des Seemannsgesetzes lediglich die Unterschrift des Reeders auf einem Dokument, welches den wesentlichen Inhalt des Heuerverhältnisses beinhaltete, den sog. Heuerschein. Der Heuerschein war, parallel zu § 2 Abs. 1 NachweisG, dem Besatzungsmitglied spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn des Heuerverhältnisses auszuhändigen. Dies bedeutete, dass das Besatzungsmitglied sich – im wahrsten Sinne des Wortes – bereits am anderen Ende der Welt befinden konnte, bevor es zum ersten Mal die Bedingungen seiner Beschäftigung „schwarz auf weiß“ nachvollziehen konnte. Eine Prüfung seiner Vertragsbedingungen vor der ersten Schiffsreise war ihm damit nicht möglich. Das Fehlen jeglichen Übereilungsschutzes und jeglicher Dokumentationspflichten bei Heuervertragsschluss im Seemannsgesetz verwundert vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit unter Ausnutzung von Zwangslagen zustande gekommenen Heuerverhältnissen.257 Ein weiteres Problem lag darin, dass das Seemannsgesetz noch vom Gleichlauf von Reeder- und Arbeitgeberstellung ausging. Die sich in der Praxis immer weiter verbreitende Auslagerung der Bereederungsaufgaben, unter anderem auch der Bemannung des Schiffes, führte zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten über die Frage, wer der Vertragsarbeitgeber des Besatzungsmitglieds war.258 So entstand eine umfas-

255

Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. II. 3. Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. I. 257 Siehe hierzu oben unter § 2 H. II. 5. b). 258 Vgl. beispielsweise BAG, Urt. v. 21.12.1972 – 5 AZR 310/72, AP SeemG § 24 Nr. 1 zur Unterschrift einer Partenreederei „im Auftrage der Reederei als Agent“ auf dem Heuerschein. Dem klagenden Kapitän habe „nicht verborgen bleiben“ können, dass er auf Schiffen von 256

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

sende Judikatur zu der Frage, ob und unter welchen Umständen ein als solcher bezeichneter „Agent“, insbesondere beim Abschluss von Arbeitsverhältnissen mit ausländischen Besatzungsmitgliedern, als Arbeitgeber des Besatzungsmitgliedsinfrage infrage kam.259 Diesen Unsicherheiten wirkt das Seearbeitsgesetz entgegen. Nach § 28 Abs. 1 S. 1 SeeArbG darf ein Reeder ein Besatzungsmitglied nur beschäftigen, wenn es bei Dienstantritt über einen Heuervertrag verfügt.260 In Abweichung zu § 126 Abs. 2 S. 2 BGB müssen über den Heuervertrag zwei gleichlautende Urkunden aufgenommen werden, von denen beide Vertragsparteien jeweils ein Exemplar erhalten, § 28 Abs. 1 S. 4. Der Reeder muss dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vor dem beabsichtigten Vertragsschluss den Vertragsentwurf übermitteln (siehe hierzu 2.). In diesen Heuervertrag sind die wesentlichen Inhalte des Heuerverhältnisses aufzunehmen (siehe hierzu 3.). Schließlich stellt der Gesetzgeber sicher, dass sich das Besatzungsmitglied nicht nur bei Vertragsschluss, sondern auch während seines Borddienstes umfassend über seine Arbeitsbedingungen informieren kann (siehe hierzu 4.). 2. Vorvertragliche Übermittlungspflicht Nach § 28 Abs. 1 S. 2 hat der Reeder dem Besatzungsmitglied rechtzeitig vor dem beabsichtigten Vertragsabschluss einen Vertragsentwurf, einschließlich der geltenden Kollektivvereinbarungen, auszuhändigen oder zu übermitteln. Diese Formvorschrift soll nach der Gesetzesbegründung dem Übereilungsschutz des Besatzungsmitglieds sowie dem Klarheits- und Beweissicherungsinteresse beider Parteien dienen.261 Während das Beweissicherungsinteresse des Besatzungsmitglieds sich nicht von dem eines Landarbeitnehmers unterscheidet, ist ein besonderer Übereilungsschutz aufgrund der Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses angezeigt. Dem Besatzungsmitglied soll Gelegenheit gegeben werden, den Inhalt des Vertrages zu prüfen und gegebenenfalls bei Dritten Rat einzuholen.262 Sobald das Besatzungsmitglied den Schiffsdienst aufgenommen hat, ist eine solche Kontrolle aufgrund der örtlichen Abwesenheit und der eingeschränkten Möglichkeit der Zuhilfenahme Dritter nicht mehr möglich.263

Partenreedereien eingesetzt werden sollte. Damit habe er wissen müssen, dass er nur bei einem Arbeitgeber angestellt sein konnte, in dessen Eigentum das Schiff steht. 259 Siehe die ausführlichen Nachweise bei Lindemann, Abschn. 3 Vorbem. Rn. 71. 260 Zu der Frage, mit wem dieser Heuervertrag abgeschlossen werden muss und welches Rechtsverhältnis das Besatzungsmitglied mit dem Reeder eingeht, wenn dieser nicht sein Vertragsarbeitgeber ist, siehe oben unter § 4 B. II. 3. 261 BT-Drucks. 17/10959, S. 73 f. 262 BT-Drucks. 17/10959, S. 73. 263 Lindemann, § 28 Rn. 6.

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Vor dem Hintergrund dieses gesteigerten Schutzbedürfnisses ist der Begriff der Rechtzeitigkeit nach § 28 Abs. 1 S. 3 zu klären. Das Gesetz sieht hier keine starre Frist vor. Weder die MLC noch das Seearbeitsgesetz weisen es als Sinn und Zweck des Übermittlungserfordernisses aus, dass sich das Besatzungsmitglied die Eingehung des Heuerverhältnisses überlegen soll. Es soll lediglich davor geschützt werden, ein Heuerverhältnis in Unkenntnis dessen Inhalts einzugehen.264 Die Vorschrift schützt vor einem unter Willens- und Kenntnismängeln getroffenen Vertragsschluss, nicht vor einer raschen Entscheidung über die vollumfänglich bekannten Rechte und Pflichten aus dem Heuerverhältnis. Eine andere Betrachtung wäre bereits aus Angleichungsgesichtspunkten eine unzulässige Privilegierung des Besatzungsmitglieds gegenüber dem Landarbeitnehmer. Der Übereilungsschutz des § 28 Abs. 1 S. 3 ist damit eine reine Prüfungs- und Kenntnisnahmefrist, keine Überlegungsfrist. Die Länge der Frist muss daher so bemessen sein, dass das Besatzungsmitglied Schritte unternehmen kann, die ihm eine vollständige Kenntnis der durch den Heuervertrag eingegangenen Verpflichtungen ermöglicht. Wie lange diese Schritte dauern, ist abhängig von der Berufserfahrung des Besatzungsmitglieds, von etwaigen Vorbeschäftigungszeiten bei demselben Arbeitgeber sowie von seiner Möglichkeit, zeitnah Rechtsrat einzuholen. Gleichzeitig dürfen die Anforderungen an die Übermittlungsfrist nicht überspannt werden. Es ist im Interesse beider Vertragsparteien, eine Entscheidung über die Beschäftigung des Besatzungsmitglieds rasch und ohne unnötige Verzögerung treffen zu können. Bei einem deutschen Staatsangehörigen, der seinen Heuervertrag in Deutschland abschließt, wird man eine Vorlaufzeit von einer Woche als ausreichend ansehen können. Gleiches gilt bei einem ausländischen Besatzungsmitglied, wenn dessen Herkunftsstaat über geeignete Stellen verfügt, die unabhängigen Rechtsrat gewähren können. Ist das Besatzungsmitglied mit den Heuerbedingungen bereits vertraut, etwa im Fall einer bloßen Verlängerung des Heuerverhältnisses beim aktuellen Arbeitgeber, kann auch eine Unterzeichnung unmittelbar vor Dienstantritt erfolgen.265 Noltins Vorschlag, nach dem Rechtsgedanken des § 355 BGB eine absolute Obergrenze von zwei Wochen festzulegen,266 ist abzulehnen. Zum einen spricht die offene Formulierung des § 28 Abs. 1 S. 3 gegen eine absolute Obergrenze. Zum anderen ist die Eingehung eines Arbeitsverhältnisses, insbesondere auf einem Schiff, von vornherein nicht vergleichbar mit der Eingehung einer kaufvertraglichen Verpflichtung. Zwar schützen beide Vorschriften den freien Willensentschluss. Während § 355 BGB aber vor allem den Schutz eines Verbrauchers bezweckt, der möglicherweise psychisch unter Druck steht oder einem Überraschungsmoment ausgesetzt ist,267 will § 28 Abs. 1 zuvorderst verhindern, dass 264 Anders insoweit Müller, Das Heuerverhältnis, S. 131, die von einer „warming-up-period“ spricht. Dass die Übermittlungspflicht darin begründet sein soll, das Besatzungsmitglied für das Heuerverhältnis zu „erwärmen“, ist allerdings aus den Entstehungsmaterialien zu MLC und SeeArbG nicht ersichtlich. 265 BNPM/Noltin, § 28 Rn. 6. 266 Ebd.; Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 28 Rn. 4. 267 Vgl. den 23. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/83/EG.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

sich das Besatzungsmitglied verpflichtet, ohne die Inhalte seiner Verpflichtung zu kennen. Richtig ist indes, dass eine Übermittlungsfrist von zwei Wochen in aller Regel ausreichend ist. 3. Inhalte des Heuervertrags Die in § 28 Abs. 2 aufgeführten, zwingend aufzunehmenden Vertragsinhalte des Heuerverhältnisses entsprechen inhaltlich den Vorgaben der Norm A2.1 Abs. 4. Nicht auf Vorgabe der MLC beruht die Aufnahme des Schiffs der Dienstleistung oder des Fahrtgebiets und der Arbeitszeit des Besatzungsmitglieds in den Heuervertrag. Folgende Angaben sind in der Praxis von besonderer Bedeutung: a) Angaben zu Reeder und Arbeitgeber Es sind sowohl Name und Anschrift des Reeders als auch – sofern vorhanden – des Vertragsarbeitgebers aufzunehmen. Das Besatzungsmitglied erkennt sofort, welche Person oder Organisation sein Vertragspartner ist und gegebenenfalls, welche Person oder Organisation neben dem Vertragspartner für die Einhaltung der seearbeitsrechtlichen Vorschriften einsteht. Reeder und Vertragsarbeitgeber müssen in ihrer jeweiligen Rolle erkennbar sein.268 Die so geschaffene Transparenz sichert die Verantwortungszuweisung des § 4 Abs. 2 ab. Die ausführliche Judikatur zur Frage, wer bei Einschaltung von Heueragenten oder Bemannungsagenturen Vertragspartner des Besatzungsmitglieds ist, damit damit hinfällig.269 b) Angaben zum Schiff der Dienstleistung Neben der Beschreibung der zu leistenden Dienste ist auch eine etwaige Beschränkung der Dienstpflicht auf bestimmte Schiffe oder Fahrtgebiete in den Heuervertrag aufzunehmen, § 28 Abs. 2 Nr. 3. Anders als das Seemannsgesetz geht das Seearbeitsgesetz davon aus, dass eine Einschränkung der Dienstpflicht auf bestimmte Schiffe oder Fahrtgebiete im Regelfall nicht erfolgt. Der Verzicht auf die Einschränkung des Fahrtgebiets hängt mit der Änderung der Zertifizierungspraxis für die Qualifikation von Seeleuten zusammen. Diese sah vor Einführung des STCWÜbereinkommens der IMO eine Vielzahl von Schiffsoffizierspatenten vor, die sich nach Schiffsgröße und Fahrtgebiet richteten. Die Unterscheidung zwischen Küstenfahrt, kleiner Fahrt, mittlerer Fahrt und großer Fahrt wurde mit Einführung der Zertifizierungen nach dem STCW-Übereinkommen aufgehoben. Fortan unterschied die Schiffsoffiziersausbildungsverordnung nur zwischen nationaler und internatio-

268 269

BNPM/Noltin, § 28 Rn. 13. Siehe hierzu oben unter § 4 C. II. 1.

C. Vertragsschluss

173

naler Fahrt sowie zwischen einer Schiffsgröße über oder unter einer Bruttoraumzahl von 500.270 Ferner sahen die Heuerverträge von Schiffsleuten i. S. d. § 6 SeemG regelmäßig die Dienstleistungspflicht nur auf einem bestimmten Schiff vor, während die Dienstleistungspflicht von Schiffsoffizieren, Kapitänen und sonstigen Angestellten sich auf sämtliche Schiffe eines Reeders bezog.271 Dem lag die – historisch gewachsene und nunmehr überkommene – Vorstellung zugrunde, dass Schiffsoffiziere oder sonstige Angestellte über eine enge Verbindung zum Reeder verfügen, während einfache Schiffsleute nur eine vorübergehende heuervertragliche Verbindung anstreben.272 Die Beschränkung der Dienstpflicht auf ein Schiff hatte den bedeutenden Nachteil, dass der Reeder nur schwer auf – etwa krankheits- oder urlaubsbedingte – personelle Engpässe reagieren konnte. Ein Bordarbeitsplatz kann nicht unbesetzt bleiben, da das Schiff sonst nicht im Einklang mit den öffentlich-rechtlichen Besetzungs- und Bemannungsvorschriften besetzt ist.273 Ohne die Flexibilisierungsmöglichkeit der Umsetzung von Besatzungsmitgliedern war der Reeder gezwungen, Personalreserven auf den Schiffen vorzuhalten. Hierauf reagierten die Tarifparteien mit einer tariflichen Regelung, nach der die Beschäftigten auf jedem Schiff des Reeders zur Dienstleistung verpflichtet sind.274 Von dieser Praxis geht nun auch § 28 Abs. 2 Nr. 3 aus, der bestimmt, dass eine Beschränkung der Dienstpflicht in den Heuervertrag aufzunehmen ist, sofern sie vorgesehen ist. Eine solche, die Dienstleistungspflicht auf bestimmte Schiffe oder Fahrtgebiete beschränkende, Vereinbarung ist mithin nicht mehr der Regel-, sondern der Ausnahmefall. Sofern nicht etwas Abweichendes geregelt ist, besteht die Dienstleistungspflicht des Besatzungsmitglieds auf allen Schiffen des Reeders in weltweiter Fahrt.275 c) Angaben zur Dauer des Heuerverhältnisses Nach § 28 Abs. 2 Nr. 5 ist bei einem befristeten Heuerverhältnis die vorgesehene Dauer des Heuerverhältnisses anzugeben. Hierdurch wird zugleich dem Schriftformerfordernis für die Befristung des Arbeitsvertrags nach § 14 Abs. 4 TzBfG entsprochen.276 Durch die Geltung des TzBfG führt die zwingende Aufnahme eines bestimmten oder zumindest – im Falle der Beschäftigung für eine Reise – bestimmbaren Endes des Heuervertrags nicht zu einer Änderung der Rechtslage. Im 270

Vgl. § 3 der Schiffsoffiziers-Ausbildungsverordnung vom 15. Januar 1992 (BGBl. I, S. 227). Diese wurde nunmehr ersetzt durch die Verordnung über die Befähigungen der Seeleute in der Seeschifffahrt – Seeleute-Befähigungsverordnung vom 8. Mai 2014 (BGBl. I, S. 460), siehe hier §§ 28 ff. 271 § 27 SeemG. 272 Lindemann, § 28 Rn. 49. 273 Ebd., § 28 Rn. 51. 274 § 6 Abs. 4 MTV-See. 275 So auch BNPM/Noltin, § 28 Rn. 15. 276 Lindemann, § 28 Rn. 15.

174

§ 4 Das Seearbeitsgesetz

internationalen Schiffsverkehr war vor Inkrafttreten der MLC die Verwendung von Klauseln mit sog. „owner’s options“ ein beliebtes Flexibilisierungsinstrument.277 So sahen Befristungen oft vor, dass Verträge mit einer „+/- 1 month owner’s option“ durch Gestaltungserklärung einseitig vom Arbeitgeber oder Reeder verlängert werden konnten.278 Solche Klauseln verstoßen nunmehr nicht nur gegen das deutsche Befristungsrecht, sondern auch gegen die Vorgabe der MLC. Nach Norm A2.1 Abs. 4 lit. g) ist das genaue Enddatum in den Heuervertrag aufzunehmen, wenn der Vertrag auf bestimmte Zeit und nicht nur für eine Reise abgeschlossen ist. 4. Informationspflichten nach § 29 Während § 28 detailliert den Vertragsschluss regelt und dem besonderen Informationsinteresse des Besatzungsmitglieds bei Vertragsschluss Rechnung trägt, „verlängert“ § 29 die Informationspflicht des Reeders auf die Zeit während des Dienstes an Bord. So sind, im Einklang mit den Vorgaben der MLC,279 sämtliche das Arbeitsverhältnis bestimmende (Kollektiv-)Verträge und Gesetze an Bord mitzuführen, § 29 Abs. 1, 2.280 Ebenfalls mitzuführen sind die aufgrund der Verordnungsermächtigungen des Seearbeitsgesetzes erlassenen Rechtsverordnungen. Der Informationspflicht wird dadurch genügt, dass die Dokumente in elektronischer Form abrufbar sind, etwa durch Speicherung im Bordcomputer.281 § 29 Abs. 1, 2 verpflichtet den Reeder lediglich dazu, dem Besatzungsmitglied den Zugang zu den genannten Informationen zu ermöglichen. Eine Pflicht, das Besatzungsmitglied aktiv zu informieren, besteht nicht.282 Um die Überprüfung der Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Hafenstaatkontrollen zu erleichtern, ordnet § 29 Abs. 3 an, dass die in Abs. 1 und 2 genannten Dokumente auch in englischer Übersetzung an Bord mitzuführen sind.283 Die Pflicht zur Mitführung der Vertragsdokumente stellt eine kleine, aber wichtigte Angleichungskorrektur des Gesetzgebers dar. Das Besatzungsmitglied soll seine Arbeitsvertragsdokumente an seinem Lebensmittelpunkt zur Verfügung haben, wie dies ein jeder Landarbeitnehmer auch hat.

277

Bubenzer, Schiff & Hafen 2014 Nr. 3, S. 74. Ebd. 279 Norm A2.1 Abs. 1 lit. d), Abs. 2, Norm A5.1.1 Abs. 2. 280 Seit dem Ersten Gesetz zur Änderung des Seearbeitsgesetzes vom 22. Dezember 2015 (BGBl. I, S. 2596) ist nunmehr auch eine Kopie der zur Durchsetzung der MLC geschlossenen Sozialvereinbarung zwischen dem Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (ECSA) und der Europäischen Transportarbeiter-Förderation (ETF) vom 19. Mai 2008 mitzuführen, § 29 Abs. 1 S. 2 a. E. Zu den Änderungen im Ganzen, vgl. Noltin, RdTW 2017, 1, 2 ff. 281 BT-Drucks. 17/10959, S. 75. 282 BNPM/Noltin, § 29 Rn. 2. 283 BT-Drucks. 17/10959, S. 75; Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 29 Rn. 5. 278

C. Vertragsschluss

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III. Zusammenfassung und Bewertung Die Vertragsunterschrift des Besatzungsmitglieds unter Ausnutzung einer wirtschaftlichen Notlage ist in Deutschland ein dunkles Kapitel der Rechtsgeschichte, in anderen Teilen der Welt war diese Praxis noch unmittelbar vor der Geltung der MLC Realität. Gerade der ostasiatische Arbeitsmarkt war noch zu Beginn des Jahrtausends geprägt von einem Überangebot an niedrigqualifizierten Arbeitnehmern. Dies wussten Arbeitsvermittler und Reeder für sich auszunutzen. Hatte das Problem der Erzwingung des Vertragsschlusses bereits unter Geltung des Seemannsgesetzes keine Aktualität mehr, so war das Seemannsgesetz in der Frage der Transparenz des Vertragsschlusses rückständig. Ein Besatzungsmitglied konnte sich – im wahrsten Sinne des Wortes – am Ende der Welt befinden, bevor es die Bedingungen seiner Anstellung schriftlich dokumentiert vor sich hatte. Zudem war es für das Besatzungsmitglied oft unklar, wer für die Einhaltung seiner vertraglichen und gesetzlichen Rechte die Verantwortung trug. Durch die transparente Darstellung seiner Arbeitsbedingungen im Heuervertrag wird das Besatzungsmitglied in den Stand versetzt, über die Einhaltung seiner Rechte zu wachen und diese, gegebenenfalls mit Hilfe der Hafenstaatkontrolle, gegenüber dem Reeder und Vertragsarbeitgeber durchzusetzen. Diese „Selbstbefähigung durch Transparenz“ ist ein entscheidender Baustein in der Kontrollarchitektur, die durch die MLC eingeführt wird.284 Um eine ausreichende Information des Besatzungsmitglieds über seine Vertragsbedingungen zu gewährleisten, ist der Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds verpflichtet, dem Besatzungsmitglied einen Entwurf des Heuervertrags „rechtzeitig“ zu übermitteln. Genauere Anforderungen an die Rechtzeitigkeit stellt das Gesetz nicht. Da es sich bei der Übermittlungsfrist des § 28 Abs. 1 S. 3 nicht um eine Überlegungs-, sondern um eine Prüfungsfrist handelt, ist die Übermittlung des Vertrags eine Woche vor Vertragsschluss in aller Regel ausreichend. Die Vorschriften zum Vertragsschluss werden abgerundet durch Verpflichtung des Reeders, dem Besatzungsmitglied auch während des Borddienstes eine umfassende Information über seine Vertragsbedingungen zu ermöglichen. Durch die Verpflichtung, die Rechtsquellen des Arbeitsverhältnisses auch in englischer Sprache an Bord mitzuführen, wird es der Hafenstaatkontrolle ermöglicht, die Arbeits- und Lebensbedingungen auch auf solchen Schiffen, die kein Seearbeitszeugnis oder keine Seearbeits-Konformitätserklärung führen,285 effektiv zu kontrollieren. Mit Blick auf die vom Gesetzgeber beabsichtigte Angleichung an das Landarbeitsverhältnis stellen die Vorschriften der §§ 28 ff. eine wichtige Angleichungskorrektur dar, die der erschwerten Möglichkeit, sich nach Arbeitsaufnahme Rechtsrat einzuholen, Rechnung trägt.

284 285

Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV. 2.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

D. Dienst- und Folgeleistungspflichten, Heuerzahlung I. Einleitung Das Schiff ist für das Besatzungsmitglied auf See wie auch im Hafen nicht nur Arbeitsstätte, sondern auch Wohn- und Lebensmittelpunkt. Daraus folgt, dass der Gesetzgeber nicht nur das Arbeitsverhalten des Besatzungsmitglieds regeln muss. Vielmehr besteht auch das Bedürfnis, das Verhalten außerhalb der Arbeitszeit zu normieren. Besatzungsmitglieder müssen insbesondere in Not- und Gefahrensituationen, seien sie durch äußere Umstände (etwa: Unwetter, Defekt des Schiffes) oder durch innere Umstände (etwa: schweres Fehlverhalten eines Besatzungsmitglieds) verursacht, Maßnahmen treffen können, um Gefahren zu begegnen. Hierfür stehen an Land die schützenden Institutionen der Staatsgewalt bereit, insbesondere solche, die das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen. Auf See muss der Gesetzgeber bestimmte Personen an Bord in die Lage versetzen, die Aufgaben dieser schützenden Institutionen wahrzunehmen. Regelungen, die das Arbeitsverhalten des Besatzungsmitglieds betreffen, müssen sicherstellen, dass der Schiffsbetrieb reibungslos ablaufen kann. Insbesondere ist zu regeln, wem die Führung Schiffes obliegt und welche Mittel dem mit der Schiffsführung betrauten Besatzungsmitglied zur Verfügung stehen, um den Schiffsbetrieb aufrecht zu halten. Regelungsziel der das Arbeitsverhalten regelnden Vorschriften ist damit die Aufrechterhaltung des Schiffsbetriebs in arbeitsorganisatorischer Hinsicht. Regelungen, die das Freizeitund Lebensverhalten insgesamt betreffen, müssen sicherstellen, dass sämtliche Befugnisse, die an Land von der Staatsgewalt ausgeübt werden können, auch an Bord des Schiffes einer Person zugeordnet werden. Regelungsziel ist hier die Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung innerhalb der Lebens- und Gefahrengemeinschaft Schiff. Während die Dienstleistungspflicht also allein in der vertraglich übernommenen Verpflichtung begründet ist, wurzelt die Folgeleistungspflicht in der Teilnahme an der Gefahrengemeinschaft und der notwendigen Unterordnung unter eine öffentlich-rechtliche Anordnungsbefugnis. Die sich somit ergebende Unterscheidung von Arbeits- und Ordnungsverhalten kannten seearbeitsrechtliche Kodifikationen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht. Nach der Seemannsordnung von 1902 war der Kapitän der Inhaber der Schiffsgewalt, die die amtliche Begründung definierte als „Inbegriff aller derjenigen Befugnisse privat- und öffentlich-rechtlicher Natur, welche mit Rücksicht auf die Loslösung des Schiffes von dem heimatlichen Territorium in der Hand des Schiffsführers vereinigt sein müssen.“286 Entsprechend verpflichtete die Seemannsordnung von 1902 den Schiffsmann dazu, „den Anordnungen des Kapitäns, der Schiffsoffiziere und seiner sonstigen Dienstvorgesetzten unweigerlichen Gehorsam zu leisten.“ Dies galt sowohl an Bord des Schiffes als auch an Land.287 Selbst die Verweigerung einer 286 Amtl. Begründung zu § 3 SeemO 1902, abgedruckt bei Loewe, Die Seemannsordnung 1902, S. 11. Zum heutigen Verständnis des Begriffs vgl. Ehlers, RdTW 2017, 361 f. 287 § 34 SeemO 1902.

D. Dienst- und Folgeleistungspflichten, Heuerzahlung

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heuervertraglich nicht geschuldeten Dienstleistung war strafbewehrt.288 Erst das Seemannsgesetz trennte scharf zwischen einer arbeitsrechtlichen Dienstleistungspflicht und einer öffentlich-rechtlichen Folgeleistungspflicht.289 Auch das Seearbeitsgesetz nimmt diese Trennung vor.290 Nach § 32 hat das Besatzungsmitglied die Dienste zu verrichten, zu denen es im Rahmen des Heuerverhältnisses verpflichtet ist. Die folgenden Vorschriften konkretisieren die vertraglich begründete Weisungsbefugnis und die entsprechende Dienstleistungspflicht. Die §§ 120 ff. regeln hingegen das Ordnungsverhalten an Bord. Adressaten dieser Vorschriften sind neben den Besatzungsmitgliedern auch alle anderen an Bord befindlichen Personen, vgl. § 121 Abs. 1. Die Vorschriften regeln Anordnungsbefugnis der Schiffsführung und die entsprechende Folgeleistungspflicht. Vorschriften zu den Haupt- und Nebenleistungspflichten des Besatzungsmitglieds trifft die MLC nicht. Regel 2.4 Abs. 2 schreibt einzig vor, dass Seeleuten im Interesse ihrer Gesundheit und ihres Wohlbefindens entsprechend den betrieblichen Anforderungen ihrer Position Landgang zu gewähren ist. Umstände, in denen zwingend Landgang zu gewähren ist, sieht die MLC nicht vor. Für Heuerzahlung enthält die MLC verbindliche Normen, die aufgrund der bereits durch das Seemannsgesetz vorgesehenen Zahlungs- und Abrechnungsmodalitäten keine inhaltlichen Veränderungen durch das Seearbeitsgesetz erforderlich machen.291

II. Dienstleistungspflicht 1. Dienstleistungspflicht des § 32 § 32 S. 1 sieht deklaratorisch vor, dass das Besatzungsmitglied die Dienste zu verrichten hat, zu denen es im Rahmen des Heuerverhältnisses verpflichtet ist. Sofern S. 2 – der notwendigen Abgrenzung zur öffentlich-rechtlichen Folgeleistungspflicht nicht unbedingt zuträglich – bestimmt, dass das Besatzungsmitglied den Anordnungen des zuständigen Vorgesetzten Folge leistet, ist hierdurch nichts anderes als das allgemeine Direktions- und Weisungsrecht des Arbeitgebers aufgrund des Heuervertrags beschrieben.292 Inhaber des Weisungsrechts gegenüber den Besatzungsmitgliedern mit seemännischen Aufgaben ist der Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1, entweder originär als Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds oder im Wege der Übertragung durch den Vertragsarbeitgeber im Rahmen des Arbeitnehmerüberlassungsvertrags.293 An Bord wird das Direktions- und Weisungsrecht des Reeders 288 § 96 S. 2 Nr. 2 SeemO 1902; ausführlich hierzu Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 33. 289 BT-Drucks. 2/2962, S. 72. 290 BT-Drucks. 17/10959, S. 75. 291 Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 D. IV. 292 Lindemann, § 32 Rn. 2 293 So auch BNPM/Noltin, § 32 Rn. 8 f.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

durch den Kapitän ausgeübt, ohne dass hierdurch das originäre Recht des Reeders beseitigt wird.294 Im laufenden Schiffsbetrieb überträgt der Kapitän das Direktionsrecht auf die jeweils zuständigen Schiffsoffiziere, bleibt aber stets selbst weisungsbefugt.295 Art und Umfang der zu leistenden Dienste ergeben sich beim Besatzungsmitglied mit seemännischen Aufgaben in der Regel aus der Dienstgradbezeichnung, mit dem die seemännische Verkehrsanschauung einen bestimmten Arbeitsbereich verbindet.296 Die seemännische Verkehrsanschauung ist kein unverändert fortbestehender Begriff; sie folgt den sich ändernden Rahmenbedingungen der Schifffahrt.297 Art und Einsatz, insbesondere Einsatzort des Schiffes, sind nach der seemännischen Verkehrsanschauung bei der Frage nach der vertraglich geschuldeten Tätigkeit zu berücksichtigen.298 Von hoher praktischer Bedeutung ist die Frage, ob Arbeiten an der Schiffsladung, wie z. B. das Stauen, Laschen299 und Löschen der Ladung, gewöhnlich vertraglich geschuldet sind. Während diese Aufgaben in früheren Zeiten selbstverständlich zum Pflichtenspektrum der Seeleute gehörten, verneint die heutige Rechtsprechung eine solche Verpflichtung des Besatzungsmitglieds.300 Eine Ausnahme ist dann zu machen, wenn es sich um solche Arbeiten handelt, die mit wenigen, gleichförmigen Handgriffen zu verrichten sind.301 Ebenso wird man Besatzungsmitglieder auch dann zu den genannten Arbeiten verpflichten dürfen, wenn sie nicht oder nur unter erheblicher Verzögerung von Hafenarbeitern durchgeführt werden können, was in der Praxis aber kaum noch der Fall. Bei Besatzungsmitgliedern mit nicht seemännischen Aufgaben ist die jeweilige Verkehrsanschauung einer vergleichbaren Tätigkeit an Land maßgeblich, wobei etwaigen Besonderheiten des Bordbetriebs Rechnung zu tragen ist.302 2. Pflichten zur Gefahrenabwendung § 36 regelt eine besondere Dienstleistungspflicht des Besatzungsmitglieds in Gefahrensituationen.303 Das Besatzungsmitglied hat hiernach jede Anordnung des Kapitäns zu befolgen, die dazu dienen soll, drohende Gefahr für Menschen, Schiff oder Ladung abzuwenden, einen großen Schaden zu vermeiden, schwere Störungen 294

Lindemann, § 32 Rn. 10. Ebd.; BT-Drucks. 17/10959, S. 76. 296 BT-Drucks. 17/10959, S. 75; Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 32 Rn. 1. 297 ArbG Lübeck, Teilurt. v. 12.3.1987 – 1 Ca 245/87, zitiert nach Lindemann, § 32 Rn. 3. 298 Lindemann, § 32 Rn. 3; BNPM/Noltin, § 32 Rn. 4. 299 Laschen ist das Festmachen von Gegenständen mithilfe von Tauwerk. 300 ArbG Lübeck, Teilurt. v. 12.3.1987 – 1 c Ca 245/87, zitiert nach Lindemann, § 32 Rn. 6; siehe hierzu auch BAG, Urt. v. 26.2.1992 – 5 AZR 99/91, AP GesamthafenbetriebsG § 1 Nr.6. 301 ArbG Lübeck, ebd. 302 So auch BNPM/Noltin, § 32 Rn. 5. 303 So wohl auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 224. 295

D. Dienst- und Folgeleistungspflichten, Heuerzahlung

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des Schiffsbetriebs zu verhindern oder öffentlich-rechtliche Vorschriften über die Schiffssicherheit zu erfüllen, § 36 Abs. 1 S. 1. In dringenden Fällen gilt diese Dienstleistungspflicht gegenüber Anordnungen jedes an Ort und Stelle befindlichen Vorgesetzten, § 36 Abs. 1 S. 2. Bei Schiffbruch ist das Besatzungsmitglied zudem verpflichtet, nach Anordnung des Kapitäns nach besten Kräften für die Rettung von Menschen und ihren Sachen sowie für die Sicherstellung der Schiffsteile, der Ausrüstung und der Ladung zu sorgen und bei der Bergung Hilfe zu leisten, § 36 Abs. 4. Die Norm schafft eine besondere Weisungsbefugnis des Kapitäns in solchen Fällen, in denen es zu einer im Landarbeitsverhältnis nicht vorkommenden Gefahr für Schiff und Besatzung kommt. Da es allein die Besonderheiten der seemännischen Tätigkeit rechtfertigen, den Besatzungsmitgliedern die Pflichten nach § 36 aufzuerlegen, ist – wie zu zeigen sein wird304 – § 36 dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass sie für Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben nicht gilt. Das Ausmaß der Gefahrtragungspflicht hängt von dem jeweils zu schützenden Rechtsgut und vom Ausmaß der konkreten Gefahrenlage sowie vom Dienstgrad des Besatzungsmitglieds ab.305 Letzteres ergibt sich aus dem Rechtsgedanken des § 36 Abs. 3, wonach das Besatzungsmitglied bei Seegefahr das Schiff ohne Einwilligung des in der Bordhierarchie am höchsten Stehenden, des Kapitäns, nicht verlassen darf, solange dieser selbst an Bord bleibt.306 Eine Einschränkung dahingehend, dass das Besatzungsmitglied eine Weisung nach § 36 Abs. 1 nicht zu befolgen hat, wenn ihm mit gewisser Wahrscheinlichkeit eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung der Gesundheit droht, ist nicht vorzunehmen.307 Das Gesetz sieht eine solche Einschränkung nicht vor, vielmehr ist die gewisse Wahrscheinlichkeit einer Gesundheitsgefahr einer drohenden Gefahr auf See immanent. § 36 Abs. 3 sieht ausdrücklich eine Anwesenheits- und damit auch eine Dienstleistungspflicht selbst im Falle eines drohenden Schiffbruchs vor. Hierfür spricht auch die Vorschrift des § 36 Abs. 4. Auch bei einem eingetretenen Schiffbruch sind Weisungen zu befolgen, allerdings nicht grundsätzlich, sondern nur „nach besten Kräften“. Bei einem drohenden Schiffbruch bleiben Anwesenheits- und Dienstleistungspflichten damit grundsätzlich voll bestehen. Eine Einschränkung ist erst dort zu machen, wo sich das Besatzungsmitglied sehenden Auges in eine unkontrollierbare Lebensgefahr begeben müsste. Damit ist § 36 die in moderne Gesetzesform gegossene uralte Seemannsregel: „Eine Hand für den Mann, eine Hand für das Schiff“.308 Sie drückt aus, dass das Besatzungsmitglied 304

Siehe hierzu unten unter § 4 D. II. 2. BNPM/Noltin, § 36 Rn. 4. 306 Siehe zur Strafbarkeit des Kapitäns bei vorzeitigem Verlassen des Schiffs Esser/Bettendorf, NStZ 2012, 233. 307 So aber BNPM/Noltin, § 36 Abs. 4. 308 Dieser Spruch ist auch in der modernen Seeschifffahrt noch jedem seemännisch Beschäftigten geläufig, vgl. Kazim, „Eine Hand fürs Schiff, eine Hand für sich selbst“, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/vermisste-gorch-fock-kadettin-eine-hand-fuers-schiff-einehand-fuer-sich-selbst-a-576348.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. 305

180

§ 4 Das Seearbeitsgesetz

dazu verpflichtet ist, auch in höchster Not zur Rettung Anderer verpflichtet ist, sich aber immer auch selbst festhalten und damit an seine eigene Sicherheit denken soll.309 Nach § 36 Abs. 2 gelten die genannten Pflichten des Besatzungsmitglieds auch bei drohender Gefahr für andere Schiffe und Menschen. Die inhaltsgleiche Vorgängervorschrift des § 29 Abs. 3 SeemG wurde von Monnerjahn als systematisch verfehlt kritisiert.310 Die Pflichten des Besatzungsmitglieds seien hier nicht in der Interessengemeinschaft der Bordgemeinschaft begründet. Sie liege vielmehr im Interesse eines unbeteiligten Dritten. Ihr Ursprung sei damit vielmehr in der allgemeinen menschlichen Solidarität zu suchen, die in der Seeschifffahrt aufgrund des trotz aller technischen Fortschritte immer noch bestehenden besonderen Gefahrenmoments noch vorhanden sei. Sie sei damit nicht vertragsrechtlich begründet, sondern allein dem öffentlich-rechtlichen Bereich zuzuweisen und deshalb systematisch besser im Abschnitt über öffentlich-rechtliche Pflichten zu verorten.311 Diese Bedenken gehen fehl. § 36 erweitert die Gefahrengemeinschaft, der das Besatzungsmitglied zum Schutz verpflichtet ist, auf Menschen, die sich an Bord anderer Schiffe befinden. Richtigerweise erkennt Monnerjahn, dass dem Besatzungsmitglied durch die Vorschrift eine besondere Solidaritätspflicht auferlegt wird. Nicht kritikwürdig ist es aber, dass die Ausübung dieser Solidaritätspflicht das heuervertragliche Weisungsrecht berührt und daher auch im Rahmen der heuervertraglichen Verpflichtungen geregelt wird. Denn unabhängig von der Frage, wo – auf welchem Schiff – und gegenüber wem – der eigenen oder einer fremden Bordgemeinschaft – die Solidaritätspflicht besteht, muss das Weisungsrecht und spiegelbildlich die Pflicht zur Erfüllung einer Weisung geregelt werden. Kritikwürdig ist hingegen, dass sich der Solidaritätsgedanke des § 36 nicht auch in den Vorschriften über die Ordnung an Bord wiederfindet. In § 124 ist nur eine Anordnungsbefolgungspflicht für Anordnungen vorgesehen, die dazu dienen, „eine Gefahr für Menschen und für das Schiff abzuwehren.“ Ebenso hat der Kapitän nur eine Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung seiner Anordnungen, wenn „Menschen oder dem Schiff“ eine unmittelbare Gefahr droht, § 121 Abs. 3. Mithin ist die Abwehr einer Gefahr für ein anderes Schiff nicht Gegenstand der Anordnungsbefugnis bzw. der Anordnungsfolgeleistungspflicht nach § 121 Abs. 1, 3, § 124 Abs. 1. Dieser Fehler ist historisch begründet. Das Seemannsgesetz hatte in der Vorschrift des § 29 SeemG zur Dienstleistungspflicht die Vorschrift des § 41 Seemannsordnung 1902312 übernom309 Siehe hierzu auch den Internetauftritt der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), abrufbar unter: https://www.seenotretter.de/aktuelles/neuigkeiten/ansicht/news/eine-hand-fuer-den-mann-ei ne-fuer-das-schiff/, letzter Abruf vom 14.10.2019. 310 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 38. 311 Ausführlich hierzu ebd., S. 38 f. 312 Dieser lautet: „[Der Seemann] bleibt verbunden, bei Schiffbruch für Rettung der Personen und ihrer Sachen sowie für Sicherstellung der Schiffstheile, der Geräthschaften und der Ladung, den Anordnungen des Kapitäns gemäß, nach besten Kräften zu sorgen und bei der Bergung gegen Fortbezug der Heuer und der Verpflegung Hülfe zu leisten.“ Dass diese Vor-

D. Dienst- und Folgeleistungspflichten, Heuerzahlung

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men. Seemannsordnung kannte eine Trennung zwischen privatrechtlicher Dienstleistungspflicht und öffentlich-rechtlicher Folgeleistungspflicht noch nicht.313 Richtigerweise hätte mithin der Gesetzgeber bei Schaffung des Seemannsgesetzes eine dem § 29 Abs. 3 SeemG entsprechende Vorschrift auch im Rahmen der Vorschriften zum Ordnungsverhalten schaffen müssen. Dieser Fehler ist auch durch das Seearbeitsgesetz nicht korrigiert worden. Als Konsequenz dieser fehlenden Kongruenz von arbeitsrechtlicher Dienstpflicht und öffentlich-rechtlicher Folgeleistungspflicht ist das Besatzungsmitglied zwar heuervertraglich zur Rettung eines anderen Schiffes verpflichtet. Der Kapitän kann aber, sofern nicht gleichzeitig die Gefährdung eines Menschen zu besorgen ist, nicht im Rahmen seiner öffentlichrechtlichen Anordnungsbefugnis Rettungsmaßnahmen hinsichtlich eines anderen Schiffes anordnen und mit Zwangsmitteln durchsetzen.314 3. Anwesenheitspflicht, Landgangsanspruch Dem militärischen Geist der seearbeitsrechtlichen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts entsprechend war die Anwesenheit auf dem Schiff eine zentrale Dienstpflicht des Besatzungsmitglieds. So regelte die Seemannsordnung von 1872, dass der Schiffsmann das Schiff ohne Erlaubnis des Schiffers bis zur Abmusterung nicht verlassen dürfe.315 Am Beispiel der Anwesenheitspflicht lässt sich exemplarisch der zurückgehende militärische Charakter des Seearbeitsverhältnisses nachvollziehen. Die Seemannsordnung von 1902 sah vor, dass der Kapitän dem Seemann in dessen dienstfreier Zeit das Verlassen des Schiffes nicht ohne triftige Gründe verweigern durfte.316 Das Seemannsgesetz von 1957 verschaffte dem Seemann bereits einen Anspruch auf Landgang außerhalb der Hafenarbeitszeit. Außerdem war dem Besatzungsmitglied auch dann Landgang zu gewähren, wenn er während der regelmäßigen Hafenarbeitszeit dienstfrei hatte und der Schiffsbetrieb den Landgang zuließ.317 Ferner enthielt das Gesetz erstmals Strafvorschriften für den Kapitän bei Verweigerung des Landgangs.318 1974 wurde die Strafvorschrift des § 114 SeemG gestrichen, die für ein vorsätzliches und eigenmächtiges Verlassen des Schiffes eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr vorgesehen hatte.319

schrift der SeemO 1902 von § 29 SeemG fortgeführt werden sollte, zeigt auch die Gesetzesbegründung zu § 29 SeemG, BT-Drucks. 2/2962, S. 50. 313 Siehe hierzu oben unter § 2 I. III. 314 Zur Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung von Anordnungen nach § 121, siehe unten unter § 4 D. III. 2. 315 § 30 Abs. 3 SeemO 1872. 316 § 34 Abs. 3 SeemO 1902. 317 § 61 Abs. 1, 2 SeemG. 318 § 125 Nr. 5 SeemG; vgl. nunmehr § 145 Abs. 1 Nr. 5 SeeArbG. 319 Gesetz zur Änderung des Heimarbeitsgesetzes und anderer arbeitsrechtlicher Vorschriften vom 29. Oktober 1974 (BGBl. I, 2879).

182

§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Das Seearbeitsgesetz übernimmt inhaltlich die Vorschriften des Seemannsgesetzes. Das Besatzungsmitglied ist im Hafen oder auf der Reede grundsätzlich zur Bordanwesenheit verpflichtet, § 34. Bei der Bordanwesenheitspflicht handelt es sich um eine „hergebrachte Besonderheit des Heuerverhältnisses gegenüber dem Landarbeitsverhältnis“.320 Dem Besatzungsmitglied wird eine Dienstpflicht außerhalb seiner Dienstzeit auferlegt, um seinen Arbeits- und Lebensraum vor äußeren Einflüssen zu schützen. Das liegt daran, dass Schiffsbetrieb und Wachsystem auch während der Hafenliegezeiten regulär weitergehen müssen.321 Hier gehören das Einund Ausklarieren322, die Proviantaufnahme, Ladungsarbeiten und der Austausch mit Hafenstaat- und Reedereivertretern zu den Aufgaben der seemännischen Besatzungsmitglieder.323 Ferner wird durch die Anwesenheitspflicht die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften über eine ordnungsgemäße Schiffsbesetzung sichergestellt.324 Bei Schlechtwetter ist es aus Sicherheitsgründen regelmäßig erforderlich, die gesamte Schiffsbesatzung an Bord zu behalten.325 Aufgrund des Angleichungsgebots ist es zwingend erforderlich, die Anwesenheitspflicht zu begrenzen. Hierzu regelt § 35 den Landgangsanspruch des Besatzungsmitglieds. Während der regelmäßigen Hafenarbeitszeit326 gemäß § 44 Abs. 1 S. 2327 ist dem Besatzungsmitglied in seiner dienstfreien Zeit Landgang zu gewähren, sofern Schiffsbetrieb und Schiffssicherheit dies zulassen, § 35 Abs. 2, 3. Außerhalb der Hafenarbeitszeit können allein Gründe der Schiffssicherheit und die Abfahrt des Schiffes die Versagung des Landgangs rechtfertigen, § 35 Abs. 1, 3. Aufgrund der in der Regel sehr kurzen Hafenaufenthalte von weniger als 24 Stunden und der Vielzahl an Aufgaben, die während der Liegezeit zu erledigen sind, besteht die Möglichkeit zum Landgang in der Praxis oft nur begrenzt. Streng zu unterscheiden ist der Landgangsanspruch vom Urlaubsanspruch. Nach der ausdrücklichen Anordnung des § 57 Abs. 3 Nr. 3 ist der Landgang auf den Urlaubsanspruch nicht anzurechnen. Die teilweise vertretene Auffassung, dies sei darin begründet, dass der Landgangsanspruch vor allem psychische Belastungen ausgleiche, während der Urlaubsanspruch der physischen Entlastung diene,328 greift zu kurz. Die Freistellung zum Zwecke des Urlaubs ist darauf angelegt, erschöpfte Arbeitskraft zu regenerieren und gleichzeitig eine Sphäre der Selbstbestimmung in 320

Lindemann, § 34 Rn. 1. Bubenzer/Peetz/Mallach/Bubenzer, § 34 Rn. 1. 322 Beim Ein- und Ausklarieren wird das Schiff im Einlaufhafen an- und abgemeldet. Bei der Einklarierung müssen unter anderem Informationen über Besatzung, Frachtgut und die vorangegangenen Reisen des Schiffs abgegeben werden. 323 Bubenzer/Peetz/Mallach/Bubenzer, § 34 Rn. 1. 324 BT-Drucks. 17/10959, S. 76. 325 Lindemann, § 35 Rn. 15. 326 Siehe hierzu unten unter § 4 E. II. 2. b). 327 § 44 Abs. 1 S. 2 lautet: „Die Hafenarbeitszeit muss, abgesehen vom Wachdienst, von Montag bis Freitag zwischen 6 und 18 Uhr, am Samstag zwischen 6 und 13 Uhr liegen“. 328 So BMPN/Noltin, § 35 Rn. 2. 321

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persönlicher Freiheit zu ermöglichen.329 Der Urlaub dient mithin gleichermaßen der physischen wie der psychischen Erholung. Der Landgang ist eine Angleichungskorrektur zu der aufgrund der Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses bestehenden Anwesenheitspflicht am Arbeitsplatz. Sie dient also von vornherein nicht der Erholung, sondern dazu, dem Besatzungsmitglied die Entscheidung über seinen Aufenthalt in dienstfreien Phasen, die durch die Anwesenheitspflicht eingeschränkt ist, weitestmöglich zu überlassen. Das Besatzungsmitglied wird so in den Stand versetzt, seine dienstfreie Zeit – wenn immer es möglich ist – so zu verbringen wie der Landarbeitnehmer, nämlich in Selbstbestimmung über ihre örtliche und inhaltliche Gestaltung. 4. Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben Vorschriften über die Dienstleistungspflicht, die Gefahrenabwendungspflicht und Anwesenheitspflicht enthielten bereits die Vorgängervorschriften des Seearbeitsgesetztes.330 Neu ist im Seearbeitsgesetz, dass alle auf dem Schiff tätigen Personen unabhängig von der Art ihrer Tätigkeit und unabhängig von ihrem Arbeitgeber „Besatzungsmitglieder“ i. S. d. § 3 Abs. 1 sind. Das Seemannsgesetz hatte noch unterschieden zwischen Besatzungsmitgliedern, also Personen mit seemännischen Aufgaben, und „sonstigen im Rahmen des Schiffsbetriebs an Bord tätigen Personen“ nach § 7 SeemG.331 Die Anwendbarkeit der Vorschriften des Seemannsgesetzes musste für die letztgenannte Gruppe ausdrücklich angeordnet werden.332 So waren die Vorschriften über die Pflicht zur Befolgung von Anordnungen bei drohender Gefahr für Menschen, Schiff und Ladung333 auch für Personen nach § 7 SeemG anwendbar. Nicht anwendbar waren hingegen die Vorschriften über die Dienstleistungspflicht bei drohender Gefahr für andere Schiffe, die Hilfeleistungspflicht bei Schiffbruch334 und die Vorschriften zu Bordanwesenheitspflicht und Landgang.335 Die Erweiterung des Begriffs „Besatzungsmitglied“ durch das Seearbeitsgesetz hat zur Konsequenz, dass auch Besatzungsmitglieder, die nicht seemännisch tätig sind, nunmehr nicht nur in ihren Rechten den seemännischen Besatzungsmitgliedern gleichgestellt sind, sondern sämtlichen Pflichten der §§ 32 ff. unterliegen. Ausnahmevorschriften für bestimmte Berufsgruppen, wie sie beispielsweise im Rahmen der Arbeitszeitregelungen für das Servicepersonal vorgesehen sind, existieren in den §§ 32 ff. nicht. 329

Rn. 5. 330 331 332 333 334 335

ArbG Berlin, Urt. v. 27.3.2013 – 28 Ca 1960/13, juris; BeckOKArbR/Lampe, BUrlG, § 1 §§ 28 f. SeemG. Siehe hierzu oben unter § 2 I. II. 1. sowie unter § 4 A. II. 3. a). § 79 SeemG. § 29 Abs. 2 SeemG. § 29 Abs. 3, 4 SeemG. §§ 28, 61 SeemG.

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Dies ist in hohem Maße sachwidrig. Die Vorschriften über die arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten sind auf die Besatzungsmitglieder mit seemännischer Tätigkeit, also Besatzungsmitglieder i. S. d. § 3 SeemG, zugeschnitten. Dies ergibt sich aus der erwähnten Tatsache, dass die Anwendung der Vorschriften über das Heuerverhältnis für „sonstige Arbeitnehmer“ i. S. d. § 7 SeemG ausdrücklich angeordnet werden musste. Die Verpflichtung zur Bordanwesenheit und die hiermit im Zusammenhang stehenden Vorschriften über den Landgang bestehen vor dem Hintergrund, dass die Abwesenheit des Besatzungsmitglieds den Schiffsbetrieb oder die Schiffssicherheit beeinträchtigt.336 Eine solche Beeinträchtigung ist aber bei Besatzungsmitgliedern ohne seemännische Aufgaben von vornherein ausgeschlossen. Die Abwesenheit etwa einer auf dem Schiff tätigen Reinigungskraft, eines Kellners oder eines Verkäufers beeinträchtigt Schiffsbetrieb und Schiffssicherheit ebenso wenig wie die Abwesenheit eines Passagiers. Noch deutlicher wird die Problematik bei den besonderen Anwesenheits- und Hilfeleistungspflichten bei Seegefahr und Schiffbruch gem. § 36 Abs. 3, 4. Seemännische Besatzungsmitglieder werden in ihrer Ausbildung für solche Situationen geschult,337 andere Besatzungsmitglieder hingegen nicht. Die neu geschaffenen Vorschriften zur Seediensttauglichkeit, die für alle Besatzungsmitglieder gelten, beziehen sich allein auf die gesundheitliche, nicht aber auf die fachliche Eignung.338 Damit verfügen allein die seemännischen Besatzungsmitglieder über die notwendige Sachkenntnis, der Situation von Seegefahr und Schiffbruch zu begegnen. Ferner sind es nur sie, die an Rollenmanövern und Rettungsübungen teilnehmen. Allein diese Kenntnisse rechtfertigen es, ihnen eine besondere Solidaritätspflicht gegenüber der Bordgemeinschaft aufzuerlegen. Andere Besatzungsmitglieder hingegen stehen einer solchen Notsituation mit derselben Unerfahrenheit gegenüber wie Passagiere und sonstige besatzungsfremde Personen. Der Gesetzgeber zum Seearbeitsgesetz hat an keiner Stelle der amtlichen Begründung erklärt, den Pflichtenkreis der vormals unter § 7 SeemG fallenden Arbeitnehmer in größerem Umfang erweitern zu wollen. Die MLC hat einen weiten Begriff des „Besatzungsmitglieds“ vorgegeben, nicht aber den Inhalt seiner vertraglichen Hauptleistungspflichten. Der deutsche Gesetzgeber hat den neuen Begriff übernommen, ohne die – auf den alten, engeren Begriff des Besatzungsmitglieds zugeschnittenen – Vorschriften zu Anwesenheits- und Hilfeleistungspflichten anzupassen. Damit ist die Anwendung der Vorschriften des zweiten Unterabschnitt des dritten Abschnitts (§§ 34 – 36 SeeArbG) vom Gesetzgeber ersichtlich nicht beabsichtigt. Hätte er die besonderen Anwesenheits- und Hilfeleistungspflichten in den Fällen der Seegefahr und des Schiffbruchs erweitern wollen, hätte er dafür neben der 336

BT-Drucks. 17/10959, S. 76. § 14 der See-Berufsausbildungsverordnung, nach der die Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten nach den Abschn. A-II/4, A-III/4 und A-VI/2 Abs. 1 STCW-Code nachgewiesen werden müssen. 338 §§ 11 ff. SeeArbG. 337

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gesundheitlichen Seediensttauglichkeit auch die fachliche Seediensttauglichkeit zur Voraussetzung einer Tätigkeitsaufnahme an Bord gemacht. Der weitere historische Zusammenhang bestätigt dieses Ergebnis. Die Anwesenheitspflicht des Besatzungsmitglieds hat sich, wie zuvor gezeigt, im letzten Jahrhundert immer weiter zurückentwickelt. Dasselbe gilt für die Hilfeleistungspflichten des Besatzungsmitglieds.339 Diese Pflicht beruhte zunächst auf dem allgemeinen Gedanken von Gewinn- und Risikoteilung340 und hat sich auch nach dem Verschwinden des genossenschaftlichen Gedankens in der abhängigen Beschäftigung weiter gehalten.341 Aufgrund der besonderen Gefahren der Seeschifffahrt besteht ein Bedürfnis, von Besatzungsmitgliedern eine besondere Solidarität einzufordern. Diese Solidarität entspricht einem alten Seemannsbrauch, der zu Zeiten entstanden ist, als noch nicht daran zu denken war, Personen ohne seemännische Aufgaben auf dem Schiff zu beschäftigen.342 Der Gesetzgeber hat bereits im Seemannsgesetz eine differenzierte Entscheidung vorgenommen, welche Pflichten den seemännisch ungebildeten Arbeitnehmern auferlegt werden können und welche nicht. Die Neuschaffung umfassender Anwesenheits- und Solidaritätspflichten für eine Berufsgruppe, die diese Pflichten bislang nicht hatten, sind aufgrund des Angleichungsgebots nicht zu rechtfertigen. Hinsichtlich der Bordanwesenheitspflicht und der Solidaritätspflicht sind Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben nicht anders zu stellen als Landarbeitnehmer. Nach alledem ist festzustellen, dass die Vorschriften der §§ 34 – 36 dem Wortlaut nach auch Besatzungsmitglieder erfassen, die nach dem eindeutigen Ergebnis der teleologischen und insbesondere historischen Auslegung nicht vom Sinn und Zweck der Norm erfasst werden sollen.343 Die Vorschriften sind daher dahingehend teleologisch zu reduzieren, dass sie nicht auf Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben anzuwenden sind, mithin auf solche Besatzungsmitglieder, die unter die Vorschrift des § 7 SeemG gefallen wären.344

339 So hatte die Seemannsordnung von 1902 beispielsweise noch eine Pflicht zur Verteidigung des Schiffes vorgesehen, vgl. § 41 Abs. 1 SeemO 1902. 340 Siehe hierzu oben unter § 2 E. II. 1. 341 Siehe hierzu oben unter § 2 F. II. 2. 342 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 38. 343 Zur teleologischen Reduktion, siehe Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 888, 902. 344 Hiervon geht ganz offensichtlich auch Lindemann, § 34 Rn. 4, aus, nach dem „die Bordanwesenheitspflicht (…) nur für solche Besatzungsmitglieder (besteht), die in den Schiffsbetrieb eingegliedert sind“. Auch in der Neuregelung der Gefahrenabwendungspflicht sieht Lindemann, § 36 Rn. 2, eine „inhaltsgleiche Übernahme des Seemannsgesetzes“.

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III. Anordnungsbefugnis und Folgeleistungspflicht 1. Anordnungsbefugnis Nach § 121 Abs. 1 S. 1 ist der Kapitän der Vorgesetzte aller Besatzungsmitglieder. Ihm steht die oberste Anordnungsbefugnis gegenüber ihnen und den sonstigen an Bord befindlichen Personen zu, S. 2. Der Kapitän hat für die Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung an Bord und im Zusammenhang mit dem Betrieb des Schiffes zu sorgen und ist berechtigt, die dazu notwendigen Maßnahmen zu treffen, § 121 Abs. 2 S. 1. Die Vorschrift regelt eine öffentlich-rechtliche Verantwortung des Kapitäns.345 Zur Durchsetzung dieser öffentlich-rechtlichen Verpflichtung wird dem Kapitän die Befugnis eingeräumt, im Rahmen rechtlich Zulässigen alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Die erforderlichen Maßnahmen sind nicht erst dann zu treffen, wenn eine Beeinträchtigung des Schiffsbetriebs konkret zu besorgen ist. Vielmehr ist es gerade Aufgabe des Kapitäns, mögliche Gefahrenlagen aufzuspüren und Maßnahmen so frühzeitig anzuordnen, dass Ordnung und Sicherheit des Schiffes zu keiner Zeit ernstlich in Gefahr geraten.346 Der Reeder darf den Kapitän nicht daran hindern, Entscheidungen zu treffen, die nach dessen fachlichem Ermessen für die Sicherheit des Schiffes erforderlich sind, § 121 Abs. 2 S. 2. Die Vorschrift stellt zweierlei klar: Zum einen verschafft sie dem Kapitän im Einklang mit den nach den internationalen schiffssicherheitsrechtlichen Vorschriften347 die Letztentscheidungsbefugnis, die sog. overriding authority, über den Schiffsbetrieb.348 Zum anderen wird klargestellt, dass eine gerechtfertigte Weigerung des Kapitäns, eine Weisung des Reeders zu befolgen, keine arbeitsrechtliche Pflichtverletzung darstellt.349 Besondere praktische Relevanz hat das Letztentscheidungsrechts in Fragen der Schiffssicherheit in jüngerer Zeit bei der Abwehr von Piraterieangriffen gewonnen.350 Wie § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 der Seeschiffbewachungsverordnung351 ausdrücklich klarstellt, unterliegen auch die privaten Schutz- und Sicherheitskräfte an Bord der Anordnungs- und Letztentscheidungsbefugnis des Kapitäns.352 Damit hat allein der Kapitän über Art und Umfang der Schiffsverteidigung, insbesondere den Schusswaffengebrauch, zu entscheiden. Den Bewachungsunternehmen kommt somit nur eine rein beratende Funktion zu.353 345

BNPM/Bubenzer, § 121 Rn. 2; Ehlers, RdTW 2017, 361. LAG Schleswig Holstein, 24.8.1988 – 5 TaBV 13/88, NZA 1989, 690. 347 Art. 5 Abs. 2 des International Management Code for the Safe Operation of Ships and for Pollution Prevention (ISM-Code); vgl. außerdem § 8 Abs. 1, 4 des Schiffssicherheitsgesetzes. 348 Ehlers, RdTW 2017, 361; Nehab, DÖV 2013, 555, 556. 349 BT-Drucks. 17/10959, S. 104. 350 Salomon/tho Pesch, DÖV 2013, 760, 761. 351 Verordnung über die Zulassung von Bewachungsunternehmen auf Seeschiffen (Seeschiffbewachungsverordnung) vom 11. Juni 2013 (BGBl. I, S. 1562). 352 Ausführlich hierzu Salomon/tho Pesch, DÖV 2013, 760, 766. 353 BNPM/Bubenzer, § 121 Rn. 8. 346

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Ebenfalls nur beratende Funktion hatte der bis zum Jahr 2013 gesetzlich verankerte Schiffsrat, der in früheren Kodifikationen des Seearbeitsrechts eine herausragende Bedeutung gehabt hatte.354 Nach § 518 a. F. HGB konnte der Kapitän in Fällen der Gefahr, soweit er es für angemessen hielt, mit seinen Schiffsoffizieren einen Schiffsrat halten. An die gefassten Beschlüsse war er hierbei aber nicht gebunden. Durch die Reform des Seehandelsrechts355 wurde dieses – praktisch schon lange bedeutungslose – Relikt der genossenschaftlichen Schiffsunternehmung abgeschafft. Gegenüber den Vorschriften des Seemannsgesetzes sorgt § 121 für zwei Klarstellungen. Zum einen unterliegen nunmehr alle an Bord befindlichen und nicht mehr nur alle an Bord tätigen Personen356 der Anordnungsbefugnis des Kapitäns. Es bedarf mithin zur Begründung der Anordnungsbefugnis gegenüber nicht an Bord tätigen Personen nicht mehr des Rückgriffs auf die – nunmehr folgerichtig aufgehobene – Vorschrift des § 665 HGB a. F.357 Zum anderen stellt § 121 klar, dass die Anordnungsbefugnis des Kapitäns zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung besteht.358 Wie schon unter Geltung des Seemannsgesetzes anerkannt, ist die Anordnungsbefugnis des Kapitäns dem öffentlichen Recht zuzuordnen.359 Die Systematik des § 121, der zwischen Anordnungs- und Durchsetzungsbefugnis trennt, ist dem Polizei- und Ordnungsrecht nachgebildet.360 Die ganz h. M. folgert daraus, dass § 121 der Kapitän polizeiähnliche Befugnisse verleiht.361 Er ist Beliehener und soweit er also von seinen Befugnissen nach § 121 Gebrauch macht, handelt er als Behörde i. S. d. § 1 Abs. 4 VwVfG.362 Entsprechend gelten für den Kapitän, sofern er im Rahmen der Beleihung tätig wird, die Vorschriften des Verwaltungsverfahrensgesetzes.363 2. Zwangsweise Durchsetzung § 121 Abs. 3 und 4 regeln die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung der Anordnungen durch den Kapitän. Im Falle einer unmittelbaren Gefahr kann der 354

Siehe hierzu oben unter § 4 E. III. 2. Gesetz zur Reform des Seehandelsrechts vom 20. April 2013 (BGBl. I, S. 831). 356 So noch § 106 SeemG. Vgl. hierzu auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 213 f. 357 Dieser lautete: „Der Reisende ist verpflichtet, alle die Schiffsordnung betreffenden Anweisungen des Kapitäns zu befolgen.“ 358 Hierauf weist auch Nehab, DÖV 2013, 555, 557, ausdrücklich hin. 359 Bubenzer/Peetz/Mallach/Mallach, § 121 Rn. 2; Müller, Das Heuerverhältnis, S. 41; Nehab, ebd. 360 BNPM/Bubenzer, § 121 Rn. 13. 361 Instruktiv, mit ausführlicher historischer Herleitung Nehab, DÖV 2013, 555, 557; siehe auch BNPM/Bubenzer, § 121 Rn. 9, 13; Lindemann, § 121 Rn. 5. 362 Nehab, ebd. Im Ergebnis zustimmend, jedoch mit Blick auf das Demokratieprinzip kritisch Ehlers, RdTW 2017, 361, 363. 363 Nehab, ebd. 355

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Kapitän die zur Abwendung der Gefahr gegebenen Anordnungen mit den erforderlichen Zwangsmitteln durchsetzen. Nach h. M. sind die Vorschriften des § 121 Abs. 3 und 4 leges speciales zu den allgemeinen Vorschriften über die Verwaltungsvollstreckung.364 Insbesondere ist der Kapitän grundsätzlich nicht auf die in § 9 VwVG genannten Zwangsmittel beschränkt.365 Hintergrund ist, dass dem Kapitän ein möglichst weitgehender, nicht durch die Vorgabe eines bestimmten Zwangsmittels oder Verwaltungsverfahrens begrenzter, Spielraum erhalten werden soll, unmittelbare Gefahren für Menschen und Schiff abzuwehren.366 § 121 Abs. 3 S. 1. Abs. 4 konkretisiert allerdings den stets zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz367 dahingehend, dass die Anwendung körperlicher Gewalt oder die vorübergehende Festnahme nur zulässig ist, wenn andere Mittel von vornherein unzulänglich erscheinen oder sich als unzulänglich erwiesen haben. Anordnungen und Zwangsmittel dienen allein der Gefahrenabwehr. Eine Disziplinargewalt des Kapitäns besteht seit der Verabschiedung des Seemannsgesetzes nicht mehr.368 Dementsprechend sind früher übliche Disziplinarmaßnahmen wie Kostschmälerung und Landgangsbeschränkungen, sofern sie nicht der Gefahrenabwehr dienen, unzulässig.369 3. Folgeleistungspflicht Spiegelbildlich zur Anordnungsbefugnis des Kapitäns bzw. seiner Vorgesetzten regelt § 124 die Folgeleistungspflicht der Besatzungsmitglieder, Abs. 1, 2, und sonstigen an Bord befindlichen Personen, Abs. 3. Die Verletzung der Folgeleistungspflicht in Fällen der drohenden Gefahr für Menschen, das Schiff oder dessen Ladung oder in Fällen der Verhinderung schwerer Störungen des Schiffsbetriebs ist indes nur für Besatzungsmitglieder strafbewehrt, § 145 Abs. 1 Nr. 16 lit. b). Eine teleologische Reduktion auf solche Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben kommt für die Pflichten nach § 124 nicht in Betracht.370 Aufgrund der ausdrücklichen Erstreckung der Strafandrohungen auf sonstige im Rahmen des Schiffsbetrieb tätige Personen nach § 130 SeemG kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben von der Straf- und Bußgeldandrohung der §§ 145, 146 ausnehmen wollte.

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BNPM/Bubenzer, § 121 Rn. 15; Nehab, DÖV 2013, 555, 558. BNPM/Bubenzer, ebd; Müller, Das Heuerverhältnis, S. 219; kritisch Ehlers, RdTW 2017, 361, 363. 366 Ebd.; Nehab, DÖV 2013, 555, 559. 367 Hierzu ausführlich Lindemann, § 121 Rn. 9. 368 Siehe hierzu die amtl. Begründung zu § 106 SeemG, BT-Drucks. 2/2962, S. 71; vgl. auch § 84 SeemO 1902. 369 Nehab, DÖV 2013, 555, 559. 370 Siehe zur gebotenen teleologischen Reduktion im Bereich der vertraglichen Folgeleistungspflicht oben unter § 4 D. II. 4. 365

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IV. Heuerzahlung 1. Überblick Das Arbeitsentgelt der Besatzungsmitglieder wird traditionell als Heuer bezeichnet.371 Das Seearbeitsgesetz unterscheidet zwischen der Grundheuer und zusätzlichen Heuerbestandteilen, wie Überstunden-, Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen, § 51, Fracht- und Gewinnanteilen, § 38 Abs. 2, sowie kollektiv- und individualvertraglich vereinbarten sonstigen Zulagen, Zuschlägen und Sonderzahlungen. Kein Bestandteil der Heuer im Sinne der §§ 37 f. sind die Zahlungen zur Aufwandsentschädigung, die der Reeder bzw. Arbeitgeber dem Besatzungsmitglied nach den Vorschriften des Seearbeitsgesetzes und anderer Gesetze zu gewähren verpflichtet ist, wie Reisekosten zum Ort des Dienstantritts, § 31, zum und vom Urlaubsort, § 60, sowie Heimschaffungskosten, § 76 Abs. 2, oder der Bergelohn nach § 581 Abs. 2 HGB.372 Ferner keine Heuerbestandteile sind Sachleistungen wie Verpflegung und Unterkunft, § 93. 2. Arten der Heuer Dem Besatzungsmitglied sind für den Fall, dass es Nacht-, Sonntags- oder Feiertagsarbeit leistet, zwingend Zuschläge in der gesetzlich vorgesehenen Höhe zu zahlen, vgl. § 51 Abs. 3.373 Im Fall der Mehrarbeit steht die Höhe des gesetzlich vorgesehenen Zuschlags unter dem Vorbehalt einer anderweitigen tarifvertraglichen Festlegung, § 51 Abs. 1 S. 2. Neben diesen schon unter Geltung des Seemannsgesetztes vorgesehenen374 Zulagen sah der MTV-See bis zum Jahr 2002 zahlreiche weitere Zuschläge und Zulagen vor, etwa Wachdienst-, Auslands- und Schmutzarbeitszulagen oder Ausgleichszulagen für nicht gewährten Landgang oder verspätet gewährten Urlaub.375 Da diese Vielfalt an Regelungen mit Blick auf den Dokumentations- und Verwaltungsaufwand als unzweckmäßig erachtet wurde, gingen die Tarifvertragsparteien seit 2002 dazu über, die gesetzlichen und tarifvertraglichen Zuschläge und Zulagen zu pauschalieren und als Gesamtvergütung auszuzahlen, § 11 Abs. 1 MTV-See 2010. Da die nach der MLC zulässige376 Pauschalierung der gesetzlichen Zuschläge ohne Ansehung der konkret geleisteten Mehr-, Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit im Hinblick auf die im Seearbeitsgesetz festgelegte 371 Zur Problematik der Ansprüche ausländischer Besatzungsmitglieder nach dem Mindestlohngesetz, siehe oben unter § 4 A. II. 4. c) dd). 372 Lindemann, § 38 Rn. 8. 373 Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 E. II. 6. 374 Vgl. § 90 SeemG. 375 Auflistung bei BNPM/Noltin, § 37 Rn. 8. 376 Sog. Festheuer nach Leitlinie B2.2.1 Abs. 1 lit. c): Entgelt, das die Grundheuer und andere entgeltbezogene Leistungen einschließt; eine Festheuer kann die Vergütung aller geleisteten Überstunden und alle anderen entgeltbezogenen Leistungen einschließen, oder sie kann als Teilfestheuer nur bestimmte Leistungen einschließen.

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Mindesthöhe dieser Zuschläge problematisch ist, mussten die Tarifparteien die Praxis der Pauschalierung der Zuschläge durch eine Gesamtvergütung nunmehr aufgeben.377 Eine historische Besonderheit des Seearbeitsverhältnisses war es stets, dass auch Seeleute von geringem Rang in der Bordhierarchie an dem wirtschaftlichen Erfolg der Schiffsunternehmung dadurch teilnahmen, dass sie entweder selbst Waren auf dem Schiff mitführten oder sie einen Anteil an der Fracht oder am Gewinn der Schiffsunternehmung verdienten.378 § 38 Abs. 2 S. 2 greift diese Möglichkeit der Heuerzahlung auf und regelt das Recht des Besatzungsmitglieds auf Abschlagszahlungen, sofern die Anteile an Fracht, Gewinn und Erlös bei Ablauf des Kalendermonats nicht feststehen. Von – allerdings auch hier geringer werdender – praktischer Bedeutung ist diese Vergütungsart noch in der Fischerei, bei der die Fangerlöse einen Teil des Arbeitsentgelts ausmachen können.379 Im Übrigen hat diese Art der Heuerzahlung ihre praktische Bedeutung völlig verloren.380 Dies gilt auch für die noch bis 2002 tariflich festgeschriebenen sog. Kaplaken – den Bonus bei erfolgreicher Ablieferung der Fracht – des Kapitäns.381 An ihre Stelle sind die auch im Landarbeitsverhältnis üblichen Bonus- und Zielvereinbarungen getreten.382 3. Modalitäten der Heuerzahlung Nach der Vorgabe der Norm A2.2 Abs. 1 ist die Grundheuer monatlich zu berechnen und zu bezahlen. Die MLC schreibt lediglich die Zahlung einer Grundheuer zwingend vor und empfiehlt sowohl die Vergütung von Überstunden als auch die Zuschlagspflichtigkeit von Überstunden lediglich auf der unverbindlichen Leitlinienebene, Leitlinie B2.2.2 Abs. 1 lit. b). Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- oder Nachtarbeit werden durch die MLC vorgeschrieben. § 38 SeeArbG weitet die Pflicht zur monatlichen Heuerzahlung auf sämtliche gesetzlich vorgesehenen Heuerbestandteile aus. Nach § 38 Abs. 2 S. 2 sind variable Heuerbestandteile mit Ablauf des Monats fällig, in dessen Verlauf sie erstmals der Höhe nach feststehen oder billigerweise festgestellt werden können. Abs. 2 S. 3 regelt, wie die Vorgängervorschrift des § 34 Abs. 3 SeemG, den Anspruch auf eine Abschlagszahlung für den Fall, dass der vereinbarte Anteil an Fracht, Gewinn oder Erlös bei Ablauf des Kalendermonats noch nicht feststeht. Die Heuer ist, vorbehaltlich einer anderweitigen vertraglichen Vereinbarung, in Euro zu berechnen und auszuzahlen, § 39 Abs. 1 S. 1. Bei ausländischen Besatzungsmitgliedern wird die 377 378 379 380 381 382

Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 E. II. 6. Siehe hierzu oben unter § 2 F. II. 3. BT-Drucks. 17/10959, S. 78; BNPM/Noltin, § 37 Rn. 11. BNPM/Noltin, § 37 Rn. 11. Ebd. Ebd., § 37 Rn. 12.

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Heuer in aller Regel in US-Dollar vereinbart und gezahlt.383 In diesem Fall, wie in allen Fällen einer Heuerzahlung in anderer Währung, muss der Wechselkurs dem von der Europäischen Zentralbank veröffentlichten Kurs entsprechen und darf für das Besatzungsmitglied nicht nachteilig sein, § 39 Abs. 1 S. 2. Aufgrund des ohnehin weltweit verbreiteten bargeldlosen Zahlungsverkehrs in der Praxis selbstverständlich und nur aufgrund der Vorgabe der MLC384 im Seearbeitsgesetz enthalten, ist die Pflicht des Reeders, die Heuer auf Verlangen des Reeders unbar an das Besatzungsmitglied oder einen von diesem bestimmten Empfänger zu zahlen, § 39 Abs. 2 Nr. 2. Von geringer werdender praktischer Bedeutung ist ferner der aus dem Seemannsgesetz übernommene Anspruch des Besatzungsmitglieds, die Heuer im Hafen oder auf der Reede bar ausgezahlt zu bekommen, § 39 Abs. 2 Nr. 1.385 Die Vorschrift ist eine Angleichungskorrektur dafür, dass diejenigen Institutionen, die sonst für die Abwicklung von regelmäßigen Geldtransaktionen verantwortlich sind, nicht in jedem Hafen erreichbar sind.386 Nicht in das Seearbeitsgesetz übernommen wurde das Verbot der Heuerauszahlung in Speise- und Schankwirtschaften nach § 35 Abs. 2 SeemG. Dieses Verbot war Ausdruck des paternalistischen Verhältnisses zwischen Schiffsleitung und Mannschaft und beruhte auf dem mittlerweile überkommenen, in früherer Zeit hingegen zutreffenden, Bild eines oft dem Trunke verfallenen und daher vor sich selbst zu schützenden Seemanns.387 Nach § 39 Abs. 4 dürfen keine Abzüge von der Heuer für Erlangung oder Beibehaltung einer Beschäftigung vorgenommen werden. Die Vorschrift wurde aufgrund der Empfehlung der MLC in das Seearbeitsgesetz aufgenommen.388 Das Verbot der Abzüge für die Vermittlung eines Heuerverhältnisses hat in der internationalen Seeschifffahrt hohe praktische Relevanz, insbesondere für Besatzungsmitglieder, die über ein ausländisches Crewing-Unternehmen eingestellt werden.389 Hier wurde bis zum Inkrafttreten der MLC die Zahlung von Teilen der Heuer an den Vermittler immer noch praktiziert.390 Die Vorschrift des § 39 Abs. 4 steht im engen inhaltlichen Zusammenhang mit § 25 Abs. 1 Nr. 2, der es Vermittlern verbietet, von Besatzungsmitgliedern unmittelbar oder mittelbar eine Vergütung für die Vermittlung zu verlangen.391

383 384 385 386 387 388 389 390 391

Ebd., § 39 Rn. 2. Norm A2.2 Abs. 3. Lindemann, § 39 Rn. 1. Ebd. Siehe hierzu oben unter § 2 F. II. 5. sowie insbesondere unter § 2 H. II. 5. b). Leitlinie B2.2.2 Abs. 4 lit. i). Lindemann, § 39 Rn. 11. BT-Drucks. 17/10959, S. 78. Siehe ausführlich Lindemann, § 39 Rn. 11.

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V. Zusammenfassung und Bewertung Bei den Dienst- und Folgeleistungspflichten treten die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses klar zutage. Es besteht das praktische Bedürfnis, dass das mit seemännischen Aufgaben betraute Besatzungsmitglied auch in seiner dienstfreien Zeit notwendige Aufgaben zum Schutz des Schiffes übernimmt. Auch besteht das Bedürfnis, diesem Besatzungsmitglied besondere Pflichten in Gefahrsituationen aufzuerlegen. Nicht nur den Besatzungsmitgliedern, sondern sämtlichen an Bord befindlichen Personen gegenüber steht dem Kapitän – insoweit als Vertreter der Staatsgewalt handelnd – die oberste Anordnungsbefugnis zu, die vom rein zivilrechtlichen Direktionsrecht zu unterscheiden ist. Wie bereits das Seemannsgesetz reduziert das Seearbeitsgesetz die Anwesenheitspflichten des Besatzungsmitglieds auf das zur Gewährleistung der Schiffssicherheit Nötigste. Begrüßenswert ist die neu erfolgte systematische Eingliederung des Landgangsanspruchs im zweiten Unterabschnitt der Vorschriften zu Beschäftigungsbedingungen bei den Bordanwesenheits- und Gefahrenabwendungspflichten. Das Seemannsgesetz hatte den Landgangsanspruch noch gemeinsam mit dem Urlaubsanspruch geregelt. Dies lief der unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Ansprüche zuwider. Denn der Urlaubsanspruch dient der psychischen und physischen Erholung des Besatzungsmitglieds, während der Landgangsanspruch die weitestmögliche Freiheit in der Gestaltung der dienstfreien Zeit ermöglichen soll. Er schafft eine Angleichungskorrektur für die Besonderheit des Seearbeitsverhältnisses, dass das Besatzungsmitglied auch in seiner dienstfreien Zeit Aufgaben zum Schutz des Schiffes zu verrichten hat und hierzu bordanwesend sein muss. Bereits das Seemannsgesetz hatte eine strenge Trennung zwischen dem vertraglichen Direktionsrecht des Kapitäns und der korrespondierenden Dienstleistungspflicht des Besatzungsmitglieds einerseits und der öffentlich-rechtlichen Anordnungsbefugnis des Kapitäns und der entsprechenden Folgeleistungspflicht des Besatzungsmitglieds andererseits vorgesehen. Die Beobachtung, die Unterscheidung zwischen privatrechtlichen und öffentlich-rechtlichen Befugnissen sei in der alltäglichen Bordpraxis von geringer Bedeutung,392 mag zutreffen, solange sich das Schiff nicht in einer Gefahrensituation befindet. Sobald eine unmittelbare Gefahr vorliegt, kann der Kapitän eine Anordnung nach § 121 mit Zwangsmitteln durchsetzen, eine Weisung nach § 36 nicht. Im Regelfall wird es sich bei einer in einer Gefahrensituation ausgesprochenen Aufforderung an das Besatzungsmitglied sowohl um eine arbeitsvertragliche Weisung als auch um eine öffentlich-rechtliche Anordnung handeln. Eine, auch sprachlich durch Verwendung unterschiedlicher Begriffe wie „Weisung“ und „Anordnung“ statt der einheitlichen Verwendung des Begriffs „Anordnung“ verdeutlichte, genaue Trennung der Befugnisse bleibt jedoch – insbesondere mit Blick auf die unterschiedlichen Konsequenzen im Falle der Nichtbefolgung – unverzichtbar. 392

BNPM/Noltin, § 121 Rn. 5.

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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Ein klares Versäumnis des Gesetzgebers ist es, dass er bei den arbeitsvertraglichen Pflichten nicht wie im Seemannsgesetz zwischen Besatzungsmitgliedern mit und ohne seemännische Aufgaben unterscheidet, wie er dies im Seemannsgesetz noch getan hatte. Sowohl die Verpflichtung zur Bordanwesenheit als auch die Verpflichtung zur Hilfeleistungspflicht bei Seegefahr und Schiffbruch sind nicht auf die zweitgenannte Gruppe zugeschnitten. Ihnen diese schiffsspezifischen Dienstpflichten aufzuerlegen, ist nicht begründbar. Bereits das Angleichungsgebot untersagt es dem Gesetzgeber, Besatzungsmitgliedern besondere seearbeitsrechtliche Pflichten aufzuerlegen, für die es kein praktisches Bedürfnis gibt. Darüber hinaus sprechen historische und teleologische Gesichtspunkte gegen eine Anwendung der Vorschriften auf diese Gruppe. Die Vorschriften des 2. Unterabschnitts des 3. Abschnitts sind daher, vorbehaltlich der beschriebenen Ausnahmen, im Wege der teleologischen Reduktion nur auf Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben anwendbar.

E. Arbeits- und Ruhezeiten I. Einleitung, MLC 1. Rechtsquellen Geregelte Arbeitszeiten sind nicht nur im Interesse der Gesundheit des Besatzungsmitglieds, sie berühren auch unmittelbar Fragen der Schiffssicherheit. Eine Studie der United Kingdom Marine Accident Investigation Branch (MAIB)393 belegt, dass die Müdigkeit der wachegehenden Seeleute neben einer unzureichenden Bemannung die Hauptursache von Schiffskollisionen ist. Rund die Hälfte aller im Rahmen der Studie untersuchten Schiffsunfälle fand in der Zeit von 0 bis 6 Uhr statt. In 80 Prozent dieser Fälle war die Übermüdung des wachegehenden Personals ein mitursächlicher Faktor.394 Das Arbeitszeitregime in der internationalen Seeschifffahrt ist daher nicht allein durch das Regelwerk der ILO bestimmt, sondern auch durch die Vorgaben des Internationalen Übereinkommens über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten (engl.: International Convention on Standards of Training, Certification and Watchkeeping for Seafarers – STCW) der IMO.395 Seit der Überarbeitung der STCW durch die sog. Manila-Änderungen im Jahr 2010396 sind die sicherheitsrelevanten Arbeitszeitvorgaben der 393

MAIB Bridge Watchkeeping Safety Study, Southampton 2004, abrufbar unter: http://www.maib.gov.uk/cms_resources.cfm?file=/Bridge_watchkeeping_safety_study.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 394 MAIB Bridge Watchkeeping Safety Study, S. 8. 395 Siehe Section A-VIII/1(Fitness for Duty) STCW Code. 396 Eine Übersicht der wesentlichen Änderungen findet sich unter:

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

STCW inhaltlich an die MLC angepasst.397 In Deutschland wurde die STCW durch die Achte Verordnung über Änderungen der Anlage des Internationalen Übereinkommens von 1978 über Normen für die Ausbildung, die Erteilung von Befähigungszeugnissen und den Wachdienst von Seeleuten vom 28. Juni 2013 (sog. STCWGesetz) in das nationale Recht umgesetzt.398 2. Höchstarbeitszeit oder Mindestruhezeit Regel 2.3 verpflichtet die Mitgliedstaaten, Arbeitszeiten oder Ruhezeiten für Seeleute zu regeln und hierfür entweder Höchstarbeitszeiten oder Mindestruhezeiten festzusetzen. Diese Vorgaben werden im Code präzisiert. Nach Norm A2.3 Abs. 5 muss das von den Mitgliedstaaten festgelegte Arbeitszeitregime so geschaffen sein, - dass es Höchstarbeitszeiten enthält, wobei die Höchstarbeitszeit 14 Stunden in jedem Zeitraum von 24 Stunden und 72 Stunden in jedem Zeitraum von sieben Tagen nicht überschreiten darf oder - dass es Mindestruhezeiten enthält, wobei die Mindestruhezeit zehn Stunden in jedem Zeitraum von 24 Stunden und 77 Stunden in jedem Zeitraum von sieben Tagen nicht unterschreiten darf. Norm A2.3 Abs. 6 bestimmt darüber hinaus, dass die Ruhezeit in höchstens zwei Zeiträume aufgeteilt werden kann, von denen einer eine Mindestdauer von sechs Stunden haben muss. Ferner darf der Zeitraum zwischen zwei aufeinanderfolgenden Ruhezeiten 14 Stunden nicht überschreiten. Nach Norm A2.3 Abs. 14 bleibt das Recht des Kapitäns, in Notfällen anfallende Arbeitszeiten zu verlangen und den Arbeitszeit- und Ruhezeitplan bis zur Wiederherstellung eines sicheren Schiffsbetriebs außer Kraft zu setzen, durch die Mindestarbeitszeitvorschriften unberührt. Die Vorschriften zur Höchstarbeitszeit bzw. Mindestruhezeit sind auf Normenebene festgeschrieben und damit verbindlich. Norm A2.3 Abs. 13 enthält eine Flexibilisierungsvorschrift. Hiernach sind Mitgliedstaaten durch die Mindestvorschriften der Absätze 5 und 6 nicht daran gehindert, Verfahren anzunehmen, wonach die zuständige Stelle Gesamtarbeitsverträge genehmigen oder registrieren kann, die https://www.deutsche-flagge.de/de/redaktion/dokumente/dokumente-sonstige/stcw-code. pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 397 Sicherheitsrelevante Arbeitszeitvorgaben sind diejenigen, deren Nichteinhaltung sich auf die Müdigkeit und Gesundheit der Seeleute auswirken kann. Nicht sicherheitsrelevant sind damit Arbeitszeitregelungen, die über die Vorgabe einer Höchstarbeitszeit oder Mindestruhezeit hinausgehen, etwa der Feiertagsausgleich oder der Acht-Stunden-Tag als „Normalarbeitszeit“ des Besatzungsmitglieds. Beide sind in der MLC (Norm A2.3 Abs. 3) festgeschrieben, nicht indes in der STCW, da sie eine arbeitsrechtliche, aber keine sicherheitsrechtliche Relevanz aufweisen. 398 BGBl. II, S. 753 ff.

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Ausnahmen von den festgelegten Beschränkungen gestatten. Einschränkend bestimmt Abs. 13 S. 2, dass die Ausnahmen „soweit wie möglich den festgelegten Normen zu folgen haben [jedoch] häufigeren oder längeren Urlaubszeiten oder der Gewährung von Ausgleichsurlaub für wachegehende Seeleute oder Seeleute, die an Bord von Schiffen mit kurzer Reisedauer arbeiten, Rechnung tragen [können].“

Die praktischen Auswirkungen der Öffnungsklausel sind gering. Denn die Möglichkeit, die Mindestruhezeit oder Höchstarbeitszeit für wachegehendes Personal zu erweitern, wird durch die STCW-Konvention begrenzt. Eine Flexibilisierung durch Gesamtarbeitsverträge ist nach Norm A2.3 Abs. 13 damit nur dort möglich, wo die STCW großzügigere Standards setzt als die MLC. In Betracht kommt vor allem die Möglichkeit, die Mindestruhezeit innerhalb von sieben Tagen von 77 auf 70 Stunden zu senken und – in maximal zwei 24-Stunden-Zeiträumen innerhalb von sieben Tagen – die Mindestruhezeiten in drei statt in zwei Zeiträume aufzuteilen, wobei eine der Blöcke eine Mindestlänge von sechs Stunden, die anderen Blöcke eine Länge von mindestens einer Stunden haben müssen.399 3. Normalarbeitszeit i. S. d. Norm A2.3 Abs. 3 Neben den Höchstarbeitszeiten bzw. Mindestruhezeiten regelt Norm A2.3 in Abs. 3 auch die „Normalarbeitszeit“. Diese soll acht Stunden täglich betragen und einen wöchentlichen Ruhetag sowie Arbeitsruhe an Feiertagen gewähren. Die MLC wählt eine unverbindliche Formulierung: Mitglieder werden nicht verpflichtet, nationale Regelungen zur Festlegung eines Acht-Stunden-Tages zu schaffen, vielmehr sollen die Mitgliedstaaten „anerkennen“, dass die Arbeitszeit der Seeleute auf einem Acht-Stunden-Tag „zu beruhen hat“. Die Formulierung ist wortwörtlich der Konvention Nr. 180 entnommen400 und wurde daher im Entstehungsprozess der MLC kaum diskutiert.401 Durch die weiche Formulierung hat Norm A2.3 Abs. 3 die Funktion eines Programmsatzes, der im Grundsatz das Drei-Wachen-System als das gewöhnliche Ablösungsintervall beim Wachdienst vorsieht. In der Praxis dient die Regelung weniger als Begrenzung der täglichen Arbeitszeit, sondern vielmehr als Kalkulationsgrundlage.402 Die Vorschrift, so beschreibt es die internationale Literatur zur MLC, enthalte im Vergleich zu den Vorschriften zur Höchstarbeitszeit eine „Idealarbeitszeit“ und ihre wesentliche Aufgabe bestehe darin, auf ihrer Grundlage die Mehrarbeitsvergütung zu berechnen.403

399

Sec. A-VIII/1 Abs. 9 STCW Code. Art. 4 der ILO-Konvention Nr. 180. 401 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 304. 402 Ebd., S. 307. 403 Ebd. Dazu, dass auch die Tarifparteien des MTV-See von diesem Verständnis ausgehen, siehe sogleich unter § 4 E. II. 2. a) und b). 400

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

II. Seearbeitsgesetz 1. Überblick Das Seearbeitsgesetz setzt die Arbeitszeitvorgaben der MLC in seinem Unterabschnitt 4 (Arbeits- und Ruhezeiten) in den §§ 42 – 55 um. Das Arbeitszeitgesetz findet auf Schiffen, auf denen das Seearbeitsgesetz gilt, keine Anwendung, § 18 Abs. 3 ArbZG. Durch die Umsetzung der ILO-Konvention Nr. 180 und des STCWÜbereinkommens in das Seemannsgesetz gibt es durch die MLC lediglich punktuellen Änderungsbedarf. Daher werden die §§ 84 – 91 SeemG weitestgehend übernommen.404 Da diese Berufsgruppen nun auch Besatzungsmitglieder i. S. d. § 3 SeeArbG sind, werden die Arbeitszeitvorschriften des Verpflegungs-, Bedienungsund Krankenpflegepersonals in die allgemeinen Arbeitszeitvorschriften des Seearbeitsgesetzes integriert.405 Ebenfalls integriert werden die Sonderarbeitszeitregelungen für die Besatzungen von Zwei-Wachen-Schiffen, Bergungsfahrzeugen, Schleppschiffen, Fischereifahrzeugen und Fahrgast- und Fährschiffen.406 2. Regelarbeitszeit a) Abgrenzung zur Höchstarbeitszeit Das Seearbeitsgesetz führt eine Unterscheidung ein, die das Arbeitszeitgesetz nicht kennt: die Unterscheidung zwischen einer Regelarbeitszeit und einer Höchstarbeitszeit bzw. Mindestruhezeit.407 Der Begriff der „regelmäßigen Arbeitszeit“ ist im Landarbeitsrecht vor allem in Tarifverträgen zu finden. Er dient oft der Bestimmung einer wöchentlichen Arbeitszeit unter Zulassung von Ausnahmen zur täglichen Höchstarbeitszeit bei gleichzeitiger Festlegung eines Referenzzeitraums, in dem die Regelarbeitszeit durchschnittlich erreicht werden muss.408 Andere Tarifverträge bestimmen auch eine „regelmäßige tägliche Arbeitszeit“.409 Die gesetzliche Unterscheidung zwischen Regel- und Höchstarbeitszeit im deutschen Seearbeitsrecht durch den 2002 geschaffenen § 84a SeemG geht auf die Umsetzung von

404

BT-Drucks. 17/10959, S. 79. §§ 43 Abs. 3, 44 Abs. 3, 45 Abs. 3 S. 3 SeeArbG. 406 §§ 138 – 141 SeemG, nunmehr §§ 46, 49 Abs. 1 Nr. 4 und 5, Abs. 3, 54 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, Abs. 3 SeeArbG. 407 Baeck/Deutsch, § 3 Rn. 18; Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 43 Rn. 1. 408 Siehe beispielsweise § 6 TVöD, abrufbar unter: http://www.der-oeffentliche-sektor.de/infoundrat/infothek/1434, letzter Abruf vom 14.10.2019. 409 Vgl. beispielsweise § 3 S. 2 des Manteltarifvertrags für das Gaststätten- und Hotelgewerbe des Landes Nordrhein-Westfalen vom 20. April 2016, abrufbar unter: http://www.tarifregister.nrw.de/pdf/tarifinformationen/0019-AVE-Mantel.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 405

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europäischen Seeleute-Arbeitszeitrichtlinien zurück.410 Aufgrund der starken Prägung des Seearbeitsverhältnisses durch das Tarifwesen411 bildete die Höchstarbeitszeitenregelung des § 84a SeemG ein bereits lange bestehendes Arbeitszeitregime ab.412 Im Seearbeitsgesetz regeln die Vorschriften der §§ 43 und 44 die Regelarbeitszeit („darf in der Regel acht Stunden täglich nicht überschreiten“) der Besatzungsmitglieder auf See und im Hafen, die Vorschrift des § 48 regelt die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten („die Höchstarbeitszeit darf nicht überschreiten […] und die Mindestruhezeit darf nicht unterschreiten […]“). Nach der Gesetzesbegründung wird durch die Formulierung „in der Regel“ klargestellt, dass es sich bei den Vorschriften zur Seearbeitszeit um die Normalarbeitszeit entsprechend der Norm A2.3 Absatz 3 des Seearbeitsübereinkommens handelt.413 Wie oben bereits erläutert,414 reduziert die Kommentarliteratur die praktische Bedeutung der Norm 2.3 Abs. 3 darauf, dass sie eine Kalkulationsgrundlage für die Überstundenzahlung darstellt.415 Hiervon gehen auch die Tarifparteien des MTV-See aus, indem sie zwischen einer „regelmäßigen Arbeitszeit“ von acht Stunden und einer „täglichen Arbeitszeit“ von zehn Stunden unterscheiden, die der Berechnung der monatlichen Vergütung einschließlich flexibler Lohnbestandzeile zugrunde liegt.416 Ferner hält die Gesetzesbegründung fest, dass „Arbeitszeitverlängerungen […] unter den Voraussetzungen der §§ 46, 47, 48 Absatz 2 und

410

Richtlinie 1999/63/EG des Rates vom 21. Juni 1999 zu der vom Verband der Reeder in der Europäischen Gemeinschaft (European Community Shipowners’ Association – ECSA) und dem Verband der Verkehrsgewerkschaften in der Europäischen Union (Federation of Transport Workers’ Unions in the European Union – FST) getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Arbeitszeit von Seeleuten sowie Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 2000 zur Änderung der Richtlinie 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung hinsichtlich der Sektoren und Tätigkeitsbereiche, die von jener Richtlinie ausgeschlossen sind; siehe hierzu ausführlich BNPM/Noltin, § 42 Rn. 1. 411 Siehe hierzu oben unter § 2 H. II. 6. 412 Siehe bereits zu § 15 MTV-See 1925 Ehlers, Tarifvertrag für die Seeschiffahrt, 2. Aufl, S. 51 f. 413 BT-Drucks. 17/12420, S. 17. 414 Siehe oben unter § 4 E. I. 415 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 307. 416 § 8 Abs. 1, 2 MTV-See 2014 lautet: (1) Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt von Montag bis Freitag werktäglich acht Stunden (40-Stunden-Woche). Darüber hinausgehende Zeiten sind Überstunden […] (2) Die tägliche Arbeitszeit, die vom Beschäftigten in Abweichung von den §§ 85 bis 87 in Verbindung mit § 89a des Seemannsgesetzes [Anm. des Verfassers: Es handelt sich um ein redaktionelles Versehen, gemeint sind die entsprechenden Vorschriften im Seearbeitsgesetz, namentlich §§ 43, 44 und 48] grundsätzlich zu leisten ist und die der Berechnung der monatlichen Grundvergütung, der pauschalierten Überstundenvergütung, der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit sowie des Grundlohnergänzungsanspruchs zugrunde liegt, soll unter Berücksichtigung von § 9 durchschnittlich zehn Stunden täglich […] nicht überschreiten.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

des § 49 zulässig [sind].“417 Bei der Regelarbeitszeit handelt es sich, anders als beispielsweise bei der „regelmäßigen Arbeitszeit“ i. S. d. § 4 Abs. 1 des Entgeltfortzahlungsgesetzes, nicht um einen Durchschnittswert, der innerhalb eines bestimmten Referenzzeitraums erreicht werden muss,418 sondern um eine Arbeitszeitgrenze, die nur in den genannten, in der Praxis aber tagtäglich vorkommenden, Ausnahmefällen durchbrochen werden kann. Hierfür spricht neben der zitierten Gesetzesbegründung auch, dass das Seearbeitsgesetz auch den Begriff „durchschnittliche Arbeitszeit“ kennt und ihn in einem anderen Zusammenhang verwendet, vgl. §§ 42 Abs. 5 und 54 Abs. 1. Daher stellen die Vorschriften für Zwei-WachenSchiffe, § 46, zur Arbeitszeitverlängerung in besonderen Ausnahmefällen, § 47, für Schiffe mit kurzer Hafenfolge, § 48 Abs. 2 sowie zur Arbeitszeitverlängerung durch Tarifvereinbarung, § 49, die einzigen möglichen Ausnahmen zur „Regelarbeitszeit“ der §§ 43, 44 dar.419 Aufgrund der tarifvertraglichen Durchdringung des Seearbeitsverhältnisses420 und aufgrund der gebotenen weiten Auslegung des Begriffs der „sonstigen dringenden Arbeiten“ i. S. d. § 47 Abs. 4421 gilt auch für die nationalen Vorschriften zur Regelarbeitszeit, dass sich ihre im engeren Sinne arbeitszeitrechtliche Relevanz für Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben darauf beschränkt, dass sie die Organisation der Schiffswache im Drei-Wachen-System vorschreibt. Im Übrigen dient sie als Berechnungsmaßstab für die (Mehrarbeits-)Vergütung, die den besonderen Anforderungen des § 51 unterliegt.422 b) Hafen- und Seearbeitszeit nach §§ 43, 44 Wie schon das Seemannsgesetz unterscheidet das Seearbeitsgesetz im Rahmen der Regelarbeitszeit zwischen See- und Hafenarbeitszeit. Die Seearbeitszeit beginnt ab dem Zeitpunkt, an dem das Schiff zum Antritt der Reise seinen Liegeplatz im Hafen oder auf der Reede zu verlassen beginnt, und endet mit dem ordnungsgemäßen Festmachen des Schiffes im Hafen oder dem Ankern auf der Reede, § 42 Abs. 1 S. 1, 2. Die Seearbeitszeit wird nach dem Drei-Wachen-System eingeteilt. Dies bedeutet eine Arbeitseinteilung, die auf einem ganztägig durchgehenden Wechsel von vierstündiger Arbeit und achtstündiger Freizeit beruht.423 Dieser ununterbrochene Mehrschichtenbetrieb ist wegen des durchgehenden Schiffsbetriebs zwingend.424 417

BT-Drucks. 17/12420, S. 17; siehe aber zum Sonderfall des § 46 unten unter § 4 E. II. 2. d). 418 Siehe hierzu BAG v. 21.11.2001 – 5 AZR 296/00, NZA 2002, 439. 419 So wohl auch BNPM/Noltin, § 42 Rn. 7. 420 Siehe hierzu unten unter § 4 E. II. 7. 421 Siehe hierzu unten unter § 4 E. II. 5. b). 422 Siehe hierzu unten unter § 4 E. II. 5. b). 423 Lindemann, § 43 Rn. 5: Die Lage der Wachzeiten ist gesetzlich nicht vorgeschrieben. Üblicherweise beginnt der Wachzyklus um 0 Uhr. Entsprechend ergeben sich folgende Schichten: 0 – 4 Uhr, 4 – 8 Uhr, 8 – 12 Uhr, 12 – 16 Uhr, 16 – 20 Uhr, 20 – 24 Uhr. 424 Ebd., § 43 Rn. 1

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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Die Regelarbeitszeiten für See- und Hafenarbeit sind weitgehend identisch: Die Arbeitszeit darf werktäglich in der Regel acht Stunden täglich nicht überschreiten, §§ 43 Abs. 1 S. 1, 44 Abs. 1 S. 1, 2. Sowohl im Rahmen der See- als auch im Rahmen der Hafenarbeitszeit ist zu unterschieden zwischen Arbeiten inner- und außerhalb des Wachdienstes. Unter Wachdienst sind solche Tätigkeiten zu verstehen, die zur ständigen Überwachung der Sicherheit des Schiffs, seiner Besatzung und der Ladung erforderlich sind. Zum Wachegehen verpflichtet sind alle Besatzungsmitglieder des Deck- und Maschinenpersonals, sofern keine abweichende Vereinbarung erfolgt.425 Samstags beträgt die Regelarbeitszeit im Hafen für nicht wachegehende Besatzungsmitglieder fünf Stunden, § 44 Abs. 1 S. 2 1. Hs. Außerhalb des Wachdienstes besteht an Sonn- und Feiertagen sowie in der Zeit zwischen 18 und 6 Uhr ein grundsätzliches Beschäftigungsverbot. Ausgenommen ist hiervon der Wachdienst sowie die ausdrücklich genannten Arbeiten zur Aufrechterhaltung und Sicherung des Schiffsbetriebs, §§ 43 Abs. 1 S. 3, 44 Abs. 2. Die regelmäßige Seearbeitszeit der Besatzungsmitglieder beträgt damit wöchentlich 48 Stunden, die regelmäßige Hafenarbeitszeit beträgt, je nachdem, ob das Besatzungsmitglied samstags Wache zu gehen hat, 45 oder 48 Stunden. Wird das Besatzungsmitglied Sonn- und Feiertags zum Wachdienst eingeteilt, wird dieser Wert unter Berücksichtigung des Sonn- und Feiertagsausgleichs nach § 52 erreicht.426 c) Regelarbeitszeit des Servicepersonals aa) Bedeutung der Regelarbeitszeit für das Servicepersonal Zum Servicepersonal zählen nach der Legaldefinition des § 2 Nr. 9 Besatzungsmitglieder, die zur Verpflegung, Bedienung, Betreuung, Unterhaltung oder Krankenpflege anderer Besatzungsmitglieder oder von Passagieren arbeiten oder auf dem Schiff als Verkäufer tätig sind. Für sie gelten die genannten Regelarbeitszeiten mit der Besonderheit, dass die Regelarbeitszeit auf bis zu neun Stunden verlängert werden kann, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt, §§ 43 Abs. 3 S. 2, 44 Abs. 3. Trotz dieser auf den ersten Blick lediglich kleinen Korrektur unterscheidet sich das Arbeitszeitregime des Servicepersonals erheblich von dem der Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben. Zum einen übt das Servicepersonal seine Tätigkeiten unabhängig davon aus, ob sich das Schiff im Hafen oder auf See befindet.427 Zum anderen kann das für Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben Gesagte über die geringe praktische Bedeutung der Regelarbeitszeit als Begrenzung der Arbeitszeit nicht auf das Servicepersonal übertragen werden. Denn anders als für die Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben haben die Ausnahmevorschriften der §§ 46 ff. – nur 425 ArbG Hamburg, Urt. v. 25.11.1971 – S 1 Ca 380/71, SeeAE Nr. 1 zu § 85 SeemG; Lindemann, § 44 Rn. 4. 426 Ausführlich hierzu Lindemann, § 43 Rn. 3. 427 So bereits die amtliche Begründung zum SeemG 1957, BT- Drucks. 2/2962, S. 64.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

diese können, wie oben gezeigt, die Regelarbeitszeit der §§ 43, 44 durchbrechen – für das Servicepersonal nur geringe praktische Bedeutung: Auf den in § 46 genannten Schiffsgruppen (kleinere Schiffe in begrenzter Fahrt, Bergungs- und Schleppschiffe)428 befindet sich in aller Regel kein Servicepersonal. Die Durchbrechnung durch § 48 Abs. 2 für Schiffe mit kurzer Hafenfolge hat für das Servicepersonal keine Relevanz, da dieses der durch kurze Hafenfolgen bedingte zusätzliche Arbeitsanfall nicht betrifft. Schließlich betreffen auch die Vorschriften zur Arbeitszeitverlängerung in besonderen Ausnahmefällen nach § 47 Abs. 1 und 2, in denen das komplette Arbeitszeitregime aufgehoben ist,429 lediglich Situationen, in denen die Schiffssicherheit gefährdet ist. Sie sind damit lediglich für Besatzungsmitglieder relevant, die in solchen Situationen besondere Dienstleistungspflichten haben.430 Auch die Vorschrift des § 47 Abs. 4, nach der der Kapitän in sonstigen dringenden Fällen eine Verlängerung der Regelarbeitszeit anordnen kann, ist für das Servicepersonal nicht relevant.431 Auch diese Fälle betreffen stets den Schiffsbetrieb. Dies folgt zum einen aus dem systematischen Zusammenhang mit §§ 47 Abs. 1, 2 sowie aus dem Zussammenhang mit § 47 Abs. 4 S. 2, der mit dem Wachdienst ebenfalls einen rein „schiffsbetriebsbezogenen“ Grund nennt. Zum anderen weist die Gesetzesbegründung aus, dass die Vorschrift des § 47 Abs. 4 inhaltlich der Vorgängernorm des Seemannsgesetzes entspricht.432 Diese war jedoch auf Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben nicht relevant.433 Damit stellen die Regelarbeitszeiten des §§ 43, 44 für das Servicepersonal, vorbehaltlich einer tariflichen Regelung, praktisch gleichzeitig Höchstarbeitszeitregelungen dar.434 Vergleicht man das gesetzlichen Arbeitszeitregime des Servicepersonals mit dem der Landarbeitnehmer, so besteht für erstere bereits gesetzlich die Möglichkeit einer Arbeitszeitverlängerung auf neun Stunden, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt. Für Landarbeitnehmer kann eine Verlängerung auch ohne das Erfordernis eines Anteils von Arbeitsbereitschaft er428

Siehe zu diesen Schiffen unten unter § 4 E. II. 2. d). Siehe hierzu unten unter § 4 E. II. 5. 430 So bereits die amtliche Begründung zum SeemG 1957, BT-Drucks. 2/2962, S. 64, siehe hierzu oben unter § 4 D. II. 4. 431 Ebd. 432 BT-Drucks. 17/10959, S. 80. 433 BT-Drucks. 2/2962, S. 64. 434 Anders als im Rahmen der Dienstleistungspflicht, siehe oben unter § 4 D. II. 4, lässt sich im Rahmen der Arbeitszeiten eine teleologische Reduktion nicht begründen, da für Verpflegungs-, Bedienungs- und Krankenpflegepersonal i. S. d. § 87 SeemG grundsätzlich die Arbeitszeitregelungen des SeemG galten. Die amtliche Begründung zum SeemG hebt jedoch hervor, dass es hier für die für das seemännische Personal mögliche Verlängerung der Arbeitszeiten „kein praktisches Bedürfnis“ gebe, vgl. ebd. Zu beachten ist aber, dass „Servicepersonal“ i. S. d. § 2 Nr. 9 in aller Regel zu der Gruppe der „sonstigen im Rahmen des Schiffsbetriebs tätigen Personen“ i. S. d. § 7 SeemG zählen würde, da es sich um Arbeitnehmer handelt, die während der Reise an Bord des Schiffs angestellt sind, jedoch nicht vom Reeder für die Tätigkeit angenommen werden, BT-Drucks. 2/2962, S. 43. 429

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folgen, allerdings nur unter Einhaltung eines Acht-Stunden-Tags im Referenzzeitraum des § 3 ArbZG. Ohne Einhaltung des Referenzzeitraums ist eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit nur durch oder aufgrund eines Tarifvertrags möglich, § 6 Abs. 1, 2a ArbZG. Diese unterschiedliche Behandlung ist kaum zu rechtfertigen. Die Tätigkeit des Servicepersonals im Bordbetrieb steht in vieler Hinsicht der Tätigkeit von Servicepersonal im Landbetrieb näher als der Tätigkeit der Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben. Insofern war es folgerichtig, dass das Seemannsgesetz für Besatzungsmitglieder ohne seemännische Aufgaben die Anwendbarkeit des Arbeitszeitgesetzes vorsah.435 Im Rahmen der Dienstpflichten hat es der Gesetzgeber versäumt, eine Differenzierung zwischen Besatzungsmitgliedern mit und ohne seemännische Aufgaben zu schaffen. Im Rahmen der Regelarbeitszeit trifft er für Servicepersonal eine abweichende Regelung, die jedoch nicht, wie es das Angleichungserfordernis geboten hätte, das (Regel-)Arbeitszeitregime des Landarbeitnehmers abbildet, sondern für das Besatzungsmitglied im Servicebereich einen „dritten Weg“ wählt. bb) Lage der Regelarbeitszeit; Sonn- und Feiertagsarbeit Die Arbeitszeit des Servicepersonals muss auf See zwischen 6 und 20 Uhr, im Hafen zwischen 6 und 18 Uhr liegen, wobei dieser Zeitrahmen auf Anordnung des Kapitäns, für Krankenpflegepersonal auf Anordnung des Schiffsarztes, überschritten werden kann, § 43 Abs. 3 S. 2 i. V. m. § 44 Abs. 3. An Sonn- und Feiertagen darf das Servicepersonal nur mit Arbeiten beschäftigt werden, die zur Verpflegung, Bedienung oder Krankenpflege unbedingt erforderlich sind. Unbedingt erforderlich sind Arbeiten dann, wenn ihre Verrichtung nicht an einem folgenden Werktag erfolgen kann, ohne dass hierdurch die ordnungsgemäße Verpflegung oder Krankenpflege leidet.436 Nicht an das Erfordernis der „unbedingten Notwendigkeit“ gebunden sind die Arbeiten im Verkauf und zur Betreuung oder Unterhaltung von Fahrgästen, § 43 Abs. 3 S. 4. Diese gesetzgeberische Entscheidung mutet befremdlich an, werden somit doch die Arbeiten der „Grundversorgung“ der an Bord befindlichen Personen durch Verpflegung, Bedienung und Krankenpflege auf das „unbedingt Erforderliche“ beschränkt, während die Versorgung mit Konsumgütern und Unterhaltung diese Beschränkung nicht erfährt. Erkennbar will der Gesetzgeber hier die Tätigkeiten privilegieren, die der Unterhaltung und dem Komfort des Fahrgastes dienen. „Unbedingt erforderlich“ ist sicherlich das Zubereiten und Servieren von Speisen und Getränken. Ist es aber auch „unbedingt erforderlich“, dass einem Gast diese Speisen und Getränke auf dem Zimmer serviert werden? Ist ein solcher Service eine – eingeschränkt zulässige – Bedienung oder eine – stets zulässige – Betreuung des Fahrgastes? Ist es „unbedingt erforderlich“, das sonntägliche Frühstücksbuffet von

435 436

§ 103 SeemG. Lindemann, § 43 Rn. 19.

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6 – 12 Uhr zu öffnen? Zählt die Arbeit des Reinigungspersonals zur „Verpflegung“ oder zur „Betreuung“ der Fahrgäste?437 Der Gesetzgeber hat mit der Neudefinition der Besatzungsgruppe „Servicepersonal“ einen weiten Begriff gewählt, um den verschiedenen Leistungen am Fahrgast gerecht zu werden. Die arbeitszeitrechtliche Differenzierung zwischen Verpflegung, Bedienung und Krankenpflege einerseits und Verkauf sowie Betreuung bzw. Unterhaltung von Fahrgästen andererseits ist sachfremd und führt, wie gezeigt, zu Abgrenzungsproblemen. Eine sinnvollere Differenzierung läge darin, Tätigkeiten „am Fahrgast“ zu privilegieren und Verwaltungstätigkeiten sowie „fahrgastferne“ Routinetätigkeiten unter die Bedingung der unbedingten Erforderlichkeit zu stellen. d) Regelmäßige Arbeitszeit auf Zwei-Wachen-Schiffen Auf kleineren Schiffen ist ein Drei-Wachen-System mangels ausreichender Unterkünfte in der Praxis nicht durchführbar.438 § 46 Abs. 1 SeeArbG sieht daher vor, dass auf Schiffen bis zu einer Bruttoraumzahl von 2.500 in der Fahrt im nord- und westeuropäischen Seegebiet,439 wenn die Reise länger als zehn Stunden dauert, die regelmäßige Seearbeitszeit des Wachpersonals auf bis zu zwölf Stunden täglich verlängert und im Zwei-Wachen-System eingeteilt werden kann. Dasselbe gilt für Bergungsfahrzeuge sowie See- und Bergungsschlepper in der Nord- und Ostseefahrt, da auch hier die Unvorhersehbarkeit des Bergungs- und Schleppeinsatzes und die starke Abhängigkeit von Wetter und Gezeiten ein Drei-Wachen-System unpraktikabel machen.440 Anders als die Vorschrift des § 47 sieht § 46 nicht die Möglichkeit vor, über die Regelarbeitszeit der §§ 43, 44 hinaus Mehrarbeit anzuordnen. Vielmehr ermöglicht es die Vorschrift, für die genannten Schiffstypen eine eigene Regelarbeitszeit festzulegen.441 Im Zeitraum der in der Regel zehn bis fünfzehminütigen Übergabe des Wachdienstes kommt es zu einer Überschneidung der Arbeitszeiten der beiden Besatzungsmitglieder. Die amtliche Begründung zum Seearbeitsgesetz betrachtet die Übergabe des Wachdienstes richtigerweise als Arbeitszeit i. S. d. § 2 Nr. 6 SeeArbG.442 Entsprechend beträgt die regelmäßige Arbeitszeit eines Besatzungsmitglieds auf einem Zwei-Wachen-Schiff nicht zwölf, sondern bis zu zwölf437 Die amtl. Begründung zu § 2 SeeArbG geht von der zweitgenannten Alternative aus, BTDrucks. 17/10959, S 61. 438 BT-Drucks. 17/10959, S. 80. 439 Fahrt in Nord- und Ostsee und entlang der norwegischen Küste bis zu 648 nördlicher Breite, im Übrigen bis zu 618 nördlicher Breite und 78 westlicher Länge sowie nach den Häfen Großbritanniens, Irlands und der Atlanikküste Frankreichs, Spaniens und Portugals ausschließlich Gibraltars, § 46 Abs. 1 S. 1. 440 Lindemann, § 46 Rn. 1. 441 So wohl auch BNPM/Noltin, § 46 Rn. 1. Dies folgt auch daraus, dass im Falle der gemäß § 46 verlängerten Regelarbeitszeiten keine Mehrarbeitsvergütung nach § 51 zu zahlen ist, sondern nach § 46 Abs. 1 S. 2 ein angemessener Zuschlag zur Grundheuer. 442 BT-Drucks. 17/10959, S. 80.

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einhalb Stunden. Dies ist in Anbetracht der Tatsache, dass der nationale und internationale Gesetzgeber das Zwei-Wachen-System ausdrücklich zulässt, hinzunehmen. § 46 ist entsprechend in dem Sinne zu verstehen, dass eine regelmäßige Arbeitszeit des zum Wachdienst bestimmten Decks- und Maschinenpersonals zwölf Stunden zuzüglich der erforderlichen Übergabezeiten nicht überschreiten darf. § 46 Abs. 2 S. 2 enthält eine abweichende Regelung zur Regelarbeitszeit beim konkreten Einsatz an der Bergungsstätte. Hier kann der Kapitän die Arbeitszeit unter Berücksichtigung seiner Fürsorgepflicht nach seinem Ermessen bestimmen.443 Die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten nach § 48 Abs. 1 sind einzuhalten, es sei denn, es liegt ein besonderer Ausnahmefall i. S. d. § 47 SeeArbG vor.444 Wird von der Arbeitszeitverlängerung nach § 46 Abs. 1 Gebrauch gemacht, haben die Besatzungsmitglieder einen Anspruch auf einen angemessenen Zuschlag zur Grundheuer, vgl. § 46 Abs. 1 S. 2. Mangels Verweisung gilt dies nicht für Besatzungsmitglieder auf Bergungsfahrzeugen, See- und Bergungsschleppern.445 Grund hierfür ist, dass in den Heuerverträgen dieser Besatzungsmitglieder regelmäßig den hohen Arbeitszeiten durch eine höhere Anzahl von Urlaubs- und Landfreizeittagen Rechnung getragen wird.446 Bei den Schiffen, für die § 46 besondere Arbeitszeitvorschriften vorsieht, treten die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses besonders deutlich zutage: Eine dem Landarbeitsverhältnis ähnliche Arbeitseinteilung ist aufgrund der Größe des Schiffes (bei Zwei-Wachen-Schiffen) und/oder aufgrund der Unvorhersehbarkeit und Unregelmäßigkeit des Einsatzes (bei Bergungsfahrzeugen und Schleppern) undenkbar. Was im Landarbeitarbeitsverhältnis nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich ist,447 ist auf solchen Schiffen der Alltag: Ein täglicher Arbeitsrhythmus, in dem die Arbeitszeit gleich lang oder länger ist als die Ruhezeit. Die Tarifparteien in der Schlepp- und Bergungsschifffahrt haben diesen „eins zu eins“-Arbeitsrhythmus auf das Verhältnis zwischen Einsatz- und einsatzfreien Zeiten übertragen und regeln, dass sich das Kalenderjahr hälftig aus Tagen der Borddienstzeit und Tagen der Landfreizeit- bzw. des Urlaubs zusammensetzt.448 Eine solche Verblockung der Einsatzzeit findet sich auch in anderen Tarifregelungen.449 3. Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten § 48 legt gesetzliche Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeiten fest. Die Höchstarbeitszeit darf 14 Stunden in jedem Zeitraum von 24 Stunden und 443 444 445 446 447 448 449

Lindemann, § 46 Rn. 8. BNPM/Noltin, § 46 Rn. 1. Zu § 47, siehe unten unter § 4 E. II. 2. d). Dies verkennt offenbar BNPM/Noltin, § 46 Rn. 1. Vgl. hierzu auch Anlage IV § 23 MTV-See. Vgl. §§ 3, 7 ArbZG. Vgl. § 23 Anlage IV MTV-See. Vgl. § 23 Anlage I – III MTV-See.

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72 Stunden in jedem Zeitraum von sieben Tagen nicht überschreiten. Gleichzeitig darf die Mindestruhezeit zehn Stunden in jedem Zeitraum von 24 Stunden und 77 Stunden in jedem Zeitraum von sieben Tagen nicht unterschreiten, § 48 Abs. 1. Die Vorschrift übernimmt die Regelung des § 84a SeemG und geht über die internationale Vorgabe von MLC, STCW und Seeleute-Arbeitszeitrichtlinie hinaus, die die genannten Höchst- bzw. Mindestzeiten nur alternativ, nicht kumulativ vorschreiben. Die überwiegende Mehrheit der ILO-Mitgliedstaaten (hierunter auch die EU-Staaten Großbritannien, Dänemark, Malta, Zypern, Luxemburg und Belgien) schreibt lediglich die beschriebenen Mindestruhezeiten vor.450 Vor diesem Hintergrund war der „deutsche Sonderweg“ in den Verhandlungen zum Seearbeitsgesetz rechtspolitisch umstritten. Sowohl der Verband Deutscher Reeder als auch die Sachverständigen kritisierten, dass die Regelung einen erheblichen Wettbewerbsnachteil für die deutsche Flagge nach sich zöge.451 Dies ist leicht nachvollziehbar. Eine Rechtsordnung, die lediglich die Mindestruhezeiten nach der MLC vorschreibt, erlaubt über die Dauer einer Woche eine durchschnittliche tägliche Höchstarbeitszeit von 13 Stunden, während unter Geltung beider Arbeitszeitvorgaben eine durchschnittliche Höchstarbeitszeit von maximal 10,29 Stunden möglich ist. Trotz dieser Bedenken hielt der Gesetzgeber an der kumulativen Regelung fest und überlässt eine darüber hinausgehende Öffnung des Arbeitszeitregimes den Tarifparteien. Von den Höchstarbeits- und Mindestruhezeitvorgaben des § 48 Abs. 1 kann in vier gesetzlich vorgesehenen Fällen abgewichen werden. Läuft ein Schiff in kurzer Aufeinanderfolge mehrere Häfen an, kann während der Tage der häufigen Hafenabfolge von den Höchstarbeitszeiten – nicht aber von den Mindestruhezeiten – abgewichen werden, § 48 Abs. 2 S. 1.452 Sobald das Schiff das Fahrtgebiet mit der häufigen Hafenfolge verlassen hat, hat das Besatzungsmitglied eine zusätzliche Ruhezeit zu erhalten, deren Länge den über die Grenze der Höchstarbeitszeit geleisteten Arbeitsstunden entsprechen muss (§ 48 Abs. 3 S. 3). Die zweite Ausnahme betrifft den Kapitän. Er hat lediglich die gesetzliche Mindestruhezeit zwingend einzuhalten, § 42 Abs. 4. In besonderen Gefahrensituationen kann der Kapitän Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, wie auch die gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften im Übrigen außer Kraft setzen, § 47 Abs. 1 – 3. Hierfür bedarf es, wie unten zu zeigen ist,453 einer unmittelbaren Gefahrensituation, in der das öffentliche Interesse am Schutz der Gesundheit des Besatzungsmitglieds hinter dessen ethischer Verpflichtung zur Hilfeleistung gegenüber Dritten oder zur Erhaltung der Schiffs-

450 Nachweise in der schriftlichen Stellungnahme von Prof. Dr. Henning Jessen, BT-Auschussdrucks. 17(11)1004, S. 23. 451 Siehe die schriftlichen Stellungnahmen vom Verband Deutscher Reeder und von Prof. Dr. Henning Jessen, BT-Ausschussdrucks. 17(11)1004, S. 6, 22 f. 452 Eine kurze Hafenfolge liegt vor, wenn die Fahrzeit zwischen den seewärtigen Lotsenversetzpositionen des zu verlassenden und des anzufahrenden Hafenreviers weniger als 36 Stunden beträgt, § 48 Abs. 2 S. 2. 453 Siehe hierzu unten unter § 4 E. II. 5.

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sicherheit zurücktritt.454 Schließlich gelten aufgrund der Verordnungsermächtigung des § 55 Nr. 3 für Besatzungsmitglieder auf Schiffen im Offshore-Einsatz die besonderen Arbeitszeitvorschriften der Offshore-Arbeitszeitverordnung, die von den Vorschriften des § 48 abweichen darf.455 4. Ruhepausen und Ruhezeiten Zum Schutz der Gesundheit der Besatzungsmitglieder führt das Seearbeitsgesetz Ruhepausen nach Vorbild des Arbeitszeitgesetzes ein. Ebenso wie nach § 4 ArbZG muss die Arbeitszeit nach spätestens sechs Stunden durch eine Ruhepause unterbrochen werden, die bei einer Arbeitszeit von bis zu neun Stunden 30 Minuten, bei einer Arbeitszeit von über neun Stunden 45 Minuten betragen muss. Die Pausen können in Zeitabschnitte von mindestens 15 Minuten aufgeteilt werden. Im Unterschied zu § 4 ArbZG ist eine Pause nach sechsstündiger Arbeit dann nicht erforderlich, wenn nach einer Arbeitszeit von sechseinhalb Stunden eine Ruhezeit gewährt wird. Diese Modifizierung gegenüber § 4 ArbZG ist notwendig, um das ZweiWachen-System aufrecht zu erhalten. Bei lediglich vier Wachwechseln im 24Stunden-Zeitraum bliebe ohne die Regelung keine Zeit für eine ordnungsgemäße Übergabe des Wachdienstes, die in der Regel zwischen zehn und fünfzehn Minuten in Anspruch nimmt.456 Die zehnstündige Mindestruhezeit nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) darf gemäß § 45 Abs. 3 in höchstens zwei Zeiträume aufgeteilt werden, von denen einer eine Mindestdauer von sechs, der andere eine Mindestdauer von einer Stunde haben muss. Die Aufteilung und Länge von Ruhezeiten, die über die Mindestruhezeit des § 48 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) hinausgehen, schreibt § 45 Abs. 3 nicht vor. Die Vorschrift des § 45 Abs. 2 führt dazu, dass Zwei-Wachen-Schiffe ihren Wachrhythmus von sechsstündigen Intervallen ändern müssen. Denn wegen der durch die Wachdienstübergabe bedingten Überhangzeiten würde ein Wachrhythmus von vier Sechs-Stunden-Zeiträumen dazu führen, dass eine sechsstündige Ruhezeit nicht gewährleistet wäre. Der Wachdienst ist daher so zu organisieren, dass ein mindestens sechsstündiger Ruhezeitblock in jedem Fall gewährleistet ist. Denkbar ist daher ein Rhythmus von zwei sechseinviertelstündigen und zwei fünfdreiviertelstündigen Wachen. § 45 Abs. 4 regelt den Fall, dass ein Besatzungsmitglied während seiner planmäßigen Ruhezeit in Bereitschaft zu sein hat und die Ruhezeit durch Aufrufe zur Arbeit gestört wird. Dem Besatzungsmitglied ist in diesem Fall eine Ausgleichsruhezeit zu gewähren, die mindestens der Dauer der Ruhezeitunterbrechung entspricht, wobei stets eine sechsstündige Ruhezeit gewährleistet sein muss. Laut der amtlichen Begründung regelt § 45 Abs. 4 den Fall, dass das Besatzungsmitglied zur Arbeit gerufen wird, während er seinen Aufenthaltsort auf dem Schiff frei bestimmen 454 455 456

Lindemann, § 47 Rn. 1. Siehe hierzu unten unter § 4 E. III. Vgl. BT-Drucks. 17/10959, S. 80.

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kann.457 Damit regelt § 45 Abs. 4 einen Fall der Rufbereitschaft,458 die – anders als der hiervon zu unterscheidende Bereitschaftsdienst459 – nicht zur Arbeitszeit zählt.460 Aufgrund der räumlichen Verhältnisse auf dem Schiff und des Zusammenfallens von Arbeits- und Lebenssphäre ist der Unterschied zwischen Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft auf See eher dogmatischer Natur. Auch das Besatzungsmitglied, das sich in Rufbereitschaft befindet, hält sich in der unmittelbaren Nähe seines Arbeitsortes auf und ist innerhalb von wenigen Minuten einsatzbereit. 5. Arbeitszeit in besondere Ausnahmefällen § 47 ermöglicht es dem Kapitän, unter bestimmten Voraussetzungen die Arbeitszeit der Besatzungsmitglieder zu verlängern. Zu unterscheiden ist hierbei einerseits die Anordnung von Mehrarbeit in Gefahrensituationen, § 47 Abs. 1, und die Anordnung von Mehrarbeit in sonstigen dringenden Fällen, Abs. 4. a) Arbeitszeitverlängerung in Gefahrensituationen Der Kapitän kann für Besatzungsmitglieder die Arbeitsstunden anordnen, die für die unmittelbare Sicherheit des Schiffes und der Personen an Bord, bei einer unmittelbaren Gefahr für die Ladung oder zur Hilfeleistung für in Seenot befindliche Schiffe und Personen erforderlich sind, § 47 Abs. 1 S. 1. In solchen Fällen kann nicht nur die Regelarbeitszeit nach §§ 43 – 46 durchbrochen werden, sondern auch die gesetzlichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten nach § 48 Abs. 1. Die Vorschrift bringt einen besonderen Solidaritätsgedanken zum Ausdruck, der das Besatzungsmitglied mit seemännischen Aufgaben461 gegenüber anderen Mitgliedern der Schiffsunternehmung verpflichtet. Die ethischen Verpflichtungen zur Hilfeleistung gehen dem individuellen und öffentlichen Interesse an der Einhaltung der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten vor.462 Da die Verpflichtung für das Besatzungsmitglied ohne Ansehung seiner Stellung in der Bordhierarchie gilt, wohnt ihr auch der besondere Gleichheitsgedanke inne, dass in einer Gefahrensituation jedes Mitglied der Solidargemeinschaft zur Abwendung der Gefahr beitragen muss. Das Besatzungsmitglied hat für die Mehrarbeit in Gefahrensituationen nach § 47 Abs. 1, ebenso wie die für Leistung von Mehrarbeit im Rahmen von Sicherheits-, Feuerlösch- und Rettungsübungen, keinen gesetzlichen Anspruch auf eine Mehrarbeits457

BT-Drucks. 17/10959, S. 80. Ebd.; BNPM/Noltin, § 46 Rn. 4. 459 BAG, Urt. v. 23.6.2010 – 10 AZR 543/09, NZA 2010, 1081; siehe für das europäische Recht EuGH, Urt. v. 1.12.2005 – C-14/04 (Dellas), NZA 2006, 89; BeckOKArbR/Kock, ArbZG, § 2 Rn. 8 m. w. N. 460 BAG, Urt. v. 11.7.2006 – 9 AZR 519/05, NZA 2006, 89. 461 Zu dieser Einschränkung, siehe bereits oben unter § 4 E. II. 2. c). 462 So bereits die amtl. Begründung zur inhaltsgleichen Regelung in § 90 SeemG, BTDrucks. 2/2962, S. 64. 458

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vergütung oder einen Mehrarbeitszuschlag, § 51 Abs. 1 S. 1.463 Die Nachteile des Besatzungsmitglieds werden jedoch dadurch abgemildert, dass ihm, wenn es während seiner Ruhezeit Arbeiten zur Gefahrenabwehr leisten muss, eine Ausgleichsruhezeit zu gewähren ist. Die Dauer dieser Ruhezeit muss mindestens der Dauer der Ruhezeitunterbrechung entsprechen, § 47 Abs. 3.464 Ohne diese wichtige Angleichungskorrektur würde ein Ausnahmefall nach § 47 Abs. 1, 2 das vertragliche Gleichgewicht empfindlich stören, da das Besatzungsmitglied zu unbezahlter Mehrarbeit verpflichtet werden könnte. Noch unter Geltung des Seemannsgesetzes wurde die Arbeitspflicht des Besatzungsmitglieds in Notfällen teilweise nicht als vertragliche Dienstleistungspflicht, sondern als Pflicht der menschlichen Solidarität begriffen, die auf einem „alten Seemannsbrauch“ beruhe.465 Ferner wurde argumentiert, das Besatzungsmitglied erbringe die Arbeiten zur Erhaltung der Schiffssicherheit zu seiner persönlichen Sicherheit.466 Durch die Festlegung, dass die Dauer der Ersatzruhezeit der Dauer der Ruhezeit zu entsprechen hat, wird sichergestellt, dass das Besatzungsmitglied in finanzieller Hinsicht die Lasten des Notfalls nicht zu tragen hat. Seine Solidaritätspflicht ist darauf beschränkt, dass es die veränderte Lage seiner Arbeitszeiten sowie das Außerkraftsetzen des Arbeitszeitregimes hinnehmen muss. Eine wirtschaftliche Einbuße durch unbezahlte Mehrarbeit muss es nicht hinnehmen. Der Wortlaut der Vorschrift („Arbeitsstunden […], die für die unmittelbare Sicherheit des Schiffes […] erforderlich sind“) ist missverständlich. Besatzungsmitglieder mit seemännischer Tätigkeit erfüllen selten eine Aufgabe, die sich nicht unmittelbar auf die Schiffssicherheit auswirkt. Für die Sicherheit des Schiffes und der darauf befindlichen Personen erforderlich ist bereits jede Seewache, jedes Manöver eines Schiffes bei einer engen Routenführung, jede Beobachtung eines Messoder Radargeräts. Ein Blick auf die Systematik und den Sinn und Zweck der Vorschrift zeigt Folgendes: Erforderlich für die unmittelbare Schiffssicherheit sind Arbeitsstunden nur dann, wenn ein Ausnahmefall (vgl. die Überschrift des § 47: „Arbeitszeitverlängerung in besonderen Ausnahmefällen“) vorliegt. Gemeint ist eine Situation, die, auch wenn mit ihrem gelegentlichen Vorkommen zu rechnen ist, durch die Schiffsführung nicht vorhersehbar oder planbar ist.467 Gefährdet sein muss 463 Wenn es sich in Fällen des § 47 Abs. 1 um gewerbliche Bergung handelt, ist diese angemessen zu vergüten, § 51 Abs. 2. 464 Die Vorgängervorschrift des § 88 Abs. 1 S. 3 hatte – inhaltlich unbestimmter – lediglich eine „ausreichenden Ruhezeit“ gefordert. 465 Monnerjahn, Das Arbeitsverhältnis in der dt. Seeschiffahrt, S. 39. 466 Lindemann, § 47 Rn. 8. 467 Für das Kriterium der fehlenden Planbarkeit spricht auch, dass laut Gesetzesbegründung die Erstreckung des Unmittelbarkeitserfordernisses auf die Gefahr für die Ladung klarstellt, dass das Schiff den Hafen nicht mit unzureichend gesicherter Ladung verlassen können soll, um dann unter Berufung auf die Ladungssicherheit die Ladungssicherungsarbeiten auf See vorzunehmen. Eine dergestalt in Kauf genommene Fehlplanung kann also nicht zur Arbeitszeitverlängerung nach § 47 führen. Das Besatzungsmitglied wäre indes nach § 124 Abs. 1 verpflichtet, die Ladungssicherheit wiederherzustellen.

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eines der drei wichtigsten Schutzgüter der Seeschifffahr: Schiffssicherheit, Personensicherheit oder Ladungssicherheit. Die Gefahrenlage muss es rechtfertigen, dass die Schutzgüter der Gesundheit und der Schiffssicherheit, die durch eine Überschreitung der gesetzlichen Höchstarbeitszeiten betroffen sind, eingeschränkt werden. In Anlehnung an den Begriff der konkreten Gefahr im gefahrenabwehrrechtlichen Sinne ist die Anordnung von Mehrarbeit dann statthaft, wenn ein Zustand besteht, der nach verständigem Ermessen in näherer Zeit den Eintritt eines Schadens für eines der Schutzgüter mit Wahrscheinlichkeit erwarten lässt.468 Hierbei handelt es sich in der Regel um solche Ereignisse, die erst durch die Isolierung des Schiffes auf hoher See zur Gefahr werden (Seegang, Sturm, Unwetter), oder deren Gefahrpotential durch die Isolierung des Schiffes erhöht wird (Brand, Ausfall von Maschinen, schwere Krankheit, Unfall). Neu gegenüber dem Seemannsgesetz ist, dass in Bezug auf die Ladung des Schiffes eine „unmittelbare Gefahr“ für diese vorliegen muss, um die Anordnung von Mehrarbeit zu rechtfertigen. Durch die Voraussetzung einer „unmittelbaren Gefahr“ soll die gängige Praxis unterbunden werden, dass das Schiff zur Zeitersparnis mit ungesicherter Ladung Hafen oder Reede verlässt, um sie unter Anordnung von Mehrarbeit auf See zu sichern.469 Arbeitszeitrechtlich ist dies neben der genauen Bestimmung des Ausgleichszeitraums durch § 47 Abs. 3 die wichtigste Neuerung des Seearbeitsgesetzes. Bereits unter den Arbeitszeitvorschriften der Seemannsordnungen von 1872 und 1902 war es üblich, dass die Durchbrechung der Arbeitszeitgrenzen durch „dringende Arbeiten“ zu einer faktischen Aushebelung der Arbeitszeitgrenzen führten, indem im Hafen vorzunehmende Arbeiten unter Berufung auf ihre Notwendigkeit auf See ausgeführt wurden.470 Diese Praxis will das Seearbeitsgesetz nun endgültig unterbinden. Eine Gleichsetzung mit den Tatbeständen „Notfall“ oder „außergewöhnlicher Fall“ i. S. d. § 14 ArbZG, die im Landarbeitsverhältnis eine Abweichung von den gesetzlichen Höchstarbeitszeiten rechtfertigen, ist nicht sachgerecht.471 Ein Notfall i. S. d. § 14 ArbZG ist ein für den Betrieb nachteiliges, ungewöhnliches, unvorhergesehenes und plötzlich eintretendes Ereignis, das die Gefahr eines unverhältnismäßigen Schadens mit sich bringt.472 Für eine unmittelbare Betroffenheit der Schiffsoder Personensicherheit i. S. d. § 47 Abs. 1 S. 1 genügt hingegen allein die bloße Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung. Das Ereignis muss auch nicht unvorhersehbar sein. Ein Sachverhalt, etwa der Ausfall eines Mess- oder Kommunikationsgeräts, kann die unmittelbare Schiffssicherheit betreffen, ohne dass in einer vergleichbaren Situation im Landbetrieb ein „Notfall“ oder „außergewöhnlicher Fall“ vorläge. Ebenso wären im oben genannten Beispiel die notwendigen Vorbereitungshandlungen auf einem Schiff in Erwartung eines Unwetters kein „Notfall“ 468

Lindemann, § 47 Rn. 4. BT-Drucks. 17/10959, S. 80. 470 Siehe hierzu oben unter § 2 H. II. 2. sowie unter § 2 I. II. 6. 471 Anders wohl BNPM/Noltin, § 47 Rn. 2, der jedoch auch betont, dass die Eigentümlichkeiten der Seeschifffahrt zu berücksichtigen seien. 472 Baeck/Deutsch, § 14 Rn. 7 m. w. N. 469

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oder „außergewöhnlicher Fall“ i. S. d. § 14 Abs. 1 ArbZG. Umgekehrt liegt, wenn ein Notfall oder ein außergewöhnlicher Fall im Sinne von § 14 Abs. 1 ArbZG im Landbetrieb vorläge, in aller Regel eine Betroffenheit der Schiffssicherheit i. S. d. § 47 Abs. 1 vor. Die Abwägung, die der Kapitän bei der Anordnung von Mehrarbeit nach § 47 Abs. 1 zu treffen hat, entspricht der Abwägung, die ein Arbeitgeber an Land zu treffen hat. Es ist zu prüfen, ob die Einschränkung der Schutzgüter der jeweiligen Arbeitszeitvorschrift (Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer; Sonn- und Feiertagsschutz) gegenüber den durch das schädigende Ereignis bedrohten Rechtsgütern oder rechtlich geschützten Interessen das geringere Übel ist.473 Entsprechend seiner umfassenden nautischen Verantwortung für das Schiff steht dem Kapitän bei der Entscheidung ein weiter Ermessensspielraum zu.474 Die Dauer der Arbeitszeitverlängerung nach Abs. 1 ist zeitlich nicht begrenzt. Sie kann solange angeordnet werden, bis die genannten Gefahren nicht mehr bestehen, § 47 Abs. 1 S. 2. Eine dem § 14 Abs. 3 ArbZG entsprechende Regelung, nachdem bei Anordnung von Mehrarbeit die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in einem Zeitraum von 6 Monaten oder 24 Wochen maximal 48 Stunden betragen darf, enthält das Seearbeitsgesetz nicht. b) Arbeitszeitverlängerung in sonstigen dringenden Fällen Nach § 47 Abs. 4 kann der Kapitän in sonstigen dringenden Fällen oder für den Wachdienst im Hafen eine Verlängerung der regelmäßigen Arbeitszeit anordnen. Unangetastet bleiben von dieser Anordnungsmöglichkeit die Ruhepausen und Ruhezeiten sowie die gesetzlichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten. Anders als § 46 ermöglicht § 47 Abs. 4 keine Verlängerung der Regelarbeitszeit, sondern deren Überschreitung bis zu den Grenzen der Höchstarbeits- und Mindestruhezeit. Infolgedessen hat das Besatzungsmitglied einen Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung und Mehrarbeitszuschlag nach Maßgabe des § 51 Abs. 1. Laut Gesetzesbegründung übernimmt § 47 Abs. 4 inhaltlich unverändert die Vorschrift des § 89 SeemG.475 Entsprechend liegt ein sonstiger dringender Fall dann vor, wenn sich aus arbeitstechnischen oder wirtschaftlichen Gründen eine besondere Notwendigkeit der Mehrarbeit ergibt, um erhebliche Nachteile zu vermeiden.476 Der Kreis der Rechtsgüter, zu deren Schutz die Arbeitszeit verlängert werden kann, ist mithin im Vergleich zu Abs. 1 erweitert.477 Es wird nicht nur die Sicherheit, sondern auch die

473

BAG, Urt. v. 17.9.1986 – 5 AZR 369/85, juris; BeckOKArbR/Kock, ArbZG, § 14 Rn. 2. BNPM/Noltin, § 36 Rn. 2. 475 Ebd. 476 So die Gesetzesbegründung zur ursprünglichen Fassung des § 91 SeemG 1957, BTDrucks. 2/2962, S. 64 f.; Lindemann, § 47 Rn. 14 m. w. N.; Schwedes/Franz, § 89 Rn. 4. 477 So auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 275. 474

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Wirtschaftlichkeit der Schiffsunternehmung geschützt.478 Die häufigsten Fälle der Mehrarbeit nach Abs. 4 sind Arbeiten, die im Rahmen des Ein- und Auslaufens des Schiffes anfallen.479 So müssen bei der Hafeneinfahrt in der sog. Revierfahrt sämtliche Besatzungsmitglieder des Schiffsdiensts die sichere Navigation gewährleisten. Je nach Lage des Hafens kann die Einfahrt mehrere Stunden dauern.480 Ferner aus arbeitstechnischen Gründen erforderlich sind Instandsetzungs- und Reparaturarbeiten im Hafen oder das Seeklarmachen des Schiffes, da hier auch kleine Verzögerungen zu großen wirtschaftlichen Schäden führen können.481 Ein dringender Fall i. S. d. § 47 Abs. 4 liegt dann nicht vor, wenn es dem Kapitän leicht möglich gewesen wäre, die Arbeitszeit der Besatzungsmitglieder im Einklang mit der gesetzlichen Regelarbeitszeit festzulegen. Denkbar ist dies etwa in einem Fahrgastbetrieb, bei dem An- und Abfahrtszeiten fest geregelt sind und der Kapitän mit deren Einhaltung rechnen durfte.482 6. Vergütung für Mehr- und Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit a) Vorgaben des Seearbeitsgesetzes Die Arbeit auf See bedingt es, dass das Besatzungsmitglied Tag und Nacht bereit sein muss, vorhersehbare und unvorhersehbare Gefahren für den Schiffsbetrieb abzuwenden. Umso wichtiger ist es, dass Mehrarbeit sowie Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit (im Folgenden zusammenfassend als „SFN-Arbeit“ bezeichnet), die nicht unbedingt notwendig ist, auf ein Mindestmaß beschränkt wird.483 Daher sah bereits die Ursprungsfassung des Seemannsgesetzes Zuschläge für Überstunden und SFN-Arbeit vor.484 Ratio des § 51, der die Vergütung von Mehrarbeit und SFN-Arbeit regelt, ist es daher nicht nur, diese Arbeiten angemessen zu entlohnen. Vielmehr dient die Vorschrift auch dazu, ihre Anordnung durch die höhere finanzielle Belastung des Arbeitgebers unattraktiv zu machen.485 Dieser Ratio entsprechend sind die gesetzlichen Vorschriften zur Vergütung von Überstunden und SFN-Arbeit im Vergleich zum Landarbeitsrecht verschärft. Nach § 51 Abs. 1 S. 1 1. Hs. ist dem Besatzungsmitglied für jede Stunde Mehrarbeit eine Vergütung von mindestens einem Zweihundertstel der Grundheuer zu zahlen. Der 478

BNPM/Noltin, § 47 Rn. 6. Lindemann, § 47 Rn. 14. 480 So beträgt beispielsweise die Distanz zwischen Elbmündung und Hamburger Hafen 145 km, vgl. https://www.hafen-hamburg.de/de/fahrrinnenanpassung-revierfahrt, letzter Abruf vom 14.10.2019. 481 Lindemann, § 47 Rn. 14. 482 ArbG Hamburg. Urt. v. 13.11.1984 – S 1 Ca 343/83, zitiert nach ebd., § 47 Rn. 15. 483 So bereits die Gesetzgebegründung zur ursprünglichen Fassung des § 92 SeemG, BTDrucks. 2/2962, S. 65. 484 § 92 SeemG 1957. 485 BT-Drucks. 2/2962, S. 65; siehe auch BNPM/Noltin, § 51 Rn. 1. 479

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Gesetzgeber legt somit eine feste Überstunden(grund)vergütung fest, die sich an der individuellen Grundheuer des Besatzungsmitglieds orientiert. Grundheuer meint die Vergütung für Regelarbeitszeit nach §§ 43, 44, 46.486 Wird über diese zeitlichen Grenzen hinaus gearbeitet, greifen die Vergütungsvorschriften des § 51. Dem Besatzungsmitglied ist nach § 51 Abs. 1 S. 1 a. E. neben der Überstundenvergütung ein angemessener Zuschlag zu zahlen. Dieser beträgt, sofern tarifvertraglich nicht etwas anderes vereinbart ist, für die ersten 60 Mehrarbeitsstunden 25 %, für die folgenden 30 Mehrarbeitsstunden 50 % und für jede weitere Mehrarbeitsstunde 100 % der täglichen Grundheuer, § 51 Abs. 1 S. 2. Anders als die Mehrarbeit, bei der die Höhe des Zuschlags der Regelung durch Tarifvertrag zugänglich ist, ist die Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie Nachbarbeit zwingend mit einem Zuschlag von mindestens 25 % der stündlichen Grundheuer zu vergüten, § 51 Abs. 3. Die Zuschlagspflicht besteht nicht für den Wachdienst und nicht für Tätigkeiten des Servicepersonals, § 51 Abs. 3 S. 1 Nr. 1. Fallen die Arbeiten sowohl unter Sonntags- und Feiertagsarbeit als auch unter Nachtarbeit, so ist der Zuschlag nur einmal zu zahlen, § 51 Abs. 3 S. 2. Handelt es sich um SFN-Arbeit, die gleichzeitig Mehrarbeit ist, so erhöht sich der tarifliche oder gesetzliche Mehrarbeitszuschlag um 25 % der stündlichen Grundheuer, § 51 Abs. 3 S. 3. b) Tarifliche Pauschalierung von Überstunden und SFN-Arbeit Der Gesetzgeber gesteht den Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Höhe der Überstunden- und – eingeschränkt – hinsichtlich der Höhe der SFN-Zuschläge eine Einschätzungsprärogative zu. Dieser Einschätzungsprärogative unterliegt weder die Frage, ob Überstunden und SFN-Arbeit überhaupt zu vergüten sind, noch die Frage, ob überhaupt ein angemessener Zuschlag zu zahlen ist. Beide Fragen bejaht der Gesetzgeber zwingend. In der Begründung zur Vorgängervorschrift des § 92 SeemG a. F. heißt es: „Der Kapitän wird vor der Anordnung von (Mehrarbeit und SFN-Arbeit) zu erwägen haben, daß dies für den Reeder mit wesentlich höheren Kosten verbunden ist und daher nur ausnahmsweise vertretbar sein kann; er wird versuchen müssen, durch rationellen Einsatz der Besatzungsmitglieder diese Mehraufwendungen zu vermeiden.“487

Die Zahlung von pauschalierten Vergütungen ohne Ansehung der tatsächlich geleisteten Stunden von Mehr- oder SFN-Arbeit ist mit dem oben beschriebenen 486

Die Grundheuer vergütet nach der Systematik des § 51 allein die gesetzliche Regelarbeitszeit nach §§ 43, 44, 46, 53 Abs. 2. Sofern die Tarifparteien – was nach § 49 Abs. 1 Nr. 3 zulässig ist – die Regelarbeitszeit erhöhen, sind hierfür die zwingenden Zuschläge nach § 51 Abs. 1 S. 1 zu zahlen. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 51 Abs. 1 S. 1, der auf §§ 43, 44, 53 Abs. 2, nicht hingegen auf die Tariföffnungsklausel des § 49 verweist. Auch die Tarifparteien des MTV-See gehen von einem solchen Verständnis aus, vgl. § 8 Abs. 1 MTV-See 2015: „Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt […] acht Stunden […]. Darüber hinausgehende Zeiten sind Überstunden.“ 487 Amtl. Begründung zu § 92 SeemG 1957, BT-Drucks. 2/2962, S. 65.

212

§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Sinn und Zweck der Zuschläge nicht vereinbar. Finanzielle Bedenken des Kaptiäns bei der Anordnung solcher Arbeiten werden durch die Pauschalzahlungen nicht aufgestellt, sondern behoben. Er erhält in vergütungsrechtlicher Sicht einen Freibrief für die Anordnung solcher Arbeiten. Eine Pauschalierung, die Mehrarbeit und SFN-Arbeit ohne Ansehung an tatsächlich geleistete oder erwartete Arbeitszeit vergütet, ist mithin unwirksam. Genau so verhielt es sich mit der Gesamtvergütung nach § 11 Abs. 1 MTV-See 2010. Diese bestand aus einer Grundvergütung, pauschalierten Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit und einer pauschalierten Überstundenvergütung, vgl. § 11 Abs. 1 MTV-See 2010. Weder die Gesamtvergütung insgesamt noch ihre drei Bestandteile – Grundheuer, pauschalierte Zuschläge für SFN-Arbeit, pauschalierte Überstundenzuschläge – sollten nach dem Willen der Tarifparteien einem Rechenmodell unterworfen sein.488 Die Pauschalen waren als tarifpolitisch vereinbarte Größen unabängig von tatsächlich geleisteter Mehr- oder SFN-Arbeit zu zahlen.489 Damit konnte die Gesamtvergütung nach § 11 Abs. 1 MTV-See 2010 keine der beiden gesetzgeberischen Intentionen von § 51 erfüllen. Da sie ohne Ansehung an tatsächliche Mehr- oder SFN-Arbeit gezahlt wurde, war sie weder eine angemessene Entlohnung für geleistete Arbeit noch erfüllte sie den Zweck, den Kapitän von der Anordnung von überflüssigen Überstunden abzuhalten. Diesen Mangel haben die Tarifparteien erkannt, aber nur unzureichend behoben. Im Hinblick auf die neu strukturierte Vergütungsregel der §§ 11 Abs. 1, 15 Abs. 1 MTV-See 2014 gilt Folgendes: Die neue Vergütungsstruktur sieht eine pauschale Abgeltung der – mindestens i. H. v. 25 % der Grundheuer zuschlagspflichtigen – SFN-Arbeit nicht mehr vor. Stattdessen erhalten Beschäftigte, die SFN-Arbeit leisten, „hierfür aus ihrer Arbeitszeit resultierende Zuschläge“, § 15 Abs. 1 S. 1 MTV-See 2014. Die vormals als „pauschalierte Zuschläge für SFN-Arbeit“ bezeichnete Vergütung490 ist nunmehr als „Abschlagszahlung bzw. Grundlohnergänzung“ ausgestaltet.491 Übersteigen die tatsächlich verdienten SFN-Zuschläge, deren Höhe in § 15 Abs. 3 MTV-See 2014 im Einzelnen geregelt ist, die Abschlagszahlungen, ist dieser Überschuss auszuzahlen.492 488

Lindemann, § 51 Rn. 4. Ebd. 490 Vgl. Tabelle A des HTV-See in den Versionen bis 2013, abrufbar unter: www.morehod.ru/forum/download/file.php?id=11946, letzter Abruf vom 14.10.2019. 491 Vgl. Tabelle A des HTV-See 2018. 492 Nach Beobachtungen aus der Praxis entstand die beschriebene Tarifregelung vor allem vor dem Hintergrund der Steuerfreiheit von SFN-Zuschlägen nach § 3b EStG. Die Steuerfreiheit kann für die pauschalen SFN-Zuschläge, mithin für Zuschläge ohne Ansehung tatsächlich geleisteter SFN-Arbeit, nicht bestehen. Trotzdem zeigt die geänderte Formulierung des § 15 Abs. 1 MTV-See („erhalten zunächst Zahlungen nach Maßgabe des geltenden HTV-See“) sowie die geänderte Bezeichnung als „Abschlagszahlung“ in Tabelle A HTV-See 2018, dass Zuschläge für geleistete SFN-Arbeit, die nicht durch die Abschlagszahlung abgedeckt sind, auszuzahlen sind. Ein anderes Verständnis wäre contra legem. 489

E. Arbeits- und Ruhezeiten

213

Weiterhin Gegenstand einer Pauschalierung ist hingegen die Vergütung der Überstunden, § 11 Abs. 1 MTV-See 2014. Für diese kann nichts anderes gelten als für die SFN-Zahlungen nach § 15 Abs. 1 MTV-See 2014. Überschreitet das Besatzungsmitglied die Anzahl an Überstunden, die rechnerisch mit der Pauschale abgegolten sind, sind darüber hinausgehende Überstunden zu vergüten, da die Tarifparteien eben nur über die Höhe eines angemessenen Zuschlags, nicht hingegen über die Überstundenvergütung an sich disponieren können. Sie könnten daher den Überstundenzuschlag pauschalieren, nicht hingegen die Vergütung der Überstunden insgesamt. Durch die Vereinbarung einer pauschalierten Überstundenvergütung nach HTV-See 2018 Tabelle A, überschreiten die Tarifparteien den ihnen vom Gesetzgeber zugeschriebenen Gestaltungsspielraum.493 Die tarifvertragliche Pauschalierung der Überstundenvergütung ist nur in den engen Grenzen des § 49 Abs. 1 Nr. 5 und damit nur für Besatzungsmitglieder auf Fischereifahrzeugen, Fähr- und Fahrgastschiffen möglich. Zur Veranschaulichung dient das folgende Beispiel: Ein Wachoffizier auf einem Schiff mit einer Bruttoregisterzahl von mehr als 3.500 erhält nach dem HTV-See 2018 eine Grundvergütung i. H. v. EUR 3.237,00 und eine pauschalierte Überstundenvergütung von EUR 467 monatlich, vgl. Tabelle A HTV-See 2018. Die gesetzlich zwingend vorgesehene Mindesthöhe der Überstundenvergütung entspricht 1/200 der Grundvergütung, mithin im vorliegenden Beispiel 16,19 EUR. Daraus folgt, dass die Überstundenvergütung nach § 11 Abs. 1 MTV-See 2014 i. V. m. dem HTV-See 2018 28,8 monatliche Überstunden „einpreist“. Nicht berücksichtigt ist hierbei jedoch die weitere zwingende gesetzliche Vorgabe des § 51 Abs. 1 S. 1 2. Hs., wonach ein angemessener Zuschlag zu zahlen ist.494 Legt man die Rechtsprechung des BAG zur „Angemessenheit“ nach § 6 Abs. 5 ArbZG zugrunde, so ist von einer Angemessenheit ab 10 % des Bruttoarbeitsentgelts auszugehen.495 Von einem Zuschlag von 10 % ausgehend, ist in dem genannten Beispiel des Wachoffiziers eine Überstunde mit 17,81 EUR zu vergüten, womit die pauschale Überstundenvergütung 26,2 monatliche Überstunden vergütet. Wird diese Anzahl an Überstunden überschritten, so sind dem Besatzungsmitglied diese Überstunden nach Maßgabe des § 51 Abs. 1 zu vergüten.

493 Dass mit der pauschalierten Überstundenvergütung keinesfalls die Vergütung allein der Überstundenzuschläge gemeint sein kann, zeigt ein Blick auf die Systematik von MTV-See 2014 und HTV-See 2018, die nur zwischen Grundvergütung, Überstundenvergütung und Abschlagszahlungen für SFN-Arbeit unterscheiden. Die Grundvergütung bezieht sich dabei auf die Regelarbeitszeit und nicht auf geleistete Überstunden. 494 Dass die „Angemessenheit“ des Zuschlags nicht tarifdispositiv ist, sondern ebenso wie die Zahlung der Überstundenvergütung zwingend, zeigt ein Vergleich mit § 6 Abs. 5 ArbZG, der einen „angemessenen Zuschlag“ (oder eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage) nur dann vorsieht, „wenn keine tariflichen Ausgleichsregelung bestehen“. 495 BAG, Urt. v. 31.8.2005 – 5 AZR 545/04, NZA 2006, 324; BAG, Urt. v. 11.2.2009 – 5 AZR 148/08, AP § 6 ArbZG Nr. 9.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

7. Tarifvertragliche Abweichungen a) Tariföffnungsklausel des § 49 Die Tariföffnungsklausel des § 49 sieht zahlreiche Möglichkeiten vor, durch Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Bordvereinbarung von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften der §§ 42 – 52 abzuweichen. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 1 kann die Befugnis des Kapitäns vereinbart werden, außer in den in § 47 Abs. 4 vorgesehenen Fällen eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit um bis zu zwei Stunden anzuordnen. Diese Öffnungsmöglichkeit stammt aus einer Zeit, in der zwischen einer Regelarbeitszeit und einer Höchstarbeitszeit noch nicht unterschieden wurde. Sie hat daher neben dem sogleich zu erläuternden § 49 Abs. 1 Nr. 3 keine eigenständige Bedeutung mehr.496 Nach § 49 Abs. 1 Nr. 2 können die Kollektivvertragsparteien die Lage der Mindestruhezeit flexibilisieren, sind hierbei aber aufgrund der Vorgaben des STCW-Codes für Besatzungsmitglieder im Wachdienst sehr eingeschränkt.497 Entsprechend kann die Mindestruhezeit nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) in bis zu drei Abschnitte aufgeteilt werden, wobei ein Abschnitt eine Mindestdauer von 6 Stunden, die beiden anderen eine Mindestdauer von jeweils einer Stunde haben müssen. Diese Ausnahmeregelung darf allerdings nur für zwei 24-Stunden-Zeiträume in jedem Zeitraum von sieben Tagen in Anspruch genommen werden. b) Insbesondere § 49 Abs. 1 Nr. 3 aa) Überblick Die praktisch bedeutsamste Tariföffnungsregelung enthält § 49 Abs. 1 Nr. 3. Diese eröffnet den Tarifparteien die Möglichkeit, abweichende Regelungen zu den Regelarbeitszeiten nach §§ 43, 44 und zu den Höchstarbeitszeiten nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 festzulegen. Auch die Mindestruhezeiten können bis zu den Grenzen des STCW-Codes flexibilisiert werden.498 Möglich ist eine Verkürzung auf 70 Stunden in jedem Zeitraum von sieben Tagen. Diese Abweichung von der Mindestruhezeit des § 48 Abs. 1 Nr. 2 darf höchstens für zwei aufeinanderfolgende Wochen zugelassen werden, wobei zwischen zwei an Bord verbrachten Zeiträumen, für die die Ausnahmeregelung gilt, eine Zeitspanne liegen muss, die mindestens doppelt so lang ist wie der unter die Ausnahmeregelung fallende Zeitraum. Eine solche Zeitspanne muss dann nicht erreicht werden, wenn dem Ausnahmezeitraum eine Freistellung von mindestens gleicher Dauer folgt, § 49 Abs. 1 Nr. 3 a. E.

496 497 498

BNPM/Noltin, § 49 Rn. 3. Vgl. Section A-VIII/1 Abs. 9 STCW-Code. Ebd.

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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bb) Öffnung der Regelarbeitszeiten Dogmatisch handelt es sich bei der durch § 49 Abs. 1 Nr. 3 ermöglichten Flexibilisierung der Arbeitszeiten der §§ 43, 44 nicht etwa um die Verlängerung der Regelarbeitszeit, sondern um die Möglichkeit der Anordnung von Mehrarbeit.499 Dies ergibt sich aus § 51 Abs. 1, welcher ausdrücklich bestimmt, dass es sich bei über die Grenzen des §§ 43, 44 hinausgehenden Arbeitszeiten um zuschlagspflichtige Mehrarbeit handelt. § 51 ist außer für Besatzungsmitglieder von Fischerei- und Fahrgastschiffen einer Flexibilisierung durch Tarifvertrag nicht zugänglich. Von einem solchen Verständnis der Tariföffnungsklausel des § 49 Abs. 1 Nr. 3 gehen auch die Tarifvertragsparteien des MTV-See aus, indem sie zwischen einer „regelmäßigen Arbeitszeit“, § 8 Abs. 1 S. 1 MTV-See, und einer „täglichen Arbeitszeit, die […] in Abweichung von §§ 43, 44 in Verbindung mit § 49 des Seearbeitsgesetzes zu leisten ist“, § 8 Abs. 2 MTV-See,500 unterscheidet. Im Einklang mit § 51 Abs. 1 sind nach § 8 Abs. 1 S MTV-See alle über die regelmäßigen Arbeitszeiten hinausgehenden Zeiten Überstunden. cc) Öffnung der Mindestruhezeiten Während die Tariföffnung der Höchstarbeitszeit bereits im SeemG zu finden war,501 ist die mögliche Verkürzung der Mindestruhezeiten eine Neuheit des Seearbeitsgesetzes. Unter Geltung des Seemannsgesetzes war eine Verkürzung der Mindestruhezeiten nur für Besatzungsmitglieder auf Bergungsfahrzeugen, See- und Bergungsschleppern möglich.502 Begründet wurde dies mit der bedarfsorientierten Arbeitsweise der genannten Schiffe und den daraus folgenden unregelmäßigen Arbeitszeiten sowie dem hohen Anfall an Bereitschaftszeiten.503 Der Gesetzgeber begründet die vorgenommene Erweiterung der Tariföffnungsklausel damit, das Arbeitszeitregime noch umfassender in die Hand der Tarifvertragsparteien legen zu wollen.504 Die Tariföffnung der Mindestruhezeitregelung ist missverständlich formuliert. Sofern die Öffnungsklausel „abweichende Regelung […] von der Mindestruhezeit […]“ zulässt, bezieht sie sich dem Wortlaut nach sowohl auf die tägliche Mindestruhezeit des § 48 Abs. 1 Nr. 2 lit. a) als auch auf die wöchentliche Mindestruhezeit Ruhezeit nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 lit. b). Die Gesetzesbegründung zeigt jedoch, dass lediglich die Verkürzung der wöchentlichen Mindestruhezeit ermöglicht 499

Siehe hierzu ausführlich oben unter § 4 E. II. 2. a). § 8 MTV-See spricht von „tägliche(r) Arbeitszeit, die vom Beschäftigten in Abweichung von den §§ 85 bis 87 in Verbindung mit § 89a des Seemannsgesetzes grundsätzlich zu leisten ist.“ Die Vorschrift nimmt also die Vorschriften des Seemannsgesetzes in Bezug. Hierbei handelt es sich ganz offensichtlich um ein redaktionelles Versehen, was auch Noltin, RdTW 2017, 1, 8, kritisiert. 501 § 89 Abs. 1a SeemG. 502 Vgl. § 139 Abs. 3 SeemG. 503 So zu § 139 Abs. 3 SeemG Lindemann/Bemm, § 139 SeemG Rn. 5. 504 BT-Drucks. 17/12420 S. 20. 500

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

werden soll.505 Dies ist folgerichtig, da eine Öffnung der täglichen Mindestruhezeit gegen den STCW-Code verstoßen würde, der eine Kürzung der zehnstündigen täglichen Ruhezeit nicht vorsieht. Die Gesetzesbegründung zum Seearbeitsgesetz geht ausdrücklich von einer Konformität der Öffnungsklausel mit den Vorgaben des STCW-Codes aus.506 Damit ist § 49 Abs. 1 Nr. 3 dahin auszulegen, dass die Tarifvertragsparteien nur die wöchentliche Mindestarbeitszeit in den genannten Grenzen ändern können. dd) Einschränkung der Tariföffnung des § 49 Abs. 4 Die Abweichungen vom gesetzlichen Arbeitszeitregime müssten nach § 49 Abs. 4 „in Übereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Besatzungsmitglieder stehen und aus technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen erforderlich sein.“ Diese Einschränkung war bereits in der Vorgängervorschrift des § 89a Abs. 1 SeemG enthalten, ist jedoch in Rechtsprechung und Literatur kaum thematisiert worden. Die allgemeinen Grundsätze für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Besatzungsmitglieder sind dort eingehalten, wo die Bestimmungen im Einklang mit dem STCW-Code stehen, der gerade dem Zweck dient, Schiffssicherheit und Gesundheitsschutz des Wachpersonals zu gewährleisten. Die Verlängerung der Regelarbeitszeit der §§ 43, 44 unter Gewährung längerer Urlaubszeiten ist seit Jahren tarifliche Praxis.507 Die an Bord verbrachte Zeit wird mit Arbeit „gefüllt“, während die an Land verbrachte Zeit verlängert wird. Diese Verblockung in Arbeits- und Freizeitphasen ist gerade für solche Besatzungsmitglieder sinnvoll, die auf längeren Reiserouten unterwegs sind und daher ein großes Interesse an verlängerten Urlaubszeiten haben. Aufgrund der geringen räumlichen Kapazitäten auf den Schiffen ist die Verlängerung der Regelarbeitszeit und die hierdurch ermöglichte Verkleinerung der Crews auch für den Arbeitgeber sinnvoll. In der Tarifpraxis haben sich Regelungen durchgesetzt, nach denen das Kalenderjahr im Verhältnis eins zu eins in Einsatz- und Nicht-Einsatztage unterteilt wird.508 Ein solcher arbeitsorganisatorischer Grund ist bei einer Verlängerung der Mindestruhezeiten des § 48 Abs. 1 Nr. 2 nicht ohne Weiteres ersichtlich. Nach der Tariföffnungsklausel der Norm A2.3 Abs. 13, deren Inhalt § 49 Abs. 4 weitgehend übernimmt, haben tarifvertragliche Abweichungen von der Mindestruhezeit, „soweit wie möglich den festgelegten Normen zu folgen, können aber häufigeren oder längeren Urlaubszeiten oder der Gewährung von Ausgleichsurlaub für wachegehende Seeleute oder Seeleute, die an Bord von Schiffen mit kurzer Reisedauer arbeiten, Rechnung tragen.“ 505 506 507 508

Ebd. BT-Drucks. 17/10959, S. 81. § 8 Abs. 2 MTV-See. Vgl. § 23 Anlage I – IV MTV-See.

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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Lindemann merkt hierzu an, dass sich eine technische oder arbeitsorganisatorische Erforderlichkeit einer abweichenden Regelung zur Höchstarbeitszeit etwa bei Schiffen im Zwei-Wachen-Dienst, bei Fährschiffen und bei Schiffen im Lotsenversetzdienst sowie bei Schiffen auf Routen mit häufiger Hafenfolge ergeben könne.509 Wie die MLC verknüpft auch Lindemann die Abweichung vom gesetzlichen Arbeitszeitregime gedanklich mit der besonderen Betriebsweise des Schiffes. Die Notwendigkeit einer Verkürzung der Mindestruhezeit auf einem Zwei-WachenSchiff ist leicht nachvollziehbar. Hier sind zwölf tägliche und damit 84 wöchentliche Arbeitsstunden bereits aufgrund des Wachdienstes erforderlich. Dass aus technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen statt weiteren sieben wöchentlichen Arbeitsstunden deren 14 anfallen können, ist naheliegend. Bei einem im Drei-Wachen-System operierenden Schiff ist die anstehende Arbeit regelmäßig auf eine größere Anzahl von Besatzungsmitgliedern verteilbar. Arbeitsorganisatorische oder technische Gründe, die eine wöchentliche Verlängerung der Arbeitszeit um sieben Stunden erforderlich machen, sind hier schwer denkbar. Dies gilt umso mehr, als dass Arbeitsstunden, die für die unmittelbare Schiffs- und Ladungssicherheit notwendig sind, bereits nach § 47 Abs. 1, 2 zulässig sind und damit bei der Frage der Erforderlichkeit i. S. d. § 49 Abs. 4 keine Rolle spielen. Eine Erforderlichkeit kann sich damit allenfalls daraus ergeben, dass die Schiffe in Fahrtgebieten mit häufigen Hafenfolgen oder besonders kurzen Hafenliegezeiten eingesetzt werden.510 Praktische Bedeutung hat die Möglichkeit der Verkürzung der Mindestruhezeit noch nicht erlangt. Der MTV-See 2014 sieht Abweichungen zu der Mindestruhezeit nicht vor.511 ee) Zwischenergebnis zur Tariföffnung Der Gesetzgeber legt durch die Tariföffnung des § 49 die Gestaltung des Arbeitszeitrechts weitgehend in die Hände der Tarifparteien. Dadurch, dass er auch die Mindestruhezeit bis zu den Grenzen des STCW-Codes flexibilisiert, weicht er von den Mindestruhezeiten der MLC ab und bedient sich der Tariföffnungsklausel der Norm A2.3 Abs. 13. Auch das Seearbeitsgesetz stellt die Tariföffnung unter Vorbehalt. Unter anderem müssen abweichende Tarifvereinbarungen aus technischen oder arbeitsorganisatorischen Gründen erforderlich sein. Während sich eine solche Erforderlichkeit bei den, in der Tarifpraxis bisher üblichen, abweichenden Regelung zu den regelmäßigen Arbeitszeit leicht begründen lässt, ist sie bei abweichenden Regelungen zur Mindestruhezeit nur unter besonderen Voraussetzungen denkbar. Bei Drei-Wachen-Schiffen ist aufgrund der höheren Besatzungsstärke eine Erforderlichkeit in der Regel ausgeschlossen. Wie die MLC schreibt auch das Seearbeitsgesetz vor, dass abweichende Tarifvereinbarungen soweit wie möglich den vorgegebenen Zeiten zu folgen haben, aber häufigeren und längeren Urlaubszeiten Rechnung tragen können, § 49 Abs. 4. Um die Grenzen der Tariföffnung des See509 510 511

Lindemann, § 49 Rn. 7. Ebd. § 9 Abs. 2 MTV-See, auch in den Fassungen der Anlagen I – IV.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

arbeitsgesetzes einzuhalten, sollten die Tarifparteien dem vorgeschlagenen Kompensationsmechanismus folgen und die Öffnung der Mindestruhezeit mit einer Verlängerung der Urlaubszeiten verbinden.

III. Offshore-Arbeitszeitverordnung 1. Hintergrund Die Offshore-Windenergie gilt für das Gelingen der Energiewende in Deutschland als unverzichtbar.512 Um das von der Europäischen Union gesetzte umweltpolitische Ziel zu erreichen, Treibhausgasemissionen zwischen 1990 und 2050 um 80 – 95 % zu reduzieren,513 ist ein massiver Ausbau der Offshore-Windkraftindustrie erforderlich. Ende 2017 waren vor den deutschen Küsten insgesamt 1.196 OffshoreWindenergieanlagen in 20 Offshore-Windparks mit zusammen etwa 5.300 Megawatt installierter Leistung am Netz.514 Die Arbeitsbedingungen bei der Errichtung solcher Windparks unterscheiden sich sowohl von den Bedingungen des Landarbeitsverhältnisses als auch von den Bedingungen des Seearbeitsverhältnisses. Die Windenergieanlagen befinden sich in der Regel außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone und in bis zu 295 Kilometern Entfernung zur Küste.515 Bereits die Anfahrt zu den Anlagen mit dem Schiff dauert daher in aller Regel mehrere Stunden.516 Sowohl die Anfahrt zu den Anlagen als auch die Arbeit an und auf diesen ist häufig aufgrund der Wetterlage gar nicht möglich.517 Um die Arbeitszeiten bestmöglich zu nutzen und Anfahrtszeiten sowie das Risiko eines Anfahrtsausfalls zu minimieren, werden die mit der Installation und Wartung beschäftigten Arbeitnehmer in der Regel für mehrere Tage auf Wohnplattformen und auf den Errichterschiffen untergebracht.518 Aufgrund der räumlichen Beengtheit, der sehr eingeschränkten Freizeitmöglichkeiten und des Mangels an sozialen und familiären Kontakten haben die Arbeitnehmer ein großes Interesse daran, in Zeiten ihres Bordaufenthalts ihre Arbeit zu bündeln und diese Mehrarbeit durch längere 512 Studie „Energiewirtschaftliche Bedeutung der Offshore-Windenergie für die Energiewende“ des Fraunhofer-Instituts für Windenergie und Energiesystemtechnik, S. 4, abrufbar unter: https://www.fraunhofer.de/content/dam/zv/de/forschungsthemen/energie/Energiewirtschaftli che-Bedeutung-von-Offshore-Windenergie.pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 513 https://www.umweltbundesamt.de/daten/klima/europaeische-energie-klimaziele, letzter Abruf vom 14.10.2019. 514 https://www.wind-energie.de/themen/offshore, letzter Abruf vom 14.10.2019. 515 Eine graphische Übersicht sämtlicher Windparks in Nord- und Ostsee ist abrufbar unter: http://www.4coffshore.com/offshorewind/, letzter Abruf vom 14.10.2019. 516 Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1333. 517 Eckstein, NZA 2013, 1060. 518 Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1333.

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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arbeitsfreie Zeiten an Land auszugleichen.519 In dieser Hinsicht ähnelt das Arbeitsverhältnis der Offshore-Arbeitnehmer dem Heuerverhältnis auf Bergungs- und Schleppschiffen. Auch hier ist eine Verblockung von Arbeits-und Freizeitphasen üblich und von Arbeitnehmerseite gewünscht.520 Die Errichtung von Offshore-Energieanlagen ist ein technisch anspruchsvoller Prozess. Die Fundamente müssen bei einer Wassertiefe bis zu 40 Metern im Boden verankert und die Turmrohre der Anlage ineinander gefügt werden, bevor ein etwa 300 Tonnen schweres Maschinenhaus und 60 Meter lange Rotorflügel in ca. 100 Metern Höhe angebracht werden.521 Für diese Installationen sind neben Helikoptern und Schiffen für Material- und Crewtransport besondere Installationsschiffe erforderlich, die zu einem Tagessatz von bis zu 500.000 Euro gechartert oder gemietet werden müssen.522 2. Offshore-Arbeitszeitverordnung Aufgrund dieser umweltbezogenen, technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist eine effiziente Nutzung der Zeit, in denen sich der Arbeitnehmer auf See befindet, von entscheidender Bedeutung.523 Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes, welches aufgrund der Erstreckungsklausel des § 1 S. 1 Nr. 1 in der Ausschließlichen Wirtschaftszone grundsätzlich Anwendung finden würde, könnten diesen Rahmenbedingungen nicht gerecht werden. Auch die Arbeitszeitvorschriften des Seearbeitsgesetzes, die für die Besatzungsmitglieder der Errichterschiffe gelten würden, sind nicht auf die besonderen Bedingungen der Offshore-Arbeit zugeschnitten. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber von den Verordnungsermächtigungen des §§ 15 Abs. 2a ArbZG und 55 Abs. 1 Nr. 3 SeeArbG Gebrauch gemacht und zeitgleich mit dem Seearbeitsgesetz die Offshore-Arbeitszeitverordnung geschaffen.524 In dieser werden die Arbeitszeiten von Besatzungsmitgliedern auf Schiffen, von denen aus Offshore-Tätigkeiten durchgeführt werden (im Folgenden: Offshore-Besatzungsmitglieder) und von Landarbeitnehmern, die Offshore-Tätig519

Ebd. Zu dem von den Tarifverträgen abgebildeten Interesse an der Verblockung der Arbeitszeiten im Seearbeitsverhältnis auch im Übrigen, siehe oben unter § 4 E. II. 7. 521 Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1333. Der Ablauf des Aufbaus einer Offshore-Windenergieanlage wird ausführlich beschrieben von Sorgatz, Schiff & Hafen 03/ 2012, S. 66 ff. 522 Hoffmann/Günter/Rowold, ebd.; siehe exemplarisch die Zusammenfassung der täglichen Charterpreise für Offshore-Fahrzeuge bei: https://ihsmarkit.com/products/oil-gas-drilling-rigs-offshore-day-rates.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. 523 Zu den praktisch ebenfalls relevanten Fragen der Arbeitnehmerüberlassung in der Offshore-Industrie, vgl. Bayreuther, NZA 2019, 1256. 524 Verordnung über die Arbeitszeit bei Offshore-Tätigkeiten (Offshore-ArbZVO) vom 5. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2228 ff.). 520

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

keiten durchführen (im Folgenden: Offshore-Arbeitnehmer), synchronisiert und den Erfordernissen des Offshore-Betriebs angepasst. a) Arbeitszeitregelungen Für Offshore-Arbeitnehmer wie für Offshore-Besatzungsmitglieder darf die tägliche Arbeitszeit abweichend von §§ 3, 6 Abs. 2 und 11 ArbZG bzw. §§ 43 Abs. 1 Nr. 1 SeeArbG auf bis zu zwölf Stunden täglich und 84 Stunden wöchentlich verlängert werden.525 In der Nacht und an Sonn- und Feiertagen kann uneingeschränkt gearbeitet werden.526 Für Offshore-Arbeitnehmer ist der Zeitraum der OffshoreTätigkeit begrenzt. Sie dürfen nicht mehr als 21 aufeinander folgende Tage auf See verbringen. In diesem Zeitraum darf die durchschnittliche tägliche Arbeitszeit zehn Stunden nicht überschreiten.527 Die Arbeitszeit darf in Abweichung von §§ 3, 6 Abs. 2, 11 Abs. 2 ArbZG insgesamt wöchentlich 48 Stunden im Durchschnitt von zwölf Monaten nicht überschreiten.528 Der Gesetzgeber sieht zwei alternative Modelle der Arbeitszeitverteilung vor: Der Offshore-Arbeitnehmer kann die vollen 21 Tage ununterbrochen mit Offshore-Tätigkeiten beschäftigt werden. Dies steht allerdings unter der Voraussetzung, dass die tägliche Arbeitszeit von zehn Stunden nur an sieben Tagen, davon an jeweils höchstens zwei aufeinanderfolgenden Tagen, auf die maximal zulässige Arbeitszeit von 12 Stunden erhöht werden darf.529 Alternativ530 kann der Offshore-Arbeitnehmer an maximal 14 aufeinander folgenden Tagen über zehn Stunden täglich bis zur Zwölf-Stunden-Grenze des § 3 OffshoreArbZVO mit Offshore-Tätigkeiten beschäftigt werden.531 In diesem Fall ist ihm nicht erst nach 21 Tagen, sondern unmittelbar nach den 14 Arbeitstagen eine Freistellungsphase nach Maßgabe des § 7 Abs. 2 Offshore-ArbZVO zu gewähren. Die Möglichkeit, 14 Tage ununterbrochen bis zu zwölf Stunden täglich zu arbeiten, ist in der Praxis von großer Relevanz. Durch diese Flexibilisierung kann die OffshoreArbeit in einem Zwei-Schichten-System organisiert und ein „Rund-um-die-UhrBetrieb“ gewährleistet werden.532 Dadurch, dass die Verordnung keine Sondervorschriften zur elfstündigen Ruhezeit nach § 5 Abs. 1 ArbZG enthält, scheidet ein Schicht-System, in dem sich – wie beim Wachsystem auf Zwei-Wachen-Schiffen – 525 § 3 Abs. 1 (für Offshore-Arbeitnehmer) bzw. § 12 Abs. 1 (für Offshore-Besatzungsmitglieder) Offshore-ArbZVO. 526 § 3 Abs. 1, §§ 5, 6 (für Offshore-Arbeitnehmer) bzw. § 12 Abs. 1 (für Offshore-Besatzungsmitglieder) Offshore-ArbZVO. 527 § 6 Abs. 1 S. 1, 3 Offshore-ArbZVO. 528 § 7 Abs. 7 Offshore-ArbzVO. 529 § 6 Abs. 1 S. 2 Offshore-ArbzVO. 530 Dass §§ 6 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 in einem Alternativverhältnis stehen, ergibt sich zwar nicht aus Wortlaut und Systematik der Vorschrift, jedoch eindeutig aus der Begründung des Verordnungsgebers, BR-Drucks. 326/13, S. 12. 531 § 6 Abs. 2 Offshore-ArbZVO. 532 BR-Drucks. 326/13, S. 12.

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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sechsstündige Ruhezeit- und Arbeitsphasen abwechseln, für Offshore-Arbeitnehmer aus. Der Schichtwechsel findet im Zwei-Schichten-System daher zwingend nach zwölf Arbeitsstunden statt.533 Für die geleistete Mehr-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sieht die Verordnung für Offshore-Besatzungsmitglieder und Offshore-Arbeitnehmer gleichermaßen einen Freizeitausgleich vor. Für jeweils volle acht Stunden Mehrarbeit sowie für Tage der Sonntags- und Feiertagsbeschäftigung ist ein freier Tag an Land zu gewähren.534 Aufgrund der besonderen Belastungen der OffshoreArbeit wird die vorgeschriebene Pausenzeit bei einer Arbeitszeit von mehr als zehn Stunden von 45 auf 60 Minuten verlängert.535 Transportzeiten der Offshore-Arbeitnehmer, also die Zeiten vom Sammelpunkt an Land zum Einsatzort und zurück, sind grundsätzlich als Arbeitszeit zu behandeln.536 Unbeschadet der Zwölf-StundenGrenze des § 3 Offshore-ArbZVO ist für Tage, in denen Transportzeit und Arbeitszeit zusammentreffen, eine Höchstarbeitszeit von 14 Stunden einzuhalten.537 An solchen Tagen darf die tägliche Ruhezeit abweichend von § 5 Abs. 1 ArbZG um die Dauer der Transportzeit, maximal aber um zwei Stunden, verkürzt werden. Für den Fall, dass an einzelnen Tagen nur Transportzeiten anfallen, können die maximal zulässigen Aufenthaltstage am Einsatzort um die Transporttage verlängert werden.538 Transportzeiten sind dann nicht wie Arbeitszeiten zu behandeln, wenn die ununterbrochene Transportzeit mindestens sechs Stunden beträgt und den Arbeitnehmern während der Transportzeit Schlafplätze in einer Schlafkabine zur Verfügung stehen.539 b) Einzelprobleme aa) Begriff der „Offshore-Tätigkeiten“ Nach § 1 Offshore-ArbZVO gilt die Verordnung – räumlich – im Küstenmeer, in der Ausschließlichen Wirtschaftszone sowie auf Schiffen, von denen aus OffshoreTätigkeiten i. S. d. § 15 Abs. 2 ArbZG oder des § 55 S. 1 Nr. 3 SeeArbG durchgeführt werden. Sie gilt – persönlich – für Besatzungsmitglieder i. S. d. § 3 Abs. 1 SeeArbG sowie für Arbeitnehmer, die Offshore-Tätigkeiten i. S. d. § 15 Abs. 2a ArbZG durchführen. Es reicht damit dem Wortlaut der Vorschrift nach nicht aus, dass ein Arbeitnehmer – in räumlicher Hinsicht – off shore, also im Küstenmeer oder in der 533 Der Unterschied lässt sich dadurch leicht erklären, dass es im Schiffsbetrieb eines durchgängigen, auch nicht durch kurze Ruhepausen unterbrochen, Wachbetriebs bedarf. Diese Besonderheit besteht im Offshore-Arbeitsverhältnis für das Errichter-Personal nicht. 534 § 7 Abs. 1, 4, 5 Offshore-ArbZVO i. V. m. § 11 ArbZG (für Offshore-Arbeitnehmer) bzw. § 14 Abs. 1, Abs. 2 Offshore-ArbZVO i. V. m. § 52 SeeArbG (für Offshore-Besatzungsmitglieder). 535 § 4 Offshore-ArbZVO. 536 § 9 Abs. 1 Offshore-ArbZVO, siehe aber § 9 Abs. 3 Offshore-ArbZVO. 537 § 9 Abs. 2 S. 1 Offshore-ArbZVO. 538 § 9 Abs. 2 S. 3 Offshore-ArbZVO. 539 § 9 Abs. 3 Offshore-ArbZVO.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Ausschließlichen Wirtschaftszone tätig ist, vielmehr muss er dort auch eine Offshore-Tätigkeit i. S. d. § 15 Abs. 2a ArbZG durchführen. Im Arbeitszeitgesetz540 und im Seearbeitsgesetz541 sind „Offshore-Tätigkeiten“ übereinstimmend definiert als „besondere Tätigkeiten zur Errichtung, zur Änderung oder zum Betrieb von Bauwerken, künstlichen Inseln oder sonstigen Anlagen auf See“. In der Literatur sind aufgrund dieser Definition, insbesondere aufgrund des Tatbestandsmerkmals „besondere“, Zweifel aufgekommen, ob der persönliche Anwendungsbereich des § 1 S. 1 Nr. 1 Offshore-ArbZVO nicht auf das sog. Errichterpersonal zu beschränken sei.542 Hierdurch würden etwa Schweißer, Elektriker, Bauarbeiter oder Ingenieure unter die Verordnung fallen, nicht aber solches Personal, das den Errichtungsarbeiten nur mittelbar dient, wie etwa Küchen- oder Servicepersonal auf Wohnplattformen.543 Diese Zweifel sind nicht angebracht. Sie nähren sich aus einer sprachlichen Ungenauigkeit, die sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens zum Seearbeitsgesetz eingefunden hat. Um zwischen Besatzungsmitgliedern i. S. d. § 3 Abs. 1 und Offshore-Arbeitnehmern, die nach § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 keine Besatzungsmitglieder sind, zu unterscheiden, wählte man für erstere die Bezeichnung „Betreiberpersonal“ und für zweitere die Bezeichnung „Errichterpersonal“.544 Da sich Offshore-Arbeit jedoch nicht im Errichten von Offshore-Anlagen erschöpft, sondern nach dem eindeutigen Wortlaut des § 15 Abs. 2a ArbZG auch die Änderung oder den Betrieb von Anlagen beinhaltet, ist der Begriff „Errichterpersonal“ nicht arbeitstechnisch zu verstehen, sondern als zusammenfassende Bezeichnung für Arbeitnehmer, die Anlagen auf See errichten, ändern oder betreiben.545 Das beispielhaft genannte Küchenund Servicepersonal auf den Wohnplattformen dient zwar nur mittelbar der Errichtung oder Wartung der technischen Offshore-Anlagen. Es ist aber unmittelbar verantwortlich dafür, dass die Grundversorgung des technischen Personals gesichert ist. Ihre Tätigkeit besteht damit in dem Betrieb eines Bauwerks auf See. Im Hinblick auf die erforderliche „Besonderheit“ der Tätigkeit ist davon auszugehen, dass es sich hierbei um ein Füllwort des Gesetzgebers und nicht um ein Tatbestandsmerkmal handelt.546 Es kann aufgrund seiner Unbestimmtheit keine abgrenzende Funktion erfüllen. Die Versorgung auf Wohnplattformen ist für das Funktionieren eines Offshore-Betriebs ebenso unabdingbar wie die technischen Arbeiten an den Offshore-Anlagen selbst. Schließlich hätte der Ausschluss der genannten Personengruppen vom Geltungsbereich der Verordnung zur Folge, dass für sie die strengen Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes gelten würden. Eine Verblockung der Arbeitszeit, die aus den oben genannten Gründen auch im Interesse der Arbeitnehmer ist, wäre nicht möglich. Gleichzeitig könnten sie unbegrenzt über die 21-Tage540 541 542 543 544 545 546

§ 15 Abs. 2a Nr. 1 ArbZG. § 55 S. 1 Nr. 3. Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1334. Beispiele nach Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1334 f. Vgl. beispielsweise BT-Drucks. 17/12420, S. 13. Dies verkennt offenbar Maul-Satori, NZA 2013, 821, 823. So auch Hoffmann/Günter/Rowold, NZA, 2013, 1332, 1334.

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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Grenze des § 6 Abs. 1 hinaus auf See beschäftigt werden. Als Grund für die Begrenzung der Aufenthaltszeit der Land-Arbeitnehmer auf See nennt der Verordnungsgeber schlicht „den Schutz der Arbeitnehmer“.547 Gründe, warum Arbeitnehmer auf Wohnplattformen diesen Schutz nicht gleichermaßen erhalten sollten, sind nicht ersichtlich. Mithin fallen Arbeitnehmer, die auf den Wohnplattformen beschäftigt sind, ebenfalls in den Anwendungsbereich der Offshore-Arbeitszeitverordnung.548 bb) Räumliche Geltung bereits im Hafen Die Offshore-Arbeitszeitverordnung gilt nach § 1 Offshore-ArbZVO räumlich „im Küstenmeer […] in der Ausschließlichen Wirtschaftszone sowie auf Schiffen, von denen aus Offshore-Tätigkeiten […] durchgeführt werden.“ Dies führte in der Praxis zu der Frage, ob bereits die für die Vorbereitung des Offshore-Einsatzes notwendige Arbeit im Hafen unter die Offshore-Arbeitszeitverordnung fällt.549 Da für Besatzungsmitglieder im Hafen ohnehin die Hafenarbeitszeit gilt und die Verordnung lediglich Abweichungen zur Seearbeitszeit vorsieht,550 ist diese Frage von vornherein nur für Offshore-Arbeitnehmer relevant, die sich auf dem Schiff befinden, etwa um Bauteile für Windräder zu verladen. Bejahte man die Frage, so würde dies dazu führen, dass Offshore-Arbeitnehmer und Besatzungsmitglieder für die Zeit im Hafen unterschiedlichen Arbeitszeitregimen unterlägen. In Anbetracht der durchgehenden Synchronisation der Arbeitszeiten beider Personengruppen widerspricht dies dem erkennbaren Willen des Verordnungsgebers. Im wahrsten Sinne des Wortes würde sich das anwendbare Arbeitszeitregime für einen Arbeitnehmer im Hafen Schritt für Schritt danach ändern, ob er beim Verladevorgang nun gerade auf dem Schiff oder an Land steht. Auch setzt Offshore-Arbeit bereits begrifflich eine Tätigkeit off shore, also jenseits der Küste voraus. „Auf Schiffen“ i. S. d. § 1 S. 1 Offshore-ArbZVO meint mithin „auf in See befindlichen Schiffen“.551 cc) Inseln als Ort der Ausgleichszeiten Nach § 7 Abs. 5, § 14 Abs. 1 S. 3 Offshore-ArbZVO sind die Ausgleichstage für Mehrarbeitstage und Sonn- und Feiertagsbeschäftigung „an Land“ zu gewähren. In der Praxis ist hierzu die Frage aufgekommen, ob es sich beim „Land“ im Sinne der genannten Vorschriften um „Festland“ handeln muss.552 Bedeutsam ist dies vor allem im Hinblick darauf, dass die Insel Helgoland logistischer Ausgangspunkt für mehrere 547 548 549 550 551 552

BR-Drucks. 326/13, S. 12. Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1334. Ebd. § 12 Abs. 1 S. 1 Offshore-ArbZVO. Offen gelassen von Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1334. Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1335.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Offshore-Windparks in der Nordsee ist.553 Das Seearbeitsgesetz nutzt die Bezeichnung „an Land“ stets abgrenzend zu „an Bord“ oder „auf See“.554 Auch die Verordnungsbegründung weist darauf hin, dass Ausgleichstage „nicht etwa auf einer künstlichen Insel oder auf einem Schiff“ zu gewähren seien.555 Unter den Begriff der „künstlichen Insel“, auf der Ausgleichstage nicht gewährt werden können, wird auch die der Doggerbank in der Nordsee fallen. Auf dieser zwischen Dänemark und England liegenden Sandbank beschlossen ein niederländisches und ein dänisches Stromnetzunternehmen im Frühjahr 2017, eine mehrere Quadratkilometer große Insel zu errichten, die als Stützpunkt für den Bau und den Betrieb tausender Windräder dienen soll.556 Die Herausnahme ist mit Blick auf Sinn und Zweck der Ausgleichszeiten zwingend. Die Ausgleichszeiten sollen der „besonderen Belastungssituation der Beschäftigten […] bezüglich eingeschränkter Entspannungs- und Entlastungszeiten durch mangelnde Freizeitmöglichkeiten und mangelnde soziale und familiäre Kontakte“ Rechnung tragen.557 Sinn und Zweck der Verordnung verlangen damit, dass es auf einer Insel Möglichkeiten geben muss, der räumlichen Enge des Arbeitsalltags auf See und dem Mangel an sozialen Kontakten und Freizeitmöglichkeiten zu begegnen. Außerdem soll es trotz der zeitlichen Begrenztheit der Ausgleichszeiten dem Arbeitnehmer möglich sein, die Insel auf Wunsch ohne größeren Aufwand verlassen zu können.558 Eine Insel wie Helgoland, die wie das Festland über eine ausgebaute Infrastruktur sowie verschiedene Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung verfügt, entspricht damit den Voraussetzungen der §§ 7 Abs. 5, 14 Abs. 1 S. 3 Offshore-ArbZVO, die auf der Doggerbank geplante Insel hingegen nicht. dd) Rechtliche Einordnung von Transportzeiten Nach § 9 OffshoreArbZVO werden die Transportzeiten der Offshore-Arbeitnehmer vom Land zu ihrem Einsatzort arbeitszeitrechtlich besonders behandelt. Dem Wortlaut nach nicht umfasst sind hingegen die Fahrtzeiten zwischen der Unterbringung des Offshore-Arbeitnehmers – etwa auf einer Wohnplattform oder einem Wohnschiff – und der konkreten Einsatzstelle. Solche Zeiten sind in der Praxis nicht unerheblich, da sich Wohngelegenheiten und Offshore-Baustelle in der Regel aus 553

Ebd. § 28 Abs. 4, § 79 Abs. 1, § 82 Abs. 2, § 99 Abs. 1. 555 BR-Drucks. 326/13, S. 14. 556 http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/nordsee-firmen-planen-kuenstliche-inselfuer-windkraft-a-1141430.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. Die Insel soll neben Unterkünften auch einen Hafen, einen Flughafen und Grünflächen erhalten, siehe hierzu die ausführliche Projektbeschreibung des niederländischen Unternehmens Tennet B.V., abrufbar unter: https://www.tennet.eu/our-key-tasks/innovations/north-sea-wind-power-hub/, letzter Abruf vom 14.10.2019. 557 BR-Drucks. 326/13, S. 7. 558 Im Ergebnis wohl zustimmend Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1336. 554

E. Arbeits- und Ruhezeiten

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Sicherheitsgründen in einiger Entfernung voneinander befinden.559 Die arbeitszeitrechtliche Bewertung dieser Zeiten ist unklar. Ist die Anfahrt von der Unterbringung auf See zur Offshore-Anlage bereits Offshore-Arbeit im Sinne der Verordnung, handelt es sich hierbei um eine Transportzeit i. S. d. § 9 Abs. 1 der Verordnung oder handelt es sich gar um Wege- und Reisezeiten, die nach den für das Landarbeitsverhältnis gefundenen Maßstäben560 nach den Umständen des Einzelfalls als Arbeitsoder Ruhezeit zu behandeln sind? Letzteres ist vom Verordnungsgeber erkennbar nicht gewollt. Die Verordnung regelt die Arbeits- und Ruhezeit in der OffshoreArbeit umfassend und abschließend. Dass zwar die Anreise von der Küste zur Unterbringung auf See erfasst ist und ebenso der Arbeitseinsatz an der Baustelle selbst, nicht hingegen die Transportzeit zwischen beiden Offshore-Anlagen, ist fernliegend. Somit stellt sich die Frage, ob solche Fahrzeiten als „normale“ Offshore-Arbeitszeiten oder als Transportzeiten anzusehen sind. Die Transportzeiten-Regelung hat zwei Kerninhalte: Zum einen will sie den besonderen Belastungen der Arbeitnehmer bei den Transporten Rechnung tragen und erkennt Transportzeiten daher grundsätzlich als Arbeitszeiten an. Gleichzeitig können jedoch die Transportzeiten die tägliche Arbeitszeit von zwölf Stunden um bis zu zwei Stunden erhöhen, um die zwölfstündige Arbeitszeit nicht aufgrund von Transportzeiten verkürzen zu müssen und einen Zwei-Schichten-Betrieb aufrecht zu erhalten.561 Dieses zweite Kernziel ließe sich dann nicht mehr erreichen, wenn man für Transportwege zwischen Wohngelegenheit und der konkreten Einsatzstelle eine Arbeitszeiterhöhung ausschließen würde. Offshore-Arbeitnehmer würden ohne diese Privilegierung der Transportzeiten die Arbeit an der Baustelle früher beenden müssen, um nicht gegen die 12-Stunden-Grenze zu verstoßen. Da die Ermöglichung eines Zwei-SchichtenSystem ein zentrales Ziel der Verordnung ist, liegt hier offensichtlich eine Regelungslücke vor. Da die Privilegierung der Transportzeiten vom Land zur OffshoreEinrichtung keiner Begrenzung unterliegen, sie mithin täglich stattfinden können, wäre es – a maiore ad minus – sinnwidrig, die bedeutend längeren Transportzeiten von Land zu privilegieren, jedoch die – im Hinblick auf Ablauf und Belastung identischen, aber kürzeren – Transportzeiten zum Arbeitsort und zu der Unterbringung auf See als gewöhnliche Arbeitszeit i. S. d. § 3 Offshore-ArbZVO zu betrachten. Für beide Transportzeiten gilt, dass sie ein Zwei-Schichten-System nicht infrage stellen sollen.562 § 9 Offshore-ArbZVO ist daher analog anzuwenden.563

559 560 561 562 563

Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1336. Siehe hierzu BeckOKArbR/Kock, ArbZG, § 2 Rn. 15 ff. Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, 1336. Ebd. Im Ergebnis zustimmend ebd.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

3. Fazit Mit der Regelung der Arbeitszeiten in der Offshore-Arbeit betritt der Gesetzgeber Neuland. Mehr noch als dies auf Seeschiffen der Fall ist, geben ihm die technischen, umweltbedingten und wirtschaftlichen Besonderheiten der Offshore-Arbeit die Rahmenbedingungen vor. Die Arbeitszeit auf See muss so effizient wie möglich genutzt werden. Hierzu wird, im internationalen Vergleich üblich, eine Rund-umdie-Uhr-Beschäftigung in einem Zwei-Schichten-System unter Aussetzung der Nacht-, Sonn- und Feiertagsruhe ermöglicht. Um den besonderen Arbeits- und Lebensumständen in der Offshore-Arbeit Rechnung zu tragen, ist hierdurch anfallende Mehrarbeit ausgleichspflichtig. Um einen reibungslosen Ablauf des ZweiSchichten-Systems zu gewährleisten, sind die Arbeitszeiten der Offshore-Arbeitnehmer und der Offshore-Besatzungsmitglieder zu synchronisieren. Im Anbetracht dieser klaren Regelungsziele wirft die Umsetzung zu viele Fragen auf. Was zeichnet „besondere“ Offshore-Tätigkeiten aus? Gibt es Tätigkeiten, die zwar dem räumlichen, aber nicht dem sachlichen Geltungsbereich der Verordnung unterliegen? Gilt die Verordnung nur auf See? Während sich die Frage nach der Zulässigkeit der Gewährung von Ausgleichszeiten auf größeren Inseln durch Auslegung beantworten lässt, bleibt die Frage nach der Behandlung von Transportzeiten zwischen einzelnen Offshore-Anlagen unbeantwortet. Um das Zwei-Schichten-System auf der OffshoreBaustelle nicht infrage zu stellen, muss hier auf eine Analogie zurückgegriffen werden. Um Rechtssicherheit in einer stetig wachsenden Industrie zu gewährleisten, ist der Verordnungsgeber gehalten, den Anwendungsbereich der Verordnung klar zu definieren und klarzustellen, dass Zeiten des Transports zwischen der Unterbringung auf See derselben arbeitszeitrechtlichen Behandlung unterliegen wie Transportzeiten zwischen Land und Einsatzort.

IV. Zusammenfassung und Bewertung In kaum einem Regelungsbereich treten die Unterschiede zwischen dem Landund Seearbeitsverhältnis so deutlich zutage wie im Arbeitszeitrecht. Der Schiffsbetrieb muss rund um die Uhr durch wachegehende Seeleute kontrolliert werden. Die vorhersehbaren und unvorhersehbaren Gefahren auf See führen zu unregelmäßigen Arbeitszeiten zum Schutz des Schiffes, der Besatzung und der Ladung. Schließlich kann das Schiff wirtschaftlich nur dann sinnvoll genutzt werden, wenn Hafenliegezeiten optimiert und Arbeitsprozesse gebündelt werden können. Sämtliche Arbeiten sind auf wenige Schultern zu verteilen. Die genannten Faktoren machen eine Arbeitszeiteinteilung, wie sie an Land üblich ist, unmöglich. Das Arbeitszeitregime des Seearbeitsgesetzes wird bestimmt durch zwei Begrenzungen und eine „Nicht-Begrenzung“: Die Begrenzung durch die Regelarbeitzeit und durch die Höchstarbeitszeit bzw. Mindestruhezeit sowie die NichtBegrenzung in Gefahrsituationen. Grundsätzlich hat das Besatzungsmitglied, wie

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der Landarbeitnehmer auch, einen Acht-Stunden-Tag. Diese Regelarbeitszeit kann in zahlreichen Ausnahmefällen bis zu den Grenzen der Höchstarbeitszeits- und Mindestruhezeit durchbrochen werden. Praktisch am bedeutsamsten ist diese Möglichkeit der Durchbrechung auf Schiffen nach § 46 sowie die Möglichkeit der Durchbrechung durch Tarifvertrag. Die Tarifparteien haben hiervon großzügig Gebrauch gemacht und Arbeits- und Einsatzzeiten verblockt. Dies dient nicht nur dem Interesse des Arbeitgebers an der Verkleinerung der Crews, sondern auch dem Interesse der Besatzungsmitglieder, die Einsatzzeiten auf See mit Arbeit zu füllen. In Ausnahmefällen, in denen eine unmittelbare Gefahr für das Schiff, die Bordgemeinschaft oder die Ladung besteht, bestehen im Interesse von Leib und Leben der Besatzung sowie der Erhaltung von Schiff und Ladung keine Arbeitszeitbeschränkungen. Durch zwei wichtige Angleichungskorrekturen werden historisch gewachsene Missstände beseitigt. Zum einen muss die Dauer der Ausgleichsruhezeit nach einer notfallbedingten Ruhezeitunterbrechung nunmehr mindestens der Dauer der Unterbrechung entsprechen. Hierdurch wird klargestellt, dass das Besatzungsmitglied bei Notfällen nur hinsichtlich der Lage, nicht auch hinsichtlich der Länge seiner Arbeitszeit Einschränkungen hinnehmen muss. Ferner wird durch das Kriterium der „unmittelbaren Gefahr“ für die Ladung klargestellt, dass im Hafen versäumte Ladungsarbeiten nicht unter Berufung auf einen besonderen Ausnahmefall nach § 47 Abs. 1 auf See vorgenommen werden dürfen. Damit wird eine Praxis unterbunden, die seit der Geltung der ersten Arbeitszeitvorschriften zu einer Umgehung der Höchstarbeitszeiten geführt hatte. Nicht durch die Besonderheiten der Seeschifffahrt, sondern vielfach durch Kundenwünsche bedingt sind die Arbeitszeiten des Servicepersonals. Da für dieses Personal die Tatbestände zur Durchbrechung der Regelarbeitszeit außerhalb von Tarifvereinbarung selten greifen, erlaubt der Gesetzgeber eine Verlängerung der Regelarbeitszeit um eine Stunde, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft fällt. Einen nachvollziehbaren Grund für die unterschiedliche – teils nachteilige, teils vorteilhafte – arbeitszeitrechtliche Behandlung der Servicekraft auf See gegenüber der Servicekraft an Land gibt es nicht. Im Hinblick auf die Angleichungsbestrebungen wäre die Beibehaltung der Regelung des Seemannsgesetzes, nach der für das Servicepersonal das Arbeitszeitgesetz galt, sinnvoll und konsequent gewesen. Unklarheiten verbleiben auch in der Frage, welche Tätigkeiten des Servicepersonals vom grundsätzlichen Verbot der Sonntags- und Feiertagsarbeiten ausgenommen sind. Durch die Offshore-Arbeitszeitverordnung schafft der Gesetzgeber Rechtssicherheit bei der Offshore-Arbeit von Bessatzungsmitgliedern und Landarbeitnehmern. Kleinere Unsicherheiten, insbesondere bei der arbeitszeitrechtlichen Behandlung von Transport bzw. Wegezeiten, ändern nichts daran, dass der Gesetzgeber praxisgerechte Lösungen gefunden hat, die – insbesondere durch die Ermöglichung eines Zwei-Schichten-Systems – den wirtschaftlichen und tatsächlichen Rahmen-

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

bedingungen der Offshore-Arbeit Rechnung tragen, ohne die Interessen der Arbeitnehmer aus dem Blick zu verlieren.564

F. Urlaub I. MLC Nach Regel 2.4 Abs. 1 hat jedes Mitglied vorzuschreiben, dass die auf Schiffen unter seiner Flagge beschäftigten Seeleute bezahlten Jahresurlaub unter angemessenen Bedingungen erhalten. Norm A2.4 Abs. 2 S. 1 schreibt verbindlich einen Mindesturlaubsanspruch von 2,5 Kalendertagen pro Dienstmonat vor. Als Urlaubstage gelten damit zunächst alle Tage des Monats, einschließlich Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen. Nicht anzurechnen sind berechtigte Arbeitsversäumnisse, Norm A2.4 Abs. 2 S. 3. Mit der monatsweisen Berechnung weicht die MLC von den Standards des Übereinkommens über den bezahlten Jahresurlaub von Seeleuten von 1976565 ab, das noch einen Urlaubsanspruch von jährlich 30 Kalendertagen vorgesehen hatte. Satz 2 der Norm stellt klar, dass es sich bei den 2,5 Tagen um einen Rechenwert handelt, der Mitgliedstaaten nicht daran hindert, eine andere als eine monatsweise Berechnung vorzusehen. Flexibilisiert ist damit nur die Art und Weise der Berechnung, nicht der Rechenwert selbst.566 Wann ein berechtigtes Arbeitsversäumnis vorliegt, wird nicht verbindlich festgelegt. Leitlinie B2.4.1 Abs. 2, 4 nennen Zeiten von Krankheit, Unfall und Mutterschaft, Feiertage im Flaggenstaat, Zeiten des Landgangs, Ausgleichsfreizeiten sowie Zeiten der Teilnahme an seemännischen Ausbildungslehrgängen als Beispiele für ein berechtigtes Arbeitsversäumnis. Ferner nicht verbindlich vorgeschrieben ist die Höhe des zu zahlenden Urlaubsentgelts. Leitlinie B2.4.1 Abs. 3 empfiehlt das „normale Entgelt“. Ebenfalls nicht verbindlich festgelegt ist der Urlaubsort. Nach Leitlinie B2.4.2 Abs. 2 sollten die Seeleute das Recht haben, ihren Jahresurlaub an dem Ort zu verbringen, zu dem sie eine starke Verbindung haben. Zur Bestimmung dieses Ortes wird auf die Vorschriften zur Heimschaffung verwiesen. Heimschaffungs- und Urlaubsorte sollen danach der Ort des Vertragsschlusses, der Wohnort des Besatzungsmitglieds oder ein tarif- oder individualvertraglich vereinbarter Ort sein. Nicht geregelt ist eine allgemeine Kostentragungspflicht des Reeders für die Beförderung zum Urlaubsort. Eine Empfehlung für die Kostentragung an den Ort der Anheuerung oder der Anwerbung spricht die MLC nur für den Fall aus, dass der Urlaub nicht an dem durch die

564

1338. 565 566

So auch in der abschließenden Bewertung Hoffmann/Günter/Rowold, NZA 2013, 1332, ILO-Konvention Nr. 146. McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 318.

F. Urlaub

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Leitlinie empfohlenen Ort gewährt wird, Leitlinie B2.4.2 Abs. 3. Der Urlaub soll nach Leitlinie B2.4.3 Abs. 2 möglichst zusammenhängend gewährt werden.

II. Seearbeitsgesetz 1. Einleitung Der Urlaubsanspruch nach dem Bundesurlaubsgesetz soll dem Arbeitnehmer die Gelegenheit zur selbstbestimmten Erholung ermöglichen.567 Und so spricht auch das Gesetz selbst vom „Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub“, § 1 BUrlG. Die Bezeichnung „Erholungsurlaub“ wird vom Seearbeitsgesetz übernommen. Indes hat der Erholungsurlaub im Seearbeitsverhältnis eine Bedeutung, die sie im Landarbeitsverhältnis nicht hat oder die hier zumindest nicht im Vordergrund steht. Der Urlaubsanspruch ermöglicht dem Besatzungsmitglied nicht nur Erholung, sondern auch Heimkehr. Durch das Wahlrecht des Besatzungsmitglieds hinsichtlich des Urlaubsorts, verbunden mit der Kostentragungspflicht des Reeders für die Anreise vom und zum Urlaubsort,568 ist der Urlaubsanspruch nach dem Seearbeitsgesetz immer auch ein Heimkehranspruch. 2. Anwendung der Rechtsprechung des EuGH Die Rechtsprechung zum Bundesurlaubsgesetz ist in jüngerer Vergangenheit stark geprägt durch die Rechtsprechung des EuGH.569 Der grundsätzliche Anwendungsbefehl des § 56 Abs. 2, nach dem das Bundesurlaubsgesetz auch im Seearbeitsverhältnis gilt, wirft die Frage auf, welche Bedeutung die Rechtsprechung des EuGH und die Rezeption durch die deutschen Gerichte für das Seearbeitsverhältnis hat. Denn Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung570 ist gemäß ihrem Art. 1 Abs. 3 nicht auf Seeleute anwendbar. Die Begriffsdefinition von 567

BAG, Urt. v. 20.6.2000 – 9 AZR 405/99, NZA 2000, 100. Siehe hierzu unten unter § 4 F. II. 4. c). 569 Insbesondere EuGH, Urt. v. 20.1.2009 – C-350/06 und C-520/06, NZA 2009, 135 (Schultz-Hoff) sowie EuGH, Urt. v. 22.11.2011 @ C-214/10, NZA 2011, 1333 (KHS) zur Begrenzung der Übertragungsmöglichkeit des Urlaubs im Krankheitsfall; EuGH, Urt. v. 24.1.2012 @ C-282/10, NZA 2012, 139 (Dominguez) zu einer den Urlaubsanspruch voraussetzenden effektiven Mindestarbeitszeit im Bezugszeitraum des Urlaubsanspruchs; EuGH, Beschl. v. 13.6.2013 – C-415/12, NZA 2013, 775 (Brandes) zur proportionalen Kürzung des noch nicht in Anspruch genommenen Urlaubs bei Verringerung der wöchentlichen Arbeitstage; EuGH, Urt. v. 12.6.2014 – C-118/13, NZA 2014, 651 (Bollacke) zur Vererblichkeit des Urlaubsabgeltungsanspruchs. 570 Abrufbar unter: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/HTML/?uri=CELEX:32003L0088&from=DE, letzter Abruf vom 14.10.2019. 568

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

„Seeleute“ im Sinne der Richtlinie 1999/63/EG entspricht der Definition „Besatzungsmitglied“ des Seearbeitsgesetzes.571 Die Umsetzung der Vorgaben des EuGH im Seearbeitsverhältnis ist somit nicht unionsrechtlich geboten.572 Auch lässt sich die Anwendung der europarechtlichen Vorgaben im Seearbeitsverhältnis nicht pauschal auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsprechung stützen.573 Der Anwendungsbefehl folgt vielmehr aus der ausdrücklichen Angleichungsentscheidung des Gesetzgebers, die in § 56 Abs. 2 zum Ausdruck kommt. Indem der Gesetzgeber, vorbehaltlich ausdrücklich im Seearbeitsgesetz festgeschriebener Besonderheiten, das Bundesurlaubsgesetz für anwendbar erklärt, stellt er, anders als der europäische Gesetzgeber, das Besatzungsmitglied dem Landarbeitnehmer in urlaubsrechtlicher Hinsicht gleich. Daraus folgt, dass die die EuGH-Entscheidungen umsetzende nationale Rechtsprechung auch im Seearbeitsverhältnis Anwendung findet. Dies gilt nicht nur für die Fälle, in denen das Bundesurlaubsgesetz über die Verweisung des § 56 Abs. 2 direkt im Seearbeitsverhältnis anwendbar ist, sondern auch für die Fälle, in denen das Seearbeitsgesetz eine abweichende Vorschrift trifft. Solange der Gesetzgeber Vorschriften lediglich zur sachdienlichen Anpassung an das Seearbeitsverhältnis modifiziert, jedoch an der Wertentscheidung des Bundesurlaubsgesetzes festhält, gilt die nationale Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung auch im Seearbeitsverhältnis. Ein Beispiel: Der EuGH hat in der Rechtssache „Bollacke“ entschieden, dass ein Urlaubsabgeltungsanspruch vererblich sein muss, um die praktische Wirksamkeit des Urlaubsanspruchs zu sichern.574 Das Seearbeitsgesetz sieht in § 64 Abs. 3 eine abweichende Regelung zu § 7 Abs. 4 vor und verengt im Vergleich zu § 7 Abs. 4 die Möglichkeit der Abgeltung.575 Die Wertung von § 7 Abs. 4 BUrlG und § 64 Abs. 3 ist indes gleich: Der Urlaub soll nur unter engen Voraussetzungen abzugelten sein. Ob man dies mit der höheren Erholungsbedürftigkeit der Besatzungsmitglieder begründet576 oder damit, dass ein Urlaubsanspruch im Seearbeitsverhältnis immer auch ein Heimkehranspruch ist, kann dahinstehen. Das Bedürfnis, die Wirksamkeit des Urlaubsanspruchs durch die Vererblichkeit des Abgeltungsanspruchs zu sichern, besteht an Land wie auf See. Damit ist der Abgeltungsanspruch auch im Seearbeitsverhältnis vererblich.577

571 Nach Paragraph 2 des Anhangs der Richtlinie 1999/63/EG sind „Seeleute“ alle Personen, die in irgendeiner Eigenschaft an Bord eines Seeschiffes (…) beschäftigt oder angeheuert sind. 572 Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 56 Rn. 1. 573 Ders., in: BNPM, § 56 Rn. 16. 574 EuGH, Urt. v. 12.6.2014 – C-118/13, NZA 2014, 651 (Bollacke). 575 Siehe dazu § 4 F. II. 4. d). 576 So BNPM/Peetz, § 56 Rn. 16. 577 Anders ebd.

F. Urlaub

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3. Überblick über die Urlaubsvorschriften Anders als in anderen Regelungsbereichen modifiziert das Seearbeitsgesetz die Vorschriften des Landarbeitsverhältnisses nur punktuell: Der Urlaubsanspruch ist nicht nach Werk-, sondern nach Kalendertagen bemessen. Ferner wird er nicht im kalenderjährlich, sondern im beschäftigungsjährlich gewährt (siehe hierzu unten unter 4. a)). Eine Wartezeit, wie sie § 4 BUrlG vorsieht, kennt das Seearbeitsgesetz nicht (hierzu 4. b)). Hinsichtlich des Urlaubsorts steht dem Besatzungsmitglied eine umfassende Wahlmöglichkeit zu. Der Reeder hat eine umfassende Kostentragungspflicht für die Anreise vom und zum Urlaubsort (hierzu 4. c)). Eine Abgeltung des Urlaubsanspruchs ist nur unter engen Voraussetzungen möglich. Schließlich sieht das Gesetz unter Umständen eine Verlängerung des Heuerverhältnisses um die Zeit des nicht genommenen Urlaubs vor (hierzu 4. d)). Kritisch zu hinterfragen ist, ob die Verweisungstechnik des § 56 Abs. 2 hinreichend deutlich macht, welche Vorschriften des Landarbeitsrechts anzuwenden sind (hierzu 4. e)).

4. Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses a) Mindesturlaub Der gesetzliche Mindesturlaub im Seearbeitsverhältnis beträgt, wie schon unter dem Seemannsgesetz, 30 Kalendertage für jedes Beschäftigungsjahr, § 57 Abs. 1. Für Jugendliche, die noch nicht 17 bzw. noch nicht 18 Jahre alt sind, sind es 34 bzw. 32 Kalendertage. Die Regelung weicht damit von der aus dem Bundesurlaubsgesetz bekannten Berechnung in Werktagen pro Kalenderjahr ab. Der Unterschied ist darauf zurückzuführen, dass an Bord des Schiffes, unbeschadet ihrer besonderen arbeitszeitrechtlichen Behandlung, Sonn- und Feiertage in der Regel reguläre Arbeitstage für Besatzungsmitglieder sind.578 Auch die beschäftigungsjährliche Berechnung des Urlaubs ist eine Besonderheit des Seearbeitsverhältnisses. Sie wurde durch das Seemannsgesetz von 1957 eingeführt und trug der Tatsache Rechnung, dass die Gesamtdauer einer Beschäftigung auf See kürzer war als im Landarbeitsverhältnis.579 Ob dies heute noch der Fall ist, lässt sich statistisch nicht belegen. Ein Unterschied zum Landarbeitsverhältnis besteht aufgrund der Teil-urlaubsvorschriften des § 5 BUrlG praktisch kaum. Beschäftigungsjahr meint das Beschäftigungsjahr im jeweiligen Arbeitsverhältnis und beginnt daher mit jedem Arbeitsplatzwechsel neu. Das Verbot von Doppelansprüchen gemäß § 6 BUrlG gilt sinngemäß.580 Damit ist im ersten Beschäftigungsjahr des neuen Heuerverhältnisses der Anspruch unter Berücksichtigung des fiktiven Endes des alten Beschäftigungsjahres zu kürzen.581 Nicht auf den Urlaub anzurechnen sind gesetzliche Fei578 579 580 581

BT-Drucks. 17/10959, S. 82; Kühn, NZA Online Aufsatz 2/2016 S. 2. BT-Drucks. 2/2962, S. 55. Lindemann, § 56 Rn. 4; BNPM/Peetz, § 57 Rn. 3 ff. Instruktiv BNPM/Peetz, § 57 Rn. 4, 5.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

ertage am Ort des Heimatshafens, Zeiten der Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit, Unfall, Zeiten der Arbeitsausfälle infolge Mutterschaft sowie Landgang und Ausgleichsfreizeiten, § 57 Abs. 3. b) Keine Wartezeit und sofortige Fälligkeit Anders als das Bundesurlaubsgesetz sieht das Seearbeitsgesetz eine Wartezeit für den Erwerb des Urlaubsanspruchs nicht vor. Lediglich als Soll-Vorschrift bestimmt § 58 Abs. 1 S. 2, dass der Urlaub möglichst nach sechsmonatigem ununterbrochenem Dienst an Bord, spätestens bis zum Schluss des Beschäftigungsjahres zu gewähren ist. Aufgrund des Fehlens einer Wartezeit und der beschäftigungsjährlichen Berechnung des Anspruchs sieht das Seearbeitsgesetz keine dem § 5 Abs. 1 lit. a), b) BUrlG entsprechen Teilurlaubsansprüche vor. Für den Fall des unterbeschäftigungsjährlichen Endes des Heuerverhältnisses enthält § 63 Abs. 1 eine dem § 5 Abs. 1 lit. c) BUrlG entsprechende Kürzungsregelung. Hintergrund dieser seearbeitsrechtlichen Besonderheit ist das praktische Bedürfnis, in der Zeit zwischen Beginn des Heuerverhältnisses und Dienstantritt auf dem Schiff, da diese nicht immer zusammenfallen, Urlaub zu gewähren.582 Auf die Wartezeitregelung des § 4 BUrlG kann bereits deswegen nicht zurückgegriffen werden, da § 58 Abs. 1 S. 2 eine abschließende Sonderregelung trifft.583 Folge dieser seearbeitsrechtlichen Sondervorschrift ist, dass der Anspruch des Besatzungsmitglieds auf den vollen Urlaubsanspruch bereits mit Vertragsschluss fällig ist.584 Gleichzeitig gilt ein generelles Rückforderungsverbot für zu viel gewährten Urlaub, § 63 Abs. 2. Die Regelung führt mithin dazu, dass dem Besatzungsmitglied der volle Urlaubsanspruch zusteht, ohne jemals Dienst auf dem Schiff getan zu haben. Gleichzeitig steht es ihm frei, sich nach gewährtem Urlaub aus dem Arbeitsverhältnis zu lösen, ohne dass ihm finanzielle Konsequenzen drohen. Eine Verweigerung der Urlaubsgewährung durch den Arbeitgeber kommt, wie im Landarbeitsrecht, nur bei dringenden betrieblichen Belangen oder bei unter sozialen Gesichtspunkten vorrangigen Urlaubswünschen anderer Besatzungsmitglieder in Betracht, § 58 Abs. 1 S. 1. Von einem dringenden betrieblichen Belang ist nicht bereits auszugehen, wenn es infolge der urlaubsbedingten Abwesenheit des Besatzungsmitglieds zu Störungen im Betriebsablauf kommt. Andererseits sind solche Belange nicht nur anzunehmen, wenn durch die Abwesenheit des Besatzungsmitglieds ein Schaden entsteht.585 Im Seearbeitsverhältnis ist hier, sofern es um Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben geht, die besondere Bedeutung des einzelnen Besatzungsmitglieds für den ordnungsgemäßen Betriebsablauf und damit 582 583

S. 2. 584 585

Lindemann, § 58 Rn. 8, 11. Neumann/Fenski/Kühn/Kühn, SeeArbG, § 56 Rn. 7; ders., NZA Online Aufsatz 2/2016 BNPM/Peetz, § 56 Rn. 14. ErfK/Gallner, BUrlG, § 7 Rn. 18.

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auch für die Sicherheit des Schiffes zu beachten. Dies gilt insbesondere, wenn – wie im Regelfall – das Schiff keine Personalreserve vorhält und nur mit der Mindeststärke des Schiffsbesatzungszeugnisses besetzt ist.586 Ein dringender betrieblicher Belang liegt in diesen Fällen stets vor, wenn eine Ablösung des Urlaub begehrenden Besatzungsmitglieds nicht möglich ist und das Schiff daher nicht entsprechend dem Schiffsbesetzungszeugnis besetzt wäre.587 Dagegen ist allein die bei sofortiger voller Urlaubsgewährung mögliche Gefahr einer praktischen Zu-viel-Beurlaubung und der hieraus folgenden finanziellen Belastung durch das Urlaubsentgelt ein wirtschaftlicher Belang, der für sich gesehen noch keinen dringenden betrieblicher Belang darstellt. Der Arbeitgeber wird dem Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Urlaubsverlangens eine Missbrauchsabsicht, die zum Ausschluss des Urlaubsanspruchs führen kann,588 nicht nachweisen können. Dem Arbeitgeber stehen mithin kaum Möglichkeiten zur Verfügung, das Urlaubsbegehren des Besatzungsmitglieds abzulehnen, das für ihn noch keinen Dienst getan hat. Zwar besteht eine Ausnahme vom Rückzahlungsverbot des § 63 Abs. 2 für den Fall, dass sich das Besatzungsmitglied den zu viel erhaltenen Urlaub in treuwidriger oder sittenwidriger Weise erschlichen hat, beispielsweise indem er sich den ganzen Urlaub gewähren lässt, obwohl sein Ausscheiden in absehbarer Zeit feststeht.589 Der Arbeitgeber wird aber auch hier in der Regel nicht nachweisen können, dass das Besatzungsmitglied sein Ausscheiden bereits zum Zeitpunkt der Urlaubsgewährung geplant hat. Verschärft wird das Problem, wenn Reeder- und Arbeitgeberstellung auseinanderfallen. In diesem Fall ist der Reeder verpflichtet, wenn der Arbeitgeber seiner Pflicht zur Urlaubsgewährung nicht nachkommt, im Namen und mit Wirkung für den Arbeitgeber Urlaub zu gewähren. Lehnt der Vertragsarbeitgeber – aus seiner Sicht berechtigt – das Urlaubsverlangen des Besatzungsmitglieds ab, so kann sich dieses an den Reeder wenden und von ihm Erfüllung des Urlaubsanspruchs verlangen. Nun ist es am Reeder, das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes zu prüfen. Damit liegt etwa die Entscheidung über dringende betriebliche Belange des Vertragsarbeitgebers bei ihm, obwohl er deren Vorliegen nur unzureichend urteilen kann. Vor dem Hintergrund drohender Sanktionen bei den Hafenstaatkontrollen sowie des Rechts zur außerordentlichen Kündigung des Besatzungsmitglieds bei Nichtbeachtung seiner Pflicht zur Urlaubsgewährung wird der Reeder in unklaren Fällen geneigt sein, eine Entscheidung zugunsten des Besatzungsmitglieds zu treffen.

586 587 588 589

Hierzu instruktiv unten unter § 4 H. III. 2. BNPM/Peetz, § 58 Rn. 4. Hierzu BAG, Urt. v. 7.11.1985 – 6 AZR 169/84, NZA 1986, 392. ArbG Hamburg, Urt. v. 19.3.1977 – S 15 Ca 421/76, zitiert nach Lindemann, § 63 Rn. 11.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

c) Festlegung des Urlaubs aa) Zusammenhängende Gewährung Der gesetzliche Mindesturlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Person des Besatzungsmitglieds liegende Gründe eine Teilung des Urlaubs erforderlich machen. Die so lautende Vorschrift des § 58 Abs. 3 entspricht § 7 Abs. 2 S. 1 BUrlG. Die Regelung hat zwar im Landarbeitsrecht aufgrund der starken tarifvertraglichen Durchdringung ihre praktische Bedeutung verloren.590 Ähnliches gilt durch die vom MTV-See vorgesehene Verblockung von Urlaubs- und Borddienstzeit auch im Seearbeitsverhältnis.591 Die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses gebieten es dennoch, die Vorschrift näher zu betrachten. Hier fällt zunächst auf, dass eine dem § 7 Abs. 2 S. 2 BUrlG entsprechende Regelung über die Mindestlänge eines Urlaubsabschnitts von zwölf Werktagen bei nicht zusammenhängender Gewährung fehlt. Bereits aus systematischen Gründen folgt daher, dass § 7 Abs. 2 S. 2 BUrlG im Seearbeitsverhältnis nicht gilt.592 Dies bestätigen auch in teleologischer Hinsicht die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses. Da es sich bei dem Urlaubsanspruch des Besatzungsmitglieds auch immer um einen Heimkehranspruch handelt, ist das Bedürfnis nach einer flexiblen Ausgestaltung im Vergleich zum Landarbeitsverhältnis erhöht. Insbesondere die Fahrtzeiten in der Fahrgastschifffahrt mit ihren vielen kurzen Reisen lassen eine zusammenhängende Urlaubsgewährung nicht praktikabel erscheinen.593 Doch auch in anderen Schifffahrtszweigen gilt: Ob für ein Besatzungsmitglied, das nur für rund ein Zwölftel des gesamten Jahres seine Heimat, möglicherweise seine Familie, besuchen kann, mehrere kürzere Urlaubsabschnitte oder ein langer Urlaubsabschnitt wünschenswert sind, wird man nicht pauschal, sondern nur individuell beantworten können. Entscheidet sich das Besatzungsmitglied für die erstgenannte Variante, wird man einen in der Person des Besatzungsmitglieds liegenden Grund i. S. d. § 58 Abs. 3 annehmen können, der eine Teilung des Urlaubs rechtfertigt. Ferner kann bereits ein Teil des Mindesturlaubs nach beiderseitigem Interesse auf die Zeit zwischen Vertragsschluss und Dienstantritt fallen.594 Hier ist sowohl ein dringender betrieblicher Belang als auch ein in der Person des Besatzungsmitglieds liegender Grund gegeben. Eine sachgerechte Lösung, welche Aufteilung des Mindesturlaubs (noch) zulässig sein wird, ist im Spannungsfeld zwischen persönlichen Belangen des Besatzungsmitglieds, dringenden betrieblichen Interessen des Reeders, der gesundheitspolitischen Zielsetzung der Urlaubsgewährung und ferner auch unter Berücksichtigung der Kostentragungspflicht des Reeders für die Reise zum und vom Urlaubsort zu suchen. Jedenfalls muss die Mindestanzahl von zwölf zusammenhängenden Ur590 591 592 593 594

ErfK/Gallner, BUrlG, § 7 Rn. 25. Vgl. § 23 MTV-See. A. A., indes ohne nähere Begründung BNPM/Peetz, § 58 Rn. 11. Ähnlich wohl BNPM/Peetz, § 58 Rn. 12. Lindemann, § 58 Rn. 8, 11.

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laubstagen nach § 7 Abs. 2 S. 2 BUrlG nicht erreicht werden. Trotz des praktischen Bedürfnisses nach einer flexiblen Urlaubsgewährung kann eine übermäßige Teilung des Urlaubs einen Erholungseffekt nicht mehr gewährleisten. Sachgerecht ist es daher, den Mindesturlaub nicht in mehr als vier Abschnitte aufzuteilen, wobei die Länge eines Urlaubsabschnitts eine Kalenderwoche nicht unterschreiten darf. bb) Urlaubsort Nach der Empfehlung der MLC sollen die Seeleute das Recht haben, ihren Urlaub an dem Ort zu verbringen, zu dem sie eine starke Verbindung haben, Leitlinie B2.4.2 Abs. 2. Die seit Mitte des letzten Jahrhunderts stetig wachsende Internationalität der Schiffsbesatzungen ließ die Vorschrift des Seemannsgesetzes, wonach der Urlaub grundsätzlich innerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes zu gewähren ist,595 unzeitgemäß werden.596 Urlaubsort ist daher gemäß § 59 nach Wahl des Besatzungsmitglieds dessen Wohnort, der Ort des Heuervertragsschlusses, der durch Tarifvertrag festgelegte Ort oder jeder im Heuervertrag vereinbarte Ort. Das Besatzungsmitglied hat hierdurch ein umfassendes Wahlrecht, an welchem Ort es seinen Urlaub verbringen möchte. Die Vorschrift wird in der Praxis als mitunter als unpraktisch empfunden, da sie nicht den Fall regelt, in dem ein Besatzungsmitglied nach Ende seiner Borddienstzeit nicht erst nach Hause (bzw. an einen anderen in § 59 genannten Ort) reist, sondern direkt zu seinem Urlaubsziel.597 Die Lösung dieses Falles ist vor dem Hintergrund des § 60 zu finden, der die Kostentragungspflicht für die Reisekosten des Besatzungsmitglieds dem Reeder auferlegt: Es ist eine Vergleichsbetrachtung zwischen den (hypothetischen) Reisekosten zum gesetzlichen Urlaubsort und den Reisekosten zum tatsächlichen Urlaubsort vorzunehmen. Sind die zweitgenannten Kosten höher, so ist der Reeder lediglich bis zur Höhe der erstgenannten Kosten zur Erstattung verpflichtet.598 Diese Lösung ist auch aus Angleichungsgesichtspunkten angemessen. Der Reeder muss diejenigen Kosten tragen, die aus der Besonderheit entstehen, dass das Besatzungsmitglied den Startpunkt seiner Urlaubsreise nicht wie der Landarbeitnehmer frei wählen kann. Vom Besatzungsmitglied vorgenommene „Abkürzungen“ durch direkte Anreise zum Urlaubsziel, können ihn weder von der grundsätzlichen Kostentragungspflicht befreien, noch sollen sie ihn zusätzlich belasten. Das Wahlrecht des Besatzungsmitglieds kann nicht, wie dies teilweise in der Praxis versucht wird, eingeschränkt werden. Zum einen steht eine tarif- oder einzelvertragliche Regelung, die einen „ausschließlichen Urlaubsort nach § 59 SeeArbG“ vorsieht, in klarem Widerspruch zu der gesetzlich vorgesehenen Wahlmög595

§ 55 Abs. 1 SeemG. BT-Drucks. 17/10959, S. 83. 597 Neumann/Fenksi/Kühn/Kühn, SeeArbG, § 58 Rn. 22; ders., NZA Online Aufsatz 2/ 2016 S. 3. 598 Müller, Das Heuerverhältnis, S. 306; Kühn, NZA Online Aufsatz 2/2016 S. 4. 596

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lichkeit zwischen vier verschiedenen Urlaubsorten und verstößt damit gegen das Benachteiligungsverbot des § 9 SeeArbG. Zum anderen kann das Wahlrecht, entgegen der Ansicht von Robert Peetz,599 nicht nur einmal im Beschäftigungsjahr ausgeübt werden, sondern besteht bei jeder Urlaubsgewährung. Das Gesetz sieht eine solche Einschränkung der Wahlmöglichkeit nicht vor. Ob die Teilung des Jahresurlaubs rechtmäßig ist, ist eine eigenständige Fragestellung, die unabhängig von der Frage der Wahl des Urlaubsorts zu beantworten ist. Die Begründung Peetz’, die lediglich einmalige Wahlmöglichkeit ergebe sich aus der Forderung des Gesetzes, der Urlaub sei zusammenhängend zu gewähren,600 überzeugt nicht. Der Wortlaut des § 59 sieht diese Einschränkung nicht vor und sie ist auch nicht aus teleologischen Gründen angezeigt. § 58 Abs. 3 fordert, dass der Urlaub zusammenhängend zu gewähren ist, wenn nicht dringende betriebliche Erfordernisse oder in der Person des Besatzungsmitglieds liegende Gründe eine Teilung erforderlich machen. Sinn und Zweck des § 7 Abs. 2 BUrlG ist, dass die gesundheitspolitische Zielsetzung des BUrlG nicht dadurch aufgehoben werden soll, dass der Urlaub in kleiner Stückelung gewährt wird.601 Sie dient mithin in erster Linie dem Schutz des Arbeitnehmers, was sich auch in der Regelung einer Mindestanzahl zusammenhängender Tage im Bundesurlaubsgesetz zeigt. Die Korrektive des dringenden betrieblichen Belangs bzw. des in der Person des Arbeitnehmers liegenden Grundes, welche eine Teilung des Urlaubs rechtfertigen, flexibilisieren zwar die Vorschrift, ändern jedoch nichts an ihrer Zielsetzung. Vor dem Hintergrund des gesetzgeberisch intendierten Arbeitnehmerschutzes wäre es unbillig, die Wahlmöglichkeit des Besatzungsmitglieds mit Hinweis auf § 58 Abs. 3 zu Lasten des Besatzungsmitglieds einzuschränken. Ferner wäre es sinnwidrig, einerseits eine im Vergleich zum Landarbeitsverhältnis großzügigere Teilungsmöglichkeit des Urlaubs zuzulassen,602 andererseits dieses Teilungsrecht faktisch dadurch zu umgehen, dass das Besatzungsmitglied in seiner Wahlfreiheit hinsichtlich des Urlaubsorts eingeschränkt wäre. cc) Umfang des Wahlrechts und Kostentragung Das Wahlrecht zum Urlaubsort des Besatzungsmitglieds wird gesetzlich durch zwei wichtige Angleichungskorrekturen abgesichert. Zum einen hat nach § 60 der Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds die Reisekosten zum und vom Urlaubsort zu tragen. Dies gilt für jede Urlaubsgewährung, auch wenn diese auf ausdrücklichen Wunsch des Besatzungsmitglieds nicht zusammenhängend erfolgt.603 Zum anderen

599

BNPM/Peetz, § 59 Rn. 2. Ebd. 601 ErfK/Gallner, BUrlG, § 7 Rn. 25 m. w. N. 602 Siehe hierzu oben unter § 4 F. II. 4. c) aa). 603 Anders BNPM/Peetz, § 61 Rn. 5. Wie auch bei der Frage nach der mehrfachen Ausübung des Wahlrechts argumentiert Peetz, es würden Anreize gesetzt, die dem gesetzlichen Leitbild des zusammenhängenden Urlaubs zuwiderliefen. Aus denselben Gründen wie zur 600

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beginnt der Urlaub frühestens an dem der Ankunft am Urlaubsort folgenden Tag, § 58 Abs. 4. In der Praxis wurde die Frage intensiv diskutiert, wie genau der durch Tarifvertrag festgelegte oder der im Heuervertrag vereinbare Ort zu bezeichnen ist. Da mit dem Wohnort des Besatzungsmitglieds in der Regel die politische Gemeinde seines Wohnsitzes gemeint ist,604 ist es fernliegend, „Ort“ i. S. d. § 59 Nr. 3, 4 so weit zu verstehen, dass beispielsweise „das Gebiet der EU“ als Ortsbezeichnung infrage käme.605 Mit dem Sinn und Zwecks des Wahlrechts, dem Besatzungsmitglied den Urlaub an dem Ort zu ermöglichen, zu dem es eine enge Verbindung hat, ist eine solche Ortsbezeichnung nicht zu vereinbaren. Eine enge Verbindung hat ein Besatzungsmitglied nicht zu einem ganzen Kontinent. Ferner würde eine solch weite Ortbezeichnung die Schutzmechanismen der Kostentragungspflicht des Reeders und des gesetzlich festgelegten Zeitpunkts des Urlaubsbeginns konterkarieren. Denn die möglicherweise notwendig werdende Reise zwischen dem vereinbarten Urlaubsort und dem tatsächlichen Ziel des Besatzungsmitglieds würde diesem weitere Reisekosten aufbürden. Außerdem würde seine Urlaubszeit um die Reisezeit zu seinem endgültigen Ziel verkürzt. Die Festlegung des Urlaubsorts nach § 59 meint mithin die Festlegung eines konkreten Ortes im Sinne einer Bezeichnung einer Stadt oder Gemeinde. Würde man hier etwa die Nennung eines Landes ausreichen lassen, könnte dies dazu führen, dass der Arbeitgeber seinen Verpflichtungen nach §§ 58 ff. bereits dadurch nachkommt, dass er das Besatzungsmitglied auf die kostengünstigste (meist Flug-)Verbindung in das jeweilige Land verweist und das Besatzungsmitglied eine teure und zeitaufwändige Inlandsreise auf sich nehmen müsste. Dies wäre mit der oben beschriebenen Ratio der Urlaubsvorschriften nicht zu vereinbaren. d) Gesetzliche Verlängerung statt Abgeltung Die auch im Landarbeitsverhältnis grundsätzlich unerwünschte Abgeltung des Urlaubsanspruchs erfährt im Seearbeitsverhältnis eine praktisch notwendige Verschärfung. Wie schon unter Geltung des Seemannsgesetzes postuliert § 64 den Vorrang der Verlängerung des Heuerverhältnisses um die verbleibenden Urlaubstage vor der Abgeltung dieses Urlaubs. Hat das Besatzungsmitglied bei Beendigung des Heuerverhältnisses den ihm zustehenden Mindesturlaub noch nicht erhalten, verlängert sich das Heuerverhältnis um die Dauer des nicht gewährten Urlaubs, § 64 Abs. 1 S. 1 1. Hs. Dies gilt nicht, wenn eine Verlängerung infolge des Eingehens eines neuen Rechtsverhältnisses nicht möglich ist, § 64 Abs. 1 S. 1 2. Hs Nr. 1, oder wenn das Besatzungsmitglied aus von seinem Willen unabhängigen Gründen nicht in der Lage ist, den Urlaub während des Zeitraums der Verlängerung zu nehmen, § 64 Abs. 1 S. 1 2. Hs Nr. 2. Wenn nach Beendigung des Heuerverhältnisses ein Arbeitsverhältnis mit demselben Arbeitgeber besteht, ist der aus dem Heuerverhältnis Frage des Wahlrechts greift diese Argumentation indes zu kurz und findet keine Stütze im Gesetz. 604 BNPM/Peetz, § 59 Rn. 4. 605 So aber ebd., § 59 Rn. 7.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

noch zustehende Urlaub in diesem neuen Arbeitsverhältnis zu gewähren, § 64 Abs. 2. Hintergrund der verschärften Regelung ist weniger, ein vermeintlich im Vergleich zum Landarbeitsverhältnis erhöhtes Erholungsbedürfnisses zu schützen,606 sondern vielmehr, den Vorrang der Urlaubsgewährung vor der Urlaubsabgeltung abzusichern. Dadurch, dass eine Urlaubsgewährung in aller Regel von der Beendigung einer Schiffsreise abhängig gemacht wird, ist eine Urlaubsgewährung bis zum regulären Ende des Heuerverhältnisses mitunter einsatzbedingt nicht möglich.607 Ohne die gesetzliche Verlängerung käme es in der Praxis viel häufiger zu einer Abgeltung des Urlaubs als im Landarbeitsverhältnis. Das Besatzungsmitglied würde zudem den sozialversicherungsrechtlichen Schutz verlieren, der ihm bei einer rechtzeitigen Urlaubsgewährung zugestanden hätte.608 Die Gründe, warum entgegen dem Grundsatz des Vorrangs der Verlängerung des Arbeitsverhältnisses doch eine Abgeltung zulässig ist, sind abschließend. Die in der Literatur vorgeschlagene analoge Anwendung der Abgeltungsmöglichkeit auf den Fall der außerordentlichen Kündigung ist daher bereits aus systematischen Gründen abzulehnen.609 Der Einwand, die kündigungsberechtigte Partei habe zum Ausdruck gebracht, dass die Verbindung zur anderen Partei enden soll und daher die Verlängerung des Heuerverhältnisses psychologisch unzumutbar sei,610 überzeugt nicht. Die Annahme einer analogen Anwendung des § 64 Abs. 1 im Fall der außerordentlichen Kündigung würde zu einem Wertungswiderspruch führen. Unter der vorgeschlagenen Analogie wäre die Reise des Besatzungsmitglieds zum Heimatort nicht mehr als Urlaubsreise, sondern als Reise zwecks Heimschaffung zu sehen. Dies würde zu einer unbilligen Kostenverteilung führen. Die Kosten für die Heimschaffung müsste, sofern es sich um eine außerordentliche Arbeitgeberkündigung handelt, das Besatzungsmitglied tragen, § 76 Abs. 5. Nur aufgrund der verspäteten Urlaubsgewährung würde Arbeitgeber um die Kostentragungspflicht für eine Urlaubsreise des Besatzungsmitglieds entlastet. Umgekehrt würde das Besatzungsmitglied, dem dem Grunde nach noch ein Urlaubsanspruch zusteht, mit diesen Kosten belastet. Dies läuft der – aus Angleichungsgesichtspunkten zwingenden – gesetzgeberischen Wertung zuwider, dass die Kosten zum und vom Urlaubsort grundsätzlich vom Arbeitgeber zu zahlen sind. e) Einzelfragen § 56 Abs. 2 erklärt, vorbehaltlich einer abweichenden Bestimmung im fünften Unterabschnitt des Seearbeitsgesetzes, das Bundesurlaubsgesetz für anwendbar. Im 606

So aber BNPM/Peetz, § 56 Rn. 16. Lindemann, § 64 Rn. 1; Müller, Das Heuerverhältnis, S. 283 f. 608 BSG, Urt. v. 22.11.1994 – 10 RAr 3/92, BeckRS 1994, 30752006; ArbG Hamburg, Urt. v. 11.11.1976 – S 1 Ca 88/76, SeeAE Nr. 2 zu § 60 SeemG; Lindemann, § 64 Rn. 64. 609 So aber BNPM/Peetz, § 64 Rn. 6. 610 Ebd., § 64 Rn. 7; hingegen wie hier Lindemann, § 64 Rn. 4. 607

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Anbetracht der gesetzgeberischen Intention, das Seearbeitsverhältnis dem Landarbeitsverhältnis anzunähern,611 ist eine solche Regelungstechnik naheliegend. Im Einzelfall kann sie allerdings dann zu Unklarheiten führen, wenn nicht erkennbar ist, ob das Seearbeitsgesetz für einen bestimmten Regelungsbereich abschließend ist. In der Regel können diese Unklarheiten durch Auslegung beseitigt werden. Wird ein Regelungsbereich im Seearbeitsgesetz angesprochen, so ist davon auszugehen, dass es diesen abschließend regeln will. Sofern innerhalb des Regelungsbereichs eine dem Bundesurlaubsgesetz entsprechende Vorschrift fehlt, so gibt der Gesetzgeber hierdurch zu verstehen, dass diese entsprechende Vorschrift keine Anwendung finden soll. Spricht hingegen das Seearbeitsgesetz einen Regelungsbereich gar nicht an, so ist davon auszugehen, dass das Bundesurlaubsgesetz anwendbar ist. Unstrittig nach § 56 Abs. 2 anzuwenden sind daher § 5 Abs. 2 BUrlG über die Behandlung von Bruchteilen von Urlaubstagen, § 6 BUrlG über den Ausschluss von Doppelansprüchen und § 8 zum Verbot der Erwerbstätigkeit während des Urlaubs.612 Fraglich ist aber, ob die Vorschriften des § 58 zur Festlegung des Urlaubs durch die in § 7 Abs. 1 – 3 BUrlG geregelten Vorschriften zu Zeitpunkt und Übertragbarkeit des Urlaubs verdrängt oder durch diese lediglich ergänzt werden. § 58 Abs. 1 S. 1 regelt die zeitliche Festlegung des Urlaubs unter Berücksichtigung der Wünsche des Besatzungsmitglieds. Er ist wortgleich zu § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG. Eine dem § 7 Abs. 1 S. 2 BUrlG entsprechende Vorschrift, nach der Urlaub zwingend auf Verlangen des Besatzungsmitglieds im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge und Rehabilitation zu gewähren ist, fehlt. § 58 Abs. 3 regelt die Art und Weise der Urlaubsgewährung und ordnet, wortgleich zu § 7 Abs. 2 S. 1 BUrlG, an, dass der Urlaub grundsätzlich zusammenhängend zu gewähren ist. Es fehlt indes eine dem § 7 Abs. 2 S. 2 BUrlG entsprechende Vorschrift zum Mindestumfang eines Urlaubsteils bei einer nicht zusammenhängenden Urlaubsgewährung.613 § 58 Abs. 1 S. 2 2. Hs. regelt den zeitlichen Rahmen der Urlaubsgewährung und bestimmt, dass der Urlaub bis zum Schluss des Beschäftigungsjahres zu gewähren ist. Dem § 7 Abs. 3 S. 2 und S. 3 BUrlG entsprechende Vorschriften über eine mögliche Übertragbarkeit des Urlaubs in das nächste Kalenderjahr fehlen. Nach den oben ausgeführten systematischen Überlegungen zum Verhältnis von Bundesurlaubsgesetz und Seearbeitsgesetz müsste Folgendes gelten: Das Seearbeitsgesetz regelt in § 58 die Festlegung des Urlaubs. Damit ist dieser Regelungsbereich abschließend und für die Anwendung des § 7 Abs. 1 S. 2 BUrlG wäre kein Raum. Dieser Auslegung stehen jedoch teleologische Erwägungen entgegen. Dem Besatzungsmitglied, anders als dem Landarbeitnehmer, im Anschluss an eine Maßnahme der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation den Urlaub zu ver611 612 613

Zu dieser gesetzgeberischen Intention, siehe ausführlich oben unter § 2 I. II. 1. Lindemann, § 56 Rn. 9; BNPM/Peetz, § 56 Rn. 23 f. Siehe hierzu bereits oben unter § 4 F. II. 4. c) aa).

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

weigern, ist nicht gerechtfertigt. Der Schutzzweck der Vorschrift, dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu eröffnen, unter Einsatz seines Urlaubsanspruchs weiter Kraft für den bevorstehenden Arbeitseinsatz zu sammeln,614 besteht an Land wie auf See. Die hohen Anforderungen, die der Gesetzgeber an die Seediensttauglichkeit eines Besatzungsmitglieds stellt, sprechen dafür, dass das Bedürfnis nach einer vollständigen körperlichen Erholung im Seearbeitsverhältnis in noch höherem Maße besteht. Dem Besatzungsmitglied diese Möglichkeit zu verweigern, ist damit im Hinblick auf die körperlichen Anforderungen an seine Tätigkeit, nicht zu rechtfertigen. § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG ist damit auch im Seearbeitsverhältnis anzuwenden.615 Die systematischen Erwägungen führen im Fall des § 58 Abs. 3 zu folgendem Ergebnis: Der Gesetzgeber hat davon abgesehen, die Möglichkeit der Teilung des Mindesturlaubs bei dringenden betrieblichen Gründen oder Gründen in der Person des Besatzungsmitglieds einzuschränken. § 7 Abs. 2 S. 2 BUrlG ist damit aufgrund des im Seearbeitsverhältnis gesteigerten Bedürfnisses nach Flexibilität nicht anzuwenden, sodass beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 58 Abs. 3 auch eine kleinteiligere Urlaubsgewährung möglich ist.616 Weniger klar ist die Auslegung des § 58 Abs. 1 S. 2. Zu klären ist hier, ob der Gesetzgeber eine gegebenenfalls notwendige Übertragung für möglich erachtet oder ob er durch die Formulierung „ist […] spätestens bis zum Schluss des Beschäftigungsjahres zu gewähren“ den Zeitraum der Urlaubsgewährung verbindlich und abschließend regelt und damit – anders als § 7 Abs. 3 BUrlG – keinen Raum für eine Übertragung lässt. Für die zweitgenannte Sichtweise spricht in systematischer Hinsicht, dass § 58 Abs. 3 Flexibilisierungstatbestände aufnimmt und § 58 Abs. 1 S. 2 dies gerade unterlässt. Dem gesteigerten Flexibilisierungsbedürfnis, welches auch bezüglich des Zeitraums der Urlaubsgewährung besteht, wird dies jedoch nicht gerecht. Auch hier ist zu beachten, dass die Urlaubsgewährung mit der Fahrtroute des Schiffes in Einklang zu bringen ist. Daher besteht, mehr noch als im Landarbeitsverhältnis, das praktische Bedürfnis, den Urlaubs, freilich dann in den Grenzen des § 7 Abs. 3 BUrlG, auf das nächste Beschäftigungsjahr zu übertragen.617

III. Zusammenfassung und Bewertung Der Urlaubsanspruch muss im Seearbeitsverhältnis zwei Aufgaben erfüllen. Zum einen soll er, wie auch im Landarbeitsverhältnis, die Erholung von einer anstrengenden körperlichen Arbeit ermöglichen. Zum anderen gibt er dem Besatzungs614 615

Rn. 9. 616

ErfK/Gallner, BUrlG, § 7 Rn. 20. Zustimmend BNPM/Peetz, § 56 Rn. 24; a. A. ohne nähere Begründung Lindemann, § 56

Siehe hierzu bereits oben unter § 4 F. II. 4. c) aa). Lindemann, § 58 Rn. 14; BNPM/Peetz, § 56 Rn. 24; anders Müller, Das Heuerverhältnis, S. 311 f. 617

F. Urlaub

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mitglied die Möglichkeit zur Heimkehr an den Ort, zu dem es die engste Beziehung hat, in der Regel seinem Heimatort. Dadurch, dass der Urlaub des Besatzungsmitglieds mit der Fahrtroute des Schiffes in Einklang gebracht werden muss, ist das Bedürfnis nach Flexibilität bei der Urlaubsgewährung im Seearbeitsverhältnis höher als im Landarbeitsverhältnis. Dem trägt der Gesetzgeber dadurch Rechnung, dass er eine kalender- statt werktägliche Berechnung des Mindesturlaubs vorsieht. Eine Wartezeit für die Erlangung des Urlaubsanspruchs sieht das Seearbeitsverhältnis nicht vor, der Anspruch ist bereits mit Beginn des Arbeitsverhältnisses fällig. Ferner erfährt der Grundsatz der zusammenhängenden Urlaubsgewährung weitergehende Ausnahmen als im Landarbeitsverhältnis. Schließlich wird der Vorrang der Urlaubsgewährung vor der Abgeltung durch eine gesetzliche Verlängerung des Heuerverhältnisses um die Zeit des noch nicht genommenen Urlaubs gewährleistet. Das Besatzungsmitglied hat einen Anspruch darauf, den Urlaub an dem Ort zu verbringen, zu dem es den größten Bezug hat. Hierzu enthält das Seearbeitsgesetz wichtige Angleichungskorrekturen. Es verleiht dem Besatzungsmitglied ein umfassendes Wahlrecht hinsichtlich seines Urlaubsorts. Dieses Wahlrecht wird in zweierlei Hinsicht abgesichert. Zum einen beginnt der Urlaub erst an dem Tag nach Ankunft des Besatzungsmitglieds am Bestimmungsort des Urlaubs. Zum anderen hat der Arbeitgeber die Kosten der Reise zum Bestimmungsort zu zahlen. Um diese Schutzmechanismen nicht auszuhebeln, sind tarif- oder individualvertraglich festgelegte Urlaubsoptionen so zu bestimmen, dass sie nicht zu einer faktischen Kostentragung bzw. einer faktischen Urlaubsverkürzung des Besatzungsmitglieds führen. Aufgrund der geringen Regelungsdichte des Urlaubsrechts auf verbindlicher Ebene in der MLC bestand für den Gesetzgeber kein zwingender Bedarf, die Systematik des Urlaubsrechts aus dem Seemannsgesetz grundlegend zu ändern. Neben der Neubestimmung des Urlaubsorts und den die Urlaubswahl absichernden Regelungen kam es daher nur zu vereinzelten Korrekturen im Rahmen des Urlaubsentgelts.618 Ebenfalls aus dem Seemannsgesetz beibehalten wurde die Verweisungstechnik. Diese Technik führt gerade im Rahmen der in § 58 geregelten Festlegung des Urlaubs zu einigen Unklarheiten über die ergänzende Anwendbarkeit des Bundesurlaubsgesetzes. Da nur eine in Gemäßheit des § 58 vorgenommene Urlaubsgewährung Erfüllungswirkung hat, sind diese Unklarheiten nicht hinzunehmen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der Neuregelung des § 58 Abs. 1 S. 4, wonach der Reeder mit Wirkung für und im Namen des Vertragsarbeitgebers den Urlaubsanspruch erfüllen kann, sofern dieser seiner Verpflichtung zur Urlaubsgewährung nicht nachkommt. Hier fehlt es auch an prozeduralen Vorschriften über die Abstimmung zwischen Reeder und Vertragsarbeitgeber. So würde eine verpflichtende Konsultation zwischen Reeder und Vertragsarbeitnehmer letzterem ermöglichen, dringende betriebliche Belange darzulegen und den Reeder davon zu über618

Hierzu im Ganzen: Lindemann, § 61 Rn. 1 ff.

242

§ 4 Das Seearbeitsgesetz

zeugen, dass seine Verweigerung des Urlaubsbegehrens berechtigt war. Der Reeder läuft bei Verstoß gegen seine Pflicht zur Urlaubsgewährung Gefahr, einer Beschwerde des Besatzungsmitglieds ausgesetzt zu sein, welche zwingend eine Begutachtung des Schiffes im Rahmen der Hafenstaatkontrolle nach sich zieht.619 Rechtliche Unklarheiten könnten daher in der Praxis dazu führen, dass der Reeder, um genannte Kontrollen zu vermeiden, dem Urlaubsverlangen des Besatzungsmitglieds nach Erfüllung auch dann nachgeben wird, wenn der Vertragsarbeitgeber dieses rechtmäßig abgelehnt hat. Wie sich diese Unklarheiten in der Praxis auswirken werden, bleibt abzuwarten. Unter Geltung des MTV-See spielen die gesetzlichen Urlaubsvorschriften praktisch kaum eine Rolle, da aufgrund des beiderseitigen Interesses der Vertragsparteien an der Verblockung der Einsatz- und Urlaubszeiten längere Urlaubszeiten der Ausgleich für erhöhte Regelarbeitszeiten sind. Die tarifvertraglichen Urlaubsansprüche übersteigen daher die gesetzlichen Mindestansprüche bei weitem. Gerade im Rahmen der Kostentragungsvorschriften bleibt es jedoch wichtig, den Angleichungskorrekturen des Gesetzgebers durch zu enge Auslegung nicht ihre Wirksamkeit zu nehmen.

G. Heimschaffung I. MLC Ein Anspruch auf Heimschaffung besteht gewohnheitsrechtlich bereits seit dem 15. Jahrhundert.620 Im internationalen Recht wurde der Heimschaffungsanspruch bereits 1926 in dem ILO-Übereinkommen über die Heimschaffung von Schiffsleuten (Konvention Nr. 23) festgeschrieben. Unter dieser hatte ein Besatzungsmitglied einen Anspruch auf kostenfreie Heimschaffung infolge eines im Schiffsdienst erlittenen Unfalls, eines Schiffbruchs, einer unverschuldeten Krankheit und einer unverschuldeten Entlassung.621 Aufgrund der langen Tradition des Heimschaffungsanspruchs gehörten die Vorschriften der MLC zur Heimschaffung zu denjenigen, die im Entstehungsprozess am wenigsten umstritten waren.622 Regel 2.5 Abs. 1 der MLC verbürgt das Recht des Besatzungsmitglieds auf eine kostenfreie Heimschaffung in den im Code vorgesehenen Fällen. Der Code nennt als solche Fälle das Ende des Beschäftigungsvertrags im Ausland, Norm A2.5 Abs. 1 lit. a) oder die Beendigung durch Reeder oder Besatzungsmitglied aus berechtigten Gründen, lit. b). Ferner besteht der Anspruch in dem Fall, dass das Besatzungsmitglied nicht mehr in der Lage ist, seine vertraglichen Aufgaben auszuführen oder von ihm nicht erwartet werden kann, dass er sie unter den besonderen Umständen ausfüllt (lit. c). 619 620 621 622

Siehe ausführlich zur Hafenstaatkontrolle unten unter § 4 I. IV. 2. Siehe hierzu oben unter § 2 F. IV. Art. 4 der ILO-Konvention Nr. 23. McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 321.

G. Heimschaffung

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Sofern die Norm zum einen vom „Ende“, lit. a), und zum anderen von der „Beendigung“, lit. b), spricht, so ist nicht, wie dies auch die englische Sprachfassung („expire“ bzw. „terminate“) nahegelegt hätte, zum einen das reguläre Auslaufen des Heuervertrags, zum anderen Beendigung durch Gestaltungserklärung gemeint. Vielmehr zeigt ein Blick auf Leitlinie B2.5.1 Abs. 1 lit. a), welcher einen Heimschaffungsanspruch im Fall der Norm A2.5 Abs. 1 lit. a) mit Ablauf der Kündigungsfrist empfiehlt, dass mit „Ende des Beschäftigungsvertrags“ neben dem Vertragsende durch Zeitablauf auch ein durch Parteiwillen herbeigeführtes Ende gemeint ist. Mithin besteht in diesen Fällen ein Heimschaffungsanspruch aus dem Ausland, ohne dass es eines berechtigten Grundes für die Beendigung bedarf. Für alle Alternativen enthält Norm A2.5 Abs. 3 S. 1 ein Verbot, dem Besatzungsmitglied die Kosten der Heimschaffung aufzuerlegen. Dieses Verbot wird in zweierlei Hinsicht begrenzt. Zum einen steht es den Mitgliedstaaten frei, den Heimschaffungsanspruch von einer Mindestbeschäftigungszeit von höchstens zwölf Monaten abhängig zu machen, Norm A2.5 Abs. 2 lit. b). Zum anderen kann die Kostentragungspflicht dann dem Besatzungsmitglied aufgebürdet werden, wenn sich dieses einer schweren Verletzung seiner beruflichen Pflichten schuldig gemacht hat, Norm A2.5 Abs. 3. Um die Kostenfreiheit der Heimschaffung für das Besatzungsmitglied abzusichern, legt Norm A2.5 Abs. 5 für den Fall, dass der Reeder der Kostentragungspflicht nicht nachkommt, eine subsidiäre Pflicht des Flaggenstaats und des Heimatstaats des Besatzungsmitglieds fest. Ersterer kann sich beim Reeder, letzterer beim Flaggenstaat schadlos halten. Auf Leitlinienebene empfiehlt die MLC einen Heimschaffungsanspruch – außerhalb des genanntens Fall der Kündigung – im Fall von Krankheit oder Unfall, im Fall des Schiffbruchs sowie in dem Fall, dass der Reeder wegen Insolvenz, Schiffsveräußerung, Änderung der Registrierung oder ähnlichen Gründen nicht mehr in der Lage ist, seine gesetzlichen oder vertraglichen Arbeitgeberpflichten zu erfüllen. Ferner soll ein Heimschaffungsanspruch vorgesehen werden, falls das Schiff gegen den Willen des Besatzungsmitglieds in ein Kriegsgebiet unterwegs ist oder falls das Arbeitsverhältnis gemäß einem Schiedsspruch oder einem Gesamtarbeitsvertrag beendet oder unterbrochen oder aus irgendeinem anderen ähnlichen Grund beendet wird, Leitlinie B2.5.1 Abs. 1 lit. b). Die Kostentragung soll nach Leitlinie B2.5.1 Abs. 3 mindestens die Beförderung zum Bestimmungsort, Unterbringung und Verpflegung, Heuerzahlung, die Beförderung von 30 Kilogramm persönlichen Gepächs sowie die ärztliche Behandlung während der Heimschaffung umfassen. Die Beförderung soll normalerweise auf dem Luftweg erfolgen. Es sollen diejenigen Orte als Bestimmungsorte für die Heimschaffung vorgesehen werden, zu denen die Besatzungsmitglieder normalerweise eine enge Verbindung haben, Leitlinie B2.5.1 Abs. 6, 7. Für jugendliche Besatzungsmitglieder empfiehlt die MLC, einen kostenlosen Heimschaffungsanspruch für den Fall vorzusehen, dass sie mindestens vier Monate Dienst getan haben und sich während der ersten Auslandsfahrt herausstellt, dass sie für das Leben auf See untauglich sind, Leitlinie B2.5.2 Abs. 3.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

II. Seearbeitsgesetz 1. Einleitung Durch die ausführlichen Vorgaben der MLC bestand im Rahmen des Heimschaffungsrechts ein erheblicher Umsetzungsbedarf. Machte das Seemannsgesetz den Heimschaffungsanspruch noch von der Art und Weise der Beendigung des Heuerverhältnisses abhängig und sah keinen Heimschaffungsanspruch vor, wenn das Heuerverhältnis durch Zeitablauf oder durch Aufhebungsvertrag im Inland endete,623 so hat das Besatzungsmitglied unter dem Seearbeitsgesetz einen Heimschaffungsanspruch unabhängig vom Beendigungsgrund. Auch die Heimschaffungsgründe, die unter dem Seemannsgesetz unabhängig von der Beendigung des Heuerverhältnisses bestanden, werden nunmehr neu strukturiert (siehe hierzu unten unter 2.). Ebenfalls detailliert geregelt wird der Inhalt des Heimschaffungsanspruchs (siehe hierzu 3.). Schließlich sieht der Gesetzgeber eine Ausfallhaftung des Flaggenstaats vor, falls der Reeder und ggf. der anderere Arbeitgeber ihrer Verpflichtung zur Heimschaffung bzw. zur Kostenübernahme nicht nachkommen (siehe hierzu 4.). 2. Heimschaffungsgründe Das Besatzungsmitglied hat gemäß § 73 einen Anspruch auf Heimschaffung: „1. im Falle von Krankheit oder Verletzung nach Maßgabe des § 105, 2. wenn das Heuerverhältnis endet; im Falle einer ordentlichen Kündigung nach Ablauf der sich aus § 66 ergebenden Kündigungsfrist, 3. wenn der Reeder seine gesetzlichen oder arbeitsvertraglichen Verpflichtungen wegen Insolvenz, Veräußerung des Schiffes, Änderung der Eintragung im Schiffsregister oder aus einem ähnlichen Grund nicht mehr erfüllt, 4. wenn ein Schiff ein Gebiet befahren soll, in dem besondere Gefahren durch bewaffnete Auseinandersetzungen drohen und in das sich das Besatzungsmitglied nicht begeben will, oder wenn das Schiff ein solches Gebiet nicht unverzüglich verlässt 5. wenn der Reeder das Besatzungsmitglied im Stich lässt624 […].“

Die Heimschaffungsgründe sind abschließend. Während § 73 Nr. 1 der Regelung aus dem Seemannsgesetz entspricht, werden die Heimschaffungsgründe im Falle der Beendigung des Heuerverhältnisses in Nr. 2 erweitert. Ein Heimschaffungsanspruch besteht bei jeder Beendigung des Heuerverhältnisses, sei es durch Befristungsende, durch Aufhebungsvertrag oder durch ordentliche oder außerordentliche Kündigung. Anders als unter Geltung des Seemannsgesetzes ist es auch nicht von Belang, ob das Heuerverhältnis im In- oder Ausland endet. Die spätere gerichtliche Feststellung der 623

§ 72 Abs. 1 SeemG. Nr. 5 wurde eingeführt durch das Erste Gesetz zur Änderung des Seearbeitsgesetzes vom 22. Dezember 2015. Imstichlassen ist in § 76a SeeArbG definiert, der ebenfalls mit dem genannten Gesetz eingeführt wurde. Hierzu ausführlich Noltin, RdTW 2017, 1, 5. 624

G. Heimschaffung

245

Unwirksamkeit der Kündigung hat grundsätzlich keinen Einfluss auf den Heimschaffungsanspruch. Die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Besatzungsmitglied nicht den Nachweis geführt hat, dass es zur fristlosen Kündigung berechtigt war.625 Ebenso wenig können dem Besatzungsmitglied bei unberechtigter Kündigung in jedem Fall die Ablösekosten als Schadensersatz auferlegt werden. Eine solche Sichtweise würde die Kostentragungspflicht des Reeders aushöhlen, die nur in den engen Grenzen des § 76 Abs. 5 aufgehoben werden kann. Ferner würde durch eine solche Regelung das Recht des Besatzungsmitglieds zur außerordentlichen Kündigung faktisch beeinträchtigt, da zu befürchten ist, dass ein Besatzungsmitglied, das mit der Kostentragung der Heimschaffung rechnen muss, eine solche Kündigung nicht riskieren wird. Richtigerweise ist daher zu unterscheiden: Ein Heimschaffungsanspruch besteht unabhängig vom Grund der Beendigung des Heuerverhältnisses und daher auch bei jeder außerordentlichen Kündigung des Besatzungsmitglieds. Eine Schadensersatzpflicht des Besatzungsmitglieds für eine Heimschaffung aufgrund einer später gerichtlich für unwirksam befundenen Kündigung besteht dann, wenn das Besatzungsmitglied pflichtwidrig von dem Vorliegen eines Grundes zur außerordentlichen Kündigung ausging, was nur dann anzunehmen ist, wenn sich das Besatzungsmitglied unter keinen Umständen zur Kündigung berechtigt sehen durfte. Dies ist nicht schon der Fall, wenn über das Vorliegen einer Kündigungsvoraussetzung Streit besteht und das Besatzungsmitglied nachvollziehbar darlegen kann, warum es vom Vorliegen eines Kündigungsgrundes ausging. Bejahen wird man eine offensichtliche Unbegründetheit der Kündigung beispielsweise dann, wenn das Gesetz für den Fall einer Pflichtverletzung ein Abmahnungserfordernis des Besatzungsmitglieds vorsieht, vgl. § 68 Abs. 1 S. 3, und dieses nicht eingehalten wurde. Die Frage, an wessen Nichterfüllung gesetzlicher oder arbeitsvertraglicher Verpflichtungen – der des Reeders oder der des Vertragsarbeitgebers – die Heimschaffungsvorschrift des § 73 Nr. 3 anknüpft, ist streng zu unterscheiden von der Frage, wer Anspruchsgegner des Heimschaffungsanspruchs ist.626 Die Systematik der Vorschriften zeigt, dass es sich bei den Gründen der Nichterfüllung um solche handeln muss, die bedingt sind („wegen“) durch eine den Schiffsbetrieb betreffende Veränderung der wirtschaftlichen Umstände. Da diese aber in der Hand des Reeders und nicht in der Hand des Vertragsarbeitgebers, der nicht zugleich Reeder ist, liegen, muss es hier jedenfalls um eine Nichterfüllung des Reeders gehen. Allerdings kann nicht nur der Reeder, sondern auch der Vertragsarbeitgeber des Besatzungsmitglieds von einer Insolvenz betroffen sein kann. Ferner kann auch nur dieser arbeitsvertragliche Verpflichtungen (nicht) erfüllen. Würde man dem Besatzungsmitglied, welches arbeitsvertraglich nicht mit dem Reeder verbunden ist, bei Insolvenz seines Vertragsarbeitgebers keinen Heimschaffungsanspruch gewähren, so käme es zu einer Schutzlücke. Denn das Besatzungsmitglied wäre dann darauf angewiesen, das 625 626

So aber Lindemann, § 73 Rn. 11. Dies verkennt offenbar BNPM/Peetz, § 73 Rn. 5.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Heuerverhältnis zu kündigen, um einen Heimschaffungsanspruch zu haben. Eine solche Ungleichbehandlung zu dem Besatzungsmitglied, welches direkt beim Reeder angestellt ist, ist nicht zu rechtfertigen.627 Damit kann sich die Vorschrift des § 73 Nr. 3 sowohl auf eine Nichterfüllung des Reeders als auch auf eine Nichterfüllung des Vertragsarbeitgebers beziehen. Anders als unter dem Seemannsgesetz erhält das Besatzungsmitglied in Umsetzung der Leitlinie B2.5.1 Abs. 1 lit. b) in dem Fall, dass das Schiff ein Gefahrengebiet befährt bzw. nicht unverzüglich verlässt, neben der Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung nach § 73 Nr. 4 auch einen Heimschaffungsanspruch. Bewaffnete Auseinandersetzungen sind kriegerische Handlungen, etwa bewaffnete Konflikte zwischen zwei oder mehreren Staaten, Bündnissen oder innerstaatlichen Gruppen, von denen mindestens eine Konfliktpartei militärisch organisiert ist.628 Abzugrenzen sind bewaffnete Auseinandersetzungen von den – in jüngerer Zeit bedeutsam gewordenen – besonderen Kriminalitätsformen wie Schiffsentführungen und Piraterie. Das Befahren von Gebieten, die solche Vorkommnisse befürchten lassen, löst nach dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen keinen Heimschaffungsanspruch aus.629 Es muss sich um eine Gefahr handeln, die objektiv ein ernstes Risiko für das Schiff darstellt, die gefährlichen Ereignisse müssen also aufgrund ihrer räumlichen Nähe das Schiff erreichen können. Auf das subjektive Empfinden des Besatzungsmitglieds kommt es hierbei nicht an. Entscheidend ist die Bewertung des Kapitäns, die dieser in Abstimmung mit den nahe gelegenen deutschen Auslandsvertretungen trifft.630 Entsteht eine Gefahrensituation nach Abreise des Schiffs, so hat der Kapitän dafür Sorge zu tragen, dass das Besatzungsmitglied das Schiff verlassen kann.631 Durch die Einführung des Heimschaffungsanspruchs sind die in der Praxis üblichen Gefahrenvereinbarungen, die einen vertraglichen Heimschaffungsanspruch vorsahen, überholt.632 Ein besonderer Heimschaffungsanspruch besteht in Umsetzung der Leitlinie B2.5.2 Abs. 3 für jugendliche Besatzungsmitglieder. Hat nach § 74 ein jugendliches Besatzungsmitglied während seiner ersten Auslandsreise auf einem Schiff mindestens vier Monate lang Dienst getan und stellt sich während dieser Zeit heraus, dass es für das Leben auf See ungeeignet ist, so steht ihm ein Heimschaffungsanspruch zu. Anders als bei den Heimschaffungsgründen des § 73 kommt es nur auf das subjektive Empfinden des Besatzungsmitglieds an.633 Auch wenn der praktische Anwendungsbereich dieser Vorschrift aufgrund der ohnehin gegebenen Möglichkeit zur 627 So im Ergebnis auch BNPM/Peetz, ebd., der allerdings eine analoge Anwendung des § 73 Nr. 3 annimmt. 628 BT-Drucks. 17/10959, S. 87 f. 629 Ebd., S. 88. 630 Lindemann, § 73 Rn. 19 f. 631 Ebd., § 73 Rn. 19. 632 Ebd. 633 BT-Drucks. 17/10959, S. 88.

G. Heimschaffung

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ordentlichen Kündigung und dem dieser Kündigung folgenden Heimschaffungsanspruch nach § 73 Nr. 2 gering sein dürfte, zeigt sich hierin eine besondere Sensibilität des Gesetzgebers gegenüber jungen Besatzungsmitgliedern. Da diese nicht nur in eine neue Arbeits- sondern auch in eine neue Lebenssphäre eintreten, sollen sie das Seearbeitsverhältnis erproben dürfen. Die Gründe für eine Aufgabe des Seeberufs können rein subjektiv sein, sodass auch ein Unwohlsein unterhalb der Schwelle der Seedienstuntauglichkeit oder das Gefühl des Heimwehs ausreicht.634 3. Modalitäten der Heimschaffung Der Bestimmungsort der Heimschaffung entspricht dem Bestimmungsort der Urlaubsgewährung. Da – wie auch im Rahmen des Urlaubs – die Reisekosten der Heimschaffung vom Arbeitgeber zu tragen sind und die Reisezeit nicht auf den Urlaub anzurechnen ist, gelten die Ausführungen zum Urlaubsort und zur Reisekostentragung im Rahmen des Urlaubsanspruchs entsprechend für die Heimschaffung.635 Der Arbeitgeber ist nicht nur nach § 76 Abs. 2 S. 2 zur Kostentragung der Heimschaffung verpflichtet. Er hat dazu auch die Vorkehrungen für die Durchführung der Heimschaffung zu treffen, § 76 Abs. 1. Er schuldet mithin die Organisation der Heimschaffung. Die Heimschaffung des Besatzungsmitglieds muss so organisiert werden, dass dieses keine eigenen Planungen unternehmen muss.636 Hierfür hat der Arbeitgeber sicherzustellen, dass das Besatzungsmitglied sämtliche für die Heimschaffung erforderlichen Ausweispapiere enthält, § 76 Abs. 1 S. 2. Wie durch die MLC empfohlen, umfasst der Anspruch auf Heimschaffung nach § 76 Abs. 2 S. 1 die Beförderung zum Bestimmungsort, Unterkunft und Verpflegung, die Beförderung persönlichen Gepäcks sowie die notwendige ärztliche Behandlung, soweit das Besaztungsmitglied dieser bedarf, um zum Bestimmungsort reisen zu können.637 Die Heuer ist dem Besatzungsmitglied vom Verlassen des Schiffes bis zum Eintreffen am Bestimmungsort fortzuzahlen, § 76 Abs. 1 S. 3. Ebenso wie im Rahmen des Urlaubsrechts dürfen weder die Wartezeit bis zur Heimschaffung noch die Dauer der Heimschaffung auf den gesetzlichen Mindesturlaub angerechnet werden, § 76 Abs. 3. § 76 Abs. 5 und 6 enthalten Ausnahmevorschriften zu dem Grundsatz, dass die Heimschaffung vom Arbeitgeber sowohl zu organisieren als auch bezahlen ist. Nach § 76 Abs. 6 entfällt die Organisationspflicht, wenn der Arbeitgeber außerstande ist, die Vorkehrungen für die Heimschaffung zu treffen. In diesem Fall hat das Besatzungsmitglied einen Anspruch auf Zahlung des für die Heimschaffung erforderli634 635 636 637

Ebd. Siehe hierzu oben utner § 4 F. II. 4. c). BNPM/Peetz, § 76 Rn. 3. Siehe zu den einzelnen Leistungen ausführlich BNPM/Peetz, § 76 Rn. 5.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

chen Geldbetrags.638 Ein solches Außerstandesein des Arbeitgebers wird man beispielsweise dann annehmen können, wenn die Reise oder ein Teil der Reise nur vor Ort organisiert werden kann oder eine Buchung der Reise nur in der Landessprache des Besatzungsmitglieds möglich ist. Nach § 76 Abs. 5 kann der Arbeitgeber vom Besatzungsmitglied die Erstattung der Kosten der Heimschaffung verlangen, wenn das Heuerverhältnis durch eine Kündigung nach § 67 beendet wurde. Die Vorschrift entspricht § 74 Abs. 5 des Seemannsgesetzes und soll Norm A2.5 Abs. 3 umsetzen, die eine Ausnahme von der Kostentragungspflicht des Reeders vorsieht, wenn das Besatzungsmitglied „gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder sonstigen Maßnahmen oder gemäß den anwendbaren Gesamtarbeitsverträgen einer schweren Verletzung ihrer beruflichen Pflichten für schuldig befunden wird.“ Norm A2.5 Abs. 3 knüpft damit an ein Verhalten des Besatzungsmitglieds an. Die Ausnahmevorschrift des § 76 Abs. 5 geht jedoch weiter. Indem sie auf § 67 verweist, nimmt sie neben verhaltensbedingten Gründen auch betriebsbedingte und personenbedingte Gründe in Bezug.639 Auch das Regelbeispiel des § 67 Abs. 1, nachdem ein zur außerordentlichen Kündigung berechtigender wichtiger Grund insbesondere dann vorliegt, wenn das Besatzungsmitglied für den übernommenen Dienst aus Gründen, die schon vor der Begründung des Heuerverhältnisses bestanden, ungeeignet ist, knüpft an einen personenbedingten Grund an. Die Ausnahmevorschrift des § 76 Abs. 5 verstößt damit, sofern sie auf personen- und betriebsbedingte Kündigungen verweist, gegen die zwingenden Vorgaben aus dem Code der MLC. Dies widerspricht dem explizit geäußerten gesetzgeberischen Willen, Norm A2.5 umzusetzen.640 Die Verweisung ist damit teleologisch zu reduzieren. Eine Kostentragung des Besatzungsmitglieds kommt nur dann in Betracht, wenn das Heuerverhältnis aufgrund eines verhaltensbedingten Grundes nach § 67 Abs. 1 gekündigt wurde. Im Falle einer solchen Kündigung entfällt die Pflicht zur Heuerfortzahlung sowie das Verbot, die Kosten der Heimschaffung mit Ansprüchen des Besatzungsmitglieds, insbesondere Heueransprüchen, aufzurechnen, § 76 Abs. 5 S. 2. Zur Sicherung des Anspruchs auf kostenfreie Heimschaffung regelt § 77 in Umsetzung der Norm A2.5 Abs. 5 lit. a), b) sowie der Leitlinie B2.5.2 Abs. 1, dass in dem Fall, dass der Arbeitgeber seiner Verpflichtung zur Heimschaffung nicht nachkommt, die BG Verkehr die Heimschaffung veranlasst und die Kosten verauslagt. Sie kann sich diese später vom Reeder erstatten lassen.

III. Zusammenfassung und Bewertung Seit dem 15. Jahrhundert gewohnheitsrechtlich anerkannt und bereits 1926 in einem ILO-Übereinkommen geregelt, gilt der Anspruch auf kostenfreie Heim638 639 640

So auch ebd., § 76 Abs. 6. Zu § 67 Abs. 1 im Ganzen, siehe oben unter § 4 H. II. 3. BT-Drucks. 17/10959, S. 88.

H. Kündigung

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schafftung in der weltweiten Seeschifffahrt als selbstverständlich. In Übereinstimmung mit den Vorgaben der MLC sieht nunmehr auch das deutsche Recht einen Heimschaffungsanspruch unabhängig von dem Grund der Beendigung des Heuerverhältnisses vor. Lediglich im Fall der außerordentlichen Kündigung durch den Arbeitgeber ist zwar nicht der Heimschaffungsanspruch aufgehoben, jedoch kann der Arbeitgeber die Erstattung der Kosten durch das Besatzungsmitglied verlangen. Hierbei ist die Erstattungspflicht des Besatzungsmitglieds auf solche Fälle beschränkt, in denen der Arbeitgeber ihm verhaltensbedingt kündigt. Um die Effektivität des Heimschaffungsanspruchs zu sichern, ist die Ansicht abzulehnen, die eine Kostentragungspflicht des Arbeitgebers dann verneint, wenn das Besatzungsmitglied unberechtigt außerordentlich kündigt. Der Arbeitgeber schuldet nicht lediglich die Kosten, sondern auch die Organisation der Heimschaffung. Das Besatzungsmitglied soll im Rahmen der Heimschaffung keine eigenen Planungen unternehmen müssen. Für den Bestimmungsort der Heimschaffung gelten die Grundsätze des Urlaubsrechts entsprechend. Um auch im Falle der Nichterfüllung durch Reeder und Vertragsarbeitgeber die Heimschaffung des Besatzungsmitglieds sicherzustellen, wird die BG Verkehr in diesem Fall verpflichtet, die Heimschaffung des Besatzungsmitglieds zu veranlassen.

H. Kündigung I. Einleitung Die Vorgaben der MLC zum Kündigungsrecht sind überschaubar. Die Zulässigkeit einzelner Kündigungsgründe regelt die MLC nicht. Mindestvorschriften enthält die Konvention allein in Bezug auf die Kündigungsfristen, Norm A2.1 Abs. 4 – 6. Folglich sind die Änderungen des Kündigungsrechts im Vergleich zum Seemannsgesetz auch weniger durch die Vorgaben der MLC bedingt, sondern sind vielmehr in dem neu geschaffenen Verständnis begründet, dass grundsätzlich alle an Bord tätigen Personen als Besatzungsmitglieder gelten und dem persönlichen Anwendungsbereich des Seearbeitsgesetzes unterfallen. Die im Seemannsgesetz vorgenommene kündigungsrechtliche Unterscheidung zwischen Kapitän (Kündigung nach §§ 78 f. SeemG), sonstigem seemännischen Personal (Kündigung nach §§ 62 ff. SeemG) und sonstigen an Bord tätigen Arbeitnehmern i. S. d. § 7 SeemG (Kündigung ausschließlich nach dem KSchG, BGB) wird hinfällig. Die Vorschriften des sechsten Unterabschnitts des Seearbeitsgesetzes (Kündigung und Beendigung des Heuerverhältnisses) sind nunmehr – vorbehaltlich einer gesonderten Regelung – unabhängig von Rang, Tätigkeit und Vertragsarbeitgeber des Besatzungsmitglieds anwendbar.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

II. Seearbeitsgesetz Nach § 24 Abs. 1 KSchG i. V. m. § 65 Abs. 4 gelten – vorbehaltlich abweichender Bestimmungen des sechsten Unterabschnitts – für die Kündigung des Heuerverhältnisses die allgemeinen Vorschriften über die Kündigung von Arbeitsverhältnissen. Damit gelten für das Heuerverhältnis insbesondere das Kündigungsschutzgesetz, die Vorschriften über den besonderen Kündigungsschutz für besondere Personengruppen, zum Beispiel für Funktionsträger der Betriebsverfassung, Schwangere und Mütter in den ersten vier Monaten nach der Entbindung, Arbeitnehmer während der Elternzeit, Wehrdienst- und Zivildienstleistende. Ferner gelten die Beteiligungsrechte der Interessenvertretungen sowie die Vorschriften über Kündigungsverbote oder -einschränkungen, etwa wegen eines Betriebsübergangs oder wegen der zulässigen Ausübung von Rechten.641 Eine zum Landarbeitsrecht unterschiedliche Kündigungsdogmatik, wie sie in Bezug auf die außerordentliche Kündigung das Seemannsgesetz noch vorsah, ist nicht mehr zu rechtfertigen. Stattdessen ist nun zu fragen, wie die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses in der allgemeinen Kündigungsdogmatik zum Tragen kommen. Im Hinblick auf die immer häufiger auseinanderfallende Stellung von Arbeitgeber und Reeder ist zu klären, wer in welcher Rolle gegenüber wem zur Kündigung bzw. zu ihrer Entgegennahme berechtigt ist. Schließlich sind die Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes zu erläutern, die den Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses Rechnung tragen.

1. Ordentliche Kündigung Anders als für die außerordentliche Kündigung nennt das Seearbeitsgesetz für die ordentliche Kündigung keine besonderen Kündigungsgründe. In Anbetracht der Tatsache, dass das Seearbeitsgesetz grundsätzlich für alle an Bord tätigen Personen gilt, ist dies folgerichtig. Die Arbeitsverhältnisse, die an Bord vorkommen können, sind zu vielgestaltig, um sie in das Korsett einer eigenen schifffahrtsspezifischen Kündigungsdogmatik drängen zu können. Gerade mit Blick auf große Kreuzfahrtschiffe gibt es wenige Berufe im Landarbeitsverhältnis, der nicht (theoretisch) auch auf See vorkommen kann. Außerdem ist die allgemeine Kündigungsrechtsdogmatik flexibel genug, um die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses aufnehmen zu können. Das Seearbeitsverhältnis weist vier zentrale kündigungsrechtlich relevante Besonderheiten aus: Erstens ist das Schiff nicht nur Arbeits-, sondern während der Fahrt auch Wohnort der Besatzungsmitglieder. Die Besatzungsmitglieder leben und arbeiten auf besonders engem Raum zusammen. Der soziale Frieden auf dem Schiff ist für das Funktionieren der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft an Bord von entscheidender Bedeutung. Eine Störung des sozialen Friedens auf dem Schiff hat daher in der Regel 641

BT-Drucks. 17/10959, S. 84.

H. Kündigung

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schwerere Auswirkungen auf den (Schiffs-)Betrieb, als dies in einem Landbetrieb der Fall wäre. Diesen Gedanken greift die Vorschrift des § 120 auf. Nach dieser hat die Schiffsbesatzung vertrauensvoll und unter gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme zusammenzuarbeiten, um den Schiffsbetrieb zu sichern und die öffentliche Sicherheit und Ordnung an Bord und im Zusammenhang mit dem Betrieb des Schiffes zu gewährleisten. Nach der Begründung des Gesetzgebers stellt § 120 einen verbindlichen Leitsatz zur Gestaltung der Beziehungen der Besatzungsmitglieder untereinander dar.642 Zweitens ist die Arbeit des seemännischen Personals in hohem Maße sicherheitsrelevant. Eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten oder eine personenbedingte Schlechtleistung eines Besatzungsmitglieds mit seemännischen Aufgaben wirkt sich in der Regel in höherem Maße auf die Schiffssicherheit aus als eine Pflichtverletzung des Landarbeitnehmers auf die Sicherheit des Landbetriebs. Kann das Besatzungsmitglied aus personen- oder verhaltensbedingten Gründen seinen Schiffsdienst nicht leisten, ist das Schiff möglicherweise nicht ordnungsgemäß besetzt und kann seine Reise nicht antreten. Dies führt zu längeren Hafenliegezeiten und zu Verspätungen des Schiffes. Diese wiederum sind je nach Größe und Bestimmung des Schiffes mit hohen Kosten für Reeder und Befrachter verbunden. Drittens folgt aus der Arbeits- und Lebensgemeinschaft an Bord, dass die im Landarbeitsverhältnis getroffene Unterscheidung zwischen dienstlichem und außerdienstlichem Verhalten eines Besatzungsmitglieds auf See nicht aufrechterhalten werden kann. Ein Verhalten des Besatzungsmitglieds auf See kann, unabhängig davon, ob es während der Dienst- oder während der Bordfreizeit stattfindet, den sozialen Frieden an Bord und die Schiffssicherheit beeinträchtigen. Auch dieser besondere Aspekt des Seearbeitsverhältnisses ist bei der verhaltensbedingten Kündigung relevant. Viertens besteht im Seearbeitsverhältnis nur sehr eingeschränkt die Möglichkeit, dem Besatzungsmitglied einen anderen Arbeitsplatz zuzuweisen. Der das gesamte Kündigungsrecht beherrschende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit643 verlangt es, dass der Arbeitgeber Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen vorrangig durch andere Maßnahmen als durch Kündigung, unter anderem durch eine Umsetzung des Arbeitnehmers auf einen anderen Arbeitsplatz, begegnet.644 Im Seearbeitsverhältnis ist dies regelmäßig schwerer möglich als in einem Landbetrieb. a) Verhaltensbedingte Kündigung Im Rahmen einer verhaltensbedingten Kündigung können drei Aspekte dazu führen, dass ein durch Kündigung zu sanktionierendes Verhalten aufgrund der Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses anders zu bewerten ist als an Land. Zum 642 643 644

BT-Drucks. 17/10959, S. 103. APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 65 m. w. N. Ebd, KSchG, § 1 Rn. 65, 273 m. w. N.

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einen ist der soziale Frieden auf dem Schiff aufgrund der räumlichen Besonderheiten des Arbeitsplatzes von herausgehobener Bedeutung (hierzu unter aa)). Auch kann die Schiffssicherheit durch ein willensgesteuertes Fehlverhalten leichter betroffen sein als die Betriebssicherheit in einem Landbetrieb (hierzu unter bb)). Da Arbeits- und Lebensraum im Seearbeitsverhältnis kongruent sind, hat ein außerdienstliches Fehlverhalten regelmäßig einen stärkeren Bezug zum Arbeitsverhältnis als an Land (hierzu unter cc)). aa) Sozialer Frieden Die überragende Bedeutung einer funktionierenden Sozialstruktur an Bord ist gesetzlich verankert. Nach § 120 Seearbeitsgesetz hat die Schiffsbesatzung vertrauensvoll und unter gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme zusammenzuarbeiten, um den Schiffsbetrieb zu sichern und die öffentliche Sicherheit und Ordnung an Bord und im Zusammenhang mit dem Betrieb des Schiffes zu gewährleisten. Eine Verletzung der gegenseitigen Achtung und Rücksichtnahme hat nach der Wertung der Vorschrift nicht nur auf die Ordnung an Bord Auswirkungen, sondern auch auf die Schiffssicherheit sowie die Funktionsfähigkeit des Schiffsbetriebs im Allgemeinen. Nicht nur das Seearbeitsgesetz, sondern auch das STCW-Übereinkommen stellt einen inneren Zusammenhang zwischen einer vertrauensvollen Zusammenarbeit der Besatzungsmitglieder und der Schiffssicherheit her.645 Das Übereinkommen verlangt in den Anforderungen an theoretische Kenntnisse und praktische Fertigkeiten, dass ein Besatzungsmitglied einen Beitrag „zu wirksamen Beziehungen zwischen den Menschen an Bord“ leisten kann, und hebt die Bedeutung guter menschlicher Beziehungen bei der Arbeit an Bord hervor.646 Eine verhaltensbedingte Kündigung setzt stets voraus, dass das Arbeitsverhältnis konkret gestört ist.647 Nach der Wertung des § 120 ist das Seearbeitsverhältnis, in dem die Erhaltung des sozialen Friedens für das Zusammenleben und die Sicherheit an Bord von zentraler Bedeutung sind, in besonderem Maße anfällig für eine verhaltensverursachte Störung.648 Dies zeigt sich beispielhaft an einem Fehlverhalten des Besatzungsmitglieds durch die sexuelle Belästigung eines anderen Besatzungsmitglieds. Zu diesem Thema sorgte ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts649 Anfang des Jahres 2015 für Aufregung in der Tagespresse: „Das Bundesarbeitsgericht hat die fristlose Kündigung eines Grabschers aufgehoben. Es sendet ein Signal gegen klare Grenzen und für Sexismus.“ – so resumierte die tageszeitung (TAZ) am 11. 2. 2015.650 645

Siehe auch Bubenzer/Peetz/Mallach/Mallach, § 120 Rn. 1. A-VI/1 – 4 5. Zeile des STCW-Codes zur „Spezifikation der Mindestnormen für die Befähigung in persönlicher Sicherheit und sozialer Verantwortlichkeit“. 647 St. Rspr., vgl. BAG, Urt. v. 20.9.1984 – 2 AZR 233/83, NZA 1985, 285. 648 So wohl auch KR/Weigand, SeeArbG Rn. 75 649 BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, NZA 2015, 294. 650 http://www.taz.de/!154546/, letzter Abruf vom 14.10.2019. 646

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Die Bild ermittelte: „Das sagt Deutschland zum Busengrapsch-Urteil.“651 Auch in seriösen Printmedien wurde das Urteil ausführlich und kontrovers besprochen.652 Was in der Tagespresse für große Aufregung sorgte, ist aus juristischer Sicht einfaches Handwerk und wenig spektakulär: Eine sexuelle Belästigung i. S. d. § 3 Abs. IV AGG stellt eine Verletzung einer vertraglichen Pflicht dar und ist „an sich“ ein wichtiger Grund i. S. v. § 626 BGB. Ob sie im Einzelfall zur außerordentlichen Kündigung berechtigt, ist abhängig von den Umständen des Einzelfalls, unter anderem von ihrem Umfang und ihrer Intensität. In dem konkreten Fall sprachen die Umstände des Falles – insbesondere habe es sich um ein einmaliges „Augenblickversagen“ gehandelt – gegen die Rechtmäßigkeit einer verhaltensbedingten Kündigung. Diese ist mangels vorhergehender Abmahnung unwirksam.653 Doch wie ändert sich die Bewertung dieses Falles, wenn er sich nicht an Land, sondern an Bord eines Schiffes zugetragen hätte? Der „Handlungsunwert“ der Belästigung bliebe derselbe, die Auswirkungen auf den sozialen Frieden im Betrieb, der „Erfolgsunwert“ der Handlung, werden durch die besonderen Umstände des Seearbeitsverhältnisses verschärft. Denn bereits im Normalarbeitsverhältnis führt eine sexuelle Belästigung regelmäßig zu Ängsten, Befangenheit und Ablehnung der im Betrieb beschäftigten Frauen.654 Dies gilt unabhängig davon, ob im Einzelfall der Betriebsfrieden konkret gefährdet ist.655 Damit wird einer sexuellen Belästigung ein Einschüchterungspotenzial zugeschrieben, das durch die Beengtheit des Schiffes und die räumliche Entfernung von schützenden Institutionen privater oder öffentlicher Art beträchtlich erhöht wird. Eine Rückzugssphäre, die im Landarbeitsverhältnis das häusliche und private Umfeld bieten, ist auf einem Schiff nicht vorhanden. Das Heuerverhältnis ist durch eine solche Handlung damit in aller Regel stärker beeinträchtigt, als es das Arbeitsverhältnis an Land wäre.656 Dies ist in der Rechtsprechung auch für andere Fälle körperlicher Übergriffe anerkannt. Tätliche Angriffe, gleichgültig gegen wen sie gerichtet sind, können innerhalb eines Betriebs nicht sanktionslos geduldet werden. Dies gilt insbesondere innerhalb eines Bordbetriebs, wo jeder auf den anderen angewiesen ist.657 Die Be651 https://www.bild.de/news/inland/urteil/kuendigung-unwirksam-das-sagt-deutschlandzumbusengrapsch-urteil-39731548.bild.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. 652 http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/recht-und-gehalt/kuendigung-wegen-busen-be ruehrung-nach-bag-urteil-unwirksam-13420856.html; https://www.zeit.de/karriere/2015-02/se xuelle-belaestigung-kuendigung-bundesarbeitsgericht, letzter Abruf jeweils vom 14.10.2019. 653 BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, NZA 2015, 294. 654 BAG, Urt. v. 8.6.2000 – 2 ABR 1/00, NZA 2001, 91; APS/Vossen, BGB, § 626 Rn. 265. 655 BAG, ebd.; APS/Vossen, ebd. 656 So auch Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 65 Rn. 19. 657 LAG Hamburg 30.11.1990 – 6 Sa 54/90, BeckRS 2014, 69019; ArbG Hamburg, Urt. v. 3.2.1981 – S 1 Ca 446/78, zitiert nach Lindemann, § 67 Rn. 32; ArbG Hamburg, Urt. v. 27.2.1989 – S 14 Ca 289/88, BeckRS 2014, 70181; ArbG Hamburg, Urt. v. 8.1.1991 – S 5 Ca 264/90, zitiert nach ebd., mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen für verhaltensbedingte Kündigungen wegen einer Straftat.

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sonderheiten des Bordlebens erfordern ein hohes Maß des Aufeinanderzugehens und friedlichen Zusammenlebens.658 Ein Besatzungsmitglied, das sich in Konflikten zu tätlichen Angriffen als Lösungsinstrument verleiten lässt, ist daher für den Arbeitgeber nicht tragbar.659 Tätliche Angriffe berechtigen daher in der Regel eine fristlose, zumindest aber eine ordentliche Kündigung, zumal wenn vorhersehbar ist, dass ähnliche Konfliktlagen wieder auftreten können.660 Dies gilt grundsätzlich auch für Vermögens-, Beleidigungs- und Sachbeschädigungsdelikte,661 wobei bei diesen der beschriebene Einschüchterungseffekt und damit die Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses geringer ist als bei Delikten gegen die körperliche oder sexuelle Integrität.662 Daher begründet die Rechtsprechung bei diesen Delikten die Zulässigkeit einer Kündigung, anders als bei tätlichen Angriffen, nicht mit den besonderen Verhältnissen an Bord.663 Ein weiteres verschärfendes Element bei der Frage nach der Auswirkung eines tätlichen Angriffs an Bord ist die besondere Vorgesetzteneigenschaft der Schiffsoffiziere an Bord. Bereits im Landarbeitsverhältnis ist die Vorgesetztenfunktion ein Umstand, der bei der rechtlichen Bewertung der arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung erschwerend zu berücksichtigen ist.664 Im Seearbeitsverhältnis kommt hinzu, dass eine Über- und Unterordnungsfunktion zwischen Besatzung und Kapitän bzw. Schiffsoffizieren nicht nur in organisatorischer und zivilrechtlicher Hinsicht, sondern aufgrund der Anordnungsbefugnisse des Kapitäns auch in personenrechtlicher Hinsicht besteht. Umso größer ist die Auswirkung, die die rechtswidrige Handlung eines Schiffsoffiziers gegen ein Besatzungsmitglied auf den sozialen Frieden an Bord haben kann.665 Damit gilt Folgendes: Je höchstpersönlicher das Rechtsgut, in das durch das Verhalten des Besatzungsmitglieds eingegriffen wird, und je mehr die Eigenart der Schiffsreise, namentlich durch Größe des Schiffe und Länge der Reise, das Zusammenleben an Bord intensiviert, desto stärker kann sich ein kündigungsrelevantes Verhalten auf den sozialen Frieden an Bord auswirken. Bereits aufgrund der Wertung des § 120 ist der soziale Frieden an Bord von zentraler Bedeutung für die Sicherheit des Schiffes sowie für das körperliche und geistige Wohlergehen seiner Besatzung. Eine Verletzung des sozialen Friedens kann daher aufgrund der besonderen äußerlichen Verhältnisse in der Seeschifffahrt noch weniger hingenommen werden als im Landbetrieb. Bei der Prüfung des kündigungsrelevanten Verhaltens des Besat658

LAG Hamburg 30.11.1990 – 6 Sa 54/90, BeckRS 2014, 69019. Ebd. 660 ArbG Hamburg, Urt. v. 28.2.1984 – S 1 Ca 430/82, zitiert nach Lindemann, § 67 Rn. 45. 661 Einen Überblick über die Rechtsprechung zu diesen Fällen bei Lindemann, § 67 Rn. 48 ff. 662 So wohl auch Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 65 Rn. 19. 663 Ebd. 664 BAG, Urt. v. 25.3.2004 – 2 AZR 341/03, NZA 2004, 1214. 665 So wohl auch BNPM/Peetz, § 65 Rn. 98. 659

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zungsmitglieds ist daher sowohl bei der Frage der Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses als auch bei der abschließenden Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass das Seearbeitsverhältnis durch eine verhaltensbedingte Pflichtverletzung des Arbeitnehmers im Bordbetrieb regelmäßig störungsanfälliger ist als das Landarbeitsverhältnis. bb) Schiffssicherheit und Erfolg der Schiffsunternehmung So wie der soziale Frieden Voraussetzung für einen sicheren und ungestörten Schiffsbetrieb ist, so gefährdet umgekehrt auch die Störung des Schiffsbetriebs durch willensgetragenes Verhalten den sozialen Frieden an Bord. Greift ein Besatzungsmitglied durch sein Verhalten zwar nicht direkt Rechtsgüter anderer Besatzungsmitglieder an, sondern beeinträchtigt die Schiffssicherheit durch ein anderes willensgetragenes Verhalten, so wirkt sich dies auf das Sicherheitsgefühl aller Besatzungsmitglieder aus. Das Vertrauen der Gefahrengemeinschaft in- und zueinander sinkt, was den sozialen Frieden an Bord beeinträchtigt. Schiffssicherheit und sozialer Frieden stehen damit in einer Wechselwirkung. Praktische Bedeutung haben in diesem Zusammenhang vor allem die Dienstverweigerung und der willensgetragene Rauschmittelkonsum. Eine Gefährdung der Schiffssicherheit durch ein Verhalten des Besatzungsmitglieds kommt vor allem dort vor, wo der Arbeitnehmer seiner Arbeitspflicht nicht oder nicht wie vertraglich vereinbart nachkommt. In jedem Arbeitsverhältnis führt die Nichterbringung der Arbeitsleistung aufgrund eines Fernbleibens von der Arbeit zu einer konkreten Beeinträchtigung des Arbeitsverhältnisses.666 Ob sich die Fehlzeiten über die Störung hinaus auch noch konkret auf den Betriebsablauf oder den Betriebsfrieden auswirken, ist für die im Rahmen der Interessenabwägung wesentlichen weiteren Auswirkungen der Pflichtverletzung erheblich. Solche konkreten Störungen sind somit nicht unabdingbare Voraussetzungen für die soziale Rechtfertigung einer Kündigung, ihnen kommt vielmehr nur neben dem Vertragsverstoß ein zusätzlich belastendes Gewicht zu.667 Bei erheblichen Arbeitsversäumnissen oder beträchtlichen Störungen des betrieblichen Ablaufs kann unter Umständen auch eine außerordentliche Kündigung gerechtfertigt sein.668 Gleiches gilt für Verspätungen des Arbeitnehmers. Auch hier sind die Auswirkungen auf den betrieblichen Ablauf im Rahmen der Interessenabwägung zu beachten.669 Im Seearbeitsverhältnis kann die Arbeitsverweigerung oder die absprachewidrige Abwesenheit eines im Wachdienst eingesetzten Besatzungsmitglieds dazu führen, dass das Schiff nicht mehr ordnungsgemäß besetzt ist und daher den Hafen nicht

666 667 668 669

APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 342. BAG, Urt. v. 17.1.1991 – 2 AZR 375/90, NZA 1991, 557; APS/Vossen, ebd. KR/Griebeling, KSchG, § 1 Rn. 438. LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 28. 11. 2006 – 5 Sa 271/06, NZA-RR 2007, 129.

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verlassen kann.670 Der Betriebsablauf auf einem Seeschiff wird durch ein solches Fernbleiben damit nicht nur beeinträchtigt, sondern er kommt zeitweise ganz zum Erliegen. Aus diesem Grund ist das eigenmächtige bewusste Entfernen eines Offiziers vom Schiff eine Heuervertragsverletzung von besonderer Intensität, die eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen kann.671 Durch einen solchen Verstoß gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten nimmt ein Besatzungsmitglied in Kauf, dass das Schiff unterbesetzt fährt und die Schiffssicherheit gefährdet wird.672 Zudem nimmt es in Kauf, dass ein anderes Besatzungsmitglied einen zusätzlichen Wachdienst leisten muss.673 Dies hat weitere Konsequenzen: Der Kreis der Arbeitnehmer, die die Aufgaben des die Arbeit verweigernden Besatzungsmitglieds übernehmen können, ist klein. Es sind im Regelfall ein, höchstens zwei Besatzungsmitglieder, die hierfür infrage kommen.674 Hierdurch kommt es zwangsläufig zu einer Störung des Arbeits- und Ruhezeitplans. Der Einsatz des Besatzungsmitglieds verstößt, wenn dieses in einem Drei-Wachen-System zusätzliche Wachzeiten übernehmen muss, gegen nationale und internationale Arbeitszeitvorgaben. Dies wiederum führt neben den Beeinträchtigungen der Gesundheit des Besatzungsmitglieds und der Schiffssicherheit sowie der Störung des sozialen Friedens an Bord auch zu Problemen für den Reeder. Für ihn besteht das Risiko, bei der Hafenstaatkontrolle aufgrund eines Verstoßes gegen Arbeitszeitbestimmungen sanktioniert zu werden.675 Damit gefährdet eine Arbeitsverweigerung, insbesondere auf See, nicht nur die Schiffssicherheit, sondern regelmäßig auch den wirtschaftlichen Erfolg einer Schiffsunternehmung. Die Schiffssicherheit ist auch regelmäßig betroffen, wenn ein Besatzungsmitglied mit seemännischen Aufgaben aufgrund seines Alkohol- oder Drogenkonsums an der vertragsgemäßen Ausübung seiner Tätigkeit gehindert ist. Unabhängig davon, ob ein betriebliches Alkoholverbot besteht, ist ein Alkoholmissbrauch im Betrieb an sich geeignet, eine verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn dadurch eine Beeinträchtigung der Hauptpflicht des Arbeitnehmers zur Arbeitsleistung zu besorgen ist oder er wegen des Alkoholgenusses sich oder andere gefährden kann.676 Hierbei ist unerheblich, ob der Arbeitnehmer bereits alkoholisiert zur Arbeit erscheint oder er erst im Betrieb alkoholische Getränke zu sich nimmt, da er die Pflicht hat, seine Arbeitsfähigkeit nicht durch privaten Alkoholgenuss zu beeinträchtigen.677 670

Lindemann, § 67 Rn. 17. ArbG Hamburg, Urt. v. 19.1.1982 – S 1 Ca 128/81; ArbG Hamburg, Urt. v. 11.6.1987 – S 15 Ca 671/86, jeweils zitiert nach ebd. 672 ArbG Hamburg, Urt. v. 11.6.1987 – S 15 Ca 671/86, zitiert nach ebd.; ArbG Hamburg, Urt. v. 19.9.1995 – S 5 Ca 108/94, zitiert nach ebd., § 67 Rn. 26. 673 ArbG Hamburg, Urt. v. 11.6.1987 – S 15 Ca 671/86, zitiert nach ebd., § 64 Rn. 17. 674 Lindemann, ebd. 675 Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. IV. 2. 676 BAG, Urt. v. 26.1.1995 – 2 AZR 649/94, NZA 1995, 517; Bubenzer/Peetz/Mallach/ Peetz, § 65 Rn. 15; APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 310. 677 BAG, ebd.; APS/Vossen, ebd. 671

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Im sicherheitsrelevanten Bereich kann eine solche Beeinträchtigung schon bei sehr geringen Mengen Alkohols vorliegen.678 Aus diesen Gründen ist ein generelles Alkohol- und Drogenverbot für alle mit der Schiffsführung betrauten Besatzungsmitglieder während der Bordzeit gerechtfertigt und in der Praxis üblich, da an Bord jederzeit mit dem Eintritt eines Notfalls gerechnet werden muss.679 Auch das übrige seemännische Personal hat dafür zu sorgen, in der Freizeit nur so viel Alkohol zu konsumieren, dass es bei Dienstantritt nüchtern ist.680 Eine Betriebsvereinbarung, die während der Dienstzeit eine Blutalkoholkonzentration von 0,0 Promille erfordert und den Alkoholkonsum in der Freizeit derart beschränkt, dass die Besatzungsmitglieder jederzeit ihre Aufgaben im Schiffsdienst uneingeschränkt erfüllen können, ist verhältnismäßig, da die durch die Regelung geschützten Rechtsgüter schutzwürdiger sind als die Freiheit der Besatzungsmitglieder, Alkohol zu sich zu nehmen.681 Für die soziale Rechtfertigung einer verhaltensbedingten Kündigung bedeutet dies Folgendes: Wie bei anderen Arbeitnehmern, von denen im Fall der Alkoholisierung besondere Gefahren für die übrige Belegschaft oder Dritte ausgehen, kann auch schon ein einmaliger Verstoß gegen das Alkoholverbot eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen.682 Diese Gefahr ist umso höher, je enger die Aufgabe des Besatzungsmitglieds mit der Führung des Schiffes zusammenhängt und je mehr Verantwortung ihm bei der Schiffsführung zufällt. Dieser Linie folgt auch die Rechtsprechung. Selbst wenn ein Matrose während der Dauer eines elf Jahre bestehenden Heuerverhältnisses insgesamt fünf Mal wegen Trunkenheit im Dienst auffällig geworden ist, so liegt weder eine zur fristlosen Kündigung berechtigende beharrliche Pflichtverletzung noch eine in Anbetracht der Dauer des Heuerverhältnisses und der nur einmaligen Abmahnung eine zur ordentlichen Kündigung berechtigende Pflichtverletzung vor.683 Etwas anderes gilt für Wachoffiziere: Hier hält die Rechtsprechung die fristlose Kündigung eines Schiffsoffiziers aufgrund eines besonders schweren Pflichtverstoßes bereits bei einer einzelnen Pflichtverletzung für gerechtfertigt. Ein Wachoffizier hatte sich vor der Wache derart alkoholisiert, dass er an einem für die Nachtzeit angesetzten Verholmanöver nicht teilnehmen konnte. Ferner hatte er den Alkoholgenuss anderer Besatzungsmitglieder nicht verhindert.684 Gleichfalls rechtmäßig war die Kündigung eines Alleinsteuer678

BAG, ebd. BNPM/Peetz, § 65 Rn. 86.; Eisenbeis, in: Handbuch KündigungsschutzR, Teil 4 Rn. 153. Zur Zulässigkeit eines generellen Alkoholverbots für einen Berufskraftfahrer, siehe BAG, Urt. v. 23.9.1986 – 1 AZR 83/85, NZA 1987, 250. Die Möglichkeit eines generellen Alkoholverbots an Bord befürwortet Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 28 Rn. 11. 680 LAG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 20.11.2007 – 5 TaBV, NZA-RR 2008, 184. 681 Ebd. 682 LAG Hamm, Urt. v. 22.12.1988 – 8 Sa 1258/77, DB 1978, 750; LAG Köln, Urt. v. 19.3.2008 – 7 Sa 1369/07, juris. Für Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben zustimmend Eisenbeis, in: Handbuch KündigungsschutzR Teil 4 Rn. 153; BNPM/Peetz, § 65 Rn. 86. 683 ArbG Hamburg, Urt. v. 12.10.1984 – S 1 Ca 107/84, zitiert nach Lindemann, § 67 Rn. 36. 684 ArbG Hamburg, Urt. v. 11.7.1994 – S 1 Ca 498/72, zitiert nach Lindemann, ebd. 679

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manns, der während seiner Seewache in der Nacht volltrunken gewesen war und dabei das Schiff und dessen Besatzung durch den eingestellten Kurs in die Gefahr einer Strandung versetzt hatte.685 Eine alkoholbedingte Verminderung der Arbeitsfähigkeit wiegt damit bei einem Besatzungsmitglied mit seemännischen Aufgaben regelmäßig schwerer als bei einem Landarbeitnehmer. Jedes Besatzungsmitglied im Schiffsdienst trägt durch seine Arbeit an Bord zur Sicherheit des Schiffes bei. Die Unmittelbarkeit, mit der sich ein Pflichtenverstoß auf die Schiffssicherheit auswirken kann, ist je nach Position des Besatzungsmitglieds unterschiedlich. Daher ist es gerechtfertigt, die Schwere einer Pflichtverletzung danach zu bestimmen, welchen Grad an Gefährdung sie für das Schiff bedeutet. Hierzu kann auf die im Landarbeitsverhältnis geltenden Maßstäbe zurückgegriffen werden, wonach eine Pflichtverletzung durch Alkoholisierung dann schwerer wiegt, wenn eine Gefährdung von Arbeitskollegen oder Dritter zu besorgen ist.686 cc) Dienstzeit und Bordfreizeit Außerdienstliches Verhalten ist zwar grundsätzlich nicht geeignet, eine verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen.687 Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt dann, wenn das Verhalten des Arbeitnehmers das Arbeitsverhältnis konkret stört und somit einen Bezug zum Arbeitsverhältnis aufweist.688 Bei einer an Bord begangenen Pflichtverletzung, etwa durch einen tätlichen Angriff oder eine Straftat, ist es, solange sich das Schiff auf See befindet, unerheblich, ob die Pflichtverletzung während der Dienstzeit oder während der Bordfreizeit erfolgt. Denn an Bord wird der geforderte Bezug zum Arbeitsverhältnis bereits dadurch hergestellt, dass auf See begangene Pflichtverletzung stets am Arbeitsplatz des Besatzungsmitglieds stattfindet.689 Dies entspricht auch der Wertung des § 120, der nicht eine Rücksichtnahmepflicht während der Dienstzeit, sondern eine Rücksichtnahmepflicht „an Bord“ statuiert und damit das außerdienstliche Bordverhalten einschließt.690 Einen solchen Bezug zum Arbeitsverhältnis auch bei jedem Fehlverhalten während des Landgangs oder während der An- und Abreise ohne Weiteres herzustellen, ist nicht gerechtfertigt.691 Zwar ist, gerade wenn eine gegenüber einem anderen Besatzungsmitglied begangene Straftat in Rede steht, zuzugeben, dass sich die Auswirkungen eines während des Landgangs begangenen Fehlverhaltens auf den 685

ArbG Hamburg, Urt. v. 21.3.2000 – S 1 Ca 281/99, zitiert nach ebd. BAG, Urt. v. 20.3.2014 – 2 AZR 565/12, NZA 2014, 602. 687 ErfK/Oetker, KSchG, § 1 Rn. 193; ausführlich MünchHdbArbR/Rachor, § 124 Rn. 46 ff. 688 BAG, Urt. v. 28.10.2010 – 2 AZR 293/09, NZA 2011, 112. 689 Zustimmend BNPM/Peetz, § 65 Rn. 92. 690 BT-Drucks. 17/10959, S. 103. 691 So aber BNPM/Peetz, § 65 Rn. 92. 686

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sozialen Frieden an Bord auswirken können. Allerdings soll die Gewährung des Landgangs während einer Reise dem Arbeitnehmer nicht nur die räumliche, sondern auch die „geistige“ Distanz von seinem Arbeitsverhältnis ermöglicht werden. Ziel des Landgangsanspruchs ist es, dem Besatzungsmitglied eine selbstbestimmte Freizeitgestaltung zu ermöglichen, wie dies auch dem Arbeitnehmer im Landarbeitsverhältnis möglich ist.692 Dem widerspräche es, seinem Verhalten während dieser Zeit stets eine arbeitsvertragliche Relevanz beizumessen. Zudem ist der oben beschriebene Einschüchterungseffekt einer Tätlichkeit oder Straftat weniger ausgeprägt, wenn sie außerhalb der beengten Räumlichkeiten des Schiffes begangen wird. Dies wird gestützt von § 120, der einer Rücksichtnahmepflicht lediglich an Bord besondere Bedeutung beimisst und gerade nicht außerhalb der Bordzeit. Die räumliche Kongruenz von Arbeits- und Lebensbereich an Bord eines Schiffes bewirkt aber, dass das außerdienstliche Verhalten eines Besatzungsmitglieds dann stets einen Bezug zum Arbeitsverhältnis aufweist, wenn es an Bord des Schiffes stattfindet. An Bord begangene Straftaten gegen andere Besatzungsmitglieder stören mithin den sozialen Frieden unabhängig davon, ob sie während oder außerhalb der Arbeitszeit begangen werden. b) Personenbedingte Kündigung Ebenso wie bei einer willensgesteuerten Nichtleistung der Arbeitspflicht, etwa durch Arbeitsverweigerung oder eine vorsätzlich herbeigeführte Arbeitsunfähigkeit, stellt sich bei einer personenbedingten Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers die Frage, welche Auswirkungen diese auf den Schiffsbetrieb hat.693 Da der soziale Frieden an Bord grundsätzlich nur durch ein willensgesteuertes Verhalten infrage gestellt werden kann, ist diese kündigungsrechtliche Besonderheit im Rahmen der personenbedingten Kündigung zu vernachlässigen.694 Etwas anderes gilt für die Aspekte der Schiffssicherheit und der besonderen Bedeutung des Besatzungsmitglieds für den wirtschaftlichen Erfolg der Schiffsunternehmung. Diese werden insbesondere bei einer durch einen Eignungsmangel bedingten und bei einer krankheitsbedingten Kündigung relevant. aa) Eignungsmangel Die mangelnde Eignung des Besatzungsmitglieds für den Schiffsdienst kann eine personenbedingte Kündigung rechtfertigen.695 Es ist zwischen der fachlichen und der 692

Siehe hierzu ausführlich oben unter § 4 D. II. 3. APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 243. 694 Siehe aber zur Wechselwirkung zwischen Schiffssicherheit und dem sozialen Frieden an Bord oben unter § 4 H. III. 2. a) aa). 695 Zur mangelnden Eignung im Allgemeinen: BAG, Urt. v. 10.4.2014 – 2 AZR 812/12, NZA 2014, 653; APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 118. 693

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persönlichen Eignung zu unterscheiden.696 Praktische Relevanz hat bei der erstgenannten Fallgruppe insbesondere der Mangel an Patentvoraussetzungen. Ein Besatzungsmitglied, das die nach den seeverkehrsrechtlichen Vorschriften erforderlichen Befähigungszeugnisse, Befähigungsnachweise oder sonstiger Qualifikationsbescheinigungen nicht oder nicht mehr besitzt, unterliegt nach § 23 einem gesetzlichen Beschäftigungsverbot. In diesem Fall ist grundsätzlich eine personenbedingte Kündigung gerechtfertigt.697 Hier ist es für die Wirksamkeit der Kündigung erforderlich, dass mit einer erneuten Erlangung des Befähigungszeugnisses nicht zu rechnen ist.698 Die persönliche Eignung zum Schiffsdienst ist dann nicht mehr gegeben, wenn das Besatzungsmitglied dauernd oder nicht nur vorübergehend seedienstuntauglich ist, vgl. § 11. In diesem Fall finden die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur dauerhaften krankheitsbedingten Leistungsunfähigkeit entsprechende Anwendung.699 bb) Krankheitsbedingte Kündigung Bei der krankheitsbedingten Kündigung muss die krankheitsbedingte Abwesenheit des Arbeitnehmers zunächst zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen.700 Eine solche erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen des Arbeitgebers kann zum Beispiel in wesentlichen Störungen im Arbeitsablauf, im Produktionsausfall, im Verlust von Kundenaufträgen oder in der Tatsache liegen, dass Ersatzpersonal schwer oder gar nicht beschafft werden kann.701 Eine Störung im Arbeitsablauf kann sich ferner daraus ergeben, dass das verbleibende Personal überlastet wird.702 Bei der Bewertung der betrieblichen Störung ist auch die Stellung des Arbeitnehmers im Betrieb von Bedeutung. Arbeitnehmer in Schlüsselpositionen sind schwerer ersetzbar.703 Die Störungen dürfen nicht durch mögliche und zumutbare Überbrückungsmaßnahmen vermieden werden können. Dazu gehört der Einsatz eines Arbeitnehmers aus einer vorgehaltenen Personalreserve, die Umorganisation der Arbeit, die Neueinstellung einer Aushilfskraft.704 Nach ständiger Rechtsprechung des BAG kann eine erhebliche be696

APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 131. BNPM/Peetz, § 65 Rn. 69.; ders., in: Bubenzer/Peetz/Mallach, § 65 Rn. 13. Zur parallelen Problematik des Verlusts der Fluglizenz eines Piloten BAG, Urt. v. 31.1.1996 – 2 AZR 68/95, NZA 1996, 819. Zum Entzug der Fahrerlaubnis eines Berufskraftfahrers BAG, Urt. v. 30.5.1978 – 2 AZR 630/76, AP BGB § 626 Nr. 70. 698 BAG, Urt. v. 31.1.1996 – 2 AZR 68/95, NZA 1996, 819; BNPM/Peetz, § 65 Rn. 69. 699 ArbG Hamburg, Urt. v. 27.5.1997 – S 1 Ca 381/96, BeckRS 2014, 70176. 700 APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 124 m. w. N. 701 BAG, Urt. v. 2.11.1983 – 7 AZR 272/82, AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 12; APS/ Vossen, KSchG, § 1 Rn. 154 f. 702 APS/Vossen, KSchG, § 1 Rn. 155. 703 Ebd. 704 BAG, Urt. v. 25.11.1982 – 2 AZR 140/81, AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 7; APS/ Vossen, ebd. 697

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triebliche Belastung auch in einer außergewöhnlich hohen Belastung durch Entgeltfortzahlungskosten liegen.705 Dies kann dann der Fall sein, wenn mit immer neuen beträchtlichen Fehlzeiten und entsprechenden Entgeltfortzahlungskosten zu rechnen ist, die über einen Zeitraum von sechs Wochen pro Jahr hinausgehen.706 Die Bedeutung des einzelnen Besatzungsmitglieds für den Schiffsbetrieb wurde bereits im Rahmen der verhaltensbedingten Kündigung dargestellt.707 Die Störungsanfälligkeit des Seebetriebs durch eine verhaltensgesteuerte Pflichtverletzung wächst, je kleiner das Schiff und je wichtiger die Rolle des Besatzungsmitglieds für die Schiffsführung ist. Nichts anderes gilt für die Störungsanfälligkeit durch krankheitsbedingte Ausfallzeiten. Hierbei ist zu unterscheiden. Die Auswirkungen einer lang andauernden Krankheit auf den Schiffsbetrieb unterscheiden sich kaum von den Auswirkungen, die eine solche Krankheit auf das Landarbeitsverhältnis hätte.708 Der Arbeitgeber muss hier wie dort einen Arbeitnehmer finden, der den erkrankten Arbeitnehmer mittel- oder langfristig ersetzt. Dadurch, dass eine Ersetzung nur einmalig vorgenommen werden muss, hat der Arbeitgeber Planungssicherheit und die Mannschaft an Bord hat die Möglichkeit, sich – in zwischenmenschlicher und arbeitstechnischer Sicht – auf das neue Besatzungsmitglied einzustellen. Muss ein krankheitsbedingter Ersatz hingegen kurzfristig erfolgen oder während einer Reise, treten die Unterschiede zum Landarbeitsverhältnis deutlich zutage. Eine Personalreserve wird auf See in der Regel nicht vorgehalten, da die Anzahl der an Bord tätigen Besatzungsmitglieder durch geringe Unterkunftskapazitäten begrenzt ist. Auch ist aufgrund des hohen Spezialisierungsgrades der Tätigkeiten an Bord eine Umorganisation der Arbeit kaum möglich.709 Ferner ist es regelmäßig nicht möglich, in einem anderen Hafen als dem Heimathafen des Schiffes eine geeignete Ersatzkraft zu finden. Hinzu kommt, dass der Arbeitgeber die Kosten für Anreise und Heimschaffung des Ersatzmannes übernehmen muss.710 Damit sind die im Landarbeitsverhältnis üblichen Überbrückungsmaßnahmen auf See oder in einem fremden Hafen entweder nicht oder nur unter größeren Schwierigkeiten möglich. Kommt es auf See zu einem krankheitsbedingten Ausfall, muss dieser stets durch andere Besatzungsmitglieder aufgefangen werden. Dies gilt insbesondere, da der Wachdienst des krankheitsbedingt ausfallenden Besatzungsmitglieds nur auf wenige Schultern verteilt werden kann. Die zwangsläufige Folge hieraus ist, dass der Arbeitszeitplan an Bord nicht eingehalten werden kann und andere Besatzungsmitglieder über die gesetzlich vorgeschriebenen Höchstarbeits- bzw. Mindestruhe705 BAG, Urt. v. 23.6.1983 – 2 AZR 15/82, AP KSchG 1969 § 1 Krankheit Nr. 10; BAG, Urt. v. 15.2.1984 – 2 AZR 573/82, NZA 1984, 86; BAG, Urt. v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, NZA 2010, 398. 706 BAG, Urt. v. 10.12.2009 – 2 AZR 400/08, NZA 2010, 398. 707 Siehe hierzu oben unter § 4 H. III. 2. a). 708 Siehe jedoch sogleich zu den höheren Entgeltfortzahlungskosten. 709 BNPM/Peetz, § 65 Rn. 83. 710 Ebd., § 65 Rn. 62.

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zeiten hinaus Dienst tun müssen. Dies wiederum kann zu Sanktionen gegen den Reeder im Rahmen der Hafenstaatkontrollen führen.711 Ein weiterer Unterschied zum Landarbeitsverhältnis besteht in der Bewertung der wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers durch Entgeltfortzahlungskosten. Eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Belange durch solche Kosten kann dann angenommen werden, wenn die zu erwartenden Lohnfortzahlungskosten einen Zeitraum von sechs Wochen pro Jahr übersteigen.712 Dieser Zeitraum wurde von der Rechtsprechung in Anlehnung an § 3 Abs. 1 S. 1 EntgFG bestimmt.713 Dieser enthält die Wertung, dass dem Arbeitgeber grundsätzlich bis zu einem Zeitraum von sechs Wochen eine Entgeltfortzahlung zumutbar ist und damit nicht von einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen ausgegangen werden kann.714 Im Seearbeitsverhältnis wird § 3 EntgFG nach der Vorgabe der MLC715 durch § 104 Abs. 1 S. 1 modifiziert. Der Heuerfortzahlungsanspruch besteht mindestens bis zu dem Tage, an dem das Besatzungsmitglied das Schiff zum Zwecke der Heimschaffung verlässt.716 Daraus folgt, dass eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung des Arbeitgebers durch Entgeltfortzahlungskosten dann nicht vorliegen kann, wenn nach § 104 Abs. 1 S. 1 eine Pflicht zur Entgeltfortzahlung auch über die Sechswochengrenze des § 3 Abs. 1 S. 1 EntgFG besteht.717 Damit gilt: Die Wahrscheinlichkeit, dass der krankheitsbedingte Ausfall eines Besatzungsmitglieds den Schiffsbetrieb und damit die betrieblichen Interessen des Arbeitgebers berührt, kann im Vergleich zum Landarbeitsverhältnis erhöht sein. Insbesondere ist eine kündigungsrelevante Beeinträchtigung dann zu besorgen, wenn der Arbeitgeber nicht oder nur schwer auf den Ausfall des Arbeitnehmers reagieren kann. Dies ist bei häufigen Kurzzeiterkrankungen eher der Fall als bei einer langandauernden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Insbesondere wenn die Ausfallzeiten in der Vergangenheit befürchten lassen, dass das Besatzungsmitglied auf See oder in einem fremden Hafen erkranken wird, ist eine personenbedingte Kündigung aufgrund der dann zu befürchtenden erheblichen Beeinträchtigungen des Arbeitsverhältnisses – insbesondere der Beeinträchtigung der anderen Besatzungsmitglieder – leichter zu rechtfertigen als an Land.

711

Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV. 2. a). BAG, Urt. v. 7.11.2002 – 2 AZR 599/01, AP KSchG § 1 Krankheit Nr. 40. 713 Ebd. 714 Vgl. BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 755/13, NZA 2015, 612. 715 Vgl. Norm A4.2 Abs. 3 lit. a). 716 § 104 Abs. 1 S. 1, 2 lautet: „Ein infolge Krankheit oder Verletzung arbeitsunfähiges Besatzungsmitglied hat Anspruch auf Fortzahlung der Heuer vom Beginn der Arbeitsunfähigkeit mindestens bis zu dem Tage, an dem es das Schiff verlässt. Im Übrigen gelten die Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes.“ Dass mit Verlassen des Schiffes nur das Verlassen zwecks Heimschaffung gemeint ist, folgt ausdrücklich aus der Gesetzesbegründung, BTDrucks. 17/10959, S. 97. 717 BNPM/Peetz, § 65 Rn. 62. 712

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cc) Mangelnde Umsetzungsmöglichkeit Eine personenbedingte Kündigung ist nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur wirksam, wenn die Störung des Arbeitsverhältnisses nicht durch mildere Mittel beseitigt werden kann. Hier kommt vor allem die Weiterbeschäftigung auf einem Arbeitsplatz in Betracht, auf dem eine kündigungsrelevante Störung des Arbeitsverhältnisses nicht zu besorgen ist.718 Ob für ein Besatzungsmitglied eine Weiterbeschäftigung auf einem Landarbeitsplatz infrage kommt, hängt von der Art der Tätigkeit ab. Ist das Besatzungsmitglied nicht im Schiffsdienst tätig, sondern im Servicebereich i. S. d. § 2 Nr. 9 SeeArbG, und verfügt der Arbeitgeber über Landbetriebe (etwa: Restaurants, Ladengeschäfte), so ist eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers – falls nicht durch Ausübung des Direktionsrechts möglich, gegebenenfalls nach Ausspruch einer Änderungskündigung – in dem Landbetrieb das mildere Mittel zur personenbedingten Kündigung. Obgleich sich die rechtlichen Rahmenbedingungen im Landbetrieb ändern, entspricht der Landarbeitsplatz doch der persönlichen und fachlichen Eignung eines solchen Besatzungsmitglieds. Für Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben kommt eine solche Umsetzung nicht in Betracht. Einen ihrer persönlichen und fachlichen Eignung entsprechenden Arbeitsplatz hält der Landbetrieb des Arbeitgebers in aller Regel nicht bereit, da sich Eigenart und nötige Qualifikation von Schiffsdienst und Tätigkeit an Land grundlegend unterscheiden.719 Die Weiterbeschäftigung auf einem anderen Schiff kommt grundsätzlich in Betracht, es sind aber wenige Fälle denkbar, in denen eine solche Umsetzung die Störung des Arbeitsverhältnisses beseitigt. In Betracht kommen etwa Fälle, in denen die Seedienstuntauglichkeit auf ein bestimmtes Fahrtgebiet beschränkt ist.720 c) Betriebsbedingte Kündigung aa) Allgemeine Grundsätze Anders als bei der ordentlichen verhaltensbedingten oder personenbedingten Kündigung kommt der Kündigungsgrund bei der betriebsbedingten Kündigung nicht aus der Sphäre des Arbeitnehmers, sondern aus der des Arbeitgebers.721 Dieser trifft eine auf inner- oder außerbetrieblichen Gründen beruhende unternehmerische Entscheidung, die zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit führt. Nach dem Grundsatz der freien Unternehmensentscheidung wird die unternehmerische Entscheidung nicht auf Zweckmäßigkeit oder Notwendigkeit überprüft, sondern nur darauf, ob sie tatsächlich getroffen wurde und ob sie offensichtlich unsachlich, 718

BAG, Urt. v. 24.2.2011 – 2 AZR 636/09, NZA 2011, 1087. LAG Hamburg, Urt. v. 30.10.1981 – 6 Sa 51/81, SeeAE § 615 BGB Nr. 1 (II); BNPM/ Peetz, § 65 Rn. 53. 720 Siehe zur Einschränkung der Tropendiensttauglichkeit: ArbG Hamburg, Urt. v. 11.12.1987 – S 1 Ca 251/87, zitiert nach Lindemann, § 65 Rn. 31. 721 KR/Griebeling, KSchG, § 1 Rn. 514. 719

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unvernünftig oder willkürlich ist.722 Wie sich die Entscheidung auf Bordfrieden und Schiffssicherheit auswirken, spielt damit im Rahmen der betriebsbedingten Kündigung keine Rolle. Im Seearbeitsverhältnis besteht die Besonderheit, dass für Besatzungsmitglieder mit seemännischer Tätigkeit eine Weiterbeschäftigung nur auf einem freien vergleichbaren Arbeitsplatz auf See in Betracht kommt, da Land- und Seebetrieb stets getrennte Betriebe eines Schifffahrtsunternehmens sind.723 Bei einer vorzunehmenden Sozialauswahl, § 1 Abs. 3 KSchG, ist der von § 24 Abs. 2 KSchG definierte besondere Betriebsbegriff in der Seeschifffahrt zu beachten. Hiernach bilden die Gesamtheit aller See- oder Binnenschiffe eines Schifffahrtsbetriebs einen Betrieb im Sinne des Kündigungsschutzgesetzes. Der Reeder muss damit alle vergleichbaren Besatzungsmitglieder der Gesamtheit seiner Schiffe in die Sozialauswahl einbeziehen.724 Ob ein Besatzungsmitglied vergleichbar i. S. d. § 1 Abs. 3 KSchG ist, ist bei einer seemännischen Tätigkeit aufgrund der klaren Betriebshierarchie an Bord und der genauen Tätigkeitsbezeichnung im Heuervertrag in der Regel unproblematisch festzustellen.725 bb) Kündigung bei Ausflaggung oder Aufgabe der Reederstellung In der Praxis bedeutsam sind betriebsbedingte Kündigungen im Zusammenhang mit einer Ausflaggung oder im Zuge der Aufgabe der Arbeitgeberstellung. Die Ausflaggungsentscheidung des Reeders ist eine grundsätzlich zu respektierende unternehmerische Entscheidung, die nicht von den Gerichten für Arbeitssachen überprüfbar ist. Sie ist, wenn das Bundesamt für Schifffahrt und Hydrographie die Ausflaggung genehmigt hat, weder offensichtlich unsachlich noch willkürlich.726 Hier besteht jedoch – gegebenenfalls nach Ausspruch einer Änderungskündigung – regelmäßig die Möglichkeit, das Besatzungsmitglied auf dem ausgeflaggten Schiff weiter zu beschäftigen.727 Entscheidet sich der Reeder, seine Arbeitgeberstellung gegenüber den bei ihm angestellten Besatzungsmitgliedern aufzugeben, so sind zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden: Formale Aufgabe der Reederstellung

Soll – wie dies in der Praxis der Regelfall ist – eine Crewing-Agentur den Schiffsbetrieb nach den Vorgaben des Reeders organisieren und nur für Auswahl und Bereitstellung des Personals zuständig sein, wobei der Reeder weiterhin Weisungen an Kapitän und Mannschaft erteilt, so ist die Ersetzung von eigenen Besatzungs722

Ständige Rspr., BAG, Urt. v. 7.12.1978 – 2 AZR 155/77, NJW 1979, 1902. ArbG Hamburg 18.5.1995 – S 14 Ca 8/94, zitiert nach Lindemann, § 65 Rn. 49. 724 ArbG Hamburg, Urt. v. 1.11.1973 – S 1 Ca 252/72, SeeAE Nr. 1 zu § 1 KSchG. 725 BNPM/Peetz, § 65 Rn. 118. 726 LAG Hamburg, Urt. v. 8.12.1992 – 6 Sa 53/92; Urt. v. 27.1.1993 – 5 Sa 48/92, jeweils zitiert nach Lindemann, § 65 Rn. 45; zustimmend BNPM/Peetz, § 65 Rn. 126. 727 ArbG Hamburg, Urt. v. 4.10.1994, BeckRS 2014, 70178; zustimmend BNPM/Peetz, ebd. 723

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mitgliedern durch Besatzungsmitglieder der Crewing-Agentur eine unzulässige Austauschkündigung.728 Der Reeder entledigt sich in diesem Fall lediglich eines kleinen, formalen Teilbereichs der typischen Arbeitgeberfunktion, während die Beschäftigungsmöglichkeit im Betrieb bestehen bleibt.729 In dieser auch für das Landarbeitsverhältnis richtungsweisenden sog. „Crewing-Entscheidung“ stellt das BAG klar, dass eine die Arbeitsgerichte bindende freie Unternehmerentscheidung durch die Vergabe von bisher im Betrieb durchgeführten Arbeiten an einen Unternehmer zu selbständigen Durchführung dann nicht vorliegt, wenn der bisherige Arbeitgeber unverändert über Ladung, Frachtraten und Einsatz des Schiffes bestimmt, mithin den wirtschaftlichen Schiffsbetrieb steuert. Die Besatzungsmitglieder der Crewing-Agentur sind dann in den Schiffsbetrieb des Reeders eingegliedert, der weiterhin die Handlungen zur Erreichung des wirtschaftlichen Erfolges nach eigenen betrieblichen Voraussetzungen vornimmt.730 Eine Betrachtung, nach der sich die Leitungsmacht des Schiffsbetriebs aufteilen lässt in einen „richtungsgebenden Planungsteil“, den stets der Reeder behielte, und einen „ausführenden Umsetzungsteil“, den die Crewing-Agentur übernimmt und deren nähere Ausgestaltung dem Reeder gleichgültig ist, ist damit unzulässig. Die Leitungsmacht des Schiffes setzt sich aus beiden zusammen. Das Weisungsrecht gegenüber den seemännisch tätigen Besatzungsmitgliedern an Bord liegt damit letztendlich stets in den Händen desjenigen, der über den Einsatz des Schiffes als Ganzes disponiert. Damit gilt Folgendes: Da nach dem Seearbeitsgesetzes nur diejenige Person oder Organisation Reeder i. S. d. § 4 sein kann, die vom Eigentümer die Verantwortung für den Betrieb des Schiffes übernommen hat, gibt es nach den Vorgaben des BAG kündigungsrechtlich keine denkbare Konstellation, in der der Reeder seine Arbeitgeberstellung aufgeben kann, ohne gleichzeitig seine Reederstellung i. S. d. § 4 aufzugeben. Tatsächliche Aufgabe der Reederstellung

Sofern der Reeder seine Arbeitgeberstellung nicht lediglich formal, sondern inhaltlich aufgibt und damit die Merkmale des § 4 SeeArbG nicht mehr erfüllt, kommt entweder eine Betriebsteilstilllegung oder ein Betriebsteilübergang in Betracht. Im zweiten Fall kommt dem Besatzungsmitglied der besondere Kündigungsschutz des § 613a Abs. 4 zugute. Bei Veräußerung eines Seeschiffs kann ein Betriebsteilübergang i. S. d. § 613a BGB vorliegen, da es sich bei einem Schiff um eine Teileinheit des Reedereibetriebs handelt, mit dem innerhalb der Reederei der Teilzweck verfolgt wird, Personen oder Güter zu transportieren.731 „Durch Rechtsgeschäft“ erfolgt der Betriebsübergang nicht nur im Fall der Veräußerung eines Seeschiffs, sondern auch, 728 BAG, Urt. v. 26.9.1996 – 2 AZR 200/96, NZA 1997, 202; zustimmend Lindemann, § 65 Rn. 45; BNPM/Peetz, § 65 Rn. 129. 729 BAG, ebd. 730 Ebd.; zustimmend BNPM/Peetz, § 65 Rn. 129 731 Lindemann, § 65 Rn. 54. Dass ein Schiff ein tauglicher Übertragungsgegenstand i. S. d. § 613a sein kann, ist seit Mitte der 1990er Jahre praktisch unumstritten, vgl. BAG, Urt. v. 18.3.1997 – 3 AZR 729/95, NZA 1998, 97; siehe auch instruktiv AR-Blattei/Franzen, 1450, Seearbeitsrecht Nr. 19 S. 5 m. w. N.

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wenn der ursprüngliche Reeder Eigentümer des Schiffes bleibt, den Betrieb des Schiffes jedoch einer anderen Person oder Organisation überträgt, sog. Bereederungswechsel.732 Da der Bereederer mit dem Schiff das wesentliche Betriebsmittel übernimmt und mit diesem die Betriebstätigkeit seines Vorgängers fortsetzt, liegt beim Bereederungswechsel regelmäßig auch die Fortsetzung der wirtschaftlichen Einheit unter Wahrung ihrer Identität vor und ist insoweit vergleichbar mit dem Wechsel eines Pächters.733 Ein Betriebsübergang ist auch bei der sog. BareboatVercharterung anzunehmen.734 Dies ist eine Schiffscharter, bei der der Vermieter verpflichtet wird, dem Mieter ein bestimmtes Seeschiff ohne Besatzung zu überlassen und ihm den Gebrauch dieses Schiffes während der Mietzeit zu gewähren.735 Das teilweise gegen die Annahme eines Betriebsübergangs vorgebrachte Argument, die Bareboat-Vercharterung gleiche eher einem Sachverkauf bzw. einer Sachvermietung, da das Schiff ohne Besatzung an den Charterer geliefert werde und dieser über die weitere Verwendung des Schiffes einschließlich seiner Besatzung entscheide,736 überzeugt nicht. Denn zum einen ist es unschädlich, dass die Besatzung nach dem Leitbild des Vertrages nicht auf den Charterer übergehen soll. Dies ist – gerade bei betriebsmittelreichen Betrieben – nicht Tatbestandsvoraussetzung, sondern Rechtsfolge des § 613a.737 Zum anderen erschöpft sich der Übergang nicht im Erwerb einer bloßen Sache. Er übernimmt die Leitungsmacht über eine Funktionseinheit, die er bereits im Zeitpunkt der Übergabe dazu nutzen kann, den bisherigen arbeitstechnischen Zweck – den Transport von Personen oder Gütern – fortzusetzen.738 Nicht zuletzt verhindert die Annahme eines Betriebsübergangs, dass sich der Reeder über den „Umweg“ der Bareboat-Vercharterung von seiner Stammbelegschaft trennt. Denn Schiffseigentümer und Charterer sind in der Praxis häufig gesellschaftsrechtlich miteinander verbunden.739 Verneinte man bei der BareboatVercharterung einen Betriebsübergang und ginge von einer Betriebsstilllegung aus, so würde es dem Charterer ermöglicht, Schiffspersonal einzusetzen, das nicht der deutschen Rechtsordnung unterliegt. Aufgrund der wirtschaftlichen Verbundenheit von Eigentümer und Charterer würde so eine Austauschkündigung „durch die Hintertür“ ermöglicht, um Lohnkosten zu sparen.740 Das Vorliegen eines Betriebsübergangs ist nicht bereits dann abzulehnen, wenn es durch die Übertragung der zu einer räumlichen Verlegung des „zugehörigen“ 732 BAG, Urt. v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105; KR/Weigand, SeeArbG Rn. 85. 733 ArbG Hamburg, Teilurt. v. 1.12.1988 – S 14 Ca 206/88; S 14 Ca 207/88; S 14 Ca 229/88; S 14 Ca 275/88; S 14 Ca 294/88, jeweils zitiert nach Lindemann, § 65 Rn. 56. 734 LAG Hamburg, Urt. v. 26.1.1989 – 7 Sa 28/88, AR-Blattei 1450, Seearbeitsrecht Nr. 18. 735 Definition nach Lindemann, Einf. Rn. 107. 736 So auch AR-Blattei/Franzen, 1450, Seearbeitsrecht Nr. 19 S. 6 m. w. N. 737 BAG, Urt. v. 22.5.1985 – 5 AZR 30/84, NZA 1985, 775. 738 AR-Blattei/Franzen 1450, Seearbeitsrecht Nr. 19 S. 6. 739 Ebd. 740 Ebd.

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Landbetriebs kommt.741 § 24 Abs. 1 S. 2 KSchG, wonach die Gesamtheit aller Seeschiffe eines Seefahrtunternehmens als ein Betrieb anzusehen sind, trifft die Wertung, dass Schiff und Landbetrieb voneinander unabhängige wirtschaftliche Einheiten sind. Selbst unabhängig von dieser kündigungsschutzrechtlichen Wertung erfüllt ein Seeschiff alle Merkmale eines Betriebs i. S. d. § 613a, ohne dass es eines „ergänzenden“ Landbetriebs bedarf. Somit kommt es bei der Frage, ob die Übertragung des Schiffes unter § 613a BGB fällt, nicht darauf an, ob die Schiffsreisen von einem anderen Landbetrieb aus organisiert werden.742 2. Außerordentliche Kündigung durch den Reeder Auch hinsichtlich der außerordentlichen Kündigung gegenüber dem Besatzungsmitglied wird das Seearbeitsverhältnis dem Landarbeitsverhältnis angenähert. § 67 Abs. 1 S. 1 verweist auf § 626 BGB. Hiermit wird klargestellt, dass hinsichtlich der Voraussetzungen einer außerordentlichen Kündigung keine Unterschiede zwischen Heuerverhältnissen der Besatzungsmitglieder und den Arbeitsverhältnissen von Landarbeitnehmern bestehen.743 Im Zuge der Vereinigung aller auf dem Schiff Beschäftigten unter dem Begriff des Besatzungsmitglieds wird eine unterschiedliche Regelung für Kapitän und sonstige an Bord Beschäftigte aufgegeben.744 Das Seemannsgesetz hatte für die außerordentliche Kündigung gegenüber dem Besatzungsmitglied einen abschließenden Katalog von Kündigungsgründen vorgesehen.745 Folglich war ein Rückgriff auf § 626 Abs. 1 BGB unter Geltung des Seemannsgesetzes nicht statthaft.746 Daher konnte das Heuerverhältnis bei Vorliegen eines Katalogtatbestands gekündigt werden, ohne dass es einer Nachprüfung bedurfte, ob die Fortsetzung des Heuerverhältnisses für die Dauer der ordentlichen Kündigungsfrist oder bis zum vereinbarten Vertragsende zumutbar war.747 Der abschließende Katalog des § 64 SeemG wird in § 67 SeeArbG als eine nicht abschließende, beispielhafte Aufzählung von Kündigungsgründen übernommen.748 Hiernach kann der Reeder

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LAG Hamburg, Urt. v. 26.1.1989 – 7 Sa 28/88, AR-Blattei 1450, Seearbeitsrecht Nr. 18. LAG Hamburg, Urt. v. 26.1.1989 – 7 Sa 28/88, AR-Blattei 1450, Seearbeitsrecht Nr. 18. BNPM/Peetz, § 65 Rn. 127, nimmt hingegen bei einer Bareboat-Vercharterung bei einer Aufgabe des Seebetriebs des übertragenden Reeders eine Betriebsstilllegung an. 743 BT-Drucks. 17/10959, S. 85; KR/Weigand, SeeArbG Rn. 103, 109. 744 Ebd. 745 § 64 SeemG. 746 LAG Hamburg, Urt. v. 30.11.1990 – 6 Sa 54/90, BeckRS 2014, 69019. 747 BAG, Urt. v. 30.11.1978 – 2 AZR 145/77, AP Nr. 1 zu § 64 SeemG. Ebenso zur außerordentlichen Kündigung durch das Besatzungsmitglied nach § 67 SeemG BAG, Urt. v. 16.1.2003 – 2 AZR 653/01, AP Nr. 2 zu § 67 SeemG. 748 BT-Drucks. 17/10959, S. 85. 742

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„das Heuerverhältnis aus einem wichtigen Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist nach § 626 BGB kündigen. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn das Besatzungsmitglied 1. für den übernommenen Dienst aus Gründen, die schon vor der Begründung des Heuerverhältnisses bestanden, ungeeignet ist, es sei denn, dass dem Reeder diese Gründe zu diesem Zeitpunkt bekannt waren oder den Umständen nach bekannt sein mussten, 2. eine ansteckende Krankheit verschweigt, durch die es andere gefährdet, oder nicht angibt, dass es Dauerausscheider von Erregern des Typhus oder des Paratyphus ist, 3. seine Pflichten aus dem Heuerverhältnis beharrlich oder in besonders grober Weise verletzt, 4. eine Straftat begeht, die sein weiteres Verbleiben an Bord unzumutbar macht, 5. durch eine von ihm begangene Straftat arbeitsunfähig wird.“

Für eine Kündigung nach § 626 BGB ist zunächst zu prüfen, ob der infrage stehende Sachverhalt „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen. Bei Vorliegen eines solchen „an sich“ geeigneten Grundes ist weiter zu prüfen, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Heuerverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls unter Abwägung der Interessen beider Vertragspartner unzumutbar ist.749 Vor dem Hintergrund dieser zweistufigen Prüfung ist die Einordnung des Regelbeispielkatalogs nicht eindeutig. Zum einen könnte das Vorliegen eines Regelbeispiels indizieren, dass ein „an sich“ geeigneter Grund zur Kündigung vorliegt UND dass dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Heuerverhältnisses – möglicherweise nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist – typischerweise unzumutbar ist. Andererseits könnte das Vorliegen lediglich indizieren, dass ein „an sich“ geeigneter Grund vorliegt, die Unzumutbarkeit im Einzelfall jedoch nach den für das Landarbeitsverhältnis gefundenen Maßstäben festzustellen ist. Gegen die erstgenannte Sichtweise spricht, dass es sich bei den Regelbeispielen des § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 und 5 um solche ohne Wertungsmöglichkeit handelt, die einen objektiven Anknüpfungspunkt haben und für Wertungen im Einzelfall keinen Raum lassen.750 Dass eine solche Einzelfallwertung aber stets erforderlich ist, ist die klare gesetzgeberische Intention der Neufassung des § 67.751 Es bedarf daher eines Korrektivs, das die erste Variante nicht eröffnet. Gegen die zweitgenannte Ansicht, dass die Beispiele nur „an sich“ geeignete Gründe typisieren, spricht jedoch Folgendes: Anders als die Regelbeispiele zu § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 und 5 eröffnen die Nr. 3 und 4 durch unbestimmte Rechtsbegriffe Wertungsmöglichkeiten. Würde man auch bei diesen Beispielen auf der zweiten Stufe die Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung prüfen müssen, so käme man zu einer „doppelten Unzumutbarkeitsprüfung“ – zum einen bei der Bestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffs („weiteres Verbleiben 749 BAG, Urt. v. 26.8.1976 – 2 AZR 377/75, AP § 626 BGB Nr. 68; APS/Vossen, BGB, § 626 Rn. 28 ff. m. w. N. 750 So zutreffend auch BNPM/Peetz, § 67 Rn. 11. 751 BT-Drucks. 17/10959, S. 85.

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an Bord unzumutbar […]“) und zum anderen bei der Interessenabwägung im Einzelfall. Dies ist jedoch hinzunehmen. Der Gesetzgeber will den Beteiligten, insbesondere bei Pflichtverletzungen des Besatzungsmitglieds während der Seereise, eine Orientierungshilfe über die Berechtigung zur außerordentlichen Kündigung an die Hand geben.“752 Es fällt auf, dass jedes der Regelbeispiele auch im Landarbeitsverhältnis geeignet wäre, „an sich“ einen wichtigen Grund i. S. d. § 626 BGB darzustellen.753 Der Gesetzgeber hat im Rahmen einer Angleichungskorrektur im Kündigungsrecht die absoluten Kündigungsgründe des Seemannsgesetzes aufgehoben. Er präsentiert sie aber weiterhin im „neuen Gewand“ als Regelbeispiele. Da jedoch – wie es Gesetzeswortlaut und Begründung ausdrücklich feststellen – § 626 BGB anwendbar bleibt, beschränkt sich die Rolle der Beispiele darin, dem rechtsunkundigen Besatzungsmitglied als Warnung zu dienen, wann er möglicherweise den Tatbestand des § 626 BGB erfüllt. Ob sie diese Funktion in Anbetracht der ausfüllungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriffe des § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und 4 leisten können, bleibt ebenso offen wie die Frage, warum es dieser Warnfunktion gerade im Seearbeitsverhältnis bedarf, während das Landarbeitsverhältnis ohne sie auskommt. 3. Außerordentliche Kündigung durch das Besatzungsmitglied a) Einleitung Parallel zur außerordentlichen Reederkündigung wird auch die außerordentliche Kündigung durch das Besatzungsmitglied neu gefasst. Ebenso wie bei der reederseitigen Kündigung werden die absoluten Kündigungsgründe des § 67 SeemG in einen Katalog von Regelbeispielen überführt.754 Auch bei der arbeitnehmerseitigen Kündigung wird die unterschiedliche Behandlung von Kapitän und den übrigen Besatzungsmitgliedern aufgehoben.755 Inhaltlich lassen sich die Beispiele in drei 752

Ebd. So auch ausdrücklich die amtliche Begründung, ebd. Im Einzelnen siehe für: § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 1: BAG, Urt. v. 31.1.1996 – 2 AZR 68/95, NZA 1996, 819 (Verlust der Fluglizenz). § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 2: BAG, Urt. v. 7.2.1964 – 1 AZR 251/63, NJW 1996, 1197 (Offenbarungspflicht des Arbeitnehmers, wenn er damit rechnen muss, infolge einer bereits vorliegenden Krankheit seiner Arbeitspflicht im Zeitpunkt des Beginns des Arbeitsverhältnisses nicht nachkommen zu können). § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 3: LAG Schleswig-Holstein, Urt. v. 23.11.2004 – 5 Sa 202/04, LAGE § 273 BGB 2002 Nr. 1 (Beharrliche Arbeitsverweigerung). § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 4: BAG, Urt. v. 10.6.2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227 (Diebstahl); BAG, Urt. v. 6.10.2005 – 2 AZR 280/04, NZA 2006, 431 (Körperverletzung). § 67 Abs. 1 S. 2 Nr. 5: BAG, Urt. v. 30.5.1978 – 2 AZR 630/76, AP § 626 BGB Nr. 70 (Selbstverschuldete Arbeitsunfähigkeit). 754 § 67 S. 1 Nr. 7 SeemG geht inhaltlich unverändert in den Regelbeispielen des § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 – 10 auf. 755 BT-Drucks. 17/10959, S. 86. 753

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Fallgruppen aufteilen. Ein wichtiger Grund kann vorliegen aufgrund einer Pflichtverletzung des Kapitäns oder Reeders (Nr. 1, 2, 4), eines Flaggenwechsels des Schiffs (Nr. 3) oder aufgrund einer Gefährdung von Sicherheit oder Gesundheit des Besatzungsmitglieds (Nr. 5 – 10). Nach der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur gelten für die außerordentliche Kündigung des Arbeitnehmers die gleichen Grundsätze und Maßstäbe wie für eine außerordentliche Kündigung seitens des Arbeitgebers.756 Es bedarf auch hier einer umfassenden Abwägung der Interessen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls. Auch hier gilt das Ultima-Ratio-Prinzip, welches zum einen den Arbeitnehmer grundsätzlich auf die reguläre Beendigung seines Arbeitsverhältnisses verweist, und zum anderen, sofern eine Pflichtverletzung des Arbeitgebers in Rede steht, eine vorherige Abmahnung durch den Arbeitnehmer verlangt.757 Die zu § 67 aufgezeichneten Problematiken zur Einordnung der Regelbeispiele in die zweistufige Prüfung des Kündigungsgrundes besteht damit auch bei der außerordentlichen Kündigung durch das Besatzungsmitglied nach § 68. Denn auch hier gibt es Beispiele, die unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und damit Wertungsspielräume eröffnen (Abs. 1 S. 2 Nr. 1: „schwere Pflichtverletzung“; Nr. 2: „in erheblicher Weise in der Ehre verletzt“), und solche, die keinen Wertungsspielräume eröffnen (Nr. 3: „das Schiff die Flagge wechselt“; Nr. 4: „Urlaub nicht gewährt wird“). Damit ist eine Einordnung der Regelbeispiele in das Prüfungsschema des § 626 BGB auch bei § 68 nicht möglich. Dennoch stellt sich die Frage, ob sie hier eine weitergehende Indizwirkung haben als die Regelbeispiele des § 67. Weiterhin ist zu klären, ob eine Pflichtverletzung des Kapitäns auch dann einen außerordentlichen Kündigungsgrund darstellen kann, wenn der Kapitän oder das betroffene Besatzungsmitglied nicht Arbeitnehmer des Reeders, sondern etwa einer CrewingAgentur ist. b) Rechtliche Einordnung der Regelbeispiele Der strukturellen Gleichbehandlung von arbeitgeber- und arbeitnehmerseitiger außerordentlicher Kündigung widerspricht es nicht, dass im Rahmen der Prüfung der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses im Einzelfall – eben da § 626 BGB eine Einzelfallbetrachtung verlangt – unterschiedliche Maßstäbe anzulegen sind. Ob man dies mit Henssler damit begründet, „dass der Bestandsschutz, der dem Arbeitnehmer über den präventiven und repressiven Kündigungsschutz zugewachsen ist, Rückwirkungen auf die Reichweite des außerordentlichen Kündi756 BAG, Urt. v. 12.3.2009 – 2 AZR 894/07, NZA 2009, 840; ErfK/Niemann, BGB, § 626 Rn. 158; Staudinger/Preis, BGB, § 626 Rn. 237; BeckOKArbR/Stoffels, BGB, § 626 Rn. 167; APS/Vossen, BGB, § 626 Rn. 378; KR/Weigand, SeeArbG Rn. 125; a. A. Däubler/Deinert/ Zwanziger/Däubler, § 626 BGB Rn. 301; MüKoBGB/Henssler, BGB, § 626 Rn. 266. 757 MüKoBGB/Henssler, ebd.; BeckOKArbR/Stoffels, ebd. m. w. N.

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gungsrechts“ habe und daher keine identischen Maßstäbe anzulegen sind,758 oder einzelfallbezogen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers berücksichtigt, kann dahinstehen. Jedenfalls wird es dem Arbeitgeber in der Regel eher als dem Arbeitnehmer zumutbar sein, das Ende einer Kündigungsfrist abzuwarten oder eine Abmahnung vor der Kündigung auszusprechen. Für die Regelbeispiele des § 68 SeeArbG bedeutet dies: Die Frage, ob eine außerordentliche Kündigung rechtmäßig ist, richtet sich – wie auch bei § 67 – ausschließlich nach § 626 BGB.759 Ebenso wie bei § 67 handelt es sich nach dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen um beispielhafte typische Fälle eines wichtigen Grundes.760 Aufgrund der strukturellen Unterlegenheit des Besatzungsmitglieds wird die Einzelfallabwägung bei Vorliegen eines Regelbeispiels im Ergebnis häufiger zugunsten des Besatzungsmitglieds ausfallen als die Abwägung nach § 67 zugunsten des Arbeitgebers. An der Bewertung, dass sich auch die außerordentliche Kündigung durch das Besatzungsmitglied ausschließlich nach § 626 BGB richtet, ändert auch die Vorschrift des § 68 Abs. 1 S. 3 nichts. Dieser bestimmt für die Fälle des § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 – 10 (namentlich: Seeuntauglichkeit des Schiffes, Gesundheitsschädlichkeit der Aufenthaltsräume, unzureichende oder verdorbene Nahrungsmittelvorräte und unzureichende Schiffsbesetzung), dass eine außerordentliche Kündigung nur berechtigt ist, wenn der Verstoß in angemessener Frist auf eine Beschwerde hin nicht beseitigt wird. Dieses Abmahnungserfordernis kann nicht so verstanden werden, dass eine außerordentliche Kündigung, die auf die in § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 7 – 10 genannten Gründe gestützt wird, in keinem Fall ohne Abmahnung zulässig ist. Eine solche Ansicht würde § 68 Abs. 1 S. 1 zuwiderlaufen, wonach sich die außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB richtet. Danach genügt auch ein einmaliger Pflichtverstoß, wenn hierdurch das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört ist.761 Ein absolutes Abmahnungserfordernis wäre hiermit nicht zu vereinbaren. Daher ist § 68 Abs. 1 S. 3 in dem Sinne zu verstehen, dass bei fehlender Abmahnung zwar die Indizwirkung des Regelbeispiels entfällt, aber eine Kündigung nach den allgemeinen Maßstäben des § 626 BGB möglich bleibt. Dies wäre beispielsweise denkbar bei besonders gravierenden und absichtlich herbeigeführten Gesundheitsgefährdungen der Besatzungsmitglieder. Auch kann aus § 68 Abs. 1 S. 3 keinesfalls der Gegenschluss gezogen werden, bei allen anderen Regelbeispielen (Nr. 1 – 6) sei eine Abmahnung nicht erforderlich. Eine solche Ansicht würde die Rechtsprechung zu § 626 BGB konterkarieren, nach

758

MüKoBGB/Henssler, ebd. Zur Begründung, siehe oben unter § 4 H. III. 3. 760 BT-Drucks. 17/10959, S. 86. 761 BAG, Beschl. v. 10.2.1999 – 2 ABR 31/98, NZA 1999, 708; BAG, Urt. v. 20.11.2014 – 2 AZR 651/13, NZA 2015, 294. 759

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der bei einer Pflichtverletzung des Arbeitgebers in der Regel eine Abmahnung erforderlich ist.762 c) Pflichtverletzung des Kapitäns Nach den Regelbeispielen des § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 liegt ein zur außerordentlichen Kündigung berechtigender wichtiger Grund für das Besatzungsmitglied insbesondere vor, wenn sich der Reeder oder der Kapitän ihm gegenüber einer schweren Pflichtverletzung schuldig macht oder wenn der Kapitän das Besatzungsmitglied in erheblicher Weise in der Ehre verletzt, es misshandelt oder seine Misshandlung durch andere Personen duldet. In der Literatur wird vertreten, dass die genannten Pflichtverletzungen des Kapitäns nur dann zur Kündigung berechtigen könnte, wenn das zu kündigende Besatzungsmitglied und der Kapitän denselben Arbeitgeber hätten, da dem Arbeitgeber die Pflichtverletzung des Kapitäns sonst regelmäßig nicht zuzurechnen sei.763 Eine solche teleologische Reduktion ist abzulehnen. Die Wertung, dass ein Kündigungsrecht nach dieser Vorschrift nur besteht, sofern eine dem Reeder zurechenbare Handlung vorliegt, ist historisch nicht haltbar und mit dem Sinn und Zweck der Norm nicht vereinbar. Die Regelbeispiele des § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, 2 gehen auf die Seemannsordnung von 1872 zurück, wonach der Seemann seine Entlassung fordern konnte, wenn sich der Schiffer einer schweren Verletzung seiner gegenüber dem Seemann obliegenden Pflichten, insbesondere durch Misshandlung oder durch grundlose Vorenthaltung von Speise und Trank, schuldig macht.764 Eine Vertragsverletzung des Reeders, der damals bereits regelmäßig der Arbeitgeber des Seemanns war, konnte ein solches Entlassungsrecht nicht begründen. Damit gründet sich das Kündigungsrecht des Besatzungsmitglieds historisch nicht auf einer zurechenbaren Pflichtverletzung des Reeders, sondern auf einer originären Pflichtverletzung des Kapitäns. Dieser steht dem Besatzungsmitglied, damals wie heute, gerade nicht nur als Vertreter des Reeders, mithin als Vertragspartner, gegenüber, sondern auch als Vertreter des Staates, mithin als Träger der Hoheitsgewalt. Während die Vertreterstellung durch unterschiedliche Vertragspartner aufgehoben werden kann, ist dem Kapitän die hoheitliche Stellung gesetzlich zugewiesen, vgl. §§ 121 ff.765 Eine Pflichtverletzung berührt damit nicht nur das Vertragsverhältnis des Besatzungsmitglieds, sondern wirkt auch auf das hoheitliche Über- und Unterordnungsverhältnis ein. Dem Besatzungsmitglied muss daher die Möglichkeit zustehen, sich bei einer schweren Pflichtverletzung des Gewaltenträgers dessen Anordnungsbefugnis sobald wie möglich durch Kündigung zu entziehen.

762 763 764 765

BAG, Teilurt. v. 17.1.2002 – 2 AZR 494/00, NZA 2003, 816. BNPM/Peetz, § 68 Rn. 5, 10. § 61 Nr. 1 SeemO 1872. Siehe hierzu oben unter § 4 D. III.

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d) Besondere Kündigungsgründe In Umsetzung von Norm A2.1 Abs. 6, nach der die Mitgliedstaaten sicherstellen müssen, dass die Notwendigkeit für Seeleute berücksichtigt wird, den Beschäftigungsvertrag außerhalb der regulären Kündigungsfristen wegen dringender Familienangelegenheiten oder aus anderen dringenden Gründen ohne Sanktion zu beenden, führt das Seearbeitsgesetz einen besonderen, aus der Kündigungsdogmatik des BGB und KSchG herausgelösten, absoluten Kündigungsgrund ein.766 Das Besatzungsmitglied kann nach § 69 Abs. 1 ohne Einhaltung einer Frist kündigen, wenn dies wegen einer dringenden Familienangelegenheit oder wegen eines anderen dringenden persönlichen Grundes erforderlich ist. Eine Interessenabwägung im Einzelfall findet hier nicht statt.767 Als dringende Familienangelegenheiten nennt § 69 S. 2 die Niederkunft der Lebenspartnerin, den Tod von Lebenspartner, Kind oder Elternteil oder eine schwere Erkrankung derselben. Nach der amtlichen Begründung orientiert sich der Gesetzgeber bei den genannten Gründen an den Vorschriften der Sonderurlaubsverordnung.768 Aus Angleichungsgesichtspunkten erstaunt diese Regelung. Im Landarbeitsverhältnis berechtigen die genannten Gründe, jedenfalls solange es sich um kurzfristige Verhinderungen wie Tod eines Angehörigen oder die Niederkunft der Lebenspartnerin handelt, nicht zur Kündigung. Sofern individual- oder tarifvertraglich nicht gesondert geregelt, greift hier lediglich der Schutz des § 616 BGB. Gesetzliche Sonderurlaubsansprüche bestehen, außer für Beamte und Richter, nicht.769 Dass das Besatzungsmitglied bei den genannten Gründen das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist beenden darf, ist eine Privilegierung, die ihm zuvor keine der modernen seearbeitsrechtlichen Kodifikationen gewährt hat.770 Dank der Vorgaben der MLC erhält es ein außerordentliches Kündigungsrecht, das ihm seit den spätmittelalterlichen Gesetzgebungen nicht mehr zustand.771 4. Weitere kündigungsrechtliche Besonderheiten a) Kündigungsberechtigung Das Heuerverhältnis kann nach § 65 Abs. 1 durch den Reeder und durch das Besatzungsmitglied gekündigt werden. Das Seearbeitsgesetz verwendet die Diktion der §§ 62 ff. SeemG, welche noch davon ausgingen, dass ein Seemann stets in einer 766

Bubenzer/Peetz/Mallach/Peetz, § 65 Rn. 15; KR/Weigand, SeeArbG Rn. 133 f. BNPM/Peetz, § 68 Rn. 1. 768 BT-Drucks. 17/10959, S. 86. 769 Siehe für diese die von der Gesetzgesbegründung zum Seearbeitsgesetz zitierten Vorschriften der Sonderurlaubsverordnung vom 1. Juni 2016 (BGBl. I S. 1284). 770 Siehe die abschließenden Gründe in § 61 SeemO 1872, § 74 SeemO 1902 und § 67 SeemG. 771 Wisby’sches Seerecht, Art. LXIV für die persönlichen Gründe Heirat und Pilgerfahrt, siehe hierzu ausführlich oben unter § 2. 767

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Vertragsbeziehung mit dem Reeder steht. Dies ist überkommen.772 Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds kann neben Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 SeeArbG auch eine andere natürliche oder juristische Person sein, vgl. § 4 Abs. 2 S. 2 Nr. 2, etwa eine CrewingAgency oder ein Unternehmen, welches Waren oder Dienstleistungen an Bord anbietet. Reeder i. S. d. § 65 Abs. 1 meint damit nicht den Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 SeeArbG, sondern jede Person oder Organisation, die unter § 4 als möglicher Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds genannt wird. Dies bestätigt auch die amtliche Begründung zu § 65.773 Keinesfalls kann daher in § 65 Abs. 1 eine die Gesamtverantwortung des Reeders nach § 4 Abs. 1 spiegelnde Kündigungsbefugnis unabhängig von der Arbeitgeberstellung gesehen werden. Aus dem Seemannsgesetz übernommen wurde die Vorschrift, dass die ordentliche Kündigung gegenüber einem Kapitän oder einem Schiffsoffizier nur vom Reeder ausgesprochen werden kann, § 65 Abs. 3. Ebenso wie im Rahmen des § 65 Abs. 1 ist mit „Reeder“ der Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds gemeint. Dogmatisch handelt es sich bei der Vorschrift des § 65 Abs. 3 um eine Einschränkung der gesetzlichen Vertretungsmacht des Kapitäns nach § 479 HGB.774 Hiernach ist der Kapitän befugt, für den Reeder alle Geschäfte und Rechtshandlungen vorzunehmen, die der Betrieb des Schiffes gewöhnlich mit sich bringt. Hierzu gehört auch die Bemannung des Schiffes und damit das Recht, Besatzungsmitglieder zu kündigen.775 Die Einschränkung des § 65 Abs. 3 bezieht sich nach der gefestigten Rechtsprechung zum Seemannsgesetz und nach der amtlichen Begründung zum Seearbeitsgesetz nicht auf den Ausspruch der Kündigung, sondern lediglich auf die Kündigungsentscheidung.776 Diese muss vom Reeder bzw. vom Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds getroffen werden. Eine rechtsgeschäftliche Vertretung beim Ausspruch der Kündigung ist damit möglich.777 b) Kündigungs- und Klagefristen Die Kündigungsfristen für die ordentliche Kündigung werden aus dem Seemannsgesetz übernommen und orientieren sich eng an § 622 BGB. Abweichend vom Landarbeitsverhältnis gibt es im Heuerverhältnis zwei Arten von Probezeiten: Über 772

Siehe hierzu ausführlich oben unter § 4 B. II. 3. BT-Drucks. 17/10959, S. 84; siehe auch BNPM/Peetz, § 65 Rn. 6. 774 Ausführlich hierzu MüKoHGB/Pötschke, HGB, § 479 Rn. 6 ff. 775 Zwar hat die Reform des Seehandelsrechts die Rechtsstellung des Kapitäns (§§ 551 – 555 HGB a. F. erheblich gekürzt, um seiner in der Praxis nicht mehr unternehmerähnlichen, sondern eher arbeitnehmerähnlichen Stellung Rechnung zu tragen. An der gesetzlichen Vertretungsmacht für den Reeder wird allerdings festgehalten, vgl. BT- Drucks. 17/10309, S. 43, 63 f.; BNPM/Peetz, § 65 Rn. 7 m. w. N. 776 Bubenzer/Peetz/Mallach/Mallach, § 65 Rn. 5; KR/Weigand, SeeArbG Rn. 70; Müller, Das Heuerverhältnis, S. 322. 777 BT-Drucks. 17/10959, S. 84; BAG 28.9.1983 – 7 AZR 83/82, AP § 62 SeemG Nr. 1; BNPM/Peetz, § 65 Rn. 9. 773

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die – nach der Verweisung des § 66 Abs. 4 auch im Seearbeitsverhältnis anwendbare – Möglichkeit der vertraglichen Vereinbarung einer Probezeit nach § 622 Abs. 3 BGB hinaus sieht § 66 Abs. 1 S. 1 eine gesetzliche Probezeit von drei Monaten vor. Während dieser kann das Heuerverhältnis mit einer Frist von einer Woche gekündigt werden. Diese gesetzliche Probezeit wurde mit Schaffung des Seemannsgesetzes eingeführt und soll eine schnelle Lösungsmöglichkeit der Parteien bieten, wenn das Besatzungsmitglied für den Dienst auf See ungeeignet ist.778 Neben besonderen Heimschaffungsanspruch für Jugendliche nach § 74 zeigt sich auch im Bereich des Kündigungsrechts, dass der Gesetzgeber das Seearbeitsverhältnis als besonders „erprobungsbedürftig“ betrachtet. Die Besonderheit, dass sich das Besatzungsmitglied nicht nur in einen neuen Arbeits-, sondern auch einem neuen Lebensraum integrieren muss, rechtfertigt die vereinfachte Lösungsmöglichkeit. Diese Probezeit verlängert sich, wenn die erste Reise länger als drei Monate dauert, auf drei Tage nach Beendigung dieser ersten Reise.779 Absolut ist die gesetzliche Probezeit auf sechs Monate begrenzt, § 66 Abs. 1 S. 2. Das Heuerverhältnis setzt sich, vorbehaltlich einer abweichenden Vereinbarung, über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus, bis zur Ankunft des Schiffes in einem Hafen fort, von dem aus die Heimschaffung des Besatzungsmitglieds und seine Ablösung durch eine Ersatzperson sicher und mit allgemein zugänglichen Verkehrsmitteln möglich ist, § 66 Abs. 5. Die Vorschrift stellt sicher, dass das im Einsatz befindliche Besatzungsmitglied stets in einem Heuerverhältnis steht, bis eine Heimschaffung möglich ist. Sie erleichtert auch dem Arbeitgeber die Ablösung durch eine Ersatzperson.780 Das Kündigungsschutzgesetz trägt den Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses ferner durch die Verlängerung von Fristen und Wartezeiten nach dem Kündigungsschutzgesetz Rechnung. So wird die Sechsmonatsfrist des § 1 Abs. 1 KSchG in dem Fall, dass die erste Reise des Besatzungsmitglieds länger als sechs Monate dauert, bis drei Tage nach Beendigung dieser Reise verlängert, § 24 Abs. 3 KSchG. Das Besatzungsmitglied muss eine Kündigungsschutzklage binnen drei Wochen erheben, nachdem die Kündigung dem Besatzungsmitglied an Land zugegangen ist. Geht dem Besatzungsmitglied eines Seeschiffes oder eines Binnenschiffes die Kündigung während der Fahrt des Schiffes zu, ist die Klage innerhalb von sechs Wochen nach dem Dienstende an Bord zu erheben, § 24 Abs. 4 S. 1, 2. Sowohl im Rahmen von § 24 Abs. 3 KSchG als auch im Rahmen des § 66 Abs. 1 S. 2 ist fraglich, wann die „erste Reise“ des Besatzungsmitglieds beendet ist. Teilweise wird vertreten, die erste Reise ende mit dem Tag, an dem das Schiff oder Luftfahrzeug seinen bestimmungsgemäßen Endpunkt im Geltungsbereich des KSchG oder am Betriebssitz erreicht hat.781 Dies wird den tatsächlichen Verhältnissen in der Seeschifffahrt nicht mehr gerecht. Es ist nicht unüblich, dass ein Schiff 778 779 780 781

BT-Drucks. 2/2962, S. 58. Zum Begriffsverständnis der „ersten Reise“, siehe sogleich. BNPM/Peetz, § 66 Rn. 18. KR/Bader, KSchG, § 24 Rn. 24 f.; ErfK/Kiel, KSchG, § 24 Rn. 3.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

seinen Heimathafen gar nicht oder höchst selten anläuft oder dass ein Schiff seinen Abfahrtshafen nicht wieder anfährt.782 Folge ist eine unverhältnismäßig lange Probezeit des Besatzungsmitglieds. Dies hat der Gesetzgeber nicht beabsichtigt. Zweck der Fristverlängerung ist es, dem Arbeitgeber bei seiner Kündigungsentscheidung die Bewährung des Besatzungsmitglieds auf der gesamten Reise zu berücksichtigen und ferner im Interesse des Bordfriedens zu verhindern, dass die Kündigung in Fällen der Nichtbewährung auf See ausgesprochen werden muss.783 Ob die Reise in einem deutschen Hafen endet, ist damit unerheblich.

III. Zusammenfassung und Bewertung Der Gesetzgeber hat im Kündigungsrecht das Seearbeitsverhältnis weiter dem Landarbeitsverhältnis angenähert. Dies war aufgrund der Vielgestaltigkeit der Berufe und Vertragsverhältnisse, die mittlerweile an Bord eines Schiffes vorkommen, notwendig. Die allgemeine Kündigungsdogmatik ist flexibel genug, um auf die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses zu reagieren. Namentlich sind diese Besonderheiten die herausragende Bedeutung des sozialen Friedens an Bord, die dazu führt, dass die Grenzen zwischen dienstlichem und außerdienstlichem Verhalten verschwimmen; ferner die hohe Sicherheitsrelevanz von etwaigen Pflichtverletzungen sowie schließlich die möglichen Auswirkungen einer Pflichtverletzung auf den wirtschaftlichen Erfolg der Schiffsunternehmung. Diese Besonderheiten greift § 120 des Seearbeitsgesetzes auf, der die vertrauensvolle Zusammenarbeit unter gegenseitiger Achtung und Rücksichtnahme als Grundlage für den funktionierenden Schiffsbetrieb und die öffentliche Sicherheit und Ordnung an Bord nennt. Bei der verhaltensbedingten Kündigung fragt das deutsche Kündigungsrecht nicht nur nach dem Unwert des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern auch nach der Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis. Ein personenbedingter Kündigungsgrund liegt von vornherein nur vor, wenn der personenbedingte Leistungsmangel zu erheblichen Beeinträchtigungen betrieblicher und wirtschaftlicher Interessen führt. Zwischen die Pflichtverletzung und ihre Auswirkung auf das Arbeitsverhältnis, ebenso wie zwischen den personenbedingten Kündigungsgründen und deren Auswirkung auf betriebliche und wirtschaftliche Interessen, schiebt sich das Brennglas der besonderen Verhältnisse der Seeschifffahrt. Wie sehr sich die Besonderheiten der Seeschifffahrt auf das Arbeitsverhältnis und damit – bildlich gesprochen – auf die Stärke des Brennglases niederschlagen, ist abhängig von der Schiffsgröße, der Länge der Reise, von der Tätigkeit des Besatzungsmitglieds und von dessen Stellung in der Bordhierarchie. Eine weitere kündigungsrechtlich bedeutsame Besonderheit des Seearbeitsverhältnisses liegt für die Besatzungsmitglieder mit seemännischen Aufgaben in der eingeschränkten Umsetzungsmöglichkeit, auf die der Arbeitgeber vor Ausspruch 782

BNPM/Peetz, § 66 Rn. 7. So die amtl. Begründung zur Ursprungsfassung des § 24 KSchG, abgedruckt in: RdA 1951, 65. 783

I. Kontrolle und Durchsetzung

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einer Kündigung zurückgreifen muss. Im Rahmen der Kündigung im Zusammenhang mit einem Betriebsübergang bestehen keine Besonderheiten. Eine betriebsbedingte Kündigung ist dann unzulässig, wenn der Reeder seine Belegschaft durch eine von einer Crewing-Agentur gestellte Belegschaft ersetzen will, jedoch gleichzeitig seine Reederstellung nach § 4 Abs. 1 SeeArbG behält. Gibt er seine Reederstellung nicht nur formell auf, so kommt ein Betriebsübergang in Betracht, der nach den Grundsätzen des § 613a BGB zu bewerten ist. Die größte Änderung im Vergleich zum Seemannsgesetz erfährt das Seearbeitsgesetz bei den Vorschriften zur außerordentlichen Kündigung. Hier wird der vormals feste Katalog von absoluten Kündigungsgründen umgeschrieben in einen gleichlautenden Katalog von Regelbeispielen. Da die außerordentliche Kündigung aber nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nunmehr ausschließlich nach § 626 BGB zu beurteilen ist, stellt sich die Frage, ob die Regelbeispiele überhaupt eine Indizwirkung entfalten können. Einen an sich wichtigen Grund würden alle Regelbeispiele auch im Landarbeitsverhältnis darstellen. Eine Bejahung der Indizwirkung ohne die Prüfung des Einzelfalls widerspräche dem Angleichungsansinnen des Gesetzgebers. Damit haben die Regelbeispiele eine reine Warnfunktion. Nichts anderes gilt für die arbeitnehmerseitige außerordentliche Kündigung: Auch hier wird ein Katalog absoluter Kündigungsgründe in einen Katalog von Regelbeispielen überführt. Alleiniger Bewertungsmaßstab der außerordentlichen Kündigung bleibt auch hier § 626 BGB. Die Dogmatik des stets einzelfallbezogenen allgemeinen Kündigungsrechts hätte es ermöglicht, das Kündigungsrecht des Seearbeitsverhältnisses vollständig dem Landarbeitsverhältnis anzupassen. In Anbetracht der Vereinheitlichung des persönlichen Anwendungsbereichs des Seearbeitsgesetzes ist dies auch sinnvoll und geboten. Diese Anpassung hat der Gesetzgeber im Rahmen der ordentlichen Kündigung konsequent vollzogen. Bei der außerordentlichen Kündigung versäumt es der Gesetzgeber, sich vom „historischen Ballast“ der absoluten Kündigungsgründe endgültig zu befreien, obwohl die Kündigungsvorschrift des § 626 BGB die Besonderheiten des Seearbeitsverhältnisses hätten aufnehmen können. In Form der Regelbeispiele und unter gleichzeitigem Anwendungsbefehl des § 626 BGB trägt die ausdrückliche Nennung von Kündigungsgründen eher zur Verwirrung als zur Klarstellung bei.

I. Kontrolle und Durchsetzung I. Einleitung und Einordnung der Kontrollinstrumente Unter den vielen Mängeln der internationalen Gesetzgebung, die die MLC zu beheben sucht, galt das Fehlen von effektiven Durchsetzungsmechanismen als der

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

gravierendste.784 Der Erfolg oder Misserfolg der MLC wird sich entscheidend daran messen, ob es gelingt, die Durchsetzung seiner Mindestvorschriften effektiv zu gewährleisten.785 Die MLC, so formuliert es die Internationale Arbeitskonferenz bei der Verabschiedung des Übereinkommens, enthalte ein System der fortgesetzten Kontrolle auf jeder Ebene.786 Die wichtigesten Kontrollinstitutionen sind das Beschwerdeverfahren (siehe hierzu unter II.)787, die Kontrolle durch den Flaggenstaat (siehe hierzu unter III.) sowie die Kontrolle durch den Hafenstaat (siehe hierzu unter (IV.). Regelungstechnisch unterscheidet sich der fünfte Titel von den vier vorangegangenen Titeln der MLC in verschiedener Hinsicht. Während die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Titel 1 – 4 die Möglichkeit haben, die Normen des Codes durch „im Wesentlichen gleichwertige“ Regelungen zu ersetzen, ist dieses Flexibilisierungsinstrument für die Normen des Titels 5 nicht zulässig, Titel 5 Abs. 2. Während der Code der Titel 1 – 4 regelmäßig eine geringere Regelungsdichte im verbindlichen Normenteil und eine höhere Regelungsdichte im unverbindlichen Leitlinienteil vorweist, enthält der Code des fünften Titels insbesondere zur Hafenstaatkontrolle mehr Normen als Leitlinien. Die MLC soll „inflexible with respect to rights, flexible with respect to implementation“788 sein. Dort, wo es um die Kontrolle der unflexiblen Rechte geht, besteht kein Platz für Spielräume bei der Festlegung des Kontrollregimes. Ein weiterer Unterschied zu den übrigen Titeln besteht darin, dass dieser nicht auf den Regelungsfundus früherer Konventionen zurückgreift, also nicht konsolidiert, sondern Kontrollmittel neu einführt, die bisher nicht aus ILO-Konventionen bekannt waren. Namentlich sind diese Kontrollmittel das Beschwerdeverfahren und die Schiffszertifizierung. Regelungstechnisch ist das Beschwerderecht ein Mittel, dessen sich die (Kontroll-)Institutionen Flaggen- und Hafenstaat bedienen. Doch in der Praxis ist das Mittel selbst Institution: Der historische Befund, dass Streitigkeiten zwischen Reeder (bzw. Kapitän und Schiffer) und Seeleuten bevorzugt ohne die Hilfe externer Stellen beigelegt wurden (oder werden mussten), hat sich bis in die Gegenwart getragen. Oft ist es verpönt, solche Streitigkeiten mit der Hilfe externer Stellen zu regeln, statt sie auf niedrigster Ebene beizulegen.789 In Zeiten der Anonymisierung der Crews und des Verlustes der Unmittelbarkeit des Verhältnisses zwischen Reeder und Besatzungsmitglied dient diese „Internisierung der Beschwerde“ zwar der Schadloshaltung des Reeders vor externen Sanktionen min784

Siehe oben unter § 3 B. I. So wohl auch Zimmer, EuZA 2015, 297, 312. 786 ILC, 94th (Maritime) Session, 2006, Report I (1 A): Adoption of an instrument to consolidate maritime standards, Part I Abs. 17; siehe zu den Kontrollmechanismen der MLC bereits ausführlich oben unter § 3 A. III. 4. 787 Warum es sich bei dem Beschwerdeverfahren auch um eine Institution und nicht nur um ein Mittel der (anderen) Institutionen handelt, wird sogleich erläutert. 788 ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, First Meeting, Final Report, TWGMLS/2001/10, Appendix, Abs. 1 a. E. 789 Vgl. Lindemann, § 128 Rn. 9. 785

I. Kontrolle und Durchsetzung

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destens in gleichem Maße wie der Erhaltung eines Corpsgeistes innerhalb der Besatzung. Dennoch ist das interne Beschwerdeverfahren an Bord auf See die einzige und unmittelbarste Möglichkeit, einer Beschwerde des Besatzungsmitglieds abzuhelfen. Aus diesem Grund gilt das Beschwerdeverfahren neben der Flaggen- und Hafenstaatkontrolle als „dritter Strang“ der Kontrolle der Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmitglieder.790 Nach Vorbild der IMO-Konventionen schafft die MLC ein Zertifizierungssystem für Schiffe. Die Zertifikate werden von den Flaggenstaaten ausgestellt und dienen vor allem dazu, die Kontrollen durch die Hafenstaaten zu erleichtern. Sie legen dar, wie der jeweilige Flaggenstaat die MLC in nationales Recht umgesetzt hat, welche nationalen Besonderheiten bestehen und wie das konkrete Schiff die Einhaltung der Vorschriften sicherstellt. Ferner dienen die Zertifikate der Hafenstaatkontrolle als Anscheinsbeweis dafür, dass das Schiff den Anforderungen der MLC entspricht. Die Reichweite dieses Anscheinsbeweises ist die wohl umstrittenste Rechtsfrage in der internationalen Kontrollpraxis und wird nachfolgend ausführlich diskutiert.791 Aufgrund der verbindlichen und regelmäßig nicht flexibilisierbaren Vorgaben der MLC weicht die Darstellung in diesem Kapitel von den vorherigen Kapiteln insofern ab, als der Fokus auf den Vorschriften der MLC, nicht auf der Umsetzung durch das Seearbeitsgesetz liegt. Die wenigen vorhandenen nationalen Besonderheiten werden im Rahmen der Darstellung der jeweiligen internationalen Vorgabe erläutert.

II. Beschwerdeverfahren 1. Grundsätzliche Bedeutung des Beschwerdeverfahrens Das Beschwerdeverfahren gilt neben der Flaggen- und Hafenstaatkontrolle als dritter Strang des durch die MLC neu geschaffenen umfassenden Systems der Kontrolle und Durchsetzung der Mindestarbeits- und Lebensbedingungen.792 Die Besatzungsmitglieder sind als „Wächter über die eigenen Rechte“ ein unverzichtbarer Bestandteil des Kontrollsystems der MLC. Die Flaggenstaatkontrolle besichtigt das Schiff nach Erteilung des Seearbeitszeugnisses in der Regel nur alle zwei bis drei Jahre.793 Auch zwischen den Kontrollen durch die Hafenstaaten können bis zu zwei Jahre liegen. Eine lückenlose, fortlaufende Kontrolle kann mithin nur „aus dem Schiff heraus“ durch die Besatzung selbst kommen. Hinzu kommt, dass Mängel wie etwa unregelmäßige Heuerzahlung, Verstoß gegen Arbeitszeitvorschriften, mangelhafte Qualität der Verpflegung oder unzureichender Lärmschutz nur mit der

790 791 792 793

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 543. Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV. 2. e). McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 543. Siehe hierzu unten unter § 4 I. III.; § 4 I. IV.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Hilfe der Besatzungsmitglieder aufgedeckt werden können.794 Für die wirksame Durchsetzung der MLC sind Flaggen- und Hafenstaaten mithin darauf angewiesen, dass Mängel auf dem Schiff von der Besatzung aufgezeigt werden. Ein solches Aufdecken von Mängeln kann jedoch negative Konsequenzen für die Besatzungsmitglieder haben. Die Praxis des „blacklistings“ von so bezeichneten „troublemakers“, bei der Crewing-Agenturen Listen von Seeleuten führen, die Beschwerden über Arbeits- und Lebensbedingungen an externe Stellen herangetragen haben, ist weltweit verbreitet.795 Insbesondere für Seeleute mit kurzen Arbeitsverträgen aus Ländern, in denen ein Überangebot an Arbeitskräften besteht, führt ein „blacklisting“ regelmäßig zur erzwungenen Aufgabe des Seemannsberufs.796 Ferner haben Studien gezeigt, dass Seeleute in der Regel davon absehen, Beschwerden bei öffentlichen Stellen vorzubringen. Vielmehr vertrauen sie Gewerkschaften und Seemannsmissionen, die über große Erfahrung im Umgang mit ihnen anonym oder vertraulich zugetragenen Beschwerden verfügen.797 2. Beschwerdeverfahren an Bord Die MLC verpflichtet die Mitgliedsstaaten, an Bord ein Verfahren für eine gerechte, wirksame und zügige Behandlung von Beschwerden wegen behaupteter Verstöße gegen die MLC einzurichten. Ferner sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, jede Art von Schikanierung von Seeleuten wegen der Einreichung einer Beschwerde zu untersagen und zu bestrafen, Regel 5.1.5 Abs. 1, 2. Zur Erreichung des Ziels, das Beschwerdeverfahren zu einem durchsetzungsfähigen Mittel zu Wahrung der Mindestarbeits- und Lebensbedingungen zu machen, sind insbesondere zwei Maßnahmen entscheidend: Zum einen muss das von den Mitgliedstaaten einzurichtende Beschwerdeverfahren dem Besatzungsmitglied in jeder Phase ermöglichen, sich unmittelbar beim Kapitän oder bei geeigneten externen Stellen wie Gewerkschaften und Seemannsmissionen zu beschweren, Norm A5.1.5 Abs. 2. Zum anderen löst eine Beschwerde zwingend eine „Genauere Überprüfung“ (engl.: More detailed inspection) des Schiffes durch die Hafenstaatkontrolle aus, Normen A5.2.1 Abs. 1 lit. d), A5.2.2 Abs. 1.798 Durch eine Beschwerde wird der durch Schiffszertifikate vermittelte Anscheinsbeweis, dass das Schiff den Vorgaben der MLC entspricht, erschüttert.799 Zur Absicherung des Beschwerderechts ist jedem Besatzungsmitglied neben der Kopie seines Beschäftigungsvertrags eine Kopie des an Bord geltenden Beschwerdeverfahrens auszuhändigen, Norm A5.1.5 Abs. 4.

794 795 796 797 798 799

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 542 f. Ausführlich zu der Problematik des „Blacklistings“ Lindemann, § 128 Rn. 9. McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 543. Lindemann, § 128 Rn. 9. Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV. 2. d). Zu den Schiffszertifikaten, siehe unten unter § 4 I. III. 3.

I. Kontrolle und Durchsetzung

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Die deutsche Umsetzung der Vorschriften über das Beschwerdeverfahren an Bord erfolgt eng an den Vorgaben der MLC: § 127 regelt das Beschwerderecht des Besatzungsmitglieds. Das Beschwerderecht bezieht sich auf Verstöße gegen die im Seearbeitsgesetz und den zugehörigen Rechtsverordnungen erlassenen Mindestarbeits- und Lebensbedingungen, § 127 Abs. 1 Alt. 1. Nicht Gegenstand der Beschwerde können mithin einzel- oder tarifvertragliche Ansprüche sein, die über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgehen.800 Ferner kann die Beschwerde auf eine Benachteiligung oder eine ungerechte Behandlung gestützt werden, § 127 Abs. 1 Alt. 2. Solche können von Reeder, Kapitän, Vorgesetzten oder anderen Besatzungsmitgliedern ausgehen.801 Hierunter fallen beispielsweise die einseitige Einteilung zur Nacht- oder Sicherheitswache, die Nicht- oder Zuvielberücksichtigung bei der Anordnung von Überstunden oder Tätlichkeiten oder Beleidigungen von anderen Besatzungsmitgliedern.802 Der Reeder oder der Kapitän muss eine Vertrauensperson an Bord benennen, die dem Besatzungsmitglied auf vertraulicher Grundlage unparteiischen Rat zu einer Beschwerde erteilen und bei der Wahrnehmung des Beschwerderechts behilflich sein kann, § 127 Abs. 2. Unbeschadet dessen kann sich das Besatzungsmitglied während des Beschwerdeverfahrens an Bord von einer selbst gewählten Vertrauensperson oder von einem Rechtsanwalt vertreten lassen, § 127 Abs. 3. Nach § 127 Abs. 4 dürfen dem Besatzungsmitglied und den Vertrauenspersonen wegen der Erhebung der Beschwerde keine Nachteile entstehen. Die ausführlichen Informationspflichten des Reeders bezüglich des Beschwerdeverfahrens sind – wortgleich mit Norm A5.1.5 Abs. 4 MLC – in § 127 Abs. 4 aufgeführt. Nach § 127 Abs. 5 bleibt das Recht des Besatzungsmitglieds, Beschwerden und Entschädigungsansprüche nach anderen gesetzlichen Vorschriften – etwa nach § 13 AGG oder nach § 84 BetrVG – zu erheben, unberührt. Die Kernvorschrift des Beschwerderechts an Bord ist § 128, der das Beschwerdeverfahren regelt. Die zentrale Vorschrift ist hier § 128 Abs. 4, der dem Besatzungsmitglied die Möglichkeit eröffnet, sich „jederzeit unmittelbar beim Kapitän, beim Reeder, bei der BG Verkehr, bei den deutschen Auslandsvertretungen803 und bei anderen geeigneten externen Stellen wie Gewerkschaften und Seemannsmissionen804 zu beschweren.“ Für solche „externen“ Beschwerden verfügt die BG Verkehr über einen Bereitschaftsdienst, der rund um die Uhr Beschwerden entgegennehmen kann.805 Externe Stellen haben nach § 128 Abs. 5 die Quelle der Beschwerde vertraulich zu behandeln. Die systematische Stellung des § 128 Abs. 4 erklärt sich daraus, dass trotz der umfassenden Wahlmöglichkeit des Besatzungsmitglieds, an 800

BNPM/Bubenzer, § 127 Rn. 2; ders., in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 267. Lindemann, § 127 Rn. 5. 802 Ebd. 803 Dies sind Botschaften, Konsulate, Generalkonsulate und ständige Vertretungen, vgl. § 3 des Gesetzes Gesetz über den Auswärtigen Dienst – GAD, vom 30. August 1990 (BGBl. I, S. 1842). 804 Vgl. BT-Drucks. 17/10959, S. 106. 805 Bubenzer, in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 143. 801

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wen er seine Beschwerde richtet, eine Lösung auf der sachnächsten und niedrigsten Ebene als sinnvoll erachtet wird.806 Wie dies auch die MLC vorsieht, soll eine Beschwerde zunächst auf der niedrigst möglichen Ebene beigelegt werden, Norm A5.1.5 Abs. 2 MLC. Daher regelt § 128 Abs. 1 ein gestuftes Beschwerdeverfahren, nach dem die Beschwerde zunächst an den unmittelbaren Vorgesetzten zu richten ist, der dieser innerhalb einer angemessenen Frist abzuhelfen hat. Das Recht des Besatzungsmitglieds, sich jederzeit bei Kapitän, Reeder, Berufsgenossenschaft, Auslandsvertretung oder anderen geeigneten Stellen zu beschweren, wird durch das gestufte Beschwerdeverfahren nicht infrage gestellt.807 3. Beschwerdeverfahren im Hafenstaat Nach Regel 5.2.2 Abs. 1 hat jeder Mitgliedstaats sicherzustellen, dass Seeleute, die behaupten, in ihren Rechten aus der MLC verletzt worden zu sein, eine Beschwerde im Hafenstaat einreichen können. Sofern die auf die Beschwerde folgende Kontrolle einen schweren Verstoß gegen die Anforderungen der MLC aufdeckt, gelten die allgemeinen Vorschriften über die Behebung eines Mangels durch die Hafenstaatkontrolle, Norm A5.2.2 Abs. 4.808 Sofern ein solcher schwerer Mangel nicht vorliegt, die Beschwerde aber nicht beigelegt wurde, hat der ermächtigte Bedienstete des Hafenstaats den Flaggenstaat zu benachrichtigen, welcher innerhalb einer durch den Hafenstaat gesetzten Frist einen Aktionsplan mit Abhilfemaßnahmen aufzustellen hat, Norm A5.2.2 Abs. 5. Führen die Maßnahmen im Aktionsplan nicht zur Beilegung der Beschwerde, hat der Hafenstaat Reeder- und Seeleuteverbände im Hafenstaat zu unterrichten, Norm A5.2.2 Abs. 6. Der deutsche Gesetzgeber hat die Vorgabe der MLC zur Behandlung von Beschwerden im Rahmen der Hafenstaatkontrolle wortgleich zur MLC in § 139 Abs. 4 – 6 umgesetzt.809

III. Kontrolle durch den Flaggenstaat 1. Allgemeines In Einklang mit § 94 des Seerechtsübereinkommens UNCLOS schreibt die MLC die Verantwortung für die Kontrolle und Durchsetzung der Arbeits- und Lebens806

Lindemann, § 128 Rn. 5. BT-Drucks. 17/10959, S. 105. 808 Siehe hierzu unten unter § 4 IV. 2. d). 809 In Umsetzung der Vorgabe der MLC, nach der sich der ermächtigte Bedienstete „wo es sinnvoll ist“ um eine Streitbeilegung an Bord zu bemühen hat, Norm A5.2.2 Abs. 3, schreibt das Seearbeitsgesetz vor, dass die BG Verkehr den Beschwerdeführer vorrangig auf das Beschwerdeverfahren an Bord verweisen soll, soweit Beschwerdegegenstand oder berechtigte Belange des Beschwerdeführers, insbesondere die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen, dem nicht entgegenstehen, § 139 Abs. 3. 807

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bedingungen der Besatzungsmitglieder den Flaggenstaaten zu. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten, ein wirksames System für die Überprüfung und Zertifizierung der Seearbeitsbedingungen einzurichten, das sichergestellt, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute auf Schiffen unter seiner Flagge den Normen dieses Übereinkommens genügen, Regel 5.1.1 Abs. 1, 2. Bei der Einrichtung dieses Systems können die Mitgliedstaaten nach Maßgabe der Regel 5.1.2 Anerkannte Organisationen810 mit der Durchführung der Überprüfungen zur Ausstellung von Zeugnissen ermächtigen. Dies sind in der Praxis meist Klassifikationsgesellschaften, die insbesondere für solche Flaggenstaaten eine wichtige Rolle spielen, die nicht über die Mittel und Infrastruktur für funktionierende Flaggenstaatverwaltung verfügen.811 In Deutschland können die Anerkannten Organisationen812 zwar selbst kein Seearbeitszeugnis ausstellen.813 Sie können aber die Überprüfungen vornehmen, auf deren Grundlage die BG Verkehr die Zeugnisse erteilt. Die BG Verkehr kann sich jederzeit vorbehalten, das Seearbeitszeugnis erst nach einer eigenen Überprüfung zu erteilen, § 130 Abs. 2 S. 3. So wird der deutsche Gesetzgeber der Vorgabe der Regel 5.1.1 Abs. 3 S. 2 gerecht, nach der auch bei Einschaltung einer Anerkannten Organisation der Mitgliedstaat für die Überprüfung und Zertifizierung der Arbeits- und Lebensbedingungen in vollem Umfang verantwortlich bleibt. Aufgrund der Vorgaben der MLC musste im Seearbeitsgesetz die Überprüfung von Arbeits- und Lebensbedingungen vollkommen neu geregelt werden. Das Seemannsgesetz hatte lediglich Regelungen zur Kontrolle einzelner Bereiche vorgesehen, etwa zu Arbeits- und Ruhezeiten und zur medizinischen Ausstattung.814 Mit den Vorschriften der §§ 129 ff. werden für die Seeschifffahrt Arbeitsinspektionen vorgeschrieben, wie sie in dem Maße in keinem anderen Wirtschaftszweig zu finden sind.815 Zuständig für die Durchführung der Flaggenstaatkontrolle ist die BG Verkehr. Die bisherigen Zuständigkeiten der Länder zur Überprüfung des Arbeits- und Arbeitszeitschutzes, des Jugendarbeitsschutzes und der medizinischen Ausstattung werden auf die BG Verkehr als Vertreterin des Bundes übertragen. 2. Ablauf der Flaggenstaatkontrolle In Vorbereitung der Schiffsüberprüfung nutzt der Besichtiger der BG Verkehr verschiedene Dokumente (etwa die Schiffsakte, frühere Überprüfungsberichte von 810

Siehe hierzu bereits oben unter § 3 C. II. 5. McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 479 m. w. N. 812 Eine Liste der sieben Anerkannten Organisationen ist auf der Homepage der deutschen Flaggenstaatsverwaltung abrufbar: https://www.deutsche-flagge.de/de/flagge/flaggenstaat/klassifikationsgesellschaften/klassen, letzter Abruf vom 14.10.2019. 813 Indes können sie nach § 131 Abs. 3 amtlich anerkannte vorläufige Seearbeitszeugnisse ausstellen, siehe hierzu unten unter § 4 I. III. 3. c). 814 BNPM/Bubenzer, § 129 Rn. 1 m. w. N. 815 Ebd. 811

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Flaggen- und Hafenstaatkontrollen), um sich einen Überblick über das Schiff zu verschaffen.816 Er führt nach Maßgabe des § 129 die Überprüfung der Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord durch. Nach Vorgabe der MLC muss der Kontrollumfang der Flaggenstaatkontrolle lediglich den der Hafenstaatkontrolle „spiegeln“. Die Überprüfungskataloge von Flaggen- und Hafenstaatkontrolle in Anhang A5-I (Flaggenstaatkontrolle) und Anhang A5-III (Hafenstaatkontrolle) MLC sind identisch. Die deutsche Flaggenstaatskontrolle nach dem Seearbeitsgesetz geht über diese Vorgabe hinaus. Inhalt der Überprüfung sind alle Rechtsvorschriften, die zum Schutz vor Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit oder zum sonstigen Schutz der Besatzungsmitglieder erlassen worden sind, § 129 Abs. 1 S. 1.817 Der Katalog des § 129 Abs. 1 S. 2 ist nicht abschließend („Insbesondere“). Die Prüfliste der BG Verkehr umfasst daher sämtliche im Seearbeitsgesetz bzw. in den aufgrund des Seearbeitsgesetzes erlassenen Rechtsverordnungen niedergelegten Anforderungen.818 Neben der jeweiligen Anforderung ist die entsprechende Rechtsgrundlage des deutschen Rechts und – sofern vorhanden – der MLC aufgeführt. Den Prüfern der BG Verkehr stehen für die Überprüfungen nach Maßgabe des § 143 umfassende Eingriffsbefugnisse zu. In der Regel wird der Prüfer die seearbeitsrechtlichen Dokumente (Heuerverträge, Arbeitszeitnachweise, Tauglichkeitszeugnisse) sowie Dokumente zum Arbeitsschutz (Gefährdungsbeurteilungen, Unfallberichte, Nachweise über Sicherheitsunterweisungen, Protokolle des Schiffssicherheitsausschusses) prüfen, das Schiff, insbesondere die Unterkunfts-, Küchen- und Provianträume, besichtigen und vertrauliche Interviews mit den Besatzungsmitgliedern führen.819 Das Ergebnis der Überprüfung wird in einem Bericht festgehalten, der an Bord auszuhängen ist, § 7 Abs. 2 S. 2 SeeArbÜV.820 Sofern Mängel festgestellt werden, muss der Reeder einen Maßnahmenkatalog für geeignete Korrekturmaßnahmen vorschlagen, § 7 Abs. 1 S. 1 SeeArbÜV. Der Prüfer kann für die Abstellung der Mängel eine Frist setzen. Bei Mängeln, die eine Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder den Schutz der Besatzungsmitglieder darstellen und bei schweren oder wiederholten Verletzungen der gesetzlichen Anforderungen für die Arbeits- und Lebensbedingungen kann die BG Verkehr gemäß § 143 Abs. 3 das Auslaufen des Schiffes bis zur Behebung des Mangels untersagen.

816

Ders., in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 233. Namentlich: Seearbeitsgesetz, Seeleute-BefähigungsVO, See-BerufsausbildungsVO, SchiffsbesetzungsVO, SeearbeitsnachweisVO, Offshore-ArbeitszeitVO, See-UnterkunftsVO, Maritime-Medizin-VO, Seearbeitsüberprüfungs-VO, nach Bubenzer, in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 232. 818 Die Prüfliste ist abgedruckt im Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 275 ff. 819 Bubenzer, in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 234 f. 820 Seearbeitsüberprüfungs-Verordnung vom 25. Juli 2013 (BGBl. I, S. 2800). 817

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3. Ausstellung der Schiffszertifikate a) Zielsetzung Zur Vereinfachung der Schiffsüberprüfungen, insbesondere der Hafenstaatkontrolle, führt die MLC eine Zertifizierung für Schiffe ein. Nach dem Vorbild der IMOKonventionen MARPOL821 und SOLAS822 stellt der Flaggenstaat nach der Überprüfung eines Schiffs ein Seearbeitszeugnis und eine Seearbeits-Konformitätserklärung aus. Diese Zeugnispflicht besteht – ebenfalls entsprechend den IMO-Konventionen – für jedes Schiff mit einer Bruttoraumzahl von 500 oder mehr, das für internationale Fahrten verwendet wird823 oder das Fahrten von einem Hafen oder zwischen Häfen in einem anderen Staat durchführt, § 130 Abs. 1, Regel 5.1.3. Auch für Schiffe, die aufgrund ihrer Größe oder ihres Fahrtgebiets nicht der Zertifizierungspflicht unterliegen, kann der Reeder die Zeugnisse beantragen, § 130 Abs. 8, Regel 5.1.3 Abs. 2. Für nicht zeugnispflichtige Schiffe stellt die BG Verkehr anstelle des Seearbeitszeugnisses einen Überprüfungsbericht aus, der an Bord mitzuführen ist, § 134. In der Praxis lassen Reeder nahezu alle Schiffe unter deutscher Flagge, die ausländische Häfen anfahren, zertifizieren. Dies hat zwei Gründe: Zum einen erleichtern und beschleunigen die Dokumente die Hafenstaatkontrolle,824 zum anderen gelten sie den Vertragspartnern, Befrachtern oder Fahrgästen des Reeders als Qualitätsnachweis für die Einhaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen.825 b) Seearbeitszeugnis und Seearbeits-Konformitätserklärung Das Seearbeitszeugnis wird für Schiffe unter deutscher Flagge von der BG Verkehr ausgestellt und bescheinigt, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute auf dem Schiff überprüft worden sind und den Anforderungen der innerstaatlichen Maßnahmen zur Durchführung der MLC genügen, § 130 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, Regel 5.1.3 Abs. 3. Außerdem wird hierin bestätigt, dass der vom Reeder in der Seearbeits-Konformitätserklärung niedergelegte Maßnahmenkatalog zur Sicherstellung der Umsetzung der genannten Anforderungen geprüft und für geeignet erachtet wurde, § 130 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Regel 5.1.3 Abs. 3, Norm A5.1.3 Abs. 1 – 9. Die Zeugnispflicht wird im Seearbeitsgesetz zweifach abgesichert. Zum einen verbietet § 130 Abs. 1 S. 1 dem Reeder die Indienststellung oder Infahrthaltung eines Schiffes ohne gültiges Seearbeitszeugnis. Zum anderen richtet sich auch eine Verbotsnorm an den Kapitän, der ohne gültige Zeugnisdokumente nicht auslaufen bzw. das Schiff in Fahrt halten darf, § 130 Abs. 1 S. 2. Diese Erweiterung ist im deutschen 821

Art. 5 MARPOL. Chapter 1, Part B, Regulation 12 SOLAS. 823 Internationale Fahrt bedeutet eine Fahrt von einem Land zu einem Hafen außerhalb dieses Landes, Regel 5.1.3 Abs. 1 S. 2. 824 Siehe hierzu unten unter § 4 I. IV. 2. e). 825 BNPM/Bubenzer, § 130 Rn. 2. 822

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Recht notwendig, da der Reeder bei nautischen Fragen gegenüber dem Kapitän nicht weisungsbefugt ist.826 Die Seearbeits-Konformitätserklärung besteht aus zwei Teilen. Teil I wird, wie das Seearbeitszeugnis, vom Flaggenstaat ausgestellt und nennt die innerstaatlichen Maßnahmen, mit denen die Vorschriften der MLC in das nationale Recht umgesetzt wurden, und erläutert diese Maßnahmen gegebenenfalls kurz. Wenn ein Staat von der Möglichkeit des Art. VI Abs. 3 Gebrauch gemacht hat, Teil A des Codes der MLC durch „im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen“ zu ersetzen, sind diese Maßnahmen hier aufzuführen, Regel 5.1.3 Abs. 4, Norm A5.1.3 Abs. 10 S. 2 lit. a), § 132 Abs. 2 S. 1. Teil I der Seearbeits-Konformitätserklärung ist für alle Schiffe eines Flaggenstaates gleich. Er dient der Hafenstaatkontrolle als Leitfaden für die Überprüfung des Schiffes, indem er die nationale Gesetzgebung für die Kontrolleure unter der MLC-Vorschrift „übersetzt“ und den Hafenstaatkontrolleuren vor Augen führt, in welchen Bereichen nationale Besonderheiten bei der Kontrolle zu berücksichtigen sind.827 Auch weist sie den Hafenstaatkontrolleur darauf hin, wie ausfüllungsbedürftige Begriffe der MLC wie „Nachtarbeit“, „Besatzungsmitglied“ oder „gesundheitsgefährdende Arbeit“ nach nationalem Recht zu verstehen sind.828 Insoweit kann bei Teil I der Seearbeits-Konformitätserklärung vom „abstrakten Teil“ der Erklärung gesprochen werden. In Teil II führt der Reeder die Maßnahmen auf, die er zur Umsetzung der nationalen Vorschriften auf seinem Schiff ergriffen hat. Die zuständige Stelle des Flaggenstaates prüft die vom Reeder aufgeführten Maßnahmen und stellt die Seearbeits-Konformitätserklärung aus, Regel 5.1.3 Abs. 4; Norm A5.1.3 Abs. 10 S. 2 lit. b), umgesetzt in § 132 Abs. 3.829 Teil II ist damit der schiffsspezifische, „konkrete Teil“ der Erklärung. Für neue Schiffe sowie im Fall des Flaggen- oder Reederwechsels kann für eine Dauer von höchstens sechs Monaten ein vorläufiges Seearbeitszeugnis (engl.: Interim Maritime Labour Certificate) ausgestellt werden, Norm 5.1.3 Abs. 5, 6, inhaltsgleich umgesetzt in § 131 Abs. 1. Für solche vorläufigen Zeugnisse besteht ein praktisches Bedürfnis, um den Schiffsbetrieb bis zur zeitaufwändigen endgültigen und vollständigen Überprüfung durch den Flaggenstaat nicht unterbrechen zu müssen bzw. um die schnelle Aufnahme des Schiffsbetriebs zu ermöglichen.830 Anders als das endgültige Seearbeitszeugnis ist das vorläufige Seearbeitszeugnis auch ohne Seearbeits-Konformitätserklärung gültig, Norm A5.1.3 Abs. 8 S. 3, jedoch muss der Reeder nach § 6 SeeArbÜV der BG Verkehr einen Entwurf des zweiten Teils der Seearbeits-Konformitätserklärung übermitteln. 826

Siehe hierzu ausführlich oben unter § 4 D. III. 3. McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 523, nennen dies einen „Negative reporting approach“. 828 Beispiele nach MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, S. 65. 829 Zum praktischen Ablauf der Zertifizierung, siehe die Übersicht bei Bubenzer, in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 231. 830 Bubenzer, in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 227. 827

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Eine ähnliche Aufgabe erfüllt die kurzzeitige Verlängerung eines Seearbeitszeugnisses nach § 131 Abs. 2. Für Schiffe, die nur wenige Häfen anlaufen, besteht das Bedürfnis, die Zeitspanne zwischen Flaggenstaatüberprüfung und Zeugniserteilung zu überbrücken.831 Auch können Fahrplanänderungen eines Schiffes dazu führen, dass die – nicht länger als 3 Monate vor Ablauf des Seearbeitszeugnisses statthafte – Erneuerungsüberprüfung des Schiffes so kurz vor Ablauf des bisherigen Zeugnisses erfolgt, dass die BG Verkehr den Überprüfungsbericht nicht mehr auswerten kann. Ferner kann es vorkommen, dass es der Reederei nicht möglich ist, das Originalzeugnis rechtzeitig an Bord zu schaffen.832 In diesen Fällen kann die BG Verkehr eine zeitlich auf maximal fünf Monate befristete Verlängerung ausstellen, § 131 Abs. 4 S. 2. 4. Prüfungsintervalle Während die Seearbeits-Konformitätserklärung – vorbehaltlich der in § 132 Abs. 4 aufgeführten Änderungen im Schiffsbetrieb – unbefristet gültig ist, muss das Seearbeitszeugnis alle fünf Jahre erneuert werden, § 130 Abs. 5, Norm A5.1.3 Abs. 1 S. 1, 4. Um die fortlaufende Erfüllung der innerstaatlichen Anforderungen für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzungsmitglieder zu gewährleisten, hat zwischen dem zweiten und dritten Jahr nach der Ausstellung des Zeugnisses eine Zwischenbesichtigung des Schiffes stattzufinden, § 129 Abs. 2 Nr. 1, Norm A5.1.3 Abs. 2. Nicht zeugnispflichtige Schiffe sind alle drei Jahre zu überprüfen, § 129 Abs. 2 Nr. 2, Norm A5.1.4 Abs. 3. Trotz der Formulierung des § 129 Abs. 2 Nr. 2 gelten für Schiffe, die zwar nicht der Zeugnispflicht unterliegen, für die der Reeder trotzdem ein Zeugnis beantragt hat, die Überprüfungsintervalle zeugnispflichtiger Schiffe, da die MLC die Überprüfungsvorschriften an dem tatsächlichen Vorhandensein eines Zeugnisses und nicht an der Zeugnispflicht anknüpft. § 129 Abs. 2 ist insoweit MLC-konform auszulegen.833 5. Verlust der Gültigkeit der Schiffszertifikate Zwar unterscheiden sich Seearbeitszeugnis und Seearbeits-Konformitätserklärung darin, dass ersteres befristet ist, während die Gültigkeit des zweiten zunächst zeitlich unbegrenzt ist. Gleichwohl bedingt die Gültigkeit des einen Dokuments die Gültigkeit des anderen. Die Seearbeits-Konformitätserklärung verliert ihre Gültigkeit, wenn das Seearbeitszeugnis in den in § 130 Abs. 6 S. 1 Nr. 2 – 5 (entspricht Norm A5.1.3 Abs. 14 lit. b)– e)) genannten Fällen seine Gültigkeit verliert, § 132 Abs. 4 Nr. 1. Dies ist der Fall bei Flaggenwechsel, Beendigung der Reederverant831

Ders., in: BNPM, § 131 Rn. 4 f. Ders., in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 228. 833 Siehe hierzu auch die amtl. Begründung zu §§ 129, 130, welche ausweist, dass die Vorschriften Norm A5.1.3 umsetzen sollen, BT-Drucks. 17/10959, S. 106. 832

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wortlichkeit für das Schiff, wesentlichen baulichen Veränderungen der Unterkünfte und Freizeiteinrichtungen sowie bei Rücknahme oder Widerruf des Zeugnisses durch die BG Verkehr. Anders als das Seearbeitszeugnis verliert die Seearbeits-Konformitätserklärung ihre Gültigkeit nicht bereits, wenn die Zwischenüberprüfungen nicht ordnungsgemäß durchgeführt oder bescheinigt worden sind. Sie verliert aber ihre Gültigkeit, wenn sich die vom Reeder in Teil II der Seearbeits-Konformitätserklärung aufgeführten Maßnahmen derart geändert haben, dass die Maßnahmen nicht mehr geeignet sind, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften, die zum Schutz vor Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit oder zum sonstigen Schutz der Besatzungsmitglieder erlassen worden sind, an Bord umzusetzen, § 132 Abs. 4 S. 1 Nr. 2. Die Gültigkeit der Konformitätserklärung endet auch, wenn die tatsächlichen Verhältnisse an Bord nicht mehr den vom Reeder in Teil II der Seearbeits-Konformitätserklärung aufgeführten Maßnahmen entsprechen, § 132 Abs. 4 S. 1 Nr. 3.

IV. Kontrolle durch die Hafenstaaten 1. Historischer Hintergrund Das Konzept, Schiffe unter fremden Flaggen im Hafen auch auf Defizite zu überprüfen, die keine direkten Auswirkungen auf die Sicherheit und das Gemeinwohl des Hafenstaates haben (zu solchen gehören etwa Immigrations- und Quarantänevorschriften, welche es bereits im Mittelalter gab)834, ist relativ neu. Abgesehen von einzelnen britischen Gesetzgebungen zur Ladungssicherheit, die Festhaltungen bei Verstößen gegen die Ladungssicherheit vorsahen,835 lag die Verantwortung für die Kontrolle der Schiffssicherheit, trotz der Verbreitung internationaler Standards ab den 1920er Jahren, ausschließlich bei den Flaggenstaaten.836 Das Erstarken der Hafenstaatkontrollen ab den 1950er Jahren war bedingt durch drei Entwicklungen.837 Erstens führten die Ausflaggungen in der internationalen Seeschifffahrt dazu, dass die verlässlichen Kontrollen durch die traditionellen Flaggenstaaten umgangen werden konnten. Wie bereits beschrieben, fehlte es den Staaten mit Billigflaggen regelmäßig sowohl am politischen Willen als auch an den finanziellen und personellen Mitteln, eine Flaggenstaatkontrolle zu gewährleisten. Zweitens kam es mit der Gründung der IMO im Jahre 1958 zu einer deutlichen Verbreiterung der internationalen Regulierung der Schiffssicherheit. Drittens führten verschiedene Öltankerunfälle in den 1960er und 70er Jahre einer breiten Öffentlichkeit die Notwendigkeit eines international geregelten und effektiv kontrollierten Schutzes der Meeresumwelt vor Augen.838 Schließlich kam noch hinzu, dass un834 835 836 837 838

Siehe im Einzelnen: Marten, Port State Jurisdiction, S. 40. Merchant Shipping Act 1876, 39, 40 Vic, c 80 s 13, zitiert nach ebd., S. 41. Marten, ebd. Ausführlich hierzu ebd., S. 43 ff. Ebd., S. 44.

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ternormige Schiffe die Küsten- und Hafenstaaten durch Kosten für Verschmutzungsbeseitigung, Betriebsverzögerungen oder für Bergungsarbeiten wirtschaftlich stark belasteten.839 Die Harmonisierung der Hafenstaatkontrollen auf internationaler Ebene fand 1978 durch das sog. Hague Memorandum of Understanding on Port State Control statt, das zunächst lediglich die Kontrolle der Arbeitsbedingungen nach Standards der ILO vorsah und unter dem Eindruck des Untergangs des Öltankers Amoco Cadiz in demselben Jahr auf die Kontrolle von Umweltschutz und Schiffssicherheit erweitert wurde. 1982 wurde das Hague Memorandum durch das Paris Memorandum of Unterstanding on Port State Control (im Folgenden: Paris MoU) ersetzt.840 Es folgten ab den 1990er Jahren weltweit weitere Memoranda of Understanding,841 die dem Paris MoU nachgebildet sind.842 Die Memoranda weisen jedoch sowohl hinsichtlich der Anzahl der in die Kontrolle einbezogenen internationalen Vorschriften als auch hinsichtlich der praktischen Durchsetzung ein unterschiedliches Schutzniveau auf. So sieht das Paris MoU 17 sog. Relevant Instruments (internationale Übereinkommen, deren Einhaltung durch die Unterzeichnerstaaten zu kontrollieren ist) vor, das Riyadh MoU etwa hingegen nur acht.843 Sämtliche Memoranda führen die drei großen Seerechtsübereinkommen der IMO sowie die ILO-Konvention Nr. 147 über Mindestarbeitsbedingungen als Relevant Instruments auf. Viele Vorschriften der Konvention Nr. 147 erwiesen sich aber als zu unpräzise und waren daher im Rahmen der Hafenstaatkontrolle oft nicht justiziabel.844 Dies führte zunächst dazu, dass auf den Schiffen zwar die Arbeits- und Lebensbedingungen kontrolliert wurden, die Hafenstaaten jedoch von vornherein davon absahen, Schiffsfesthaltungen allein aufgrund von Verstößen gegen Konvention Nr. 147 vorzunehmen.845 839

Ebd., S. 45. Die aktuelle Version des Memorandums ist abrufbar unter: https://www.parismou.org/inspections-risk/library-faq/memorandum, letzter Abruf vom 14.10.2019. 841 Namentlich: Latin America Agreement on Port State Control (Vina del Mar Agreement); Memorandum of Understanding on Port State Control in the Asia-Pacific Region (Tokyo MoU); Memorandum of Understanding on Port State Control in the Caribbean Region (Caribbean MoU); Memorandum of Understanding on Port State Control in the Mediterranean Region (Mediterranean MoU); Memorandum of Understanding on Port State Control for the West and Central Africa Region (Abuja MoU); Memorandum of Understanding on Port State Control for the Indian Ocean Region (Indian Ocean MoU); Memorandum of Understanding on Port State Control in the Black Sea Region (Black Sea MoU); Memorandum of Understanding on Port State Control in the Gulf Region (Riyadh MoU). 842 Ob es sich bei den Memoranda um verbindliche internationale Verträge handelt oder lediglich um informelle zwischenstaatliche Absprachen ist umstritten, Marten, Port State Jurisdiction, S. 46 m. w. N. 843 Siehe Section 2 des Paris MoU: „Relevant Instruments“, sowie Section 2 des Riyadh MoU, abrufbar unter: http://www.riyadhmou.org/aboutmoutext.html, letzter Abruf vom 14.10.2019. 844 JMC-Report, S. 94. 845 Ebd. 840

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Später wurden die Hafenstaatkontrolleure schon gar nicht mehr dazu ausgebildet, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu überprüfen.846 Die Hafenstaatkontrolle wurde praktisch beschränkt auf eine reine „Technik-Kontrolle“ des Schiffes. Der Schutz der Arbeits- und Lebensbedingungen fand kaum oder gar keine Beachtung.847 2. Hafenstaatkontrolle durch die MLC a) Aufgabe und Rechtsquellen der Hafenstaatkontrolle Dass eine fortlaufende, lückenlose und effektive Kontrolle der Arbeits- und Lebensbedingungen durch den Flaggenstaat nicht möglich ist, liegt auf der Hand. Zu selten, wenn überhaupt, fahren Schiffe in die Häfen ihrer Flaggenstaaten ein. Und zu gering ist, insbesondere in Billigflaggen-Staaten, der politische Wille, bei eigenen Schiffen Verstöße gegen Mindestarbeits- und Lebensbedingungen spürbar zu sanktionieren, statt „ein Auge zuzudrücken“.848 So leicht es für den Reeder ist, sein Schiff auszuflaggen, so schwierig ist es, auf den Reiserouten des Schiffes Häfen solcher Staaten zu meiden, bei denen ein politischer Wille zur Sanktionierung von Verstößen besteht. Eine effektive Durchsetzung der Mindeststandards der MLC kann daher nur dann gelingen, wenn jene Staaten die Möglichkeit haben, Verstöße von fremdflaggigen Schiffen aufzudecken und zu sanktionieren. Seit der Harmonisierung der Hafenstaatkontrollen in den 1970er Jahren zeigt sich immer deutlicher, dass die Institution der Hafenstaatkontrolle mehr ist als eine Ergänzung der Kontrollen durch den Flaggenstaat. Vielmehr ist es die Effektivität der Hafenstaatkontrolle, die das Kontrollverhalten der Flaggenstaaten beeinflusst. Denn erst die Verbreitung der Hafenstaatkontrollen hatte dazu geführt, dass die Flaggenstaaten ihrerseits ihren Kontrollpflichten in ausreichendem Maß nachkamen und dazu übergingen, unternormigen Schiffen das Flaggenrecht zu entziehen.849 McConnell/Devlin/DoumbiaHenry beschreiben die Hafenstaatkontrolle als „Institut eigennütziger Kooperation in gegenseitiger Abhängigkeit, das im gemeinsamen Interesse aller maritimer Staaten die Einhaltung gleichmäßiger und hoher Standards im internationalen Schiffsverkehr sicherstellt.“850 Die MLC gestaltet die Hafenstaatkontrolle nicht als Pflicht, sondern als Recht der Mitgliedstaaten aus. Entscheidet sich ein Mitgliedstaat, das Recht der Hafenstaatkontrolle auszuüben, haben die Hafenstaatkontrollen nach den Vorgaben der MLC zu erfolgen.851 Die Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, Hafenstaatkon846

Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 199. JMC-Report, S. 111. 848 Bauer, Chicago Journal of International Law, Winter 2008, 643, 649. 849 Lillie, in: Cross-Border Social Dialogue and Agreements, S. 200. 850 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 547. 851 Vgl. Regel 5.2.1 Abs. 1, 4: Jedes ausländische Schiff, das auf seinem planmäßigen Kurs oder aus betriebstechnischen Gründen den Hafen eines Mitglieds anläuft, kann Gegenstand einer Überprüfung gemäß Artikel V Absatz 4 […] sein […]. Die Überprüfungen, die in 847

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trollen vorzunehmen, ergibt sich damit nicht aus der MLC, sondern aus dem Pariser Memorandum of Unterstanding. Die durch das Paris MoU geschaffenen Standards wurden durch die Richtlinie 2009/16/EG in das europäische Recht überführt.852 Beide Instrumente wurden nach Inkrafttreten der MLC an deren Vorgaben angepasst.853 Die MLC bestimmt in Regel 5.2.1 ausdrücklich, dass die Hafenstaatkontrollen „in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Codes und anderer geltender internationaler Vereinbarungen (über Hafenstaatkontrollen) durchzuführen“ sind. Der deutsche Gesetzgeber hat die Vorgaben von Richtlinie 2009/16/EG und MLC in § 138 des Seearbeitsgesetzes sowie in der Schiffssicherheitsverordnung854 und im Schiffssicherheitsgesetz855 umgesetzt. Praktisch von großer Bedeutung sind außerdem die vom Internationalen Arbeitsamt herausgegebenen Guidelines for control officers carrying out inspections under the Maritime Labour Convention, 2006, sog. PSCO-Guidelines.856 Diese führen die Rechtsgrundlagen der Hafenstaatkontrolle auf, erläutern sie und geben den Hafenstaatinspektoren Handlungsanweisungen, wie bei entdeckten Verstößen zu verfahren ist. Die Vorschriften der MLC zur Hafenstaatkontrolle bauen auf den Vorschriften der Konvention Nr. 147 auf und erweitern diese. Die Abläufe der Hafenstaatkontrolle werden detailliert vorgeschrieben und die Befugnisse der Hafenstaatkontrolleure werden deutlich ausgeweitet.857 Nach Art. 4 der Konvention Nr. 147 beschränken sich die im Falle eines Verstoßes gegen die Konvention von einer Hafenstaatkontrolle vorzunehmenden Maßnahmen zunächst darauf, die Regierung des Flaggenstaates und gleichzeitig das Internationale Arbeitsamt zu informieren. Die Eingriffsrechte Übereinstimmung mit dieser Regel durchgeführt werden können, haben auf einem wirksamen Hafenstaatkontroll- und Überwachungssystem zu beruhen […]; siehe auch ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Bemerkung Nr. 37 Abs. 2; MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, S. 71; McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 212. 852 Richtlinie 2009/16/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über die Hafenstaatkontrolle, geändert durch Richtlinie 2013/38/EU vom 12. August 2013; siehe zum Ziel der Richtlinie insbesondere deren Erwägungsgründe Nr. 9, 13, 14. 853 Richtlinie 2013/38/EU vom 12. August 2013, siehe hier insb. Art. 1 Abs. 18 ff.; Paris Memorandum of Understanding on Port State Control, including the 41th Amendment, effective 1 July 2018, siehe hier insb. Annex 9, abrufbar unter: https://www.parismou.org/inspections-risk/library-faq/memorandum, letzter Abruf vom 14.10.2019. 854 Schiffssicherheitsverordnung vom 18. September 1998 (BGBl. I, S. 3013), zuletzt geändert am 29. März 2017 (BGBl. I, S. 626), siehe hier insb. § 12. 855 Schiffssicherheitsgesetz vom 9. September 1998 (BGBl. I, S. 2860), zuletzt geändert am 2. Juli 2017 (BGBl. I, S. 2268), siehe hier insb. § 14. 856 Abrufbar unter: http://www.ilo.org/global/standards/maritime-labour-convention/WCMS_101787/lang-en/in dex.htm, letzter Abruf vom 14.10.2019. 857 ILO, High-level Tripartite Working Group on Maritime Labour Standards, First Meeting, Final Report, TWGMLS/2001/10, Appendix, Chairperson’s Summary; McConnell/ Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 547.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

sind denkbar eng: Die Konvention erlaubt es, „die notwendigen Maßnahmen zur Beseitigung aller Bedingungen an Bord (zu) treffen, die eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit oder Gesundheit darstellen.“ Diese Eingriffsrechte erweitert die MLC. Bei der Annahme oder Behauptung eines Mangels, der eine Gefahr für Sicherheit oder Gesundheit der Seeleute darstellt, sind Hafenstaatkontrolleure zu einer detaillierten Untersuchung des Mangels nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, Norm A5.2.1 Abs. 1 S. 2. Ferner steht die Entscheidung, ob ein derartiger Mangel zu beheben ist, nicht mehr im Ermessen des Hafenstaatkontrolleurs. Er ist verpflichtet, Maßnahmen zu treffen, um ein Auslaufen des Schiffes so lange zu verhindern, bis die Behebung des Mangels sichergestellt ist, Norm A5.2.1 Abs. 6 S. 1 MLC. Weiterhin werden unter der MLC Beschwerdesystem und Hafenstaatkontrolle dergestalt miteinander verknüpft, dass die Beschwerde über einen bestimmten Gegenstand die Prüfung dieses Gegenstandes im Rahmen der Hafenstaatkontrolle auslösen kann, bzw. – im Falle einer eindeutigen Gefahr für Sicherheit und Gesundheit der Seeleute sowie bei einem schwerwiegenden Verstoß gegen die MLC – auslösen muss, Norm A5.2.1 Abs. 1 S.1 lit. d). Die Hafenstaatkontrolle dient außerdem als Vehikel für die universelle Anwendung der MLC auch außerhalb der Ratifikationsstaaten. Im Rahmen der Hafenstaatkontrolle ist es den kontrollierenden Staaten verwehrt, Schiffe von Nicht-Ratifikationsstaaten im Rahmen der Kontrollen besser zu behandeln als Schiffe ratifizierender Staaten. Diese sog. „no-more-favourable-treatment-Klausel“ des Art. V Abs. 7 erstreckt so das geschaffene „level playing field“ auch auf Schiffe solcher Staaten, die die MLC nicht ratifiziert haben. Die MLC greift mit dieser Klausel eine Idee auf, die bereits in der Verfassung der ILO angelegt ist. Hier heißt es in der Präambel: „The failure of any nation to adopt humane conditions of labour is an obstacle in the way of other nations which desire to improve the conditions in their countries.“858 Mit Blick auf die Entwicklung der Billigflaggen-Problematik scheint dieser Satz beinahe prophetisch. Jeder Flaggenstaat, der sich durch Deregulierung der Arbeits- und Lebensbedingungen außerhalb der Grenzen der MLC einen Vorteil gegenüber Konkurrenzflaggen verschafft, würde das „level playing field“ in der internationalen Handelsschifffahrt „verunebnen“. Entsprechend reicht es nicht aus, den Geltungsbereich der MLC auf die Ratifikationsstaaten zu erstrecken. Zwar schreibt die „no-more-favourable-treatment-Klausel“ keine Besserstellung der Ratifikationsstaaten vor. Trotzdem haben die Ratifikationsstaaten den Vorteil, dass sie durch Seearbeitszeugnis und Seearbeits-Konformitätserklärung den Anscheinsbeweis erbringen können, dass das Schiff den Anforderungen der MLC genügt, Regel 5.1.1 Abs. 4.859 Auf den Schiffen von Nicht-Ratifikationsstaaten, die diesen Anscheinsbeweis gerade nicht erbringen können, gibt es daher stets eine „Genauere 858

Siehe Abs. 3 der Präambel der ILO-Verfassung, abrufbar unter: http://www.ilo.ch/dyn/normlex/en/f?p=1000:62:0::NO:62:P62_LIST_ENTRIE_ID:2453 907:NO, letzter Abruf vom 14.10.2019. 859 Zur Reichweite dieses Anscheinsbeweises, siehe ausführlich unten unter: § 4 I. IV. 2. e).

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Überprüfung“ der Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Hafenstaatkontrolle im Sinne von Norm A5.2.1 Abs. 1 S. 1 2. Hs. b) Prüfungsmaßstab der Hafenstaatkontrolle Nach Regel 5.2.1 Abs. 1 MLC kann jedes ausländische Schiff, das den Hafen eines Mitglieds anläuft, Gegenstand einer Überprüfung in Bezug auf die Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Schiff sein. Somit erfolgen die Hafenstaatkontrollen unabhängig von der Zeugnispflicht und damit auch unabhängig von der Größe des Schiffes. In der Literatur ist die Aussage anzutreffen, Prüfungsmaßstab der Hafenstaatkontrolle seien die Regeln und der verbindliche Teil des Codes die MLC.860 Auch der deutsche Gesetzgeber geht von diesem Überprüfungsmaßstab aus, vgl. § 137 Abs. 1. Diese Sichtweise ist zumindest unpräzise. Die MLC enthält eine Vielzahl von Begriffen und Definitionen, die ausdrücklich vom nationalen Gesetzgeber auszufüllen sind (etwa die Begriffe Schiff, Seemann, gesundheitsgefährdende Arbeiten oder Nachtarbeit). Die MLC ist nicht vollständig „self-executing“,861 sondern bedarf der Konkretisierung durch die nationalen Gesetzgeber. Auch darf nicht übersehen werden, dass die MLC selbst für den verbindlichen Teil des Codes „im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen“ durch den nationalen Gesetzgeber zulässt. Überprüfungsmaßstab sind daher richtigerweise die Mindestbedingungen der MLC in Gestalt der nationalen Umsetzung.862 Unabhängig von dieser Unterscheidung birgt der Überprüfungsmaßstab Probleme: Bei Schiffen, die nicht über eine SeearbeitsKonformitätserklärung verfügen, fehlen dem Hafenstaatkontrolleur Informationen über die geltenden nationale Besonderheiten. Wenn er nun nach dem Maßstab der MLC kontrollieren soll, kann diese Kontrolle nur lückenhaft stattfinden, da für die Frage, ob beispielsweise eine „gesundheitsgefährdende Arbeit“ vorliegt, ebenso ein Prüfungsmaßstab fehlt wie im Falle der Ersetzung einer verbindlichen Norm der MLC durch eine nationale, „im Wesentlichen gleichwertige Maßnahme“. Diese Schutzlücke hätte die MLC dadurch vermeiden können, dass sie die Dokumentation der „im Wesentlichen gleichwertigen Maßnahmen“ durch den Flaggenstaat unabhängig von den Zeugnissen vorsieht. Hierdurch wären die Hafenstaatkontrolleure auch bei Schiffen ohne Seearbeits-Konformitätserklärung in die Lage, nationale Besonderheiten nachzuvollziehen. Trotz dieser Bedenken ist es praktisch unvermeidbar, die Prüfungen auf die Mindestbedingungen der MLC zu beschränken, da es nicht die Aufgabe des Hafenstaatkontrolleurs sein kann, die nationalen Besonderheiten eines jeden Flaggenstaates nachzuvollziehen und von Schiff zu Schiff unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe ansetzen. 860

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 522. Siehe hierzu auch Müller, Das Heuerverhältnis, S. 54 ff. 862 Hiervon geht auch das Internationale Arbeitsamt in den Guidelines for Port State Control Officers aus: (…) „as implemented in national Standards.“, siehe PSCO-Guidelines, S. 49; zustimmend BNPM/Bubenzer, § 138 Rn. 7. 861

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Die Hafenstaatkontrolle umfasst mindestens die in Anhang A5-III MLC aufgeführten Angelegenheiten, Norm 5.2.1 Abs. 2. Damit spiegelt der Mindestumfang der Hafenstaatkontrolle den Mindestumfang der Flaggenstaatkontrolle, Norm A5.1.3 Abs. 1, Anhang A5-I), sog. mirror-approach.863 Die Hafenstaaten sind nicht auf die Kontrolle dieser Angelegenheiten beschränkt, sondern können das Schiff auch auf die Einhaltung anderer Anforderungen der MLC überprüfen.864 c) Überprüfungsintervalle Wie oft ein Schiff überprüft wird, hängt nach den Vorgaben des Paris MoU,865 die gleichlautend von der Richtlinie 2009/16/EG übernommen wurden,866 vom Risikoprofil des Schiffes ab. Für jedes Schiff wird anhand der sog. allgemeinen Faktoren (engl.: Generic Parameters: Schiffstyp, Alter, Flaggenstaat, Reeder) und anhand der sog. historischen Faktoren (engl.: Historic Parameters: Anzahl der Mängel und Sanktionsmaßnahmen) ein Risikoprofil erstellt, und das Schiff wird in eine von drei Risikoklassen eingeteilt. Je nachdem, ob es sich um ein Qualitätsschiff, ein Standardrisikoschiff oder ein Risikoschiff (engl.: low-, standard-, high-risk ship) handelt, ist das Schiff alle 24, zwölf bzw. sechs Monate im Rahmen einer Standardkontrolle zu besichtigen.867 Stellt das Schiff ein konkretes Sicherheitsrisiko dar, ist es zusätzlichen Überprüfungen zu unterziehen. Auswahl und Risikoanalyse der Schiffe erfolgen in der europäischen Praxis durch eine Inspektionsberichtsdatenbank der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (engl.: European Maritime Safety Agency – EMSA).868 d) Ablauf der Überprüfung Die Hafenstaatkontrolle umfasst drei mögliche Schritte. Zunächst findet eine Eingangsinspektion statt (engl.: Initial Inspection). Dort, wo dies für nötig befunden wird, schließt sich der Eingangsinspektion eine „Genauere Überprüfung“ an, bei welcher alle MLC-relevanten Bereiche geprüft werden können. Im Rahmen der „Genaueren Überprüfung“ können vertrauliche Einzelgespräche mit Seeleuten über die Arbeitsbedingungen geführt werden. Sollten schwere Verstöße festgestellt werden, muss es zu Maßnahmen zur Behebung dieser Verstöße kommen, Norm A5.2.1 Abs. 6. Zur Eingangsinspektion gehört die Kontrolle aller relevanten Zeugnisse und Dokumente des Schiffes und seiner Besatzung durch den Hafenstaatkontrolleur. Hier 863 864 865 866 867 868

McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 554. MLC 2006, Frequently Asked Questions, Fourth Edition 2015, S. 73 Section 3, Annex 7 Paris MoU. Art. 10, Annex I, II Richtlinie 2009/16/EG. Art. 10, Annex I Abs. 2 Richtlinie 2009/16/EG; Section 3.2, Annex 8 Paris MoU. BNPM/Bubenzer, § 138 Rn. 6.

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gilt das Seearbeitszeugnis und die Seearbeits-Konformitätserklärung als Anscheinsbeweis dafür, dass das Schiff den Anforderungen der MLC entspricht, Regel 5.2.1 Abs. 2. Ob es sich bei der Eingangsinspektion um eine „reine Papierkontrolle“ handelt, sie also auf die Kontrolle der Schiffsdokumente beschränkt ist, ist hoch umstritten und wird unten gesondert erläutert.869 Besteht der Verdacht, dass gegen die Bestimmungen der MLC verstoßen wurde, kann der Hafenstaatkontrolleur eine „Genauere Überprüfung“ durchführen, um weiteren Aufschluss über die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord zu erhalten. Ein solcher Verdacht eines Verstoßes kann sich insbesondere darauf gründen, dass „1. die verlangten Dokumente nicht vorgelegt oder nicht geführt oder falsch geführt werden oder dass die vorgelegten Dokumente die durch die MLC vorgeschriebenen Informationen nicht enthalten oder sonst wie ungültig sind; oder 2. es eindeutige Gründe für die Annahme gibt, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Schiff nicht den Anforderungen der MLC genügen; oder 3. es triftige Gründe für die Annahme gibt, dass das Schiff die Flagge gewechselt hat, um die Einhaltung dieses Übereinkommens zu umgehen; oder 4. eine Beschwerde vorliegt, wonach spezifische Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Schiff den Anforderungen dieses Übereinkommens nicht genügen.“870

Es besteht damit ein Ermessensspielraum des Hafenstaatkontrolleurs, ob er eine „Genauere Überprüfung“ durchführt. In dem Fall, dass der Mangel eine eindeutige Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder den Schutz der Seeleute darstellen kann, oder in dem Fall, dass ein schwerwiegender Verstoß gegen die MLC vorliegt, muss in jedem Fall eine „Genauere Überprüfung“ stattfinden, Norm A5.2.1 Abs. 1 S. 2.871 Ob ein Verstoß schwerwiegend ist, liegt im Ermessen des Hafenstaatkontrolleurs. Bezieht sich die Beschwerde auf einen spezifischen Gegenstand, so ist die Prüfung in der Regel auf diesen Gegenstand beschränkt, Norm A5.2.1 Abs. 3. Kommt der Hafenstaatkontrolleur nach seiner Schiffsbesichtigung oder nach Gesprächen mit Seeleuten zu dem Schluss, dass das Schiff funktionstüchtig und in gutem Zustand ist und dass die Seeleute mit ihren allgemeinen Arbeitsbedingungen zufrieden sind, kann der Hafenstaatkontrolleur seine Überprüfung auf vereinzelte Bereiche beschränken, in denen er Mängel vermutet.872 Wird bei der Überprüfung festgestellt, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Schiff nicht den Anforderungen der MLC entsprechen, hat der Hafenstaatkontrolleur die Mängel unverzüglich dem Kapitän mitzuteilen. Gleichzeitig spricht er eine Frist zur Behebung der Mängel aus, Norm A5.2.1 Abs. 4 S. 1. Falls er die Mängel als schwerwiegend ansieht oder falls sie sich auf eine Beschwerde eines 869

Siehe hierzu ausführlich unten unter § 4 I. IV. 2. e). Norm A5.2.1 Abs. 1 S. 1. Gleichlautend: Art. 13, Anhang VA Nr. 16 – 19 der Richtlinie 2009/16/EG. 871 Gleichlautend: Art. 13, Anhang X Abs. 3.10 Nr. 8, 9 der Richtlinie 2009/16/EG. 872 PSCO-Guidelines, S. 34. 870

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

Besatzungsmitglieds beziehen, hat der Hafenstaatkontrolleur die infrage kommenden Seeleute- und Reederverbänden des Hafenstaates zu informieren, Norm A5.2.1 Abs. 4 S. 2. Außerdem kann er den Flaggenstaat informieren oder den zuständigen Stellen des nächsten Anlaufhafens die einschlägigen Informationen zur Verfügung stellen, um die Hafenstaatkontrolle im nächsten Anlaufhafen zu erleichtern, Norm A5.2.1 Abs. 4 S. 2 a. E. Grundsätzlich darf das Schiff, solange die Verstöße nicht zu einer Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder den Schutz der Seeleute führen oder die Verstöße eine schwere oder wiederholte Verletzung der MLC-Standards darstellen, zum nächsten Hafen weiterreisen. Dies geschieht unter der Bedingung, dass die Verletzungen innerhalb der vom Hafenstaatkontrolleur gesetzten Frist behoben werden.873 Wird hingegen festgestellt, dass die Bedingungen an Bord eindeutig eine Gefahr für die Sicherheit, die Gesundheit oder den Schutz der Seeleute darstellen oder dass die Nichterfüllung der Anforderungen eine schwere oder wiederholte Verletzung der MLC-Standards darstellt, hat der Hafenstaatkontrolleur das Auslaufen des Schiffes zu verhindern, Norm A5.2.1 Abs. 6 S. 1. Diese Festhaltung dauert so lange an, bis die Mängel behoben sind oder bis ein Aktionsplan (sog. Rectification Action Plan) vorgeschlagen wird, der die Behebung der Verstöße gewährleisten kann, Norm A5.2.1 Abs. 6 S. 1 a. E. Der Aktionsplan ist vom Reeder bzw. vom Kapitän des betroffenen Schiffes vorzuschlagen.874 Ob der Hafenstaatkontrolleur den Aktionsplan annimmt und von einem weiteren Festhalten des Schiffes absieht, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend ist u. a. der Zeitraum, in welchem der Verstoß behoben werden kann, die Länge der folgenden Reise, das Ausmaß der Gefährdung der Seeleute, vorangegangene Verstöße des Schiffs und die Anzahl der festgestellten Verstöße.875 Wenn der Hafenstaatkontrolleur von einem Festhalten absieht, informiert er die zuständige Stelle des nächsten Hafens.876 Diese kontrolliert die Umsetzung des Aktionsplans. Der Aktionsplan wird dem Prüfungsbericht des Hafenstaatkontrolleurs beigefügt. Er enthält eine Warnung des Hafenstaatkontrolleurs, dass eine mangelhafte Umsetzung in anderen Häfen zur Festhaltung des Schiffes führen kann.877 Folgende Mängel gelten als so schwerwiegend, dass das Schiff festgehalten werden kann (vgl. ILO-guideline for PSCO No. 98):878 - an Bord befindet sich ein Jugendlicher unter 16 Jahren; - Jugendliche unter 18 Jahren werden mit gesundheits- oder sicherheitsgefährdenden Arbeiten oder in Nachtarbeit beschäftigt; - unzureichende Besatzung; 873 874 875 876 877 878

Arg. ex Norm A5.2.1 Abs. 6; PSCO-Guidelines, S. 66. Ebd., S. 70. Ebd., S. 70 f. Ebd., S. 71 f. Ebd., S. 72. Ebd., S. 70 f.

I. Kontrolle und Durchsetzung

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- wiederholte Fälle eines fehlenden Tauglichkeits- bzw. Ausbildungsnachweises; - wiederholte Fälle, in denen Seeleute keine gültigen Verträge haben; - wiederholte Verstöße gegen die Arbeitszeitgrenzen; - Lüftung oder Heizung in den Unterkünften sind nicht funktionstüchtig; - unhygienische Verhältnisse in den Unterkünften, Messen und Sanitärbereichen; - unzureichende Vorräte an Nahrung und Trinkwasser; - fehlende medizinische Ausstattung; - wiederholte Fälle der Nicht- oder nicht rechtzeitigen Zahlung der Heuer. Entscheidet der Hafenstaatkontrolleur, das Schiff festzuhalten, muss er unverzüglich den Flaggenstaat benachrichtigen und ihm eine Frist zur Stellungnahme geben. Er muss einen Vertreter des Flaggenstaats ersuchen, nach Möglichkeit anwesend zu sein, Norm A5.2.1 Abs. 6 S. 2. Ferner hat er unverzüglich die in Betracht kommenden Verbände der Reeder und der Seeleute in dem prüfenden Hafenstaat informieren, Norm A 5.2.1 Abs. 6 S. 3. Das Festhalten des Schiffes ist „ultima ratio“ der Hafenstaatkontrolle. Der Hafenstaatkontrolleur ist angehalten, zu jeder Zeit und unter allen Umständen das Festhalten eines Schiffes zu vermeiden, Norm A5.2.1 Abs. 8.879 e) Problem: Anscheinsbeweis und Erstüberprüfung aa) Fragestellung Seearbeitszeugnis und Seearbeits-Konformitätserklärung sollen die Hafenstaatkontrollen erleichtern und gegenüber dem Hafenstaatkontrolleur den „Beweis des ersten Anscheins“ erbringen, dass das Schiff den Anforderungen der MLC genügt. Wörtlich bestimmt Regel 5.1.3: „Jedes Mitglied hat das Seearbeitszeugnis und die Seearbeits-Konformitätserklärung anzuerkennen, die nach Regel 5.1.3 als Anscheinsbeweis für die Erfüllung der Anforderungen dieses Übereinkommens (einschließlich der Rechte der Seeleute) vorgeschrieben sind. Infolgedessen ist die Überprüfung in seinen Häfen, außer in den im Code angegebenen Umständen, auf eine Prüfung des Zeugnisses und der Erklärung zu beschränken.“

Fraglich ist, ob die MLC durch diese Regel die Erstüberprüfung der Hafenstaatkontrolle – vorbehaltlich der zu beschreibenden Ausnahmefälle – als reine „Papierkontrolle“ betrachtet und eine Überprüfung in Form einer Erstbegehung des Schiffes verbietet. Der Wortlaut der Regel („auf eine Prüfung des Zeugnisses […] zu beschränken“) deutet auf ein solches Verständnis hin. Auch die PSCO-Guidelines stützen dies. Hier heißt es:

879

Vgl. auch Art. 19 Abs. 8 der Richtlinie 2009/17/EG; Section 3.13 Paris MoU.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

„Except in the four situations set out under paragraph 1(a)–(d) of Standard A5.2.1 […], a port State control inspection […] would be limited to carrying out a review of the ship’s Certificate and the DMLC. […] Where the PSCO having come on board finds that the documentation is valid and complete, the inspection would come to an end at that point unless there are clear grounds for believing that the working and living conditions on the ship do not conform to the requirements of the Convention.“880

Mit einem solchen Verständnis stünden die Vorgaben zur Hafenstaatkontrolle der MLC in einem direkten Widerspruch zu der geltenden Praxis der Hafenstaatkontrollen. Diese sieht eine Beschränkung der Erstkontrolle auf eine Prüfung der Schiffsdokumente nicht vor, sondern verlangt stets eine Erstbegehung des Schiffes. So heißt es in Richtlinie 2009/16/EG: „Bei jeder Erstüberprüfung eines Schiffes stellt die zuständige Behörde sicher, dass der Besichtiger […] sich einen Eindruck vom Gesamtzustand des Schiffes, einschließlich der hygienischen Verhältnisse, einschließlich des Maschinenraums und der Unterkunftsräume, verschafft.“881

Auch das Paris MoU bestimmt: „An initial inspection will consist of a visit on board the ship in order to: check the certificates and documents listed in Annex 10; check that the overall condition and hygiene of the ship including: navigation bridge; accommodation and galley; decks including forecastle; cargo holds/area; engine room meets generally accepted international rules and standards […].“882

Damit entsprechen Hafenstaatkontroll-Richtlinie und Paris MoU inhaltlich der IMO-Resolution zur Hafenstaatkontrolle.883 Auch nach dieser soll die Kontrolle der Hafenstaaten umfassen: „a visit on board a ship to check both the validity of the relevant certificates and other documents, and the overall condition of the ship, its equipment and its crew.“884 Die Harmonisierung der Hafenstaatkontrollen der MLC mit den Kontrollen zu den IMO-Instrumenten ist ein erklärtes Ziel der MLC. Die Integration der Hafenstaatkontrolle nach der MLC in das bestehende System der Hafenstaatkontrollen wurde bereits im Entstehungsprozess der MLC als „unbedingt erforderlich“ erachtet.885 So sieht die MLC ausdrücklich in Regel 5.2.1 Abs. 3 S. 1 vor:

880

PSCO-Guidelines, S. 24 f. Art. 13 Abs. 1 Richtlinie 2009/16/EG. 882 Section 3.2, Annex 9 Abs. 2 Paris MoU. 883 IMO Resolution A.1052 (27) on Port State Control Procedures, angenommen am 30.11.2011, abrufbar unter: http://www.imo.org/en/KnowledgeCentre/indexofimoresolutions/documents/a%20-%20as sembly/1052(27).pdf, letzter Abruf vom 14.10.2019. 884 Ebd, Rn. 1.7.5 885 ILO, Konsolidiertes Seearbeitsübereinkommen, Kommentar zu dem empfohlenen Entwurf, PTMC/04/2, Bemerkung Nr. 35. 881

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„Die Überprüfungen in einem Hafen sind […] in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Codes und anderer geltender internationaler Vereinbarungen über Überprüfungen im Rahmen der Hafenstaatkontrolle in dem Mitglied durchzuführen.“

Durch die Aussagen, einerseits die Erstüberprüfungen auf die Zeugniskontrollen zu beschränken, andererseits die Überprüfung „in Übereinstimmung mit den Bestimmungen geltender internationaler Vereinbarungen“ durchzuführen, ist die MLC in sich widersprüchlich. Beobachter des Verhandlungsprozesses zur MLC mutmaßen, die Verhandlungsparteien hätten versucht, eine mangelnde Einigung über das sensible Thema der Eingangskontrollen durch eine unklare Formulierung886 zu überspielen.887 Auch die deutsche Kommentarliteratur enthält sich einer klaren Aussage über den Umfang der Eingangsüberprüfungen. Hier heißt es lediglich, ein erfahrener Hafenstaatkontrolleur könne bereits auf seinem Weg von der Gangway in das Schiffsbüro mögliche Mängel an Bord feststellen.888 Wie auf diesem Weg Mängel beispielsweise in den Unterkünften der Besatzungsmitglieder festgestellt werden können sollen, bleibt unbeantwortet. bb) Stellungnahme Die Vereinbarkeit und Übereinstimmung der Hafenstaatkontrollen der MLC mit dem existierenden internationalen Kontrollsystem ist ausdrücklich auf Regelebene vorgesehen, Regel 5.2.1 Abs. 3. Würde man Erstbegehungen des Hafenstaatkontrolleurs nicht zulassen, wäre die Wirksamkeit der Hafenstaatkontrolle empfindlich eingeschränkt. Norm A5.2.1 Abs. 1 regelt abschließend, wann eine „Genauere Überprüfung“ der Arbeits- und Lebensbedingungen stattfindet, namentlich bei einem Fehler in den Zeugnisdokumenten, lit. a), eindeutigen Gründen für einen Verstoß gegen die MLC, lit. b), Flaggenwechsel, lit. c), und bei einer Beschwerde, lit. d). Unter diesen Gründen für eine „Genauere Überprüfung“ ist der zweitgenannte der einzige, der in konkreter Anschauung der Arbeits- und Lebensbedingungen des Schiffes durch den Hafenstaatkontrolleur erfolgt. Es stellt sich damit die Frage, wie ein Hafenstaatkontrolleur überhaupt Eindrücke von den Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Schiff gewinnen, geschweige denn „eindeutige Gründe“ für die Annahme eines Mangels erkennen können soll, ohne das Schiff bei einer Erstbe886

In der Tat ist auffällig, dass sich selbst die PSCO-Guidelines zur Hafenstaatkontrolle nach der MLC in der englischen und französischen Sprachfassung in beide Richtungen – Erstbegehung zulässig oder reine Papierkontrolle – verstehen lassen: Siehe PSCO-Guidelines, S. 25: Englisch: A PSCO having come on board should gain an impression of whether the ship is well maintained and operated. It should be borne in mind that the purpose of the inspection is (where applicable) to review the Certificate and DMLC. Französisch: Un agent chargé du contrôle par l’Etat du port devrait, après être monté à bord, se faire une idée de l’entretien et de la gestion du navire. 887 McConnell/Devlin/Doumbia-Henry, The MLC 2006, S. 553. 888 Bubenzer, in: Praxishandbuch SeearbeitsR, S. 236.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

gehung in Augenschein zu nehmen. Würde man die Eingangskontrolle abschließend auf die – vom Flaggenstaat ausgestellten – Zeugnisse beschränken, fände die Hafenstaatkontrolle – vorbehaltlich eines Zufallsfundes – weitestgehend ohne die konkrete Anschauung des Schiffes durch den Hafenstaatkontrolleur statt. Die Hafenstaatkontrolle könnte ihre Aufgabe als die Flaggenstaatkontrolle ergänzende Kontrollinstanz nicht mehr wahrnehmen. Vielmehr würde die Rolle des Flaggenstaats gestärkt, indem die Ordnungsgemäßheit der Schiffsdokumente die Kontrolle des Hafenstaats „blockieren“ würde. Ohne das Vorliegen eines objektiven Anknüpfungspunktes nach Norm A5.2.1 Abs. 1 lit. a), c), d) wäre die Hafenstaatkontrolle somit nichts weiter als eine erweiterte Flaggenstaatkontrolle. Die Zeugnisse sollen aber eigenständige Kontrolle durch die Hafenstaaten erleichtern, nicht einschränken. Richtigerweise ist daher trotz der widersprüchlichen Vorgaben durch die MLC in Gemäßheit der Hafenstaatkontrollrichtlinie und des Paris MoU bei jeder Eingangsüberprüfung eine Begehung des Schiffes, einschließlich der Aufenthaltsund Unterkunftsräume vorzunehmen. Diese Ansicht teilt auch die für die deutsche Hafenstaatkontrolle zuständige BG Verkehr. Sie geht davon aus, dass jede Erstbesichtigung des Hafenstaatkontrolleurs zwingend einen Rundgang über das Schiff enthält.889

V. Zusammenfassung und Bewertung Die MLC hat es sich zur Aufgabe gemacht, das internationale Seearbeitsrecht zu konsolidieren, um ein „level playing field“ für die Reeder und eine „Bill of Rights“ für die Seeleute zu schaffen. Dies kann nur gelingen, wenn die gesetzten Standards in der Praxis universelle Anwendung finden und durchgesetzt werden. Die Vorschriften des 5. Titels gelten daher als Herzstück der MLC. Die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der internationalen Handelsschifffahrt steht und fällt mit einer effektiven Kontrolle. Die MLC sieht die Stärkung aller drei Kontrollinstanzen vor. Das Besatzungsmitglied wird durch ein umfassendes Beschwerdesystem in die Lage versetzt, Missstände auf dem Schiff an externe Stellen weiterzuleiten. Die Flaggenstaaten müssen ihre Schiffe umfassend kontrollieren und größere Schiffe auf internationaler Fahrt mit Schiffszertifikaten ausstatten, die die Übereinstimmung des Schiffes mit den nationalen und internationalen Standards dokumentieren. Die 889

Sie beschreibt den Ablauf einer Eingangsbesichtigung wie folgt: „[Die Eingangskontrolle] beginnt bereits beim Anbordgehen und mit der Besichtigung des Außenzustandes des Schiffes. An Bord stellen sich die Inspektoren kurz vor und besprechen mit dem Kapitän den weiteren Ablauf. Anschließend werden alle Zeugnisse und Dokumente des Schiffes und der Besatzung geprüft. Danach folgt ein Rundgang über die Brücke, die Aufbauten, das Hauptdeck, den Wohn- und Arbeitsbereich und den Maschinenraum. Reine Papierkontrollen gibt es also nicht. Wenn die Besichtiger bei der Eingangskontrolle größere Mängel feststellen, untersuchen sie das Schiff intensiver (,More Detailed Inspection‘)“, abrufbar unter: http://www.deutsche-flagge.de/de/psc/ablauf-der-besichtigungen#Erstbesichtigung, letzter Abruf vom 14.10.2019.

I. Kontrolle und Durchsetzung

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Hafenstaaten, die anzufahren im Gegensatz zur Wahl des Flaggenstaates nicht im Belieben des Reeders steht, werden mit umfassenden Kontrollbefugnissen ausgestattet und in den Stand versetzt, das Schiff bei einem schweren Verstoß gegen die Vorschriften der MLC an der Weiterfahrt zu hindern. Die genannten Kontrollinstanzen stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern sind ineinander verwoben. Der Flaggenstaat kontrolliert und zertifiziert das Schiff. Die Schiffszertifikate zeigen dem Kontrolleur des Hafenstaates die Besonderheiten des Flaggenstaates auf und versetzen ihn in die Lage, diese Besonderheiten bei seiner Kontrolle zu berücksichtigen. Die Schiffszertifikate sind ein Anscheinsbeweis für die Übereinstimmung der Arbeits- und Lebensbedingungen auf dem Schiff mit den internationalen Vorschriften. Dieser Anscheinsbeweis wird unter anderem dann erschüttert, wenn eine Beschwerde eines Besatzungsmitglieds über die Arbeits- und Lebensbedingungen vorliegt. Die Kontrolldichte der Hafenstaatkontrolle ist beim Vorliegen einer solchen Beschwerde erhöht. Das Zusammenspiel von Beschwerde und Hafenstaatkontrolle sorgt also dafür, dass die vom Flaggenstaat ausgestellte und in den Schiffszertifikaten verbürgte „Unbedenklichkeitserklärung“ in bestimmten Fällen widerlegt ist, zumal ein aufgedeckter Verstoß dazu führt, dass das Schiff zukünftig häufiger kontrolliert wird. Im Jahr 2017 wurden in den 27 Hafenstaaten des Paris MoU 17.916 Schiffskontrollen durchgeführt; mehr als die Hälfte hiervon durch sieben Mitgliedstaaten – namentlich die „alten“ Seefahrernationen Spanien, Italien, Großbritannien, Niederlande, Russland, Deutschland und Frankreich.890 Hierbei wurden insgesamt 40.742 Sicherheitsmängel festgestellt, hierunter 8.039 die MLC betreffende Mängel.891 Insgesamt deckte die Hafenstaatkontrolle in 52 % aller Kontrollen einen oder mehrere Mängel in der Schiffssicherheit auf, im Durchschnitt 2,3 Mängel pro kontrollierem Schiff.892 Als besorgniserregend gilt vor allem die Zunahme der „Detainable Deficiencies“, also derjenigen schwerwiegenden Mängel, die eine Schiffsfesthaltung rechtfertigen. Von 2014 bis 2017 erhöhte sich die Anzahl solcher Mängel um 17 %.893 Als Grund hierfür gilt der gestiegene Kostendruck im weltweiten Seehandel, der Schiffseigentümer dazu verleitet, die Betriebskosten der Schiffe durch unzulässige Eingriffe in die Schiffssicherheit zu senken.894 Ein positives Fazit zieht der aktuelle Jahresbericht hingegen mit Blick auf die MLC. Keiner der fünf am häufigsten beanstandeten Mängel betrifft direkt die Vorschriften des Übereinkom890

Paris MoU, Annale Report 2017, S. 31, abrufbar unter: https://www.parismou.org/2017-paris-mou-annual-report-%E2%80%9Csafeguarding-re sponsible-and-sustainable-shipping%E2%80%9D, letzter Abruf vom 14.10.2019. 891 Paris MoU, Annual Report 2017, S. 22, 52. 892 Ebd., S. 22. 893 Ebd. 894 So die Bewertung – bei vergleichbaren Zahlen ein Jahr zuvor – des Paris MoU, Annual Report 2016, S. 7, abrufbar unter: https://www.parismou.org/2016-paris-mou-annual-report-%E2%80%9Cseafarers-matter% E2%80%9D, letzter Abruf vom 14.10.2019.

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§ 4 Das Seearbeitsgesetz

mens.895 Eine Ende 2016 durchgeführte Concentrated Inspection Campaign im Hinblick auf die MLC ergab „im Allgemeinen (…) eine angemessene Umsetzung der Vorschriften an Bord der Schiffe“.896 Ebenfalls positiv zu bewerten ist, dass ein historisches Problem des Seearbeitsverhältnisses, nämlich die fehlende Einhaltung der Arbeits- und Ruhezeiten, an praktischer Relevanz verliert. Standen 2014 noch 20,94 % der MLC-bezogenen Verstöße im Zusammenhang mit der Arbeitszeit,897 so sind es 2017 nur noch 9,5 %.898 Endgültige Schlussfolgerungen aus diesen Zahlen abzuleiten, ist verfrüht. Die ersten belastbaren Aussagen über die Implementierung der MLC deuten auf eine hohe internationale Akzeptanz und ein hohes Umsetzungsniveau hin. Ob die nach wie vor hohe Anzahl der Verstöße eher Ausdruck des Funktionierens der Hafenstaatkontrolle ist oder vielmehr Ausdruck der mangelhaften Umsetzung der MLC durch Flaggenstaaten und Reeder, ist noch nicht mit Sicherheit feststellbar. Jedenfalls zeigen die Zahlen, dass die – oft als entscheidende Kontrollinstanz wahrgenommenen – Hafenstaaten willens sind, ihr Recht auf ein „level playing field“ in der internationalen Handelsschifffahrt gegenüber der Konkurrenz der Billigflaggen durchzusetzen.899

895 Paris MoU, Annual Report 2017, S. 15: The 5 most frequently recorded deficiencies in 2017 were „ISM“ (4,35 %, 1.774), „fire doors/openings in fire-resisting divisions“ (2,51 %, 1.024), „nautical publications“ (2,28 %, 929), „charts“ (1,96 %, 929) and „voyage or passage plan“ (1,46 %, 594). 896 Paris MoU, Annual Report 2016, S. 14. 897 Paris MoU, Annual Report 2014, S. 48, abrufbar unter: https://www.parismou.org/2014-annual-report-paris-mou-psc, letzter Abruf vom 14.10.2019. 898 Paris MoU, Annual Report 2017, S. 52. 899 Ein positives Fazit, gerade mit Blick auf die Kontrollmechanismen zieht auch Zimmer, EuZA 2015, 297, 312.

§ 5 Zusammenfassende Thesen Zu § 2, Die Geschichte des Seearbeitsverhältnisses

1.

Die Ursprünge des Seearbeitsverhältnisses liegen im genossenschaftlichen Schiffsbetrieb des Mittelalters. Die Beteiligten teilen Erfolg und Risiko der Schiffsunternehmung und entscheiden in nautischen wie wirtschaftlichen Fragen gemeinsam. Die abhängige Beschäftigung spielt nur eine untergeordnete Rolle.

2.

Die wichtigste seearbeitsrechtliche Kodifikation des späten Mittelalters enthält das Konsulat der See von ca. 1370. Die Barceloneser Gesetzessammlung gilt als „Mutter aller Seerechte“. Zusammen mit den Rôles d’Oléron aus dem 13. Jahrhundert und den Gesetzen der Hanse prägt das Konsulat der See bis in die Neuzeit das See- und Seearbeitsrecht Europas.

3.

Mit den genannten Kodifikationen beginnt die abhängige Beschäftigung auf See. Das Konsulat der See enthält detaillierte Vorschriften zu Heuerzahlung, Kündigung, Verpflegung und Fürsorge. Der Grundsatz „Die Fracht ist die Mutter der Gage“, das Recht der Seeleute zur Führung eigener Handelswaren und die Kontributionspflicht der Seeleute beim Schiffswurf sind Ausprägungen der Risiko- und Gewinnteilung und damit der genossenschaftlichen Betriebsweise.

4.

Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts gehen die genossenschaftlichen Elemente im Seearbeitsverhältnis zurück. Insbesondere verlieren die Seeleute das „Recht der Führung“, durch das sie als Kleinunternehmer an einer erfolgreichen Schiffsreise partizipieren. Auch wächst der staatliche Einfluss auf die Arbeitsverhältnisse der Seeleute. Vertragsschluss, Heimschaffung und Fürsorge werden zum Teil unter staatliche Aufsicht gestellt. Mit dem Aufkommen der Trampschifffahrt im 18. Jahrhundert wird auch die längerfristige Anstellung des Seemanns üblich.

5.

Trotz der fortschreitenden Hierarchisierung des Schiffsbetriebs gilt das Seearbeitsverhältnis bis zum Aufkommen der Dampfschifffahrt als eine „in Achtung und Anerkennung des seemännischen Handwerks erwachsene gegenseitige Treueverpflichtung“ zwischen Seemann und Schiffseigentümer. Da ein Seemann das Segelschiff als Funktionseinheit im Ganzen kennenlernt, kann er in der Schiffshierarchie aufsteigen.

6.

Die Dampfschifffahrt bringt ab dem 19. Jahrhundert eine Verelendung vieler Seeleute. Unter Deck, wo ungelernte Heizer und Kohlenzieher den Großteil der

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§ 5 Zusammenfassende Thesen

Besatzung ausmachen, herrschen Hitze, Dunkelheit und Platzmangel. Erste Arbeitszeitregelungen entstehen Mitte des 19. Jahrhunderts, sie gelten jedoch nur im Hafen und werden oft nicht eingehalten. 7.

Der Zerfall des Berufsbilds „Seemann“ in verschiedene, unterschiedlich qualifizierte Berufe sowie die Schwierigkeit des räumlichen Zusammenschlusses und strenge Disziplinarvorschriften sorgen dafür, dass die gewerkschaftliche Organisation auf See später stattfindet als an Land. Erst ab den 1920er Jahren sorgen Tarifverträge für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.

8.

Nach dem Übergang vom dampf- zum motorbetriebenen Seeschiff postuliert das Seemannsgesetz von 1957 den Grundsatz, das Seearbeitsverhältnis dem Landarbeitsverhältnis so weit wie möglich anzugleichen. Bei der Auslegung des Seearbeitsgesetzes ist dieses Angleichungsgebot von zentraler Bedeutung.

9.

Durch die Praxis der Ausflaggung in sog. „Billigflaggen“ und der hiermit einhergehenden Möglichkeit, ausländische Seeleute zu den Arbeitsbedingungen ihrer Heimatstaaten zu beschäftigen, entsteht ab den 1970er Jahren ein globalisierter Arbeitsmarkt für Seeleute. Es gelingt der ILO zunächst nicht, weltweite Standards für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute zu schaffen. Jene Standards gelten daher als „schwächstes Glied“ im internationalen Normengerüst.

10. Um die Totalausflaggung der deutschen Handelsflotte zu verhindern, erlaubt es die Bundesrepublik Deutschland seit den 1980er Jahren, ausländische Seeleute auch auf deutschen Schiffen zu ihren „Heimatheuern“ zu beschäftigen. Besetzungsvorschriften stellen sicher, dass Offizierspositionen an Bord von EUBürgern besetzt werden. 11. Mit der 2013 in Kraft getretenen Maritime Labour Convention (MLC) schafft die ILO eine „Bill of Rights“ für die Seeleute in der weltweiten Seeschifffahrt. Sie soll für die Reeder ein „level playing field“ schaffen, das einen Wettbewerb der Flaggenstaaten um möglichst geringe Schutzstandards verhindert. Das im August 2013 in Kraft getretene Seearbeitsgesetz setzt die Vorgaben der MLC in das nationale Recht um. 12. Die epochenübergreifende Betrachtung zeigt, dass das Seearbeitsverhältnis stark von den technischen Rahmenbedingungen geprägt ist. Als abhängig Beschäftigter hat der Seemann in wirtschaftlicher und nautischer Hinsicht in der Segelschifffahrt eine Bedeutung für die Unternehmung, die der Arbeitnehmer an Land bis heute nicht hat. Er wird zur möglichst breiten Risikoteilung innerhalb der von Unsicherheiten geprägten Schiffsunternehmung durch unternehmerische Rechte und Pflichten Teil der Risikogemeinschaft. Als das Landarbeitsverhältnis noch von der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft geprägt ist und der Arbeiterschutz kaum eine Rolle spielt, kennt das Seearbeitsverhältnis bereits Kündigungsrecht und Fürsorgeanspruch. Auch wenn unternehmerische Elemente im Laufe der Zeit zurückgehen, bleibt es dabei, dass der Seemann

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durch seine handwerklichen Fähigkeiten unersetzbarer und geachteter Teil einer Schicksalsgemeinschaft ist. In der Dampfschifffahrt fällt das Bedürfnis nach einer Risikoteilung ebenso weg wie die Unersetzlichkeit des Seemanns in nautischer Hinsicht. Stattdessen verlangt der Schiffsbetrieb eine Vielzahl von ungelernten Arbeitern, die bereit sind, einen ununterbrochenen Schiffsbetrieb mit einfachen Arbeiten aufrecht zu erhalten. Als sich an Land Arbeitsschutz und organisierte Lohnarbeit entwickeln, werden Seeleute auf See oft mit Sklaven verglichen, da sie unter Deck härteste Arbeit weitgehend ohne Arbeitsschutz leisten. Mit Einführung des Dieselmotors sind die technischen Rahmenbedingungen geschaffen, See- und Landarbeitsverhältnis weitgehend anzugleichen. Ob sich diese Angleichung vollzieht, hängt entscheidend davon ab, ob sich im internationalen Schiffsverkehr universell geltende Arbeits- und Schutzstandards etablieren oder ob das Schutzniveau, wie es in der zweiten Hälfte 20. Jahrhunderts üblich war, im Deregulierungseifer einzelner Flaggenstaaten gefunden wird. Zu § 3, Die Maritime Labour Convention

13. Der Entstehungsprozess zur MLC war zwischen Seeleute-, Reederei- und Regierungsvertretern weitgehend konfliktarm. Dies liegt vor allem an der Kohärenz der Verhandlungsziele. Eine „Bill of Rights“ für Seeleute kann nur dann universelle Geltung entfalten, wenn es ein „level playing field“ für die Reeder und Flaggenstaaten gibt. 14. Die MLC zeichnet sich durch vier Nachhaltigkeitsmerkmale aus: Konsolidierung, Aktualisierung, Flexibilisierung und Kontrolle. Sie fasst sämtliche Fragen der Arbeits- und Lebensbedingungen auf See in einem Instrument zusammen, kann bei Veränderungen der Rahmenbedingungen leicht angepasst werden, gibt den Mitgliedsstaaten Spielraum bei der Umsetzung und führt ein umfassendes Kontrollsystem ein. 15. Die Möglichkeit, auch verbindliche Vorschriften durch „im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen“ zu ersetzen, birgt das Risiko, dass Flaggenstaaten das Schutzniveau der MLC aufweichen. Dies ist auch deswegen der Fall, da der Begriff der „wesentlichen Gleichwertigkeit“ Interpretationsspielräume lässt. In der Praxis wird allerdings von dieser Flexibilisierungsmöglichkeit bislang selten Gebrauch gemacht. 16. Die von der MLC gesetzten Standards werden in der Praxis bislang angenommen. Hauptgrund hierfür ist das Funktionieren des Kontrollsystems, insbesondere der Hafenstaatkontrolle. Zu § 4, Allgemein

17. Es besteht seit dem Inkrafttreten des Seemannsgesetzes die gesetzgeberische Intention, das Seearbeitsverhältnis dem Landarbeitsverhältnis so weitgehend

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wie möglich anzugleichen. Dieses Angleichungsgebot hat die folgenden Ausprägungen: – Der Gesetzgeber darf in „schifffahrtsneutralen“ Bereichen kein Sonderarbeitsrecht für Seeleute schaffen. – Der Gesetzgeber muss besondere Rechte der Seeleute schaffen, um einen der Arbeit auf See immanenten Nachteil zum Landarbeitsverhältnis auszugleichen. Er kann Pflichten der Seeleute schaffen, um den besonderen Gefahren der Seeschifffahrt zu begegnen. Diese seearbeitsspezifischen Rechte und Pflichten können als „Angleichungskorrekturen“ bezeichnet werden. 18. Bei der Auslegung seearbeitsrechtlicher Normen ist das Angleichungsgebot zu beachten: Im Zweifel ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber eine Abweichung vom Landarbeitsrecht nur dort will, wo die Abweichung aufgrund der Besonderheiten der Seeschifffahrt zwingend erforderlich ist. Zu § 4, Anwendungsbereich der MLC

19. Die Zusammenfassung sämtlicher an Bord beschäftigten Personen unter dem Begriff „Besatzungsmitglied“ nach § 3 SeeArbG ist Ausdruck der Vielgestaltigkeit der Berufe, die insbesondere auf Fahrgastschiffen vorkommen. 20. Der Gesetzgeber schafft ein Regel-Ausnahme-Verhältnis: Das Seearbeitsgesetz ist grundsätzlich für sämtliche an Bord beschäftigten Personen anwendbar, es sei denn, das Gesetz bestimmt ausdrücklich etwas anderes. 21. Keine Besatzungsmitglieder sind bestimmte Personengruppen mit zeitlich begrenztem Aufenthalt an Bord. Die zeitlichen Grenzen beschreiben – was aus dem Gesetz nicht ausdrücklich hervorgeht – die Höchstdauer des Aufenthalts an Bord, nicht die reinen „Netto-Arbeitszeiten“. 22. Der gewöhnliche Arbeitsort des Besatzungsmitglieds i. S. d. Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO ist nach dem Flaggenstaatsprinzip grundsätzlich der Staat, dessen Flagge das Schiff führt. 23. Auf Schiffen unter deutscher Flagge, die im internationalen Seeschifffahrtsregister eingetragen sind, können ausländische Seeleute zu den Arbeitsbedingungen ihrer Heimat beschäftigt werden. Dies folgt aus § 21 Abs. 4 des Flaggenrechtsgesetzes. Das BVerfG hat die Vorschrift für verfassungsgemäß befunden. Ein entscheidungserhebliches Abwägungskriterium war die Verhinderung der Totalausflaggung der deutschen Flagge und des Totalverlusts deutscher Arbeitsplätze auf See. Zu § 4, Reederbegriff und Reederhaftung

24. Das Seearbeitsgesetz sieht im Einklang mit der MLC vor, dass nicht nur der Reeder, sondern auch eine andere Person Arbeitgeber des Besatzungsmitglieds sein kann.

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25. Die damit vorgesehene Trennung zwischen Reeder- und Arbeitgeberstellung hebt das Seearbeitsgesetz jedoch sprachlich weitgehend auf, indem es – wie das Seemannsgesetz – die Begriffe „Reeder“ und „Arbeitgeber“ synonym verwendet. Dies ist ein „Geburtsfehler“ des Seearbeitsgesetzes. Durch Auslegung ist für jede Vorschrift zu ermitteln, ob „Reeder“ den Reeder i. S. d. § 4 Abs. 1 SeeArbG oder den nicht mit dem Reeder identischen Arbeitgeber meint. 26. Um den Reeder an der „Flucht aus der Verantwortung“ für die Arbeits- und Lebensbedingungen der Seeleute zu hindern, wird nach Vorgabe der MLC die Reederhaftung für die Mindestbedingungen des Seearbeitsgesetzes eingeführt. Die Reederhaftung ist eine vertraglich begründete Ausfallhaftung. Zu § 4, Vertragsschluss

27. Durch die Pflicht des Arbeitgebers, dem Besatzungsmitglied vor Vertragsschluss einen Vertragsentwurf zu übermitteln, wird dem in der internationalen Seeschifffahrt nach wie vor aktuellen Problem begegnet, dass Seeleute einen Vertrag unter wirtschaftlichem Zwang und ohne Kenntnis ihrer Rechte abschließen. 28. Nach dem Sinn und Zweck handelt es sich bei der Übermittlungsfrist des § 28 Abs. 1 S. 3 SeeArbG um eine reine Prüfungsfrist und keine Überlegungsfrist. Entsprechend kommt eine Höchstlänge der Frist in Anlehnung an das Verbraucherschutzrecht nicht in Betracht. Zu § 4, Dienst- und Folgeleistungspflichten

29. Das Seearbeitsverhältnis kennt seit dem Seemannsgesetz eine strenge Trennung zwischen privatrechtlich begründeter Dienstleistungspflicht und öffentlichrechtlich begründeter Folgeleistungspflicht. Das Seearbeitsgesetz übernimmt diese Unterscheidung. Der Gesetzgeber hätte die Unterscheidung durch Trennung der Begriffe „Weisung“ und „Anordnung“ deutlich machen sollen. 30. Das Besatzungsmitglied hat in Notsituationen weitreichende Dienstleistungspflichten zur Gefahrenabwendung. Getreu dem seemännischen Grundsatz „Eine Hand für den Mann, eine Hand für das Schiff“ muss er sich aber nicht in eine unkontrollierbare Lebensgefahr begeben. 31. Die auch im Hafen bestehende Bordanwesenheitspflicht dient der Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Schiffsbetriebs. Sofern der ordnungsgemäße Schiffsbetrieb es nicht erfordert, hat das Besatzungsmitglied Anspruch auf Landgang. 32. Landgangsanspruch und Urlaubsanspruch sind wesensverschieden. Ersterer ist eine Angleichungskorrektur des Gesetzgebers zu der durch die Besonderheiten des Schiffsbetriebs bedingten Anwesenheitspflicht. Der Urlaub dient der Erholung und gibt dem Besatzungsmitglied ein Recht auf Heimkehr.

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33. Die Vorschriften zur Dienstleistungspflicht in Gefahrensituationen gelten im Wege der teleologischen Reduktion nur für seemännische Besatzungsmitglieder. Sowohl entstehungsgeschichtlich als auch ihrem Sinn und Zweck nach sind die beschriebenen Vorschriften nicht für andere Besatzungsmitglieder zugeschnitten. Zu § 4, Arbeits- und Ruhezeiten

34. Im Arbeitszeitrecht zeigt sich der größte Unterschied zwischen Land- und Seearbeitsverhältnis. Der Schiffsbetrieb steht weder auf See noch im Hafen still. Dies spiegelt sich im Arbeitszeitregime der Besatzungsmitglieder wider. 35. Das Seearbeitsverhältnis kennt eine tägliche Regelarbeitszeit von acht Stunden. Anders als im Landarbeitsverhältnis dient die Regelarbeitszeit aufgrund der zahlreichen schiffsbetriebsbedingten Ausnahmen weniger als Arbeitszeitbegrenzung, sondern vielmehr als Rechengröße für die Überstundenvergütung. 36. Die Arbeitszeiten des Servicepersonals entsprechen weder denen des seemännischen Personals noch denen des Servicepersonals an Land. Der Gesetzgeber geht einen „dritten Weg“, der mit Blick auf das Angleichungsziel problematisch ist. Hier wäre die Anwendung des Arbeitszeitgesetzes sachgerecht. 37. Die im MTV-See 2014 vorgesehene tarifliche Pauschalierung von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit ohne Ansehung der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden ist contra legem, da § 51 Abs. 3 SeeArbG einen Mindestzuschlag für die genannten Arbeiten vorsieht und die Vorschrift nicht tarifdispositiv ist. 38. Die Offshore-Arbeitszeitverordnung schafft ein praktikables Arbeitszeitregime für die Offshore-Arbeit. Die Verordnung ermöglicht ein Zwei-Schichten-System an der Offshore-Arbeitsstelle. Hierfür werden die Arbeitszeiten von Offshore-Besatzungsmitgliedern und Offshore-Arbeitnehmern synchronisiert. Zu § 4, Urlaub und Heimschaffung

39. Durch die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers für die Reisekosten ist der Urlaubsanspruch im Seearbeitsverhältnis auch ein Heimkehranspruch. 40. Anders als das Bundesurlaubsgesetz kennt das Seearbeitsgesetz keine Wartezeit für den vollen Urlaubsanspruch. Im Zusammenspiel mit der Vorschrift, wonach das Urlaubsentgelt bei zu viel gewährtem Urlaub nicht zurückfordert werden kann, birgt die Vorschrift Missbrauchsrisiken. 41. Das Besatzungsmitglied hat nach § 59 SeeArbG ein umfassendes Wahlrecht hinsichtlich des Urlaubsorts. „Ort“ ist im Sinne einer Stadt oder politischen Gemeinde zu verstehen, um die Kostentragungspflicht des Arbeitgebers nicht zu unterlaufen. Will das Besatzungsmitglied seinen Urlaub an einem anderen als den genannten Orten verbringen, hat der Arbeitgeber die Kosten bis zu den hypothetisch anfallenden Reisekosten zum gesetzlich vorgesehenen Urlaubsort zu tragen.

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42. Der Heimschaffungsanspruch ist parallel zum Urlaubsanspruch ausgestaltet. Eine Kostentragungspflicht des Besatzungsmitglieds für die Heimschaffung besteht nur in engen Ausnahmefällen. Entgegen dem Wortlaut des § 76 Abs. 5 SeeArbG hat das Besatzungsmitglied die Kosten nur dann zu tragen, wenn verhaltensbedingte Gründe den Arbeitgeber zur Kündigung veranlassen. Zu § 4, Kündigung

43. Folgende tatsächliche Besonderheiten der Arbeit auf See weisen eine kündigungsrechtliche Relevanz auf: Die herausragende Rolle des Betriebsfriedens, die hohe Sicherheitsrelevanz der seemännischen Tätigkeit, die Kongruenz von Lebens- und Arbeitsraum und die eingeschränkte Möglichkeit der Umsetzung auf einen anderen Arbeitsplatz. 44. Eine Störung des sozialen Friedens wiegt auf dem Schiff in der Regel schwerer als an Land. Dies folgt bereits aus § 120, der ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen einem von Achtung und Rücksichtnahme geprägten Arbeitsumfeld und der Schiffssicherheit herstellt. 45. Die Schwere einer Pflichtverletzung durch willensgetragenes Verhalten ist danach zu bestimmen, welchen Grad an Gefährdung sie für das Schiff bedeutet. Sie wiegt – wie dies auch im Landarbeitsverhältnis anerkannt ist – umso schwerer, wenn eine Gefährdung Dritter zu besorgen ist. 46. Die betrieblichen Auswirkungen sind bei häufigen Kurzzeiterkrankungen im Seearbeitsverhältnis in der Regel schwerer als im Landarbeitsverhältnis. Überbrückungsmaßnahmen sind hier selten möglich. Ein kurzfristiger Arbeitsausfall eines seemännischen Besatzungsmitglieds führt regelmäßig dazu, dass ein anderes Besatzungsmitglied die gesetzlichen Arbeitszeitgrenzen überschreitet. 47. Die „Crewing-Entscheidung“ des BAG hat klargestellt, dass sich die Leitungsmacht des Schiffes nicht in einen Planungsteil und einen ausführenden Umsetzungsteil aufteilen lässt. Sofern der Reeder die Bemannung des Schiffes durch ein externes Unternehmen vornehmen lässt, aber trotzdem weiterhin Weisungen an die Mannschaft erteilt, liegt in der Kündigung seiner bisherigen Mannschaft eine unzulässige Austauschkündigung. 48. Der Regelbeispielkatalog für die außerordentliche Arbeitgeberkündigung fügt sich nicht in die – auch im Seearbeitsrecht maßgebliche – allgemeine Kündigungsdogmatik ein. Der Katalog ist daher überflüssig. Zu § 4, Kontrolle und Durchsetzung

49. Die Kontrolle und Durchsetzung der MLC wird durch das Beschwerdeverfahren an Bord, die Flaggenstaat- und die Hafenstaatkontrolle gewährleistet. Die Vorschriften der MLC hierzu sind nicht durch „im Wesentlichen gleichwertige Regelungen“ ersetzbar.

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50. Nach dem Vorbild der IMO-Konventionen führt die MLC mit dem Seearbeitszeugnis und der Seearbeits-Konformitätserklärung Dokumente ein, die die Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord zertifizieren. Ihr Vorliegen ist gegenüber der Hafenstaatkontrolle der „Anscheinsbeweis“ für die MLC-Konformität des Schiffes. Trotz dieses Anscheinsbeweises ist stets eine Erstbegehung des Schiffes durch die Hafenstaatkontrolle vorzunehmen. 51. Die Hafenstaatkontrolle ist der wichtigste Baustein des internationalen Kontrollregimes. Vor Inkrafttreten der MLC war die Hafenstaatkontrolle, die international durch Memoranda of Understanding geregelt ist, in der Praxis auf die Überprüfung der Schiffstechnik und der Schiffssicherheit beschränkt. 52. Prüfungsmaßstab der Hafenstaatkontrolle sind die Vorschriften der MLC in Gestalt der jeweiligen nationalen Umsetzung. Die Aussage, Prüfungsmaßstab sei die MLC selbst, ist fehlerhaft, da die MLC nicht vollständig self-executing ist. 53. Die Hafenstaatkontrolle sieht ein gestuftes Sanktionssystem vor, wenn Mängel bei den Arbeits- und Lebensbedingungen festgestellt werden. Die schärfste Sanktion ist die Festhaltung des Schiffes. 54. Erste Statistiken zur Hafenstaatkontrolle weisen auf eine hohe internationale Akzeptanz und eine hohes Umsetzungsniveau der MLC hin. Das Ziel, eine international anerkannte „Bill of Rights“ für Seeleute zu schaffen, scheint die MLC erreicht zu haben.

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Sachwortverzeichnis Aktionsplan 282 Alkoholmissbrauch 256 Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch 70 Amalfi 37 f., 40 Anderer Arbeitgeber i. S. d. § 4 SeeArbG 153, 157 Anerkannte Organisationen 111, 283 Angleichungskorrektur 124, 174 f., 183, 191 f., 207, 227, 236, 241 f., 269, 306 f. Anordnungsbefugnis 85, 176 f., 180, 186, 192 Anscheinsbeweis (Hafenstaatkontrolle) 297 Anschlusszone 142 Arbeitsschutz 81, 83, 87, 109, 161, 284 Arbeitsvermittlung 74, 104, 113 Arbeitsverweigerung 255 Aufgabe der Reederstellung 264 Außerdienstliches Verhalten 258 Ausflaggung 22, 87, 99, 144, 264, 288, 304 Ausrüster 155 Ausschließliche Wirtschaftszone 142, 150, 219, 221, 223 Baltic and International Maritime Council 154 Bareboat-Charter 155, 266 Befehlsgewalt 28, 56, 77, 85 f. Bereederungswechsel 266 Bergungsschiff 73 Besatzungsmitglied (Definition) 131 Beschwerdeverfahren 111, 169, 278 – 280, 282, 309 Betreiberpersonal (Offshore) 138, 222 Betriebs(teil)übergang 265 Betriebs- und Bordvereinbarung 214 Betriebsfrieden 252, 309 BG Verkehr 125, 132, 248, 281, 283 – 285, 287, 300 Bill of Rights 22, 94, 113

Billigflagge 22, 87, 141 Binnenschifffahrt 126, 130 Bordanwesenheitspflicht 56, 84, 124, 179, 181 – 183, 185, 192, 307 Bundesflagge 88, 128 f., 146, 150 Byzantinisches Seerecht 35, 37 Capitulare nauticum 40 Chartervertrag 45 Colonna 39 Containerschifffahrt 79 Crewing-Entscheidung 265, 309 Dampfschifffahrt 36, 46, 56, 59, 66, 69, 79, 92, 303, 305 Dänisches Seerecht von 1561 53 Danziger Willkür von 1455 63 Desertion 79, 85 Deutsches Kaiserreich 66 „Die Fracht ist die Mutter der Gage“ 51, 58, 61, 71, 92, 303 Dienstleistungspflicht 173, 176 f., 179, 183 Dienststelle Schiffssicherheit 25, 125 Dieselmotor 79, 86, 92, 305 Direktionsrecht 177 Disziplinargewalt 20 Drei-Wachen-System 76, 195, 198 Drogenmissbrauch 256 East India Company 60 Eigner-Reeder 153 Eignungsmangel 259 „Eine Hand für den Mann, eine Hand für das Schiff“ 179, 307 Eingriffsnorm (i. S. v. § 9 Rom I-VO) 148 Errichterpersonal (Offshore) 138, 222 Errichterschiff 128, 218 Europäische Transportarbeiter-Föderation 120 Excercitor navis 30

Sachwortverzeichnis Fahrgastschiffe 134, 196, 213 Festlandsockel 142 Flaggenrechtsgesetz 89, 129, 143 f., 306 Flaggenrechtsverordnung 129 Flaggenstaat 22 Flaggenstaatkontrolle 121, 279, 283, 288, 294, 300 Flaggenstaatsprinzip 141 f., 306 Folgeleistungspflicht 25, 28, 86, 124, 133, 176 f., 181, 186, 188, 307 Forscher 126 Frachtvertrag 45 Freibordmarkierung 40 Fürsorgepflicht 52 f., 73 Gefahrenabwendungspflicht 183, 192 Gefahrengebiete 138 Gefahrtragungspflicht 124, 179 Gehorsamspflicht 56, 85 Genossenschaftlicher Schiffsbetrieb 26, 29, 36, 38, 58, 92, 303 Genua 37 Genugsam Paßbort 64 Gesetz über die Aufrechterhaltung der Mannszucht auf Seeschiffen von 1841 65 Gesundheitsschutz 104, 108, 209, 216 Gewaltmonopol 176 Gewerkschaften 68 f., 133, 144, 280 Hafenarbeitszeit 73 Hafenkommissare 126 Hafenstaatkontrolle 24 f., 112, 114, 116, 120, 122, 167 f., 175, 256, 278 f., 282, 285 f., 288 – 290, 302, 305, 309 Hafenstaatkontrolleur 112, 286, 290 – 293, 295 Hafenstaatkontrollrichtlinie 121 Hague Memorandum of Understanding on Port State Control 289 Hamburg 42, 47 Hamburg-Amerika-Linie 72 Hamburgisches Stadtrecht von 1497 43, 54 f., 57 Hanse 45 f., 48, 58 f., 65, 303 Hanseatisches Seerecht von 1591 43, 53, 55 – 57, 62 – 64 Hanserezess von 1378 43

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Heimschaffung 59, 63, 76, 81, 90, 105 f., 228, 238, 242 Heizer 20, 68, 86 Henticales 39 Heuerbaasen 74 Heuerfortzahlung im Krankheitsfall 73, 84, 165, 262 Heuervertragsstatut 141, 146, 150 Hilfeleistungspflicht 183, 193 Höchstarbeitszeit 73, 106, 124, 194 – 196, 203 f., 209, 217, 221, 226 HTV-See 149 Hubinsel 128 „Im Wesentlichen gleichwertige Maßnahmen“ 117, 278, 293 Industrialisierung 21 International Labour Conference 80, 97, 101, 126, 278 International Labour Organization – ILO 22, 104 International Maritime Organization – IMO 95, 104, 288 Internationale Transportarbeiter-Föderation 90, 99, 148 Internationales Seeschifffahrtsregister 87, 89, 129, 140, 143, 145 f., 306 ISM-Code 167 ISR-Flottenvertrag 90, 149 ISR-Sondervertrag 149 JMC-Report 97, 99, 168 Joint Maritime Commission

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Kabelleger 139 Kaperfahrt 52 Kauffahrteischiff 89, 128 f. Klagefrist (KSchG) 275 Kohlenzieher 20, 68, 72, 86 Kolonialisierung 65 Konsulat der See 48 f., 60, 92 Kontributionspflicht 26, 35, 37, 52, 303 Konvention Nr. 147 über Mindestbedingungen in der Seeschifffahrt von 1976 80, 97, 114, 289, 291 Kostentragungspflicht (Heimschaffung) 243, 245, 308

320

Sachwortverzeichnis

Kostentragungspflicht (Urlaubsreise) 231, 236, 308 Kranführer 139 Krankenfürsorge 59, 76, 81, 84 Krankentagegeld 165 Kreuzfahrtschiffe 20, 131, 134, 250 Kreuzzüge 36 Kündigung, außerordentliche 267 Kündigung, besondere Kündigungsgründe 273 Kündigung, betriebsbedingt 263 Kündigung, krankheitsbedingt 260 Kündigung, personenbedingt 259 Kündigung, verhaltensbedingt 251 Kündigungsberechtigung 273 Kündigungsfristen 274 Küstenmeer 142, 223 Ladungsinspektoren 126 Landgang 81 f., 84, 106, 177, 181 – 183, 192, 258, 307 Laschen 178 Level playing field 23, 113, 122, 304 f. Linienschifffahrt 62, 68 Locatio conductio rei 31 Löschen der Ladung 178 Lotsen 126, 133 Lübeck 37 Lübecker Seerecht von 1299 48, 51, 56 Lübecker Seerecht von 1542 47 Magister navis 30 Management-Reeder 153 Marinarii 40 Maritime Labour Convention – MLC 22, 24, 93 f., 277, 304 Maritime-Medizin-Verordnung 123 MARPOL 95, 97, 117, 126, 285 Marseille 37 Mattenschütteln 61 Medizinische Betreuung 90, 104, 108 Mehrarbeit 81, 84, 202, 208, 210 f., 215, 221 Mehrarbeit in Gefahrensituationen 206 Mehrarbeitsvergütung 207, 209 Mercatores 30, 40 Meuterei 65, 68 Mindestinhalt des Heuervertrags 172

Mindestlohngesetz 147 Mindestruhezeit 72, 106, 194, 196, 203, 209, 215, 226 Mindesturlaub 90, 106, 228, 231, 247 MTV-See 149 Musterung 49, 124 Nauclerius 40 Nautae 28, 39 Normalarbeitszeit

195

Offshore-Arbeitnehmer 138 f., 219 f., 224 f., 308 Offshore-Arbeitszeitverordnung 123, 218 Offshore-Besatzungsmitglieder 219, 308 Offshore-Techniker 126 Offshore-Windenergie 129 Offshore-Windparks 218 Ölkrise 88 Owner’s option 174 Pacotillenverträge 52 Paris Memorandum of Unterstanding on Port State Control 289 Patronus 40 Pauschalierung von Überstunden und SFNArbeit 211, 308 Pflichtverletzung des Kapitäns 272 Piraterie 33 Pisa 37, 39 Plimsoll-Marke 40 Potestas dominica 31 Preußisches Allgemeines Landrecht 62, 64 f. Preußisches Seerecht von 1727 64 f. Probezeit 275 PSCO-Guidelines 291 Recht der Führung 52, 61, 92, 303 Rechtswahl 89, 128, 140, 147 Reeder (Definition) 150, 157, 306 Reeder-Krankengeld 165 Reederei- und Ladungsinspektoren 134 Reederhaftung 150, 156, 159, 306 Regelarbeitszeit 196, 215, 308 Reparatur- und Wartungspersonal 126, 134 Revidiertes Hanseatisches Seerecht von 1614 53, 55, 57

Sachwortverzeichnis Rhodische Sammlung 33 Rhodisches Seerecht 44 Risikoklasse (Hafenstaatkontrolle) 294 Risikoteilung 32, 35, 44, 185, 304 f. Rochdale-Report 87 Rôles d’Oléron 26, 37, 48, 53, 58, 92, 303 Rücksichtnahmepflicht 251, 258 Ruhepausen 205, 209 Schiff (Definition) 125 – 128 Schiffbruch 105, 179, 183, 193, 242 Schiffsgewalt 27, 29, 65, 176 Schiffsrat 20, 42 f., 58, 64, 78, 92, 187 Schiffsschreiber 50 Schiffswurf 31, 34 – 36, 43, 52 Schleppschiff 73 See-Arbeitszeitnachweis-Verordnung 123 See-Sportbootverordnung 130 See-Unterkunfts-Verordnung 123 Seearbeits-Konformitätserklärung 111 f., 175, 285 – 287, 292, 295, 310 Seearbeitszeit 72 Seearbeitszeugnis 111, 175, 279, 285 – 287, 292, 297, 310 Seedarlehen 46 Seeleute-Arbeitszeitrichtlinie 197, 204 Seeleute-Befähigungs-Verordnung 123 Seeleute (Definition) 125 f., 139 Seemannsgesetz von 1957 20, 75, 79, 81, 83 Seemannsmission 133, 280 f. Seemannsordnung von 1872 69 – 71, 73, 77, 208, 272 Seemannsordnung von 1902 69 f., 72 f., 76 f., 79, 81, 84 f., 176, 181, 208 Seeschiffbewachungsverordnung 138 Segelschifffahrt 59, 66, 79, 304 Senyor de nau 50, 55 Servicepersonal 227, 308 Sexuelle Belästigung i. S. v. § 3 Abs. IV AGG 253 Sicherheitskräfte 137 Socii 39 SOLAS 95, 97, 105, 117, 126, 151, 285 Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit 81, 86, 210 f. Special Maritime Session 80 Sportboote 129

321

Statut von Hadersleben von 1292 42, 58 Statut von Schleswig von ca. 1150 42 Stauen 178 STCW 95, 97, 105, 107 f., 172, 193, 196, 204, 216 f. STCW-Code 214 STCW-Gesetz 194 Stellenvermittlungsgesetz von 1902 75 Stückgütervertrag 45 Supersalientes 39 Tabula Amalphitana 38 f. Tariföffnungsklausel 214 Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG 173 Territorialprinzip 141 Trampschifffahrt 62, 303 Transportzeiten (Offshore) 221, 224 Überstundenpauschale 86 Überstundenvergütung 73 UNCLOS 96, 141 f., 282 Unterhaltungskünstler 126, 134 Unterkünfte und Freizeiteinrichtungen 107, 118, 288, 297 Urlaubsabgeltung 165, 237 Urlaubsanspruch 82, 84, 307 Urlaubsentgelt 165 Urlaubsort 228 Venedig 37 Verband Deutscher Reeder 90, 148, 204 Vereenigde Oost-Indische Compagnie 60 Verpflegungsanspruch 52, 58, 104, 107 f., 189, 243, 303 Verpflegungsgeld 148, 165 Vertragsreeder 98, 155 Vertragsschluss 157, 162, 168 Vorläufiges Seearbeitszeugnis 286 Vorvertragliche Übermittlungspflicht 170 Wahlrecht (Urlaubsort) 235 f., 241 Wartezeit (KSchG) 275 Wartezeit (Urlaub) 308 Wasserschout 62 Waterrecht 49 Weisungsrecht 177

322

Sachwortverzeichnis

Wisby’sche Seerecht 54 f. Wissenschaftler 126, 137 Yachten

128, 130

Zwangsmittel 57, 65, 85 f., 181, 187 Zwei-Schichten-System (Offshore) 220, 225 f., 308 Zwei-Wachen-System 70, 196, 202 f., 205