Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik 9783110599763, 9783110600711, 9783110599138, 2018941193

The greatest good is central to Kantian philosophy. Kant understands the greatest good – a world in which all people wer

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Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik
 9783110599763, 9783110600711, 9783110599138, 2018941193

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil I: Kants deontologische Ethik
1. Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit
2. Gegenstände praktischer Vernunft
3. Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen
Teil II: Das höchste Gut
4. Tugend als erstes Element des höchsten Guts
5. Glückseligkeit als zweites Element des höchsten Guts
6. Die Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit
7. Die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts
Schluss
Zitierweise
Literatur
Personenregister
Sachregister

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Florian Marwede Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik

Kantstudien-Ergänzungshefte

Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme

Band 206

Florian Marwede

Das höchste Gut in Kants deontologischer Ethik

ISBN 978-3-11-060071-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059976-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059913-8 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2018941193 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com.

| Für K.

Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im April 2017 am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main eingereicht habe. An erster Stelle bedanke ich mich herzlich bei Marcus Willaschek, meinem Doktorvater und Erstgutachter. Er hat mich dazu ermutigt, dieses Projekt zu beginnen und hat mich durchgängig unterstützt und mit seinem Rat begleitet. Sein Forschungskolloquium ist über die Jahre zu einer Art akademischem Zuhause für mich geworden, in dem ich viele Ideen zuerst ausprobieren und zur Diskussion stellen konnte. Meinem Zweitgutachter Eric Watkins ist es zu verdanken, dass ich 2014 sechs Monate als Gast an der University of California San Diego verbringen durfte. In seinem Seminar konnte ich meine Kenntnisse der Metaphysik Immanuel Kants vertiefen und am History of Philosophy Roundtable meine Ideen zum höchsten Gut bei Kant vorstellen und diskutieren. Insbesondere bin ich sehr dankbar für die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, mit der ich in die Gemeinschaft der Doktoranden am Department für Philosophie an der UCSD aufgenommen wurde. Martin Seel danke ich für das Verfassen des dritten Gutachtens, den Herausgebern der „Kantstudien-Ergänzungshefte“ für die Aufnahme in diese Reihe, und Nancy Christ, Johanna Davids sowie Serena Pirrotta für die gute Zusammenarbeit. Im Rahmen des DFG-Projektes „Das höchste Gut in der Philosophie Kants“ unter der Leitung von Marcus Willaschek konnte ich meine Perspektiven auf dieses Thema in der Zusammenarbeit mit ihm und mit Thomas Höwing erweitern. Als Mitarbeiter der Redaktion des Kant-Lexikons habe ich ebenfalls viele neue Erkenntnisse gewinnen können. Insbesondere danke ich Stefano Bacin, Georg Mohr, Steffi Schadow und Jürgen Stolzenberg für gute, konstruktive Gespräche und die Möglichkeit, ganz verschiedene Bereiche der Philosophie Kants kennenzulernen. Stephen Engstrom und Andrews Reath danke ich für ihre Bereitschaft, einige Fragen zum höchsten Gut bei Kant mit mir zu diskutieren. Ihr wertvoller Rat und ihre Nachfragen haben mich motiviert, meine Forschungsarbeit zu vertiefen. Craig Agule, Claudia Blöser, Kimberly Brewer, Gabriele Gava, Ana-Carolina GutiérrezXivillé, Thomas Höwing, Kai Hüwelmeyer, J.P. Messina, Irina Schumski und Brian Tracz haben mir durch Diskussion einzelner Themen geholfen und durch ihre kritische Lektüre von Kapiteln und Vorarbeiten wesentlich zur Verbesserung des Manuskripts beigetragen. Weiterhin danke ich Erwin Schwager, der mich schon früh an die Arbeit mit philosophischen Texten herangeführt hat, und Christian Dehning, der mich in einer entscheidenden Lebensphase gefördert und unterstützt hat; beide hatten https://doi.org/10.1515/9783110599763-202

VIII | Vorwort

einen großen Einfluss auf meine Entscheidung, Philosophie zu studieren. Und ich danke Ulrich Ruschig, der mich in seinen Vorlesungen an der Carl von OssietzkyUniversität Oldenburg mit vielen Werken Immanuel Kants zuerst vertraut gemacht hat. Mein besonderer Dank gebührt schließlich zwei guten Freunden, ohne die ich das Buch nicht zu diesem Zeitpunkt hätte abschließen können: Malte Hendrik Meyer hat das gesamte Manuskript gründlich gelesen und nicht nur viele sprachliche Verbesserungsvorschläge gemacht, sondern mich auch auf einige inhaltliche Schwächen hingewiesen. Boris Friedrich hat mich über viele Jahre persönlich unterstützt und mich motiviert, mich auf das zu konzentrieren, was mir das Wichtigste ist, und damit auch, der Arbeit an diesem Buch Priorität zu geben. Frankfurt am Main, im April 2018

Florian Marwede

Inhalt Vorwort | VII Einleitung | 1

Teil I: Kants deontologische Ethik 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8

Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit | 13 Das Verfahren des kategorischen Imperativs | 15 Die Einbeziehung der Glückseligkeit der anderen | 17 Das moralische Verbot aller kontingenten Zwecke | 20 Die Transformation des Glücksstrebens | 23 Enge und weite Pflichten | 25 Wie kann ich moralisch gut handeln? | 30 Die indirekte Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit | 32 Allgemeine Glückseligkeit als übergeordneter Zweck von Moral | 34

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8

Gegenstände praktischer Vernunft | 38 Interpretationsprobleme | 40 Literaturüberblick | 44 Erkenntnisse der praktischen Vernunft | 46 Zwei Arten der Willensbestimmung | 51 Das Angenehme und das Gute | 55 Die Gegenstände der praktischen Vernunft | 59 Gegenstände praktischer Vernunft und Zwecke | 66 Die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft | 69

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen | 80 Vorläufer des allgemeinen Arguments gegen Heteronomie | 82 Überblick über die kritisierten Ethikkonzeptionen | 85 Rekonstruktion des Arguments | 91 Das moralische Gesetz und das Gute | 97 Die Lust als Kriterium des Guten | 99 Das Heteronomie-Argument und das höchste Gut | 105

X | Inhalt

Teil II: Das höchste Gut 4 4.1 4.2 4.3

Tugend als erstes Element des höchsten Guts | 111 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick | 112 Das Verhältnis von Sittlichkeit und Tugend | 115 Bedingungen im praktischen Vernunftgebrauch | 120

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8

Glückseligkeit als zweites Element des höchsten Guts | 129 Kants Konzept der Glückseligkeit – ein Überblick | 132 Glückseligkeit als Neigungsbefriedigung | 140 Glückseligkeit als Zweck und als das Gelingen meiner Zwecke | 145 Die Unvermeidbarkeit des Strebens | 147 Die Unerreichbarkeit von Glückseligkeit | 151 Seligkeit | 154 Selbstzufriedenheit | 158 Glückseligkeit im höchsten Gut | 161

6 6.1 6.2 6.3 6.4

Die Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit | 169 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick | 170 Ein qualitatives Verständnis von Proportionalität | 174 Proportionalität und sittliche Vollkommenheit | 181 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe | 184

7 7.1 7.2 7.3 7.4

Die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts | 197 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick | 199 Ableitung der Pflicht aus dem kategorischen Imperativ | 210 Die Verwirklichung des höchsten Gutes | 214 Die systematische Einheit des moralischen Handelns | 223

Schluss | 228 Zitierweise | 233 Literatur | 235 Personenregister | 245 Sachregister | 248

Einleitung Diese Arbeit untersucht den Zusammenhang zwischen Kants Konzept des höchsten Guts und dem kategorischen Imperativ. Im Zuge dessen werden insbesondere die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut, die Proportionalitätsthese und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts analysiert. Im Folgenden werde ich das höchste Gut als philosophisches Thema im kantischen Werk einordnen, kurz die historischen und systematischen Bezüge darstellen, einen Literaturüberblick geben und die Gliederung der weiteren Kapitel vorstellen. Der Ursprung von Kants Beschäftigung mit dem höchsten Gut liegt in seinem Studium antiker Ethiken – unter anderem von Epikur, Platon, der Stoa und dem Kynismus.¹ Soweit wir das anhand erhaltener Vorlesungsmitschriften sagen können, hatten kurze Darstellungen und Einordnungen der Konzepte des höchsten Guts antiker und neuerer Theorien einen festen Platz zu Beginn seiner moralphilosophischen Vorlesungen.² An wenigen Stellen wird diese Beschäftigung mit der antiken Vorstellung vom höchsten Gut auch in den veröffentlichten Schriften sichtbar. Hervorzuheben ist dabei Kants Kritik an der stoischen Ethik, „das Gefühl der Glückseligkeit [...] schon im Bewußtsein seiner Tugend enthalten“ zu denken, und an der epikureischen Ethik, den „Begriff der Tugend [...] schon in der Maxime, seine eigene Glückseligkeit zu befördern“, enthalten zu sehen (KpV 112).³ Denn hier wird deutlich, dass auch für Kant die große Herausforderung in der Frage nach dem höchsten Gut darin besteht, Moral und Glückseligkeit miteinander zu vereinbaren. Die wesentliche Kritik an seinen antiken Vorgängern besteht darin, dass jene die Ungleichartigkeit dieser beiden Prinzipien übersahen.⁴ Die Frage nach dem höchsten Gut ist für Kant also zunächst ein Thema, das sich aus der Philosophiegeschichte heraus ergeben hat. Aus der Rezeption und Kritik früherer Theorien entwickelte sich seine eigene Lehre des höchsten Guts als das umfassende Ziel praktischer Rationalität, das in der Verbindung von vollkom-

1 Vgl. Düsing (1971, S. 7ff.). 2 Vgl. z. B. Praktische Philosophie Powalski, 27:101–106; Moralphilosophie Collins, 27:247–252; Metaphysik der Sitten Vigilantius, 27:482–485; Moral Mrongovius, 27:1400–1404; Moral Mrongovius II, 29:599–605; Moralphilosophie Kaehler, S. 9–20. 3 Vgl. dazu Santozki (2006, S. 168–172 u. S. 201–21). 4 Vgl. dazu auch Guyer (2011, S. 210f.): „The centrality of this doctrine to Kant’s thought is [...] evident in his lectures on ethics, which he typically began precisely by showing how none of the ancient theories of the highest good got the relationship between virtue and happiness right, thereby making it clear to his students that one if not the fundamental goal of moral philosophy must indeed be that of getting this relationship right.“ https://doi.org/10.1515/9783110599763-001

2 | Einleitung

mener Tugend und dadurch bedingter Glückseligkeit bestehe (KpV 110f.). Während diese Grundstruktur über die verschiedenen Schriften hinweg relativ konstant bleibt, variiert jedoch der Bezugsrahmen, in dem das Konzept des höchsten Guts verwendet wird: In der Kritik der reinen Vernunft sind die transzendentalen Ideen, die der spekulative Vernunftgebrauch hervorbringt, Ausgangspunkt eines Kanons der reinen Vernunft, in dem für jene Ideen eine über den regulativen Gebrauch hinausgehende Funktion im Praktischen gefunden werden soll. Diese Funktion findet Kant in der Beantwortung der Frage ‚Was darf ich hoffen?‘, bei der das höchste Gut eine wesentliche Rolle spielt. In der Kritik der praktischen Vernunft führen eine angenommene Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts und die Reflexion über die Möglichkeitsbedingungen der Erfüllung dieser Pflicht in eine Antinomie der praktischen Vernunft, an deren Auflösung sich die Postulate der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit der Seele anschließen. Diese entsprechen zwar jenen transzendentalen Ideen, die auch in der ersten Kritik mithilfe des Konzepts des höchsten Guts eine Funktion finden sollen, jedoch ist die Ausgangsfrage dieses Mal eine andere: Es geht nicht mehr darum, was gehofft werden darf, sondern was getan werden soll. Schließlich führt in der Kritik der Urteilskraft die Betrachtung aller Zwecke überhaupt in der Welt durch die reflektierende Urteilskraft zum Begriff des höchsten Guts. Das Konzept des höchsten Guts ist somit weder eindeutig der theoretischen noch der praktischen Philosophie zuzuordnen. Es hat metaphysische, ethische und theologische Anteile und trägt somit maßgeblich zur Verhältnisbestimmung dieser Disziplinen bei. Diese Arbeit beschränkt sich auf die Rolle des höchsten Guts in Kants Ethik. In vielen antiken Ethiken ist das höchste Gut so etwas wie ein übergeordnetes Lebensziel. Es wurde darum gestritten, worin es genau bestehe und wie es zu erreichen sei. Oft lief das auf die Frage hinaus, wie aretê (Tugend, Tüchtigkeit, Vortrefflichkeit) und eudaimonia (Glückseligkeit, Lebensfülle, gelungenes Leben) kombiniert bzw. gemeinsam erreicht werden können.⁵ Ethiken solcher Art werden daher auch als teleologische Ethiken bezeichnet, da sie von einem grundlegenden Ziel ausgehen, aus dem Handlungsgrundsätze abgeleitet werden. Deontologische Ethiken hingegen gehen von grundlegenden Prinzipien moralischer Verpflichtung aus, auf deren Basis Handlungsentscheidungen und Wertvorstellungen gebildet werden können.⁶

5 Vgl. z. B. Meyer (2008, S. 3). 6 Vgl. z. B. Broad (1930), Muirhead (1932), Frankena (1972) und Ricken (2003). Als dritte grundlegende Kategorie werden häufig die Tugendethiken genannt, von denen die Ethik des Aristoteles als prominentester Vertreter zu nennen ist.

Einleitung

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Die in der Literatur übliche Klassifizierung der Moralphilosophie Kants als Musterbeispiel deontologischer Ethiken beruht im Wesentlichen auf Kants These, dass „der Begriff des Guten und Bösen nicht vor dem moralischen Gesetze [...], sondern nur [...] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse“ (KpV 62f.). Das moralische Gesetz, oder auch das „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“, lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV 30). Es dient in der kantischen Ethik sowohl als oberstes Beurteilungsprinzip, mit dessen Hilfe festgestellt werden kann, ob eine Maxime und auf ihr aufbauende Handlungen moralisch gut sind (GMS 421ff.; KpV 27f.), als auch als Fundament für die moralische Motivation. Denn eine Handlung hat laut Kant nur dann moralischen Wert, wenn sie nicht nur pflichtgemäß, sondern aus Pflicht, das heißt aus Achtung vor dem moralischen Gesetz geschieht (GMS 400f.; KpV 80f.). Schließlich ist das moralische Gesetz auch das oberste Prinzip von Kants Tugendlehre, die beschreibt, welche konkreten moralischen Pflichten zu erfüllen und welche Laster zu vermeiden sind (TL 395).⁷ Zentrale Aspekte werden in Kants deontologischer Ethik also ohne Bezugnahme auf das höchste Gut entwickelt. Das höchsten Gut spielt hier nicht die konstitutive Rolle, die sie in teleologischen Ethiken einnimmt. Kants eigenen Worten zufolge ist das höchste Gut „ein Object, welches weit hinterher, wenn das moralische Gesetz allererst für sich bewährt und als unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens gerechtfertigt ist, dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen als Gegenstand vorgestellt werden kann“ (KpV 64). Aber was bedeutet das genau? Welche genuin moralphilosophischen Probleme werden dadurch gelöst? Diese Frage gewinnt dadurch an Gewicht, dass das höchste Gut in Kants Werk einen bedeutenden Raum einnimmt.

7 Es ist darauf hinzuweisen, dass in der Literatur kritisch diskutiert wird, ob und inwiefern die Unterscheidung von deontologischen und teleologischen Ethiken sinnvoll ist (vgl. z. B. Timmermann 2015). Auch gibt es keine durchgehende Einigung darüber, was eine deontologische Ethik im Kern ausmacht. Die Definition von Slote (2011, S. 260) setzt zum Beispiel voraus, dass es unabhängig von einem moralischen Gesetz möglich ist, ein allgemeingültiges Urteil darüber zu fällen, was gut ist: „Moral views or theories that are deontological [...] entail that it is sometimes right (or even obligatory) to perform actions whose consequences, impartially considered, would be worse or less good than those of some other act available to a given agent. In other words, deontology involves saying that it can sometimes be morally right or obligatory not to act for the best.“ Kant würde allerdings bestreiten, dass es überhaupt möglich ist, Handlungskonsequenzen unabhängig von den zugehörigen Maximen moralisch zu beurteilen. Die vorliegende Arbeit wird sich an dieser systematischen Debatte nicht beteiligen.

4 | Einleitung

Wie wir gesehen haben, wird das höchste Gut in allen drei Kritiken behandelt, und zwar von Werk zu Werk ausführlicher; zudem hat es einen Platz in weiteren Werken wie zum Beispiel der Religionsschrift, Über den Gemeinspruch und Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton. Ein guter Teil der Forschungsliteratur zum höchsten Gut bei Kant beschäftigt sich mit der grundsätzlichen Frage, ob ein Konzept des höchsten Guts, so wie Kant es entwickelt, in seiner Ethik überhaupt einen Platz haben kann. Der wesentliche Grund dafür ist, dass dieses Konzept mit anderen Teilen der kantischen Moralphilosophie in Konflikt zu stehen scheint. Die bekanntesten Einwände dieser Art lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Empirisch-bedingte Glückseligkeit könne nicht Teil des höchsten Gutes sein, da dies mit Kants reiner Moralphilosophie nicht vereinbar sei.⁸ Charakteristisch für Kritik an Kants Konzept des höchsten Guts dieser Art ist eine unterkomplexe Behandlung von Kants Begriff der Glückseligkeit. So polemisiert Cohen (1877, S. 311) gegen die Glückseligkeit als Ideal der Einbildungskraft als „Fantasie“ und etwas, was unsere „sittliche Fernsicht [...] nur bornirt, ohne dass die Objecte, die unserer moralischen Beurtheilung unterliegen, dadurch genauer und deutlicher würden.“ 2. Dem zuvor genannten Einwand gegenüber steht der Vorwurf, dass Glückseligkeit bei Kant nicht bereits allein das höchste Gut ausmache.⁹ Hier wird der Anspruch, Moral müsse allein dem Zweck der Glückseligkeit dienen, von außen an Kants Moralphilosophie herangetragen. Es ist also eine andere Form von Einwand als bei dem zuerst genannten Punkt, bei dem auf eine vermeintliche Inkonsistenz innerhalb der kantischen Moralphilosophie hingewiesen wird. 3. Schon zu Lebzeiten Kants wurde darüber gerätselt, wie die These zu verstehen sei, Glückseligkeit solle im höchsten Gut zur Tugend proportional sein.¹⁰ Insbesondere die Frage, wie genau diese Proportionalität aus dem moralischen

8 Vgl. z. B. „Es ist bedauerlich, wie sehr Kant hier den Prinzipien seiner Moral untreu wird, wie er, der so sehr auf strengste Reinheit der Grundsätze und Ausscheidung alles EmpirischMateriellen gedrungen hatte, den ganzen Glückseligkeitsschwindel doch schliesslich wieder zum Hinterpförtchen hereinlässt“ (Adickes 1897, S. 396). Vgl. auch Schopenhauer (1938, S. 124). 9 Vgl. z. B. „Wenn das moralische Gesetz uns nicht durch seine Befolgung glücklich macht, so ist es entweder nicht das richtige Gesetz für unser Handeln, oder aber der Begriff der Glückseligkeit als des zu erstrebenden Guten ist nicht richtig bestimmt“ (Cornelius 1926, S. 147f.). Für eine besonders polemische Kritik vgl. Sommer (1978, S. 131ff.). 10 „Es ist bis jetzt kein Grund aufgezeigt worden, warum Glückseeligkeit mit Sittlichkeit in Harmonie treten solle“ (Greiling 1795, S. 292).

Einleitung

| 5

Gesetz abgeleitet werden soll, ist nach wie vor nicht befriedigend beantwortet.¹¹ 4. Kant behauptet zwar häufig, es gebe eine Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes, zeigt jedoch nicht, wie sie aus dem moralischen Gesetz abgeleitet werden kann.¹² Insbesondere Kants Satz, dass – diese Pflicht vorausgesetzt – aus der Unmöglichkeit der Realisierung des höchsten Guts folgen würde, dass das moralische Gesetz „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch“ wäre (KpV 114), ist in der Literatur auf Unverständnis gestoßen.¹³ 5. Zwar werden weder die Funktion noch die Begründung der Postulate von Gottesexistenz und Seelenunsterblichkeit Teil der vorliegenden Arbeit sein. Sie kann gleichwohl indirekt als Verteidigung der Postulatenlehre verstanden werden, insofern die Etablierung des Konzepts des höchsten Guts als legitimen Bestandteil der Ethik auch dazu beiträgt, Kants Kopplung der Religion an die Moral zu erklären. Diese Verbindung, die Kant der vollständigen Ablehnung von Religion vorzieht, hat in der Rezeptionsgeschichte notorisch wenig Anerkennung gefunden, wie z. B. die polemischen Kommentare von Heine¹⁴ und Nietzsche¹⁵ zeigen, und verdient eine sachliche Überprüfung.

11 Vgl. Rawls (2000, S. 316): „[T]here is nothing in the CI-procedure that can generate precepts requiring us to proportion happiness to virtue.“ Vgl. auch Reath (1988) und Bader (2015). 12 Vgl. Milz (2002, S. 123): „Im [D]unkeln liegt auch noch, worauf sich eine solche Pflicht zur Hervorbringung des höchsten Gutes gründet.“ Vgl. auch Habermas (2005, S. 225): „Ein solcher, nur indirekt aus der Summe aller moralischen Handlungen hervorgehender Idealzustand allgemeiner Glückseligkeit kann unter Prämissen der Kantischen Moraltheorie eigentlich nicht zur Pflicht gemacht werden.“ Vgl. weiterhin Brandt (2007, S. 371): „Wo haben wir erfahren, daß der kategorische Imperativ das höchste Gut, die Einheit also von Moralität und Glückseligkeit, zu seinem Gegenstand hat?“ 13 Zweifel äußern z. B. Beck (1960, S. 245) u. Zobrist (2008, S. 299). 14 „[...] Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen tragirt, er hat den Himmel gestürmt [...], der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute [...], und der alte Lampe steht dabey mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer und Angstschweiß und Thränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und [...] halb gutmüthig und halb ironisch spricht er: ‚[...] der Mensch soll aber auf der Welt glücklich seyn – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.‘ In Folge dieses Arguments, unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getödtet“ (Heine 1979, S. 89). 15 Nietzsche (2007, S. 229) schreibt, dass Kant, nachdem er eine Pflichtethik begründet habe, die ohne Religion auskomme, „sich wieder zu ‚Gott‘, ‚Seele‘, ‚Freiheit‘ und ‚Unsterblichkeit‘ zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt.“

6 | Einleitung

6. Dem vorherigen Einwand gegenüber steht der Vorwurf, Kant degradiere Gott zu einem Bediensteten, da er ihm nur deswegen Existenz zuspreche, weil er ihn für eine bestimmte Position innerhalb seines Systems, als gerechten Glücksausteiler, benötige.¹⁶ Die bisherige Forschung hat jedoch nicht nur grundsätzliche Einwände gegen Kants Konzept des höchsten Gutes hervorgebracht, sondern auch richtungsweisende Texte, welche die damit einhergehenden Interpretationsprobleme präzise herausarbeiten und Lösungen für diese anbieten. Auf viele dieser Arbeiten wird in den folgenden Kapiteln verwiesen. An dieser Stelle werde ich daher nur eine kurze Übersicht über die meines Erachtens einflussreichsten Texte geben: 1. Silber (1963) verteidigt die Wichtigkeit des Konzepts des höchsten Guts für Kants Ethik mit dem Argument, dass nur so ein durch das moralische Gesetz bestimmter Wille eine ‚Materie‘ erhalte. Während Murphy (1965) und Auxter (1979) auf Schwächen in Silbers Position hinweisen, haben Zeldin (1971) und Friedman (1984) auf dieser Diskussion aufbauend weitere Argumente zugunsten von Kants Konzept des höchsten Gutes entwickelt. 2. Silber hat aber nicht nur die Debatte um die Wichtigkeit bzw. Unwichtigkeit des höchsten Guts ausgelöst, sondern hat auch die einflussreiche Idee skizziert, Kants Theorie sei an dieser Stelle nur verständlich, wenn zwischen einer ‚immanenten‘ und einer ‚transzendenten‘ Version des höchsten Guts unterschieden würde (vgl. Silber 1959). Daran anschließend hat Reath (1988) ebenfalls vorgeschlagen, zwischen zwei Arten des höchsten Guts zu unterscheiden, allerdings zwischen einer ‚säkularen‘ und einer ‚theologischen‘. Weitere Varianten einer solchen Unterscheidung wurden von Nenon (1997) und Mariña (2000) entwickelt. 3. Wood (1970, S. 69–99) vertritt die These, dass das höchste Gut in Kants Ethik dazu diene, uns ein letztes und übergeordnetes Ziel zu geben, das all unsere anderen Zwecke vereinigt. Laut Kant könne kein Mensch glücklich werden, indem er ein bloßes Aggregat kontingenter Zwecke verfolgt. Woods Verdienst ist es, Kants Konzept des höchsten Guts mit einer beachtenswerten Detailtiefe zu untersuchen und Kants nur knapp vorgetragene Argumente, zum Beispiel für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut, mit einer großen Ausführlichkeit zu rekonstruieren.

16 Vgl. z. B. die Anschuldigungen, für Kant sei Gott nur eine Art „Polizist“ oder „Zahlmeister“, der den Menschen je nach moralischem Verdienst bestraft oder belohnt, bei Paulsen (1924, S. 325) und Schmitz (1989, S. 84, 91, 122).

Einleitung

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4. Düsing (1971) hat die erhaltenen Reflexionen und Mitschriften moralphilosophischer Vorlesungen Kants analysiert. Darauf aufbauend war er in der Lage, die Geschichte und Weiterentwicklung des Konzepts des höchsten Guts in Kants Denken zu skizzieren. 5. Der Aufsatz von Engstrom (1992) hat sich mit der Frage beschäftigt, wie genau das höchste Gut mit dem kategorischen Imperativ zusammenhängt. Seine Lösung baut auf der Beobachtung auf, dass der kategorische Imperativ nicht nur ein Testverfahren für die Moralität von Handlungen bereithält, sondern ebenso ein Kriterium dafür ist, ob meine Beurteilungen dessen, was gut ist, moralisch gültig sind. 6. Der Verdienst von Kleingeld (1995b) ist es, die verschiedenen Versionen des höchsten Guts, die Kant uns im Verlaufe seines veröffentlichen Werks präsentiert, miteinander zu vergleichen und zu skizzieren, wie sie miteinander vereinbart werden können.¹⁷ Meine Untersuchung von Kants Konzept des höchsten Guts und seiner Rolle ins Kants deontologischer Ethik gliedert sich in sieben Kapitel. Die ersten drei Kapitel untersuchen die Grundzüge von Kants deontologischer Ethik aus verschiedenen Perspektiven. Wenn „der Begriff des Guten [...] nicht vor dem moralischen Gesetze [...], sondern [...] nach demselben und durch dasselbe bestimmt“ wird (KpV 62f.), müssen wir erstens fragen, wie diese Bestimmung des Guten durch das moralische Gesetz stattfindet. Zweitens ist zu untersuchen, welche Form das Gute daraufhin annimmt und was gemeint ist, wenn wir etwas als ‚gut‘ beurteilen. Drittens ist Kants Argument dafür zu rekonstruieren, dass das moralische Gesetz nicht nach einem vorher definierten Konzept des Guten und durch ein solches bestimmt werden kann. Das erste Kapitel behandelt die Bestimmung des Guten durch das moralische Gesetz und damit das Verfahren des kategorischen Imperativs. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie dieses Verfahren, das in Kants Beispielen meistens nur zeigt, welche Maximen verboten werden, auch Erkenntnisse darüber hervorbringt, wie moralisch gut gehandelt werden kann. Meiner Interpretation zufolge kann diese Frage wie folgt beantwortet werden: Das Verfahren des kategorischen Imperativs testet Maximen darauf, ob sie verallgemeinerbar sind. Ist dies nicht der Fall, so ist es moralische Pflicht, nach ihrem praktischen Gegenteil zu handeln. Ist eine Maxime hingegen verallgemeinerbar, so dürfen wir danach handeln. Allerdings ist keine unserer originären Maximen verallgemeinerbar, da sie alle auf kontingenten Interessen beruhen und somit niemals notwendig und allgemein

17 Vgl. auch Kleingeld (1995a, S. 135–165).

8 | Einleitung

gelten können. Um die Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen zu erreichen, müssen wir die Interessen der anderen miteinbeziehen, indem wir die Zwecke anderer als grundsätzlich gleichberechtigt zu unseren eigenen Zwecken ansehen. Damit einher geht eine Transformation unseres Strebens nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit. Da diese Transformation durchgängig und potentiell in jeder Handlungssituation erforderlich ist, folgt daraus, dass allgemeine Glückseligkeit (inklusive der eigenen) der übergeordnete Zweck aller moralisch guten Handlungen ist, wenn auch nicht ihr Bestimmungsgrund. Gegenstand des zweiten Kapitels ist Kants Konzept des Guten, welches eng mit dem Konzept der Gegenstände praktischer Vernunft verbunden ist. In diesem Kapitel wird analysiert, was Erkenntnisse und Gegenstände der praktischen bzw. der reinen praktischen Vernunft sind und wie es Kant gelingt, mithilfe dieser Begriffe ein Konzept des Guten zu entwerfen, das auf dem kategorischen Imperativ aufbaut. Demzufolge handelt es sich bei Erkenntnissen der praktischen Vernunft in der Regel um Imperative und bei Gegenständen der praktischen Vernunft um Handlungen. Hypothetische Imperative sind mit Gegenständen empirisch-bedingter Vernunft verbunden, und kategorische Imperative mit Gegenständen reiner Vernunft. Im letzteren Fall gibt es weiterhin die Besonderheit, dass von der Handlung im Einzelfall abstrahiert werden kann und somit nicht nur Handlungen, sondern auch Maximen und auch handelnde Personen selbst Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sein können. Im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels wird Kants Satz, das höchste Gut sei „die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 108), untersucht. Kant vergleicht hier den praktischen mit dem theoretischen Vernunftgebrauch und behauptet, das allgemeine Prinzip der reinen Vernunft, nach dem die Vernunft zu allem Bedingten nach der Bedingung sucht, bis sie das Unbedingte erreicht hat, gelte auch für das Praktische. Wir können demnach unser praktisches Leben als Reihe von praktischen Vernunftschlüssen beschreiben. Die praktische Vernunft sucht einerseits nach dem obersten unbedingten Prinzip, das all diese Vernunftschlüsse bedingt, und findet es im moralischen Gesetz. Und sie sucht andererseits nach der vollständigen Reihe, also nach der Totalität der durch das moralische Gesetz bedingten Praxis, dem höchsten Gut. Das dritte Kapitel behandelt Kants Argument dafür, warum das moralische Gesetz nicht aus einem vorher festgelegten Konzept des Guten abgeleitet werden kann. Solche, als ‚heteronom‘ bezeichneten Ethikkonzeptionen können laut Kant keine allgemeinen und notwendigen Prinzipien hervorbringen und erfüllen damit zentrale Anforderungen an Moral nicht. Kants Argument lässt sich wie folgt zusammenfassen: Entweder werden moralische Gesetze aus dem Begriff des Guten abgeleitet oder der Begriff des Guten wird durch moralische Gesetze bestimmt. Im ersten Fall ist das Kriterium des Guten die Übereinstimmung seines Gegenstandes

Einleitung

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mit dem Gefühl der Lust, im zweiten Fall ist es die Bestimmung seines Begriffs durch moralische Gesetze. Ist das Erste der Fall, unterliegen die Urteile des Guten empirischen Bedingungen und können somit nicht notwendig und allgemeingültig sein, was aber Voraussetzung für eine Moral im strengen Sinne Kants wäre. Während in den ersten drei Kapiteln die wesentlichen Elemente von Kants deontologischer Ethik behandeln wurden, geht es im vierten, fünften und sechsten Kapitel um die innere Struktur und die wesentlichen Eigenschaften des höchsten Guts. Die übergeordnete Frage dieser Kapitel ist, wie sich diese Eigenschaften aus Kants Konzept des kategorischen Imperativs ableiten lassen. Im vierten Kapitel geht es um Tugend, und damit um das erste Element des höchsten Guts. Tugend selbst wird auch als das oberste Gut bezeichnet, insofern sie die oberste Bedingung alles weiteren Guten ist. Eine Bedingung im praktischen Vernunftgebrauch bedeutet eine normative, asymmetrische und transitive Abhängigkeit eines Gegenstandes der praktischen Vernunft von einer praktischen Regel, wobei die Bedingung hinreichend, aber nicht notwendig ist. Die praktische Regel, die die oberste Bedingung alles moralisch Guten ist, ist das moralische Gesetz; mit dem Begriff der Sittlichkeit wird die Eigenschaft einer Person bezeichnet, das moralische Gesetz durchgängig auf die eigenen Maximen anzuwenden; und unter Tugend versteht Kant die Form, die Sittlichkeit in dem Willen eines Menschen als endlichem Wesen annehmen muss. Deswegen kann Kant auch Tugend als oberste Bedingung alles weiteren Guten bezeichnen. Im vierten Kapitel wird weiterhin dafür argumentiert, dass Kant unter dem Begriff der Tugend genau die Eigenschaften vereinigt, die für den erwähnten Transformationsprozess des egoistischen Strebens nach eigenem Glück in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit notwendig sind. Das fünfte Kapitel untersucht Kants umfangreiches und vielschichtiges Konzept der Glückseligkeit. Kant versteht darunter sowohl eine möglichst umfassende Befriedigung der eigenen Neigungen als auch den übergeordneten Zweck der eigenen Handlungen. Weiterhin geht er davon aus, dass das Streben nach eigener Glückseligkeit für Menschen unvermeidbar, zugleich eine vollständige Glückseligkeit jedoch unerreichbar ist. Eine genaue Analyse dieser Sätze und der dahinter stehenden Argumentationen ist Voraussetzung dafür, die Rolle zu verstehen, die Glückseligkeit innerhalb des höchsten Guts einnehmen kann. Kants Argument für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut wird im letzten Abschnitt des fünften Kapitels behandelt. Meiner Interpretation zufolge konstruiert Kant das höchste Gut in einem Gedankenexperiment als das ideale Resultat moralischen Handelns, indem er einerseits einen moralisch vollkommenen Willen bei der handelnden Person voraussetzt und andererseits annimmt, diese Person habe alle Gewalt, ihre Zwecke zu realisieren. Aufbauend auf der im ersten Kapitel vertretenen These, jede moralisch gute Handlung strebe allgemeine

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Glückseligkeit inklusive der eigenen als übergeordneten Zweck an, können wir schließen, dass es ausgeschlossen ist, dass eine solche Person der Glückseligkeit nicht teilhaftig wird. Folgerichtig ist eigene Glückseligkeit Bestandteil des höchsten Guts. Das sechste Kapitel geht der Frage nach, was Kant damit meint, dass im höchsten Gut Glückseligkeit proportional zur Sittlichkeit sei. Ich werde dafür argumentieren, dass die Proportionalitätsthese wesentlich qualitativ zu verstehen ist: Wenn Glückseligkeit zur Sittlichkeit proportional ist, dann hat sie eine bestimmte Qualität, die adäquat zu der Sittlichkeit ist. Das ist dann der Fall, so meine These, wenn die erfahrene Glückseligkeit jene allgemeine Glückseligkeit ist, die durch Sittlichkeit angestrebt wird. Darauf aufbauend werde ich zeigen, wie die Begriffe der Gerechtigkeit, Hoffnung, und der Glücks- und Strafwürdigkeit mit Hinblick auf das höchste Gut eingeordnet und in einem gewissen Umfang daraus abgeleitet werden können. Im siebten und letzten Kapitel geht es um die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts. Im Mittelpunkt steht dabei die Analyse einiger scheinbar konfligierender Aussagen Kants: Zum einen vermehre diese Pflicht laut Kant die Zahl der Pflichten nicht und stehe nur für die Vereinigung aller übrigen Pflichten; zum anderen füge sie aber den Pflichten eine besondere Pflicht hinzu, nämlich jene, das höchste Gut nicht nur anzustreben oder nach Kräften zu befördern, sondern tatsächlich zu verwirklichen. Ich zeige zunächst, dass diese Pflicht aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden kann, und dabei die Form ‚Befördere deine eigene Glückseligkeit als Teil allgemeiner Glückseligkeit‘ annimmt. Weiterhin schlage ich eine Möglichkeit vor, wie die Verwirklichungspflicht zu verstehen ist: Da es keine moralisch gültigen Handlungsalternativen zur Pflicht gibt, das höchste Gut zu befördern, ist die Reflexion über die Realisierungsbedingungen des höchsten Guts der einzige Ausweg. (Im Vergleich dazu gibt es bei anderen von Kant genannten Pflichten Spielräume bzw. nur die Vorschrift einer bestimmten Maxime, nicht aber von konkreten Handlungen.) Insofern wir uns daran anschließend durch den von Kant propagierten Vernunftglauben in der Lage sehen, das höchste Gut zu verwirklichen, und es, wie gesagt, keine moralische Alternative dazu gibt, ist die Verwirklichung des höchsten Guts in gewisser Weise Pflicht.¹⁸

18 Ich möchte auf folgende eigene Vorarbeiten hinweisen, deren Ergebnisse in die vorliegende Arbeit eingeflossen sind: Marwede (2009) vergleicht Kants Konzept des höchsten Guts in den drei Kritiken; Marwede (2013) untersucht die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts; Marwede (2015) beschreibt Kants Begriff der Tugend; Marwede (2016) argumentiert für die auch hier vertretende These, das Verfahren des kategorischen Imperativs enthalte eine Transformation des Strebens nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit; und Marwede (2018) enthält ein alternatives Argument für die qualitative Deutung der Proportionalitätsthese.

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Teil I: Kants deontologische Ethik

1 Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit Nach Kant wird das Gute durch das moralische Gesetz bestimmt (KpV 63f.). Wir können diese These wie folgt verstehen: Wir ermitteln mithilfe eines apriorischen Prinzips der Vernunft und einem damit verbundenen Verfahren der moralischen Reflexion, welches Verhalten moralisch gut ist und damit, wie wir handeln sollen. In diesem Kapitel geht es darum, dieses Verfahren zu rekonstruieren. Kants Schwerpunkt bei der Erläuterung dieses Verfahrens liegt darauf, zu zeigen, wie moralische Pflichten aus grundsätzlich verbotenen Maximen abgeleitet werden können. Wie aber sollen wir handeln, wenn ein solch grundsätzliches Verbot nicht vorliegt? Auf Basis einer Passage in der zweiten Kritik (KpV 34) entwickle ich eine Antwort auf diese Frage. Kant sagt dort, dass man das Glücksstreben anderer in sein eigenes Streben „mit einschließen“ müsse. Ich verstehe das so, dass wir, um moralisch zu handeln, unser ursprünglich egoistisches Glücksstreben in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformieren müssen, um dann in unseren Maximen und den darauf basierenden Handlungen die Interessen anderer gleichberechtigt neben unseren eigenen zu berücksichtigen. Nur auf diese Weise nämlich können unsere Maximen eine Form annehmen, die der Forderung des kategorischen Imperativs entspricht. Der hier vorgeschlagene Interpretationsansatz ist nicht neu, wurde aber in der bisherigen Forschungsliteratur nur ansatzweise diskutiert. Schon in der ausführlichen Studie von Hägerström (1902) zu Kants Ethik, die in der neueren KantForschung leider nur wenig Beachtung findet, wird der Frage, welche Beziehung die Forderung nach der Einschließung der Glückseligkeit anderer in das eigene Glücksstreben (KpV 34) zu dem in der GMS begründeten obersten Prinzip der Moralität hat, nachgegangen. Wie die hier vorliegende Untersuchung kommt Hägerström zu dem Ergebnis, dass es sich dabei nicht um verschiedene Kriterien handelt, sondern lediglich unterschiedliche Aspekte desselben Verfahrens hervorgehoben werden (Hägerström 1902, S. 320–339). Wimmer (1990, S. 38) spricht von einer „Umformung der eigenen Glücksvorstellungen und -antriebe“, die eine „moralische Aufgabe“ ist, die darüber hinaus geht, das eigene Glücksstreben bloß einzuschränken. Auch Kleingeld (1995b, S. 105ff.) kritisiert, dass der kategorische Imperativ oft nur als „maxim-filtering device“ gesehen wird, und zeigt, dass die Passage KpV 34, auf deren Interpretation auch das vorliegende Kapitel den Schwerpunkt legt, dieses Bild verändert: „[I]t would also follow that one’s own happiness and the happiness of others are interdependent“. Sie schlussfolgert jedoch nicht, dass daraus auch eine Lösung für das Problem der artifiziell anmutenden Trennung von moralisch ‚erlaubten‘ und ‚gebotenen‘ Zwecken entwickelt werden kann, die https://doi.org/10.1515/9783110599763-002

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zwar in der Literatur oft präferiert, aber von Kant selbst nicht explizit vertreten wird. Guyer (2000a, S. 340ff.) entwickelt eine Theorie einer kantischen Pflicht zur Beförderung allgemeiner Glückseligkeit, die dem hier präsentierten Gedankengang ähnlich ist. Allerdings basiert Guyers Ansatz nicht auf der Passage KpV 34; im Gegenteil, er meint sogar, dass die Unterscheidung zwischen einem egoistischen Glücksstreben, das mit Moral in Konflikt steht, und einem allgemeinem Glücksstreben, welches nicht nur mit Moral vereinbar ist, sondern daraus hervorgeht, nicht in der zweiten Kritik angesprochen wird (Guyer 2000a, S. 345 Fn. 8). Held (2001, S. 160f.) formuliert das Forschungsdesiderat, dass eine solche Unterscheidung der entscheidende Schritt bei einer Erklärung dafür wäre, wie nach Kant ein moralisch gutes Verhalten möglich ist, das noch in der Lage ist, eigene Interessen zu berücksichtigen. Held lässt diese Forderung jedoch ausblicksartig stehen und geht ihr nicht weiter nach. Dieses Kapitel ist wie folgt strukturiert: In Abschnitt 1.1 wird ein grundlegendes Verständnis dafür erarbeitet, wie das Verfahren des kategorischen Imperativs funktioniert. Abschnitt 1.2 zeigt, wie Kant aus dem Konzept des kategorischen Imperativs die Idee entwickelt, dass moralisches Verhalten die Einbeziehung des Glücks der anderen in das eigene Glücksstreben impliziert. In Abschnitt 1.3 wird problematisiert, dass das Verfahren des kategorischen Imperativs jeden kontingenten Zweck moralisch zu verbieten scheint, den wir uns aus unserem Glücksstreben heraus setzen können. Abschnitt 1.4 analysiert, wie es zu diesem Verbot kommt und zeigt zugleich einen Ausweg: Aus der verbotenen Maxime, das eigene Glück zu befördern, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen, kann die moralische Pflicht abgeleitet werden, das eigene Glück nur mit Rücksicht auf andere zu befördern. In Abschnitt 1.5 wird argumentiert, dass es sich bei dieser Pflicht um eine weite Pflicht handeln muss, die im Gegensatz zu engen Pflichten zum einen bei allen Handlungsentscheidungen zu berücksichtigen ist und zum anderen einen Spielraum zulässt, wie genau und zu welchem Grad sie in einzelnen Situationen zu befolgen ist. Abschnitt 1.6 zeigt an einem Beispiel, wie auf Basis der hier entwickelten Überlegungen zur Transformation des Glücksstrebens eine Handlungsentscheidung, die auf einem kontingenten Zweck gründet, zu einer moralisch guten Entscheidung verändert werden kann. In Abschnitt 1.7 wird das Verhältnis der hier entwickelten Pflicht zu der indirekten Pflicht beschrieben, das eigene Glück zu befördern. Abschnitt 1.8 ordnet ein, inwiefern allgemeine Glückseligkeit als übergeordnetes Ziel von Moral gesetzt wird, und zeigt, dass die hier vorgestellte Interpretation des kategorischen Imperativs die Verbindung zwischen moralischem Gesetz und höchsten Gut erklären kann.

1.1 Das Verfahren des kategorischen Imperativs | 15

1.1 Das Verfahren des kategorischen Imperativs Kant schlägt in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten folgende Formulierung des kategorischen Imperativs vor: [H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde (GMS 421).¹

Es ist umstritten, wie diese Formel und Kants Beispiele ihrer Anwendung genau zu verstehen sind. Kants Erläuterungen dazu sind interpretationsbedürftig. Einer in der Literatur dominierenden Ansicht nach handelt es sich bei dem Verfahren des kategorischen Imperativs um ein Gedankenexperiment mit dem Ziel, herauszufinden, ob eine gegebene Maxime als allgemeines Gesetz gelten kann.² Dieses Gedankenexperiment wird oft als Verallgemeinerungstest bezeichnet. Wenn sich bei dem Test ein ‚praktischer Widerspruch‘ ergibt, ist die Maxime unmoralisch, und es darf nicht nach ihr gehandelt werden. Ein praktischer Widerspruch ergibt sich dann, wenn es nicht konsistent möglich ist, nach der Maxime handeln zu wollen und zugleich die Geltung der Maxime als allgemeines Gesetz zu wollen (oder Letzteres auch nur zu denken).³ In einer Welt, in der zum Beispiel alle nach der Maxime ‚Ich werde mir mit Hilfe von Versprechen, die ich nicht halten kann, Geld leihen‘ handeln, würde niemand einem gegebenen Versprechen trauen (GMS 422). Somit ist es nicht konsistent möglich, nach dieser Maxime zu handeln und zugleich ihre Verallgemeinerung zu wollen. Auf diese Weise kann gezeigt werden, dass die besagte Maxime sich

1 In der vorliegenden Arbeit ist mit dem kategorischen Imperativ diese Formel gemeint, die in der zweiten Kritik wieder aufgegriffen und dort als „Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft“ bezeichnet wird: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV 30). Vgl. dazu auch Kants Anspruch, dass die verschiedenen Formulierungen „viele Formeln eben desselben Gesetzes“ sind (GMS 436); deshalb sei der kategorische Imperativ „nur ein einziger“ (GMS 421). Vgl. zur Verteidigung dieses Anspruchs Engstrom (2009, S. 149–183) und für eine skeptische Analyse Allison (2011, S. 245–260) u. Geismann (2002). 2 Vgl. z. B. O’Neill (1989, S. 94ff.); Rawls (1989, S. 83); Enskat (2001, S. 86ff.); Timmons (2006, S. 162); Horn u. a. (2007, S. 227ff.). 3 Der Ausdruck ‚praktischer Widerspruch‘ („practical contradiction“) wurde von Korsgaard (1985, S. 92ff.) vorgeschlagen, um den spezifischen Typ von Widerspruch zu bezeichnen, um den es hier geht. Andere Möglichkeiten werden z. B. bei Wimmer (1982) diskutiert. Auf die Unterscheidung zwischen einem Widerspruch im Denken und im Wollen werde ich später eingehen.

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nicht als allgemeines Gesetz eignet und dass es moralisch verboten ist, nach ihr zu handeln.⁴ Maximen, die diesen Test bestehen, werden als ‚verallgemeinerbar‘ bezeichnet. Auch wenn Kant dafür keine Beispiele gibt, wird gemeinhin angenommen, dass es moralisch erlaubt ist, nach einer Maxime zu handeln, genau dann wenn sie den Verallgemeinerungstest besteht.⁵ Moralische Pflichten entspringen Maximen, die nicht verallgemeinerbar sind. Ist eine Maxime M1 gegeben, die die Handlung F fordert, können wir die Maxime M2 , die fordert, F zu unterlassen, als das ‚praktische Gegenteil‘ von M1 bezeichnen (und umgekehrt). Es ist moralische Pflicht, nach allen Maximen zu handeln, deren praktische Gegenteile nicht verallgemeinerbar sind. Zum Beispiel ist die Maxime ‚Ich werde mir mit Hilfe von Versprechen, die ich nicht halten kann, Geld leihen‘ nicht verallgemeinerbar. Es ist somit moralisch verboten, sich mit Hilfe von Versprechen, die man nicht halten kann, Geld zu leihen (vgl. GMS 422). Es ist darauf hinzuweisen, dass in der Literatur eine kritische Auseinandersetzung mit der hier skizzierten Interpretation des kategorischen Imperativs stattfindet, die ich an dieser Stelle nicht vollständig behandeln kann. So gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, was es heißt, ‚eine Maxime verallgemeinern/universalisieren‘.⁶ Weiterhin wird Kant vorgeworfen, dass, je nach Formulie-

4 Dasselbe Verfahren wird zum Beispiel auch verwendet, um die Maximen „mein Vermögen durch alle sichere[n] Mittel zu vergrößern“ (KpV 27f.) und „wenn das Leben bei seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen“ (GMS 421f.) zu verbieten. Eine mögliche konkretere Ausgestaltung des Verallgemeinerungstests besteht darin, ihn als die Frage zu verstehen, „ob die eigene Maxime eine konstitutive Norm für eine funktionierende soziale Gemeinschaft sein könne (um dann weiter zu fragen, ob man Mitglied einer solchen Gemeinschaft sein wollte)“ (Willaschek 1995, S. 539). 5 Vgl. z. B. O’Neill (1989, S. 94ff.); Graband (2005, S. 61); Timmons (2006, S. 162); Horn u. a. (2007, S. 227ff.); Westra (2016, S. 20f.). Manche Interpreten reduzieren diese Position sogar auf eine Art Erlaubnistest für Handlungen, vgl. z. B. Schönecker (2015, S. 1156): „Der kategorische Imperativ formuliert Bedingungen, unter denen eine Handlung erlaubt ist [...] bzw. nicht erlaubt ist.“ In der Grundlegung und der zweiten Kritik spricht Kant allerdings nur selten über moralische Erlaubnisse, eine der wenigen Stellen ist: „Moralität ist also das Verhältniß der Handlungen zur Autonomie des Willens, das ist zur möglichen allgemeinen Gesetzgebung durch die Maximen desselben. Die Handlung, die mit der Autonomie des Willens zusammen bestehen kann, ist erlaubt; die nicht damit stimmt, ist unerlaubt“ (GMS 439). Es fällt zudem auf, dass Kant an keiner Stelle die Dreiteilung ‚geboten‘, ‚erlaubt‘, ‚verboten‘ verwendet. Er bezieht sich immer nur auf eine Zweiteilung, ob nun gut/böse, etwas zu tun/zu unterlassen ist Pflicht, oder wie hier: erlaubt/unerlaubt bzw. verboten (vgl. auch Fußnote 25, S. 30). 6 Vgl. z. B. die von der hier präsentierten Interpretation abweichende Auffassung von Brandt (2007, S. 353): „Universalisieren heißt natürlich, bei allen Menschen nachfragen, ob sie einverstanden sein und alle daßelbe [sic], also denselben Inhalt wollen können.“

1.2 Die Einbeziehung der Glückseligkeit der anderen | 17

rung der Maximen, Fälle konstruiert werden können, die als ‚falsche Positive‘ oder ‚richtige Negative‘ zu bezeichnen sind.⁷ Was überhaupt als Maxime gelten kann und wie diese zu formulieren sind, damit das Verallgemeinerungsverfahren Kants Absicht gemäß durchführbar ist, ist ebenfalls problematisiert worden.⁸ Von diesen Komplikationen abgesehen haben wir ein grundsätzliches Verständnis des Verfahrens des kategorischen Imperativs erreicht: Kant stellt sich unser gesamtes praktisches Denken als durch Maximen strukturiert vor. Prinzipiell kann jede Maxime mithilfe des kategorischen Imperativs auf Verallgemeinerbarkeit geprüft werden. Ist eine Maxime nicht verallgemeinerbar, so ist ihr praktisches Gegenteil Pflicht.

1.2 Die Einbeziehung der Glückseligkeit der anderen In der zweiten Kritik fügt Kant zu diesem Konzept der Verallgemeinerungsprozedur die These hinzu, eine Maxime qualifiziere sich genau dann als allgemeines Gesetz, wenn ihre Form hinreichend ist, um den Willen zu bestimmen (KpV 27). Die Idee hinter diesem Kriterium kann wie folgt skizziert werden: Alle Maximen haben eine Form und eine Materie. Die Materie besteht aus dem Zweck, der erreicht werden soll. Die Form ist eine strukturelle Eigenschaft der Maxime, die sich aus dem obersten Prinzip ableitet, das den Willen bei der Maximenauswahl leitet. Ist dieses Prinzip das moralische Gesetz, hat die Form der Maxime allgemeine Gültigkeit; ist das Prinzip das der eigenen Glückseligkeit, hat die Form der Maxime nicht allgemeine Gültigkeit.⁹ Im ersteren Fall bedeutet das Handeln nach einer Maxime, dass ihre Form hinreichend ist, um den Willen zu bestimmen; die Entscheidung, nach der 7 Vgl. z. B. Illies (2007). Vgl. aber auch die Warnungen von Rawls (1989, S. 82f.) u. Neiman (1994, S. 124f.), das Verfahren des kategorischen Imperativs als Algorithmus misszuverstehen, mit denen richtiges moralisches Verhalten ‚berechnet‘ werden kann. 8 Vgl. hierzu z. B. Gressis (2010). Für eine ausführliche Aufarbeitung verschiedener Interpretationsansätze zum kategorischen Imperativ vgl. z. B. Aune (1979, S. 35ff.), Nisters (1989) und Wood (1999, S. 76ff.). 9 Kant setzt den Fokus auf die Form, nach der Maximen „sich zur allgemeinen Gesetzgebung schicken“ (KpV 27), geht aber nicht auf die Form anderer Maximen ein. Reath hat vorgeschlagen, diese Lücke mit dem Prinzip der Glückseligkeit zu füllen (Reath 2006b; vgl. Reath 2010, S. 36f.). Die Stellen, an denen Kant auf die Form von Maximen zu sprechen kommt, sind jedoch mehrdeutig. Auf der einen Seite ist eine Maxime ein subjektives Prinzip, das darum nur für das Subjekt gültig ist (GMS 400, 420; KpV 19). Auf der anderen Seite haben alle Maximen eine Form, „welche in der Allgemeinheit besteht“ (GMS 436). Um diese beiden Aspekte angemessen zu berücksichtigen, könnten wir sagen, dass eine Maxime als solche „allgemein“ ist, insofern das Subjekt urteilt, dass es gut ist, nach der Maxime zu handeln, wenn alle relevanten Fakten berücksichtigt werden. Es ist aus der Perspektive des Subjekts plausibel, dass jeder in ähnlicher Situation so handeln sollte. Die

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Maxime zu handeln, basiert dabei ausschließlich auf ihrer Allgemeingültigkeit, unabhängig davon, ob damit dem eigenen Wohl gedient ist. Im letzteren Fall bestimmt die Materie den Willen, denn man handelt nach der Maxime nur, wenn dies dem eigenen Wohl dient. Die Form ist im zweiten Fall also nicht ausreichend, um den Willen zu bestimmen, weil die Handlungsentscheidung letztlich von der Materie abhängt. Da diese beiden Arten der Willensbestimmung in Konflikt geraten können, kann entweder nur die Form oder nur die Materie den Willen bestimmen.¹⁰ Eine Maxime, die sich als allgemeines Gesetz qualifiziert, hat gleichwohl eine Materie. Aber wie sollen wir es uns vorstellen, einen Zweck zu wollen und zugleich unseren Willen davon nicht bestimmen zu lassen – also ohne, dass das Verfolgen des Zwecks notwendige Bedingung dafür ist, nach der Maxime zu handeln? Das ist das Thema einer Passage in der zweiten Kritik, die argumentiert, dass meine eigene Glückseligkeit nur als Zweck moralisch gewollt werden kann, wenn ich die Glückseligkeit anderer mit einschließe (KpV 34f.). Diese These ist zentral ist für unsere Frage, wie wir nicht nur Maximen vermeiden, die nicht als allgemeines Gesetz taugen, sondern auch zu moralisch guten Maximen gelangen können. Die Textstelle lautet im Ganzen: [1.] „So wird fremder Wesen Glückseligkeit das Object des Willens eines vernünftigen Wesens sein können. [2.] Wäre sie aber der Bestimmungsgrund der Maxime, so müßte man voraussetzen, daß wir in dem Wohlsein anderer nicht allein ein natürliches Vergnügen, sondern auch ein Bedürfniß finden, so wie die sympathetische Sinnesart bei Menschen es mit sich bringt. [3.] Aber dieses Bedürfniß kann ich nicht bei jedem vernünftigen Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen. [4.] Also kann zwar die Materie der Maxime bleiben, sie muß aber nicht die Bedingung derselben sein, denn sonst würde diese nicht zum Gesetze taugen. [5.] Also die bloße Form eines Gesetzes, welches die Materie einschränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materie zum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszusetzen.

Allgemeinheit des Gesetzes unterscheidet sich davon, da es unabhängig von allen Umständen des Subjekts ist. Für eine ähnliche Argumentation vgl. Engstrom (2009, S. 130); vgl. auch Allison (2011, S. 172f., 249 Fn. 19). Eine weitere Möglichkeit ist, die Allgemeinheit von Maximen so zu verstehen, dass sie nicht für eine einzelne Handlung, sondern allgemein für alle Handlungen des Subjekts gelten, wenn sie einmal angenommen sind. 10 Kant entwickelt diesen Gedankengang in den Theoremen I bis III der Analytik der zweiten Kritik (vgl. KpV 21, 22, 27). Er meint schon in der Grundlegung, dass Maximen aus ‚Form‘ und ‚Materie‘ bestehen, aber diese Ausdrücke werden dort noch nicht gebraucht, um die grundsätzlichen Arten der Willensbestimmung zu erklären (vgl. z. B. GMS 436).

1.2 Die Einbeziehung der Glückseligkeit der anderen | 19

[6.] Die Materie sei z. B. meine eigene Glückseligkeit. [7.] Diese, wenn ich sie jedem beilege (wie ich es denn in der That bei endlichen Wesen thun darf), kann nur alsdann ein objectives praktisches Gesetz werden, wenn ich anderer ihre in dieselbe mit einschließe. [8.] Also entspringt das Gesetz, anderer Glückseligkeit zu befördern, nicht von der Voraussetzung, daß dieses ein Object für jedes seine Willkür sei, sondern blos daraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Vernunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbstliebe die objective Gültigkeit eines Gesetzes zu geben, der Bestimmungsgrund des Willens wird, [9.] und also war das Object (anderer Glückseligkeit) nicht der Bestimmungsgrund des reinen Willens, [10.] sondern die bloße gesetzliche Form war es allein, dadurch ich meine auf Neigung gegründete Maxime einschränkte, um ihr die Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaffen und sie so der reinen praktischen Vernunft angemessen zu machen, [11.] aus welcher Einschränkung, und nicht dem Zusatz einer äußeren Triebfeder, alsdann der Begriff der Verbindlichkeit, die Maxime meiner Selbtliebe auch auf die Glückseligkeit anderer zu erweitern, allein entspringen konnte“ (KpV 34f.; Nummerierung von mir). Der erste Teil (1–3) der Textstelle gibt ein Beispiel, in dem der Wille von der Materie der Maxime bestimmt wird. Dementsprechend kann die Maxime nicht als allgemeines Gesetz dienen. Der zweite Teil (4–7) ändert das Beispiel derart, dass der Wille durch die Form der Maxime bestimmt wird, und diese sich somit zum allgemeinen Gesetz qualifiziert. Der dritte Teil (8–11) erklärt, wie dieser Gedankengang die moralische Pflicht zur Beförderung der Glückseligkeit anderer rechtfertigt. Ich kann hier nicht auf jedes Detail der Textstelle eingehen. Die Kernidee scheint zu sein, dass die moralische Verpflichtung, fremde Glückseligkeit zu befördern, nicht durch Sympathie für andere begründet werden kann, da wir nicht bei jedem ein solches Gefühl voraussetzen können. Sie kann auch nicht durch die Berücksichtigung der Tatsache gerechtfertigt werden, dass wir alle unser eigenes Glück anstreben; da meine Maxime, mein Glück zu befördern, sich von der Maxime jedes anderen dadurch unterscheidet, dass sie mich als Subjekt hat, kann sie nicht als Basis für ein allgemeines Gesetz dienen. Deswegen kann die Verpflichtung, fremde Glückseligkeit zu befördern, nur durch die zweiteilige Erkenntnis begründet werden, dass (i) ich meine eigene Glückseligkeit verfolge und (ii) jeder andere ebenso seine eigene Glückseligkeit verfolgt. Um meine Maxime (mein Glück zu befördern) als allgemeines Gesetz denken zu können, ist es nicht ausreichend, dass ich anderen die Möglichkeit zugestehe, ihr Glück zu befördern. Vielmehr ist es erforderlich, eine Maxime zu

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formulieren, die gleichermaßen für jeden gelten kann. Und das ist die Maxime, allgemeines Glück zu befördern (inklusive meines eigenen). Im Folgenden werde ich näher analysieren, wie der letzte Schritt dieses Arguments funktioniert.

1.3 Das moralische Verbot aller kontingenten Zwecke Die Forderung, fremdes Glück in die Materie meiner Maxime aufzunehmen, basiert auf dem kategorischen Imperativ. Das wird schon aus dem zu erfüllenden Kriterium ersichtlich: Die Maxime soll „zum Gesetze taugen“ (Schritt 4) und „ein objectives praktisches Gesetz werden“ (Schritt 7). Gleichwohl scheint sich Kants Anwendung des Verfahrens hier von dem, wie es in der Grundlegung beschrieben ist, zu unterscheiden. Dort wird mit der Verallgemeinerung einer bestimmen Maxime begonnen; wenn die Maxime den Test nicht besteht, wissen wir, dass es moralisch verboten ist, nach ihr zu handeln. Wenn die Maxime den Test hingegen besteht, scheint es erlaubt zu sein, nach ihr zu handeln. Die Textstelle in der zweiten Kritik beginnt auch mit der Verallgemeinerung einer bestimmten Maxime (die der Beförderung nur meiner eigenen Glückseligkeit); aber im Gegensatz zu der Prozedur in der Grundlegung, wird hier, wenn die Verallgemeinerung fehlschlägt, die Maxime durch eine andere ersetzt, in der gewissermaßen die Materie verallgemeinert ist (die Maxime, allgemeines Glück zu befördern). Wie können diese beiden Varianten des Verallgemeinerungstests miteinander vereinbart werden? Die Beantwortung dieser Frage wird dringlicher, sobald wir bemerken, dass Kants Argument in der angegebenen Textstelle allgemein für alle Zwecke gilt, die ich mir setzen kann, und nicht nur für den der eigenen Glückseligkeit. Selbst wenn es einen Zweck gäbe, bei dem ich voraussetzen kann, dass jeder ihn hat (was laut Kant eben nur für eigene Glückseligkeit gilt), macht das allein aus der entsprechenden Maxime noch kein allgemeines Gesetz, da diesen Zweck zu haben nur kompatibel damit ist, dass jeder diesen Zweck für sich verfolgt. Wenn zum Beispiel jeder an körperlicher Fitness interessiert wäre, würde sich dadurch die Maxime „Sport zu treiben, um das körperliche Wohlbefinden zu steigern“ nicht zum allgemeinen Gesetz qualifizieren; denn jeder, der danach handeln würde, würde ja nur seine eigene Fitness anstreben. Wenn wir aber annehmen, dass es im Allgemeinen moralisch erlaubt ist, Sport zu treiben, wie können wir die Erlaubnis dafür aus dem Argument von KpV 34 ableiten? Betrachten wir dieses Problem aus einer allgemeineren Perspektive. Kant sagt zwar, dass wir nur dann, wenn unsere Neigungen der moralischen Pflicht zuwiderlaufen, diesen entgegentreten und konsequent unsere Pflicht erfüllen sollen. Darüber hinaus sollen wir unseren Wunsch nach Glückseligkeit gar nicht

1.3 Das moralische Verbot aller kontingenten Zwecke | 21

vernachlässigen.¹¹ Aber allein daraus wird nicht klar, in welchen Situationen ich mein eigenes Glück verfolgen darf, also nicht von Pflicht die Rede ist. Wie wir gesehen haben, muss der Verallgemeinerungstest ausnahmslos auf jede Maxime angewandt werden. Wie kann ich dann aber überhaupt noch meinen individuellen Partikularinteressen nachgehen? Die Lösung dieses Problems, die ich im Folgenden näher ausführen werde, kann wie folgt skizziert werden: Der ‚negative‘ Test, der in der Grundlegung dominierend ist, prüft, ob ich durch die Maxime meiner Handlung grundsätzlich etwas für mich beanspruche, das ich nicht zugleich anderen zugestehen könnte. Diese Frage ist abstrakt, insofern sie von den tatsächlichen Zwecken der anderen absieht. Der ‚positive‘ Test der diskutierten Textstelle (KpV 34) verlangt dagegen, dass ich die Glückseligkeit anderer mit einschließe. Hier muss ich ihre tatsächlichen Zwecke in Anschlag bringen, um den Inhalt des entsprechenden Imperativs zu bestimmen. Die beiden Kriterien ergänzen sich somit.¹² Kommen wir zurück zu unserem Beispiel: Warum es überhaupt ein moralisches Problem sein könnte, Sport zu treiben, wird plausibler, wenn wir z. B. an jemanden denken, der auch dann Sport treibt, wenn er dafür in Kauf nehmen

11 Vgl. z. B.: „[D]ie reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen“ (KpV 93). Vgl. auch: „[I]ch [hatte] nicht verabsäumt anzumerken, daß [...] dem Menschen nicht angesonnen werde, er solle, wenn es auf Pflichtbefolgung ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen“ (Gemeinspruch 278). 12 Damit soll nicht behauptet werden, dass Kant in der GMS keine Theorie davon hat, wie wir moralisch gut handeln können. Der Schwerpunkt ist dort nur anders gesetzt. Vgl. für eine Stelle, die als Vorläufer des auf KpV 34 formulierten Gedankens gelten kann: „So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, nicht als wenn mir an deren Existenz was gelegen wäre (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgend ein Wohlgefallen indirect durch Vernunft), sondern bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen, als allgemeinen Gesetz, begriffen werden kann“ (GMS 441). Die grundsätzliche Idee, dass Moral nicht bedeutet, sein eigenes Glücksstreben zu vernachlässigen, sondern es auf alle anderen auszudehnen, hatte Kant schon in den 1760er Jahren: „Demnach kann wahre Tugend nur auf Grundsätze gepfropft werden, welche, je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird sie. Diese Grundsätze sind nicht speculativische Regeln, sondern das Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen lebt und sich viel weiter als auf die besondere Gründe des Mitleidens und der Gefälligkeit erstreckt. Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage, es sei das Gefühl von der Schönheit und der Würde der menschlichen Natur. Das erstere ist ein Grund der allgemeinen Wohlgewogenheit, das zweite der allgemeinen Achtung, und wenn dieses Gefühl die größte Vollkommenheit in irgend einem menschlichen Herzen hätte, so würde dieser Mensch sich zwar auch selbst lieben und schätzen, aber nur in so fern er einer von allen ist, auf die sein ausgebreitetes und edles Gefühl sich ausdehnt. Nur indem man einer so erweiterten Neigung seine besondere unterordnet, können unsere gütige Triebe proportionirt angewandt werden und den edlen Anstand zuwege bringen, der die Schönheit der Tugend ist“ (Beobachtungen 217; H.v.m.).

22 | 1 Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit

muss, jemandem in Not nicht zu helfen. Wir können annehmen, dass es zumindest in diesem Fall unmoralisch ist, die sportliche Aktivität nicht zu unterbrechen (oder zu verschieben). Die Maxime „Ich werde Sport treiben, wann immer es mir beliebt“ kann sich somit nicht als allgemeines Gesetz qualifizieren (da ich im Zweifelsfall gebotene Hilfeleistung für andere unterlassen würde). Natürlich kann das aber nicht heißen, dass es im Allgemeinen verboten ist, Sport zu treiben. Das wäre ein unplausibles Ergebnis. Aber es heißt, dass die betreffende Maxime näher spezifiziert werden muss, indem eigene moralische Verpflichtungen und anderer Personen Nöte und Interessen mit einbezogen werden. Bevor wir auf diese Spezifizierung näher eingehen, werden wir uns kurz ansehen, ob uns das Verfahren des kategorischen Imperativs, wie es in der Grundlegung beschrieben ist, weiterhelfen kann. Ein praktischer Widerspruch (also das Scheitern bei dem Verallgemeinerungstest) ist eine hinreichende Bedingung für ein moralisches Verbot. Und das praktische Gegenteil einer verbotenen Maxime definiert eine moralische Pflicht. Aber dies sagt uns noch nicht, wie wir einen kontingenten Zweck, den wir haben, auf moralisch erlaubte Weise verfolgen können. Wenn Sport zu treiben, wann immer es mir beliebt, unmoralisch ist, wird es Situationen geben, in denen ich, obwohl ich es gerne wollte, verpflichtet bin, keinen Sport zu treiben. Aber dies sagt mir noch nicht, wann (und ob überhaupt) es für mich erlaubt ist, Sport zu treiben, um mein körperliches Wohlbefinden zu steigern. Mit anderen Worten, statt mir zu sagen, welche Maxime ich verfolgen soll, sagt mir das Verfahren der Grundlegung nur, welche Maxime ich nicht verfolgen darf. Das scheint auch der Grund dafür zu sein, warum Kants Ableitung der Pflichten vom kategorischen Imperativ in der Grundlegung nicht mit positiven Beispielen von verallgemeinerbaren Maximen kombiniert ist (GMS 421ff.; GMS 429ff.; vgl. auch KpV 27f.).¹³ Der entscheidende Schritt, den wir benötigen, um zu verallgemeinerbaren Maximen zu gelangen, ist in der Textstelle enthalten, die oben diskutiert wurde. Dieser Textstelle zufolge müssen wir das egoistische Streben nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformieren, da dies der einzige Weg ist, dass eigenes Glück die Materie einer verallgemeinerbaren Maxime werden kann. Auf diese Weise ist es möglich, moralisch gute Handlungen auszuführen, die

13 Darüber hinaus spricht Kant nur in negativer und ausschließender Weise, wenn er über Maximen spricht. Vgl. z. B.: „Alle Maximen werden nach diesem Princip verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können“ (GMS 431). Positive Ausdrücke werden nicht im Zusammenhang mit Maximen, sondern mit Pflichten verwendet, die auf den praktischen Gegenteilen von abgelehnten Maximen entstehen. Vgl. z. B.: „Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen oder wenigstens von uns dafür gehaltenen Pflichten, deren Abtheilung aus dem einigen angeführten Princip klar in die Augen fällt“ (GMS 423f.).

1.4 Die Transformation des Glücksstrebens |

23

(auch) den eigenen Bedürfnissen und Zielen dienen. Der kategorische Imperativ schränkt unsere Handlungsoptionen also nicht nur quantitativ ein, in dem von der Summe grundsätzlich möglicher Handlungen diejenigen ausgeschlossen werden, deren Maxime nicht verallgemeinerbar ist, sondern auch qualitativ, in dem unser ursprüngliches Streben, bloß für uns selbst den größten Vorteil zu suchen, eingeschränkt wird.¹⁴

1.4 Die Transformation des Glücksstrebens Wie sieht die Transformation des egoistischen Glücksstrebens zu einem Streben nach allgemeinem Glück genau aus? Um das zu verstehen, werden wir uns die Schritte 6 und 7 aus der Passage KpV 34f. genauer ansehen. Kant zieht zuerst eine Maxime in Betracht, deren Materie in eigener Glückseligkeit besteht. Kant formuliert die Maxime nicht explizit, gibt uns aber einen Hinweis. Er sagt, dass die Bedingung dafür, dass die Maxime ein objektives praktisches Gesetz werden kann, die Miteinbeziehung der Glückseligkeit anderer ist. Darauf aufbauend können wir die ursprüngliche Maxime formulieren: Ich werde meine eigene Glückseligkeit befördern, ohne dabei Rücksicht auf die Glückseligkeit anderer zu nehmen.

Diese Maxime besteht den Test des kategorischen Imperativs nicht. Um das zu zeigen, können wir nämlich wieder das in der Grundlegung beschriebene Verfahren des kategorischen Imperativs anwenden. Diese Anwendung bedarf jedoch einer Erläuterung. Sie basiert auf einem bestimmten Verständnis von Kants Argument für die Pflicht zur Wohltätigkeit in der Grundlegung. Dort nennt Kant als Beispiel folgende Maxime: Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas beizutragen! (GMS 423)

Dazu sagt Kant, „daß nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte“, allein sei es unmöglich, dieses zu wollen. Denn es könne Fälle geben, in denen das Subjekt selbst in Not gerät. Durch ein solches Naturgesetz

14 Vgl. für diese Lesart auch die Stellen der GMS, in denen Kant von dem moralischen Gesetz als Einschränkung spricht: GMS 430f., 431, 436, 438, 449. Für eine rein quantitative Lesart vgl. z. B. Sala (2005, S. 110).

24 | 1 Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit

würde es sich aber selbst jedes in solchen Fällen erwünschten Beistands berauben (GMS 423). Kant nennt dies einen ‚Widerspruch im Wollen‘ im Gegensatz zu einem ‚Widerspruch im Denken‘ (GMS 424). Das zu Beginn dieses Kapitels gewählte Beispiel – sich durch lügenhafte Versprechen Geld zu leihen – produzierte bei der Verallgemeinerung schon einen Widerspruch im Denken: Es wäre irrational, nach dieser Maxime zu handeln, wenn sie zugleich Naturgesetz wäre, da jede Handlung nach ihr notwendig zum Scheitern verurteilt wäre. Wäre sie aber Naturgesetz, würde jeder nach ihr handeln. Bei der hier vorgestellten Maxime verhält es sich anders: Insbesondere in einer Welt, in der jeder in diesem Sinne egoistisch wäre, scheint es sinnvoll zu sein, nach derselben Maxime zu handeln. Die Maxime ist also grundsätzlich als Naturgesetz denkbar, wir können das nur nicht wollen. Während ein Widerspruch im Wollen nicht notwendig mit einem Widerspruch im Denken einhergehen muss, gilt jedoch umgekehrt: Jeder Widerspruch im Denken bedeutet auch einen Widerspruch im Wollen. Denn ich kann nicht wollen, dass mein Handeln sinnlos ist. Eine nicht verallgemeinerbare und damit unmoralische Maxime schließt also immer ein Widerspruch im Wollen mit ein.¹⁵ Wie aber kommt es zu diesem Widerspruch im Wollen genau? Kants Argument scheint auf den ersten Blick vorauszusetzen, dass wir bestimmte pragmatische oder prudentielle Überlegungen nicht ignorieren können: Wir können nicht wollen, dass Nothilfe für uns ausgeschlossen ist, weil die Gefahr zu groß ist, einmal in Not zu gelangen und auf Hilfe angewiesen zu sein.¹⁶ Dagegen könnte man einwenden, dass ein solches Argument Kants Ziel verfehlen würde, das Fundament moralischer Überlegungen unabhängig vom Glücksstreben zu machen. Letztlich würde ich nach dieser Lesart moralisch handeln, weil ich denke, dass es für mein eigenes Wohl besser ist. Ein weiteres Problem entsteht, wenn wir das Wollen-Können-Kriterium im Sinne eines egoistischen Wollens lesen. Es würde auch die Pflicht ausschließen, die Kant hier eigentlich begründen will. Denn so betrachtet kann ich nicht wollen, dass ich Menschen in Not immer helfe, denn es kann ja sein, dass mich das von meinen Plänen abhält.¹⁷ Es gibt jedoch eine Alternative: Die besagte Maxime (GMS 423) bringt es mit sich, dass ich meine eigene Glückseligkeit als gut beurteile, aber nicht die der anderen. Denn wenn ich der Not anderer tatenlos zusehe, hat ihr Befinden keinen

15 Ein weiterer Beleg dafür ist, dass Kant häufig, wenn er auf den kategorischen Imperativ Bezug nimmt, die Redeweise vom „nicht wollen können“ verwendet. Vgl. z. B. „kannst du auch wollen, daß deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde?“ (GMS 403), „ich soll niemals anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden“ (GMS 402). 16 So wird es zum Beispiel von O’Neill (1989, S. 98ff.) gelesen. 17 Darauf macht Rawls (1989, S. 85) aufmerksam.

1.5 Enge und weite Pflichten |

25

Wert für mich, es liefert mir keinen Handlungsgrund. Wenn wir uns diese Maxime als allgemeines Gesetz denken, würden andere ebenso ihre Glückseligkeit (aber nicht meine oder die von dritten) als gut beurteilen. Zu wollen, dass meine Maxime ein allgemeines Gesetz werde, schließt mit ein, dass ich auch diesen Urteilen aller anderen zustimme. Das ergibt jedoch einen praktischen Widerspruch. Denn ich würde jedermanns Glückseligkeit als gut beurteilen und zugleich dies nicht tun.¹⁸ Diese Argumentation können wir nun auf unser Beispiel übertragen. Hier wird der Widerspruch noch klarer: Wenn ich meine eigene Glückseligkeit befördere, ohne dabei Rücksicht auf die Glückseligkeit anderer zu nehmen, werde ich ihnen schaden, wann immer es für das Erreichen meiner Ziele notwendig ist. (Die Maxime auf GMS 423 beinhaltet immerhin den Vorsatz „ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden“.) Wäre diese Maxime allgemeines Gesetz, würde gleichfalls jeder sein Glück als gut beurteilen und, gegebenenfalls, meinen Schaden, wenn es für ihn förderlich ist. Würde ich dem zustimmen, wie es das Verfahren des kategorischen Imperativs probeweise von mir verlangt, gerate ich in einen Widerspruch. Denn ich würde das Glück von mir und allen anderen anstreben und zugleich jedermanns Unglück (inklusive meines eigenen) in Kauf nehmen. Weil die Maxime somit den Test nicht besteht, können wir eine Pflicht aus der entgegengesetzten Maxime ableiten: Befördere deine Glückseligkeit nur mit Rücksichtnahme auf die Glückseligkeit anderer.

Wir können also festhalten, dass sich das Argument der diskutierten Textstelle KpV 34 so rekonstruieren lässt, dass es nicht, wie zunächst angenommen, ein im Vergleich zur Grundlegung unterschiedliches Verfahren verwendet. Demnach wird eine ‚transformierte‘ universal gültige Maxime (welche die Glückseligkeit anderer mit einschließt) von ihrem praktischen Gegenteil abgeleitet, von welcher gezeigt werden kann, dass sie nicht verallgemeinerbar ist.

1.5 Enge und weite Pflichten In der zuletzt genannten Formulierung ist die abgeleitete Pflicht jedoch nicht sehr präzise. Sie gibt keine Auskunft darüber, welche Anstrengungen die handelnde Person auf sich nehmen und welche Nachteile sie eventuell in Kauf nehmen muss, um andere glücklich zu machen. Wo liegt die Grenze, ab der ich von dieser Pflicht zurücktreten darf? Die Antwort auf diese Frage muss Kants Unterscheidung zwischen engen und weiten Pflichten berücksichtigen.

18 Vgl. Engstrom (2009, S. 211).

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Enge Pflichten beziehen sich auf Handlungen, weite Pflichten auf Maximen (TL 390, 410). Enge Pflichten lassen sich somit auf spezifische Situationen anwenden. Wer sich aus Verzweiflung das Leben nehmen will, kann durch das Verfahren des kategorischen Imperativs ermitteln, dass es eine Pflicht gibt, die genau das verbietet (GMS 421f.). Aber wer eine solche Handlung gar nicht in Betracht zieht, ist von dieser Pflicht gar nicht betroffen (wenn sie auch formal immer noch Gültigkeit hat). Im Gegensatz dazu betreffen uns weite Pflichten in verschiedenen Graden. Die Pflicht der Wohltätigkeit verlangt beispielsweise nicht unbedingt, das eigene Leben zu riskieren, um Ertrinkende zu retten. Oft wird sie eher so etwas verlangen, wie einer Freundin einen guten Rat zu geben, oder, noch subtiler, einen Ratschlag zurückzuhalten, weil es langfristig klüger zu sein scheint, dass die Betreffende selbst den richtigen Weg findet.¹⁹ Dass enge Pflichten sich auf Handlungen beziehen, bedeutet nicht, dass sie konkrete Handlungen vorschreiben. Wie wir an Kants Beispielen ersehen können, gebieten sie, bestimmte Handlungsarten zu unterlassen. Der Unterschied zu weiten Pflichten besteht darin, dass die Erfüllung der Pflicht in der Unterlassung der intendierten Handlung besteht. Verletzt eine angenommene Maxime allerdings eine weite Pflicht, besteht die Erfüllung der Pflicht darin, die Maxime derart zu modifizieren, dass die Pflicht angemessen berücksichtigt wird. Wir können Letzteres durch ein Beispiel verdeutlichen: Ich mache zu meiner Maxime, den Teil meines Gehalts, der nach Finanzierung meines Lebensunterhalts am Monatsende übrig bleibt, für meine Altersvorsorge zu verwenden. Nehmen wir an, die Anwendung des kategorischen Imperativs macht mich darauf aufmerksam, dass ich damit die weite Pflicht, anderen in Not zu helfen, verletze. Dann wäre es weder notwendig, meine Maxime vollständig aufzugeben, da an der zugrunde liegenden Überlegung, für das Alter vorzusorgen, nichts intrinsisch Böses ist. Noch wäre es hinreichend für die Erfüllung der Pflicht, da den Hilfsbedürftigen nicht dadurch geholfen ist, dass ich meine Altersvorsorge außer Acht lasse. Stattdessen muss ich einen Kompromiss finden, wie ich meine beschränkten Mittel verteile. Es gibt einen weiteren Unterschied zwischen engen und weiten Pflichten. Weite Pflichten sind nicht auf spezifische Situationen beschränkt. Die Angabe ‚weit‘ ist keine Erlaubnis, Ausnahmen zu machen, wann immer es beliebt, oder die Pflichterfüllung zu kostspielig zu sein scheint.²⁰ Das ist die andere Seite der Medaille der ‚weiten‘ Pflichten: Sie sind nicht nur weit, weil sie einen Ermessensspielraum

19 In Bezug auf weite Pflichten gibt es „einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür“, weil das moralische Gesetz nicht bestimmt angegeben kann, „wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle“ (TL 390). 20 „Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubniß zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B.

1.5 Enge und weite Pflichten |

27

haben, wie und wie weit sie zu befolgen sind. Sie sind auch weit in dem Sinne, dass sie immer und überall relevant sind, nicht nur in spezifischen Situationen. Sie sind somit grundsätzlich in allen unseren Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen.²¹ Nun ist die Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit eine weite Pflicht (GMS 424, TL 393). Es kann also nicht exakt angegeben werden, inwieweit bzw. in welchem Grad wir das Glück anderer miteinbeziehen müssen, wenn wir unser eigenes Glück verfolgen. Es gibt jedoch zwei Möglichkeiten, wie wir uns einem präziseren Verständnis dieser Pflicht annähern können. Auf der einen Seite beschränken manche Passagen Kants diese Pflicht darauf, anderen zu helfen, die „mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben“ (GMS 423; vgl. TL 453). Diese Bedingung hängt damit zusammen, dass es „eine an sich selbst widerstreitende Maxime“ sei, mit „Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern [...], wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte“ (TL 393). Diese Textstellen unterscheiden zwischen der Art und Weise, wie eine tugendhafte Person ihre eigene und die Glückseligkeit anderer befördert. Die erstere wird durch das moralische Gesetz eingeschränkt, aber nicht zum Preis der Opferung der eigenen „wahren Bedürfnisse“; die letztere besteht darin, anderen zu helfen, aber nur dann, wenn sie sich nicht selbst helfen können. Auf der anderen Seite schränkt Kant die Einbeziehung fremder Glückseligkeit in die eigene Maxime in der diskutierten Textstelle (KpV 34) in keiner Weise ein. Auch in der Grundlegung sagt Kant: Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein (GMS 430).

Darüber hinaus heißt es in der TL explizit, dass die einzige Einschränkung einer weiten Pflicht darin bestünde, dass die „Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z. B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe)“ möglich sei (TL 390). Diese Textstellen deuten darauf hin, dass eine tugendhafte Person

die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der That das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird“ (TL 390; H.v.m.). Es geht hier also in erster Linie nicht um die „Kalkulierbarkeit der Berechtigung der eigenen Bedürfnisse und der Bedürfnisse Anderer“ (Dörflinger 2012, S. 54). Dies kommt nur indirekt durch die Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit zum Tragen (vgl. Abschnitt 1.7). 21 Das heißt natürlich nicht, dass jede Handlung notwendigerweise konkret zur Glückseligkeit eines anderen beitragen muss. Kants Theorie der Pflichten ist auf der Ebene der Maximen, also der Handlungsgrundsätze, nicht der konkreten Handlungen, angesiedelt. Aus diesem Grund ist es irreführend zu sagen, eine weite Pflicht müsse nur ‚manchmal‘ befolgt werden, wie es zum Beispiel Hill (1992, S. 149ff.) tut.

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keinerlei Unterschied macht zwischen ihrer eigenen und fremder Glückseligkeit. Demnach würde das ursprüngliche Streben nach eigener Glückseligkeit vollständig in dem Zweck allgemeiner Glückseligkeit aufgehen. Wie können diese beiden Auffassungen miteinander vereinbart werden? Ich schlage vor, dass sie ihre Anwendung auf verschiedenen Ebenen finden. Auf einer allgemeineren Ebene habe ich jede andere Person als gleich zu respektieren und ihre Zwecke und meine als gleich zu behandeln (GMS 429). Darum muss ich ihre Zwecke so weit als möglich zu meinen Zwecken machen. Die Einschränkung „so viel möglich“ (GMS 430) bedeutet aber nicht nur, dass dies durch andere Pflichten eingeschränkt wird, sondern auch dadurch, dass jeder auf fundamentale Weise sein eigenes Glück befördern muss. Ich kann zum Beispiel eine Freundin dazu ermuntern, Sport zu treiben, ich kann es aber nicht für sie tun. Ebenso müssen wir bedenken, dass Pflichten anderen gegenüber nicht nur darin bestehen, ihnen in der Not beizustehen, sondern auch darin, anderen ihre Freiheit zu lassen und sie nicht zu bevormunden. Wir müssen also bei jeder Hilfe für andere abwägen, ob wir nicht sogar aus letzterem Grund verpflichtet sind, sie zu unterlassen. Daraus folgt, dass ich auf der Ebene konkreter Entscheidungen und Handlungen meine eigenen Zwecke anders behandeln muss als die anderer – nicht weil ich moralisch berechtigt bin, meine eigenen Zwecke zu bevorzugen, sondern wegen der Natur menschlichen Handelns und der Natur des menschlichen Glücksstrebens.²² Da wir uns hier auf einer sehr allgemeinen Ebene mit Moral beschäftigen, muss die diskutierte Pflicht so umformuliert werden, dass die grundsätzliche Gleichberechtigung des eigenen Glücks und des Glücks anderer deutlich wird: Befördere deine Glückseligkeit nur als Teil deines Strebens, allgemeine Glückseligkeit zu befördern.

Die folgende Überlegung ist ein weiteres Argument dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Maxime ‚Ich halte meine eigene Glückseligkeit für wichtiger als die Glückseligkeit anderer‘ scheint nicht notwendigerweise mit der Pflicht zu kollidieren, das Glück anderer zu berücksichtigen oder miteinzubeziehen. Wenn wir jedoch das Verfahren des kategorischen Imperativs anwenden, stellen wir fest, dass sich auch hier ein praktischer Widerspruch ergibt: Denken wir uns diese Maxime nämlich als allgemeines Gesetz, so würde jeder sein eigenes Glück für wichtiger als das der anderen halten. Würden wir dem zustimmen, wie es das Verfahren probeweise erfordert, würden wir urteilen, dass das Glück eines jeden wichtiger ist als das Glück eines jeden anderen. Dieses Urteil ist offensichtlich widersprüchlich

22 Vgl. Engstrom (2009, S. 212f.) für eine ähnliche Interpretation.

1.5 Enge und weite Pflichten |

29

(vgl. Engstrom 2009, S. 212f.). Durch die neu gefundene Formulierung wird ein solches Missverständnis vermieden. Es ist zu beachten, dass dieselben Überlegungen auch gelten, wenn ich nicht die anderen, sondern mich in den Maximen benachteilige (z. B. ‚Ich halte die Glückseligkeit anderer für wichtiger als meine eigene Glückseligkeit‘). Wir haben nun gezeigt, wie durch das Verfahren des kategorischen Imperativs einerseits Maximen ganz verboten werden können und auf Basis der praktischen Gegenteile verbotener Maximen moralische Pflichten entstehen. Andererseits wird durch dasselbe Verfahren dazu aufgefordert, das egoistische Glücksstreben, das jedem unterstellt werden kann, in ein Streben nach allgemeinem Glück zu transformieren. Dadurch erhält eigene Glückseligkeit einen angemessen Platz im moralischen Handeln. Es wurde auch gezeigt, inwiefern das mehr als die bloße Erlaubnis bedeutet, sein eigenes Glück zu befördern. Ich möchte diesen Zusammenhang verdeutlichen, indem ich den Unterschied dieser Interpretation zu der Position von Paton (1948, S. 141f.) erläutere. Paton stellt die These auf den Prüfstand, dass die Verallgemeinerbarkeit von Maximen ein hinreichendes Kriterium für eine positive Pflicht darstelle. Er verneint dies und vertritt stattdessen die Auffassung, die ich oben als Standardinterpretation des kategorischen Imperativs gekennzeichnet habe: Verallgemeinerbare Maximen sind (auf diese Weise) erlaubt, nicht verallgemeinerbare Maximen sind verboten. Seine Haltung erläutert er mit folgendem Beispiel: [I]t seems not too difficult to will that the maxim of playing games in one’s spare time should be universal law, although few would suggest that every one ought to play games in his spare time even if he feels that he can get more satisfaction or more relaxation in other ways (Paton 1948, S. 141).

Paton gemäß wäre es unsinnig, die scheinbar verallgemeinerbare Maxime, seine Freizeit mit Gesellschaftsspielen verbringen zu wollen, zur Pflicht erklären. Die Verallgemeinerbarkeit könne offensichtlich nur eine Erlaubnis bedeuten. Als weiteren Beleg für seine Interpretation sieht Paton Kants Charakterisierung des kategorischen Imperativs als einschränkende Bedingung (z. B. GMS 449). Er deutet dies dahingehend, dass der kategorische Imperativ bloß bestimmte (nicht verallgemeinerbare) Maximen verbietet, alle anderen dementsprechend erlaubt seien. Während ich Paton zustimme, dass die bloße Verallgemeinerbarkeit einer Maxime noch keine Pflicht begründet, lehne ich jedoch auf Basis der hier entwickelten Interpretation von KpV 34 seine These ab, Maximen, wie die von ihm genannte,

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seien verallgemeinerbar.²³ Dementsprechend nimmt der kategorische Imperativ meines Erachtens zwar manchmal die Form einer einschränkenden Bedingung ein, lässt sich aber nicht vollständig auf diese Bedeutung reduzieren.²⁴ In Zusammenhang damit wende ich mich auch gegen die Vorstellung, die kantische Ethik kenne moralneutrale Situationen, in denen man tun oder lassen kann, was man will, solange dabei nur keine moralischen Pflichten verletzt werden.²⁵ Eine solche Aussage ist irreführend, da wir – abgesehen von Einzelhaft- oder ‚einsame Insel‘-Szenarien – immer in Gesellschaft anderer leben. Wir müssen uns zum Beispiel immer fragen, ob die Hilfe für einen anderen nicht gerade Vorrang hat vor der eigenen Freizeitplanung. Wie oben schon dargestellt: Das heißt nicht, dass die Pflicht zur Wohltätigkeit immer Vorrang hat. Sie hat Grenzen. Doch von exotischen Szenarien abgesehen, müssen wir grundsätzlich immer die Interessen anderer in unsere Handlungsentscheidungen einbeziehen. Oder mit anderen Worten: nach dem kategorischen Imperativ moralisch handeln.

1.6 Wie kann ich moralisch gut handeln? In Abschnitt 1.3 wurde darauf hingewiesen, dass der kategorische Imperativ die Transformation des Glücksstrebens bei jeder Maxime verlangt, die einen empirischbedingten Zweck beinhaltet. Wir können diesen Interpretationsvorschlag als Prä-

23 Um dies auch ohne KpV 34 zu zeigen, müsste man behaupten, dass Maximen wie ‚Ich werde in meiner Freizeit immer X tun‘ faktisch immer auf die Maxime in GMS 423 hinauslaufen: In einer Welt, in der eine solche Maxime Naturgesetz wäre, käme es notwendig zu unterlassenen Hilfeleistungen, und damit zu negativen Urteilen über die Glückseligkeit anderer. Wenn wir zugleich voraussetzen, dass jeder sein Glück anstrebt, entsteht ein Widerspruch im Wollen. 24 Vgl. Herman (1983) für eine weitere Interpretation, die die Deutung des kategorischen Imperativs als einschränkende Bedingung hervorhebt. 25 Diese Vorstellung findet sich in der Literatur häufig gemeinsam mit der Idee, Resultat des Verallgemeinerungstests sei, eine Maxime/Handlung als geboten, erlaubt oder verboten zu beurteilen. Vgl. z. B. Korsgaard (1986, S. 184): „The difference between morally worthy action and morally indifferent action is that in the first case the end is adopted because it is dictated by reason and in the second case the end is adopted in response to an inclination for it. For instance, in the Groundwork I example of the comparison between morally worthy beneficence and morally indifferent benefincence, the difference is found to rest in the different grounds on which each of the two men have adopted the welfare of others as his end.“ (Ähnlich auch Ebert 1976 und Klemme 2006.) Die Stelle, die Korsgaard meint (GMS 398), verwendet dasselbe Beispiel wie die Passage, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht (KpV 34): Einen Vergleich zwischen jemandem, der aus Sympathie anderen hilft, und jemandem, der dies aus Pflicht tut. Der entscheidende Unterschied ist, dass die eine Maxime verallgemeinerbar ist und die andere nicht. Eine nicht verallgemeinerbare Maxime ist aber nicht moralisch indifferent, sondern moralisch verboten.

1.6 Wie kann ich moralisch gut handeln? | 31

zisierung der in der Literatur nicht unüblichen Überzeugung einordnen, das moralisch Gute setze zu jederzeit das empirisch-bedingte Wollen voraus, dem es nur eine bestimmte Form gebe.²⁶ Wie komme ich nun von einer Maxime, die nicht verallgemeinerbar ist, weil ein Zweck den Willen bestimmt, den ich nicht bei jedem voraussetzen kann, zu einer Maxime, für die das nicht mehr gilt? Und welche Rolle spielt dabei die Transformation des Glücksstrebens? Um diesen Vorgang zu veranschaulichen, können wir uns noch einmal dem Beispiel der Maxime ‚Sport zu treiben, um das körperliche Wohlbefinden zu steigern‘ zuwenden. Nehmen wir an, dass es meine Gewohnheit geworden ist, nach Feierabend Sport zu treiben. Eines Tages fragt mich ein Kollege, ob ich länger bleiben kann, um ihm bei einem dringenden Projekt zu helfen, das er befürchtet, nicht rechtzeitig abschließen zu können. Während mein Streben nach eigenem Glück eine Lösung favorisiert, die mein persönliches Wohlbefinden maximiert, favorisiert das Streben nach allgemeinem Glück eine Lösung, die die Interessen aller Beteiligten so gleichberechtigt wie möglich berücksichtigt. Wie wir oben schon gesehen haben, bedeutet die gleiche Wertschätzung der Zwecke des anderen nicht, dass ich diese mit gleichem Zeit- oder Kraftaufwand wie meine eigenen verfolgen muss. Würde ich zum Beispiel das Projekt des Kollegen in einer Weise voranbringen, die die Nothilfe signifikant übersteigt, wäre dies eine Übertreibung, die ihrerseits moralisch fragwürdig wäre, da ich Gefahr laufe, so dem Kollegen seine Eigenständigkeit zu rauben. Wahrscheinlich wäre eine adäquatere (aber sicher nicht die einzige) Lösung, eine Stunde länger zu bleiben, um zu helfen, und sich anschließend dem ursprünglichen Plan, nämlich Sport zu treiben, zuzuwenden.²⁷

26 Vgl. z. B. Henrich 1982, S. 22f.: „Das Verhältnis des Gewollten zum guten Willen in Kants Ethik ist vergleichbar mit dem von Gegenstand und Verstand in seiner Theorie der Erkenntnis. In beiden ist der Inhalt eines Wissens (vom Gegebenen oder vom Guten) abzuleiten aus einer Funktion (der synthetischen Einheit des Bewußtseins oder der Allgemeinheit der Vernunft). In beiden ist dieser Inhalt aber nicht unabhängig von jeder Beziehung auf Gegebenheit, sondern nur eine bestimmte Weise, sie aufzufassen. Auch das Gute, das der gute Wille will, gewinnt seinen Sinn jeweils nur aus einer Verallgemeinerung der Materie des empirische bedingten Willens. Gut ist die Materie eines Willens von einer bestimmten Form, die ihrerseits Form schon vorausgesetzten empirisch bedingten Wollens ist.“ 27 Wood (1970, S. 46ff.) gibt ein sehr detailreiches Beispiel eines Slum-Bewohners, der sich für eine Verbesserung der Lebensumstände im gesamten Slum einsetzt. Er verfolgt damit eine Idee von allgemeiner Glückseligkeit, die trotzdem in seinen eigenen Interessen wurzelt. Dieses Beispiel zeigt, dass die Transformation des Glücksstrebens dazu führen kann, dass das persönliche Glück so sehr im allgemeinen Glück aufgeht, dass der Handelnde nach seinem ursprünglichen Maßstab für sich selbst keine Verbesserung erreicht – da sein Leben als politischer Reformer so mühsam ist, dass es ihm nicht besser geht als vorher. Diese grundsätzlich plausible Interpretation der

32 | 1 Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit

Es ist wichtig zu betonen, dass aus diesem Verfahren keine exakt formulierten Pflichten resultieren. Es würde den Sinn dieses Gedankengangs verfehlen, würde man versuchen, konkrete Pflichten wie ‚Immer, wenn Du um Hilfe gefragt wirst, verschiebe Deine ursprüngliche Planung um eine bestimmte Zeit und hilf‘ abzuleiten. Das liegt an dem Spielraum, der bei weiten Pflichten existiert. Das bedeutet aber nicht, dass aus der kantischen Moralphilosophie überhaupt keine praktischen Anweisungen für die Lebensführung herauszulesen sind. Es sind eher Heuristiken, die in konkreten Situationen bei der Lösungsfindung zwar helfen können, wobei diese aber nicht exakt daraus berechnet werden kann, zum Beispiel: ‚Hilf nicht bei unmoralischen Zielen!‘, ‚Lasse den anderen selbst entscheiden, woraus sein Glück besteht!‘, ‚Hilf nur dann, wenn wir es wirklich nötig ist, um den anderen nicht in seiner Selbstständigkeit einzuschränken!‘.

1.7 Die indirekte Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit An dieser Stelle ist eine Klarstellung erforderlich. Zu mehreren Gelegenheiten behauptet Kant, es gebe eine indirekte Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit.²⁸ Diese indirekte Pflicht basiert auf der Idee, dass ein bestimmter Anteil an Glückseligkeit notwendig ist, um die Fähigkeit, moralisch handeln zu können, nicht zu gefährden. Zum Beispiel macht es große Armut schwierig, wenn nicht unmöglich, wohltätig zu sein. Wir können uns fragen, in welchem Verhältnis die hier entwickelte Pflicht, das eigene Glück jeweils nur im Rahmen allgemeiner Glückseligkeit anzustreben, zu jener indirekten Pflicht steht. Kehren wir zur Beantwortung dieser Frage noch

diskutierten Textstelle auf KpV 34 ist jedoch irreführend, insofern sie nahelegt, dass eine solche Aufopferung immer moralisch notwendig ist. 28 „Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect), denn der Mangel der Zufriedenheit mit seinem Zustande in einem Gedränge von vielen Sorgen und mitten unter unbefriedigten Bedürfnissen könnte leicht eine große Versuchung zu Übertretung der Pflichten werden“ (GMS 399); „Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein, für seine Glückseligkeit zu sorgen: theils weil sie (wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichthum gehört) Mittel zu[r] Erfüllung seiner Pflicht enthält, theils weil der Mangel derselben (z. B. Armuth) Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten“ (KpV 93); „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Versuchungen zu[r] Übertretung seiner Pflicht. Wohlhabenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt überhaupt, die jenem Einflusse entgegen stehen, können also auch, wie es scheint, als Zwecke angesehen werden, die zugleich Pflicht sind; nämlich seine eigene Glückseligkeit zu befördern und sie nicht blos auf Fremde zu richten“ (TL 388). Vgl. auch die frühe Reflexion 6600, 19:104, die vermutlich aus den 1760er Jahren stammt: „Das Wohlwollen findet nur statt, wenn man sich selbst wohl befindet.“

1.7 Die indirekte Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit | 33

einmal zu dem Beispiel des Kollegen zurück, der um Hilfe fragt. Im Allgemeinen habe ich, wie gezeigt, die Pflicht, ein Gleichgewicht zwischen den Interessen aller beteiligten Parteien zu finden. Während dies eine gewisse Berücksichtigung meiner eigenen Interessen bereits einschließt, habe ich weiterhin darauf zu achten, dass, langfristig betrachtet, mein Anteil an Glückseligkeit nicht so klein wird, dass ich dadurch verführt werden könnte, meine Pflichten zu übertreten. Wenn sich zum Beispiel herausstellt, dass der Kollege Abend um Abend um Hilfe fragt, und ich als Konsequenz niemals dazu komme, Sport zu treiben, wird das langfristig meine Motivation untergraben, ihm zu helfen. (Zudem ist auch fraglich, ob ich ihm wirklich einen Gefallen tue, da er sich so in eine große Abhängigkeit mir gegenüber begeben würde.) Es gibt also eine Pflicht, bei aller Wohltätigkeit anderen gegenüber, die eigenen Bedürfnisse und Angelegenheiten nicht zu vergessen. Nicht weil es an sich Pflicht wäre, sich selbst glücklich zu machen, sondern weil es Pflicht ist, sich selbst als freien, rationalen Akteur mit ausreichendem Handlungsspielraum zu erhalten. Dies ist die indirekte Pflicht, auf die sich Kant in den oben erwähnten Passagen bezieht. Sie artikuliert somit einen bestimmten Aspekt davon, was es bedeutet, die eigene Glückseligkeit als Teil allgemeiner Glückseligkeit zu befördern.²⁹ Weiterhin könnte eingewendet werden, dass Kant manchmal explizit sagt, dass es uns nur erlaubt ist, aber nicht (direkt) geboten, die eigene Glückseligkeit zu befördern.³⁰ Wir können diesem Einwand wie folgt begegnen: Wenn Kant sagt, es gebe keine direkte Pflicht, sich selbst glücklich zu machen, so will er damit sagen, dass eine solche Pflicht sinnlos wäre, da ihm zufolge niemand auf etwas verpflichtet werden kann, was er notwendig schon von sich selbst aus tun will. Das schließt aber nicht aus, dass es eine Verpflichtung geben kann, das, was

29 Vgl. für eine ausführliche Analyse der indirekten Pflicht zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit Wike (1994, S. 89–114). Vgl. auch Gregor (1963, S. 176ff.). 30 Vgl.: „Ein Gebot, daß jedermann sich glücklich zu machen suchen sollte, wäre thöricht; denn man gebietet niemals jemanden das, was er schon unausbleiblich von selbst will. Man müßte ihm blos die Maßregeln gebieten, oder vielmehr darreichen, weil er nicht alles das kann, was er will“ (KpV 37). „Eine Verbindlichkeit zum Genießen ist eine offenbare Ungereimtheit. Eben das muß also auch eine vorgegebene Verbindlichkeit zu allen Handlungen sein, die zu ihrem Ziele blos das Genießen haben: dieses mag nun so geistig ausgedacht (oder verbrämt) sein, wie es wolle, und wenn es auch ein mystischer, sogenannter himmlischer Genuß wäre“ (KU 209 Anm.). „Da aber alle Anderen außer mir nicht Alle sein [...]: so wird das Pflichtgesetz des Wohlwollens mich als Object desselben im Gebot der praktischen Vernunft mit begreifen: nicht als ob ich dadurch verbunden würde, mich selbst zu lieben (denn das geschieht ohne das unvermeidlich, und dazu giebts also keine Verpflichtung), sondern die gesetzgebende Vernunft [...] schließt als allgemeingesetzgebend mich in der Pflicht des wechselseitigen Wohlwollens nach dem Princip der Gleichheit wie alle Andere neben mir mit ein und erlaubt es dir dir selbst wohlzuwollen, unter der Bedingung, daß du auch jedem Anderen wohl willst: weil so allein deine Maxime (des Wohlthuns) sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualificirt [...]“ (TL 451).

34 | 1 Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit

man notwendig schon von sich selbst aus tun will, auf eine spezifische Art und Weise zu tun – in diesem Fall, die eigene Glückseligkeit nur als Teil allgemeiner Glückseligkeit zu verfolgen. Damit ist der Einwand aber noch nicht aus der Welt. Es könnte nämlich erwidert werden, dass die Pflicht somit nur die Art und Weise betreffe, wie die eigene Glückseligkeit anzustreben sei, aber nicht das Streben selbst. Aber dies würde die Transformation unterschätzen, die notwendig von dem egoistischen Glücksstreben zu einem Streben nach allgemeiner Glückseligkeit stattfinden muss. Letzteres ist mehr als bloß das Streben nach eigener Glückseligkeit unter einigen äußeren Einschränkungen. Vielmehr verändert sich der Inhalt meines Strebens selbst. Wenn ich die Zwecke anderer zu meinen eigenen Zwecken mache, finde ich damit einen Teil meines Glücks darin, dass andere Erfolg haben und glücklich werden. In diesem Sinne können wir in Bezug auf moralisch gute Menschen nicht mehr eindeutig unterscheiden, durch welche Handlungen sie bloß ihr eigenes Glück und durch welche sie allgemeines Glück anstreben. Somit ergibt es keinen Sinn zu sagen, die hier entwickelte Pflicht zur Transformation des Glücksstrebens betreffe nur die Art und Weise, wie das eigene Glück zu befördern wäre und nicht das Streben danach selbst.³¹

1.8 Allgemeine Glückseligkeit als übergeordneter Zweck von Moral Der kategorische Imperativ fordert, dass wir unser egoistisches Glücksstreben in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformieren. Durch diesen Interpretationsvorschlag wird auch plausibel, dass Kant an vielen Stellen (sowohl im veröffentlichten Werk als auch in unveröffentlichten Schriften) allgemeine Glückseligkeit als Ziel moralischen Handelns ausgibt.³² Dabei darf aber nicht aus den Augen verloren werden, dass das moralische Gesetz allein oberster moralischer Maßstab ist und nicht eine bestimmte Idee allgemeiner Glückseligkeit.³³ Weiterhin sollte nicht angenommen werden, dass allgemeine Glückseligkeit lediglich die Summe der einzelnen egoistischen Glücksvorstellungen meint. Dies

31 Für eine Analyse des Glückseligkeitsbegriffs bei Kant vergleiche Kap. 5, S. 129. 32 Vgl. KrV A 809f./B837f., A 851/B 879; Gemeinspruch 279; R 6857, 19:181; R 6892, 19:195; R 6958, 19:213f.; R 7204, 19:283; Met–L1, 28:337. 33 Vgl. „Das Princip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objecte machte“ (KpV 36). Vgl. auch Kapitel 3 dieser Arbeit für Kants Argument gegen eine solche, in seinen Augen heteronome Ethik.

1.8 Allgemeine Glückseligkeit als übergeordneter Zweck von Moral | 35

wäre ein inkonsistentes Ideal, da die natürlichen Glücksvorstellungen einzelner einander widersprechen können (KpV 28).³⁴ Die Idee ist vielmehr, eine Handlungsweise zu finden, die die Interessen aller Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt. Allgemeine Glückseligkeit ist also kein Selbstzweck; die Transformation des egoistischen Glücksstrebens in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit ist nur deswegen erforderlich, weil es das Verfahren des kategorischen Imperativs erfordert. Ich möchte den Unterschied zwischen beidem an einem Beispiel verdeutlichen, welches von seiner Art her typischerweise dafür verwendet werden kann, den Gegensatz zwischen einer Pflichtenethik kantischer Prägung und dem Utilitarismus zu verdeutlichen: Die Tochter einer im Sterben liegenden Frau verspricht ihrer Mutter auf Verlangen, dass sie das Erbe für einen aus ihrer Sicht unmoralischen Zweck verwendet (oder auch gar nicht antastet). Nach dem Ableben der Mutter bricht sie ihr Versprechen und verwendet das Erbe für wohltätige Zwecke. Sie rechtfertigt ihre Vorgehensweise erstens dadurch, dass auf diese Weise alle glücklich sind: Sowohl die Menschen, die von der Wohltätigkeit profitieren, als auch ihre Mutter, die in dem Glauben gestorben ist, dass ihre Tochter sich ihren Wünschen gefügt hat. Zweitens ging sie davon aus, dass sie ihre Mutter nicht hätte umstimmen können. Einzig die Tochter hätte wegen der Lüge mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen, was aber in der Summe in Kauf zu nehmen ist. Ein offenes Gespräch hätte sogar zur Folge haben können, dass die Mutter eine andere Verantwortliche für die Umsetzung ihres letzten Willens bestimmt hätte. Dadurch wären der Tochter die Mittel zur Wohltätigkeit abhanden gekommen und gleichzeitig hätte es auch die Mutter unglücklich gemacht, die im Unfrieden mit ihrer Tochter gestorben wäre. Aus utilitaristischer Sicht ist das eine vernünftige und moralisch vertretbare Rechtfertigung. Da nicht nur ein Versprechen gebrochen wird, sondern darüber hinaus der Bruch desselben im Voraus geplant wird, ist sie aus kantischer Sicht unannehmbar. Laut der kantischen Ethik ist die Tochter gezwungen, einen ehrlichen Weg zu suchen, sowohl ihre Mutter zufriedenzustellen als auch eine möglichst gute Lösung für den Einsatz des Erbes zu finden. Die kantische Vorstellung von allgemeiner Glückseligkeit unterscheidet sich somit von der des Utilitarismus, da

34 Ich gehe im folgenden Kapitel detaillierter darauf ein, warum Konsistenz ein Kriterium für moralische Zwecke ist. Grundsätzlich geht es dabei darum, dass ein Urteil über das Gute ein vernünftiges Urteil ist und somit für alle vernünftigen Wesen zustimmungsfähig sein muss (vgl. Abschnitt 2.5, S. 55.). Vgl. hierzu auch Korsgaard (1986, S. 196): „Given that the good must be a consistent, harmonious object of rational desire and an object of the faculty of desire for every rational being, one can take neither everyone’s happiness nor just one’s own happiness to be good without qualification: the former does not form a consistent harmonious object; and the latter cannot plausibly be taken to be the object of every rational will if the former is not.“

36 | 1 Der kategorische Imperativ und allgemeine Glückseligkeit

sie immer unter der Einschränkung steht, nicht durch unmoralische Handlungen zustande kommen zu dürfen. Was als moralische Handlung gilt, wird allein durch die Verallgemeinerbarkeit der Maxime bestimmt. Was den moralischen Wert der Handlung betrifft, so kann eine nicht verallgemeinerbare Maxime nicht durch vermeintlich positive Folgen der Handlung aufgewogen werden.³⁵ Schließlich können wir auf Basis des hier entwickelten Ansatzes eine Möglichkeit aufzeigen, worin die Verbindung zwischen moralischem Gesetz und höchstem Gut bestehen könnte.³⁶ In dem Maße, in dem Akteure tugendhaft sind, befördern sie allgemeine Glückseligkeit, ihre eigene eingeschlossen. Damit haben wir auf Basis des kategorischen Imperativs eine notwendige Beziehung zwischen Tugend und Glückseligkeit der Absicht nach begründet, ohne das Konzept des höchsten Guts vorauszusetzen. Eine notwendige und proportionale Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit in der Welt, wie Kant sie für das höchste Gut beschreibt (vgl. KpV 110f.), ist durch die Überlegungen dieses Kapitels allerdings noch nicht erklärt. Wir werden darauf später zurückkommen. Dieser Interpretationsvorschlag zeigt also, wie das Gute (die gute Maxime, die gute Handlung) durch das moralische Gesetz bestimmt wird, und bietet zugleich eine Erklärung dafür an, wie das höchste Gut, bestehend aus Tugend und Glückseligkeit, Gegenstand des moralischen Gesetzes sein kann. Viele Details, die zum Verständnis dieses Zusammenhangs notwendig sind, haben wir in diesem Kapitel allerdings noch ausgespart. Sie werden in eigenen Kapiteln gesondert behandelt. So widmet sich Kapitel 4 dem Begriff der Tugend und Kapitel 5 dem der Glückseligkeit, während Kapitel 6 auf die von Kant mehrfach geäußerte These eingeht, zwischen Tugend und Glückseligkeit bestehe im höchsten Gut ein proportionaler Zusammenhang. Im siebten Kapitel, in dem es um die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts geht, werde ich die Thematik dieses Kapitels – den Zusammenhang

35 Es gibt ein konsequentialistisch anmutendes Argument dafür, warum die kantische Ethik an dieser Stelle plausibel ist, auch wenn sie, zumindest in solchen Fällen, von dem Akteur intensiveres praktisches Überlegen erfordert. Es ist das klassische Dammbruchargument, das auch in Bereichen wie der Präimplantationsdiagnostik, der Folter oder der Internetzensur zur Anwendung kommt. Es ist einfach, jeweils Fallbeispiele zu rekonstruieren, die zu zeigen scheinen, dass all dies in Ausnahmefällen erlaubt sein sollte. Dennoch gibt es gute Gründe dafür, anzunehmen, dass in der Praxis nicht kontrollierbar ist, ob die Umstände die jeweilige Handlungsweise tatsächlich rechtfertigen. Dieses Argument lässt sich auch auf eine einzelne Person anwenden, die sich angewöhnt, zu lügen, wenn es vermeintlich zum allgemeinen Wohl erforderlich ist. Wer dies einmal beginnt, dem fällt es wahrscheinlich anschließend schwer, nach einer vielleicht schwierigeren, aber ehrlichen Lösung zu suchen, und zwar eben auch dann, wenn es sich nicht um einen dramatischen Ausnahmefall handelt. 36 Die Verbindung zwischen moralischem Gesetz und höchstem Gut wird von Kant zwar behauptet, aber nicht begründet (vgl. z. B. KpV 109).

1.8 Allgemeine Glückseligkeit als übergeordneter Zweck von Moral | 37

zwischen moralischem Gesetz und höchstem Gut – wieder aufgreifen und vertiefen. Im jetzt folgenden, zweiten Kapitel werden wir auf ein weiteres wichtiges Element der deontologischen Ethik Kants schauen, nämlich auf sein formales Konzept des Guten und auf das damit eng verbundene Konzept der Gegenstände praktischer Vernunft.³⁷

37 Bei dieser Interpretation des kategorischen Imperativs wurde intensiv von Kants Bemerkungen zu der weiten Pflicht zur Beförderung der Glückseligkeit anderer Gebrauch gemacht. Kant hebt mit eigener Vollkommenheit (GMS 422f., 430; TL 386f., 391f.) eine andere weite Pflicht (bzw. eine andere Tugendpflicht) ähnlich hervor. Die interessante Frage, ob sie eine ähnlich zentrale Rolle für das Verständnis der Anwendung des kategorischen Imperativs spielt, werde ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen.

2 Gegenstände praktischer Vernunft In diesem Kapitel geht es um Kants Konzept der Gegenstände praktischer Vernunft und sein Konzept des Guten, die eng miteinander verknüpft sind. Auf der Basis des vorangehenden Kapitels können wir auf die Frage ‚Was ist moralisch gut?‘ folgende Antwort geben: Erstens die allgemeingültigen Maximen, die mit dem Verfahren des kategorischen Imperativs ausgewählt, und zweitens die Handlungen, die auf der Basis solcher Maximen ausgeführt werden. Auch wenn wir bisher nicht explizit darauf eingegangen sind, so lässt sich damit vereinbaren, dass wir drittens Personen als moralisch gut bezeichnen, die dauerhaft einen guten Willen in ihrer Maximenwahl und somit ihren Handlungen beweisen.¹ Diese Aufstellung lässt sich auch im zweiten Hauptstück der Analytik der KpV wiederfinden: Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen [...] bezogen, und, sollte etwas schlechthin [...] gut oder böse sein [...], so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst [...] sein, die so genannt werden könnte (KpV 60).

Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein Problem. Da laut Kant (i), wie gerade gesehen, das Gute und Böse auf Handlungen, Maximen und Personen bezogen und (ii) Gegenstände der praktischen Vernunft als gut oder böse beurteilt werden², scheint zu folgen, dass die Menge der Gegenstände der praktischen Vernunft mit der Menge der Handlungen, Maximen und handelnde Personen identisch ist. Da Kant diesen Schluss aber selbst nicht zieht und vor allem ein mehrdeutiger Gebrauch des Ausdrucks ‚Gegenstand‘ Interpretationsspielraum gibt, ist nicht klar, wie wir die Ausführungen in diesem Textstück einzuordnen haben. Vor allem irritiert in diesem Zusammenhang Kants Sprachgebrauch, dass Handlungen (und Maximen) ‚etwas zum Gegenstand haben‘ können.³ Wenn nun

1 Für Kant handelt es sich bei Moral um etwas wesentlich Dispositionales: Vgl. z. B. den Anfang der GMS, wo Kant betont, dass es der gute Wille sei, auf den es ankomme (GMS 393), oder die Ausarbeitung des Begriffs der Gesinnung in der Religionsschrift (vgl. RGV 23, 25, 70). 2 „Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind [...] die vom Guten und Bösen. Denn durch das erstere versteht man einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft“ (KpV 58). 3 Vgl. z. B.: „Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objectiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen ist, so ist es auch subjectiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem es auf die https://doi.org/10.1515/9783110599763-003

2 Gegenstände praktischer Vernunft |

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Handlungen und Maximen selbst wiederum ‚Gegenstände‘ sein sollen, wird in vielen Passagen unklar, worüber gerade gesprochen wird. Darüber hinaus hebt Kant eine besondere Klasse von Gegenständen der reinen praktischen Vernunft hervor (KpV 57f.). Auch hier gibt es eine prima facie einleuchtende Deutung: Wir könnten annehmen, es werde sich um moralisch gute Zwecke handeln und damit auf der Seite der Zwecke um das entsprechende Gegenstück zu den praktischen Gesetzen auf der Seite der Prinzipien. Es sind die Zwecke, die als objektiv gut beurteilt werden; oder auch die Zwecke, die wir uns setzen sollen. In Abgrenzung dazu gäbe es die Zwecke, die wir uns tatsächlich setzen, weil wir sie subjektiv als gut beurteilen, die wiederum den Maximen auf der Prinzipienseite entsprechen.⁴ Hierzu passt auch, dass Kant das höchste Gut sowohl als „Totalität des Gegenständes der reinen praktischen Vernunft“ bezeichnet (KpV 108), als auch als höchsten und letzten bzw. als Endzweck (RGV 6ff. Anm.). Aber auch diese Interpretation ist nicht unproblematisch. Auch hier gilt zunächst, dass Kant diese Gleichsetzung ‚Gegenstand praktischer Vernunft = Zweck‘ selbst nicht vornimmt. Außerdem sagt er in der Grundlegung, dass die moralische Willensbestimmung grundsätzlich von möglichen Zwecken absehe (GMS 394; 400), und wenn es überhaupt objektive Zwecke gäbe, dann seien es die Menschen als freie, rationale Wesen selbst, als Zwecke an sich selbst (GMS 427f.). Mit anderen Worten: Was ‚moralisch gute Zwecke‘, abgesehen von Menschen als Zwecken an sich selbst, in einer Ethik überhaupt sein sollen, die die Moralität allein an der Form der Maxime bestimmt, müsste geklärt werden, bevor wir sie zur Erklärung anderer unklarer kantischer Konzepte benutzen können.⁵ Der Schlüssel zu Kants Konzept des Guten scheint ein genaues Verständnis davon vorauszusetzen, was Gegenstände der praktischen Vernunft sind. Im Folgenden werden zunächst die Probleme dargestellt, vor die uns die Passage über die Gegenstände der praktischen Vernunft stellt, diese eingeordnet und teilweise Lösungsvorschläge skizziert (Abschnitt 2.1). Anschließend werde ich einen kurzen Überblick darüber geben, welchen Antworten die Literatur bisher auf die Frage gegeben hat, was Gegenstände der praktischen Vernunft sein könnten

Sinnlichkeit des Subjects Einfluß hat und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzes auf den Willen beförderlich ist“ (KpV 75; H.v.m.). 4 Vgl.: „Maxime ist das subjective Princip des Wollens; das objective Princip (d. i. dasjenige, was allen vernünftigen Wesen auch subjectiv zum praktischen Princip dienen würde, wenn Vernunft volle Gewalt über das Begehrungsvermögen hätte) ist das praktische Gesetz“ (GMS 400 Anm.). 5 Dass Kant später vereinzelt auch das höchste Gut als Zweck an sich bezeichnet (Gemeinspruch 279 Anm.) und mit den Tugendpflichten, die zugleich Zwecke sind, weitere moralisch gute Zwecke einführt (TL 382ff.), verkompliziert die Untersuchung eher noch, als dass es etwas erklärt.

40 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

(Abschnitt 2.2). Für das Verständnis dieser Passage scheint entscheidend zu sein, zu ergründen, wie sich Kant das Zusammenspiel von Erkenntnis, Begriff und Gegenstand im praktischen Vernunftgebrauch vorstellt. Deshalb werde ich die wenigen Bemerkungen, die wir in Kants Werk dazu finden, analysieren und das Ergebnis auf den vorliegenden Textabschnitt anwenden. Dabei werde ich die Hypothese aufstellen, dass ein Gegenstand der praktischen Vernunft im Wesentlichen eine Handlung ist und erst in zweiter Linie, von der einzelnen Handlung abstrahierend, das ganze Verhalten meint (Abschnitt 2.3). Sowohl das Gute als auch die Gegenstände der praktischen Vernunft werden anhand einer grundlegenden Unterscheidung von zwei Arten der Willensbestimmung in zwei Klassen eingeteilt (Abschnitt 2.4). Weil Kant außerdem beides (das Gute und die Gegenstände der praktischen Vernunft) miteinander identifiziert, bietet uns das die Möglichkeit, von seinem Konzept des Guten zurück auf sein Konzept der Gegenstände der praktischen Vernunft zu schließen. Dieser Idee folgend gehe ich auf die Unterscheidung zwischen dem Guten und dem Angenehmen ein und anschließend auf die Unterscheidung zwischen dem mittelbar Guten und dem unmittelbar und an sich selbst Guten (Abschnitt 2.5). Darauf aufbauend beschäftige ich mich noch einmal mit der Passage über Gegenstände praktischer Vernunft und überprüfe die oben skizzierte Hypothese (Abschnitt 2.6). Obwohl Kant den Ausdruck ‚Zweck‘ in dem Abschnitt kaum verwendet, ist es aus mehreren Gründen naheliegend, ihn mit dem ‚Gegenstand der praktischen Vernunft‘ zu identifizieren oder zumindest einen engen konzeptuellen Zusammenhang zu vermuten. Somit wird eine diesbezügliche Auseinandersetzung unser Verständnis für Gegenstände der praktischen Vernunft bereichern (Abschnitt 2.7). Laut Kant sucht die reine praktische Vernunft „zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) [...] das Unbedingte“ als die „unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“. Diese Totalität wird mit dem höchsten Gut identifiziert (KpV 108). Aufbauend auf meinem Verständnis, was ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft ist, werde ich einen Vorschlag machen, wie das höchste Gut als eine solche Totalität zu verstehen ist (Abschnitt 2.8).

2.1 Interpretationsprobleme Über Gegenstände der reinen praktischen Vernunft an sich sagt Kant äußerst wenig; eine Definition oder gar eine Erläuterung anhand von Beispielen sucht man vergeblich. Was einer Definition am nächsten kommt, sind die ersten Zeilen des Abschnitts, in denen es allerdings um Gegenstände der praktischen Vernunft bzw. der praktischen Erkenntnis überhaupt geht:

2.1 Interpretationsprobleme |

41

Unter [einem BegriffeOA | dem Begriffe eines GegenstandesAA ] der praktischen Vernunft verstehe ich die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit. Ein Gegenstand der praktischen Erkenntniß als einer solchen zu sein, bedeutet also nur die Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er oder sein Gegentheil wirklich gemacht würde [...].⁶

Allein diese wenigen Zeilen sind mit vielfältigen Interpretationsschwierigkeiten verbunden: 1. Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass mehrere einflussreiche Ausgaben im ersten Satz von der Originalausgabe abweichen. Wenn wir diesen Satz als Definition verstehen – ‚Unter X verstehe ich Y‘ –, mit X als Definiendum und Y als Definiens, dann ist das Definiendum je nach Ausgabe verschieden. In der Originalausgabe (der auch die Weischedel-Ausgabe folgt), ist das Definiendum ‚ein Begriff der praktischen Vernunft‘. In der Akademie-Ausgabe (und dem folgend auch in der Brandt/Klemme-Ausgabe und in der englischen Übersetzung von Gregor) ist es der ‚Begriff eines Gegenstandes der praktischen Vernunft‘. Paul Natorp, der Herausgeber der zweiten Kritik in der Akademie-Ausgabe, schreibt zu seiner Änderung nur: „Diese Verbesserung, die d. Her. schon in der vorhergehenden Ausgabe vorschlug, aber nicht in den Text aufzunehmen wagte, wird auch befürwortet durch v. Aster und Schöndörffer“ (Anmerkungen zur KpV 502). Eine inhaltliche Begründung dieser Änderung (oder der Übernahme der Änderung in späteren Ausgaben) konnte nicht ermittelt werden. Es liegt jedoch die Vermutung nahe, dass der Satz damit an die Überschrift („Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“) angepasst werden soll.⁷ Da nach Kant Begriffe Vorstellungen sind (vgl. z. B. Logik 91), hat die Version der Originalausgabe eine nachvollziehbare logische Struktur: Begriffe im Allgemeinen (oder der Vernunft überhaupt) sind Vorstellungen, die sich auf Gegenstände beziehen. Die geänderte Fassung lädt zu einem Missverständnis ein: Sie scheint den Begriff ‚Gegenstand der praktischen Vernunft‘ definieren zu wollen, was prima facie schlüssig klingt. Doch dadurch würde nicht der „Begriff“ sondern der „Gegenstand“ der praktischen Vernunft mit der „Vorstellung eines Objekts“ gleichgesetzt. Wir wären dann gezwungen, zwischen zwei Arten von Gegenständen zu unterscheiden: Erstens gäbe es die Vorstellungen, die Gegenstände der praktischen Vernunft sind. Zweitens gäbe es die Gegenstände, die wieder-

6 KpV 57; mit OA und AA ist eine Abweichung der Akademie-Ausgabe von der Originalausgabe ausgewiesen. 7 Das nimmt auch Zimmermann (2011, S. 40 Fn. 83) an.

42 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

um Gegenstände jener Vorstellungen sind. Das scheint nicht sehr naheliegend zu sein. Es gibt noch einen weiteren Grund, den Text der Originalfassung (und die damit verbundene Interpretation) zu bevorzugen: Die Rede vom ‚Begriff eines Gegenstandes‘ ist im ganzen kantischen Werk äußerst selten und kommt z. B. in der zweiten Kritik sonst nicht vor. In den wenigen Passagen, in denen Kant diese Formulierung verwendet, scheint es klarerweise eine Kurzform von Kants sonstiger Redeweise zu sein (Gegenstände fallen unter Begriffe, Begriffe beziehen sich auf Gegenstände).⁸ Unabhängig davon, an welcher Textversion wir uns orientieren, ist wichtig, dass wir uns an die kantische Bedeutung des Ausdrucks ‚Begriff‘ halten. Begriffe von Gegenständen der praktischen Vernunft sind demnach Vorstellungen von diesen Gegenständen. Diese Gegenstände der praktischen Vernunft sind ‚mögliche Wirkungen aus Freiheit‘.⁹ 2. In der kurzen Passage KpV 57.17–58.5 gibt es sechs Fundstellen des Ausdrucks ‚Gegenstand‘ und vier Fundstellen des Ausdrucks ‚Objekt‘. Verwendet Kant diese Ausdrücke völlig austauschbar? Kant selbst gibt keine Anhaltspunkte, wie wir inhaltlich eine Unterscheidung treffen sollten; dennoch bleibt die Frage sinnvoll, warum Kant nicht konsequent bei einem Ausdruck bleibt und so den Text unnötig verkompliziert. 3. Welcher Freiheitsbegriff wird hier verwendet? Diese Frage wird gelegentlich in der Literatur diskutiert. So schließt z. B. Basaglia (2009, S. 110 Fn. 58) aus der Tatsache, dass der Ausdruck Freiheit zunächst auf alle Gegenstände der praktischen Vernunft bezogen wird, und erst danach auf die Klasse der Gegenstände der reinen praktischen Vernunft eingeschränkt wird, dass die erwähnte Freiheit keine transzendentale Freiheit sein kann.¹⁰ Um von Gegenständen praktischer Vernunft überhaupt zu sprechen, scheint ein relativ schwacher Freiheitsbegriff tatsächlich ausreichend zu sein. Aber für Gegenstände reiner praktischer Vernunft müssen wir davon ausgehen, dass reine Vernunft den Willen bestimmen kann. Und das ist für Kant gleichbedeutend damit, einen starken Begriff transzendentaler Freiheit anzunehmen.¹¹ Wenn wir den Ort der Passage in der zweiten Kritik berücksichtigen, stellen wir fest, dass im ersten

8 Die Fundstellen sind: 2:289, KrV A 146/B 185, KU 285, R 4806, 17:734, KrV A 250f. 9 Ich danke Werner Stark für eine fruchtbare Diskussion zu der Abweichung in diesem Satz. 10 So auch Beck (1960, S. 130) u. Zimmermann (2011, S. 40 Fn. 84). 11 Vgl. z. B. „Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich. Mit diesem Vermögen steht auch die transscendentale Freiheit nunmehr fest [...]“ (KpV 3).

2.1 Interpretationsprobleme |

43

Hauptstück dieser enge Zusammenhang zwischen transzendentaler Freiheit und reiner praktischer Vernunft gezeigt wird (vgl. KpV 29, 33, 42). Es ist davon auszugehen, dass Kant ihn hier voraussetzt.¹² 4. Während die logische Struktur des ersten Satzes relativ klar ist („Unter X verstehe ich Y“), ist die Frage, wie wir den zweiten Satz verstehen sollen, wesentlich schwieriger zu beantworten: „Ein X zu sein, bedeutet also nur Y, dadurch Z.“ Was heißt es genau, dass ein Gegenstand der praktischen Erkenntnis die „Beziehung“ des Willens auf die Handlung „bedeutet“? Für ein Verständnis dieses Satzes scheint es erforderlich zu sein, dass wir (a) verstehen, was praktische Erkenntnisse sind und (b) was darauf aufbauend deren Gegenstände sind. Und beides sagt Kant weder hier noch im weiteren oder vorhergehenden Textverlauf. Auch die anschließenden Sätze der Passage über die Gegenstände der praktischen Vernunft bieten keine Erläuterungen für die genannten Interpretationsprobleme an, sondern bringen stattdessen weitere mit sich. Ich werde mein Verständnis dieses Textstücks zunächst nur kurz skizzieren: Kant unterscheidet dort die uns hier besonders interessierende Klasse von Gegenständen der reinen praktischen Vernunft (GpV r ) von denen der empirisch-bedingten praktischen Vernunft (GpV e ). Wenn ein (der Vernunft äußeres) Objekt den Willen bestimmt, so ist die notwendige Bedingung dafür, dass es ein GpV e sein kann, seine physische Möglichkeit. Wenn dagegen das moralische Gesetz den Willen bestimmt, ist notwendige und hinreichende Bedingung dafür, dass etwas ein GpV r sein kann, die moralische Möglichkeit der Handlung, die (irgendein) Objekt hervorbringt (wobei unklar ist, ob das ‚etwas‘, das GpV r sein kann, mit dem Objekt, das durch die Handlung hervorgebracht wird, identisch ist). Neben vielen Detailproblemen ist das hauptsächliche Problem beim Verständnis dieses Textes weiterhin, dass Kant konsequent vermeidet, zu erläutern, worauf er sich eigentlich mit dem Ausdruck ‚Gegenstand‘ bezieht. Wir sehen uns hier vor grundsätzliche Schwierigkeiten gestellt: Diese Sätze Kants sind auf so einer allgemeinen Ebene angesiedelt, dass wir nur eine sehr vage Vorstellung davon entwickeln können, auf welche Aspekte unseres praktischen Lebens sie sich überhaupt beziehen und welche Funktion die angesprochenen ‚Gegenstände‘ in Kants Handlungs- und Moraltheorie erfüllen. Unsere Ergebnisse des ersten Kapitels helfen uns zudem kaum weiter: Bei der dortigen Untersuchung des kategorischen Imperativs haben wir nur einen kleinen Ausschnitt der praktischen Philosophie Kants betrachtet. Es war für die dortigen Überlegungen nicht

12 Vgl. auch Puls (2013, S. 37).

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wichtig, dass unser durch Maximen geleiteter Wille zugleich praktische Vernunft ist und sich als solche durch Begriffe auf Gegenstände bezieht. Es erscheint deswegen sinnvoll, einen Schritt zurückzutreten und den theoretischen Hintergrund dieser Passage zu erarbeiten. Bevor wir dies unternehmen, werde ich kurz auf die verschiedenen Positionen eingehen, die bisher in der Literatur zu diesem Thema eingenommen wurden.

2.2 Literaturüberblick Wie Kants Konzept des Guten und vor allem seine Idee von Gegenständen reiner praktischer Vernunft genau zu verstehen sind, wird seit Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft im Jahre 1788 diskutiert.¹³ Es fällt dabei auf, dass viele Autoren zwischen mehreren Interpretationsideen schwanken. So äußert sich Beck (1960, S. 129f.) zunächst vorsichtig: Der Ausdruck ‚Gegenstand‘ müsse in diesem Kontext so umfassend verstanden werden, dass er sowohl den Zustand, der durch eine Handlung hervorgerufen werde, als auch die Handlung selbst meinen könne.¹⁴ Einige Zeilen später legt sich Beck jedoch darauf fest, dass Gegenstände der praktischen Vernunft und Zwecke identisch seien.¹⁵ Dieringer (2002) schwankt zwischen der Gleichsetzung der Gegenstände praktischer Vernunft mit Handlungen, Handlungsgründen, Zwecken, und ‚Strebenszielen‘.¹⁶ Und Puls (2013, S. 38)

13 Vgl. aus einer Rezension zur zweiten Kritik noch aus demselben Jahr: „Fragt man [...] nach der Erklärung der Idee des absolut Guten (dergleichen im 2. Hauptstück der Analytik vergeblich gesucht wird), so läßt sich durchaus nichts anderes herausbringen als das Vernunftmäßige. Soll dieses Gute als ein transzendentes Objekt gedacht werden, so entsteht nichts als Schwärmerei, da unsere transzendente Erkenntnis nur auf das Formelle geht: das Formelle eines jeden transzendenten Objekts aber kann gar nichts anderes sein als Vernunftgesetz. Es bestätigt sich also auch hier, wie im spekulativen Gebrauch, daß die Vernunft sich immer nur in sich selbst herumdreht [...]“ (Rehberg 1788, S. 186f.). 14 „‚Object‘ must be taken in a sufficiently broad sense to cover two things: states of affairs produced by action and action itself. It must not be thought that ‚object‘ means only a thing in the world created by action“ Beck (1960, S. 129f.). 15 „The concept of the object of practical reason is the object’s representation regarded as an efficient cause of the action that is to produce the object. Object of practical reason and purpose of the will are thus identical“ Beck (1960, S. 130). 16 „Was eine Handlung zum Gegenstand praktischer Vernunfterkenntnis macht, ist nach Ansicht Kants vielmehr der Umstand, daß eine Handlung gewollt ist. [...] Es dürfte nun auf der Hand liegen, in welcher Hinsicht nach Kant eine Handlung als Gegenstand praktischer Vernunfterkenntnis betrachtet werden kann [...] Gegenstand praktischer Vernunfterkenntnis sind die Gründe, aufgrund derer sich ein handelndes Subjekt entscheidet, bestimmte Handlungen zu wollen oder zu unternehmen“ (Dieringer 2002, S. 141f.). Vgl. auch S. 148, 150.

2.2 Literaturüberblick |

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ist sich zunächst nur darin sicher, dass es sich „bei diesem Objekt keinesfalls um ein gegenständliches Objekt der empirischen Welt handeln [kann], sondern nur um ein solches, das eine genuin praktische Bedeutung hat“. Es könne nur „im moralischen Wert oder Unwert des hervorgebrachten Sachverhaltes bzw. der diesem zugrunde liegenden Willenshandlung liegen“. Später legt sich Puls (2013, S. 39f.) fest, es seien „Handlungen, unter denen man jene ‚Objekte‘ praktischer Vernunft zu verstehen hat“, ohne ein Argument für diese These zu nennen.¹⁷ Engstrom (1996) und Bader (2015) schließen sich Beck an und setzen zusätzlich Gegenstände reiner praktischer Vernunft entsprechend mit moralisch guten Zwecken gleich. Graband (2005, S. 49f.) wiederum sagt, das Gute und Böse an sich seien Gegenstände der praktischen Vernunft (es gebe somit überhaupt nur zwei). Torralba (2013, S. 680ff.) hingegen identifiziert die Gegenstände der praktischen Vernunft mit Maximen und Gesinnungen.¹⁸ Einig sind sich diese Positionen nur darin, dass es sich bei ‚Gegenständen der praktischen Vernunft‘ nicht um das handelt, was wir alltagssprachlich als ‚Gegenstände‘ bezeichnen. Wenn wir als Beispiel den Bau eines Hauses betrachten, dann ist das fertig gebaute Haus, das wir sehen und betreten können, ein Gegenstand der theoretischen Vernunft (wir haben eine Anschauung davon, können es unter Begriffe bringen etc.) aber keines der praktischen Vernunft. Aber ist die Handlung des Hausbauens ein Gegenstand der praktischen Vernunft, oder ist es der Zweck, den wir mit dieser Handlung verbinden? Von – oben auch erwähnten – exotischeren Möglichkeiten scheint das der wesentliche Streitpunkt in der Literatur zu sein. Bevor wir in dieser Debatte Stellung beziehen können, erscheint es ratsam zu ergründen, wie sich im Praktischen Begriffe auf Gegenstände beziehen können und somit, was Erkenntnisse der praktischen Vernunft sind.

17 Auch für Bobzien (1988, S. 194) sind Gegenstände praktischer Vernunft Handlungen: „Die Objekte der praktischen Vernunft bestimmt Kant [...] als die möglichen Gegenstände des Begehrungsvermögens durch Begriffe [...]. Objekte der reinen praktischen Vernunft sind die Gegenstände der praktischen Vernunft, die durch reine praktische Vernunft gewollt werden können [...]. Diese Gegenstände werden von Kant ausdrücklich als Handlungen bestimmt [...]. Es handelt sich also nicht um Gegenstände, die das Ergebnis oder den Zweck dieser Handlung ausmachen. (Als schlechthin gut bzw. böse können außerdem die entsprechenden Maximen bezeichnet werden [...].“ Ebenso Kleingeld (2016, S. 37) u. Westra (2016, S. 20). 18 Vgl. für weitere Positionen: Bacin (2001), Pieper (2002, S. 115), Barth (2005, S. 267), Stolzenberg (2008), Basaglia (2009).

46 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

2.3 Erkenntnisse der praktischen Vernunft Kant verbindet in der Lehre der Gegenstände praktischer Vernunft zwei grundlegende philosophische Theoriestücke miteinander. Erstens geht es darum, wie wir uns durch Vorstellungen zum Handeln bestimmen können; der Wille wird als eine bestimmte Form des Begehrungsvermögens betrachtet. Zweitens geht es darum, wie wir über eine bestimmte Art von Begriffen (die der praktischen Vernunft) zu einer bestimmten Art von Erkenntnissen gelangen können (nämlich praktischen Erkenntnissen); der Wille wird als bestimmte Form der Vernunft betrachtet, als praktische Vernunft. Schon in der Einleitung zur zweiten Kritik nennt Kant den Willen das Vermögen, „den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen, oder doch sich selbst zu Bewirkung derselben [...] zu bestimmen“ (KpV 15). Der Wille ist demnach eine besondere Form des Begehrungsvermögens, also des Vermögens, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (KpV 9 Anm.).¹⁹ Die ‚Gegenstände der praktischen Vernunft‘ wären demnach die Gegenstände, die der Wille als Begehrungsvermögen hervorbringt, aber auf die ihm eigene Weise, nämlich nach Prinzipien.²⁰ Dies führt uns zu der zweiten Sichtweise, die hier im Spiel ist: Der Wille erfüllt seine Funktion als Begehrungsvermögen offenbar dadurch, dass er sich in einer Weise mit Begriffen auf Gegenstände bezieht, die von der aus der theoretischen Philosophie gewohnten Weise abweicht. Denn im Praktischen gewinnen wir laut Kant Erkenntnisse, „was da sein soll“, im Gegensatz zu den Erkenntnissen der theoretischen Philosophie über das, „was da ist“.²¹ An anderer Stelle sagt Kant, theoretische Philosophie beschäftige sich damit, wie Gegenstände Ursache von 19 Vgl. KU 177f. Anm. für eine Verteidigung dieser These; vgl. auch KrV A 92f./B 124f. 20 Vgl. für diesen Zusammenhang auch: „Das Begehrungsvermögen, so fern es unter der Vorstellung einer Regel bestimmbar ist, heißt der Wille. Wenn die Regel als der unmittelbare Bestimmungsgrund des Willens betrachtet wird, so ist Bestimmung des Willens durch dieselbe, obiectiv, d. i. durch Vernunft betrachtet, Verbindlichkeit, [ist] enthält sie nur das das (g Allgemeine der) Verknüpfung eines andern Bestimmungsgrundes mit dem Willen, so [heißt] ist die Bestimmung des Willens nach dieser Regel (g obiectiv) durch die Vernunft pragmatische Nöthigung. Beyde sind Imperativen. Ist [keiner der Bestimmungs] der von der Regel unterschiedene Bestimmungsgrund blos als möglicher Gegenstand des Begehrungsvermögens anzusehen, so ist er gar kein Bestimmungsgrund des Willens sondern blos der Handlung als Mittels durch die Vernunft, und die Begierde bestimmt den Willen. Dieses ist alsdann die formale practische Nöthigung. Die Critik der practischen Vernunft legt die Unterscheidung der empirisch-bedingten practischen Vernunft von der reinen und gleichwohl doch practischen Vernunft zum Grunde und frägt: ob es eine solche, als die letzte ist, gebe“ (19:275; vgl. weiterhin 23:383). 21 Vgl. z. B. „Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntniß durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was dasein soll“

2.3 Erkenntnisse der praktischen Vernunft |

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Vorstellungen sein können – praktische Philosophie beschäftige sich damit, wie Vorstellungen Ursache von Gegenständen sein können.²² Für unser Verständnis des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist es somit entscheidend, zu verstehen, was praktische Erkenntnis ist, was sie mit der theoretischen gemein hat und worin sich beide unterscheiden. In der theoretischen Philosophie definiert Kant Erkenntnisse als „mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstellungen“. Dabei hebt er mit Begriffen und Anschauungen zwei Arten von Vorstellungen hervor. Begriffe unterscheiden sich von Anschauungen, die sich auf einzelne Gegenstände beziehen, dadurch, dass sie „allgemeine“ Vorstellungen sind, also Vorstellungen „dessen, was mehreren Objecten gemein ist“ (Logik 91). Als Beispiel können wir sagen, dass die Begriffe ‚rot‘ und ‚Ball‘ in dem Begriff ‚roter Ball‘ enthalten sind, und ein roter Ball als konkretes Ding unter letzteren Begriff fällt. Begriffe können sich aber nur mittelbar auf Gegenstände beziehen, nämlich auf Anschauungen von diesen Gegenständen (KrV A 320/B 377). Auf dieser Basis können wir dann von bloßen Wahrnehmungsurteilen („wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm“) zu sogenannten Erfahrungsurteilen, z. B. über kausale Zusammenhänge, gelangen („die Sonne erwärmt den Stein“, Prolegomena 301 Anm.). Kant bezeichnet nun sowohl Begriffe und Anschauungen selbst als Erkenntnisse (KrV A 320/B 377), als auch objektiv gültige Urteile, die mithilfe von ersteren gefällt werden (20:266). Wie verhält es sich nun mit der praktischen Erkenntnis? Zunächst besteht ein Unterschied darin, dass bei praktischen Erkenntnissen Anschauungen keine Rolle spielen. Wir können uns dies intuitiv dadurch klar machen, dass die Gegenstände, mit denen sich praktische Vernunft beschäftigt, zum Zeitpunkt der Beschäftigung noch gar nicht vorhanden oder ‚anschaubar‘ sind. Denn sie beschäftigt sich schließlich mit dem, was (erst) sein soll und nicht mit dem, was (schon) ist. Aber selbst wenn wir uns damit als mögliche Gegenstände in der Welt beschäftigen, also zum Beispiel Handlungen als Zustandsänderungen in der Welt betrachten, dann ist

(KrV A 633/B 661); vgl. auch KrV A 319/B 375, KrV A 534/B 563, KrV A 547f./B 575f., KrV A 840/B 869, KrV A 845/B 873, GMS 427, KU 403 u. Logik 86. 22 „Der Unterschied also zwischen den Gesetzen einer Natur, welcher der Wille unterworfen ist, und einer Natur, die einem Willen (in Ansehung dessen, was Beziehung desselben auf seine freie Handlungen hat) unterworfen ist, beruht darauf, daß bei jener die Objecte Ursachen der Vorstellungen sein müssen, die den Willen bestimmen, bei dieser aber der Wille Ursache von den Objecten sein soll, so daß die Causalität desselben ihren Bestimmungsgrund lediglich in reinem Vernunftvermögen liegen hat, welches deshalb auch eine reine praktische Vernunft genannt werden kann“ (KpV 44). Vgl. auch KrV B IXf. und KrV B XXVI Anm.

48 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

es nicht Aufgabe der praktischen, sondern der theoretischen Vernunft, sich mit diesem Aspekt des Gegenstandes zu beschäftigen.²³ Es gibt nur wenige weitere Stellen in der zweiten Kritik, an denen Kant von praktischer Erkenntnis spricht. Gleich zu Beginn des ersten Hauptstücks, in der Passage, in der Kant den Unterschied zwischen praktischen Gesetzen und Maximen erklärt, heißt es: In der Naturerkenntniß sind die Principien dessen, was geschieht, (z. B. das Princip der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in der Mittheilung der Bewegung) zugleich Gesetze der Natur; denn der Gebrauch der Vernunft ist dort theoretisch und durch die Beschaffenheit des Objects bestimmt. In der praktischen Erkenntniß, d. i. derjenigen, welche es blos mit Bestimmungsgründen des Willens zu thun hat, sind Grundsätze, die man sich macht, darum noch nicht Gesetze, darunter man unvermeidlich stehe, weil die Vernunft im Praktischen es mit dem Subjecte zu thun hat, nämlich dem Begehrungsvermögen, nach dessen besonderer Beschaffenheit sich die Regel vielfältig richten kann (KpV 19).²⁴

Praktische Erkenntnisse beziehen sich also auf die Willensbestimmung. Außerdem kann von einer praktischen Erkenntnis unabhängig davon gesprochen werden, ob die jeweilige Maxime sich zum Gesetz qualifiziert oder nicht. Es ist also nicht nur die moralische Willensbestimmung gemeint. Aber was sind nun praktische Erkenntnisse? Darüber sagt Kant in der zweiten Kritik nichts. Am deutlichsten gibt er uns in der Logik Auskunft: Praktische Erkenntnisse sind [...] Imperative und in so fern den theoretischen Erkenntnissen entgegengesetzt [...]. Unter Imperativ überhaupt ist jeder Satz zu verstehen, der eine mögliche freie Handlung aussagt, wodurch ein gewisser Zweck wirklich gemacht werden soll. Eine jede Erkenntniß also, die Imperative enthält, ist praktisch, und zwar im Gegensatze des theoretischen Erkenntnisses praktisch zu nennen. Denn theoretische Erkenntnisse sind solche, die da aussagen: nicht, was sein soll, sondern was ist, also kein Handeln, sondern ein Sein zu ihrem Object haben (Logik 86).²⁵

23 Vgl. z. B. „Ob die Causalität des Willens zur Wirklichkeit der Objecte zulange, oder nicht, bleibt den theoretischen Principien der Vernunft zu beurtheilen überlassen, als Untersuchung der Möglichkeit der Objecte des Wollens, deren Anschauung also in der praktischen Aufgabe gar kein Moment derselben ausmacht“ (KpV 45). Vgl. auch KpV 89f. 24 Vgl. entsprechend: „[T]heoretische Erkenntnisse sind, die den Verstand zum Urtheil, practische Erkenntnisse sind, die den Willen zum Handeln bestimmen. Natur und freyheit“ (R 2797, 16:518). 25 Kant nennt hier noch eine zweite Art von praktischen Erkenntnissen, nämlich solche, „die Gründe zu möglichen Imperativen“ enthalten, und „in so fern den speculativen Erkenntnissen entgegengesetzt“ werden (Logik 86). Diese Art von Erkenntnis kann hier jedoch ausgeklammert werden, da es sich um theoretische Erkenntnis handelt, die nicht direkt zum Handeln bestimmt (vgl. auch 24:901). Vgl. entsprechend: „Practische Sätze (Gebote) sind entweder 1) Imperativen, und da werden sie den theoretischen Entgegengesetzt; oder sie enthalten 2) – die Gründe zu möglichen Imperativen, und da werden sie den speculativen entgegengesetzt“ (R 2798, 16:518).

2.3 Erkenntnisse der praktischen Vernunft |

49

Wir lernen aus dieser Stelle zweierlei: Erstens sind praktische Erkenntnisse Imperative. Dies sollte uns nicht überraschen, denn wir wissen ja schon, dass sie ein Sollen ausdrücken. Zweitens sind die Gegenstände praktischer Erkenntnisse Handlungen. Auch dies kommt nicht unerwartet, denn Imperative schreiben schließlich Handlungen vor. Während Kant sich in GMS und KpV in Bezug auf Erläuterungen bezüglich praktischer Erkenntnisse zurückhält, drückt er sich in diesem Punkt sehr klar aus.²⁶ Somit wird auch verständlich, dass Kant in Bezug auf das moralische Gesetz sagt, es habe seines „gleichen in der ganzen übrigen praktischen Erkenntniß“ nicht (KpV 31). Denn es drückt als kategorischer Imperativ (i) ein unbedingtes Sollen aus, das für jeden zu jeder Zeit gilt, und (ii) ist es eine Erkenntnis, die für jeden zu jeder Zeit zugänglich ist. Für die These, dass Gegenstände der praktischen Erkenntnis Handlungen sind, finden wir in der Kaehler-Nachschrift einen weiteren Beleg. Demnach haben wir es laut Kant in der Philosophie mit einer Besonderheit zu tun. Denn in allen anderen wissenschaftlichen Disziplinen teilen theoretische und praktische Erkenntnisse das gleiche Objekt; erstere beschäftigen sich mit Urteilen über Objekte, letztere mit der Hervorbringung eben derselben Objekte. So will etwa die theoretische Medizin wissen, wie eine bestimmte Heilmethode funktioniert und die praktische Medizin, wie sie korrekt angewandt wird. In der Philosophie jedoch haben der theoretische und der praktische Zweig je verschiedene Objekte, denn die theoretische Philosophie beschäftigt sich mit der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, die praktische Philosophie hingegen mit der Möglichkeit freier Handlungen und des freien Verhaltens.²⁷

26 Vgl. z. B.: „Alle Imperativen nun gebieten entweder hypothetisch, oder kategorisch. Jene stellen die praktische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen andern Zweck, als objectiv=nothwendig vorstellte“ (GMS 414; H.v.m.). 27 „Alle Philosophie ist entweder theoretisch oder practisch; die theoretische ist die Regel der Erkenntniß, die practische ist die Regel des Verhaltens in Ansehung der freyen Willkür. Der Unterscheid der theoretischen von der practischen Philosophie ist das Object; die theoretische hat zum Object die Theorie und die practische die Praxin. Sonst theilt man die Philosophie ein in die speculative und practische. Mann nennt überhaupt Erkenntnisse theoretisch und practisch, die Objecte mögen seyn wie sie wollen; theoretisch sind sie, wenn sie der Grund sind von den Begriffen der Objecte, practisch aber, wenn sie der Grund von der Ausführung der Erkenntniß der Objecte seyn; so ist zE. eine theoretische und practische Geometrie, eine theoretische und practische Mechanic, theoretische und practische Medicin, theoretische und practische Jurisprudentz, das Object ist immer dasselbe. Also wenn ohnangesehen des Objects die Erkenntnisse theoretisch und practisch seyn, so betrifft es nur die Form der Erkenntniß, und zwar die theoretische zur Beurtheilung

50 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

Letzteres spezifiziert Kant wie folgt: Wenn ich vom Gegenstande abstrahire, so ist die Philosophie des Verhaltens diejenige, die uns Regel giebt vom guten Gebrauch der Freyheit, und dieses ist das Object der practischen Philosophie ohne Ansehung der Gegenstände.²⁸

Da Kant zuvor schreibt, die Objekte der praktischen Philosophie seien freie Handlungen und das freie Verhalten, können wir schließen, dass der ‚Gegenstand‘, von dem hier abstrahiert wird, wiederum Handlungen meint. Es gibt also zwei Arten von Gegenständen praktischer Erkenntnis: (i) die Handlungen selbst, (ii) das Verhalten allgemein, das von der konkreten Handlung abstrahiert.²⁹ Schließlich müssen wir uns noch folgende Frage stellen: Ist ein Gegenstand praktischer Erkenntnis etwas anderes als ein Gegenstand praktischer Vernunft? Auf der Basis von Kants Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen in der theoretischen Philosophie lässt sich folgende Vermutung anstellen: Gegenstände praktischer Vernunft sind prinzipiell nicht von anderer Art als Gegenstände praktischer Erkenntnis. Jede Handlung, die die praktische Vernunft grundsätzlich für möglich hält, könnte nach diesem Muster somit ihr Gegenstand sein. Ein Gegenstand praktischer Erkenntnis kann aber nur etwas sein, von dem die Vernunft bereits ermittelt hat, dass es ‚sein soll‘ (oder nicht sein soll) im Sinne eines praktischen, objektiv gültigen Urteils.³⁰

des Objects, die practische zur Hervorbringung des Objects. Hier ist aber der Unterschied des theoretischen und practischen in Ansehung des Objects; die practische Philosophie ist nicht der Form nach, sondern dem Object nach practisch und dieses Object sind die freye Handlungen und das freye Verhalten [...]“ (Nachschrift Kaehler, hg. Stark S. 3f., Original auch S. 3f., Hervorhebung von mir). 28 Nachschrift Kaehler, hg. Stark S. 4, Original auch S. 4. Vgl. Moralphilosophie Collins, 27:243 und Mrongovius, 27:1397f. 29 Vgl.: „Alle philosophie ist entweder theoretisch (g von obiecten ): enthält (g den Gebrauch oder auch die ) regeln des Verstandes (die Allgemeine Logic), oder practisch* (g von der freyen Handlung, sie wirklich zu machen ): enthält regeln des freyen Willens. * (g Die praktische Wissenschaften bestimen den Werth der theoretischen; was keinen Gebrauch hat, ist unütz. sie sind in der intention die ersten, die Zweke gehen vor den Mitteln vorher, aber in der execution sind die theoretische die erste. ) Alle practische philosophie entweder 1. obiectiv oder 2. subiectiv. 1. des moglichen guten Verhaltens: die Bedingungen der Vollkomenheit; 2. des Wirklichen verhaltens. Die obiective ist entweder: 1. welche die Mittel vorschreibt zum allgemeinen Zweke, nemlich Glükseeligkeit; 2. Welche den Zwek vorschreibt, der da würdig macht glüklich zu werden“ (R 6612, 19:110, H.v.m.). 30 Vgl. „Einen Gegenstand erkennen, dazu wird erfordert, daß ich seine Möglichkeit (es sei nach dem Zeugniß der Erfahrung aus seiner Wirklichkeit, oder a priori durch Vernunft) beweisen könne. Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Object correspondire oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber

2.4 Zwei Arten der Willensbestimmung | 51

Der in diesem Abschnitt vorgelegte Interpretationsvorschlag mag zwar in sich hinreichend schlüssig sein, jedoch haben wir schon einleitend festgestellt, dass Kant eine weitere Bedeutungen des Ausdrucks ‚Gegenstand‘ im Praktischen kennt: Er kann kann gleichbedeutend mit ‚Materie‘ oder ‚Zweck‘ verwendet werden. Das bisherige Ergebnis, ein Gegenstand der praktischen Vernunft ist eine Handlung, ist somit nur vorläufig.

2.4 Zwei Arten der Willensbestimmung Die weitere Anlage des kantischen Textes ermöglicht eine indirekte Strategie, mehr über Gegenstände der praktischen Vernunft zu erfahren, und die gerade entwickelte Hypothese zu überprüfen. Diese Strategie will ich kurz erläutern: Die beiden Klassen solcher Gegenstände werden zwei Arten der Willensbestimmung zugeordnet (KpV 57f.), ebenso wie zwei Arten der Beurteilung des Guten (KpV 62). Beides wird durch folgenden Satz in enge Verbindung gebracht: „Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen“ (KpV 58). Somit bietet es sich an, über Kants Konzept des Guten auf sein Konzept der Gegenstände praktischer Vernunft zu schließen.³¹ Ich werde in diesem Abschnitt zunächst die zwei Arten oder Modi der Willensbestimmung erläutern, die ich als lustorientierte und moralische Willensbestimmung bezeichnen werde.

objective Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert. Dieses Mehrere aber braucht eben nicht in theoretischen Erkenntnißquellen gesucht zu werden, es kann auch in praktischen liegen“ (KrV B XXVI Anm.). Vgl. auch: „Erkenntniß ist ein Urtheil, aus welchem ein Begriff hervorgeht, der objective Realität hat, d.i. dem ein correspondirender Gegenstand in der Erfahrung gegeben werden kann“ (20:266). 31 Das Böse werde ich in diesem Kapitel nicht thematisieren, obwohl Kant – wie hier – oft vom Guten und vom Bösen spricht. Er entwickelt in der KpV jedoch keine eigenständige Theorie des Bösen. Das Böse ist hier schlicht das nicht-Gute. Vgl. für Kants ausgearbeitete Theorie des Bösen RGV 28ff.

52 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

Sowohl die Einteilung verschiedener Arten der Gegenstände praktischer Vernunft als auch der Urteile über das Gute macht Kant an dieser Unterscheidung fest:³² (a) Gegenstände praktischer Vernunft (KpV 57) (a.1) lustorientiert: „[D]as Object [wird] als der Bestimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens angenommen.“ (a.2) moralisch: „[D]as Gesetz a priori [kann] als der Bestimmungsgrund der Handlung, mithin diese als durch reine praktische Vernunft bestimmt betrachtet werden.“ (b) Das Gute (KpV 62) (b.1) moralisch: „[E]in Vernunftprincip wird schon an sich als der Bestimmungsgrund des Willens gedacht, ohne Rücksicht auf mögliche Objecte des Begehrungsvermögens (als blos durch die gesetzliche Form der Maxime).“ (b.2) lustorientiert: „[E]s geht ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens vor der Maxime des Willens vorher, der ein Object der Lust und Unlust voraussetzt, mithin etwas, das vergnügt oder schmerzt, und die Maxime der Vernunft, jene zu befördern, diese zu vermeiden, bestimmt die Handlungen.“ Im Folgenden wird der grundsätzliche Ablauf dieser beiden Arten der Willensbestimmung skizziert und jeweils durch ein Beispiel veranschaulicht. Anhand dieser Skizzen werde ich nachfolgend darstellen, wie die Vernunft jeweils beteiligt ist, welche Urteile des Guten dabei eine Rolle spielen, und darauf aufbauend die Gegenstände der praktischen Vernunft identifizieren. Die lustorientierte Willensbestimmung hat folgenden Verlauf: 1. Ein Gegenstand G1 affiziert mich, verschafft mir Lust und erweckt in mir das Verlangen, diesen Gegenstand zu erhalten oder zu reproduzieren, um dieses Lustgefühl weiter oder neu erleben zu können. Verwenden wir als Beispiel das Essen eines Apfels. Mit G1 ist dann nicht der Apfel als Ding in Raum

32 Vgl. für eine frühe Form dieser Dichotomie: „Das Gutsein des Willens leitet sich von den Wirkungen des privaten oder öffentlichen Nutzens ab und von der unmittelbaren Lust an ihnen, und die erstere hat ihren Grund im Bedürfnis, die letztere in der Macht zum Guten, die erstere bezieht sich auf den eigenen Nutzen, die letztere auf den Allgemeinnutzen, beide Gefühle stimmen mit der natürlichen Einfalt überein. Aber das Gutsein des Willens als eines freien Prinzips wird erkannt, nicht sofern aus ihm jene Vorteile entspringen, sondern sofern sie in sich möglich sind“ (20:157, Übersetzung Kant-Forschungen Bd. 3, hg. Marie Rischmüller, Hamburg Meiner 1991, S. 262).

2.4 Zwei Arten der Willensbestimmung |

53

und Zeit gemeint, sondern das ‚Apfel essen‘ als das, was das Gefühl der Lust hervorgerufen hat. 2. Ich wähle eine Handlung H, die zu diesem Zweck geeignet ist und zugleich sowohl pragmatische Überlegungen als auch Abwägungen bezüglich meiner anderen Interessen berücksichtigt. Zum Beispiel kaufe ich neue Äpfel im nächstgelegenen Supermarkt und plane zudem diesen Einkauf so, dass er meine anderen Aktivitäten minimal einschränkt. 3. Ergebnis von H ist ein Gegenstand G2 (das Essen des nächsten Apfels), der mit G1 nicht identisch ist, aber diesem entspricht, insofern G1 eine Lusterwartung in mir hervorgerufen hat, und ich mir von G2 verspreche, dass es diese Erwartung erfüllen kann. Wir sehen an diesem Beispiel, dass wir zwischen dem Gegenstand des Begehrens und dem Gegenstand der Lust unterscheiden müssen. Während der Gegenstand der Lust etwas ist, dem ich bloß rezeptiv gegenüberstehe, ist die Willensbestimmung etwas, das ich aktiv mithilfe der Vernunft steuern kann. Dieser Unterschied wird noch deutlicher, wenn wir uns ein leicht komplexeres Beispiel anschauen: Wenn ich nach einem mir angenehmen Spaziergang durch die Natur beschließe, einen Garten anzulegen, so geht es bei diesem Entschluss nicht darum, genau das gleiche angenehme Gefühl wieder hervorzurufen.³³ Durch die Einbeziehung weiterer Abwägungen formen wir kraft der Vernunft aus unseren Begierden und Neigungen, die einander auch widersprechen können, eine einheitliche Handlungsabsicht.³⁴ In einfachen Beispielen können der Gegenstand des Begehrens und der Gegenstand der Lust also identisch sein, in der Praxis werden sie sich aber häufig unterscheiden. Bevor ich nun den Verlauf der moralischen Willensbestimmung skizziere, muss ich folgende Bemerkung machen: Wenn Kant selbst die beiden Arten der

33 Ich habe das Beispiel von Engstrom (2009, S. 73) entlehnt: „[I]f I am taken by the agreeable verdure of a meadow I chance upon while walking through the country, I wish to linger in the enjoyment of it and may choose to do so if I have the time, or I may decide to visit it again or perhaps even to cultivate a garden at home as a sort of surrogate. A transition is thus made, with respect to my enjoyment of the object in question, from an awareness of bare dependency on something outside myself to a (practical) conception of self-sufficiency.“ 34 In Kants Worten: „Wir haben eine Grundthätigkeit der Vernunft, nach welcher wir nicht umhin könen, unsere thatigkeiten einstimig mit der Vernunft auszuüben, und also ein Misfallen haben, so bald sie dadurch wiederlegt werden. Ich kan zum Exempel das Goldmachen, so bald ich es unmöglich finde, nicht anders als verwerfen. Nun sind alle Urtheile durch Vernunft nothwendig allgemein gültig; folglich, wenn sie nicht allgemein gültig seyn, sehe ich mich genöthigt sie zu verwerfen. D. i. ich kan wohl zwey entgegengesetzte Empfindungen in mir statt finden lassen, aber nicht zwey entgegengesetzte Erkenntnisse“ (R 6591, 19:98).

54 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

Willensbestimmung gegenüberstellt, klingt es zuweilen so, als ob die moralische Willensbestimmung eine vollständige Alternative zur lustorientierten darstellt und Lusterwartungen dort gar keine Rolle spielen.³⁵ Aufbauend auf den Resultaten des ersten Kapitels müssen wir dieser Lesart jedoch widersprechen, denn die moralische Willensbestimmung basiert nicht auf dem vollständigen Ignorieren eigener Neigungen, sondern auf der Transformation des Strebens nach eigenem Glück in ein Streben nach allgemeinem Glück. Die moralische Willensbestimmung ist der lustorientierten also nicht nur entgegengesetzt, sondern baut auch auf dieser auf.³⁶ Demnach können wir die Struktur moralischen Willensbestimmung wie folgt beschreiben: 1. Der lustverschaffende Gegenstand G1 ist, Sport zu treiben, um das körperlicher Wohlbefinden zu steigern.³⁷ 2. Die Handlung H, die mich dieses Verlangen in angemessener Weise berücksichtigen lässt, ist der regelmäßige Sport nach Feierabend. Eines Tages bittet mich ein Kollege jedoch, länger zu bleiben und bei einem dringenden Projekt zu helfen und damit von H abzuweichen. Dies stellt ein Interesse anderer dar, das ich laut kategorischem Imperativ berücksichtigen muss. Zweck meiner Handlung kann es nun nicht mehr nur sein, G1 zu reproduzieren, sondern einen angemessenen Ausgleich zwischen diesem Vorhaben und der Hilfe für den Kollegen zu finden. 3. Meine daraufhin gewählte Handlung H * besteht darin, eine Stunde länger zu bleiben, um Nothilfe zu geben und anschließend Sport zu treiben. (Wie die richtige Berücksichtigung genau aussieht, hängt von kontingenten Umständen ab; ich wähle hier eine von vielen prinzipiell möglichen Alternativen.) 4. Erstes Ergebnis von H * ist ein Gegenstand G2 , der nicht dem Gegenstand G1 in der Weise entspricht, wie das bei der bloß lustorientierten Willensbestimmung der Fall ist. G1 wird nur angemessen in G2 berücksichtigt. (Im Extremfall kann

35 Vgl. z. B.: „Entweder ein Vernunftprincip wird schon an sich als der Bestimmungsgrund des Willens gedacht, ohne Rücksicht auf mögliche Objecte des Begehrungsvermögens [...] oder es geht ein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens vor der Maxime des Willens vorher, der ein Object der Lust und Unlust voraussetzt [...]“ (KpV 62; H.v.m.). 36 Vgl. die damit verwandte Aussage von Engstrom (1992, S. 752): „[A]lthough the moral law does not depend upon or presuppose any material for its validity, it does depend upon or presuppose material for its employment.“ Dass diese Interpretation der kantischen Philosophie keine Gewalt antut, ist zum Beispiel auch an der Metapher des Chemikers zu erkennen, die Kant in Bezug auf die „Unterscheidung der Glückseligkeitslehre von der Sittenlehre“ verwendet (KpV 92f.): Die rigorose Trennung zwischen einer Willensbestimmung, die durch das eigene Glücksstreben motiviert ist, von einer solchen, die moralisch ist, dient dazu, jeweils den wesentlichen Kern herauszuarbeiten. 37 Dieses Beispiel habe ich bereits in Abschnitt 1.6, S. 31 verwendet.

2.5 Das Angenehme und das Gute | 55

„angemessen“ heißen, dass ich einem Verlangen gar nicht nachkommen darf. Und nur das heißt es, wenn Kant sagt, die moralische Willensbestimmung fände „ohne Rücksicht auf mögliche Objecte des Begehrungsvermögens“ statt.) 5. H * hat aber noch ein weiteres Ergebnis (bzw. weitere Ergebnisse). Denn zusätzlich zu dem Lustgewinn, den ich mir bzw. anderen durch die Handlung verschaffen mag, schaffe ich weitere ‚Gegenstände‘ G3−n , die einen Wert haben. Die moralische Überlegung überhaupt und die daran orientierte Handlung haben einen moralischen Wert, und letztlich auch ich selbst, als guter Mensch, der diese Handlung ausgeführt hat. Wir können somit Folgendes zusammenfassen: Bei der lustorientierten Willensbestimmung wird mein Wille von einem begehrten Gegenstand bestimmt, und die vernünftigen Überlegungen, die in die Willensbestimmung eingehen, sind ausschließlich pragmatischer Natur, damit der Zweck möglichst effizient und abgestimmt mit meinen anderen Zielen erreicht wird. Bei der moralischen Willensbestimmung wird mein Wille von dem moralischen Gesetz, also durch reine Vernunft, bestimmt. Die anschließenden pragmatischen Erwägungen ähneln denen bei der lustorientierten Willensbestimmung. Allerdings wird der aktuell zu erreichende Zweck nicht nur mit weiteren Zwecken von mir, sondern auch mit denen von anderen abgestimmt. Die Vernunft ist also bei der moralischen im Gegensatz zur lustorientierten Willensbestimmung an mehreren Stellen am Prozess beteiligt.

2.5 Das Angenehme und das Gute Wenn wir verstehen wollen, was Kant in der praktischen Philosophie unter ‚gut‘ versteht, müssen wir rekapitulieren, inwiefern die Vernunft bei den beiden gerade vorgestellten Arten der Willensbestimmung jeweils beteiligt ist. Bei der lustorientierten Willensbestimmung ist es eindeutig eine Tätigkeit der Vernunft, die Handlung so zu wählen, dass sie das beste Mittel zu dem gegebenen Zweck ist und zugleich weitere eigene Interessen berücksichtigt. Den Erfolg oder den Wert der Handlung können wir daran messen, ob die Lusterwartung, die bei der Willensbestimmung ausschlaggebend war, eingelöst werden kann. Ähnliches finden wir bei der moralischen Willensbestimmung: Auch diese Handlung ist vernünftig geplant und schlägt in gewisser Weise fehl, wenn sie die Lusterwartungen, die mit ihr verbunden sind, nicht erfüllt. Davon unabhängig ist aber der moralische Erfolg, der schon durch die moralische Überlegung selbst gegeben ist, und der unabhängig davon ist, ob die Handlung erfolgreich umgesetzt werden kann und zu den erwarteten Ergebnissen führt. Wir können also zwei Vernunfttätigkeiten unterscheiden, wobei die eine bei beiden Arten der Willensbestimmung vorkommt

56 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

und die andere nur bei der zweiten. Diesen beiden Vernunfttätigkeiten sind nun zwei Arten von Urteilen über das Gute zugeordnet. Zum einen können wir Handlungen als „mittelbar [...] gut“ beurteilen, nämlich „in Rücksicht auf einen anderweitigen Zweck, als Mittel zu demselben“ (KpV 62). In dem Sinne bezeichnet Kant sie auch als etwas „irgend wozu Gutes“ oder „Nützliche[s]“ (KpV 59). Zum anderen sind Willensbestimmungen nach dem kategorischen Imperativ gut, und zwar unmittelbar, da sie nicht dazu dienen, einem äußeren, kontingenten Zweck zu erfüllen. Von dieser Wertschätzung der moralischen Willensbestimmung ausgehend können wir die Handlung dann auch in einem zweiten Sinne beurteilen, nämlich als „an sich selbst gut“ (KpV 62). Diese beiden Beurteilungen der Handlungen hängen nicht voneinander ab und können in allen logisch möglichen Kombinationen vorkommen. Zum Beispiel können wir uns eine an sich selbst gute Handlung denken, die aber scheitert, ihren kontingenten Zweck zu erfüllen. Auch die verallgemeinerbare Maxime, die wir bei der moralischen Willensbestimmung wählen, kann als moralisch gut bezeichnet werden.³⁸ Weiterhin haben Urteile über das moralisch Gute ein selbst-reflexives Element. Der Wille ist das Vermögen, von dem dieses Urteil ausgeht, aber er ist auch selbst Gegenstand dieses Urteils. Dementsprechend sagt Kant, dass „ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, [...] schlechterdings, in aller Absicht, gut und die oberste Bedingung alles [moralisch; F.M.] Guten“ sei (KpV 62). In diesem Sinne bringt sich der gute Wille selbst hervor. (Auf dieselbe Weise können wir auch verstehen, dass Tugend moralisches Verhalten selbst meint und zugleich als Teil des höchsten Guts Ziel moralischen Verhaltens ist, vgl. Kap. 4). Für einen empirisch-bedingten Willen gilt dies nicht, da er sich nach Neigungen richtet, die, aus kantischer Sicht, von außen an ihn herangetragen werden.³⁹ Schließlich sagen wir (und können das auch mit Kant), dass ein Mensch, der einen solchen Willen hat, einen guten Charakter bzw. eine gute Gesinnung habe, und sagen auch, derjenige sei selbst ein guter Mensch.⁴⁰

38 Vgl.: „[H]andle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können“ (GMS 437). 39 Vgl. dazu die Untersuchung von Kants Argument gegen Heteronomie in Kapitel 3. Vgl. auch folgende Notiz aus einem Handexemplar Kants der Kritik der praktischen Vernunft: „Der reine Wille ist sein eigener Zweck, der von Neigungen afficirte aber nicht“ (zitiert nach Lehmann, Kant-Studien 72:2, 1981, S. 137). 40 Vgl. auch: „Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen“ (GMS 427; H.v.m.). Vgl. auch die Selbstzweck-Formel des kategorischen Imperativs (GMS 438).

2.5 Das Angenehme und das Gute | 57

Weder den lustverschaffenden Gegenstand (oben G1 ) noch den lustversprechenden Gegenstand (G2 ) will Kant aber als gut bezeichnet sehen und bezeichnet diese als ein „Wohl“ bzw. als etwas „Angenehmes“ oder etwas, das „vergnügt“. Somit kann Kant die Beurteilungen über das Gute wie folgt zusammenfassen: Das Gute oder Böse wird also eigentlich auf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustand der Person bezogen, und sollte etwas schlechthin (und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung) gut oder böse sein oder dafür gehalten werden, so würde es nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die so genannt werden könnte (KpV 60).

Was haben diese beiden Arten des Guten gemeinsam? Zunächst können wir sagen, dass etwas als gut zu beurteilen in beiden Fällen heißt, sich vernünftig dafür zu entscheiden. Entweder, weil es ein gutes Mittel zu einem Zweck ist, oder, weil es ein (moralisch) guter Zweck ist. Etwas Gutes ist ein „nothwendige[r] Gegenstand des Begehrungs[vermögens]“ nach einem „Princip der Vernunft“ (KpV 58). Notwendig meint hier praktisch notwendig, dass es sein soll, und zwar entweder, weil es zu etwas anderem gut ist oder an sich selbst gut. Weil Urteile über das Gute Vernunfturteile sind, sind sie allgemein mitteilbar. Wir können uns darüber einigen, was die geeignete Methode ist, um ein bestimmtes Gericht zuzubereiten, und können zu demselben Urteil darüber gelangen. Aber wir können uns nicht in derselben Weise einigen, ob und wie es geschmeckt hat. Es kann zwar sein, dass Geschmacksurteile zufällig übereinstimmen. Wir können auch Geschmacksurteile, die von unseren abweichen, nachfühlen. Trotzdem basieren diese auf bloßer Empfindung, „welche sich auf einzelne Subjecte und deren Empfänglichkeit einschränkt“ (KpV 58).⁴¹

41 Bei Dieringer (2002, S. 147) finden wir die Auffassung, Kant reserviere den Begriff des Guten für das moralisch Gute: „Kant wendet sich hier gegen die Auffassung, daß die Mittel, die zum Erreichen eines Zustandes angenehmen Wohlbefindens verhelfen, als gut zu bezeichnen seien.“ Diese Sichtweise ist aber nach den hier präsentierten Ergebnissen abzulehnen. Ich möchte Dieringer auch in einer anderen Sache widersprechen: „Nun ist aber nicht einzusehen, warum sich das Angenehme und Unangenehme nicht ebenso allgemein mitteilen ließe wie das Gute und Böse. In beiden Fällen handelt es sich um Begriffe, und dank der Erkenntnisleistung, die jeglicher Begriffsbildung zugrunde liegt, ist in beiden Fällen prinzipiell Verallgemeinerbarkeit und Mitteilbarkeit gegeben“ (Dieringer 2002, S. 146). Natürlich ist der Begriff des Angenehmen allgemein mitteilbar, aber eben nicht das, was ich als angenehm empfinde. Wie oben schon gesagt, kann ich das jemand anderem zwar beschreiben, und meine Gesprächspartnerin würde für das, was sie empfunden hat, vielleicht sogar dieselbe Beschreibung wählen. Trotzdem würde sich immer noch meine Beschreibung auf mein Gefühl und ihre Beschreibung auf ihr Gefühl beziehen. Im Unterschied dazu kann ich im Rahmen einer philosophischen Ausführung ein Konzept des Angenehmen beschreiben. Wenn ich es schaffe, meine Gesprächspartnerin vollständig zu überzeugen, vertritt sie dasselbe Konzept des Angenehmen (von unvollständigen Beschreibungen, Missverständnissen etc. abgesehen).

58 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

Das Gute wird also „vom Angenehmen unterschieden als demjenigen, was nur vermittelst der Empfindung aus bloß subjectiven Ursachen, die nur für dieses oder jenes seinen Sinn gelten, und nicht als Princip der Vernunft, das für jedermann gilt, auf den Willen Einfluß hat“ (GMS 413). Was ich als angenehm empfinde, gilt also nur für mich, während das, was ich als gut beurteile, grundsätzlich den Anspruch hat, für jeden zu gelten. Die Subjektivität des Angenehmen basiert darauf, dass es auf meine Empfindung, mein Gefühl zurückgeht.⁴² Das Angenehme lässt sich wiederum vom Schönen dadurch abgrenzen, dass Letzteres interesselos ist (KU 209f.). Das Angenehme hingegen gefällt nicht bloß, sondern es vergnügt. Wir entwickeln Neigungen auf Basis dessen, was wir als angenehm empfinden (KU 207).⁴³ Kehren wir zu dem Begriff des Guten zurück. Die Handlung kann (gemäß der Dichotomie) entweder als „an sich selbst gut“ oder nur „mittelbar [...] gut“ bezeichnet werden (KpV 62). Kants Terminologie kann hier irritieren, denn die Güte einer moralisch guten Handlung kann nicht völlig unabhängig bestimmt werden, sondern hängt ab von der Güte des Willens und der Auswahl einer verallgemeinerbaren Maxime. Der Unterschied besteht darin, dass im zweiten Fall der Zweck ein nur empirisch bestimmbares und damit kontingentes Wohl ist, und die Handlung als nur mittelbar gut auf dieses Wohl hin beurteilt werden kann. Im ersten Fall hängt die Güte der Handlung und des Zwecks nur vom guten Willen (und damit von der Vernunft) ab. „[D]ie Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter [...] Mensch“ wird im Falle einer moralischen Willensbestimmung als „schlechthin (und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung) gut“ (KpV 60) bezeichnet, was ebenfalls erklärungsbedürftig ist, denn nur „ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht, gut und die oberste Bedingung alles Guten“ (KpV 62). Wenn Kant also im ersteren Fall sagt „ohne weitere Bedingung“, ist wohl auch hier gemeint: ohne weitere empirische Bedingung. Über die Maximen von nicht-moralischen Willensbestimmungen

42 In KU 206 weist Kant darauf hin, dass es in seiner Terminologie eine Zweideutigkeit gibt: „Wenn eine Bestimmung des Gefühls der Lust oder Unlust Empfindung genannt wird, so bedeutet dieser Ausdruck etwas ganz anderes, als wenn ich die Vorstellung einer Sache (durch Sinne, als eine zum Erkenntnißvermögen gehörige Receptivität) Empfindung nenne [...] um nicht immer Gefahr zu laufen, mißgedeutet zu werden, wollen wir das, was jederzeit blos subjectiv bleiben muß und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen kann, mit dem sonst üblichen Namen des Gefühls benennen.“ 43 Vgl.: „Gut ist etwas, so fern es mit dem Willen zusammenstimmt; angenehm: so fern es mit der Empfindung zusammenstimmt“ (R 6589, 19:97). Vgl. auch Korsgaard (1986, S. 115f.). Zu einem detaillierten Vergleich der Konzepte des Angenehmen und des Guten bei Kant vgl. Engstrom (2007).

2.6 Die Gegenstände der praktischen Vernunft | 59

sagt Kant nur, sie „können alsdann niemals Gesetze, dennoch aber vernünftige praktische Vorschriften heißen“ (KpV 62). Ich gehe davon aus, dass sie ebenfalls „mittelbar gut“ sein können, da auch ihre Güte von einem kontingenten Wohl abhängt. Wir können diese verschiedenen Urteile über das Gute wie folgt ordnen: Unbedingt gut ist nur der gute Wille, alles andere, was gut sein kann, ist nur bedingt gut. Diese Bedingtheit kann wieder danach unterschieden werden, ob die Bedingung wiederum der gute Wille oder ein Objekt der Lust ist. Nur im letzteren Falle ist die Handlung „Mittel“ zum (empirisch kontingenten) Zweck. Im ersteren Fall ist die Handlung in erster Linie nicht Mittel zum Zweck, sondern Manifestation des guten Willens.

2.6 Die Gegenstände der praktischen Vernunft Wir kehren nun zum Thema der Gegenstände praktischer Vernunft zurück. Die Vorarbeit der vorangehenden Abschnitte ermöglicht es, ein präziseres Verständnis für Kants knappe Aussagen über diese Gegenstände zu entwickeln. Mit dem Satz „Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen“ (KpV 58) verknüpft Kant die Urteile des Guten mit den Gegenständen der praktischen Vernunft. Da die Objekte vom Guten und Bösen die alleinigen einer praktischen Vernunft sind, gibt es keine anderen Objekte der praktischen Vernunft. Ist etwas ein Objekt praktischer Vernunft, ist es also auch gut oder böse. Den sich anschließenden Satz können wir so lesen, dass auch der Umkehrschluss gilt: Denn durch das erstere versteht man einen nothwendigen Gegenstand des Begehrungs=, durch das zweite des Verabscheuungsvermögens, beides aber nach einem Princip der Vernunft (KpV 58).⁴⁴

Die Gegenstände, die die Vernunft als gut beurteilt, sind also genau die, die hier auch als Gegenstände praktischer Vernunft bezeichnet werden. Entsprechend unterscheidet Kant auch bei den Gegenständen praktischer Vernunft zwei verschiedene Arten, und zwar – genau wie bei den Arten des Guten – anhand der Willensbestimmung: So gibt es bei der moralischen Willensbestimmung einen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft (GpV r ) und bei der lustorientier-

44 Kant geht natürlich nicht von einem eigenständigen Verabscheuungsvermögen aus, wie diese Stelle nahe zu legen scheint. Verabscheut wird das, wovon das Gegenteil begehrt wird (vgl. auch Paton 1944, S. I).

60 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

ten Willensbestimmung einen Gegenstand der empirisch-bedingten praktischen Vernunft (GpV e ).⁴⁵ Daraus würde folgen, dass mittelbar gute Handlungen GpV e wären und an sich gute Handlungen, so wie schlechthin gute Maximen, Personen und der gute Wille GpV r . Ich werde nun die wenigen Bestimmungen, die Kant zu den beiden Klassen von GpV macht, analysieren und untersuchen, ob diese Arbeitshypothese plausibel ist. Über GpV e schreibt Kant: Wenn das Object als der Bestimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens angenommen wird, so muß die physische Möglichkeit desselben durch freien Gebrauch unserer Kräfte vor der Beurtheilung, ob es ein Gegenstand der praktischen Vernunft sei oder nicht, vorangehen (KpV 57).

Die logische Struktur dieses Satzes lässt sich wie folgt rekonstruieren: Wenn ein Objekt X der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist, dann gilt: Wenn X ein GpV e ist, dann muss X physisch realisierbar sein.

Es fällt auf, dass vom Bestimmungsgrund des „Begehrungsvermögens“ die Rede ist, und nicht vom Bestimmungsgrund des Willens. Meines Erachtens lässt sich das wie folgt erklären. Kant unterscheidet in Bezug auf das Begehren zwischen (a), dem handlungsbezogenem Wollen und (b), dem bloßen Wünschen.⁴⁶ Berücksichtigen wir diese Unterscheidung, so können wir den Satz wie folgt umformulieren: Wenn eine Person P einen Gegenstand G begehrt, dann ist G nur dann ein GpV e , wenn G von P physisch realisierbar ist. Ist G von P nicht physisch realisierbar, handelt es

45 Kant verwendet die Bezeichnung ‚empirisch-bedingte praktische Vernunft‘ in der hier besprochenen Passage nicht. Vgl. jedoch z. B.: „Die Critik der practischen Vernunft legt die Unterscheidung der empirisch-bedingten practischen Vernunft von der reinen und gleichwohl doch practischen Vernunft zum Grunde und frägt: ob es eine solche, als die letzte ist, gebe“ (R 2701, 19:275). 46 „Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst“ (MS 213).

2.6 Die Gegenstände der praktischen Vernunft |

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sich um einen bloßen Wunsch. Die physische Möglichkeit ist somit eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Gegenstand ein GpV e sein kann. Aber warum ist die physische Möglichkeit keine hinreichende Bedingung? Anders gefragt, worin besteht die eigentliche Beurteilung dann, wenn die physische Möglichkeit schon gegeben ist, und ebenso, dass das Objekt für mich begehrenswert ist? Da eine Beurteilung, ob etwas gut ist, dasselbe ist wie das Urteil, ob etwas ein Gegenstand der praktischen Vernunft ist, können wir schließen: Es muss eine vernünftige Entscheidung sein. Wie wir schon in Abschnitt 2.4 gesehen haben, wird nicht aus jeder Begierde eine Handlung, nur weil letztere grundsätzlich ausführbar ist – denn es findet eine Abwägung mit unseren anderen Interessen statt. Nun implizieren die Satzbezüge („desselben“ und „es“), dass im ganzen Satz von demselben Objekt die Rede ist, nämlich dem anfangs erwähnten Bestimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens. Aber was ist das für ein Objekt? Während unsere bisherige Deutung uns darauf festlegt, dass es sich dabei um eine mittelbar gute Handlung handelt, neigt unser heutiger Sprachgebrauch dazu, unter einem begehrten Objekt vielmehr einen äußerlichen Gegenstand in Raum und Zeit zu verstehen. Mit Verweis auf das oben genannte Beispiel der lustorientierten Willensbestimmung können wir diesen Konflikt abschwächen. Denn auch, wenn wir sagen, dass wir „Lust auf einen Apfel“ empfinden, meinen wir damit eigentlich das Essen des Apfels, somit eine Handlung. Schließlich können wir uns theoretisch zwar Fälle vorstellen, in denen wir Lust auf etwas haben, das uns passiert, wir dabei also völlig passiv wären. In diesen Fällen wäre dann aber auch keine praktische Vernunft mehr beteiligt. Folglich könnten wir dann auch nicht mehr von Gegenständen der praktischen Vernunft sprechen.⁴⁷ Für die Klasse der GpV e scheint also unsere Hypothese, dass Gegenstände der praktischen Vernunft nichts anderes als Handlungen sind, hinreichend belegbar zu sein. Kommen wir nun zu der anderen Klasse von Gegenständen praktischen Vernunft, der Gegenstände der reinen praktischen Vernunft (GpV r ).

47 Auch sagt Kant an anderer Stelle: „Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmung des Begehrungsvermögens immer der Grund eines Wohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervorgebracht wird“ (KpV 116; H.v.m.). Wenn wir bedenken, dass Kant in der hier thematisierten Passage ganz ähnlich von der ‚Wirklichmachung‘ von ‚Objekten‘ spricht, kann dies als weiterer Hinweis darauf gelten, dass diese Objekte Handlungen sind.

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Über diese schreibt Kant: [W]enn das Gesetz a priori als der Bestimmungsgrund der Handlung, mithin diese als durch reine praktische Vernunft bestimmt betrachtet werden kann, so ist das Urtheil, ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei oder nicht, von der Vergleichung mit unserem physischen Vermögen ganz unabhängig, und die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre, mithin muß die moralische Möglichkeit der Handlung vorangehen (KpV 57f.).⁴⁸

Die logische Struktur dieses Satzes lässt sich wie folgt rekonstruieren: Für (irgend) ein X gilt, es ist ein GpV r , gdw.: Es gibt eine Handlung H für die (i) gilt, H ist moralisch möglich, und (ii), wenn H physisch möglich ist, bringt H ein Objekt Y hervor.

Diese Bestimmung wirft mehr Schwierigkeiten auf als der Satz über GpV e . Wir müssen zum Beispiel klären, was es mit der ‚moralischen Möglichkeit‘ auf sich hat. Warum steht diese noch in Frage, wenn doch schon klar ist, dass das moralische Gesetz der Bestimmungsgrund des Willens ist? Meines Erachtens ist das so zu erklären: Auch ein vom moralischen Gesetz bestimmter Wille kann Maximen und Handlungen in Erwägung ziehen, die unmoralisch sind – die er aber als guter Wille natürlich verwirft. ‚Gegenstand der reinen praktischen Vernunft‘ ist dann das Verwerfen des zuvor in Betracht gezogenen Gegenstandes. Unabhängig davon können wir jedoch klar bestimmen, was Kant mit der „Möglichkeit“, die „Handlung zu wollen“ meint (bzw. mit eine Handlung „wollen dürfen“ und der „moralischen Möglichkeit“). Es ist hier die starke Bedeutung gemeint, wie sie auch bei dem Verfahren des kategorischen Imperativs verwendet wird: Eine Handlung wollen zu dürfen heißt, dass die Verallgemeinerung der handlungsleitenden Maxime nicht zu einem Widerspruch im Wollen führt.⁴⁹ Weiterhin ist nicht ganz klar, was Kant mit der Formulierung „wenn dieses in unserer Gewalt wäre“ meint, wenn die Beurteilung doch vom „physischen

48 In einer etwas kürzeren Formulierung sagt Kant über GpV r : „[D]ie Beurtheilung, ob etwas ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft sei, oder nicht, ist nur die Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diejenige Handlung zu wollen, wodurch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urtheilen muß), ein gewisses Object wirklich werden würde“ (KpV 57). Auch wenn er etwas anders formuliert ist, scheint dieser Satz die Konsequenz der Implikation zu sein, die in dem oben angegebenen Zitat formuliert wird (wenn wir ihn als Implikation verstehen: ‚Wenn..., so ist...‘). 49 Vgl. Kapitel 1. Vgl. auch: „Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurtheilung derselben überhaupt“ (GMS 424).

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Vermögen ganz unabhängig“ ist.⁵⁰ Meines Erachtens kann das nur bedeuten, dass zum Zeitpunkt der Willensbestimmung die Handlung als meine Handlung nicht unmöglich sein darf. Ob sie dann letztlich erfolgreich ausgeführt werden kann oder nicht, spielt keine Rolle.⁵¹ Schließlich gibt Kant hier eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür an, dass „etwas“ ein GpV r ist. Denn die Beurteilung dessen sei nur „die Unterscheidung der Möglichkeit“. Was dieses „etwas“ ist, bleibt aber unbestimmt. Wir haben hier grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder sind X und Y dasselbe, oder nicht. Der Satz stellt diesen Bezug jedenfalls nicht her (so wie das bei dem Satz über GpV e der Fall war, s.o.). Denn es ist zuerst die Rede davon, ob „etwas“ ein bestimmter Gegenstand sein kann, und dann von einem „gewissen Objekt“, das grammatikalisch keinerlei Bezug auf das erstere nimmt. Kant gibt also eine notwendige und hinreichende Bedingung dafür an, dass „etwas“ ein Gegenstand reiner praktischer Vernunft sein kann, ohne in irgendeiner Weise einzuschränken, was dieses etwas ist. Dieser letzte Umstand ist schwerwiegend, da wir ohne seine Klärung nicht verstehen können, worüber der Satz überhaupt eine Aussage macht. Wir müssen konstatieren: Allein anhand dieses Satzes (oder auch im Kontext der gesamten Passage) können wir nicht entscheiden, was ein ‚Gegenstand der reinen praktischen Vernunft‘ ist. Unsere bisherige Deutung, dass ein solcher Gegenstand etwas ist, das reine Vernunft als gut beurteilt (also moralisch gute Handlungen, Maximen usw.), kann hier weder bestätigt, noch widerlegt werden. Es erscheint deswegen naheliegend, auf unsere Überlegungen über praktische Erkenntnisse zurückzukommen (Abschnitt 2.3) und zu vergleichen. Kant unterscheidet jeweils zwei Arten von Gegenständen praktischer Erkenntnis und praktischer Vernunft. Wie passt das miteinander zusammen und mit dem, was er außerdem über praktische Erkenntnisse sagt? Schauen wir zunächst auf die erste Art von Gegenständen der praktischen Erkenntnis, die Handlungen. Hier scheinen die Textstellen klar und unmissverständlich zu sein: Ein Imperativ drückt ein Sollen aus, und das, was sein soll, ist eine Handlung. Diese Handlung ist der Gegenstand der Erkenntnis. Nun kennen wir zwei Arten von Imperativen: Hypothetische und kategorische Imperative (z. B. KpV 20). Das Sollen eines hypothetischen Imperativs ist empirisch bedingt, da er den Willen „nur in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimm[t]“. Somit ist

50 Vgl. auch, dass Kant hier insgesamt vier verschiedene Möglichkeiten wählt, scheinbar dasselbe auszudrücken: (i) „wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urtheilen muß)“, (ii) „die physische Möglichkeit desselben durch freien Gebrauch unserer Kräfte“ (iii) „Vergleichung mit unserem physischen Vermögen“ und (iv) „wenn dieses in unserer Gewalt wäre“. 51 Vgl. zum Begriff der physischen bzw. moralischen Möglichkeit auch KU 172.

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die Handlung, die er vorschreibt, ein Gegenstand empirisch-bedingter praktischer Vernunft. Das Sollen eines kategorischen Imperativs hat hingegen unbedingte Geltung. Die Handlung, die er vorschreibt, ist somit ein Gegenstand reiner praktischer Vernunft.⁵² Die zweite Art von Gegenständen praktischer Erkenntnis können wir betrachten, indem wir von konkreten Handlungen abstrahieren und das Verhalten überhaupt betrachten. Es ist unklar, ob die empirisch-bedingte praktische Vernunft überhaupt solche Erkenntnisse haben kann. Es wären zwar hypothetische Imperative denkbar, die weitestgehend von begehrten Wirkungen abstrahieren (z. B. „Hilf anderen in Not, wenn Du daraus einen Vorteil ziehen kannst“), und die mehr auf das allgemeine Verhalten als auf bestimmte Handlungen zielen. Trotzdem setzen auch diese Imperative etwas empirisch Bedingtes voraus, denn sie würden keinen Sinn ergeben, gäbe es keine begehrten Wirkungen, die damit erreicht werden könnten. Anders verhält es sich mit der reinen praktischen Vernunft, die bei ihrer Willensbestimmung gar nicht von solchen begehrten Wirkungen abhängt, nur abstrakt eine Regel zur Maximenwahl angibt und zu einer bestimmten inneren Einstellung auffordert.⁵³ Wir können zum Beispiel zu der praktischen Erkenntnis gelangen, dass wir einer bestimmten moralischen Maxime folgen sollen. Dann wäre auch diese Maxime ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft. Weitere Belege für die hier vorgestellte Interpretation finden wir in Passagen kurz vor und nach dem Textstück, welches das Konzept der Gegenstände praktischer Vernunft behandelt: 1. „[N]un [ist] aber der Begriff einer empirisch unbedingten Causalität theoretisch zwar leer (ohne darauf sich schickende Anschauung), aber immer doch möglich [...] und [bezieht] sich auf ein unbestimmt Object [...], statt dieses aber ihm doch an dem moralischen Gesetze, folglich in praktischer Beziehung, Bedeutung gegeben wird, so habe ich zwar keine Anschauung, die ihm seine objective theoretische Realität bestimmte, aber er hat nichts desto weniger wirkliche Anwendung, die sich in concreto in Gesinnungen oder Maximen darstellen läßt, d. i. praktische Realität, die angegeben werden kann; welches denn zu seiner Berechtigung selbst in Absicht auf Noumenen hinreichend ist“ (KpV 56). Mit empirisch-unbedingter Kausalität ist hier genau jene Kausalität

52 Vgl. auch: „Alle Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt und zeigen dadurch das Verhältniß eines objectiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjectiven Beschaffenheit nach dadurch nicht nothwendig bestimmt wird (eine Nöthigung). Sie sagen, daß etwas zu thun oder zu unterlassen gut sein würde [...]“ (GMS 413). 53 Vgl. z. B.: „Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüth in Ruhe mit einer überlegten und festen Entschließung ihr Gesetz in Ausübung zu bringen. Das ist der Zustand der Gesundheit im moralischen Leben [...]“ (TL 409).

2.6 Die Gegenstände der praktischen Vernunft |

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der Freiheit gemeint, die in KpV 57 wieder aufgegriffen wird. Es wird hier zwar nicht der Ausdruck ‚Gegenstand‘ gebraucht, doch wird aus dem Kontext klar, dass die Gesinnungen und Maximen von denen hier gesprochen wird, die Gegenstände sind, die jene Kausalität hervorbringt. (Handlungen werden hier m.E. deswegen nicht erwähnt, weil sie sowohl eine sinnliche als eine noumenale Seite haben. Kant will hier deutlich machen, dass die Kausalität der Freiheit Gegenstände hervorbringen kann, zu denen es keine Anschauung gibt.) 2. Kant sagt einerseits, dass praktische Urteilskraft dazu gehöre, „was in der Regel allgemein ( in abstracto ) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto“ anzuwenden (KpV 67). Andererseits spricht er von dem moralischen Gesetz als einem solchen, „das an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann“ (KpV 69). Welche anderen Gegenstände könnten das sein, an denen das moralische Gesetz dargestellt werden kann, wenn nicht Handlungen? Schließlich findet sich auch der Gedanke, dass Gegenstände der reinen praktischen Vernunft zwar in erster Linie moralisch gute Handlungen sind, aber eben auch gute Maximen, Gesinnungen und Personen sein können, in der Typik wieder. Denn am Ende dieses Textstücks weist Kant auf die Gefahr des Empirismus hin, gar nicht erkennen zu können, dass der „hohe Werth“ der Moralität „nicht blos in Handlungen“ besteht, sondern eben auch und gerade in Gesinnungen (KpV 71). Es sei angemerkt, dass diese Überlegungen gut damit übereinstimmen, was wir einleitend als die Gegenstände der reinen praktischen Vernunft identifiziert haben (Handlung, Maxime, Wille, Person). Jedem dieser Gegenstände kommt, aus seiner jeweiligen Perspektive, eine Vorrangstellung zu: (i) Zwar wird die Beurteilung der Handlungen aus den Beurteilungen der Maximen abgeleitet, jedoch gibt es ohne Handlungen gar keine Praxis. Jegliches moralisches Überlegen läuft auf die Frage hinaus, wie gehandelt werden soll. (ii) Die Beurteilung einer Maxime durch das Verallgemeinerungsverfahren des kategorischen Imperativs ist die elementarste Operation in der moralischen Beurteilung. Eine einzelne Handlung kann nicht moralisch beurteilt werden, ohne die willensbestimmende Maxime zu kennen. (iii) Der gute Wille ist das Vermögen, sich moralisch gut zum Handeln zu bestimmen. Er ist Ort und Ursprung der moralischen Beurteilung. Somit ist er auch selbst moralischer Zweck: Er bringt sich durch seine eigene Tätigkeit selbst hervor. (iv) Letztlich ist Moral für Kant im Wesentlichen weder etwas, was sich an der einzelnen

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Handlung, aber auch nicht an der einzelnen Maxime festmachen lässt, sondern an dem Charakter und der Gesinnung einer Person.⁵⁴

2.7 Gegenstände praktischer Vernunft und Zwecke Wie wir in Abschnitt 2.2 gesehen haben, ist in der Literatur die Meinung vorherrschend, Gegenstände der praktischen Vernunft seien mit Zwecken identisch. Dazu ist zunächst zu sagen, dass Kant in dem betreffenden Textstück nur selten von Zwecken spricht und dort diese Identifikation nicht vornimmt.⁵⁵ Schwerer wiegt jedoch, dass Kant an einer Stelle von einem Zweck spricht, der „nicht ein Gutes, sondern ein Wohl“ sei (KpV 62). Da Kant die Gegenstände der praktischen Vernunft mit dem Guten identifiziert, können wir schließen, dass es Zwecke gibt, die keine Gegenstände der praktischen Vernunft sind. Wir werden uns zunächst die Argumente dafür, dass Gegenstände der praktischen Vernunft und Zwecke identisch seien, etwas genauer anschauen. Aus den Definitionen der Begriffe Wille, Zweck und Gegenstand der praktischen Vernunft scheint erstens direkt ableitbar zu sein, dass ein Gegenstand der praktischen Vernunft ein Zweck ist. Ein Beispiel für eine solche Ableitung finden wir bei Engstrom (1996): 1. Der Wille ist praktische Vernunft (GMS 412). 2. Ein Gegenstand praktischer Vernunft ist „ein Objekt als ein[e] möglich[e] Wirkung durch Freiheit“ (KpV 57). 3. Ein Gegenstand des Willens ist eine Wirkung der Ausübung des Willens (1 + 2). 4. Der Wille ist das „Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d. i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist“ (KU 220).

54 Vgl. zur Selbstbezüglichkeit des guten Willens auch Engstrom (2010, S. 33): „‚[O]bject‘ has been used in two senses, reflecting the presence of two moments in the act of practical cognition. As a form of discursive cognition, practical cognition lies in an act of judgment, in which a practical predicate, the concept of a possible effect (e.g. to keep one’s promise), is attached to a concept of the subject. When Kant says practical knowledge can make its object actual, ‚object‘ refers to the effect the judging subject represents in the act of practical predication, or (what amounts to the same) to the content of the judgment. But when we say practical knowledge is self-knowledge, in which subject and object are the same, ‚object‘ signifies the judgment’s subject matter, what is thought through its subject concept. Thus, if the judgment is that I ought to keep my promise, ‚object‘ in the latter sense refers to myself, in the former to myself keeping my promise.“ 55 Vgl. KpV 58f., 61f., 62.

2.7 Gegenstände praktischer Vernunft und Zwecke |

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5. Ein Zweck ist „der Gegenstand eines Begriffs, sofern dieser als die Ursache von jenem [...] angesehen wird“ (KU 220).⁵⁶ 6. Ein Zweck ist eine Wirkung der Ausübung des Willens (4 + 5). 7. Ein Gegenstand des Willens ist ein Zweck (3 + 6).⁵⁷ Das höchste Gut wird zweitens als die Totalität der Gegenstände der reinen praktischen Vernunft (KpV 108) und wiederholt als Endzweck (z. B. RGV 6), oder auch höchster oder letzter Zweck (z. B. KU 435) bezeichnet. Daraus könnte geschlossen werden, dass Gegenstände der praktischen Vernunft im Allgemeinen Zwecke sind und Gegenstände der reinen praktischen Vernunft moralisch gute Zwecke. Das höchste Gut ergäbe sich dann aus der vollständigen Summe aller moralisch guten Zwecke.⁵⁸

56 Vgl. auch andere Definitionen des Zweckbegriffs: „Denn die vorgestellte Wirkung, deren Vorstellung zugleich der Bestimmungsgrund der verständigen wirkenden Ursache zu ihrer Hervorbringung ist, heißt Zweck“ (KU 426). „Zweck ist ein Gegenstand der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt (wodurch jener hervorgebracht wird). Eine jede Handlung hat also ihren Zweck, und da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Act der Freiheit des handelnden Subjects, nicht eine Wirkung der Natur irgend einen Zweck der Handlungen zu haben“ (MdS 384f.). 57 „Since the will is practical reason, and since ‚a concept [of an object] of practical reason‘ is ‚the representation of an object as a possible effect through freedom‘ (KpV 57), an object of the will is what is conceived as a possible effect of the will’s exercise. Now Kant defines an end (Zweck) as ‚the object of a concept, so far as the latter is regarded as the cause of the former (the real ground of its possibility)‘ (KU 220), and he defines the will as ‚the faculty of desire, insofar it can be determined to act only through concepts, that is, in accordance with the representation of an end‘ (KU 220) in short, as ‚the faculty of ends‘ (KpV 58f). An object of the will is therefore an end: it is the object of a concept that represents it as a possible effect of the will’s exercise and in accordance with which the exercise of the will is determined. Since it is through the concept of the end that the will is determined in its exercise, and since it is through that exercise that the object is realized, the object’s realization is the effect of that concept“ (Engstrom 1996, S. 108). Vgl. auch Beck (1960, S. 130f.), der ähnlich wie Engstrom, jedoch auf Basis anderer Textstellen argumentiert. 58 Vgl. z. B.: „Now if we consider together all the purposes we could pursue under all the maxims that would satisfy the categorical imperative, they will form a kind of hierarchy, some of them being pursued for other purposes, these for others still and so on. At the very top of this hierarchy is the ‚final purpose‘; this is the one purpose that is unconditioned, i.e., not a means to (or ‚condition‘ of) any further purpose. The final purpose at which, as the moral law commands, all our acts are to aim is the highest good in the world: our own virtue (which lies in the will’s obedience to the moral law), and happiness for everyone to the extent that he or she is virtuous and thus worthy of such happiness“ (Pluhar 1987, S. XLV).

68 | 2 Gegenstände praktischer Vernunft

In der Grundlegung, der zweiten Kritik und besonders in der Einleitung zur Tugendlehre identifiziert Kant drittens den Zweck mit der Materie des Willens.⁵⁹ Wie lassen sich all diese Textbelege mit der oben entwickelten Interpretation, die in Gegenständen praktischer Vernunft wesentlich Handlungen sieht, vereinbaren? Zunächst ist zu sagen, dass Kant den Zweckbegriff mehrdeutig verwendet. In einer Bedeutung hat jede Handlung einen Zweck (vgl. z. B. TL 384f.). Der Zweck ist in diesem Fall die Zustandsänderung in der Welt, die durch die Handlung herbeigeführt wird. Auf der anderen Seite wird alles als Zweck bezeichnet, was Wirkung einer Vorstellung dieses Zwecks sein kann. So beschrieben liegt auf der Hand, dass es sich um zwei verschiedene Dinge handelt. Der Zweck des Brotbackens ist das fertige Brot – doch durch eine bloße Vorstellung kann ich es nicht ‚bewirken‘. Ich kann mir aber die Tätigkeiten vorstellen, die nötig sind um ein Brot zu backen. Und sofern ich mich dazu entschließe, können wir tatsächlich sagen, dass mein Wille durch Vorstellung Gegenstände hervorbringt, nämlich eben diese Handlungen. Und diese Handlungen wären dann nach der zweiten Lesart die Zwecke, von denen die Zwecke der ersten Lesart zu unterscheiden wären, nämlich jeweils die Zwecke der konkreten Handlungen, die ich ausführe. Dies ist zumindest eine mögliche Interpretation.⁶⁰ Die skizzierte Unterscheidung eröffnet uns einen Lösungsweg, wenn wir beispielhaft eine moralische Handlung betrachten: Wenn ich mir vornehme, einen Streit zu schlichten, so hat diese Handlung einen Zweck, das Ende des Streits. Die Handlung des Streitschlichtens und auch die moralische Einstellung, die dahinter steht, sind jedoch selbst Zwecke. Nur die Absicht an sich, den Streit schlichten zu wollen, kann moralisch bereits als Erfolg bezeichnet werden. Und in dem Sinne, in dem Handlungen Zwecke sind, als Wirkungen von Vorstellungen des Willens, sind sie Gegenstände der praktischen Vernunft. Zusammenfassend können wir also sagen, dass die Interpretation, die in Gegenständen praktischer Vernunft Handlungen sieht, mit der Annahme, dass dieselben Gegenstände Zwecke sind, vereinbar ist, wenn die Mehrdeutigkeit des Zweckbegriffs beachtet wird.⁶¹

59 Vgl. z. B. GMS 436, 461; KpV 34; TL 380f. 60 Eine weitere Komplikation entsteht dadurch, dass wir in der Kritik der Urteilskraft zwei verschiedene Definitionen finden: (i) Ein Zweck ist der Gegenstand eines Begriffs, sofern der Begriff Ursache des Gegenstandes ist (KU 220); (ii) Ein Zweck ist ein Begriff, sofern dieser die Ursache eines Gegenstandes ist („[D]er Begriff von einem Object, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objects enthält, [heißt] Zweck“, KU 180). Damit wird unklar, wo genau in der Beschreibung der Willensbestimmung Kant den Begriff des Zwecks eigentlich einsetzen will. 61 Vgl. für detaillierte Untersuchungen des Zweckbegriffs Willaschek (1992, S. 54f.) und Klingner (2013).

2.8 Die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft |

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2.8 Die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft Kant verwendet die Ausdrücke ‚Gegenstand der praktischen Vernunft‘ und ‚Gegenstand reiner praktischer Vernunft‘ beinahe ausschließlich im zweiten Hauptstück der Analytik der KpV. Ein weiteres Vorkommen finden wir jedoch in der sich anschließenden Dialektik, in der das höchste Gut mit der „Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 108) identifiziert wird. Hier stellt Kant die These auf, die Vernunft gerate im praktischen Vernunftgebrauch ebenso unvermeidbar in eine Dialektik wie im spekulativen Vernunftgebrauch (KpV 107f.). Für die spekulative Vernunft wird dieses Phänomen in der KrV ausführlich beschrieben: Als Kernstück seiner Kritik an traditioneller Metaphysik diskutiert Kant dort sehr ausführlich ein ganzes System von dialektischen Schlüssen der spekulativen Vernunft, die auf der mangelnden Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung beruhen (KrV A 293–704/B 349–732). Kant kündigt zwar an, „der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche“ gehe es „um nichts besser“, die reine praktische Vernunft suche „zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) [...] das Unbedingte, und zwar [...] die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ (KpV 108). Er beschreibt jedoch nur eine einzelne Antinomie, in der es um die Möglichkeit der Hervorbringung des höchsten Guts geht (KpV 113f.): Einerseits scheint die Hervorbringung des höchsten Guts unmöglich zu sein, da hierfür eine notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit erforderlich wäre. Dies scheint jedoch ausgeschlossen zu sein. Andererseits hätte die Unmöglichkeit des höchsten Guts als Konsequenz, dass das moralische Gesetz „an sich falsch“ wäre, was die Ergebnisse der Analytik derselben Schrift ebenso ausschließen. Diese Antinomie der praktischen Vernunft wird mit der dritten Antinomie in der KrV verglichen, die die Möglichkeit einer Kausalität aus Freiheit behandelt.⁶² Kants Ausführungen zu dieser Antinomie der praktischen Vernunft, zu der Suche nach dem Unbedingten, der Totalität, dem transzendentalen Schein und zur Dialektik im Praktischen überhaupt sind jedoch sehr knapp und interpretationsbedürftig. Kant scheint davon auszugehen, dass es auf der Hand liegt, wie die Überlegungen der ersten Kritik in die praktische Philosophie zu übertragen seien.

62 „In der Antinomie der reinen speculativen Vernunft findet sich ein ähnlicher Widerstreit zwischen Naturnothwendigkeit und Freiheit in der Causalität der Begebenheiten in der Welt. [...] Mit der vorliegenden Antinomie der reinen praktischen Vernunft ist es nun eben so bewandt“ (KpV 114). Vgl. zur angesprochenen Antinomie in der ersten Kritik KrV A 444–451/B 472–479.

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Der Leser sieht sich deswegen vor vielfältige Probleme gestellt: 1. Auch in der Analytik der KpV geht es um die Suche der praktischen Vernunft nach dem Unbedingten, das in der Gestalt des moralischen Gesetzes auch gefunden wird. Da uns dieses durch das „Factum der Vernunft“ (KpV 31) unmittelbar gegeben ist, gerät die Vernunft dabei nicht in dialektische Schlüsse.⁶³ Die Frage nach dem Verhältnis zwischen moralischem Gesetz und höchstem Gut erhält also eine weitere Facette: In welcher Beziehung steht das moralische Gesetz als Unbedingtes zum höchsten Gut als Unbedingtem? 2. Worin genau bestehen die These und die Antithese der Antinomie der praktischen Vernunft? Anders als in der ersten Kritik sagt Kant das nicht klar und verwendet diese Ausdrücke (bzw. ‚Thesis‘ und ‚Antithesis‘) nicht einmal. Der Leser hat nun die Wahl, entweder die beiden alternativen Möglichkeiten der notwendigen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit („Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein.“, KpV 113) zu These und Antithese zu erklären und mit den Unstimmigkeiten umgehen zu müssen, die damit einhergehen.⁶⁴ Oder er begibt sich, von dem konkreten Textverlauf abstrahierend, auf die Suche nach einem dialektischen Konflikt in der entsprechenden Passage. Vieles spricht dabei für die Gegenüberstellung der Behauptungen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit des höchsten Guts. Beide Sätze widersprechen einander kontradiktorisch und für beide Sätze werden von Kant gute Gründe angeführt.⁶⁵ Im Laufe der Forschungsgeschichte gab es aber noch weit mehr Interpretationsvorschläge.⁶⁶

63 „Der einzige Begriff der Freiheit verstattet es, daß wir nicht außer uns hinausgehen dürfen, um das Unbedingte und Intelligibele zu dem Bedingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz und das Wesen, das sich dieses Gesetz bewußt ist, (unsere eigene Person) als zur reinen Verstandeswelt gehörig und zwar sogar mit Bestimmung der Art, wie es als ein solches thätig sein könne, erkennt“ (KpV 105f.). Vgl. dazu auch Albrecht (1978, S. 56). 64 Die Sätze schließen sich zum Beispiel nicht kontradiktorisch aus, wie das bei den Antinomien der ersten Kritik der Fall ist. Weiterhin wären in diesem Falle sowohl These als auch Antithese falsch, was eine Nähe zu den mathematischen Antinomien der ersten Kritik bedeuten würde. Kant vergleicht die Antinomie der praktischen Vernunft jedoch mit der dritten, einer dynamischen Antinomie; bei einer solchen können sowohl These als auch Antithese wahr sein (vgl. KrV A 531f./B 559f.). Vgl. Albrecht (1978, S. 95ff.) für einen Vertreter einer solchen Interpretationsrichtung. 65 Vgl. dafür z. B. Milz (2002, S. 210ff.) und Watkins (2010a, S. 154). 66 Milz (2002, S. 94) findet in der Literatur insgesamt 12 verschiedene Ansätze vor: „(1) der Gegensatz von analytischer und synthetischer Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, (2)

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3. Sind These und Antithese der Antinomie der praktischen Vernunft identifiziert und im Kontext der Textstelle gerechtfertigt, muss gezeigt werden, wie beide durch die Suche der praktischen Vernunft nach dem Unbedingten entstehen. Die Deutung der Antinomie der praktischen Vernunft muss also auf die Interpretation der wenigen Hinweise, die Kant für Letzteres gibt (KpV 108), bezogen werden. Eine ausführliche Bearbeitung dieser Fragen ist an dieser Stelle nicht möglich. Ich möchte mich hier stattdessen auf einen Punkt konzentrieren, der von der einschlägigen Literatur eher nebensächlich behandelt wurde:⁶⁷ Über welchen Aspekt unseres praktischen Lebens spricht Kant hier? Wie wirkt sich die Suche nach dem Unbedingten im Praktischen auf unser Leben aus und was bedeutet es, dass die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft das Ziel dieser Suche ist? Da diese Totalität mit dem höchsten Gut identifiziert wird, wird uns die Beantwortung dieser Fragen auch dabei helfen, Kants Konzept des höchsten Guts besser zu verstehen. Dazu werde ich im Folgenden die dritte Antinomie der KrV kurz beschreiben und anschließend die von Kant nur angedeutete Parallele zwischen dieser Antinomie und der Antinomie der praktischen Vernunft nachvollziehen. Die dritte Antinomie der KrV lässt sich anhand der folgenden gedanklichen Schritte nachvollziehen (1–3 gelten allgemein für alle Antinomien): 1. Der logische Vernunftgebrauch. Die Vernunft, „als Vermögen einer gewissen logischen Form der Erkenntniß betrachtet, ist das Vermögen zu schließen“ (KrV A 329/B 386). Der logische Vernunftgebrauch besteht darin, unter eine gegebene, allgemeine Regel (Obersatz), eine gegebene Erkenntnis zu fassen, die diese Bedingung erfüllt (Untersatz), um daraus eine weitere Erkenntnis (Schlusssatz oder Urteil) abzuleiten.⁶⁸ Zum Beispiel können wir unter den Ober-

der Gegensatz der beiden Formen einer synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, (3) der Widerstreit zwischen Begierde nach Glückseligkeit und der Tugendmaxime, (4) das Verhältnis von Pflicht- und Glückseligkeitsethik, (5) der Antagonismus von Sittlichkeit und Glückserfahrung, (6) der Konflikt zwischen der Pflicht, das Glücksstreben einzuschränken, und der Pflicht, als moralischer Mensch auch das eigene Glück zu wollen; (7) das Verhältnis von Form und Materie des sittlichen Willens, (8) das Verhältnis von transzendentaler Freiheit und gegenständlicher Fixierung, (9) das Subreptionsproblem der praktischen Selbsterkenntnis, (10) der Gegensatz zwischen reiner praktischer Vernunft und den natürlichen und geschichtlichen Realisierungsbedingungen, (11) der Widerspruch zwischen praktisch geforderter Möglichkeit des höchsten Gutes und seiner Unmöglichkeit sowie (12) der Widerspruch zwischen der Wahrheit und der Falschheit des moralischen Gesetzes.“ 67 Vgl. z. B. Albrecht (1978) und Milz (2002). 68 Vgl. KrV A 304/B 360f., A 321f./B 378.

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satz „Alle Menschen sind sterblich“ den Untersatz „Kant ist ein Mensch“ fassen und daraus den Schlusssatz „Kant ist sterblich“ ableiten. Die Reihung von Vernunftschlüssen. Jeder Obersatz kann „eben demselben Versuche der Vernunft ausgesetzt“ werden, das heißt als Urteil eines möglichen Vernunftschlusses angenommen werden, zu dem wir wiederum einen Obersatz suchen, aus dem er abgeleitet werden kann. Auf diese Weise entstehen Reihen von Vernunftschlüssen, die erst dann enden, wenn „zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte“ gefunden wird (KrV A307/B 364). Das allgemeine Prinzip der reinen Vernunft. Durch Abstraktion von den Verstandeserkenntnissen, auf die die Vernunft im logischen Gebrauch angewendet wird, lässt sich ein allgemeines Prinzip der reinen Vernunft entdecken: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)“ (KrV A 307f./B 364).⁶⁹ Wir können uns das Unbedingte somit auf zwei Arten denken: Erstens als die erste selbst unbedingte Bedingung in einer Reihe von Bedingungen. Zweitens die vollständige, unendliche Reihe von Bedingungen selbst (KrV A 417f./B 445f.). Die Antinomie. Die dritte Antinomie entsteht nun wie folgt: Einerseits denken wir uns zu jedem Zustand oder Ereignis in der Natur einen vorhergehenden Zustand, aus dem ersterer nach Naturgesetzen folgt. Da dies aber wiederum für jeden verursachenden Zustand gilt, kommt diese Suche nach einem ersten verursachenden Zustand, wenn wir sie uns probeweise denken, nie an ein Ende. Andererseits fordert „das Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe“ (KrV A 444ff./B 472ff.); diese Forderung nach hinreichender Bestimmbarkeit fordert somit auch einen ersten Anfang.⁷⁰ Der transzendentale Schein. Der transzendentale Schein der Dialektik entsteht dadurch, dass das grundsätzlich korrekte Prinzip der reinen Vernunft aus 3. auf uns durch unsere Sinnlichkeit gegebene Erscheinungen bezogen wird. Darauf ist es aber nicht anwendbar. Denn wenn uns etwas als Erscheinung gegeben ist, dann sind uns seine Bedingungen nicht auf gleiche Weise gegeben, sondern nur als Problem aufgegeben; es macht einen Unterschied, ob wir eine wirkende Naturursache tatsächlich beobachtet haben oder wir nur reflektierend auf sie schließen (KrV A 497ff./B 525ff.). Da wir aber nicht alle Kausalketten in der Natur wissenschaftlich beobachten können, ist die Frage,

69 Vgl. KrV A 409/B 436. 70 Vgl. ausführlich zu dieser Antinomie Allison (1983, S. 310ff.) u. Grier (2004, S. 214ff.).

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ob es erste Anfänge in solchen Kausalketten gibt und wie sie beschaffen sind, für uns unentscheidbar. 6. Die Auflösung der Antinomie. Für Kant ist der Schlüssel zur Auflösung der Antinomien die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich: Wir müssen anerkennen, dass das in 3. genannte allgemeine Prinzip nicht ohne weiteres auf Erscheinungen angewandt werden kann, die uns gegeben sind, um Aussagen über die Welt als Totalität aller Erscheinungen zu treffen. Kant ergänzt dieses Ergebnis durch die gewiss nicht unstrittige These, dass beide Sätze der Antinomie wahr sein können: „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung der Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden“ (KrV A 537/B 565). 7. Die Unvermeidbarkeit. Es ist nicht ganz klar, was Kant damit meint, wenn er die Antinomien und den damit verbundenen Schein unvermeidbar nennt. Eine Möglichkeit ist, diese Aussage auf die Wissenschaftsgeschichte zu beziehen. Es war in gewisser Weise unvermeidbar, dass die Menschheit, in ihrem Drang, Wissen über die Welt zu erlangen, in jene Antinomien gerät und zum Beispiel darüber streitet, ob es einen ersten Anfang gab, oder ob es kleinste Teilchen gibt. In Bezug auf den einzelnen Menschen jedoch scheint die These nicht haltbar zu sein, dass er irgendwann in seinem Leben unvermeidbar in jene dialektischen Vernunftschlüsse gerät, vor allem nicht in genau die, die Kant beschreibt. Wir können jedoch anerkennen, dass der Mechanismus, den Kant beschreibt, die Suche nach der Bedingung zu einem gegebenen Bedingten, die Frage nach dem „Warum?“ ein grundlegender Aspekt des menschlichen Denkens ist. Die soeben skizzierten Schritte (1) bis (3) gelten für alle Antinomien der ersten Kritik und enthalten nichts, was nur dem theoretischen Vernunftgebrauch eigen wäre. Somit ist davon auszugehen, dass Kant sie in der zweiten Kritik voraussetzt und vom Theoretischen ins Praktische übertragen will: der Vernunftschluss als Ausgangspunkt, die Reihenbildung von Vernunftschlüssen und die Anwendung des allgemeinen Prinzips der Vernunft auf diese Reihen. Woraus besteht aber hier die Reihe der Vernunftschlüsse bzw. „die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen“?

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Schauen wir uns den einzigen Hinweis an, den uns Kant diesbezüglich gibt: Sie [die praktische Vernunft; F.M.] sucht als reine praktische Vernunft zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwar nicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern, wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegeben worden, die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts (KpV 108).

Wenn Kant vom praktisch Bedingten spricht, so gehe ich davon aus, dass damit Gegenstände praktischer Vernunft gemeint sind, also Gegenstände, die durch den Willen hervorgebracht werden können: Handlungen. Da das hier praktisch Bedingte auf „Neigungen und Naturbedürfniß beruht“, geht es um Handlungen, die wir ausführen wollen, um unsere sinnlichen Begierden im weitesten Sinne zu befriedigen. Weil wir laut Kant aber nie direkt aus Neigung handeln, müssen wir uns eine praktische Regel dazu denken, die die Handlung als Mittel zur Befriedigung der spezifischen Neigung vorschreibt und somit eine normative Kraft entfaltet (vgl. zu praktischen Regeln KpV 20). Dies würde dem Bedingten entsprechen, um das es bei der dritten Antinomie in der ersten Kritik geht. Dort sind damit Gegenstände der spekulativen Vernunft gemeint und somit ihr gegebene Erscheinungen. Und anders als im Praktischen geht es dort nicht um die normative, sondern die naturkausale Bedingtheit dieser Gegenstände.⁷¹ Ein praktischer Vernunftschluss bestünde diesen Überlegungen zufolge aus (i) einer allgemeinen praktischen Regel im Obersatz, die eine Bedingung enthält (‚Wer Brot will, benötigt eine Mühle.‘), (ii) einer Neigung oder einem Bedürfnis, das diese Bedingung erfüllt (‚Ich will Brot.‘), und (iii) einem praktischen Schlusssatz, dem Handlungsentschluss (‚Also beschaffe ich mir eine Mühle.‘).⁷² Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten besteht nun einerseits darin, zu diesen empirisch-bedingten Willensbestimmungen einen unbedingten Obersatz zu finden, das heißt eine praktische Regel, die nicht auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht. Diese praktische Regel kennen wir bereits. Es ist der kategorische Imperativ. Da dieser Obersatz keine Bedingung enthält, die ihn auf bestimmte Untersätze einschränkt, gilt er für alle Untersätze. Somit muss jede Handlung, die unserer Bedürfnisbefriedigung dient, zugleich dem kategorischen Imperativ genügen oder mit anderen Worten: Es geht um ein durchgängiges moralisches Verhalten. Wenn wir noch einmal zu dem Zitat auf KpV 108 zurückkehren, stellen wir fest, dass Kant auf diese beiden Arten des Unbedingten im Praktischen Bezug

71 Vgl. zum Begriff der Bedingung im Praktischen ausführlich Abschnitt 4.3, S. 120. 72 Vgl. GMS 412, wo Kant davon spricht, „Handlungen von Gesetzen“ abzuleiten.

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nimmt und darauf hinweist, dass es hier nur um die zweite Art gehen kann, da die erste uns schon in Form des moralischen Gesetzes gegeben ist. An dieser Stelle könnte eingewandt werden, dass dies nicht vollständig dem Gedankengang der dritten Antinomie entspricht. Denn ich kann prinzipiell bei jedem Ereignis in der Welt nach dessen Ursache fragen. Aber nicht für jedes neigungsbedingte Handeln kann eine moralische Rechtfertigung gefunden werden. Manchen Neigungen muss aus moralischen Gründen „Abbruch“ getan werden (KpV 73f.). Die Reihen der Vernunftschlüsse wären auf eine Weise unvollständig, die es im Rahmen der dritten Antinomie nicht gibt. So ist das aber meines Erachtens nach nicht gemeint. Wir müssen uns erstens klar machen, dass es um eine Tätigkeit der praktischen Vernunft als reiner praktischer Vernunft geht, und zweitens, dass Kants Moralphilosophie auf der erstpersonalen Perspektive aufgebaut ist. Wir reden somit grundsätzlich über eine Person, die moralisch handeln will, und es geht nicht darum, diese Person von einem äußeren Standpunkt aus zu beurteilen, sondern ihr eigenes moralisches Überlegen nachzuvollziehen. Diesem Gedankengang folgend können wir das praktische Leben einer moralischen Person als Reihe von Handlungssituationen begreifen, in denen jeweils das Verfahren des kategorischen Imperativs angewandt wird, um auf Basis einer verallgemeinerbaren Maxime moralisch zu handeln und damit – wie wir in Kapitel 1 gezeigt haben – allgemeine Glückseligkeit inklusive der eigenen zu befördern. Insofern das Verfahren des kategorischen Imperativs in jeder Situation anwendbar ist und zu einer Lösung, also einer moralischen Handlung, führen kann, haben wir hier eine Reihe praktischer Vernunftschlüsse, die prinzipiell vollständig ist: eine Totalität. Zu Beginn des zweiten Hauptstücks der Dialektik der zweiten Kritik greift Kant das Thema der beiden Weisen, das Unbedingte im Praktischen zu suchen, wieder auf, indem er sie jeweils mit einer Bedeutung des Ausdrucks des ‚Höchsten‘ identifiziert (KpV 110). Entsprechend den beiden Arten des Unbedingten in der ersten Kritik spricht Kant hier von Tugend als dem obersten, selbst unbedingten Gut, und durch Tugend bedingte Glückseligkeit, als dem vollständigen Gut.⁷³ Die erste Art des Höchsten, also „diejenige Bedingung, die selbst unbedingt“ ist, war zwar zwei Seiten zuvor noch das moralische Gesetz und nicht Tugend, dennoch

73 „Der Begriff des Höchsten enthält schon eine Zweideutigkeit, die, wenn man darauf nicht Acht hat, unnöthige Streitigkeiten veranlassen kann. Das Höchste kann das Oberste ( supremum ) oder auch das Vollendete ( consummatum ) bedeuten. Das erstere ist diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, d. i. keiner andern untergeordnet, ist ( originarium ); das zweite dasjenige Ganze, das kein Theil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist ( perfectissimum )“ (KpV 110).

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gehe ich davon aus, dass es hier grundsätzlich um dieselbe Sache geht.⁷⁴ Und „dasjenige Ganze, das kein Theil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist“, ist „die ganze Reihe der Bedingungen, die als solche unbedingt ist“, insofern es im Praktischen die Totalität der tugendhaften Handlungen ist, die zu allgemeiner Glückseligkeit führt.⁷⁵ Wir haben nun die Suche der praktischen Vernunft nach dem Unbedingten so weit skizziert, dass wir uns der Rekonstruktion der Antinomie der praktischen Vernunft widmen können. Wie oben bereits bemerkt, waren hier die bisherigen Versuche der Literatur besonders vielfältig. An dieser Stelle wird keine Bewertung all dieser verschiedenen Ansätze unternommen. Stattdessen stütze ich mich auf einen Interpretationsvorschlag, der besonders aussichtsreich erscheint: Nehmen wir an, dass die These der Antinomie ‚Das höchste Gut ist praktisch möglich‘ und die Antithese ‚Das höchste Gut ist praktisch unmöglich‘ lautet.⁷⁶ Vergleichen wir nun diese Antinomie mit der dritten Antinomie in der KrV. Zunächst stehen sich auch hier zwei sich gegenseitig ausschließende Sätze gegenüber. Darüber hinaus können wir eine weitere Parallele ziehen: These und Antithese werden von Kant in der Form einer reductio ad absurdum bewiesen.⁷⁷ Die These der dritten Antinomie besagt, dass es neben der Naturkausalität noch eine Kausalität aus Freiheit gebe. Wäre dies nicht Fall, wäre nichts hinreichend bestimmt und es würde nichts existieren. Da aber offensichtlich Dinge existieren, muss es eine

74 Vgl. für eine mögliche Erklärung dieser veränderten Formulierung Albrecht (1978, S. 68 Fn. 219). Vgl. für eine Untersuchung der Frage, warum Kant generell das erste Element des höchsten Guts wechselhaft benennt, Abschnitt 4.3, S. 120 dieser Arbeit. 75 Eine frühere Version dieses Gedankengangs befindet sich schon in der Grundlegung: „[Der gute] Wille darf also zwar nicht das einzige und das ganze, aber er muß doch das höchste Gut und zu allem Übrigen, selbst allem Verlangen nach Glückseligkeit die Bedingung sein“ (GMS 396). Dabei ist zu beachten, dass Kant hier vom höchsten als dem obersten und nicht dem vollständigen Gut spricht. 76 Vgl. für verschiedene Ausführungen dieses Vorschlags Förster (2002, S. 182), Milz (2002, S. 210ff.), Watkins (2010a, S. 154) und Willaschek (2016, S. 226ff.). In Anschluss an Willaschek verwende ich hier einen Begriff der praktischen Möglichkeit im Sinne der Realisierbarkeit durch eigene Handlungen, der andere Ursachen wie die Handlungen anderer ein- und einen glücklichen Zufall ausschließt. Eine plausible Alternative dazu wären die These ‚Es ist Pflicht, das höchste Gut zu realisieren‘ und die Antithese ‚Es ist nicht Pflicht, das höchste Gut zu realisieren‘. Der Vorteil dieser Alternative besteht darin, dass sich hier passend dazu, dass es sich um eine Antinomie der praktischen Vernunft handelt, praktische Sätze gegenüberstehen. Gilt jedoch, dass Sollen Können impliziert, läuft das auf dasselbe hinaus: Aus der These folgt dann die praktische Möglichkeit des höchsten Guts, und aus einer praktischen Unmöglichkeit desselben folgt die Antithese. 77 Der Ausdruck ‚Beweis‘ sollte hier nicht im engen Sinne als unwiderlegbare Bestimmung oder Festsetzung, sondern im weiten Sinne als gute Begründung oder Argumentation verstanden werden.

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Kausalität aus Freiheit geben. Die These der Antinomie der praktischen Vernunft besagt, das höchste Gut sei möglich. Wäre dies nicht der Fall, „so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein“ (KpV 114). Da wir uns aber der Richtigkeit des moralischen Gesetzes versichert haben, muss das höchste Gut möglich sein. Die Antithese der dritten Antinomie besagt, dass es keine andere Kausalität neben der Naturkausalität geben kann. Wäre dies nicht der Fall, gäbe es Gegenstände in der Welt, die keine natürliche Ursache haben. Das sei aber unmöglich. Somit kann es keine andere als die Naturkausalität geben. Die Antithese der Antinomie der praktischen Vernunft besagt, dass höchste Gut sei unmöglich. Wäre dies nicht der Fall, müsste es eine notwendige Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit geben. Kant schließt aber alle Möglichkeiten einer solchen notwendigen Verknüpfung aus (KpV 111–113). Somit ist die Hervorbringung des höchsten Guts unmöglich. Ein Unterschied zur dritten Antinomie besteht freilich darin, dass – wie schon mehrfach bemerkt – die Antinomie der praktischen Vernunft auf die zweite Art des Unbedingten, in Form der vollständigen Reihe der Bedingungen zielt, da dies im Praktischen der problematische Fall ist. Für die spekulative Vernunft verhält es sich genau umgekehrt: Während uns einzelne Erscheinungen gegeben sind (wenn auch nicht in ihrer Gesamtheit für uns überschaubar), ist die Frage nach ihrer Ursache das Problem. Bei der Auflösung der Antinomien können wir jedoch weitere Gemeinsamkeiten feststellen. Die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft besteht laut Kant darin, zu bemerken, dass es eben doch nicht unmöglich ist, „daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen, wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar nothwendigen Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt“ haben kann (KpV 115). Vergleichen wir dies nun mit der dritten Antinomie in der KrV, fällt auf, dass hier wie dort der entscheidende Aspekt darin besteht, dass eine Wirkung einer intelligiblen Ursache in der Sinnenwelt nicht ausgeschlossen werden kann (vgl. KrV A 499/B 527 und KrV A 506/B 534). Darüber hinaus erweist sich bei der Auflösung der dritten Antinomie, dass sowohl These als auch Antithese wahr sein können.⁷⁸ In Bezug auf die Antinomie der praktischen Vernunft müssen wir jedoch konstatieren, dass die These (‚Das höchste Gut ist möglich.‘) wahr sein kann, aber nur unter der Voraussetzung „eines intelligibelen Urhebers der Natur“ (KpV 115).

78 „Die Wirkung kann also in Ansehung ihrer intelligiblen Ursache als frei, und doch zugleich in Ansehung ihrer Erscheinungen als Erfolg aus denselben nach der Notwendigkeit der Natur, angesehen werden [...]“ (KrV A 537/B 565).

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Und genau unter dieser Voraussetzung wird die Antithese (‚Das höchste Gut ist unmöglich.‘) falsch. Wenn wir schließlich vergleichen, inwiefern es „unvermeidbar“ ist, im theoretischen wie im praktischen Vernunftgebrauch in die Antinomie zu geraten, stellen wir einen Unterschied fest. Die Annahme, dass jedes Individuum Themen wie kleinste Teilchen oder den ersten Ursprung notwendig untersuchen will, erscheint unplausibel. In diesem Sinne ist es vermeidbar, in die in der ersten Kritik beschriebenen Antinomien zu geraten.⁷⁹ Im praktischen Vernunftgebrauch scheint etwas anderes zu gelten. Da das höchste Gut zu realisieren moralische Pflicht ist, ist es für jedes vernünftige, endliche Wesen unvermeidbar, es als praktisch möglich anzunehmen.⁸⁰ Nachdem wir uns nun versichert haben, dass wir eine Deutung des höchsten Guts als Totalität des Gegenstandes der reinen Vernunft finden können, die zu dem in diesem Kapitel entwickelten Interpretationsvorschlag zu Gegenständen der praktischen Vernunft passt, können wir zu unseren Ausgangsfragen zurückkehren: Über welchen Aspekt unseres praktischen Lebens spricht Kant bei der Suche nach dem Unbedingten im Praktischen? Was bedeutet es, dass die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft das Ziel dieser Suche ist? Aufbauend auf unseren bisherigen Ergebnissen können wir diese Fragen wie folgt beantworten: In den Naturwissenschaften wird (i) nach möglichst allgemeinen Prinzipien (Naturgesetzen) gesucht, durch die (ii) die Gegenstände, die in der Welt vorgefunden werden, bzw. die Ereignisse, die in ihr beobachtet werden, erklärt werden können. Laut Kant verhält es sich bei der praktischen Rationalität ähnlich: Wir suchen möglichst allgemeine Grundsätze, nach denen wir all unsere Handlungen ausrichten können. Ein möglicher Einwand gegen diesen Vergleich besteht darin, zu bestreiten, dass Menschen typischerweise einem einheitlichen Handlungsplan folgen, in den sie all ihre Interessen auf bestmögliche Weise in-

79 Kant scheint dies auch zuzugestehen: „Ein Bedürfniß der reinen Vernunft in ihrem speculativen Gebrauche führt nur auf Hypothesen [...]; denn [...] ich [steige] vom Abgeleiteten so hoch hinauf in der Reihe der Gründe, wie ich will, und bedarf eines Urgrundes, nicht um jenem Abgeleiteten (z. B. der Causalverbindung der Dinge und Veränderungen in der Welt) objective Realität zu geben, sondern nur um meine forschende Vernunft in Ansehung desselben vollständig zu befriedigen“ (KpV 142). 80 Vgl. „Und dieses Bedürfniß [, die Realisierungsbedingungen des höchsten Gutes für möglich zu halten,] ist nicht etwa ein hypothetisches einer beliebigen Absicht der Speculation, daß man etwas annehmen müsse, wenn man zur Vollendung des Vernunftgebrauchs in der Speculation hinaufsteigen will, sondern ein gesetzliches, etwas anzunehmen, ohne welches nicht geschehen kann, was man sich zur Absicht seines Thuns und Lassens unnachlaßlich setzen soll“ (KpV 5). Vgl. zur Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts Kapitel 7.

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tegrieren. Es scheint eher plausibel anzunehmen, dass viele Menschen ihre kurzund langfristigen Ziele häufig wechseln und vormals fest beschlossene Grundsätze angesichts starker konträrer Neigungen situativ preisgeben. Kants Parallelsetzung theoretischer und praktischer Vernunft ist mit dieser Intuition jedoch vereinbar, da sie an einer anderen Stelle ansetzt: Gleichgültig wie chaotisch und ungeplant Außenstehenden oder dem Handelnden selbst seine Handlungen zuweilen auch vorkommen mögen, so muss er sich doch immer wieder neu zu einer Handlung entscheiden. Und all seine Handlungsentscheidungen gehören systematisch zusammen, insofern sie einer Person zuzuordnen sind und zeitlich aufeinander folgen.⁸¹ Wir können unser praktisches Leben somit als Reihe von praktischen Vernunftschlüssen beschreiben. Die praktische Vernunft sucht einerseits nach dem obersten unbedingten Prinzip, das all diese Vernunftschlüsse bedingt, und findet es im moralischen Gesetz. Und sie sucht andererseits nach der vollständigen Reihe, also nach der Totalität solcher durch das moralische Gesetz bedingter Vernunftschlüsse. Zwar spricht Kant von der Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, doch läuft das auf dasselbe hinaus: Wie wir in Abschnitt 2.6 gesehen haben, ist mit einem Gegenstand der reinen praktischen Vernunft in erster Linie eine moralisch gute Handlung gemeint, und in zweiter Linie, von einzelnen Handlungssituationen abstrahierend, eine gute Maxime, ein guter Wille und schließlich eine gute Person. Eine Totalität, also eine vollständige Summe dieser Elemente, ist für ein einzelnes praktisches Leben erreicht, genau dann, wenn alle praktischen Vernunftschlüsse moralisch sind. Kant beschreibt hier also die Herausforderung, sich durchgängig moralisch zu verhalten. Die Beförderung des höchsten Guts unterscheidet sich somit nicht von der Befolgung des kategorischen Imperativs. Während die Lehre des Letzteren darauf konzentriert ist, was moralisches Überlegen im Kern ausmacht, geht es bei dem Konzept des höchsten Guts darum, welches Ergebnis dadurch angestrebt wird. Das höchste Gut ist dabei für Kant kein statisches Ziel, kein angestrebter Endzustand der Welt, den der Mensch bloß passiv erleben bzw. genießen kann. Das höchste Gut bedeutet wesentlich umfängliches moralisches Verhalten. Und da moralisches Verhalten immer allgemeine Glückseligkeit anstrebt, in der die eigene eingeschlossen und aufgehoben ist, können wir sagen, dass das höchste Gut aus Tugend und Glückseligkeit besteht.

81 Vgl. Engstrom (2009, S. 84f.) für einen ähnlichen Gedankengang.

3 Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen „[D]er Begriff des Guten und Bösen [muss] nicht vor dem moralischen Gesetze (dem er dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte), sondern nur [...] nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden“ (KpV 62). Für uns ist diese These ein wesentliches Entscheidungskriterium, um Kants Ethik als deontologische von teleologischen Ethiken abzugrenzen.¹ Für Kant selbst ist sie das wesentliche Alleinstellungsmerkmal seiner Theorie gegenüber allen anderen bekannten Ethikkonzeptionen. Sie ist in zweierlei Hinsicht radikal: Erstens unterstellt Kant, alle anderen Theorien hätten gemeinsam, dass sie dieser These widersprächen. Zweitens folge aus der Zurückweisung dieses Satzes, dass keine allgemeingültigen und notwendigen Prinzipien begründet werden könnten, und damit moralische Prinzipien im eigentlichen Sinne. Kant ist sich der Schwere dieses Schlusses bewusst, gesteht er doch zu, dass „dem Anschein nach“ das Gute dem Gesetz „zum Grunde gelegt“ werden müsste. Außerdem bezeichnet Kant seine These als „Paradoxon der Methode in einer Kritik der praktischen Vernunft“ (KpV 62). Das deutet ebenfalls darauf hin, dass er die These selbst für begründungsbedürftig hält.² Was erwarten wir von Kant als Begründung für diese These? Einerseits muss er zeigen, dass eine plausible Moralkonzeption auf ihrer Basis entwickelt werden kann. In den vorhergehenden Kapiteln dieser Arbeit habe ich einige wesentliche Teile dieser positiven Theorieentwicklung Kants rekonstruiert. So kann das moralisch Gute durch Anwendung des kategorischen Imperativs bestimmt werden.

1 Vgl. z. B. Frankena (1972). 2 Kant will mit dem Begriff „Paradoxon“ nicht andeuten, seine Argumentation sei widersprüchlich, sondern originell und einfallsreich, da sie einer gängigen Lehrmeinung widerspricht. Vgl.: „Eben darum ist es ein Wagestück: eine der allgemeinen Meinung, selbst der Verständigen, widerstreitende Behauptung ins Publicum zu spielen. Dieser Anschein des Egoisms heißt die Paradoxie. Es ist nicht eine Kühnheit, etwas auf die Gefahr, daß es unwahr sei, sondern nur daß es bei wenigen Eingang finden möchte, zu wagen. – Vorliebe fürs Paradoxe ist zwar logischer Eigensinn, nicht Nachahmer von Anderen sein zu wollen, sondern als ein seltener Mensch zu erscheinen, statt dessen ein solcher oft nur den Seltsamen macht. Weil aber doch ein jeder seinen eigenen Sinn haben und behaupten muß [...]: so ist der Vorwurf der Paradoxie, wenn sie nicht auf Eitelkeit, sich blos unterscheiden zu wollen, gegründet ist, von keiner schlimmen Bedeutung. – Dem Paradoxen ist das Alltägliche entgegengesetzt, was die gemeine Meinung auf seiner Seite hat. Aber bei diesem ist eben so wenig Sicherheit, wo nicht noch weniger, weil es einschläfert; statt dessen das Paradoxon das Gemüth zur Aufmerksamkeit und Nachforschung erweckt, die oft zu Entdeckungen führt“ (Anth 129). Vgl. eine ähnliche Verwendung bezüglich der Menschenwürde (vgl. GMS 439) und des Revolutionsverbots (vgl. RL 371). Vgl. zur Verwendung des Begriffs bei Kant auch Brandt (1995). https://doi.org/10.1515/9783110599763-004

3 Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen | 81

Demnach werden jene Handlungen als moralisch gut bezeichnet, die aus allgemeingültigen Maximen heraus vollzogen werden. Weitere Urteile über das Gute hängen von diesem Verfahren ab.³ Andererseits muss Kant Gründe dafür angeben, warum die Begriffe des Guten und Bösen dem moralischen Gesetz nicht zugrunde gelegt werden können. Das ist das Thema dieses Kapitels. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Kants Argument gegen heteronome Ethikbegründungen und der Ausgangsfrage dieser Arbeit. Denn das Argument, das wir hier rekonstruieren wollen, ist der wesentliche Grund dafür, warum Kant dem höchsten Gut, das er aus antiken Ethiken als erstes und oberstes moralisches Prinzip kennt, einen neuen Platz und eine neue Funktion zuweist.⁴ Dadurch verändert sich natürlich auch das Konzept des höchsten Guts selbst. Während auf dieses neu konzipierte und spezifisch kantische höchste Gut in den nächsten Kapiteln genauer eingegangen wird, soll dieses Kapitel zeigen, warum das moralische Gesetz nicht vom höchsten Guten abgeleitet werden kann, sondern, wenn überhaupt möglich, umgekehrt. Der weitere Verlauf dieses Kapitels ist wie folgt gegliedert: Zunächst wird überblicksartig dargestellt, wie sich Kants Argument gegen Heteronomie in der Grundlegung und der zweiten Kritik entwickelt (Abschnitt 3.1). Anschließend sehen wir uns an, welche Moralkonzeptionen Kant kritisiert. Dies geschieht einerseits, um zu veranschaulichen, an welche Adressaten das Argument auf KpV 63 gerichtet ist. Andererseits haben einige der Kritikpunkte, die Kant jeweils nur gegen einzelne Theorien in Stellung bringt, einen bestimmten Bezug zu jenem Argument; es wird das Verständnis des letzteren befördern, diesen Bezug zu untersuchen (Abschnitt 3.2). Es folgt eine Rekonstruktion der logischen Form des Arguments auf KpV 63 und eine Detailanalyse der einzelnen Prämissen und Argumentationsschritte (Abschnitt 3.3). Es wird sich herausstellen, dass insbesondere zwei Prämissen besonders erklärungsbedürftig sind: (i) Welche Alternativen werden genau gegenübergestellt, wenn man nach der Vorrangigkeit von moralischem Gesetz und Begriff des Guten fragt (Abschnitt 3.4)? (ii) Warum kann das Gute nur entweder durch ein Vernunftgesetz a priori oder durch das Gefühl der Lust und Unlust bestimmt werden (Abschnitt 3.5)? Abschließend werde ich kurz zusammen-

3 Siehe Kapitel 1; vgl. auch die Abschnitte 2.5 und 2.6. 4 Vgl.: „Die Alten verriethen indessen diesen Fehler dadurch unverhohlen, daß sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten: ein Object, welches weit hinterher, wenn das moralische Gesetz allererst für sich bewährt und als unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens gerechtfertigt ist, dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen als Gegenstand vorgestellt werden kann“ (KpV 64). Diesen Gedanken wiederholt Kant auf KpV 109.

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fassen, welche Konsequenzen sich für ein Konzept des höchsten Guts ergeben, das in Kants Ethik einen Platz finden soll (Abschnitt 3.6).

3.1 Vorläufer des allgemeinen Arguments gegen Heteronomie Schon in der Grundlegung behauptet Kant, dass nur durch ein formales oberstes Prinzip in Gestalt des kategorischen Imperativs die Ansprüche eingelöst werden können, die wir an die Moral stellen. Zugleich meint er, nicht im Detail zeigen zu müssen, wie und woran andere Moralkonzeptionen scheitern.⁵ Dementsprechend knapp und kursorisch fallen seine Argumente gegen konkurrierende Konzeptionen aus (vgl. GMS 441ff.). Im ersten Hauptstück der zweiten Kritik finden wir eine ähnliche Haltung. Auch dort meint Kant, durch eine kurze Systematisierung möglicher Moralkonzeptionen in einer Übersichtsdarstellung bloß „durch den Augenschein beweisen“ zu können, „daß es vergeblich sei, sich nach einem andern Princip als dem jetzt vorgetragenen umzusehen“ (KpV 39). Die Übersichtstafel (KpV 40) wird von einigen angedeuteten Argumenten gegen die aufgeführten Theorien begleitet, die auf einer Buchseite Platz finden (KpV 41). Diese Andeutungen fallen im Vergleich zu jenen aus der Grundlegung eher noch kürzer aus. Es gibt jedoch eine plausible Erklärung für Kants scheinbar allzu leichtfertigen Umgang mit konkurrierenden Moralkonzeptionen: Er ist der Ansicht, dass er sie unter einer einzigen abstrakten Beschreibung subsumieren kann, und es dadurch ermöglicht, sie alle durch ein einziges Argument zurückzuweisen.⁶ Für dieses Argument wird eine richtungsweisende Einteilung vorausgesetzt: Während Kant sein eigenes Prinzip, „nicht anders zu wählen als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit Begriffen seien“, als Prinzip der Autonomie bezeichnet (GMS 440), bringt er Moralkonzeptionen, die irgendeine andere Maximenauswahl vorschreiben, unter den Begriff der Heterono-

5 „Übrigens Glaube ich einer weitläuftigen Widerlegung aller dieser Lehrbegriffe überhoben sein zu können. Sie ist so leicht, sie ist von denen selbst, deren Amt es erfordert, sich doch für eine dieser Theorien zu erklären (weil Zuhörer den Aufschub des Urtheils nicht wohl leiden mögen), selbst vermuthlich so wohl eingesehen, daß dadurch nur überflüssige Arbeit geschehen würde“ (GMS 443). 6 Vgl. „Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bisherige Bemühungen, die jemals unternommen worden, um das Princip der Sittlichkeit ausfindig zu machen, zurücksehen, warum sie insgesammt haben fehlschlagen müssen“ (GMS 432; H.v.m.). Vgl. auch: „Die menschliche Vernunft hat hier, wie allerwärts in ihrem reinen Gebrauche, so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle mögliche unrechte Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu treffen [...]“ (GMS 441; H.v.m.).

3.1 Vorläufer des allgemeinen Arguments gegen Heteronomie |

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mie (GMS 441). Diese Unterscheidung läuft auf die oben genannte Frage nach dem Vorrang von Gesetz und Begriff des Guten hinaus. Denn was Kant hier als Prinzip der Autonomie bezeichnet, ist offenbar nichts anderes als das moralische Gesetz. Eine Moral der Autonomie leitet also alle Urteile des Guten aus dem moralischen Gesetz ab. Jede Moralkonzeption, die dies ablehnt, muss, das ist zumindest Kants Überzeugung, irgendein Wertekonzept an den Anfang stellen, das die Merkmale des Guten festlegt, und daraus Handlungsprinzipien (Gesetze) ableiten.⁷ Kant entwickelt zwei Varianten eines allgemeinen Arguments gegen heteronome Moralkonzeptionen. Die erste bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen (GMS 414; KpV 20). Kant meint, dass eine Moralkonzeption ohne moralisches Gesetz a priori irgendeine andere Ziel- oder Wertvorstellung (Kant spricht hier von einem „Objekt“) setzen müsse, an denen sich der Wille orientieren könne. Daraus folge, dass eine solche Theorie nur hypothetische (und keine kategorischen) Imperative aufstellen könne, da die Imperative immer durch jene Zielvorstellung bedingt wären.⁸ Das allein wäre noch kein Problem, ließe sich nur eine Zielvorstellung finden, auf die alle gleichermaßen verpflichtet werden könnten. Nun setzt Kant aber voraus, dass jedes mögliche Ziel durch ein Interesse daran motiviert sein müsse, sei es das Interesse eines anderen, das mich zwingt, oder mein eigenes.⁹ Nun gibt es nur ein Interesse, das wir bei allen Menschen voraussetzen können: „die Absicht auf Glückseligkeit“ (GMS 415). Doch es ist unmöglich, allgemein festzulegen, was glücklich macht, da schon jeder einzelne nicht „mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle“ (GMS 418). Eine auf Glückseligkeit zielende Moral kann also

7 Der Begriff der Autonomie bei Kant ist gewiss reicher als hier dargestellt (vgl. z. B. Reath 2006a). Ich beschränke mich auf den skizzierten Aspekt des Begriffs als bloßen Gegenbegriff zur Heteronomie. Auch soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, zu untersuchen, ob Kants Kritik tatsächlich zutrifft. Vgl. dazu z. B. Engstrom (1996, S. 113), Louden (2015, S. 117f.), Engstrom (2015, S. 132f.), die die Ansicht vertreten, die Ethik des Aristoteles falle nicht unter Kants Definition von Heteronomie. 8 „Wenn der Wille irgend worin anders, als in der Tauglichkeit seiner Maximen zu seiner eigenen allgemeinen Gesetzgebung [...] das Gesetz sucht, das ihn bestimmen soll, so [...] giebt [der Wille] alsdann sich nicht selbst, sondern das Object durch sein Verhältniß zum Willen giebt diesem das Gesetz. Dies Verhältniß [...] läßt nur hypothetische Imperativen möglich werden: ich soll etwas thun darum, weil ich etwas anderes will“ (GMS 441). 9 Vgl.: „Denn wenn man sich ihn nur als einem Gesetz (welches es auch sei) unterworfen dachte: so mußte dieses irgend ein Interesse als Reiz oder Zwang bei sich führen, weil es nicht als Gesetz aus seinem Willen entsprang, sondern dieser gesetzmäßig von etwas anderm genöthigt wurde, auf gewisse Weise zu handeln. Durch diese ganz nothwendige Folgerung aber war alle Arbeit, einen obersten Grund der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verloren. Denn man bekam niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der Handlung aus einem gewissen Interesse heraus. Dieses mochte nun ein eigenes oder fremdes Interesse sein.“ (GMS 432f.). Für ähnliche Aussagen in der zweiten Kritik vgl. KpV 20, 33, 36.

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nur Ratschläge, aber niemals Gesetze geben. Da aber alle anderen potentiell setzbaren Zielvorstellungen nicht notwendig von allen Menschen geteilt werden, ist es nicht möglich, dass eine Moralkonzeption, die nur über hypothetische Imperative verfügt, allgemeine und notwendige moralische Gesetze beinhalten kann.¹⁰ Die zweite Variante des Arguments ist im Grunde die Ausarbeitung eines einzelnen Schritts der ersten zu einem vollständigen Argument. Sie wird in der Grundlegung nur angedeutet. Mit der ersten Variante hat sie die These gemein, die einzige Alternative zu einem obersten moralischen Vernunftprinzip sei ein „Object des Willens“, welches „zum Grunde gelegt werden muß, um diesem die Regel vorzuschreiben“. Gleichgültig, worin dieses Objekt nun bestehe, könne nur mittels einer „Natur des Subjects“, die „auf die Empfänglichkeit“ eines „fremde[n] Antrieb[s]“ gestimmt sei, Bezug darauf genommen werden, um daraus Handlungsprinzipien abzuleiten (GMS 444). Kant gibt an dieser Stelle jedoch weder eine Erläuterung dafür an, was für eine Empfänglichkeit das genau sei, noch nennt er eine Begründung für diesen Argumentationsschritt, noch führt er weiter aus, was problematisch an dieser Konsequenz wäre. Allerdings können wir schon hier eine Vermutung anstellen, warum Kant diese Variante in der zweiten Kritik bevorzugt und weiter ausarbeitet: Sie macht keinerlei Voraussetzungen über hypothetische Imperative oder über die Beschaffenheit des menschlichen Glücksstrebens. Umso weniger Prämissen ein Argument aufstellt, umso leichter ist es zu verteidigen. Im ersten Hauptstück der zweiten Kritik sagt Kant, jene zweite Variante weiter ausführend, dass alle (zu seiner eigenen Theorie konkurrierenden) Moralkonzeptionen „materia[l]“ seien und als solche „vorher gegeben[e]“ Zwecke zur Willensbestimmung erhöben. Dadurch seien sie „ganz untauglich“, ein oberstes Sittengesetz zu geben (KpV 41). Kant behauptet, das bereits „bewiesen“ zu haben, und spielt damit meines Erachtens auf Lehrsatz I in demselben Hauptstück an, wo er erklärt, dass in einem solchen Fall „die Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“ notwendige Bedingung für die Willensbestimmung wäre. Ob eine solche Lust empfunden wird, kann aber immer nur empirisch erkannt werden, womit wiederum entsprechende Moralkonzeptionen die Allgemeinheit und Notwendigkeit moralischer Gesetze nicht begründen könnten (KpV 21f.).¹¹

10 Diese erste Variante von Kants allgemeinem Argument gegen heteronome Moralkonzeptionen verdeutlicht den Zusammenhang der in Kants Vernunftphilosophie so zentralen Begriffe „Allgemeinheit“ und „Notwendigkeit“ (KrV A 70–71/B 95–96) im Praktischen: Sind Imperative nicht allgemein, gelten also nur bedingt, so sind sie nur als Ratschläge zu werten und nicht als Gesetze. Nur Letzteren ist notwendig zu folgen. 11 Vgl. auch: „Eben darum weil hier ein Object der Willkür der Regel derselben zum Grunde gelegt und also vor dieser vorhergehen muß, so kann diese nicht worauf anders als auf das, was

3.2 Überblick über die kritisierten Ethikkonzeptionen |

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Im zweiten Hauptstück der KpV formuliert Kant diesen Gedankengang ausführlich aus (KpV 63). Seine Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Entweder werden moralische Gesetze aus dem Begriff des Guten abgeleitet oder der Begriff des Guten wird durch moralische Gesetze bestimmt. Im ersten Fall ist Kriterium des Guten die Übereinstimmung seines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust, im zweiten Fall ist es die Bestimmung seines Begriffs durch moralische Gesetze. Ist das erste der Fall, unterliegen die Urteile des Guten empirischen Bedingungen und können somit nicht notwendig und allgemeingültig sein, was aber Voraussetzung für eine Moral im strengen Sinne Kants wäre. Die Analyse dieser Version des Arguments und sein begründungsbedürftigster Schritt – dass die notwendige Konsequenz aus einem zuerst festgelegten Begriff des Guten eine Beteiligung des Gefühls der Lust und Unlust an der Willensbestimmung sei – stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels. Dabei geht es mir nicht darum, zu überprüfen, welche Überzeugungskraft das Argument tatsächlich gegen die von ihm genannten Moralkonzeptionen entwickeln kann.¹² Ich will mich stattdessen darauf konzentrieren, die einzelnen Argumentationsschritte herauszuarbeiten und die Prämissen offenzulegen, die das Argument benötigt, um zu klären, wie voraussetzungsreich es ist. Bevor ich dies in Abschnitt 3.3 unternehme, werde ich die wesentlichen Klassen der von Kant kritisierten Ethikkonzeptionen im nächsten Abschnitt kurz vorstellen.

3.2 Überblick über die kritisierten Ethikkonzeptionen In der Grundlegung teilt Kant die mit seiner Lehre in Konkurrenz stehenden Moralkonzeptionen nach ihrem obersten Prinzip ein. Auf der einen Seite stehen Ansätze, die das „moralische“ oder das „physische“ Gefühl zum obersten moralischen Prinzip erklären, die Kant auch als empirische Prinzipien bezeichnet.¹³ Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die einen ontologischen oder einen theologischen Begriff

man empfiehlt, und also auf Erfahrung bezogen und darauf gegründet werden, und da muß die Verschiedenheit des Urtheils endlos sein“ (KpV 36). 12 Vgl. Schneewind (2009) für eine solche Untersuchung, die aber nur die Kritikpunkte berücksichtigt, die Kant jeweils auf einzelne Moralkonzeptionen bezieht. 13 Im Allgemeinen sind Gefühle bei Kant immer physisch, insofern sie Einfluss auf die Sinnlichkeit haben. Er bezeichnet Gefühle explizit als physisch, wenn ihr Ursprung in der Sinnlichkeit liegt. Diese Kennzeichnung ist notwendig, da Kants Theorie auch Gefühle kennt, die eine nicht-sinnliche Ursache haben (wie das moralische Gefühl, dessen Ursprung in der Achtung vor dem Gesetz liegt). Vgl. KpV 75 u. TL 377.

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von Vollkommenheit zum obersten Prinzip erheben, welche Kant auch rationale Prinzipien nennt.¹⁴ Diese Redeweise von Prinzipien kann nach dem oben gesagten verwirren, stellt Kant doch mit Bezug auf die heteronomen Moralkonzeptionen fest, in ihnen würden die Gesetze (die auch als Prinzipien bezeichnet werden können) aus dem Begriff des Guten abgeleitet. Das lässt sich so erklären: Die Prinzipien, von denen hier die Rede ist, legen fest, was als gut im Sinne einer Wertvorstellung und nicht im Sinne einer Handlungsentscheidung betrachtet wird. Erhebe ich zum Beispiel das physische Gefühl zum obersten Prinzip, dann ist damit gemeint, dass alle Handlungen gut sind, die mein physisches Wohlbefinden steigern. Die Grundsätze, die mein Handeln leiten, müssen entsprechend gewählt werden. Und diese Grundsätze sind wiederum gemeint, wenn Kant sagt, die ‚Gesetze‘ würden aus dem Begriff des Guten abgeleitet.¹⁵ Die einzelnen Klassen von Moralkonzeptionen, auf die Kant sich bezieht, können wie folgt skizziert werden:¹⁶

14 „Alle Principien, die man aus diesem Gesichtspunkte nehmen mag, sind entweder empirisch oder rational. Die ersteren, aus dem Princip der Glückseligkeit, sind aufs physische oder moralische Gefühl, die zweiten aus dem Princip der Vollkommenheit, entweder auf den Vernunftbegriff derselben als möglicher Wirkung, oder auf den Begriff einer selbstständigen Vollkommenheit (den Willen Gottes) als bestimmende Ursache unseres Willens gebauet“ (GMS 441f.). Vgl. für eine ähnliche, aber nicht identische Aufstellung: „Man darf nur die Versuche über die Sittlichkeit in jenem beliebten Geschmacke ansehen, so wird man bald die besondere Bestimmung der menschlichen Natur (mitunter aber auch die Idee von einer vernünftigen Natur überhaupt), bald Vollkommenheit, bald Glückseligkeit, hier moralisches Gefühl, dort Gottesfurcht, von diesem etwas, von jenem auch etwas in wunderbarem Gemische antreffen [...]“ (GMS 410). 15 Vgl. dazu auch Wood (2006, S. 368f.): „It is significant (and clarifying) that in the Critique of Practical Reason, Kant treats this as a taxonomy not of moral principles but of ‚moral determining grounds‘ – that is, of proposed grounds for following moral principles.“ 16 Ich beziehe mich hier nur auf die vier Klassen, die in der Grundlegung genannt werden. In der zweiten Kritik erweitert Kant diese Einteilung, indem er bei den empirischen und rationalen Prinzipien (die er hier auch subjektive und objektive nennt) jeweils zwischen inneren und äußeren Prinzipien unterscheidet. Während sich bei den rationalen Prinzipien quantitativ nichts ändert, kommen bei den empirischen Prinzipien zwei äußere hinzu, nämlich das der Erziehung und das der bürgerlichen Verfassung. Jeder der nun insgesamt sechs Moralkonzeptionen wird beispielhaft ein Vertreter zugewiesen (KpV 40). Es ist bemerkenswert, dass sich Kant hier noch kürzer fasst als in der Grundlegung: Während dort für jede Bestimmung oder Einteilung eine Erläuterung zumindest angedeutet wurde, überlässt Kant es hier vollständig dem Leser, die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Prinzipien nachzuvollziehen. Die Prinzipien der Erziehung nach Montaigne und das der bürgerlichen Verfassung nach Mandeville werden im Text nicht einmal erwähnt. Etwas ausführlicher hat sich Kant in seinen moralphilosophischen Vorlesungen geäußert. Vgl. dazu vor allem Mrongovius II, 1784/85, 29:621–627. Vgl. auch Moralphilosophie Collins, 1784/5, 27:252– 255, auch 27:274ff.; Mrongovius, 1782, 27:1404–1406; Praktische Philosophie Powalski, vermutlich

3.2 Überblick über die kritisierten Ethikkonzeptionen |

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1. Eine Moral des physischen Gefühls oder der eigenen Glückseligkeit zielt darauf ab, das Angenehme für den Handelnden zu maximieren und das Unangenehme zu minimieren. Wir müssen hier zwei Unterarten unterscheiden. Einerseits kann eine solche Konzeption so beschaffen sein, dass sie nichts als Geschicklichkeitsregeln an die Hand gibt, um die eigenen Zwecke maximal befördern zu können, worin diese immer auch bestehen mögen. Andererseits kann sie darin bestehen, Ratschläge darin zu geben, wie eine möglichst dauerhafte und beständige Glückseligkeit zu erreichen sei.¹⁷ 2. Eine Moral des moralischen Gefühls geht davon aus, dass „das Bewußtsein der Tugend unmittelbar mit Zufriedenheit und Vergnügen, das des Lasters aber mit Seelenunruhe und Schmerz verbunden“ sei (KpV 38). Dadurch können das gute und das schlechte Gewissen als Maßstab für moralisches Verhalten dienen.¹⁸ 3. Eine Moral der ontologischen Vollkommenheit versucht, „in dem unermeßlichen Felde möglicher Realität die für uns schickliche größte Summe auszufinden“ (GMS 443). Damit ist die größtmögliche Perfektion gemeint, die in der Welt erreicht werden kann. Wenn wir moralisch gutes Verhalten als Teil einer solchen Perfektion verstehen, würde ein auf diese Weise nach Perfektion strebender Mensch auch danach streben, moralisch gut zu handeln.¹⁹ 4. Eine Moral der theologischen Vollkommenheit strebt danach, moralische Gesetze von einem „göttlichen, allervollkommensten Willen abzuleiten“ (GMS 443). Wenn wir Gottes Vollkommenheit voraussetzen, und damit auch

1777, 27:118–121; Metaphysik der Sitten Vigilantius, 1793/94, 27:497–499. Teilweise weicht Kant dort allerdings von der Einteilung der KpV ab. Zum Beispiel wird manchmal bei der bürgerlichen Verfassung Hobbes statt Mandeville als Beispiel genannt, letzterer wiederum bei dem physischen Gefühl einsortiert. Vgl. für Kurzfassungen auch die Reflexionen 6631, 19:118 und 6635, 19:121. 17 Die harsche Kritik in der Grundlegung („am meisten verwerflich“, „falsch“; GMS 442) bezieht sich klarerweise auf die erste Art, während Kant mit Epikur als Beispiel der zweiten zugesteht, „in seinen praktischen Vorschriften nicht so niedrig gesinnt [zu sein]“. Epikur „rechnete die uneigennützigste Ausübung des Guten mit zu den Genußarten der innigsten Freude, und die Gnügsamkeit und Bändigung der Neigungen, so wie sie immer der strengste Moralphilosoph fordern mag, gehörte mit zu seinem Plane eines Vergnügens (er verstand darunter das stets fröhliche Herz)“ (KpV 115, H.v.m.). Laut Kant hat sich Epikur „sehr der Tugend“ genähert (vgl. auch Praktische Philosophie Powalski, 27:100f.). Die Übersichtstafel KpV 40 kann also verwirren, denn dort ist Epikur als typischer Vertreter einer Moral des physischen Gefühls benannt. Die Kritik gegen eine solche Moral in der Grundlegung richtet sich aber eindeutig nicht gegen Epikur (sondern eher gegen Aristippos von Kyrene, Julien Offray de La Mettrie und Claude Adrien Helvétius, vgl. 27:100). 18 Vgl. dazu auch TL 399. 19 Verhaltene Kritik an der Idee der Vollkommenheit als oberstem moralischen Prinzip äußert Kant schon in der Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von 1763, vgl. 2:90.

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die Vollkommenheit seines guten Willens, sind auch unsere Handlungen gut, sofern wir sie nach göttlichen Geboten ausrichten. Da es in diesem Kapitel um das allgemeine Argument gegen heteronome Ethikkonzeptionen gehen soll, werde ich nicht vollständig auf die Einwände eingehen, die Kant darüber hinaus und spezifisch gegen einzelnen Konzeptionen richtet. Zwei Kritikpunkte verdienen jedoch unsere Aufmerksamkeit, da sie mit dem hier thematisierten allgemeinen Argument in einem engen Zusammenhang stehen. Erstens geht es um den Vorwurf an alle empirischen Moralkonzeptionen, nicht den Anspruch der Allgemeinheit und Notwendigkeit einlösen zu können, den wir an Moral stellen, da sie wesentlich auf Gefühlen beruhen. Gefühle können „dem Grade nach von Natur [aus] unendlich von einander unterschieden“ sein (GMS 442) und sind deswegen als allgemeine Kriterien für das moralisch Gute völlig untauglich.²⁰ Es ist wichtig, diesen Empirie-Vorwurf von dem zu unterscheiden, den Kant gegen alle heteronomen Moralkonzeptionen erhebt und der damit zusammenhängt, dass ihnen zufolge die Willensbestimmung von einem vorgegebenen Zweck abhängig ist. Während sich der hier genannte Empirie-Vorwurf auf den Zweck selbst bezieht (zum Beispiel ‚ein gutes Gewissen zu haben‘), richtet er sich dort gegen die Art und Weise, wie sich die Willensbestimmung auf den Zweck bezieht. Letzterer ist von ersterem unabhängig und trifft somit auch rationale Moralkonzeptionen. Eine wichtige Frage, die wir uns im Folgenden stellen müssen, ist also, warum wir uns auf einen vorgegebenen Zweck nur durch ein Gefühl der Lust beziehen können (vgl. dazu Abschnitt 3.5). Der zweite Empirie-Vorwurf wird erst in der zweiten Kritik ausgearbeitet. Mit dieser neuen Schwerpunktsetzung geht einher, dass das Prinzip der Glückseligkeit in jener Schrift viel ausgeprägter zum gegensätzlichen Prinzip des moralischen Gesetzes erklärt wird als noch in der Grundlegung.²¹ Denn wenn jegliche alternative Moralkonzeptionen letztlich lustba-

20 Vgl.: „Empirische Principien taugen überall nicht dazu, um moralische Gesetze darauf zu gründen. Denn die Allgemeinheit, mit der sie für alle vernünftige Wesen ohne Unterschied gelten sollen, die unbedingte praktische Nothwendigkeit, die ihnen dadurch auferlegt wird, fällt weg, wenn der Grund derselben von der besonderen Einrichtung der menschlichen Natur, oder den zufälligen Umständen hergenommen wird, darin sie gesetzt ist“ (GMS 442). Vgl. auch GMS 426. Vgl. weiterhin Vivas (1940), der diese Kritik Kants auf zeitgenössische moralische Empiristen anwendet. 21 Vgl. KpV 21–38. Kant beruft sich auf diese Gegenüberstellung auch später in der RGV bei der Beschreibung des radikalen Bösen (vgl. z. B. RGV 36). In der Grundlegung wird bei der Einteilung der Moralkonzeptionen das Prinzip der Glückseligkeit nur als Oberbegriff für das physische und das moralische Gefühl verwendet (vgl. GMS 441). Kant zählt das moralische Gefühl hier dazu, denn auch derjenige, der sein Handeln danach ausrichtet, moralische Selbstzufriedenheit zu erlangen und ein schlechtes Gewissen zu vermeiden, handelt letztendlich, um sich selbst glücklich

3.2 Überblick über die kritisierten Ethikkonzeptionen |

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siert sind, können somit alle, in diesem Sinne, unter das Prinzip der Glückseligkeit gefasst werden. So wird schließlich das Prinzip der eigenen Glückseligkeit dem Prinzip der Sittlichkeit mit derselben Unterscheidung gegenübergestellt wie in der Grundlegung noch die Heteronomie der Autonomie: Das gerade Widerspiel des Princips der Sittlichkeit ist: wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestimmungsgrunde des Willens gemacht wird, wozu, wie ich oben gezeigt habe, alles überhaupt gezählt werden muß, was den Bestimmungsgrund, der zum Gesetze dienen soll, irgend worin anders als in der gesetzgebenden Form der Maxime setzt (KpV 35).²²

Zweitens wirft Kant beinahe allen diskutierten Moralkonzeptionen vor, einen Zirkel zu enthalten. Für eine Moral des moralischen Gefühls formuliert Kant den Vorwurf wie folgt: Damit das moralische Gefühl verlässlich Kriterium für gutes und böses Verhalten sein kann, müssen wir uns den Handelnden schon „als wenigstens in einigem Grade moralisch gut“ vorstellen, so dass er tatsächlich „durch das Bewußtsein seiner Vergehungen mit Gemüthsunruhe geplagt“ wird und sich an seiner Tugend ergötzen kann. „Man muß wenigstens auf dem halben Wege schon ein ehrlicher Mann sein“ (KpV 38).²³ Ebenso beinhaltet eine Moralkonzeption der ontologischen Vollkommenheit einen Zirkel. Denn ohne schon einen Begriff vom moralisch Guten zu haben, können wir gar nicht entscheiden, durch welche Merkmale wir den Begriff der Vollkommenheit bilden sollen (GMS 443). Ähnlich funktioniert auch der Zirkelvorwurf gegen theologische Moralkonzeptionen: Wenn eine theologische Moral bereits voraussetzt, dass es die Gebote eines guten Gottes sind, die befolgt werden sollen, so muss ein Begriff des Guten schon vorausgesetzt und kann nicht aus dem Willen Gottes abgeleitet werden. Will man dies vermeiden, indem das, was gut ist, tatsächlich aus dem Willen Gottes

zu machen, und nicht um der guten Handlung selbst willen. Vgl. „Ich rechne das Princip des moralischen Gefühls zu dem der Glückseligkeit, weil ein jedes empirische Interesse durch die Annehmlichkeit, die etwas nur gewährt, es mag nun unmittelbar und ohne Absicht auf Vortheile, oder in Rücksicht auf dieselbe geschehen, einen Beitrag zum Wohlbefinden verspricht. Imgleichen muss man das Princip der Theilnehmung an anderer Glückseligkeit mit Hutcheson zu demselben von ihm angenommenen moralischen Sinne rechnen“ (GMS 442 Anm.). 22 Vgl. auch KpV 41, wo Kant jegliche heteronome Moralkonzeption „zum Epikurischen Princip der Glückseligkeitslehre“ zählt. 23 Fraglich bleibt, warum Kant auf KpV 115f. Epikur denselben Fehler vorwirft, obwohl der der Einteilung nach doch für das physische Gefühl und nicht das moralische steht. Siehe auch Fußnote 17 dieses Kapitels bezüglich der Sonderrolle Epikurs in Kants Einteilung verschiedener Ethikkonzeptionen. Den rigoroseren Vertretern einer Moral des physischen Gefühls macht Kant den Zirkelvorwurf jedenfalls nicht. Vgl. zu dem Zirkelvorwurf gegen das moralische Gefühl auch Gemeinspruch 283f., TL 377f. und Ton 395 Anm.

90 | 3 Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen

abgeleitet wird, ergeben sich zwei missliche Konsequenzen: (i) Wir haben keinen direkten Zugang zum Willen Gottes. Selbst wenn wir daran glauben, dass wir z. B. durch Bibelstudium Zugang dazu haben, ist dieser Zugang nur indirekt und gibt uns allenfalls Anleitung, pflichtgemäß zu handeln, aber nicht aus Pflicht.²⁴ (ii) Wir müssten den Willen Gottes von den Eigenschaften ableiten, die uns offenbart sind und von denen wir einen Begriff haben, und das sind zum Beispiel „Ehr= und Herrschbegierde, mit den furchtbaren Vorstellungen der Macht und des Racheifers verbunden“ (GMS 443). Aus beiden Gründen ist eine theologische Moral überhaupt nicht in der Lage zu erfassen, worin Moral eigentlich besteht.²⁵ Dieser Zirkelvorwurf ist nun nicht alternativ, sondern ergänzend zu dem hier im Mittelpunkt stehenden Vorwurf gegen heteronome Ethiken zu sehen und letzterem vorgeordnet. Wir können das so verstehen: Haben wir eine Theorie, die zum Beispiel eine theologische Moral vertritt, müssen wir zunächst prüfen, ob in ihr nicht schon vorausgesetzt wird, dass Gottes Wille gut ist. Ist das der Fall, konfligiert diese Theorie gar nicht mit der kantischen Philosophie (zumindest nicht in der Frage des obersten moralischen Prinzips). Für Kant ist es völlig vertretbar (und sogar

24 So scheint Kant auch die Lehre Jesu auszulegen: „Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen, als wenn man sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. zum Muster, zu dienen, keinesweges aber kann es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben. Selbst der Heilige des Evangelii muß zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst: was nennt ihr mich (den ihr sehet) gut? Niemand ist gut (das Urbild des Guten) als der einige Gott (den ihr nicht sehet). Woher aber haben wir den Begriff von Gott als dem höchsten Gut? Lediglich aus der Idee, die die Vernunft a priori von sittlicher Vollkommenheit entwirft und mit dem Begriffe eines freien Willens unzertrennlich verknüpft. Nachahmung findet im Sittlichen gar nicht statt, und Beispiele dienen nur zur Aufmunterung, d. i. sie setzen die Thunlichkeit dessen, was das Gesetz gebietet, außer Zweifel, sie machen das, was die praktische Regel allgemeiner ausdrückt, anschaulich, können aber niemals berechtigen, ihr wahres Original, das in der Vernunft liegt, bei Seite zu setzen und sich nach Beispielen zu richten“ (GMS 408). Kant bezieht sich auf die Stellen Mk 10,18; Mt 19,17; Lk 18,19. Die Klammereinschübe („(den ihr sehet)“ usw.) sind bereits Interpretation von Kant. Andere Interpreten sehen hier hingegen den Versuch, das Messiasgeheimnis zu bewahren oder eine Form von Bescheidenheit zu schützen (Grundmann 1968, S. 210): „Nicht für sich, sondern für Gott begehrt Jesus die Ehre, denn allein ihm gebührt das Prädikat ‚gut‘.“ Ich danke Jonathan Knutzen und Julia Kraft für die Diskussion dieser Bibelstellen und möglicher Interpretationen. 25 Vgl. dazu auch schon Kants Unterscheidung zwischen theologischer Moral und Moraltheologie: „Wir werden, so weit praktische Vernunft uns zu führen das Recht hat, Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind“ (KrV A 819/B 847). Vgl. auch Schrader (1963, S. 67f.). Grundsätzlich handelt es sich hierbei um ein in der Philosophiegeschichte häufig behandeltes Problem, das spätestens seit Platon diskutiert wird (vgl. Platons Dialog Euthyphron).

3.3 Rekonstruktion des Arguments | 91

zu befürworten), seine eigene Moral durch das Studium der Evangelien zu festigen und Jesus Christus als Vorbild anzunehmen, solange dieses zuvor mit „unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen“ wird, welches „die Vernunft a priori [...] entwirft“ (GMS 408). Lehnt jene Theorie jedoch jegliche Voraussetzungen solcher Art ab, und will durch den geoffenbarten Willen Gottes erst den Begriff des Guten bestimmen, hat das nicht nur die genannten Konsequenzen. Darüber hinaus hat Kant auch einen Ansatzpunkt für sein allgemeines Argument gegen heteronome Moralkonzeptionen, welches wir im nächsten Abschnitt analysieren wollen.²⁶

3.3 Rekonstruktion des Arguments Im zweiten Hauptstück der KpV finden wir die ausführlichste Version von Kants allgemeinem Argument gegen heteronome Ethiken, welches von den Merkmalen abstrahiert, die sie unterscheiden. Dieser Abschnitt dient der genauen Rekonstruktion dieses Arguments. Wie wir in Abschnitt 3.1 gesehen haben, finden wir sowohl in der Grundlegung als auch in der Analytik der zweiten Kritik Vorläufer dieses Gedankengangs. Eine mögliche Erklärung für die schrittweise Entwicklung von GMS zur KpV ist die Wirkung, die die Rezension der Grundlegung von Hermann Andreas Pistorius auf Kant gehabt haben muss. Pistorius war insbesondere mit der Herleitung des kategorischen Imperativs unzufrieden und der Ansicht, dass überhaupt nur hypothetische Imperative möglich seien. Mit dem Ideal des Weisen der Stoiker sei auch eine Zielvorstellung hinreichend präzise bestimmbar, die von allen geteilt werden könne (Pistorius 1785, S. 27ff.). Kant nimmt in der Vorrede der zweiten Kritik auf diese Rezension Bezug (KpV 8f.), und meint, dem Einwand von Pistorius im zweiten Hauptstück genüge getan zu haben.²⁷ Kant identifiziert als wichtigsten

26 Vgl. zu den Zirkelvorwürfen auch Callanan (2013, S. 99–105). 27 Die Literatur ist sich einig darüber, dass Pistorius der „gewiss[e] wahrheitliebend[e] und scharf[e], dabei also doch immer achtungswürdig[e]“ Rezensent ist, den Kant in der Vorrede der KpV erwähnt (KpV 8; vgl. z. B. Gesang 2007, S. VII, Reath 1997, S. 135 Fn. 2; vgl. auch den Brief von Daniel Jenisch an Kant, 10:486f.). Allen Wood geht darüber hinaus davon aus, dass ein Großteil der KpV durch Pistorius’ Kritik inspiriert ist und wiederum ein Großteil nicht nur des zweiten, sondern auch des ersten Hauptstücks der Analytik auf den genannten Vorwurf antwortet: „Over the half of the 162 pages of the Critique of Practical Reason are in effect devoted to answering Pistorius’ charge of inconsistency. Another thirty or more highly prominent pages (much of the first two Chapters of the Analytic) are devoted to responding to a second objection raised by Pistorius (also put forward by G. A. Tittel), namely, that in the Groundwork the concept of the good should have been established prior to that of the moral principle“ (Wood 2002, S. 27).

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Vorwurf von Pistorius, „daß der Begriff des Guten [...] nicht [...] vor dem moralischen Princip festgesetzt worden“ sei; er hofft, diesen im zweiten Hauptstück der Analytik entkräftet zu haben. Wir können also davon ausgehen, dass die Kritik von Pistorius mindestens ein wichtiger Anstoß für Kant war, einen bereits skizzierten Gedanken, den er selbst vielleicht für leicht nachvollziehbar hielt, genauer zu erläutern. Das Argument, mit dem Kant seine These von der Vorrangigkeit des moralischen Gesetzes gegenüber dem Guten verteidigt, trägt er in der Form einer reductio ad absurdum vor. Wenn wir als gegeben voraussetzen, dass die Grundsätze, die unser Handeln bestimmen, von einem vorher bestimmten Begriff des Guten abgeleitet werden, schließe das die Möglichkeit praktischer Gesetze a priori aus: [1.] „Gesetzt, wir wollten nun vom Begriffe des Guten anfangen, um davon die Gesetze des Willens abzuleiten, [2.] so würde dieser Begriff von einem Gegenstande (als einem guten) zugleich diesen als den einigen Bestimmungsgrund des Willens angeben. [3.] Weil nun dieser Begriff kein praktisches Gesetz a priori zu seiner Richtschnur hatte, [4.] so könnte der Probirstein des Guten oder Bösen in nichts anders, als in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit unserem Gefühle der Lust oder Unlust gesetzt werden, [5.] und der Gebrauch der Vernunft könnte nur darin bestehen, theils diese Lust oder Unlust im ganzen Zusammenhange mit allen Empfindungen meines Daseins, theils die Mittel, mir den Gegenstand derselben zu verschaffen, zu bestimmen. [6.] Da nun, was dem Gefühle der Lust gemäß sei, nur durch Erfahrung ausgemacht werden kann, [7.] das praktische Gesetz aber der Angabe nach doch darauf als Bedingung gegründet werden soll, [8.] so würde geradezu die Möglichkeit praktischer Gesetze a priori ausgeschlossen“ (KpV 63; Nummerierung von mir). Der Ausschluss der Möglichkeit praktischer Gesetze a priori ist deswegen so entscheidend, weil es damit den Grundsätzen, die solch eine Moralkonzeption aufstellen kann, an Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit mangelt. Laut Kant sind dies aber notwendige Bedingungen für Moral. Daraus schließt Kant, dass die Voraussetzung falsch war: Der Begriff des Guten muss vom moralischen Gesetz bestimmt werden, nicht umgekehrt. Kant ist nicht sehr bescheiden, wenn er die Relevanz dieses Arguments betont. Es „erklärt auf einmal den veranlassenden Grund aller Verirrungen der Philosophen in Ansehung des obersten Princips der Moral“ (KpV 64). Es ist jedoch

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sehr knapp formuliert und dabei höchst voraussetzungsreich. Aus diesem Grund schlage ich eine Rekonstruktion der logischen Form des Arguments vor. Als Zwischenschritt werde ich zunächst eine etwas strukturierte Fassung formulieren, welche die Terminologie etwas vereinheitlicht: A. (These:) Moralische Gesetze werden aus dem Begriff des Guten abgeleitet. B. Der Begriff des Guten wird nicht durch moralische Gesetze bestimmt (weil wir den umgekehrten Fall ausgeschlossen haben). C. Kriterium des Guten ist die Übereinstimmung seines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust (weil moralische Gesetze nicht als Kriterium zur Verfügung stehen). D. Alles, was als Kriterium das Gefühl der Lust vorausgesetzt wird, kann nicht a priori bestimmt werden und unterliegt somit empirischen Bedingungen (Grundannahme von Kants praktischer Philosophie). E. Das Gute unterliegt empirischen Bedingungen (das folgt aus 3. und 4.). F. Moralische Gesetze, die aus dem Guten folgen, können nicht allgemein und notwendig sein (da sie in diesem Fall ebenfalls empirischen Bedingungen unterliegen). G. Da moralische Gesetze aber per Definition moralisch und notwendig sind, folgt, dass die These falsch sein muss und das Gute durch moralische Gesetze bestimmt wird. Zwar wird nun deutlicher, wie die einzelnen Schritte des Gedankengangs logisch aufeinander folgen, jedoch wird auch sichtbar, dass Kant einige Prämissen voraussetzt, von denen er nur eine einzige explizit nennt, nämlich jene, die in D formuliert ist. Das erschwert die Bewertung des Arguments, da wir nicht genau sagen können, wie voraussetzungsreich es ist. Formulieren wir alle Prämissen explizit, können wir sie anschließend genauer analysieren. Außerdem sehen wir, dass sich Kants Argumentation als logisch gültiger Schluss rekonstruieren lässt: NB Moralische Gesetze werden aus dem Begriff des Guten abgeleitet (Negation der Behauptung). P1 Entweder werden moralische Gesetze aus dem Begriff des Guten abgeleitet oder der Begriff des Guten durch moralische Gesetze bestimmt. K1 Der Begriff des Guten wird nicht durch moralische Gesetze bestimmt (modus tollendo ponens aus NB und P1). P2 Kriterium des Guten ist entweder die Bestimmung seines Begriffs durch moralische Gesetze oder die Übereinstimmung seines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust. K2 Kriterium des Guten ist die Übereinstimmung seines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust (modus tollendo ponens aus K1 und P2).

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P3 Alles, was als Kriterium das Gefühl der Lust voraussetzt wird, kann nicht a priori bestimmt werden und unterliegt somit empirischen Bedingungen. K3 Das Gute unterliegt empirischen Bedingungen (modus ponens aus K2 und P3). P4 Etwas, das empirischen Bedingungen unterliegt, kann keine allgemeinen und notwendigen Gesetze geben. K4 Moralische Gesetze, die aus dem Guten folgen, können nicht allgemein und notwendig sein (modus ponens aus K3 und P4). P5 Moralische Gesetze sind per Definition allgemein und notwendig. K5 Aus dem Widerspruch von K4 und P5 folgt, dass NB falsch sein muss. K6 Das Gute wird durch moralische Gesetze bestimmt (modus tollendo ponens aus P1 und K5). Neben der im Argument explizit angegebenen Prämisse (oben Schritt D, hier P3) setzt Kant also vier weitere Sätze voraus. Zusammenfassend wurde nun erstens die Terminologie vereinheitlicht, zweitens sind zum Teil mehrere Schritte des Arguments in einem Satz der Formalisierung aufgegangen und drittens wurde verdeutlicht, welche Prämissen Kant, größtenteils stillschweigend, voraussetzt. Diese Arbeitsschritte seien im Einzelnen wie folgt begründet: Kant verwendet in dem Argument die Ausdrücke ‚Gesetze des Willens‘ (1.), ‚praktisches Gesetz a priori‘ (3.), ‚das praktische Gesetz‘ (7.) und ‚praktische Gesetze a priori‘ (8.). Wir müssen uns fragen, ob sie dasselbe meinen und wenn nicht, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Außerdem ist zu klären, warum zwei der Ausdrücke im Plural, die beiden anderen aber im Singular stehen und warum einer der beiden letzteren durch den Gebrauch eines bestimmten Artikels andeutet, es gebe nur ein einziges praktisches Gesetz. Seit der Grundlegung versteht Kant unter praktischen Gesetzen nur moralische Gesetze, da andere praktische Grundsätze, um „genau zu reden, gar nicht gebieten“, und eher „Anratungen (consilia) als Gebote (praecepta)“ sind (GMS 418).²⁸ Für ein vernünftiges, aber endliches Wesen wie dem Menschen, bei dem der Wille nicht allein durch die Vernunft bestimmt wird, sind moralische Gesetze zugleich Imperative. In seiner eigenen Moralkonzeption versteht Kant unter dem moralischen Gesetz im Singular (dementsprechend dem kategorischen Imperativ) das Sittengesetz, aus dem zum Beispiel durch den Universalisierungstest für Maximen moralische Pflichten abgeleitet werden können. Wenn Kant von moralischen Gesetzen im Plural spricht, ist davon auszugehen, dass damit wiederum die aus dem Sittengesetz abgeleiteten Pflichten gemeint sind.²⁹

28 Vgl. für einen weiten Begriff von praktischem Gesetz z. B. KrV A 800/B 828. 29 Vgl. zu dem Begriff des praktischen Gesetzes bei Kant auch Willaschek (1995).

3.3 Rekonstruktion des Arguments |

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Was bedeutet das für das hier zu untersuchende Argument, bei dem es um andere Moralkonzeptionen geht? In Schritt 1 sind offensichtlich mit den „Gesetzen des Willens“ die Gesetze gemeint, die die entsprechende Moralkonzeption als moralische Gesetze ausgibt (wobei hier weder ihre Anzahl ausgemacht ist, noch, ob sie a priori sind oder nicht). Kant greift hier meines Erachtens auf seine Unterscheidung zwischen praktischen und moralischen Gesetzen zurück, weil das Argument doch zeigen soll, dass diese Gesetze keine moralischen im strengen Sinne sind. Schritt 3 könnte genauso gut, und einfacher, von moralischen Gesetzen im Allgemeinen sprechen. Diese sollen erst aus dem Begriff des Guten abgeleitet werden, können also bei der Bestimmung desselben keine Rolle spielen. In Schritt 7 sind wiederum diese aus dem Begriff des Guten abgeleiteten Gesetze gemeint. Erst in Schritt 8 ist es angemessen, von Gesetzen a priori zu sprechen, von denen das Argument gerade zeigen will, dass sie in einer solchen Moralkonzeption unmöglich sind. In der formalisierten Form des Arguments sind die Ausdrücke diesem Verständnis entsprechend standardisiert. Die Schritte 2 und 5 des Arguments sind Erläuterungen zur Dichotomie zwischen Willensbestimmung aus reiner Vernunft und lustbedingter Willensbestimmung und gehen somit in der logischen Rekonstruktion in P2 auf. Schritt 2 besagt, dass bei einer Vorrangigkeit des Begriffs des Guten vor praktischen Gesetzen die Gegenstände, die unter diesen Begriff fallen, alleiniger Bestimmungsgrund des Willens seien. Schritt 5 hingegen präzisiert, welche Rolle eine nur empirisch-bedingte praktische Vernunft in einer solchen Moralkonzeption spielen kann. Erstens kann sie die zu verfolgenden Handlungszwecke in ein solches System bringen, dass sie die Glückseligkeit der handelnden Person möglichst umfassend hervorbringen (nichts anderes ist mit der „Lust oder Unlust im ganzen Zusammenhange mit allen Empfindungen meines Daseins“ gemeint; KpV 63). Zweitens kann sie (unter zur Hilfenahme von theoretischen bzw. technischem Wissen) die dazu erforderlichen Mittel vorschreiben. Die praktische Vernunft wäre also nur zur Klugheit und zur Geschicklichkeit fähig, aber nicht zur Sittlichkeit.³⁰ Nur die Prämisse P3 wird von Kant explizit erwähnt; die Prämissen P1, P2, P4 und P5 wurden in der Formalisierung ergänzt, um die logische Struktur des Arguments besser verständlich zu machen. P1 und P2 stellen jeweils vollständige Alternativen vor, die Kant offenbar voraussetzt. Ich werde unten ausführlicher darauf eingehen, wie das begründet werden könnte. P3, P4 und P5 sind Grundvoraussetzungen der kantischen Philosophie, die ich hier nicht detailliert diskutieren, sondern nur kurz erläutern will.

30 Vgl. GMS 415ff. Vgl. ausführlicher zur Glückseligkeit und Klugheit Kapitel 6 dieser Arbeit.

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P4 basiert auf Kants Unterscheidung zwischen empirischen Erkenntnissen, die erfahrungsabhängig sind, und Erkenntnissen a priori, bei denen das nicht der Fall ist (KrV B 2f.). Nun lehrt uns Erfahrung, „daß etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein könne“ (KrV B 3). Den aus ihr gezogenen Erkenntnissen fehlt es also an Notwendigkeit. Damit hängt zusammen, dass wir durch Erfahrung immer nur bloß annehmen oder schätzen können, dass ein Prinzip im Allgemeinen gilt, da wir Ausnahmen nicht mit Sicherheit ausschließen können. „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori, und gehören auch unzertrennlich zu einander“ (KrV B 4). P3, also den Satz, dass etwas, das das Gefühl der Lust und Unlust voraussetzt, immer nur empirisch sein kann, können wir so erklären: Für Kant ist das Gefühl der Lust wesentlich eine Empfindung des Subjekts, die zwar durch Objektbezug hervorgerufen wird, aber nicht ausschließlich mit Rekurs auf das Objekts erklärt werden kann.³¹ Was aber auf Empfindungen des Subjekts beruht, ist erfahrungsabhängig und somit empirisch. P5 ist eine der wesentlichen Ausgangshypothesen von Kants Moralphilosophie.³² Der Einwand, dass wir durch Erfahrung die Existenz moralischer Gesetze, die „absolute Notwendigkeit“ bei sich führen, nicht beweisen können, ist für Kant leicht mit oben erläuterter Unterscheidung zwischen empirischen und apriorischen Erkenntnissen zu entkräften (vgl. GMS 406f.). Die Unmöglichkeit von Erkenntnissen a priori könne überhaupt schwerlich bewiesen werden, denn das „wäre eben soviel, als ob jemand durch Vernunft beweisen wollte, daß es keine Vernunft gä-

31 Vgl. z. B.: „Lust ist die Vorstellung der Übereinstimmung des Gegenstandes oder der Handlung mit den subjectiven Bedingungen des Lebens, d. i. mit dem Vermögen der Causalität einer Vorstellung in Ansehung der Wirklichkeit ihres Objects (oder der Bestimmung der Kräfte des Subjects zur Handlung es hervorzubringen)“ (KpV 9 Anm.). 32 „Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d. i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse; daß das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte, andere vernünftige Wesen sich aber daran nicht zu kehren hätten, und so alle übrige eigentliche Sittengesetze; daß mithin der Grund der Verbindlichkeit hier nicht in der Natur des Menschen, oder den Umständen in der Welt, darin er gesetzt ist, gesucht werden müsse, sondern a priori lediglich in Begriffen der reinen Vernunft, und daß jede andere Vorschrift, die sich auf Principien der bloßen Erfahrung gründet, und sogar eine in gewissem Betracht allgemeine Vorschrift, so fern sie sich dem mindesten Theile, vielleicht nur einem Bewegungsgrunde nach auf empirische Gründe stützt, zwar eine praktische Regel, niemals aber ein moralisches Gesetz heißen kann“ (GMS 389). Vgl. auch aus der Moralphilosophie Collins, welche im Wintersemester 1784/85 mitgeschrieben wurde, also kurz vor dem Erscheinen der Grundlegung: „Da wir doch alle ein Principium der moralischen Judication haben müßen, nach welchem wir einstimmig darüber urtheilen können, was sittlich gut oder nicht gut ist, so sehen wir ein, daß es ein einiges Principium geben muß, das aus dem Grunde unsers Willen fließet“ (27:552).

3.4 Das moralische Gesetz und das Gute |

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be“ (KpV 12). Natürlich können wir die Notwendigkeit solcher Gesetze dennoch bestreiten (z. B. im Rahmen eines moralischen Relativismus), aber das würde das gesamte moralphilosophische Projekt Kants in Frage stellen und es ist nicht Ziel dieser Arbeit, zu einer solchen Grundsatzdiskussion beizutragen.³³ P1 und P2 sind hingegen erklärungsbedürftiger. Im Folgenden soll es daher darum gehen, diese beiden Prämissen besser zu verstehen, um prüfen zu können, wie überzeugend das Argument im Ganzen ist. Erstens stellt sich die Frage, welche Alternativen hier überhaupt gegenüber gestellt werden. Wir können dazu auf Ergebnisse des zweiten Kapitels zurückgreifen, in dem Kants Konzept des Guten analysiert wurde. Zweitens stellt sich die Frage, warum als Kriterium für das Gute nur entweder moralische Gesetze a priori oder das Gefühl der Lust und Unlust dienen können. Auch hier können wir auf dem zweiten Kapitel aufbauen, denn dies ist dieselbe Unterscheidung, die der Dichotomie der Willensbestimmung (lustoder vernunftorientiert) zugrunde liegt, welche wir dort betrachtet, aber nicht weiter hinterfragt haben.

3.4 Das moralische Gesetz und das Gute Was genau ist im Kontext des Arguments gegen heteronome Ethiken mit dem Ausdruck ‚gut‘ gemeint? Kant gebraucht ihn einerseits in einem weiten Sinne als vernünftiges, positives Werturteil in Abgrenzung von einem Wohl oder dem Angenehmen. Das Gute kann „jederzeit durch Vernunft, mithin durch Begriffe, die sich allgemein mittheilen lassen [...], beurtheilt werde[n]“ (KpV 58). In diesem Sinne können wir eine chirurgische Operation als gut beurteilen, die wir zugleich als Übel empfinden (KpV 61). Eine Person beurteilt das als gut, was insgesamt betrachtet ihren Interessen förderlich ist; auch wenn es gegebenenfalls mit einer negativen Empfindung einhergeht. Das, was als gut beurteilt wird, kann dabei die eigene Handlung, die Handlung anderer oder irgendein Ereignis sein, welches nicht unbedingt als Handlung eines vernünftigen Wesens beschreibbar sein muss.³⁴ Andererseits nennt Kant in einem engeren Sinne die Handlung gut, zu der sich die handelnde Person aus vernünftigen Gründen entscheidet (GMS 412; KpV 60). Hier unterscheidet er wiederum zwischen bloß mittelbar guten Handlungen, die nützlich für etwas anderes (die Verwirklichung eines begehrten Objektes) sind, und Handlungen, die „an sich selbst“ gut sind (KpV 62). Abstrahieren wir nun

33 Vgl. Sensen (2013, S. 279f.) für eine etwas ausführlichere Besprechung von Kants Anspruch, moralische Gesetze seien notwendig und allgemeingültig. 34 Vgl. z. B. GMS 393f.

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im letzteren Fall von der konkreten Handlung und fragen nach gutem Verhalten überhaupt, so können wir die dazu nötigen Maximen, den Willen und die handelnde Person selbst als unmittelbar gut bezeichnen (KpV 60, 62). Diese letzteren fasse ich mit den an sich selbst guten Handlungen zusammen unter den Begriff des moralisch Guten. Wenn Kant nun sagt, dass der Begriff des Guten durch das moralische Gesetz bestimmt werde, ist klar, dass er den Begriff des moralisch Guten meint.³⁵ Weiterhin wird das moralisch Gute nicht etwa inhaltlich und durchgängig durch das moralische Gesetz bestimmt. Für das Verfahren des kategorischen Imperativs wird – im Falle eines negativen Urteils – die Maxime des Handelnden und – im Falle eines positiven Urteils – soweit möglich, die Interessen aller Beteiligten benötigt, um festzulegen, welche Handlungen moralisch gut bzw. böse sind (vgl. Kapitel 1). Stattdessen geht es hier um den Begriff des moralisch Guten, also um die allgemeinen, gemeinsamen Merkmale dessen, was moralisch gut ist.³⁶ Nun können wir die Prämisse P1 besser verstehen: Wenn Kant probeweise, um es zu widerlegen, sagt, dass die „Gesetze des Willens“ vom „Begriffe des Guten“ abgeleitet werden (KpV 63), oder sogar, dass letzterer „dem moralische Gesetze [...] dem Anschein nach sogar zum Grunde gelegt werden müßte“ (KpV 62), dann ist damit weder genau der Begriff des Guten noch das moralische Gesetz gemeint, so wie sie von Kant entwickelt werden. Es geht vielmehr darum, dass aus einem zuerst festgelegten allgemeinen Merkmal des moralisch Guten (was auch immer das sein mag) Grundsätze abgeleitet werden, die unser Handeln bestimmen und die Gesetze sind, insofern sie für alle vernünftigen Wesen gelten und und in diesem Sinne allgemeingültig sind. Kommen wir nun auf die Frage zurück, ob mit den beiden Möglichkeiten, dass entweder das Gute durch moralische Gesetze bestimmt wird oder umgekehrt, alle Möglichkeiten aufgezählt sind. Sie könnten schließlich auch gleichrangig oder unabhängig voneinander sein. Warum zieht Kant beide Möglichkeiten von vornherein nicht in Betracht? Zu der Möglichkeit der Unabhängigkeit ist zu sagen, dass es unplausibel wäre, wenn die Handlungen, zu denen wir uns entscheiden, weil wir sie als alles in allem gut betrachten, völlig unabhängig von den moralischen Grundsätzen sind, die wir als richtig anerkennen. Ebenso wäre es umgekehrt äußerst merkwürdig, würden wir zwar davon ausgehen, dass wir moralische Grundsätze hätten, diese aber keinerlei Auswirkungen auf unser Handeln hätten. Schließlich

35 Vgl. ausführlicher zum Guten und Angenehmen Abschnitt 2.5, S. 55. 36 Es ist nicht leicht, diese gemeinsamen Merkmale des moralisch Guten auszuformulieren, da es für Kants Moralkonzeption wesentlich ist, sich nicht auf ein konkretes Wertekonzept festzulegen. Weil sich diese Merkmale aus der Idee eines Gesetzes ergeben müssen, kann es sich also nur um solche wie Allgemeingültigkeit, Unparteilichkeit und Ausnahmslosigkeit handeln.

3.5 Die Lust als Kriterium des Guten |

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müsste die Leitfrage der zweiten Kritik, ob „reine Vernunft wirklich praktisch“ sei (KpV 3), in beiden Fällen negativ beantwortet werden. Die Möglichkeit der Gleichrangigkeit klingt auf den ersten Blick plausibler: Ist es nicht tatsächlich so, dass wir tradierte Werte und Grundsätze zunächst übernehmen und diese dann durch Reflexion und in Reaktion auf die Erfahrungen, die wir damit machen, wechselseitig weiterentwickeln? Ich vermute, dass Kant nicht widersprechen würde. Allerdings könnte ein solcher Prozess allein niemals allgemeingültige und notwendige moralische Gesetze hervorbringen. Eine solche relativistische Vorstellung von Ethik hat Kant bereits mit seiner Aufgabenstellung – eine Moralphilosophie a priori zu entwickeln – ausgeschlossen (vgl. z. B. GMS 389). Zumindest unter den Grundvoraussetzungen des kantischen Systems können wir somit sagen, dass P1 – also die These, dass entweder moralische Gesetze aus dem Begriff des Guten abgeleitet werden oder der Begriff des Guten durch moralische Gesetze bestimmt wird – als plausibel angenommen werden kann.

3.5 Die Lust als Kriterium des Guten Laut Kant ist das Kriterium des Guten entweder die Bestimmung seines Begriffs durch moralische Gesetze oder die Übereinstimmung seines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust (siehe oben P2). Den ersten Teil dieser Dichotomie haben wir schon hinreichend erklärt. In diesem Abschnitt will ich mich der Frage zuwenden, wie wir den zweiten Teil zu verstehen haben und schließlich, warum dies die einzigen Möglichkeiten sind, ein Kriterium für das Gute anzugeben. Die Forschungsliteratur ist auf dieses Thema bisher nur vereinzelt eingegangen. Sensen verweist in seiner Deutung auf die Kritik der reinen Vernunft: Dort argumentiert Kant, dass uns Gegenstände durch unsere Sinnlichkeit gegeben werden und wir keine Erkenntnis über Gegenstände haben können, zu denen uns kein Zugang durch unsere sinnliche Erfahrung gegeben ist. Dieses Argument überträgt Sensen auf das hier vorliegende Problem. Denn wenn wir auch keine praktische Erkenntnisse ohne sinnlich gegebene Gegenstände haben können, und wir gleichfalls ausschließen, dass uns ein oberstes Wertekonzept durch eines der fünf Sinnesorgane gegeben wird, muss uns dieses durch den Teil der Sinnlichkeit gegeben werden, der noch übrig bleibt: die Lust.³⁷

37 „Kant argues that objects are given to human beings via sensibility (cf. KrV A50–51/B74–75), and that one cannot have knowledge of entities that are not given by sense experience, like God, freedom, and the soul. Without sense experience, reason gets into antinomies and faulty syllogisms. For instance, one can prove by reason that there must be freedom and at the same

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Diese Erklärung kann aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Erstens haben wir im Praktischen mit dem moralischen Gesetz eine Erkenntnis, die uns nicht von der Sinnlichkeit gegeben wird. Nach Sensens Erklärung wäre das gar nicht möglich. Zweitens funktioniert die Erlangung von Erkenntnissen im praktischen Vernunftgebrauch grundsätzlich anders als im theoretischen, denn hier spielen Anschauungen nicht die zentrale Rolle, die sie im theoretischen einnehmen. Drittens erklärt diese Bestimmung der Lust durch ein Ausschlussverfahren nicht, wie die Lust diese wichtige Rolle in der Handlungstheorie einnehmen kann. Gibt es alternative Erklärungsansätze? Ich möchte im Folgenden einen Weg einschlagen, den bereits Reath (2006b, 128f.) skizziert hat: Der Generalvorwurf der Lustabhängigkeit an heteronome Ethiken kann nicht auf der Annahme basieren, diese Ethiken setzten Begierden voraus, aus denen sie ihre Prinzipien ableiten. Denn das kann nur für die empirischen Konzeptionen gelten. Wir müssen uns somit fragen, warum die als rational bezeichneten heteronomen Konzeptionen akzeptieren sollten, dass ihre Zielvorstellungen eine besondere Art von Gegenständen sind, die uns nur durch Lust zugänglich ist. Reath äußert dazu folgende Vermutung: The picture in the rationalist case is this: due to contingent psychological facts, the rational representation of certain objects (say, of the perfection achievable through an action) causes a feeling of ‚delight‘ that exerts a motivational impulse (where the delight either gives rise to, or just is the motivational impulse). To this we should add that in order to act on this representation, the subject takes this feeling of delight to be a reason to pursue the object; or perhaps the delight just is the subject taking himself to have a reason that is due to a contingent psychological feature [...]. I take him to mean that the object gives the law through, or on the condition of, a contingent psychological interest or response that a subject takes to be reason-giving. In acting to produce the object, the subject is moved by a source of reasons external to the will, and it is there that the heteronomous theory locates the authority of morality (Reath 2006b, S. 162f. Fn. 14).

time that there cannot be freedom (cf. KrV A444–46/B472–75). Kant’s conclusion is that ‚we cannot cook up ... a single object with any new and not empirically given property‘ and that ‚we are not allowed to think up ... an understanding that is capable of intuition of its object without sense‘ (KrV A770/B798). Accordingly, on Kant’s view one is not justified in positing a non-natural value property that could ground a moral law. If the value property is not a natural quality that can be discerned by one of the five senses, then the only aspect of sensibility that could be the criterion for what has value is a feeling of pleasure: ‚Pleasure ... is based on the receptivity of the subject, since it depends upon the existence of an object; hence it belongs to sense (feeling) and not to the understanding‘ (KpV 5:22)“ (Sensen 2013, S.277f.). Eine ähnliche Vermutung äußert Sala (2005, S. 88f.), führt sie jedoch nicht weiter aus. Vgl. auch Marthaler (2014, S. 31f.), der das Problem ebenfalls sieht, aber keine Lösung anbieten kann.

3.5 Die Lust als Kriterium des Guten |

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Die Idee ist also Folgende: (i) Die Vorstellung des Zielobjekts, zum Beispiel eines Vollkommenheitsideals, löst ein Gefühl der Lust aus. (ii) Diese Lust wirkt als motivationaler Impuls und gibt uns (iii) einen Grund, gemäß diesem Ideal zu handeln. Wir können uns auf dieses Ideal deshalb nur über das Gefühl der Lust beziehen, weil es ein der Vernunft äußeres Objekt ist. Reath sagt nicht, wie dieses Argument genau funktioniert, und meint, Kant gehe hier von bestimmten kontingenten, psychologischen Eigenschaften aus. In dieser Form hat das Argument zwei wesentliche Schwachstellen: Erstens würde ein Verteidiger einer rationalen Moralkonzeption behaupten, sein Ideal sei gerade nicht der Vernunft äußerlich. Zweitens, und das wäre wohl der wahrscheinlichste Einwand eines Vertreters einer theologischen Moral, hat Kant nicht gezeigt, dass eine dritte Möglichkeit, sich ein oberstes Moralprinzip zu setzen, z. B. über den Glauben, ausgeschlossen ist. Versuchen wir also, die Idee von Reath im Detail nachzuvollziehen: Wie schon einleitend angedeutet, gibt es bezüglich dieser behaupteten Dichotomie eine interessante Entwicklung in Kants Werk, die sich uns erschließt, wenn wir den zweiten Abschnitt der Grundlegung und das erste sowie das zweite Hauptstück der zweiten Kritik betrachten. In der Grundlegung schreibt Kant: Es mag nun das Object vermittelst der Neigung, wie beim Princip der eigenen Glückseligkeit, oder vermittelst der auf Gegenstände unseres möglichen Wollens überhaupt gerichteten Vernunft, im Princip der Vollkommenheit, den Willen bestimmen, so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder, welche die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen hat; [...] es ist immer nur Heteronomie des Willens, der Wille giebt sich nicht selbst, sondern ein fremder Antrieb giebt ihm vermittelst einer auf die Empfänglichkeit desselben gestimmten Natur des Subjects das Gesetz (GMS 444).

Zunächst fällt auf, dass das Argument nicht nur für empirische Moralkonzeptionen gelten soll, sondern für alle, die alternativ zu Kants Konzeption möglich sind. Kant hat diese zuvor in die empirischen und die rationalen eingeteilt und nennt erstere auch Prinzipien „der Glückseligkeit“ und letztere Prinzipien „der Vollkommenheit“ (GMS 441). Die Struktur des Satzanfanges „Es mag nun das Object vermittelst [...] oder [...], den Willen bestimmen, so [...]“ deckt also beide Arten ab. Dies ist eine Gemeinsamkeit mit dem Argument auf KpV 63, die bemerkenswert ist, insofern alle vorhergehenden Kritiken in der GMS jeweils konkret gegen eine bestimmte alternative Moralkonzeption gerichtet sind (vgl. GMS 441ff.). Entscheidend ist für Kant hier zu zeigen, dass nach den alternativen Moralkonzeptionen der Wille „sich nicht selbst“ das Gesetz gibt, sondern stattdessen eine „Natur des Subjects“, die auf die „Empfänglichkeit“ eines „fremde[n] Antrieb[s]“ gestimmt ist, den Ausschlag gibt. Nun definiert Kant das Gefühl der Lust und

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Unlust als „Empfänglichkeit des Subjects, durch gewisse Vorstellungen zur Erhaltung oder Abwehrung des Zustandes dieser Vorstellungen bestimmt zu werden“ (Anth 153), oder kürzer als „die Empfänglichkeit einer Bestimmung des Subjects“ (EEKU 208). Bedenken wir außerdem, dass die Selbstgesetzgebung des Willens darin besteht, sich durch das moralische Gesetz zu bestimmen (vgl. z. B. GMS 440), wird deutlich, dass hier von derselben Unterscheidung wie in der Prämisse P2 die Rede ist: Entweder das moralische Gesetz bestimmt den Willen oder die Lust an der Verwirklichung des begehrten Objektes. Hier liegt somit eine weitere Ähnlichkeit mit dem Argument auf KpV 63 vor. Sie ist bemerkenswert, da Kant zwei Absätze vorher seine Präferenz für rationale Moralkonzeptionen zum Ausdruck gebracht hat, die darauf beruht, dass diese „die Entscheidung der Frage von der Sinnlichkeit ab und an den Gerichtshof der reinen Vernunft zieht“ (GMS 443). Warum entsteht aber bei jeder Fremdgesetzgebung eine notwendige Abhängigkeit der Willensbestimmung vom Gefühl der Lust und Unlust? Schauen wir uns das konkret an dem Beispiel einer theologischen Moralkonzeption an. Nehmen wir weiterhin an, eine solche Moralkonzeption setze voraus, dass, beispielsweise durch Glauben und Bibelstudium, ein ausreichender Zugang zu Gottes Willen gegeben sei, um moralische Handlungsentscheidungen hinreichend treffen zu können. Urteile über das Gute ergäben sich dann aus einer Interpretation des göttlichen Willens. Die Beteiligung des Gefühls der Lust und Unlust erschließt sich dabei nicht auf den ersten Blick. Wiederholen wir zunächst, welche anderen Argumente Kant gegen theologische Moralkonzeptionen aufbietet: 1. Aufbauend auf der ersten Variante des allgemeinen Arguments gegen heteronome Ethiken (vgl. Abschnitt 3.1) können wir kritisieren, dass eine theologische Moralkonzeption nur hypothetische und keine kategorischen Imperative hervorbringen kann. Denn wir können nicht bei jedem den benötigten religiösen Glauben voraussetzen. Aus einer kontingenten Voraussetzung kann kein notwendiges Gesetz folgen. Schließlich ist es eine Tatsache, dass verschiedene Religionen unterschiedliche moralische Vorschriften aufstellen und aus diesen Unterschieden Konflikte resultieren, die nicht mit Rekurs auf eben jene Vorschriften lösbar sind. Dagegen könnte argumentiert werden, dass das Christentum der Bibel zufolge nicht exklusiv ist und laut seiner Doktrin grundsätzlich jeder Mensch diesen Glauben annehmen kann.³⁸ Und Kant verwendet eine ähnliche Prämisse, wenn er alle (erwachsenen, geistig gesunden) Menschen zu Vernunftwesen erklärt, die aufgrund dessen grundsätzlich gleiche

38 Vgl. zum Beispiel Gal 3, 28; Mt 28, 19–20; Joh 3, 16.

3.5 Die Lust als Kriterium des Guten |

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Fähigkeiten des moralischen Überlegens besitzen.³⁹ Es müsste also zunächst gezeigt werden, warum die Annahme, dass jeder Mensch durch Glauben und Gebet Zugang zum Willen Gottes hat, problematischer ist als die Annahme Kants über die menschliche Vernunft. 2. Nehmen wir an, eine theologische Moralkonzeption wäre notwendig damit verbunden, dass die Furcht vor Gottes Strafe und die Hoffnung auf Gottes Segen den Willen bestimmen würden. Die Willensbestimmung wäre dann eindeutig empirisch bedingt und würde keinen notwendigen und allgemeingültigen Gesetzen folgen. Meines Erachtens ist eine theologische Moral aber auch ohne eine solche Annahme denkbar. Kants Behauptung, er könne alle jemals da gewesenen Moralkonzeptionen widerlegen, würde durch solche spezielle Annahmen jedenfalls enorm geschwächt. Dieser letzte Gedanke führt uns zurück zu dem allgemeinen Argument gegen heteronome Ethiken aus Abschnitt 3.3 und der Frage, wo bei einer theologischen Moral eine notwendige Beteiligung des Gefühls der Lust und Unlust zu finden sein könnte. Denn wenn diese Beteiligung von irgendeiner Eigenheit der jeweiligen Moraltheorie abhängen würde, wäre Kant gezwungen gewesen, jede Theorie einzeln zu widerlegen. Er muss also auf einer abstrakteren Ebene eine Gemeinsamkeit gefunden haben, die eine Beteiligung des Gefühls der Lust und Unlust impliziert. Meines Erachtens besteht diese Gemeinsamkeit darin, dass bei ihnen allen irgendein Interesse vorausgesetzt wird: „[I]ch soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes will“ (GMS 441; vgl. auch GMS 432f.). Eine theologische Moral setzt voraus, dass mich der göttliche Wille zu Handlungen motivieren kann. Und das bedeutet Kants Konzeption des Begehrungsvermögens zufolge, dass ich ein Interesse daran habe, was seinerseits voraussetzt, dass ich irgendeine Art von Befriedigung daraus ziehe, Gottes Willen zu entsprechen. Es geht darum, eine von außen an mich gestellte Erwartung zu erfüllen. Rufen wir uns an dieser Stelle noch einmal ins Gedächtnis, dass ein Anhänger einer theologischen Moral nicht sagen kann, er wolle Gottes Willen erfüllen, weil Gottes Wille gut sei. Zumindest nicht in dem Sinne, dass Gott einen moralischen Standard erfüllt, der unabhängig von ihm definiert worden ist. Denn das wäre ein Zirkel, wir sind ja gerade auf der Suche nach dem obersten Prinzip der Moral.⁴⁰

39 Vgl. z. B. KpV 61, 162; TL 418. 40 Vgl. Abschnitt 3.2, S. 89ff. Vgl. dagegen Wood (2006, S. 371f.): „Theological moralists (at least a certain kind of rationalistically minded theological moralist) may say that we are obligated to obey the divine will because that will is perfect, and hence what it wills or commands is right in itself, independently of whether or not obeying the command achieves any further object of the will.“

104 | 3 Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen

Ähnlich dazu kann ein Vertreter einer gefühlsbasierten Ethik seine Handlungen auch nicht damit begründen, sein Mitleid leite ihn dazu an, Gutes zu tun, denn das Gefühl des Mitleids wählt erst aus, was gut ist. Warum aber sollten wir dann unsere Handlungen nach Gottes Willen ausrichten? Es muss nicht unbedingt die Furcht vor Gottes Strafe oder die Hoffnung auf seine Belohnung sein. Mit Kant können wir aber sagen: Irgendeinen Grund muss es geben. Und auf diesen Grund können wir uns nur mittels des Gefühls der Lust und Unlust beziehen. Die Beteiligung des Gefühls der Lust und Unlust, die in Kants Argument ausschlaggebend ist, liegt also nicht in diesem anderen Wert (oder wie Kant sagt: Objekt), den wir anstreben. Wir haben ja schon gesehen, dass es dann notwendig wäre, dies für alle in Frage kommenden Moralkonzeptionen nachzuweisen. Stattdessen meint Kant, dass schon allein dadurch, dass es ein der Vernunft äußerer Wert ist, worin immer der auch bestehen mag, das Gefühl der Lust und Unlust im Spiel sein muss, weil wir uns allein dadurch auf einen solchen Wert beziehen können. Hierbei ist nicht unser heutiger alltagssprachlicher Gebrauch des Ausdrucks ‚Lust‘ ausschlaggebend, sondern die Definition Kants, als das „Bewußtsein der Causalität einer Vorstellung in Absicht auf den Zustand des Subjects, es in demselben zu erhalten“. Unlust hingegen ist „diejenige Vorstellung [...], die den Zustand der Vorstellungen zu ihrem eigenen Gegentheile zu bestimmen (sie abzuhalten oder wegzuschaffen) den Grund enthält“ (KU 220). Den Zusammenhang zwischen Lust und Begehren können wir wie folgt skizzieren: Begehren ist laut Kant immer mit Lust verbunden, Lust aber nicht immer mit Begehren.⁴¹ Kant nennt die Lust, die mit dem Begehren zusammenhängt, praktische Lust.⁴² Die Verbindung zwischen Begehren und Lust ist immer eine von Ursache und Wirkung. Entweder ist die Lust Ursache des Begehrens oder das Begehren Ursache der Lust (MS 211, TL 378, KpV 9 Anm.). Ist letzteres der Fall, und Lust ist bloße Wirkung des Begehrens, muss etwas anderes dessen Ursache sein. Dafür kommt nur ein Interesse in Frage, das „auf reine Vernunftprincipien gegründet ist“. Dementsprechend bezeichnet er eine solche Lust als intellektuelle Lust, während wir eine Lust, die Ursache von Begehren ist, als sinnliche Lust bezeichnen können (MS 212f.). Auch bei dem Interesse, als dem „Wohlgefallen [...], was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden“ (KU 204), nimmt Kant jene Zweiteilung vor, zwischen

41 „Mit dem Begehren oder Verabscheuen ist erstlich jederzeit Lust oder Unlust, deren Empfänglichkeit man Gefühl nennt, verbunden; aber nicht immer umgekehrt“ (MS 211). 42 „Man kann die Lust, welche mit dem Begehren (des Gegenstandes, dessen Vorstellung das Gefühl so afficirt) notwendig verbunden ist, praktische Lust nennen“ (MS 212). Vgl. dazu ausführlich Höwing (2013).

3.6 Das Heteronomie-Argument und das höchste Gut |

105

dem Interesse, das mit nicht-moralischen (TL 399) und mit moralischen (KpV 79) Willensbestimmungen verbunden ist. Wir sehen, dass die Dichotomie von lust- und vernunftbasierter Willensbestimmung auch hier zum Tragen kommt. Von Kants Konzept von Lust und Begehren ist es letztlich nur ein kleiner Schritt zu seinem Argument gegen heteronome Ethiken. Eine Verteidigung theologischer Moralkonzeptionen müsste also schon hier ansetzen und entweder die genannten Zusammenhänge von Lust und Begehren ganz bestreiten oder etwa behaupten, dass, wenn das Begehren Ursache der Lust ist, auch etwas anderes als reine Vernunftprinzipien Ursache des Begehrens sein könnte. Eine Rechtfertigung der kantischen Argumentation beruht also maßgeblich darauf, sein Konzept von Lust und Begehren gegen konkurrierende Konzepte zu verteidigen. Dieses Thema soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, denn es genügt für die Zielsetzung dieses Kapitels, das Argument gegen heteronome Ethiken ausreichend verstanden zu haben: Werden moralische Gesetze aus einem Konzept des Guten abgeleitet, ist Kriterium des Guten die Übereinstimmung seines Gegenstandes mit dem Gefühl der Lust. Dann unterliegen die Urteile über das Gute jedoch empirischen Bedingungen und können somit nicht notwendig und allgemeingültig sein.

3.6 Das Heteronomie-Argument und das höchste Gut Was bedeutet Kants allgemeines Argument gegen heteronome Ethiken für die Funktion, die das höchste Gut in Kants Ethik einnehmen kann? Auch für das höchste Gut gilt, dass es durch das moralische Gesetz bestimmt werden muss. Würden aus einem zuerst gesetzten höchsten Gut praktische Gesetze abgeleitet, so wären diese nicht allgemeingültig, da wir in diesem Falle das höchste Gut nur mittels des Gefühls der Lust und Unlust in unsere Willensbestimmung aufnehmen könnten.⁴³ Laut Kant ist das höchste Gut „ein Object, welches weit hinterher, wenn das moralische Gesetz allererst für sich bewährt und als unmittelbarer Bestimmungsgrund des Willens gerechtfertigt ist, dem nunmehr seiner Form nach a priori bestimmten Willen als Gegenstand vorgestellt werden kann“ (KpV 64). Aber was ist das für ein

43 Das ist der Vorwurf, den Kant jenen antiken Ethiken macht, die das höchste Gut zum obersten Prinzip erheben: „Die Alten verriethen indessen diesen Fehler dadurch unverhohlen, daß sie ihre moralische Untersuchung gänzlich auf die Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im moralischen Gesetze zu machen gedachten“ (KpV 64).

106 | 3 Kants Kritik an heteronomen Moralbegründungen

‚Gegenstand‘, der dem Willen vorgestellt wird? Und wie soll begründet werden, dass das moralische Gesetz als ein solches apriorisches Vernunftprinzip die Verwirklichung eines bestimmten Zustandes in der Welt einfordert, so abstrakt dieser auch beschrieben sein mag? Zählt doch für den moralischen Wert laut Kant allein das Wollen und nicht der Handlungserfolg.⁴⁴ Die in Kapitel 2 entwickelte Interpretation von Kants Konzept der Gegenstände praktischer Vernunft liefert für dieses Problem einen Ausweg. Nehmen wir an, der Ausdruck ‚Gegenstand‘ bezeichnet keinen Zustand der Welt, der erreicht werden soll, sondern – als praktischer Gegenstand – das moralische Verhalten selbst. In der Tat würde dann das höchste Gut „weit hinterher“, nämlich nach dem moralischen Gesetz bestimmt. Denn die Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist der Idee eines einzelnen Gegenstands der reinen praktischen Vernunft konzeptuell nachrangig einzuordnen, welcher seinerseits das moralische Gesetz voraussetzt. Auf diese Weise entsteht somit eine Moralkonzeption, die zwar das höchste Gut beinhaltet, jedoch von der Heteronomie-Kritik nicht getroffen wird. Eine andere Perspektive auf das Verhältnis zwischen moralischem Gesetz und höchstem Gut bietet Kant mit der Charakterisierung des höchsten Guts als „Endzweck“ an.⁴⁵ Der Endzweck ist „derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (KU 434) und dem alle anderen Zwecke untergeordnet sind (KU 443). Wenn Kant nun den Menschen „unter moralischen Gesetzen“ als den Endzweck „der Welt“ (KU 448f.) bezeichnet, entspricht das unserer Interpretation des höchsten Gutes als Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft im Sinne einer moralischen Menschheit und dem durchgängigen moralischem Verhalten jedes Einzelnen (vgl. Abschnitt 2.8). Dieser Endzweck ist mit der moralischen Willensbestimmung nun nicht als Grund, sondern als Folge verbunden (RGV 4). Auch hier erkennen wir also die von Kant selbst vorgegebene Ordnung:

44 Vgl. z. B. GMS 394: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat.“ 45 Vgl. z. B. KU 471 Anm.; Gemeinspruch 279f. Anm.; RGV 4ff.

3.6 Das Heteronomie-Argument und das höchste Gut |

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Das höchste Gut wird durch das moralische Gesetz bestimmt und nicht umgekehrt (vgl. KpV 62f.).⁴⁶ In den folgenden Kapiteln geht es um die Bestandteile des höchsten Guts und insbesondere darum, wie die innere Struktur desselben aus dem moralischen Gesetz abgeleitet werden kann.

46 Vgl. zum höchsten Gut als Endzweck ausführlich Abschnitt 7.3, S. 214.

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Teil II: Das höchste Gut

4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts Im ersten Teil dieser Arbeit wurden die zentralen Thesen und Argumente ausgearbeitet, die Kants Ethik als eine deontologische Ethik auszeichnen. Es ging dabei erstens um das Verfahren des kategorischen Imperativs, das es ermöglicht, Urteile über das moralisch Gute ohne ein vorher festgelegtes Wertekonzept zu fällen. Zweitens wurde untersucht, welche Gestalt das Gute diesem Verfahren zufolge annimmt. Drittens wurde Kants Argument dafür beschrieben, dass in der Moral Werturteile aus Prinzipien abgeleitet werden müssen und nicht umgekehrt. In einer solchen Ethik kann das höchste Gut nicht den Platz einnehmen, den es in vielen antiken Ethiken hat: als oberstes, handlungsleitendes Prinzip. Kant verwirft die philosophische Idee eines höchsten Guts jedoch nicht, sondern weist ihr in veränderter Form einen neuen Platz zu. Wie sich dieses veränderte Konzept des höchsten Guts in Kants Moralphilosophie einfügt, wurde jeweils am Ende des ersten und des zweiten Kapitels aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Wenn ein Verhalten, das dem kategorischen Imperativ folgt, notwendig allgemeine Glückseligkeit zum Ziel hat, so sind – zumindest in diesem Sinne – Moralität und Glückseligkeit notwendig miteinander verbunden (Kapitel 1). Und wenn das allgemeine Prinzip der Vernunft, das Kant in der ersten Kritik für den spekulativen Vernunftgebrauch beschreibt (KrV A 307f./B 364), auch für die praktische Vernunft gilt, so können wir auch dort zwei Arten des Unbedingten beschreiben. Zum einen das oberste praktische Prinzip, das selbst unbedingt ist: das moralische Gesetz. Zum anderen die vollständige Reihe von Handlungsentscheidungen, die durch jenes Prinzip bedingt sind: das höchste Gut (Kapitel 2). Im weiteren Verlauf dieser Arbeit soll es darum gehen, ausgewählte Aspekte des höchsten Guts näher zu beschreiben. Tugend steht als erstens Element des höchsten Guts im Mittelpunkt von diesem Kapitel. Dabei wollen wir den Schwerpunkt auf die Frage legen, inwiefern Tugend die „oberste Bedingung alles dessen, was uns nur wünschenswerth scheinen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit“ (KpV 110) ist. Der weitere Verlauf dieses Kapitels ist dementsprechend wie folgt aufgebaut: Abschnitt 4.1 ist einem Literaturüberblick gewidmet. Kant hat sich im Konzept des höchsten Guts nicht auf eine Definition des Bedingungsbegriffs festlegt und die Literatur ist reich an Vorschlägen, wie diese Lücke zu füllen ist: So wird Tugend zum Beispiel als Bedingung für das Streben nach Glückseligkeit, die Austeilung oder aber den Genuss derselben genannt – aber auch dafür, ob Glückseligkeit selbst als moralisch gut beurteilt werden kann. Die Behebung dieses Missstandes wird zusätzlich dadurch erschwert, dass (i) der Tugendbegriff selbst einer ähnlichen Problematik unterliegt, weil er nicht klar definiert ist und (ii) nicht immer Tugend als Bedingung für Glückseligkeit https://doi.org/10.1515/9783110599763-005

112 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

genannt wird, sondern zum Beispiel auch Sittlichkeit, Heiligkeit und das moralische Gesetz. In Abschnitt 4.2 wird deswegen analysiert, was Kant jeweils zu den Begriffen Sittlichkeit und Tugend zu sagen hat, und ein Vorschlag skizziert, wie sie zusammenhängen könnten. Demnach wird eine Person als sittlich bezeichnet, die ihren Willen durch das moralische Gesetz bestimmen lässt. Unter dem Begriff der Tugend fasst Kant darauf aufbauend und darüber hinausgehend die Eigenschaften zusammen, die ein Mensch als sinnliches, endliches Wesen entwickeln muss, um sittlich sein zu können. Abschnitt 4.3 beschäftigt sich mit der Frage, was unter einer ‚Bedingung‘ im praktischen Vernunftgebrauch genau zu verstehen ist. Dies geschieht unter Zuhilfenahme eines Vergleichs mit der Verwendung des Begriffs in der Transzendentalen Dialektik, in der es um den theoretischen Vernunftgebrauch geht. Laut diesem Vergleich haben wir unter einem Bedingungsverhältnis im Praktischen die normative Abhängigkeit einer möglichen Handlung von einer praktischen Regel zu verstehen. Da Kant uns keine weiteren Hinweise zum Bedingungsbegriff im höchsten Gut gibt, sollte die These ‚Tugend bedingt Glückseligkeit‘ – so mein Vorschlag – in erster Linie als Kurzformel dafür verstanden werden, dass im höchsten Gut Handlungen zum Zwecke der Glückseligkeit vom moralischen Gesetz bestimmt sein müssen.

4.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick Das Bedingungsverhältnis von Tugend und Glückseligkeit wird in der Literatur auf vielfältige Weise gedeutet. Reath zufolge lassen sich die von Menschen verfolgten Zwecke in moralisch gebotene (tugendhafte) Zwecke und Zwecke zum Ziele der eigenen Glückseligkeit einteilen, und die Bedingtheit von Glückseligkeit durch Tugend bedeute, dass letztere ersteren untergeordnet und im Konfliktfall aufgegeben werden müssen.¹ Laut Allison ist Tugend die Bedingung, nach der Glückseligkeit ausgeteilt wird.² Denis vertritt im Laufe mehrerer Publikationen verschiedene Positionen: Die Bedingtheit der Glückseligkeit bedeute (i), die reine praktische Vernunft beurteile Glückseligkeit nur als gut, wenn sie von einer tugendhaften Person genossen wird (Denis 2005, S. 34); (ii), die Glückseligkeit

1 „On the most natural reading, a ‚union of universal happiness with the strictest morality,‘ or ‚happiness conditioned by morality‘ is [...] no necessary connection between virtue and happiness, but instead describes the Highest Good as a union of two distinct ends, one of which is subordinate to the other“ (Reath 1988, S. 605). Vgl. ähnlich Mariña (2000, S. 334). 2 „[The Highest Good] is defined as the union of virtue and happiness, with the former ‚wearing the trousers‘ in the sense that it is the condition under which happiness is to be allotted“ (Allison 1990, S. 171f.).

4.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

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müsse auf moralisch erlaubte Weise zustande gekommen sein, um als moralisch gut beurteilt werden zu können³; (iii), Glückseligkeit werde im höchsten Gut grundlegend von der Moral geformt und unterscheide sich damit von der Glückseligkeit, die Menschen ursprünglich anstreben.⁴ Die Vielfalt dieser Vorschläge scheint dem Umstand geschuldet zu sein, dass einige grundsätzliche Fragen nicht geklärt sind: Ist es das Streben nach Glückseligkeit oder die Glückseligkeit selbst, die unter der Bedingung der Tugend steht? Handelt es sich bei der Bedingung um eine bloß einschränkende oder auch eine die Glückseligkeit verändernde Bedingung? Geht es darum, dass der Tugendhafte nach jener bedingten Glückseligkeit strebt, oder darum, dass Menschen Glückseligkeit nur unter der Bedingung verdienen? Handelt es sich um eine notwendige oder eine hinreichende Bedingung? In Abschnitt 4.3 werden wir versuchen, auf diese Fragen Antworten zu finden. Was ist im Kontext des höchsten Guts mit ‚Tugend‘ gemeint? Kant entwickelt den Begriff in der zweiten Kritik nur ansatzweise und lässt damit den Raum, diese Frage zu stellen. Durch die Einbeziehung früher und später veröffentlichter moralphilosophischer Schriften – wie die Grundlegung und die Metaphysik der Sitten – kann zwar ein vollständigeres Bild von Kants Begriff der Tugend ermittelt werden. Jedoch erhalten wir auf diese Weise eine ganze Reihe miteinander zusammenhängender Charakterisierungen, wobei nicht klar ist, welche davon ausschlaggebend für das Konzept des höchsten Guts sind. So beruft sich Engstrom auf Kants Definition von Tugend als „die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht“ (TL 405) und argumentiert, dass es sich eben um jene charakterliche Stärke handle, die notwendig für das beständige Handeln nach dem kategorischen Imperativ sei, welches offensichtlich zu dem höchsten Gut gehört.⁵ Laut Denis bedeutet Tugend im Konzept des höchsten Guts hingegen wesentlich eine „sittlich gute Gesinnung“ (GMS 435) und weniger die Stärke, diese Gesinnung auch angesichts entgegenstehender Nei-

3 Denis (2008, S. 35) u. Denis (2011, S. 172). Vgl. ähnlich Davidovich (1993, S. 331, Fn. 22): „Happiness is conditioned by the moral law which determines when an end is legitimately pursued“ und Keller (2008, S. 359): „Glückseligkeit ist dann und nur dann gut, wenn sie moralisch vermittelt ist.“ 4 „Yet as the conditioned element of the highest good, happiness is fundamentally shaped by morality, and thus is importantly different from happiness not so conditioned“ (Denis 2011, S. 172f.). Vgl. ähnlich: „The second component of the highest good will be happiness [...], which will be complete and perfect because conditioned by the holiness of will which constitutes the supreme condition of the highest good“ (Wood 1970, S. 93). 5 „[T]he moral strength of virtue is just the strength of will involved in conforming one’s disposition to adopt only lawful maxims to the condition of morality by making that disposition a law of one’s will, so that one adopts only maxims having the form of universal law“ (Engstrom 1992, S. 762).

114 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

gungen durchzusetzen.⁶ Hägerström hat darauf hingewiesen, dass Tugend zwar in der Analytik der KpV als Gesinnung dargestellt wird, hier aber – als Teil des höchsten Guts – als Zweck, Ziel oder Resultat des Handelns betrachtet werden muss.⁷ Dem zustimmend meint Albrecht, „als Ergebnis (‚Gegenstand‘) des sittlichen Handelns muß daher wohl auch die ‚fortschreitende‘ Tugend verstanden werden“. Er weist aber auch darauf hin, dass Kant Tugend im Kontext des höchsten Guts als „Vermöge[n] einer reinen praktischen Vernunft durch That“ (KpV 118) bezeichne.⁸ Nun könnten wir einwenden, dass sich diese Positionen nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander ergänzen: Das höchste Gut als moralische Welt muss (i) die Reinheit der moralischen Motivation, nur aus Achtung vor dem moralischen Gesetz zu handeln, (ii) das Vermögen, diese Motivation in Taten auszudrücken, und (iii) die Stärke, auch bei konträren Neigungen nicht von der Moral abzuweichen, beinhalten. Schließlich ist (iv) ein Wille mit solchen Eigenschaften sein eigener Gegenstand; denn er bringt nicht nur moralisch gute Handlungen hervor, sondern wird erst durch diese Tätigkeit beständig neu erschaffen (vgl. Kapitel 2). Dennoch ist ein Aspekt dieses Ergebnisses unbefriedigend: Wenn vage bleibt, was genau mit Tugend im höchsten Gut gemeint ist, wird es schwierig, den verschiedenen Aspekten des Verhältnisses zwischen Tugend und Glückseligkeit auf den Grund zu gehen. Da diese einen wesentlichen Teil des Konzepts des höchsten Guts ausmachen, ist ein präziseres Verständnis des Tugendbegriffs für unser weiteres Vorgehen elementar.⁹ Bei der Erarbeitung eines besseren Verständnisses des Tugendbegriffs im Zusammenhang mit dem höchsten Gut darf folgender Sachverhalt nicht außer Acht gelassen werden: Während Glückseligkeit mehrmals als „das zweite Element“ (KpV 119, vgl. KpV 124), „das zweite zum höchsten Gut gehörige Bestandstück“ (KpV 127) oder einfach als „das zweite Stück jenes Objects“ (KpV 144) bezeichnet

6 „In this context, ‚virtue‘ (Tugend) refers mainly to a finite rational being’s volitional conformity to the moral law from respect for that law. Kant here emphasizes the pure moral disposition (Gesinnung) or cast of mind (Denkungsart) essential to virtue [...] over the power or capacity (Vermögen) or strength (Stärke) necessary for human expression of this disposition in action [...]“ (Denis 2011, S. 172). Vgl. auch schon Denis (2008, S. 85ff.) u. Yovel (1972, S. 256). 7 „Indessen ist zu beachten, dass es sich in der Analytik um die Tugend als eine geforderte Gesinnung handelte. Hier aber handelt es sich um Tugend als das oberste Moment in dem Endzweck oder als das letzte Ziel, das zu verwirklichen ist, also um die Tugend als mögliches Resultat des Handelns“ (Hägerström 1902, S. 486). 8 Vgl. Albrecht (1978, S. 68, Fn. 219). 9 Vgl. zur Tugend als Bedingung von Glückseligkeit den dritten Abschnitt dieses Kapitels, zur Proportionalität Kapitel 6 und dort insbesondere Abschnitt 6.4 für den Zusammenhang der verschiedenen Aspekte des Verhältnisses zwischen Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut.

4.2 Das Verhältnis von Sittlichkeit und Tugend |

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wird, legt sich Kant bei dem ersten Element nicht immer auf Tugend fest. Zwar deuten der Einstieg in das zweite Hauptstück und die Diskussion darüber, wie Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut verknüpft sein könnten, eher darauf hin, dass Tugend das erste Element des höchsten Guts sein soll (vgl. KpV 110f.). Jedoch benennt Kant „Sittlichkeit“ als den „ersten und vornehmsten Thei[l] des höchsten Guts“ (KpV 124) bzw. als das „erst[e] Stüc[k] des höchsten Guts“ (KpV 144). Werden ‚Tugend‘ und ‚Sittlichkeit‘ in diesem Kontext synonym gebraucht?¹⁰ Eine ähnliche Schwierigkeit ergibt sich dadurch, dass Kant neben dem moralischen Gesetz (KpV 109) wiederum Tugend (KpV 110, 111) und Sittlichkeit (KpV 119), aber auch Heiligkeit (KpV 122) und den guten Willen (KpV 64) als das oberste Gut bzw. als oberste oder erste Bedingung des höchsten Guts bezeichnet. Es scheint also so zu sein, dass mehreren zwar verwandten, aber doch unterschiedlich definierten Begriffen derselbe Platz innerhalb des höchsten Guts zugewiesen wird.¹¹ Im folgenden Abschnitt geht es daher um die Frage, wie es konsistent möglich ist, dass Kant bei dem ersten Element des höchsten Guts sowohl von Tugend als auch von Sittlichkeit sprechen kann. Der sich anschließende Abschnitt 4.3 wird (i) die Verwendung des Bedingungsbegriffs im praktischen Vernunftgebrauch im Allgemeinen behandeln, um (ii) zu untersuchen, ob und inwiefern Kant auch bei der obersten Bedingung im höchsten Gut konsistent mehrere Begriffe einsetzen kann.

4.2 Das Verhältnis von Sittlichkeit und Tugend Sittlichkeit ist „[d]ie Übereinstimmung [...] der Maxime der Handlung mit dem Gesetze“ in Abgrenzung von bloßer Gesetzmäßigkeit, was die Übereinstimmung der Handlung mit dem moralischen Gesetz bedeutet (MS 225).¹² An anderer Stelle unterscheidet Kant Sittlichkeit von Geschicklichkeit und Klugheit: Wer die zu-

10 Auch eine Analyse der gesamten Dialektik der reinen praktischen Vernunft führt hier nicht weiter: Kant verwendet die Ausdrücke ‚Tugend‘ und ‚Sittlichkeit‘ oder verwandte Formen wie ‚tugendhaft‘ oder ‚sittlich‘ im stetigen Wechsel, ohne jeweils deutlich zu machen, worin inhaltlich der Unterschied besteht. ‚Tugend‘ oder verwandte Formen werden insgesamt 38 Mal verwendet, ‚Sittlichkeit‘ oder verwandte Formen 29 Mal (KpV 107–148). 11 Besonders die Ersetzung von Tugend durch Heiligkeit im höchsten Gut im Zusammenhang mit der Einführung des Postulats der Seelenunsterblichkeit wird von der Literatur mehrheitlich kritisch bewertet, vgl. z. B. Beck (1960, S. 265ff.), Allison (1990, S. 171ff.), Kleingeld (1995a, S. 156), Guyer (2000a, S. 351f.), Willaschek (2009, S. 262f.). Eine verteidigende Position nehmen z. B. Wood (1970, S. 116ff.) und Surprenant (2008) ein. 12 Kant bezeichnet Sittlichkeit auch kurz als „die Allgemeinheit der Maxime als Geset[z]“ (GMS 460).

116 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

reichenden Mittel zu beliebigen Zwecken auswählen und anwenden kann, ist geschickt. Derjenige, der dazu im Stande ist, seine Handlungen „zu seinem eigenen größten Wohlsein“ auszurichten, ist klug. Aber nur, wer seine Handlungen durch das Verfahren des kategorischen Imperativs bestimmt – und damit „ohne irgend eine andere durch ein gewisses Verhalten zu erreichende Absicht als Bedingung“ –, ist sittlich (GMS 415f.). In der Sache stimmt das mit der zuerst genannten Definition überein. Der Begriff der Sittlichkeit ist also nicht nur eng mit dem des kategorischen Imperativs verknüpft, sondern lässt sich direkt daraus ableiten. Der Tugendbegriff bei Kant ist weitaus vielschichtiger. Ich möchte dabei drei miteinander zusammenhängende Aspekte hervorheben, die Kant insbesondere in der zweiten Kritik erwähnt, also der Schrift, die wir maßgeblich zur Interpretation des Konzepts des höchsten Guts verwenden: (1.) Tugend ist die Gesinnung, nach dem moralischen Gesetz zu handeln, die (2.) mit dem Bewusstsein der eigenen moralischen Schwächen einhergehen muss. Beides ist Voraussetzung für (3.) die innere Stärke, wenn nötig auch entgegen den eigenen Neigungen moralisch zu handeln. In der Metaphysik der Sitten fügt Kant hinzu, dass Tugend (4.) eine Fähigkeit ist, die einerseits geübt werden kann und andererseits immer wieder neu erworben werden muss, da wir anderenfalls Veränderungen in unseren moralischen Herausforderungen nicht gewachsen wären.¹³ 1. Tugend ist die „sittlich gute Gesinnung“ (GMS 435) bzw. die „gesetzmäßige Gesinnung aus Achtung fürs Gesetz“ (KpV 128).¹⁴ In diesem Sinne bezeichnet Kant Tugend auch als „Denkungsart nach moralischen Gesetzen“ (KpV 160). 2. Kant zufolge ist Tugend das „Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung [einhergehen], wenigstens Unlauterkeit, d. i. Beimischung vieler

13 Vgl. Denis (2006, S. 510–513) u. Wood (2011, S. 69–78) für ähnliche, aber leicht abweichende Beschreibungen. Vgl. auch Allison (1990, S. 162–171), der den Tugendbegriff auf Kants Konzept des radikalen Bösen bezieht. Es ist zu beachten, dass es hier ausschließlich um Tugend im Singular geht, da Kant den Begriff der Tugend im Kontext des höchsten Guts nur auf diese Weise verwendet. In der Tugendlehre kommt Tugend auch im Plural vor: Es gibt mehrere Tugenden, insofern die Vernunft uns zwei Zwecke, die zugleich Pflicht sind (eigene Vollkommenheit, fremde Glückseligkeit), vorschreibt, aus denen eine Anzahl von besonderen Tugendpflichten folgt. Wird eine solche Tugendpflicht beständig und auch entgegen innerer Widerstände ausgeübt, ist von einer Tugend in einem zweiten Sinn zu sprechen (vgl. TL 395, 383). 14 Wie bei Kant nicht unüblich, wird diese formelhafte Kurzdefinition über sein Werk hinweg immer wieder variiert wiederholt. So ist Tugend „die fest gegründete Gesinnung seine Pflicht genau zu erfüllen“ (RGV 23 Anm.), die „Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht“ (RGV 37) und „die in der festen Gesinnung gegründete Übereinstimmung des Willens mit jeder Pflicht“ (TL 395). In den uns erhaltenen Vorlesungsmitschriften finden wir ähnliche Wendungen: Vgl. Moralphilosophie Collins, 27:300 u. 308; Metaphysik der Sitten Vigilantius, 27:715; Naturrecht Feyerabend, 27:1327; Moral Mrongovius II, 29:611.

4.2 Das Verhältnis von Sittlichkeit und Tugend |

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unächter (nicht moralischer) Bewegungsgründe zur Befolgung des Gesetzes, folglich eine mit Demuth verbundene Selbstschätzung [...]“ (KpV 128).¹⁵ Eine tugendhafte Person ist sich also ihrer eigenen moralischen Schwächen bewusst. 3. Tugend ist „die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht“¹⁶. Diese Stärke ist erforderlich, da die moralische Gesinnung im Kampfe mit den Neigungen ist, die „zu Zwecken [...] verleiten, die der Pflicht zuwider sein können“ (TL 380). Neben der Bezeichnung als Stärke bringt Kant die Tugend seltener auch mit Ausdrücken wie ‚Kampf‘ (TL 440) oder ‚Tapferkeit‘ („fortitudo moralis“, TL 380; Loses Blatt F R II 343–346, 23:396) in Verbindung. Diese Redeweise weist auf den inneren Konflikt hin, in den derjenige geraten kann, der gut handeln will.¹⁷ In diesem Konflikt stehen dem sittlichen Vorsatz die Neigungen, die mit ihm „in Streit kommen können“, gegenüber (TL 394).¹⁸ Eine Person ist umso tugendhafter, umso zuverlässiger sie diese Hindernisse, die sie sich gewissermaßen selbst in den Weg legt, überwindet (vgl. TL 394, 397, 405). Das Ziel dabei ist, „das Gemüth in Ruhe mit einer überlegten und festen Entschließung [das moralische] Gesetz in Ausübung zu bringen“ (TL 409) und die Neigungen schließlich zu beherrschen.¹⁹ Es ist dabei gar nicht möglich, zu tugendhaft zu sein; das „würde ungefähr so viel sagen als: einen Circel gar zu rund, oder eine gerade Linie gar zu gerade machen“ (TL 433 Anm.). 4. Ein anderer Aspekt des Begriffs, der zuerst in der Tugendlehre hervorgehoben wird, ist, dass Tugend als solche nicht angeboren ist, sondern erworben werden muss, „dadurch daß die moralische Triebfeder (die Vorstellung des Gesetzes) durch Betrachtung (contemplatione) der Würde des reinen Vernunftgesetzes in uns, zugleich aber auch durch Übung (exercitio) erhoben wird“ (TL 397; vgl. RGV 190 Anm.; TL 477). Wäre Tugend jedoch nur eine „durch Übung erworbene Gewohnheit“, so wäre sie „weder auf alle Fälle gerüstet, noch vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können, hinreichend gesichert“ (TL 383f.). Tugend muss also „immer ganz neu und ursprünglich aus

15 Vgl. auch Metaphysik der Sitten Vigilantius, 27:609ff. 16 TL 394; vgl. RGV 190 Anm., TL 387, 392, 397, 405, 409, 447; R 4842, 17:744; Moralphilosophie Collins, 27:300; Metaphysik der Sitten Vigilantius, 27:570 u. 609. 17 „Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt, ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigung und auch allenfalls unbefohlener, von selbst gern unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein moralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe, und nicht Heiligkeit im vermeintlichem Besitze einer völligen Reinigkeit der Gesinnungen des Willens“ (KpV 84). 18 Vgl. zu Neigungen Abschnitt 5.2, S. 140. 19 Vgl. Religionslehre Pölitz, 28:1075, wo Kant Tugend auch als „Selbstüberwindung“ bezeichnet. Vgl. auch Loses Blatt E 22 R II 95–97, 23:388.

118 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

der Denkungsart hervorgehen“ (Anth 147). Die beiden Aussagen scheinen sich zu widersprechen. Denn auf den ersten Blick ist schwer einsehbar, warum eine Fertigkeit immer wieder neu erworben werden muss und doch eingeübt werden kann. Beide Charakterisierungen der Tugend sind jedoch miteinander vereinbar, da sie aus verschiedenen Perspektiven vorgenommen werden. Aus der intellektuellen Perspektive betrachtet sind Menschen transzendental frei und können somit frei entscheiden, ob sie moralisch gut handeln wollen oder nicht. In diesem Fall gibt es kein Mittleres. Die empirische Perspektive hingegen berücksichtigt, dass unsere prinzipiell freien, vernünftigen Entscheidungen mit durch Neigungen motivierten Zwecken konkurrieren und es eingeübt werden muss, mit diesem Konflikt umzugehen. Unter Berücksichtigung beider Perspektiven kann Kant somit sagen: „Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an“.²⁰ Somit ist Tugend eine besondere, nämlich eine „freie“ Fertigkeit, „sich durch die Vorstellung des Gesetzes im Handeln zu bestimmen“; sie unterscheidet sich somit von anderen Fertigkeiten, die sich „durch öfters wiederholte Handlung zur Nothwendigkeit gewordene Gleichförmigkeit“ auszeichnen (TL 407; vgl. RGV 14, 47). Es liegt auf der Hand, dass die ersten drei dieser Eigenschaften des Tugendbegriffs eng miteinander zusammenhängen. Denn ohne den festen Entschluss, moralisch handeln zu wollen und ein gleichzeitiges Bewusstsein der eigenen Schwächen ist der Kampf gegen die der Moral konträren Neigungen schwer möglich. Die vierte Eigenschaft bezieht sich hingegen auf die Form, die Tugend in Hinblick auf die intelligible und die sinnliche Seite des Menschen annimmt. Wie verhalten sich demzufolge die Begriffe Sittlichkeit und Tugend zueinander? Sie scheinen sich auf unterschiedliche Weise gegenseitig zu bedingen. Tugend setzt den Begriff der Sittlichkeit konzeptuell voraus. Ohne die Idee des kategorischen Imperativs und seiner Anwendung macht es keinen Sinn, über Tugend zu sprechen. Denn ohne sie können wir nicht über Neigungen sprechen, die den Willen zu von dem moralischen Gesetz abweichenden Handlungen zu verführen drohen. Andererseits beschreibt Kant unter dem Namen der Tugend die nötigen Voraussetzungen dafür, dass Menschen sittlich sein können. Wir können somit sagen, dass ein Mensch, der sittlich ist, zugleich tugendhaft sein muss und umgekehrt, dass Tugend Sittlichkeit einschließt.²¹

20 TL 409. Vgl. RGV 39 Anm.; vgl. auch Blöser (2014, S. 271ff.). 21 Eine Rechtfertigung der Verwendung des Heiligkeitsbegriffs an Stelle des Tugendbegriffs im höchsten Gut könnte parallel dazu verlaufen: Kant sagt zwar, dass wir einen Zustand der Heiligkeit zu keinem Zeitpunkt erreichen können, dass dies aber durch einen beständigen, fortlaufenden

4.2 Das Verhältnis von Sittlichkeit und Tugend |

119

Damit wäre ein erstes Interpretationsproblem gelöst: Dieser Erklärung zufolge ist der stetige Wechsel von Tugend und Sittlichkeit als erstem Element des höchsten Guts konsistent möglich. Kommen wir zu unserer nächsten Frage: Warum spricht Kant nicht nur von Sittlichkeit? Ich möchte dazu folgenden Vorschlag machen: Der Begriff der Sittlichkeit, ebenso wie der des kategorischen Imperativs, abstrahiert von den menschlichen Anwendungsbedingungen. Für beide spielen menschliche Neigungen keine Rolle und ebenso wenig, dass der Mensch unter Zeitbedingungen steht und um moralisch gut zu werden, einen entsprechenden Charakter entwickeln muss. Beides fließt jedoch in den Begriff der Tugend mit ein.²² Eine einzelne Handlung kann, für sich betrachtet, als sittlich aber schwerlich als tugendhaft gelten. Weil das höchste Gut die Totalität menschlichen moralischen Verhaltens meint und damit die sinnliche Seite des Menschen einschließt, ist es daher m.E. etwas präziser, von Tugend als dem ersten Element des höchsten Guts zu sprechen. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff der Tugend zwar Aspekte enthält, die im Konzept des kategorischen Imperativs nicht enthalten sind. Doch lässt sich dafür argumentieren, dass ersterer dennoch aus letzterem entwickelt werden kann: In Kapitel 1 haben wir die These aufgestellt, dass eine Person, die moralisch gut handelt, das Streben nach eigenem Glück in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformiert, und das im Grunde bei jeder Handlungsentscheidung. Wenn wir nun überlegen, welche Eigenschaften diese durchgängige Reflexion und gegebenenfalls Korrektur der eigenen Motive erfordert, fällt auf, dass wir sie in Kants Beschreibung dessen wiederfinden, was Tugend ausmacht: Die Einsicht in die eigenen moralischen Schwächen; die Demut, dafür die Verantwortung zu übernehmen; und die Stärke, sie zu überwinden. Somit würde der Begriff der Tugend indirekt aus dem Konzept des kategorischen Imperativs hervorgehen und gerade die Eigenschaften vereinen, die nötig sind, um die Transformation im Glücksstreben zu vollziehen. Doch warum wechselt Kant dann hin und wieder zurück zum Begriff der Sittlichkeit? Diese Frage ist schwieriger zu beantworten. Von Sittlichkeit spricht Kant im Kontext des höchsten Guts vor allem dann, wenn von Proportionalität die

Fortschritt in der Tugend angenähert werden kann (vgl. KpV 32f., 84, 122; RGV 46f., 132; TL 383). Darauf aufbauend könnte argumentiert werden, dass Heiligkeit nicht wesentlich verschieden von Tugend sein kann, es vielmehr eine Art von ‚perfekter‘ Tugend sein müsse. 22 Vgl. Yovel (1972, S. 257): „The formal principle of morality relates only to isolated acts which are mutually independent [...]. But the moral subject (like the subject of knowledge) does not consist of a series of isolated acts [...]. This means that some moral quality must be ascribable to him as an entire person – a global meaning underlining all his acts, and this is fulfilled by the concept of virtue.“

120 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

Rede ist.²³ Ist diese Wortwahl absichtlich geschehen, könnte sie wie folgt Sinn ergeben: Laut Kant können wir den Grad unserer Tugend als Stärke nur anhand der „Größe der Hindernisse [...], die da [...] überwunden werden können“, schätzen (TL 397). Tugend, im engen Sinne als Stärke verstanden, kann sich somit, zumindest einer solchen subjektiven Schätzung nach, von der Sittlichkeit einer Person unterscheiden. Nehmen wir zum Versuche zwei Personen an, die jeweils in gleichen Situationen gleich sittlich handeln, nur hat eine Person viel stärkere Neigungen, jeweils entgegen der Moral zu handeln. Dann wäre diese Person in diesem Sinne tugendhafter als die andere, obwohl beide in gleichem Maße sittlich wären. Verstehen wir Tugend jedoch in einem weiten Sinne, und zwar als die Form von Sittlichkeit, die den Menschen möglich ist, ergibt sich diese Differenz nicht. Vielleicht hat Kant den Begriff der Sittlichkeit verwendet, um das Missverständnis zu vermeiden, Glückseligkeit sei im höchsten Gut proportional zur Tugend als Stärke. Die Textlage ist jedoch alles andere als eindeutig und kann diese Frage nicht befriedigend klären.²⁴

4.3 Bedingungen im praktischen Vernunftgebrauch Was bedeutet es, wenn Kant Tugend die „oberste Bedingung [...] unserer Bewerbung um Glückseligkeit“ nennt (KpV 110)? Wir haben bei der Literaturbetrachtung gesehen, dass Kant einen großen Interpretationsspielraum in Bezug darauf öffnet, was in diesem Fall unter einer ‚Bedingung‘ zu verstehen ist. Wir haben jedoch einen indirekten Zugang zu einem besseren Verständnis der Bedingungsthese. Kant bezieht sich mit seiner Rede von Bedingungen auf die Suche der praktischen Vernunft nach dem Unbedingten, die er mit der Suche nach dem Unbedingten der

23 Vgl. KpV 110, 119, 124, 125, 129. Eine Ausnahme bildet allerdings KpV 115, wo Kant von „Philosophen alter sowohl als neuer Zeiten“ spricht, „die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden, oder sich ihrer bewußt zu sein haben überreden können.“ 24 An manchen Stellen scheint Kant Tugend und Sittlichkeit synonym zu gebrauchen und völlig wahllos zwischen ihnen zu wechseln. Vgl. z. B.: „Der Epikureer sagte: sich seiner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußt sein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugend bewußt sein, ist Glückseligkeit. Dem erstern war Klugheit so viel als Sittlichkeit; dem zweiten, der eine höhere Benennung für die Tugend wählte, war Sittlichkeit allein wahre Weisheit“ (KpV 111). Es sei bemerkt, dass sich dasselbe Problem in den Passagen zum höchsten Gut in den entsprechenden Vorlesungsmitschriften ergibt, vgl. Praktische Philosophie Powalski, 27:104. Vgl. auch Moralphilosophie Collins, 27:247–252; Metaphysik der Sitten Vigilantius, 27:482–485; Mrongovius, 27:1400-1404; Mrongovius II, 29:599–605. Vgl. andererseits Moralphilosophie Collins, 27:300, wo Kant Tugend (als Stärke) von Sittlichkeit eindeutig abgrenzt.

4.3 Bedingungen im praktischen Vernunftgebrauch |

121

spekulativen Vernunft vergleicht.²⁵ Es ist zu erwarten, dass sich die Bedeutung des Begriffs der Bedingung im praktischen Vernunftgebrauch ebenso mit seinem Pendant im theorischen vergleichen lässt. Der Begriff der Bedingung ist zwar auch in Kants theoretischer Philosophie nicht leicht zu fassen, da Kant ihn nicht explizit definiert. Jedoch können wir auf den Ergebnissen von Eric Watkins aufbauen, der vorgeschlagen hat, die Verwendung des Bedingungsbegriffs in den Antinomien zu analysieren, um daraus seine Eigenschaften abzuleiten. Im Folgenden werden diese Ergebnisse zusammengefasst und es wird untersucht, wie sie sich ins Praktische übertragen lassen.²⁶ Watkins macht zunächst darauf aufmerksam, dass Kant zwischen einem logischen und einem realen Vernunftgebrauch unterscheidet und dass es sinnvoll ist, eine entsprechende Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten von Bedingungen anzunehmen.²⁷ Der logische Vernunftgebrauch bezieht sich auf Erkenntnisse. Erfüllt eine gegebene Erkenntnis (Untersatz) die Bedingung, die eine weitere gegebene Erkenntnis (Obersatz) vorgibt, lässt sich daraus eine neue Erkenntnis (Schluss) ableiten. Somit ist eine Bedingung in diesem Kontext eine logische Abhängigkeit.²⁸ Der reale Vernunftgebrauch beschäftigt sich dagegen nicht mit Erkenntnissen, sondern mit Gegenständen. Hier steht die Bedingung nicht für ein logisches, sondern ein metaphysisches Abhängigkeitsverhältnis. Worin dieses Verhältnis genau besteht, hängt von dem jeweiligen Fall ab. So scheint für Kant ein Teil eine notwendige Bedingung für die Existenz des entsprechenden Ganzen zu sein (zweite Antinomie) und eine Ursache eine hinreichende Bedingung für die Existenz einer entsprechenden Wirkung (dritte Antinomie).²⁹

25 Vgl. KpV 108. Vgl. auch Abschnitt 2.8, S. 69 dieser Arbeit. 26 Vgl. Watkins (2018b). Bei dem Verfassen dieses Abschnitts lag mir ein Entwurf eines Aufsatzes vor, in dem Watkins selbst das Bedingungsverhältnis im Praktischen untersucht, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt: dem guten Willen als unbedingt Gutem (vgl. Watkins 2018a). 27 „What Kant does make clear, however, is that reason has two different uses – the logical and the real – and that they involve two different kinds of conditions“ (Watkins 2018b, S. 1). An den Stellen, auf die sich Watkins bezieht, spricht Kant von einem „reinen“ statt von einem „realen“ Vernunftgebrauch. Das meint jedoch in der Sache dasselbe, vgl. z. B. KrV B 302 Anm. 28 „One takeaway from Kant’s account of the logical use of reason in syllogisms is that the kind of condition it concerns is what one might call logical dependence, since syllogisms express different kinds of logical dependence relations among cognitions in a syllogism“ (Watkins 2018b, S. 2). 29 „[I]f x causes y, then y is metaphysically dependent on x. For if x is a cause of y, it is necessarily connected with y, determines y, and is sufficient for the existence of y [...]. [I]f a1 , a2 , ...a n are the proper parts of b1 , then b1 depends metaphysically on a1 , a2 , ...a n . For if any of a1 , a2 , ...a n did not exist, neither would b1 “ (Watkins 2018b, S. 3f.). Ein Teil ist jedoch offensichtlich keine hinreichende Bedingung für das Ganze, nicht einmal die vollständige Summe der Teile, da sie in anderer Anordnung ein anderes Ganzes ergeben könnten. Ebenso muss eine Ursache nicht immer

122 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

Für die Übertragung ins Praktische greifen wir zunächst die grundsätzliche Unterscheidung auf, die nach Kant theoretische und praktische Philosophie trennt: Im Praktischen gewinnen wir Erkenntnisse über das, „was da sein soll“, im Gegensatz zu den Erkenntnissen der theoretischen Philosophie über das, „was da ist“.³⁰ In Kapitel 2 haben wir festgestellt, dass Kant unter einem ‚Gegenstand‘, der ‚sein soll‘, also einem Gegenstand der praktischen Vernunft, in erster Linie eine gute Handlung versteht. Darunter kann im weiteren Sinne aber auch eine verallgemeinerbare Maxime, ein guter Wille oder die handelnde Person selbst als guter Mensch verstanden werden. Um einen solchen Gegenstand handelt es sich bei dem Bedingten im Bedingungsverhältnis im praktischen realen Vernunftgebrauch. Nun sagt Kant, dass er „[u]nter dem Begriffe eines Gegenstandes der praktischen Vernunft [...] die Vorstellung eines Objects als einer möglichen Wirkung durch Freiheit [versteht]“ (KpV 57; H.v.m.). Genau die Gegenstände, die durch eine Kausalität durch Freiheit (und nicht durch Natur) verursacht werden können, können Bedingungen der praktischen Vernunft, also normativen Bedingungen unterliegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der dritten Antinomie der KrV der Fokus auf den Gegenständen als bereits verursachten Wirkungen liegt, also Gegenständen, die in der Welt sind. Im praktischen Vernunftgebrauch geht es um mögliche Wirkungen, die verursacht werden sollen. Wir können somit sagen: Wenn eine Bedingung im Theoretischen ausdrückt, dass die Existenz eines Gegenstandes A wesentlich von Gegenstand B abhängt, drückt eine Bedingung im Praktischen aus, dass das Sein-sollen eines Gegenstandes A wesentlich vom Begehren eines Gegenstandes B abhängt. A hängt normativ von B ab. Wir können nun an unsere Überlegungen in Abschnitt 2.8 zu praktischen Vernunftschlüssen anschließen. Ein praktischer Vernunftschluss besteht aus (i) einer allgemeinen praktischen Regel, die eine Bedingung enthält, (ii) einem Bedürfnis, das diese Bedingung erfüllt, und (iii) einer Handlungsentscheidung, die unter der Leitung der Regel (i) das Bedürfnis (ii) erfüllen soll. Es ist zu beachten, dass der Begriff der Bedingung hier mehrdeutig verwendet wird. Die Handlung steht unter der normativen Bedingung B1 der praktischen Regel, aber nur unter der Bedingung B2 , dass diese das Bedürfnis erfüllt. B2 kann dabei durchaus eine notwendige Bedingung formulieren (‚Wer Brot haben will, benötigt eine Mühle.‘). Aber B1 , also die normative Bedingung, unter der die Handlung steht, ist immer hinreichend. Denn es handelt sich um einen praktischen Vernunftschluss, der tatsächlich zu der Handlung führt. Wir können somit sagen, dass, bei dem Beispiel bleibend, das

notwendige Bedingung für die Wirkung sein, wenn wir Überdeterminierung in Betracht ziehen. Vgl. auch Willaschek (2008) zu den Schwierigkeiten, die übliche Unterscheidung von ‚notwendig‘ und ‚hinreichend‘ auf Kants Verwendung des Bedingungsbegriffs zu übertragen. 30 Vgl. Fußnote 21 in Abschnitt 2.3, S. 46.

4.3 Bedingungen im praktischen Vernunftgebrauch |

123

Bedürfnis nach Brot und die Regel, dass für die Brotherstellung eine Mühle benötigt wird, zusammen eine hinreichende Bedingung für die Entscheidung bilden, sich eine Mühle zu beschaffen.³¹ Hinreichend natürlich nicht in dem Sinne, dass es nicht auch gute Gründe geben könnte, sich keine Mühle zu beschaffen, sondern hinreichend in dem Sinne, dass es sich um einen praktischen Vernunftschluss, also eine Entscheidung handelt und die Überlegungen, die dazu geführt haben hinreichend gewesen sein müssen, sonst wäre die Entscheidung nicht getroffen worden. Zugleich ist es aber keine notwendige Bedingung, denn der Handlungsentschluss hätte auch durch einen anderen Vernunftschluss zustande kommen können.³² Das Sollen oder die normative Abhängigkeit, die so entsteht, ist jedoch in einem schwachen Sinne zu verstehen, oder mit Kants Worten, es ist nur eine „Anrathun[g]“ und kein „Gebo[t]“ (GMS 418). Denn wir wissen weder, ob die Handlung tatsächlich zur Bedürfnisbefriedigung führt, noch, ob das Bedürfnis tatsächlich noch besteht, wenn der Zeitpunkt seiner vermeintlichen Befriedigung gekommen ist.³³ Nehmen wir aber hinzu, dass jeder praktische Vernunftschluss unter der allgemeinen Regel des kategorischen Imperativs stehen soll, die wiederum nicht durch ein zu befriedigendes Bedürfnis eingeschränkt ist, so geht es um eine normative Abhängigkeit in einem starken Sinn. Es handelt sich dann nicht mehr um einen Ratschlag, sondern um eine verbindliche Forderung, ein moralisches Gebot.³⁴ Wir können zusammenfassen, dass eine Bedingung im praktischen Vernunftgebrauch eine normative Abhängigkeit zwischen einem Gegenstand praktischer Vernunft G und einer praktischen Regel R bedeutet. Vergleichbar mit der Naturkausalität ist R eine hinreichende, aber keine notwendige Bedingung für G. Watkins beschreibt einen weiteren Aspekt des Bedingungsverhältnisses wie folgt: Aus einem Verständnis der Bedingung können wesentliche Eigenschaften des Bedingten abgeleitet werden. Die Bedingung hat also einen erklärenden Charakter

31 Bedingungen wie B2 sind gemeint, wenn Kant von „pathologischen, mithin dem Willen zufällig anklebenden Bedingungen“ (KpV 20) spricht. Wenn Kant sagt, dass „reine praktische Vernunft zu dem praktisch Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht) ebenfalls das Unbedingte [sucht]“ (KpV 108), so ist das ‚praktisch Bedingte‘ durch eine normative Bedingung wie B1 bedingt; B2 wird durch die Formulierung „was auf Neigungen und Naturbedürfniß beruht“ indirekt referenziert. 32 Vgl. Kants Beispiel des Kaufmanns, dessen Entscheidung, auch unerfahrene Käufer nicht zu überteuern, aus Pflicht oder zum eigenen Vorteil entstanden sein könnten (GMS 397). 33 Vgl. zu diesem Thema ausführlich Abschnitt 5.5, S. 151. 34 Vgl. dazu auch die Unterscheidung zwischen ‚mittelbar gut‘ und ‚unbedingt gut‘ in Abschnitt 2.5, S. 55.

124 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

in Bezug auf das Bedingte.³⁵ Schauen wir auf den praktischen Vernunftgebrauch, können wir dort etwas Vergleichbares finden: Um zu erklären, warum etwas sein soll, müssen wir verstehen, wodurch es normativ bedingt ist. Die Bedingung, also die praktische Regel, weist auf einen Grund hin, warum so gehandelt werden soll, sowohl im empirisch-bedingten praktischen Vernunftgebrauch („Wer Brot haben will, benötigt eine Mühle“) als auch im reinen praktischen Vernunftgebrauch („Leihe kein Geld mithilfe von nicht haltbaren Versprechen“).³⁶ Asymmetrie und Transitivität sind laut Watkins zwei weitere Aspekte von Bedingungsverhältnissen im realen Vernunftgebrauch: 1. Bedingungsverhältnisse sind asymmetrisch, d.h. eine Bedingung ist nicht wiederum durch ihr Bedingtes bedingt. So kann eine Ursache zum Beispiel nicht durch ihre Wirkung verursacht sein oder ein Ganzes nicht Teil eines seiner Teile sein.³⁷ 2. Bedingungsverhältnisse sind transitiv, d.h. wenn B1 Bedingung von B2 ist und B2 Bedingung von B3 , dann ist auch B1 Bedingung von B3 . So verursacht eine Ursache indirekt auch alles, was durch ihre Wirkungen verursacht wird, und ebenso besteht ein Ganzes aus den Teilen seiner Teile.³⁸ Auch diese Aspekte lassen sich in den praktischen Vernunftgebrauch übertragen. Dies lässt sich durch Fortführung des obigen Beispiels demonstrieren. An den Handlungsentschluss ‚Ich beschaffe eine Mühle‘ könnte sich plausibel der folgende

35 „[I]f x causes y, then it makes y understandable in that one can understand that y is what it is on the basis of x being what it is. For example, the velocity and direction of the motion of one billiard ball at one moment in time (along with other factors) renders intelligible the velocity and direction of the motion of a second billiard at a later moment of time, after they have collided [...] [I]f a1 , a2 , ...a n are the proper parts of b1 , then they make it understandable why b1 is what it is. If I understand a thing’s parts, then I can also, for that reason, understand at least some of the features of the whole they compose“ (Watkins 2018b, S. 3f.). 36 Für eine vollständige Erklärung muss im empirisch-bedingten praktischen Vernunftgebrauch das zugehörige Bedürfnis und im reinen praktischen Vernunftgebrauch der kategorische Imperativ mitgedacht werden. 37 „[C]ausality is asymmetrical; if x causes y, then y does not for that reason cause y [...]. [C]omposition is, as Kant understands it, asymmetrical in that if a1 , a2 , ...a n are the proper parts of b1 , then b1 is not a proper part of a1 , a2 , ...a n “ (Watkins 2018b, S. 3f.). Watkins macht darauf aufmerksam, dass Kant auch eine kompliziertere Form der Kausalität kennt, die symmetrisch ist (Wechselwirkung). Wir werden dies an dieser Stelle nicht weiter berücksichtigen. Vgl. dazu KrV B 256 und Watkins (2005, S. 217ff.). 38 „[C]ausation is transitive; if x causes y and y causes z, then x causes z [...]. [C]omposition is transitive; if (1) a1 and a2 are the proper parts of b1 , (2) a3 and a4 are the proper parts of b2 , and (3) b1 and b2 are the proper parts of c1 , then a1 , a2 , a3 , anda4 are the proper parts of c1 “ (Watkins 2018b, S. 3f.).

4.3 Bedingungen im praktischen Vernunftgebrauch |

125

Schluss anschließen: Aus dem Obersatz ‚Wer eine Mühle beschaffen will, benötigt Zahlungsmittel‘ und dem Untersatz ‚Ich will eine Mühle haben‘ folgt der Handlungsentschluss ‚Also beschaffe ich Zahlungsmittel‘. Unter der Voraussetzung, dass beide Schlüsse gültig sind, folgt auch, dass, wer Brot will, Zahlungsmittel benötigt. Damit ist auch hier Transitivität gegeben. Und es gilt nicht, dass jeder, der Zahlungsmittel beschafft, der normativen Bedingung unterliegt, eine Mühle besitzen zu müssen. Auch praktische Vernunftschlüsse sind somit asymmetrisch. Schließlich scheint laut Watkins für die genannten Beispiele (Kausalität und Komposition) zu gelten, dass die Gegenstände in Raum oder Zeit existieren müssen, damit wir die entsprechenden Bedingungsverhältnisse beschreiben können. So werden nur Gegenstände in der Zeit von anderen verursacht und ein aus Teilen bestehendes Ganzes muss notwendig in Raum oder Zeit sein.³⁹ Wenn wir dies auf den praktischen Vernunftgebrauch übertragen wollen, müssen wir Folgendes beachten: Während freilich gilt, dass wir äußerlich in der Zeit handeln und dabei häufig Änderungen im Raum verursachen, sind Gegenstände praktischer Vernunft als mögliche Wirkungen nicht in Raum und Zeit. Wenn wir nach einem einschränkenden Merkmal suchen, das für Gegenstände gelten muss, die normativen Bedingungen unterliegen können, dann muss es jenes sein, dass es mögliche Wirkungen aus Freiheit sind. Denn nur solche Wirkungen (und nicht etwa solche mit naturkausalen Ursachen) können normativen Prinzipien unterliegen.⁴⁰ Wir können die Ergebnisse dieses Vergleichs wie folgt zusammenfassen: Im praktischen Vernunftgebrauch sind Bedingungen praktische Regeln. Sie sind hinreichende, aber keine notwendigen Bedingungen. Das moralische Gesetz kann als die ‚oberste‘ Bedingung gelten, da sie selbst unbedingt ist (nicht von sinnlichen Bedürfnissen abhängt). Tatsächlich bezeichnet Kant das moralische Gesetz an einigen Stellen als oberste Bedingung der praktischen Vernunft.⁴¹ Darüber hinaus

39 „[A]t the level of appearances, it is, on Kant’s view, only because an event is temporally determinate that it must be conditioned in such a way that it must have a cause. For Kant seems to accept as a basic fact that it is the temporal determinacy of an event that entails that it needs a cause to serve as its condition since the cause must be invoked to explain why the event happens when it does [...]. [I]t is, on Kant’s view, only because an object is determinately extended in space or time that it must be conditioned in such a way that it must be composed of parts. For Kant seems to accept as a basic fact that it is the determinate spatial or temporal extent of a thing that entails that it must have parts to serve as its conditions since the parts must explain why the thing is extended spatially or temporally in the determinate way that it is“ (Watkins 2018b, S. 4). 40 Vgl. dazu auch Kants These, dass Freiheit die „ratio essendi“ des moralischen Gesetzes sei (KpV 4 Anm.). 41 Vgl.: „Wir haben im vorigen Hauptstücke gesehen: daß alles, was sich als Object des Willens vor dem moralischen Gesetze darbietet, von den Bestimmungsgründen des Willens unter dem Namen des unbedingt Guten durch dieses Gesetz selbst, als die oberste Bedingung der praktischen

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erscheint es plausibel, Stellen, an denen Kant die bloße Form des Gesetzes⁴² bzw. die Beurteilung nach dem moralischen Gesetz⁴³ als die oberste Bedingung praktischer Rationalität bezeichnet, als dazu inhaltlich äquivalent anzusehen. Ähnliches gilt auch für den guten Willen, denn schließlich ist er das Vermögen, nach dem moralischen Gesetz zu handeln.⁴⁴ Von hier aus können wir noch einen Schritt weiter gehen. In Abschnitt 4.2 haben wir gesehen, dass Sittlichkeit bedeutet, seine Handlungen durch das moralische Gesetz bestimmen zu lassen. Mit anderen Worten, wer sittlich handelt, nimmt das moralische Gesetz in den Obersatz seiner praktischen Vernunftschlüsse auf. So betrachtet können Sätze wie ‚Glückseligkeit ist durch Sittlichkeit bedingt‘ als Kurzform dafür aufgefasst werden, dass unsere Handlungen zur Beförderung unserer Glückseligkeit durch das moralische Gesetz bestimmt sein müssen. Wenn nun aber Tugend einfach nur die Eigenschaften beschreibt, die ein Mensch entwickeln muss, um als endliches, sinnliches Wesen sittlich sein zu können, so können wir den Gedankengang auch darauf übertragen. Es ist also grundsätzlich richtig, dass Tugend eine einschränkende Bedingung für Glückseligkeit ist, insofern unmoralische Handlungen zum Zwecke der eigenen Glückseligkeit im höchsten Gut ausgeschlossen sind. Sie ist aber nicht nur eine einschränkende Bedingung. Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, nötigt uns das moralische Gesetz, unser ursprüngliches Streben nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach

Vernunft, ausgeschlossen werde, und daß die bloße praktische Form, die in der Tauglichkeit der Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung besteht, zuerst das, was an sich und schlechterdings gut ist, bestimme und die Maxime eines reinen Willens gründe, der allein in aller Absicht gut ist“ (KpV 74; H.v.m.). Vgl. auch: „[I]m Begriffe des höchsten Guts [ist] das moralische Gesetz als oberste Bedingung schon mit eingeschlossen“ (KpV 109; H.v.m.). Vgl. weiterhin: „Folglich ist der Mensch (auch der beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte“ (RGV 36). 42 Vgl. KpV 31, 64. 43 Vgl.: „Er bedarf also freilich nach dieser einmal mit ihm getroffenen Naturanstalt Vernunft, um sein Wohl und Weh jederzeit in Betrachtung zu ziehen, aber er hat sie überdem noch zu einem höheren Behuf, nämlich auch das, was an sich gut oder böse ist, und worüber reine, sinnlich gar nicht interessirte Vernunft nur allein urtheilen kann, nicht allein mit in Überlegung zu nehmen, sondern diese Beurtheilung von jener gänzlich zu unterscheiden und sie zur obersten Bedingung der letzteren zu machen“ (KpV 62). 44 Vgl. GMS 393 und KpV 62.

4.3 Bedingungen im praktischen Vernunftgebrauch |

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allgemeiner Glückseligkeit zu transformieren. Tugend bedingt also Glückseligkeit nicht nur durch Ausschluss bzw. Erlaubnis von Handlungen, sondern gibt dem Angestrebten eine neue Form. Es ist zu beachten, dass Tugend nur in diesem ganz bestimmten – normativen – Sinn Glückseligkeit bedingt und selbst unbedingt ist. Die Materie unseres Wollens ist maßgeblich durch unsere Neigungen bedingt und die Resultate unserer Handlungen sind bedingt durch die jeweiligen äußeren Umstände. Tugend ist unbedingt, insofern sie normativ von nichts der Vernunft Äußerem abhängt. Dies ist allerdings nur möglich, weil sie das moralische Gesetz begrifflich schon mit einschließt. Insofern können wir sagen, dass der Begriff der Tugend konzeptuell von dem des moralischen Gesetzes abhängt. Das Bedingte im praktischen Vernunftgebrauch ist ein Gegenstand praktischer Vernunft. Das passt gut mit den Passagen zusammen, in denen Kant die Bewerbung um Glückseligkeit als das Bedingte bezeichnet und nicht Glückseligkeit selbst.⁴⁵ Nun ist aber für Kant nicht nur die ‚Bewerbung um Glückseligkeit‘ bedingt. Auch Glückseligkeit selbst, verstanden als etwas, das eine Person „besitzt“, „setzt jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung vorau[s]“ (KpV 111).⁴⁶ Allerdings gibt uns das oberste Prinzip der Moral, der kategorische Imperativ, prima facie kein Mittel an die Hand, ein moralisches Urteil darüber zu fällen, ob und inwiefern eine Person Glückseligkeit besitzen oder erfahren darf. Außerdem ist zu klären, was es damit auf sich hat, dass gesetzmäßiges Verhalten zur Bedingung erklärt wird. Denn Gesetzmäßigkeit kann bei Kant sowohl Handeln aus Pflicht im Gegensatz zu bloß pflichtmäßigem Handeln bedeuten⁴⁷, aber auch allgemeiner den Gegensatz von systematisch zu kontingent meinen.⁴⁸ Schließlich deutet das „jederzeit“ daraufhin, dass es sich hier um eine notwendige und keine hinreichende Bedingung handelt. Aus allen drei Gründen ist das eine bemerkenswerte Aussage Kants, deren Inhalt von der moralischen Bedingtheit von Handlungen unterschieden werden sollte. Um eine mögliche Erklärung für diese Aussage Kants anbieten zu können, müssen wir etwas vorwegnehmen, was wir im nächsten Kapitel ausführlicher besprechen werden: Kant konstruiert in der zitierten Passage das höchste Gut „einer möglichen Welt“ dadurch, sich in einem Gedankenexperiment eine Welt zu denken, in der jede Person vollkommen sittlich wäre und dabei alle Gewalt

45 Vgl. KpV 110, 111, 119. 46 Vgl. ähnlich: „Man kann jetzt leicht einsehen, daß alle Würdigkeit auf das sittliche Verhalten ankomme, weil dieses im Begriffe des höchsten Guts die Bedingung des übrigen (was zum Zustande gehört), nämlich des Antheils an Glückseligkeit, ausmacht“ (KpV 130). 47 Vgl. GMS 390, KpV 33, KU 327, RGV 36. 48 Vgl. KpV 45, KU 452, Idee 18.

128 | 4 Tugend als erstes Element des höchsten Guts

hätte, ihre Zwecke zu realisieren (KpV 110). Da moralisch gute Personen mit jeder ihrer Handlungen allgemeine Glückseligkeit als übergeordnetem Zweck anstreben, gäbe es in einer solchen Welt ein Maximum an allgemeiner Glückseligkeit in einem bestimmten Sinne: jede Handlung würde allgemeine Glückseligkeit anstreben und jede Handlung wäre erfolgreich. Diese Glückseligkeit wäre nicht nur durch Moralität bedingt, insofern die zu ihr führenden Handlungen moralischen Willensbestimmungen entsprungen sein müssen. Darüber hinaus wäre ihre Existenz direkt durch das moralische Verhalten der Bevölkerung dieser Welt verursacht. Weiterhin haben wir es hier auch mit einer bestimmten Art von Glückseligkeit zu tun, nämlich einer solchen, die wesentlich auf gegenseitiger Fürsorge und der Idee aufbaut, die Interessen aller gleichberechtigt zu berücksichtigen. Für eine solche Glückseligkeit ist Moralität eine notwendige Bedingung, denn ohne Moralität wäre sie nicht möglich.⁴⁹ Wir können unser Ergebnis wie folgt zusammenfassen: Wenn im Konzept des höchsten Guts – und im praktischen Vernunftgebrauch überhaupt – von Bedingungen die Rede ist, so ist in erster Linie gemeint, dass Handlungen durch praktische Regeln normativ bedingt sind; und im Falle von moralischen Handlungen, vom moralischen Gesetz. Tugend bedingt demnach Glückseligkeit, insofern die Handlungen zum Zwecke der Glückseligkeit durch das moralische Gesetz bestimmt sein müssen. Kant unterscheidet diese Begriffsverwendung aber nicht explizit von anderen Bedeutungen, die hier ebenfalls eine Rolle spielen: So könnte man argumentieren, dass Kant unter dem Begriff der Tugend die charakterlichen Eigenschaften zusammenfasst, die Voraussetzung dafür sind, das egoistische Streben nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit zu transformieren. Das würde dem Satz, ‚Tugend bedingt Glückseligkeit‘ eine andere, wenngleich mit der zuvor genannten Interpretation vereinbare Bedeutung geben. Schließlich hängt die Realisierung einer solchen allgemeinen Glückseligkeit davon ab, dass eine solche Transformation umfassend und beständig stattfindet. Dies ergäbe eine dritte Bedeutung des Satzes ‚Tugend bedingt Glückseligkeit‘. Aufgrund der unzureichenden Textlage können wir nur spekulieren, ob und inwieweit diese weiteren Konnotationen des Bedingungsbegriffs für Kant inhaltlich tatsächlich eine Rolle spielen. Wir können aber festhalten, dass sie mit der hier entwickelten Interpretation von Kants Konzept des höchsten Guts konsistent sind und als plausible Ergänzungen gelten können.

49 Vgl. zu jenem Gedankenexperiment ausführlich Abschnitt 5.8, S. 161.

5 Glückseligkeit als zweites Element des höchsten Guts Laut der zweiten Kritik ist Tugend allein das „oberste“, aber nicht das „ganze und vollendete“ und damit im eigentlichen Sinne das höchste Gut, „denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert“ (KpV 110). Das ist insofern überraschend, als Kant in der GMS und vor allem in der Analytik der KpV betont, die Prinzipien der Moral und der Glückseligkeit seien einander entgegengesetzt (vgl. z. B. GMS 405 und KpV 35–37). Wenn aber das höchste Gut der notwendige Gegenstand eines moralischen Willens ist, müssen wir fragen, woher diese Erfordernis kommt.¹ Dementsprechend geht es in diesem Kapitel um Kants Argument für die Notwendigkeit der Aufnahme von Glückseligkeit in das höchste Gut. Nun widerspricht zwar die Aussage, dass wir auf Basis des menschlichen Glücksstrebens keine moralischen Prinzipien entwickeln können, nicht direkt der These, Glückseligkeit sei als notwendiger Teil des höchsten Guts Zweck und Ziel moralischen Strebens. Dennoch stellt sich die Frage, was der Grund für diese Aufwertung ist. Zwar ist Glückseligkeit nicht „für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut [...], sondern [setzt] jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung vorau[s]“ (KpV 111). Jedoch sind Tugend und Glückseligkeit gleichermaßen notwendig: Weder das eine noch das andere kann allein

1 Eine Antwort auf diese Frage ist auch notwendig, um Kant gegen die Kritik zu verteidigen, empirisch bedingte Glückseligkeit könne nicht Teil des höchsten Guts sein, da das mit Kants reiner Moralphilosophie nicht vereinbar sei: „Es ist bedauerlich, wie sehr Kant hier den Prinzipien seiner Moral untreu wird, wie er, der so sehr auf strengste Reinheit der Grundsätze und Ausscheidung alles Empirisch-Materiellen gedrungen hatte, den ganzen Glückseligkeitsschwindel doch schliesslich wieder zum Hinterpförtchen hereinlässt“ (Adickes 1897, S. 396). Vgl. auch Schopenhauer (1938, S. 124). Auch Cohens Zurückweisung von Kants Konzept des höchsten Guts ist seinem Unverständnis für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut geschuldet. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen (Cohen 1877, S. 307–328): (i) Bei Kant gibt es schon ein höchstes Gut, nämlich autonome Wesen unter moralischen Gesetzen. Cohen kann sich dabei auf Stellen stützen, an denen Kant das selbst sagt, z. B. KU 444. Ein höchstes Gut, das außer Tugend noch Glückseligkeit beinhaltet, fügt (ii) der Ethik nicht nur nichts hinzu und macht deren bestehenden Anweisungen auch nicht präziser, sondern (iii) schwächt sogar das moralische Gesetz, indem unterstellt wird, dass ohne Aussicht auf Glückseligkeit keine moralische Welt zu haben sei. „Es ist demnach nur Behauptung und Festhaltung von Kants Grundgedanken, wenn ich hier die Ablehnung des ganzen Gedankens vom höchsten Gut als Consequenz der Kantischen Ethik vertrete“ (Cohen 1877, S. 312). In diesem Sinne hat Beck (1960, S. 242ff.) in Bezug auf Glückseligkeit vor der Aufnahme von „non-moral goods“ in das höchste Gut gewarnt. https://doi.org/10.1515/9783110599763-006

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als das höchste Gut gelten.² Auch stellt sich die Frage, wie Kant mit folgendem Spannungsverhältnis umgeht: Zur Tugend gehört wesentlich, auch gegen die eigenen Neigungen zu handeln, sollten sie den Forderungen des moralischen Gesetzes widersprechen (vgl. z. B. KpV 84). Glückseligkeit ist bei Kant jedoch häufig durch die möglichst umfassende Befriedigung ebendieser Neigungen definiert. Die Festsetzung, dass im Konfliktfall immer moralisch zu handeln ist, löst das Problem zwar insofern, als immer eine eindeutige Handlungsvorschrift gegeben ist. Wir müssen jedoch fragen, welche Glückseligkeit dem Tugendhaften noch bleibt, wenn sie im Zweifelsfall immer zur Disposition steht. Schließlich deutet vieles (z. B. die Pflicht zur Beförderung des höchsten Gutes, KpV 125) daraufhin, dass im Kontext des höchsten Gutes die Beförderung von Glückseligkeit ein genuin moralisches Interesse ist.³ Kant argumentiert für die Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut in der zweiten Kritik wie folgt: Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen (KpV 110).

Auf den ersten Blick bieten sich zwei Interpretationen für diese Begründung an, die sich jedoch gleichermaßen als unbefriedigend erweisen. Erstens lassen die Formulierungen ‚vollkommenes Wollen‘ und ‚zugleich alle Gewalt‘ vermuten, bestimmte Annahmen über ein göttliches Wesen lägen dem Argument als Prämissen zugrunde. Das Argument ließe sich dann wie folgt umformulieren: Es ist nicht mit dem göttlichen Willen vereinbar, dass Tugendhafte unglücklich sind. Da jedoch erst die Konstruktion des höchsten Guts als notwendig bestehend aus Tugend und Glückseligkeit zum Gottespostulat führt, wäre das konzeptuell fragwürdig: Wir können entweder die Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut mit einem

2 Vgl. KpV 110f. Vgl. auch Moralphilosophie Collins, 27:248: „Man stelle sich vor: Wenn die Welt voll von [...] vernünftigen Geschöpfen wäre, die sich alle wohlverhielten, also der Glükseeligkeit würdig wären, und sie wären in den dürftigsten Umständen mit Kummer und Noth umgeben, denn sie hätten keine Glükseeligkeit, folglich wäre da kein höchstes Gut, und umgekehrt, wenn alle Geschöpfe von Glükseeligkeit umgeben wären, und wäre kein Wohlverhalten, keine Würdigkeit, so wäre alsdenn auch kein höchstes Gut.“ 3 Es reicht also nicht aus, zu zeigen, dass moralisch erlaubte Handlungen zum Zwecke der eigenen Glückseligkeit, die durch das Streben nach eigenem Wohlbefinden motiviert sind, widerspruchsfrei in eine moralisch gebotene Handlungsweise integriert werden können, wie z. B. Reath (1988) u. Beiser (2006, S. 595) es tun. Darauf haben auch Engstrom (1992) u. Kleingeld (2016, S. 39) hingewiesen.

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Postulat über die Existenz Gottes begründen oder umgekehrt das Gottespostulat mit der Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut, nicht beides zugleich. Zweitens scheint die Vermutung nicht unplausibel zu sein, Kant wolle hier an unsere Intuition appellieren: Eine Welt, in der die Tugendhaften unglücklich (oder die Bösen glücklich) sind, könne niemand wollen, weil dies nicht nur aus der Sicht des Betroffenen, sondern auch aus der Sicht eines unbeteiligten Außenstehenden abzulehnen ist, da solche Umstände gegen fundamentale Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen würden. Auch wenn andere Stellen diesen Verdacht verstärken⁴, sollten wir uns mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben. Denn Kant misst zwar dem gemeinen Menschenverstand einen hohen Stellenwert bei, jedoch ist sein Ziel, dessen moralische Urteile rational zu rekonstruieren (vgl. z. B. GMS 404f.). Selbst wenn wir also intuitiv zustimmen, dass eine Welt, in der die Tugendhaften unglücklich sind, nicht die beste Welt, nicht das höchste Gut sein kann, stellt sich die Frage, warum dieser Standpunkt auf Basis der kantischen Vernunftphilosophie zwingend ist. Ich möchte in diesem Kapitel eine Lösung für diese Frage anbieten, die auf dem Verständnis des kategorischen Imperativs basiert, das im ersten Kapitel dieser Arbeit entwickelt wurde. Dort habe ich die These vertreten, dass jede moralisch gute Handlung allgemeine Glückseligkeit als übergeordneten Zweck anstrebt. Eine Person gilt aber nicht erst dann als tugendhaft, wenn sie dieses Ziel tatsächlich erreicht, da der moralische Wert ihrer Handlungen nicht von deren Wirkungen, sondern von den Maximen der Person abhängen. Es sind also durchaus tugendhafte Personen vorstellbar, die durch ihre Handlungen weit weniger Glückseligkeit bewirken als sie beabsichtigen (oder im Extremfall keine), weil zum Beispiel unvorhersehbare Naturereignisse einen entsprechenden Einfluss auf das Geschehen nehmen. Meiner Lösungsidee zufolge schlägt Kant in dem oben genannten Argument ein Gedankenexperiment vor, in dem wir uns einen tugendhaften Menschen vorstellen („vollkommene[s] Wollen“), der seine Absichten auf allgemeine Glückseligkeit tatsächlich erfolgreich realisieren kann („zugleich alle Gewalt“). Im ersten Kapitel habe ich weiterhin argumentiert, dass die allgemeine Glückseligkeit, die eine tugendhafte Person anstrebt, notwendig ihre eigene Glückseligkeit mit einschließt. Es wäre demnach tatsächlich ausgeschlossen, dass eine tugendhafte Person, die

4 Vgl. z. B.: „Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflectiren anfingen [...], mußte sich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewaltthätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe. Es ist: als ob sie in sich eine Stimme wahrnähmen, es müsse anders zugehen“ (KU 458). Vgl. auch Misslingen 260 Anm.

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ihre Absichten erfolgreich realisieren kann, der Glückseligkeit „nicht theilhaftig“ wird. Somit beschreibt Kant mit dem höchsten Gut das ideale Resultat moralischen Handelns. Bevor wir uns diese Lösungsidee näher ansehen, soll zuvor auf einer grundsätzlicheren Ebene geklärt werden, was Kant unter dem Begriff der Glückseligkeit überhaupt versteht. So scheint zum Beispiel die These, dass das Streben nach eigener Glückseligkeit unvermeidbar ist, eine wichtige Rolle für das Argument für die Notwendigkeit von Glückseligkeit im höchsten Gut zu spielen („Denn der Glückseligkeit bedürftig [...]“, KpV 110). Wir müssen uns also damit beschäftigen, warum es (sogar für einen Menschen mit der größtmöglichen Tugend) unmöglich ist, sich des eigenen Glücksstrebens ganz zu enthalten. Weiterhin stellt sich die Frage, ob und wie Kant das Spannungsverhältnis zwischen Neigungen als Konstituenten von Glückseligkeit einerseits und als Kontrahenten zu moralischen Handlungsmotiven andererseits im Konzept des höchsten Guts aufzulösen vermag. Aus diesem Grund ist der weitere Verlauf des Kapitels wie folgt strukturiert: Zunächst werde ich einen Überblick über Kants Konzept der Glückseligkeit geben (Abschnitt 1) und anschließend auf ausgewählte Aspekte näher eingehen (Abschnitte 2–7). Das Argument für die Notwendigkeit von Glückseligkeit im höchsten Gut wird in Abschnitt 8 ausführlich behandelt.

5.1 Kants Konzept der Glückseligkeit – ein Überblick Kant hat sein Konzept der Glückseligkeit in keiner veröffentlichten Schrift ausführlich und zusammenhängend entwickelt. Das Verständnis dieses Konzepts wird weiterhin dadurch erschwert, dass Kant in den Passagen, in denen er es verwendet, häufig formelhafte Definitionen benutzt, die oft nicht länger sind als ein Satz. Zudem variieren diese Formeln. Wir müssen uns fragen, ob Kant mit diesen Variationen (i) verschiedene Aspekte desselben Konzepts beschreibt, (ii) miteinander in Beziehung stehende aber sachlich zu trennende Begriffe von Glückseligkeit unterscheidet oder (iii), und das gilt vor allem für den Vergleich von Passagen über mehrere Werke hinweg, ob sich Kants Konzept der Glückseligkeit über die Zeit wesentlich verändert hat. Diese Fragen werden hier nicht erschöpfend bearbeitet werden können. Ich werde jedoch im Folgenden Antworten auf diese Fragen skizzieren und dabei schwerpunktmäßig auf die Aspekte des kantischen Glückseligkeitsbegriffs einge-

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hen, die für das Thema dieses Kapitels, die Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut, wichtig sind.⁵ 1. Wohlbefinden und Zufriedenheit. Häufig identifiziert Kant Glückseligkeit mit „Wohlbefinden“ oder gebraucht diese Ausdrücke synonym (vgl. z. B. GMS 393, 395; KpV 28, 61, 156; KU 449; Anth 234f.; Idee 20). Auch gebräuchlich sind Ausdrücke wie „Zufriedenheit“ (KpV 127; Anth 234f.), „Zufriedenheit des Lebens“ (GMS 396), „Zufriedenheit mit seinem Zustande“ (GMS 393, 399; KpV 25, 84; TL 387, 480), „Wohlsein“ (KU 442; TL 452), „Wohlfahrt“ (GMS 416f.; TL 388, 393, 482; Frieden 379) und „Wohlleben“ (Anth 277, 278; TL 428). Zwar lassen sich Stellen finden, an denen Kant zwischen diesen Ausdrücken differenziert⁶, doch an anderen Stellen werden diese Differenzierungen wieder verwischt.⁷ Meines Erachtens lässt sich diese terminologische Ungenauigkeit so erklären: Es gibt zwar einen Unterschied zwischen Vergnügtheit und Zufriedenheit. Wenn wir jedoch von einem Maximum an Glückseligkeit ausgehen, dann sind diese Unterschiede nicht relevant. Denn wenn ich irgendeinen Mangel empfinde (sei es an Vergnügtheit, Zufriedenheit, oder wie immer ich meinen Zustand auch beschreiben mag), bin ich nicht vollständig glücklich. Dementsprechend sind in Kants Moralphilosophie a priori keine relevanten Bedeutungsunterschiede dieser Ausdrücke auszumachen, da diese an empirisch bedingten Nuancen von Glückseligkeit nicht interessiert ist.⁸

5 Kants Glückseligkeitsbegriff scheint stark von Christian August Crusius beeinflusst zu sein, da Kant sowohl viele Überzeugungen von Crusius teilt, als auch die Positionen des letzteren, die er ablehnt, explizit bespricht und die Ablehnung begründet. So finden wir sowohl bei Kant als auch in der Schrift Anweisung vernünftig zu leben von Crusius die Überzeugung, dass Glückseligkeit in diesem Leben nicht erreicht werden kann (Crusius 1767, §292), dass Zufriedenheit eine Freiheit von Schmerz bedeutet (§293), dass der Mensch ohne Schmerz und unbefriedigte Neigungen ohne Antrieb ist (§293) und das Glückseligkeit nur gut unter der Bedingung der Tugend sei (§294). Die Ansichten von Crusius, dass Tugend allein das höchste Gut sei (§295), und es eine sinnvolle Aufteilung von Gütern der Glückseligkeit in vermeintlich edle und unedle gäbe (§296) lehnt Kant hingegen begründet ab. 6 Vgl. z. B. „Alle Begierden des Menschen sind entweder formal (Freiheit und Vermögen), oder material (auf ein Object bezogen), Begierden des Wahnes oder des Genusses, oder endlich sie beziehen sich auf die bloße Fortdauer von beiden, als Elemente der Glückseligkeit. Begierden der ersten Art sind Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht; die der zweiten Genuß des Geschlechtes (Wollust), der Sache (Wohlleben), oder der Gesellschaft (Geschmack an Unterhaltung). Begierden der dritten Art endlich sind Liebe zum Leben, zur Gesundheit, zur Gemächlichkeit (in der Zukunft, Sorgenfreiheit)“ (Pädagogik 492; H.v.m.). 7 Vgl. z. B.: „Glückseligkeit (das beständige Wohlergehen, vergnügtes Leben, völlige Zufriedenheit mit seinem Zustande)“ (TL 480). 8 Vgl. für eine ähnliche Einschätzung Wood (2000, S. 266f.).

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Durch etwas längere Explikationen des Glückseligkeitsbegriffs, wie „die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein“ (KpV 25) oder „Zufriedenheit mit [unserer ganzen Existenz]“ (KpV 61), wird klar, dass Kant keine kurzfristige, sondern eine dauerhafte und vollständige Zufriedenheit meint. Dies wird besonders deutlich, wenn er Glückseligkeit als „das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet“ bezeichnet (KpV 22).⁹ Zu beachten ist jedoch, dass Kant den Ausdruck ‚Glückseligkeit‘ zwar häufig, aber nicht ausschließlich verwendet, um das Maximum zu beschreiben. Denn er benutzt ihn auch in Verbindung mit Komparativ- und Superlativformen.¹⁰ Es ist also anhand des jeweiligen Kontextes zu entscheiden, ob von einer ideellen Maximalgröße oder von einer unter bestimmten Bedingungen größtmöglichen Glückseligkeit die Rede ist. Ich betrachte die genannten Formeln als die grundlegenden Charakterisierungen des kantischen Glückseligkeitsbegriffs. Glückseligkeit besteht nach Kant somit aus einer vollständigen Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, einer Bewertung des eigenen Zustandes als angenehm, ohne genauer zu bestimmen, wie dieser zustande kommt (z. B. Schmerzvermeidung, Wunscherfüllung, Handlungserfolg, Lustbefriedigung, Wohlstands- oder Gesundheitserhaltung, moralische Selbstzufriedenheit usw.). Kant stellt den oben genannten Termini das ‚Wohlverhalten‘ gegenüber, und grenzt damit die beiden fundamentalen Maßstäbe ab, die unser praktisches Leben leiten: moralisch gut zu handeln und glücklich zu werden.¹¹ In dem einen Fall beurteilt der Handelnde den „Werth seiner Person“, in dem anderen den „Werth seines Zustandes“ (KpV 60).¹² Kant teilt also unsere praktischen Wertmaßstabe dichotonomisch ein: Alles, was ich praktisch positiv beurteile, wofür ich mich entscheide, zielt entweder auf mein Wohlverhalten oder auf mein Wohlbefinden. Mit dieser Terminologie ist aber noch nicht festgelegt, worin dieser Wert jeweils genau besteht und was wir daran schätzen. 2. A priori oder a posteriori. Ein Unterschied zwischen den beiden grundlegenden praktischen Maßstäben Wohlverhalten und Wohlbefinden ist, dass nur

9 Vgl.: „Glükseeligkeit ist das Bewustseyn einer immer währenden Zufriedenheit mit seinem Zustande“ (R 7311, 19:309). 10 Vgl. z. B. „größere Glückseligkeit“ (KpV 126) und „größte Glückseligkeit“ (KpV 129, Denken 137), auch KrV A 316/B 373. 11 Vgl. z. B. die frühe Reflexion 691, 15:307 (von Adickes datiert auf 1769–70), KrV A 813/B 841; GMS 442; KpV 61; TL 460; Anth 234f.; vgl. auch Moral Mrongovius II, 29:601. 12 Vgl. auch Moral Mrongovius II, 29:602: „Das Wohlverhalten macht den Werth einer Person, das Wohlbefinden den Werth eines Zustandes aus.“

5.1 Kants Konzept der Glückseligkeit – ein Überblick |

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durch Erfahrung bestimmt werden kann, was glücklich macht.¹³ Diese Unterscheidung hängt eng mit der Dichotomie der Willensbestimmung zusammen, die wir in den Kapiteln 2 und 3 betrachtet haben: Bei dem, was ich lustbasierte Willensbestimmung genannt habe, geht eine Lust an einem Gegenstand dem Begehren notwendig voraus. Für dieses Begehren ist also Erfahrung darin notwendig, was mir Lust verschafft. Hierbei ist auf eine Feinheit zu achten: Dass nur durch Erfahrung bestimmt werden kann, was glücklich macht, bedeutet nicht, dass uns erst durch konkrete angenehme Einzelerfahrungen bewusst wird, dass wir überhaupt glücklich werden wollen.¹⁴ Demgegenüber bedeutet die Unabhängigkeit der Moralität von Erfahrung nicht, dass durch den kategorischen Imperativ allein moralische Handlungen festgelegt werden können. Dazu sind auch materiale Maximen erforderlich, die dem Verfahren des kategorischen Imperativs unterworfen werden. Und diese sind wiederum erfahrungsabhängig. Worin besteht also genau der Unterschied? In der Moral steht uns ein apriorisches Prinzip zur Verfügung, mit dem wir in einer gegebenen Situation entscheiden können, welche Handlung moralisch gut wäre. Die Prinzipien, die uns unser Glücksstreben zur Verfügung stellt, können aber immer nur Schätzungen, Heuristiken sein, die wir aus unseren subjektiven Erfahrungen ableiten.¹⁵

13 „[A]lle Elemente, die zum Begriff der Glückseligkeit gehören, [sind] insgesammt empirisch [...], d. i. [sie müssen] aus der Erfahrung [...] entlehnt werden“ (GMS 418). Die Erkenntnis der Glückseligkeit beruht „auf lauter Erfahrungsdatis“ (KpV 36). Kant identifiziert Glückseligkeit auch mit „Erfahrungsfolgen“ (KpV 70). Vgl. auch: „Nur die Erfahrung kann lehren, was uns Freude bringe. Die natürlichen Triebe zur Nahrung, zum Geschlecht, zur Ruhe, zur Bewegung und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) die Triebe zur Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntniß u. d. gl., können allein und einem jeden nur auf seine besondere Art zu erkennen geben, worin er jene Freuden zu setzen, ebendieselbe kann ihm auch die Mittel lehren, wodurch er sie zu suchen habe“ (MS 215). Vgl. auch R 610, 15:261: „Glückseeligkeit oder Elend haben nur ihre Bedeutung in Ansehung des Individuum, was den Zustand jenem Begriffe gemäs findet, der sich beständig verändern laesst.“ 14 Vgl. „One could not think to oneself: It wasn’t until it became clear to me that happiness, for me, lies in music (or in being with my family, or in commerce, etc.) that I came to care about happiness at all“ Engstrom (2009, S. 91). 15 „Alles scheinbare Vernünfteln a priori ist hier im Grunde nichts, als durch Induction zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung, welche Allgemeinheit (secundum principia generalia, non universalia) noch dazu so kümmerlich ist, daß man einem jeden unendlich viel Ausnahmen erlauben muß, um jene Wahl seiner Lebensweise seiner besondern Neigung und seiner Empfänglichkeit für die Vergnügen anzupassen und am Ende doch nur durch seinen oder anderer ihren Schaden klug zu werden“ (MS 215f.)

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3. Glück und Glückseligkeit. ‚Glückseligkeit‘ als Wohlbefinden oder Zufriedenheit ist von ‚Glück‘ als einem zufälligen positiven Ereignis zu unterscheiden. Bezüglich des ‚Glücks‘ entspricht somit Kants Wortwahl unserem heutigen Sprachgebrauch.¹⁶ Kant selbst ist jedoch nicht immer eindeutig und verwendet vereinzelt den Ausdruck ‚Glück‘, wenn er eigentlich ‚Glückseligkeit‘ meint.¹⁷ Unsere Glückseligkeit wird von unserem Glück bestimmt, insofern sie von der uns umgebenden Natur abhängt, die wir nicht vollständig kontrollieren können.¹⁸ Dieser Zusammenhang ist für die vorliegende Untersuchung nicht unwichtig, da es im höchsten Gut darum geht, einen notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit zu erreichen. Solange unsere Glückseligkeit von zufälligen Ereignissen abhängt, ist dieses Ziel nicht erreicht. Eine Disziplinierung der Wünsche und Neigungen und damit auch eine gewisse Emanzipierung des eigenen Gemütszustandes von Naturursachen hält Kant zwar aus moralischen Gründen für erforderlich. Er hält es aber für unmöglich, dass wir uns völlig davon lösen können und lehnt auch die Neigungsdisziplinierung als Selbstzweck, um auf diesem Wege Glückseligkeit im Sinne einer Seligkeit zu erreichen, ab.¹⁹ 4. Intellektuelle und empirische Glückseligkeit. In der Forschungsliteratur zu Kants Konzept der Glückseligkeit wird manchmal eine ‚intellektuelle‘ oder ‚moralische‘ Glückseligkeit beschrieben und sogar vereinzelt als die ‚eigentli-

16 Vgl. dagegen die Unterscheidung Wolffs zwischen ‚Glück‘ als einem intensiven, kurzfristigen Vergnügen und ‚Glückseligkeit‘ als einer Gemütsruhe, die durch die langfristige Beherrschung der eigenen Begierden erreicht wird (Wolff 2006, S. 42f.). Bei Kant findet sich letztere Bedeutung eher unter dem Begriff der Selbstzufriedenheit wieder (s. u.). 17 Vgl. z. B. „Sobald die Menschen über Recht und Unrecht zu reflectiren anfingen, in einer Zeit, wo sie über die Zweckmäßigkeit der Natur noch gleichgültig wegsahen, sie nützten, ohne sich dabei etwas Anderes als den gewohnten Lauf der Natur zu denken, mußte sich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch sich redlich oder falsch, billig oder gewaltthätig verhalten habe, wenn er gleich bis an sein Lebensende, wenigstens sichtbarlich, für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe“ (KU 458; H.v.m.). Vgl. auch TL 469. 18 „[D]as Glück des Lebens (unsere Wohlfahrt überhaupt) hängt von Umständen ab, die bei weitem nicht alle in des Menschen Gewalt sind“ (TL 482). Das Zitat ist zugleich ein weiteres Beispiel für Kants schon erwähnten ungenauen Terminologiegebrauch: Hier wird zwar der Ausdruck Glück im Sinne von Glückseligkeit gebraucht, gleichwohl die Stelle auf den genannten Zusammenhang zwischen Glück und Glückseligkeit hinweist. Vgl. auch die frühe Reflexion 4112, 17:420 (von Adickes datiert auf 1766–1771): „Das Glük ist ein zufalliger Erwerb des Angenehmen. Die Glükseeligkeit ist die Zufriedenheit mit dem Glük.“ 19 Vgl. unten Abschnitt Seligkeit. Vgl. auch seine Kritik an der sogenannten Mönchsasketik, TL 485 und RGV 80 Anm.

5.1 Kants Konzept der Glückseligkeit – ein Überblick |

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che‘ und ‚wahre‘ Glückseligkeit dargestellt.²⁰ Dieser Begriff der Glückseligkeit vermeidet die gerade dargestellte Abhängigkeit von Natur, glücklichen Umständen und Erfahrung. Wenn wir uns jedoch die Stellen anschauen, auf denen diese Interpretation beruht, sehen wir, dass die Bedeutung jener moralischen Glückseligkeit übertrieben wird, denn wir finden diesbezügliche Aussagen hauptsächlich in Reflexionen, nicht in veröffentlichten Schriften. In letzteren bekommt sie als Selbstzufriedenheit einen Platz zugewiesen, der nicht mit empirisch-bedingter Glückseligkeit konfligiert, aber als eigenständige Form von Glückseligkeit verworfen wird.²¹ Eine besondere Rolle für die These mancher Interpreten, Kant habe eine Theorie intellektueller oder moralischer Glückseligkeit vertreten, spielt das Lose Blatt Duisburg 6 (R 7202, 19:276–282), in dem von einer Zufriedenheit die Rede ist, die von empirischen Bedingungen unabhängig sei.²² Im Kontext der ganzen Reflexion wird aber deutlich, dass Kant nicht den Begriff einer empirisch-bedingten Glückseligkeit durch diese Zufriedenheit ersetzen will, sondern letztere als notwendige Bedingung für vollständige Glückseligkeit vorstellt. Da eine solche moralische Zufriedenheit mit Tugend notwendig einhergeht und letztere immer in unserer Macht liegt, sind wir also auch frei darin (und nicht von äußeren Umständen abhängig), einen gewissen Anteil unserer Glückseligkeit selbst herzustellen. Zudem wird dieses Konzept in den veröffentlichten Schriften aufgegriffen und weiterentwickelt, so dass der Konflikt mit Kants Thesen von der grundsätzlichen Verschiedenheit der Prinzipien von Moral und Glückseligkeit und der empirischen Bedingtheit der letzteren vollends verschwindet (vgl. Abschnitt 5.7).²³ Selbst die bescheidenere Theorie, der vorkritische Kant habe einen moralischen Glückseligkeitsbegriff vertreten,

20 Vgl. z. B. Schwemmer (1971, S. 78ff.) und Conradt (1999, S. 119ff.). 21 Vgl. z. B.: „[E]ine gewisse moralische Glückseligkeit, die nicht auf empirischen Ursachen beruhte, [ist] ein sich selbst widersprechendes Unding“ (TL 377). Vgl. auch TL 387f. 22 Vgl. z. B. „Glückseeligkeit ist eigentlich nicht die größte Summe des Vergnügens, sondern die Lust aus dem Bewustseyn seiner Selbstmacht zufrieden zu seyn“ (19:276); und „In dem Bewußtsein hat der Mensch ursach, mit sich selbst zufrieden zu seyn. Er hat die Empfanglichkeit aller Glückseeligkeit, das Vermögen auch ohne Lebens=annehmlichkeiten zufrieden zu seyn und glücklich zu machen. Dieses ist das intellectuelle der Glückseeligkeit“ (19:278). 23 In der Literatur hat die Reflexion 7202 besondere Beachtung gefunden. Wike (1994, S. 15ff.) ordnet sie ähnlich ein wie hier dargestellt, vgl. auch Guyer (2000a, S. 164ff.), Himmelmann (2003, S. 88ff.). Adickes datiert auf 1780–83 (19:276), Beck (1960, S. 215) datiert auf einen Zeitpunkt kurz nach dem Erscheinen der ersten Kritik.

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diesen aber später durch einen empirisch-bedingten ersetzt, ist nicht ohne Gegenbelege.²⁴ 5. Neigungsbefriedigung und Zweckverwirklichung. Eine andere Unterscheidung ist für Kants Konzept der Glückseligkeit in GMS, KpV und späteren Schriften ungleich wichtiger: Auf der einen Seite ist Glückseligkeit ein passiver Zustand, in dem all unsere Neigungen befriedigt sind. Wir wünschen, ihn zu erreichen, unabhängig davon, ob das durch eigenes Handeln geschieht oder nicht. Auf der anderen Seite ist Glückseligkeit ein übergeordneter Zweck unserer Handlungen. Der letztere Begriff hängt offensichtlich von ersterem ab, denn oft richten wir unsere Handlungen danach aus, was wir uns wünschen. In den Abschnitten 5.2 und 5.3 werde ich diese beiden Bedeutungen separat untersuchen.²⁵ 6. Unvermeidbarkeit und Unerreichbarkeit. Laut Kant ist es für uns unvermeidbar, nach unserer eigenen Glückseligkeit zu streben. Zugleich erscheint es unmöglich, jemals einen Zustand vollständiger Glückseligkeit erreichen zu können. Beide Thesen spielen für Kants Konzept des höchsten Guts eine große Rolle: Wäre das Glücksstreben vermeidbar, würde damit auch die Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut in Frage gestellt. Wäre Glückseligkeit ein durch menschliche Handlungen erreichbares Ziel, wäre das Argument für das Postulat der Existenz Gottes einer wichtigen Prämisse beraubt. In den Abschnitten 5.4 und 5.5 werde ich auf diese beiden Aspekte näher eingehen. 7. Allgemeine, formale Bestimmungen und die substanzielle Glückseligkeit jedes Einzelnen. Über das hinaus, was bisher dargestellt worden ist, ist schwer zu fassen, was Kant genau unter Glückseligkeit versteht, weil er sich nicht auf bestimmte inhaltliche Merkmale festlegt. Jeder entwirft sich seine konkrete Glückseligkeitsvorstellung selbst (z. B. GMS 418, KpV 25, MS 215f.).

24 „Von der blos moralischen Glükseeligkeit oder der Seeligkeit verstehen wir nichts. Wenn alle Materialien, die die sinne unserem Willen liefern, aufgehoben werden: so wo bleiben da Rechtschaffenheit, Gütigkeit, Selbstbeherschung, welche nur formen sind, um alle diese materialien in sich zu ordnen? Da wir also alle Glükseeligkeit und das wahre Gut nur in dieser Welt einsehen könen, so müssen wir glauben, wir übertreten die Grentzen unserer Vernunft, wenn er uns neue und auch höhere Art Vollkommenheit vormahlen will“ (R 6883, 19:191, Adickes datiert auf 1769–1778). 25 Diese beiden Formen von Glückseligkeit sind nicht vollständig miteinander vereinbar. Denn beide enthalten Merkmale, die in der jeweils anderem nicht enthalten sind. So kann es Teil meiner Idee von passiver Glückseligkeit zu sein, diesen Zustand gerade dadurch zu erreichen, dass ich selbst nichts dafür tun muss oder zumindest die Vorstellung beinhaltet, dass andere etwas für mich tun. Wenn ich aber unter Glückseligkeit einen Zweck verstehe, dem ich die Zwecke meiner Handlungen unterordne, dann geht es ja gerade darum, durch meine eigenen Handlungen glücklich zu werden. Kant geht auf diese Unterscheidung jedoch nicht näher ein, und wir werden sie auch in dieser Untersuchung nicht weiter beachten.

5.1 Kants Konzept der Glückseligkeit – ein Überblick |

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Selbst wenn mehrere Menschen dasselbe zu bedürfen scheinen, um glücklich zu werden, so ist eine solche Übereinstimmung doch immer kontingent und zugleich in gewisser Hinsicht eine Illusion. „Denn der Wille Aller hat alsdann nicht ein und dasselbe Object, sondern ein jeder hat das seinige (sein eigenes Wohlbefinden), welches sich zwar zufälligerweise auch mit anderer ihren Absichten, die sie gleichfalls auf sich selbst richten, vertragen kann“ (KpV 28). Kant verdeutlicht dies mit Hinweisen auf Joseph Haydns Spottgedicht Die Harmonie in der Ehe („O wundervolle Harmonie, was er will, will auch sie“) und den Kriegen zwischen Franz dem Ersten und Karl den Fünften in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts („was mein Bruder Karl haben will (Mailand), das will ich auch haben“).²⁶ Die erwähnte Illusion besteht darin, dass bei in gewisser Weise gleichen Bedürfnissen verschiedener Akteure die zur Bedürfnisbefriedigung nötigen Handlungen sich häufig gegenseitig ausschließen. Auf eine Antwort auf die grundlegende Frage, auf welchem Wege denn Glückseligkeit am besten zu erreichen sei, legt Kant sich nicht fest. So spielt zwar Neigungsbefriedigung dabei eine große Rolle, doch auch die Disziplinierung von Neigungen und der Verzicht kann langfristig zu größerem Glück beitragen. In der Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wird klar, dass für Kants Glückseligkeitskonzeption nicht nur Neigungsbefriedigung, sondern auch Schmerzvermeidung eine wichtige Rolle spielt.²⁷ Obwohl sich Kants Konzept von Glückseligkeit diesbezüglich grundsätzlich von seiner Vorstellung von Moral unterscheidet, die deswegen allgemein ist, weil wir über unsere Vernunft in gewisser Weise denselben Zugang dazu haben, ist gerade diese Konzeption von Glückseligkeit eine essentielle Voraussetzung für Kants universalen Anspruch an Moral. Denn für letzteren wäre schwer zu argumentieren, wenn er nicht zugleich Raum für individuelle Glücksvorstellungen lassen würde, und er wäre zum Beispiel kulturrelativistisch leicht angreifbar.

26 Ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig für Kant die Individualität der Glücksvorstellung des Einzelnen ist, ist seine These, dass ein gutmütiges aber paternalistisches Staatsoberhaupt der größte denkbare Despot wäre: „Eine Regierung, die auf dem Princip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung ( imperium paternale ), wo also die Unterthanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genöthigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urtheile des Staatsoberhaupts und, daß dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Unterthanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt)“ (Gemeinspruch 290f.). 27 Vgl. auch: „[V]iele streiten noch, ob die Glückseeligkeit im Erhalten oder im Erwerben besteht“ (Moralphilosophie Collins, 27:246).

140 | 5 Glückseligkeit als zweites Element des höchsten Guts

5.2 Glückseligkeit als Neigungsbefriedigung In allen drei Kritiken, in der Grundlegung und anderen Schriften identifiziert Kant Glückseligkeit mit einer möglichst umfassenden Befriedigung von Neigungen: Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive dem Grade und auch protensive der Dauer nach) (KrV A 806/B 834).²⁸

Eine Neigung ist eine „habituelle sinnliche Begierde“ (Anth 251), die „Bekanntschaft mit dem Object des Begehrens voraussetzt“ (RGV 28f. Anm.). Schauen wir uns diese Bestimmung näher an: 1. Kant unterscheidet zwischen Begierden in einem weiten und einem engen Sinn: Im weiten Sinn ist jede Ausübung des Begehrungsvermögens eine Begierde, als „die Selbstbestimmung der Kraft eines Subjects durch die Vorstellung von etwas Künftigem als einer Wirkung derselben“ (Anth 251). Im engen Sinn werden nur sinnliche Begierden darunter verstanden, also „Bestimmung[en] des Begehrungsvermögens, vor welche[n]“ eine Lust an einem Gegenstand „als Ursache nothwendig vorhergehen muß“ (MS 212).²⁹ Da Kant in Passagen, in denen er den Begriff der Neigung näher bestimmt, diese entweder explizit als sinnliche Begierde bezeichnet (vgl. Anth 251), oder aus dem Kontext deutlich wird, dass eine solche gemeint ist (vgl. MS 212; RGV 28; 23:383), können wir davon ausgehen, dass eine Neigung immer eine Begierde im engen Sinn ist und damit immer eine Lust an einem Gegenstand voraussetzt. Eine Ausnahme bildet eine Stelle in der MS, an der Kant, „um dem Sprachgebrauche gefällig zu sein“, „ein habituelles Begehren aus reinem Vernunftinteresse einräum[t]“, wobei eine intellektuelle Lust „alsdann aber nicht die Ursache, sondern die Wirkung des letztern Interesse sein würde“. Ein solches habituelles Begehren könne „sinnenfreie Neigung (propensio intellectualis)“ genannt werden (MS 213). Da Kant explizit von einem Zugeständnis an den Sprachgebrauch und zudem im Konjunktiv schreibt, ist jedoch nicht davon auszugehen, dass damit die sinnliche Bedingtheit der Neigungen, wie sie an

28 Vgl. GMS 399; GMS 405; KpV 118; KpV 146f.; KU 434 Anm.; RGV 58; R 6672, 19:6672; vgl. ähnlich: „In Absicht der Glückseligkeit glaubt endlich doch jedermann, die größte Summe (der Menge sowohl als Dauer nach) der Annehmlichkeiten des Lebens ein wahres, ja sogar das höchste Gut nennen zu können“ (KU 208). 29 Vgl. KpV 9 Anm., die eine in Bezug auf die Rolle der Lust neutrale Definition des Begehrungsvermögens gibt, die dem weiten Sinn von ‚Begierde‘ entspricht. Eine nicht-sinnliche Ausübung des Begehrungsvermögens, also eine rationale Begierde, ist eine Ausübung des Willens oder der praktischen Vernunft (vgl. Kapitel 2).

5.2 Glückseligkeit als Neigungsbefriedigung |

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anderen Stellen betont wird, in Frage gestellt wird.³⁰ Es wäre somit unplausibel, auf Basis dieser Textstelle Kant einen auf Neigungen gegründeten aber potentiell nicht sinnlich bedingten Glückseligkeitsbegriff zu unterstellen. Allgemeiner und unabhängig von dem zuletzt genannten Sonderfall können wir festhalten, dass der Sprachgebrauch („sinnlich“, „Lust“) nicht zu der Annahme verleiten sollte, Kant verstehe unter Neigungen nur solche, die ihren Ursprung in unserer Körperlichkeit haben. Auch das Lesen eines Buches zur Zerstreuung oder das Geben von Almosen aus Mitleid würde Kant als Handlungen aus Neigung bezeichnen, weil sie getan werden, um sich ein angenehmes Gefühl zu verschaffen.³¹ 2. Kant nennt eine Begierde „ohne klare Erkentnis des Obiects“ (Mrongovius, 25:1339) Instinkt, während eine Neigung „Bekanntschaft mit dem Object des Begehrens voraussetzt“ (RGV 28f. Anm.).³² Da ein Instinkt ebenfalls eine sinnliche Begierde ist, und damit die Lust an einem Gegenstand voraussetzt, müssen wir im Falle der Neigung also zwischen der bloßen Lust am Gegenstand und seiner Erkenntnis (oder der Bekanntschaft mit ihm) einen Unterschied machen. Das erste ist ohne das zweite möglich.³³ Was bedeutet es aber, dass im Falle der Neigung zur Lust am Gegenstande noch Erkenntnis desselben hinzukommt? Die Aussage bezieht sich wahrscheinlich darauf, dass man wir uns unserer Neigungen im Regelfall bewusst sind und über sie reflektieren können. Demzufolge besteht Glückseligkeit in der Befriedigung eben nur der Neigungen (und

30 Eine weitere Ungereimtheit dieser Textstelle besteht darin, dass Kant diese sinnenfreie Neigung nicht, wie sonst üblich, mit dem lateinischen Ausdruck inclinatio verbindet, sondern mit propensio (dt: Hang). Der Hang wird von Kant wiederum definiert als der „subjectiv[e] Grund der Möglichkeit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Menschheit überhaupt zufällig ist“ (RGV 28). Eine sinnenfreie Neigung wäre somit zugleich ein Grund der Möglichkeit einer Neigung; es ist unklar, wie wir das verstehen sollen. 31 Vgl. ausführlich KpV 22–25 und KU 442. Vgl. auch Höwing (2013, S. 89ff.) und Hills (2006, S. 245): „One of the striking features of taking happiness to be the satisfaction of the sum of desires is that these inclinations can be directed at anything, not merely at things that are connected with your own life. Of course, you can desire that you gain money and power, but you can also have inclinations that others do so too, or that they do not.“ Vgl. dagegen Baumanns (2000, S. 50), der meint: „Die Glückseligkeit wird von Kant als Idee (Ganzheitsvorstellung) der empirischen Einbildungskraft verstanden und im Sinne des Hedonismus und Egoismus gedeutet. Das Glücksstreben geht auf die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse aus, mit Bevorzugung der rein individualbezogenen Teilklasse“. Vgl. auch den Vorwurf von Paton (1948, S. 86): „It is absurd to suppose that the only object we desire and the only end we seek is continuous pleasure and the avoidance of pain.“ 32 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Anth 265. 33 Kant nennt als Beispiel die „Begierde eines Kindes[,] die Milch zu saugen“ (Mrongovius, 25:1339).

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eben nicht aller sinnlichen Begierden), weil jene Möglichkeit zur Reflexion für das Glücksstreben erforderlich ist. Um meine Glückseligkeit anstreben zu können, muss mir bewusst sein, was mich glücklich macht. In diesem Sinne muss ich mir also meiner Begierden bewusst sein. Diese Vernunftbeteiligung im Glücksstreben wird unten ausführlicher diskutiert. 3. Als weiteres Merkmal kommt der Neigung zu, dass sie ‚habituell‘ ist. In Bezug auf Handlungen versteht Kant unter habitus eine „Gewohnheit, mithin einen gewissen Grad des Willens, der durch den oft wiederholten Gebrauch seines Vermögens erworben wird“ (Anth 147). Wenn wir dies auf das Begehrungsvermögen übertragen, so ist eine habituelle Begierde eine solche, die uns zur Gewohnheit geworden ist, weil uns der damit verbundene begehrte Gegenstand wiederholt affiziert hat und weil sich die Lusterwartung, die wir mit der Befriedigung der Begierde verbinden, wiederholt erfüllt hat.³⁴ Um diese Eigenschaft besser zu verstehen, können wir uns fragen, wie denn eine sinnliche, aber nicht-habituelle Begierde aussehen würde. Kant bespricht diesen Fall nicht explizit. Eine mögliche Erklärung, warum eine solche Begierde nicht Teil unseres Strebens nach Glückseligkeit werden kann, lässt sich wie folgt skizzieren: Eine Begierde wird zur Gewohnheit, wenn sie die Lust, die sie verspricht, in der Regel auch erfüllt. Nun gilt erstens, dass wir Begierden, deren Erfüllung uns enttäuscht, schwerlich als etwas sehen können, was uns glücklich macht. Zweitens können Begierden, mit deren Erfüllung zwar Lustgewinn einhergeht, deren Erfüllung aber nicht wiederholt werden kann, nicht dauerhaft zu unserem Glück beitragen, da uns die Unmöglichkeit der Wiederholung schmerzt. Dieser Interpretationsvorschlag mag nicht vollständig befriedigend sein, bietet jedoch eine mögliche Erklärung dafür an, warum Kant Glückseligkeit über den Begriff der Neigungen definiert und nicht als die Befriedigung von Begierden überhaupt. Kant versteht also unter Glückseligkeit in diesem Sinne die umfassende Befriedigung solcher sinnlicher Begierden, an die wir uns durch Wiederholung gewöhnt haben, derer wir uns bewusst sind und über die wir reflektieren können. Neigungen können jedoch einander widersprechen und ihre Erfüllung kann neue Begierden hervorrufen (z. B. KpV 118). Insofern ist nicht eindeutig und konsistent bestimmbar, worin Glückseligkeit genau besteht; nicht einmal für ein bestimmtes Subjekt zu einem bestimmten Zeitpunkt.

34 Kant spricht auch von einer Neigung als Begierde, „[d]ie dem Subject zur Regel (Gewohnheit) dien[t]“ (Anth 265) und „welche eine daurende Ursache des Wollens ist“ (R 1513, 15:840).

5.2 Glückseligkeit als Neigungsbefriedigung |

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Hier bringt Kant eine weitere Dimension des Glückseligkeitsbegriffs ins Spiel. Um die eigene Glückseligkeit rational anstreben zu können, ist „die Vorschrift der Glückseligkeit mehrentheils so beschaffen, daß sie einigen Neigungen großen Abbruch thut“ (GMS 399). Als Konsequenz bedeutet Glückseligkeit dann nicht mehr die Befriedigung aller Neigungen, denn diese müssen zuvor „in ein erträgliches System gebracht werden“ (KpV 73). Mit „erträglich“ ist hierbei gemeint, dass nach dieser Ordnung durch die Vernunft Glückseligkeit zwar rational durch eigene Handlungen verfolgt werden kann, aber immer nur annähernd und ausprobierend, ohne Garantie, dass wir dadurch tatsächlich glücklicher werden.³⁵ Damit wird auch deutlich, worin der wesentliche Unterschied zwischen einem Wesen, das einfach nur seinen Neigungen folgt und einem Wesen, das zusätzlich Glückseligkeit als maximale Neigungsbefriedigung anstrebt, besteht: in der dazu notwendigen Vernunfttätigkeit.³⁶ Nun sagt Kant, wir hätten „schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung zur Glückseligkeit“ (GMS 399). Es ist nicht ganz klar, wie das genau gemeint ist. Kant könnte sich hier auf das Bestreben beziehen, möglichst vielen Neigungen, die ich zu einem bestimmten Zeitpunkt habe, nachgehen zu können, ohne, dass die Befriedigung der einen Neigung die Befriedigung der anderen Neigung behindert. Wenn ich z. B. eine Philosophie-Vorlesung besuchen will, aber zugleich auch müde bin und gerne schlafen möchte, habe ich (in einem übergeordneten Sinn) auch eine dritte Begierde, nämlich beides miteinander vereinbaren zu können – z. B. indem ich direkt nach der Vorlesung schlafen gehe. Und es ist immer mit Schmerz verbunden, wenn ich feststelle, dass zwei Begierden nicht miteinander vereinbar sind (zum Beispiel durch zwei zeitlich parallel abgehaltene Vorlesungen, die ich gerne besuchen würde).³⁷

35 Barney (2015, S. 162f.) nennt diese beiden aufeinander aufbauenden Glückseligkeitskonzepte „happiness as fantasy“ und „happiness as system“. 36 „It makes sense to see happiness as a concept of reason, for, as Kant understands it, the concept of happiness is the concept of a whole, the sum of all of our inclinations. It is plainly possible for a creature to have a number of inclinations without having the concept of the sum of their satisfaction, and in that respect an inclination for happiness does not seem to be like the inclination for food or sex. And if happiness were an end of reason, we would be rationally bound to pursue it, but choosing it would still be an act of freedom“ (Hills 2006, S. 247). 37 Das scheint mir eine annehmbare Interpretationsalternative zu Woods Befürchtung zu sein, Kant könnte meinen, wir hätten mit der Neigung zur Glückseligkeit den Wunsch, allen Neigungen, die wir gerade haben, zeitgleich nachzugehen: „From the fact that I have three different desires, for x, y and z, respectively, it certainly doesn’t follow that I must have yet a fourth desire whose object is x, y, and z, taken together collectively. This is especially so when my desires threaten to conflict: For instance, if I have a desire to take a nap and also a desire to attend a philosophy lecture, it doesn’t follow that I have a desire to sleep through the philosophy lecture. Even if my

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In diesem Beispiel sind verschiedene Aspekte von Kants Glückseligkeitsbegriff von Belang, die wir auseinanderhalten müssen: Dass Glückseligkeit nicht nur ein Ideal der Einbildungskraft ist, eine bloße Wunschvorstellung, sondern ein übergeordneter Zweck, den ich mit meinen Handlungen verfolge, wird in Abschnitt 5.3 diskutiert. Welche Schwierigkeiten es für die Vernunft mit sich bringt, dabei eine größtmögliche Neigungsbefriedigung zu erzielen, werde ich in Abschnitt 5.5 erörtern. Hier möchte ich den Fokus darauf legen, in welchem Verhältnis Glückseligkeit als Summe meiner Neigungen zu der einzelnen Neigung steht. Folgendes Beispiel stammt von Kant selbst: Er beschreibt die Situation eines Gicht-Kranken (eines „Podagristen“), der in Versuchung ist, sich nicht an seine Diät zu halten, weil er abwägt, ob ihm der „Genuß des gegenwärtigen Augenblicks“ vielleicht wichtiger ist als die „vielleicht grundlose[n] Erwartungen eines Glücks, das in der Gesundheit stecken soll“ (GMS 399). Es ist interessant, wie weit die Meinungen in der Literatur zu diesem Beispiel auseinandergehen. Paton (1948, S. 86) sieht hier eine offensichtliche Sympathie für den nach Genuss strebenden Kranken: „There are many indications that he distrusted a too nicely calculated method of life – see, for example, his obvious sympathy with the gouty man who risks his extra glass of port“. Wood (1999, S. 66) hingegen ist der Meinung, Kant stempele den Kranken als irrational ab, da er nicht den Anratungen der Klugheit folge.³⁸ Ich stimme zwar nicht in Bezug auf Kants vermeintliche Sympathie für die Neigung des Kranken zum unmittelbaren Genuss mit Paton überein, möchte mich aber noch mehr gegen den Vorschlag von Wood wenden. Denn Kant will hier nicht sagen, Gesundheit sei immer fester Bestandteil der Glückseligkeit. Wie schon erwähnt, ist Kant ein Gegner der Vorstellung, es gäbe eine wie auch immer geartete, inhaltlich bestimmte, ‚wahre‘ Glückseligkeit. In dem Moment, wo der Kranke beschließt, von seiner Diät abzuweichen, handelt er nicht gegen sein Glücksstreben, sondern mit ihm. Er setzt sein Glück in dem Moment in den augenblicklichen Genuss. Wenn Korsgaard (1998, S. 58f.) meint, sie könne Kants These, dass wir immer und unvermeidlich nach unserem Glück streben, durch Gegenbeispiele widerlegen („People sacrifice their happiness to love, to ambition, to political aspiration, and to simple temptation all the time.“), scheint sie das Beispiel des Podagristen nicht im Blick zu haben. Mit Kant müssten wir nämlich sagen: Menschen neigen dazu, eine langfristige Planung, die auf moderaten aber stetigen Glückszuwachs aus ist,

desires don’t conflict, it does not follow that I must have the further desire whose object is the sum of their various objects. If it is maintained that I do have such a further desire, then some account of its content and even its rationale seems to be required“ (Wood, 2000, S. 268). 38 Ähnlich auch Kain (2003, S. 250).

5.3 Glückseligkeit als Zweck und als das Gelingen meiner Zwecke |

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für spontane Genüsse zu opfern. Aber auch dabei streben sie natürlich danach, glücklich zu sein. Und ob eine solche Vorgehensweise in Summe der Glückseligkeit tatsächlich abträglich ist, ist auch nicht ausgemacht. Denn erstens benötigen Menschen Phasen des Schmerzes und des Unglücks, um ihr Glück überhaupt wertschätzen zu können (vgl. Anth 231ff.), und zweitens kann die langfristige Planung eben auch keine Glückseligkeit garantieren. Vielleicht würde der Gicht-Kranke, auch wenn er sich an seine Diät hielte, bis an sein Lebensende leiden, ohne Aussicht auf Besserung. Oder denken wir an einen Nichtraucher, der konsequent das Passivrauchen vermeiden will und alle Orte meidet, an denen er Zigarettenrauch ausgesetzt sein könnte. Wiegt der Vorteil, dadurch gesünder zu leben, die dabei entstehenden sozialen Nachteile auf? Laut Kant können wir solche Dinge niemals grundsätzlich, sondern, wenn überhaupt, im Einzelfall und im Nachhinein, nämlich aus Erfahrung beurteilen. Es geht in dem Beispiel also nicht darum, denjenigen zu verurteilen (oder als Vorbild darzustellen), der den kurzfristigen Genuss vorzieht. Es geht nur darum, deutlich zu machen, dass es solche Konflikte geben kann und wir keinen klaren Maßstab haben, diese aufzulösen. Wir können aus Erfahrung abschätzen, was eine kluge Wahl sein könnte. Dies kann aber nur eine Annäherung sein, denn wir wissen ja nicht, wie viel glücklicher oder unglücklicher wir sein würden, würden wir uns anders entscheiden. Diese Reflexionen sind Teil der Heuristiken, die uns helfen, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Das meint Kant, wenn er sagt, sie seien nur „Anrathungen“ und nicht unbedingt gültige „Gebote“ (GMS 418) bzw. sie seien „bloße Maximen, niemals aber [...] praktische Gesetze“ (KpV 26). Die Rolle dieser Einteilung für Kants Handlungstheorie darf nicht unterschätzt werden, handelt es sich hierbei ihm zufolge doch um „die Wortbestimmung des allerwichtigsten Unterschiedes, der nur in praktischen Untersuchungen in Betrachtung kommen mag“ (KpV 26).

5.3 Glückseligkeit als Zweck und als das Gelingen meiner Zwecke Mit der Idee von Glückseligkeit als ‚erträglichem System‘ befinden wir uns im Übergang zu einem weiteren zentralen Aspekt von Kants vielschichtigem Glückseligkeitsbegriff, nämlich Glückseligkeit als übergeordnetem Zweck meiner Handlungen. Kant bezeichnet die Fähigkeit, die Neigungen in jenes erträgliche und annähernd konsistente System zu bringen, als ‚Klugheit‘. Diese besteht im Grunde

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genommen aus zwei Fähigkeiten: (i) zu bestimmen, was mich glücklich macht³⁹, und (ii) die Mittel zu bestimmen, mit denen meine Glückseligkeit am besten erreicht wird.⁴⁰ Zu letzterem gehört auch die Entwicklung eines Handlungsplans, der festlegt, wie und wann diese Mittel am besten einzusetzen sind.⁴¹ Wenn wir nun über Glückseligkeit als Zweck sprechen, müssen wir zwei Dinge auseinanderhalten: 1. Wenn Neigungen unseren Willen bestimmen, so geben sie die Zwecke vor, welche wir durch unsere Handlungen erreichen wollen. Und ähnlich, wie wir nicht nur einzelne Neigungen haben, sondern auch die übergeordnete Neigung, unsere Neigungen möglichst umfassend zu befriedigen, setzen wir uns auch den übergeordneten Zweck, möglichst viele unserer Zwecke, die uns glücklich machen sollen, umzusetzen. In diesem Sinne spricht Kant von der „Summe aller Zwecke, deren Erreichung Glückseligkeit genannt wird“ (Gemeinspruch 282).⁴² 2. Wir können aber auch moralische Zwecke bilden, die nicht primär dazu dienen, unsere Neigungen zu befriedigen. Denn sie sind nicht Grund, sondern Folge der Willensbestimmung. Wir haben zwar im ersten Kapitel gesehen, dass auch moralische Zwecke immer auf allgemeine Glückseligkeit zielen, und damit auch, in gewissem Sinne, auf unsere eigene, doch können diese auch unseren Neigungen entgegenstehen. Dies macht die Idee von Glückseligkeit komplexer: Die Moral gebietet zwar, manche Neigungen zu unterdrücken (Kant: „abzubrechen“); die Verwirklichung moralischer Zwecke trägt jedoch wiederum zu meiner Glückseligkeit bei (nicht als Neigungsbefriedigung, sondern als Zufriedenheit mit dem Gelingen meiner Zwecke).⁴³ In Bezug auf das höchste Gut müssen diese verschiedenen Dimensionen von Glückseligkeit berücksichtigt werden. Denn auf der einen Seite ist das höchste Gut der „ganze Gegenstand [...] eines reinen Willens“ (KpV 109). Dieser leitet uns nicht dazu an, Angenehmes zu empfinden, sondern Gutes zu tun. Dies spricht für eine

39 Klugheit ist die Fähigkeit, seine „Absichten zu seinem eigenen dauernden Vortheil zu vereinigen“ (GMS 416 Anm.), bzw. die „Bestimmung dessen, was diesen Zweck selbst (die Glückseeligkeit) ausmacht“ (EEKU 200). 40 Klugheit ist „die Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zu seinem eigenen größten Wohlsein“ (GMS 416). Vgl. auch Moralphilosophie Collins, 27:246. 41 Vgl. dazu auch Willaschek (1992, S. 62–64). 42 Vgl. auch Glückseligkeit als „der Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke“ (KU 431). 43 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Glückseligkeit als Neigungsbefriedigung und als Zufriedenheit mit dem Gelingen meiner Zwecke auch Engstrom (1996, S. 104f.).

5.4 Die Unvermeidbarkeit des Strebens |

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Interpretation des Glückseligkeitsbegriffs im zuletzt genannten Sinne. Auf der anderen Seite soll das höchste Gut „größte Glückseligkeit“ enthalten, sofern dies unter moralischen Bedingungen möglich ist (KpV 129). Diese wird sich kaum in der Zufriedenheit mit dem eigenen moralischen Handlungserfolg erschöpfen, sondern auch sinnlich genossene Empfindungen mit einschließen. Wir werden in Abschnitt 5.8 auf dieses Thema zurückkommen.

5.4 Die Unvermeidbarkeit des Strebens Zwar bestimmt Kant in seiner praktischen Philosophie keine konkreten Inhalte des menschlichen Glücksstrebens, aber das Streben nach Glückseligkeit an sich hält er für unvermeidbar. Dies kommt schon in einer frühen Reflexion der 70er Jahre zum Ausdruck: „Der Wille Glüklich zu seyn ist nothwendig, aber nach bestimten Neigungen zufellig.“⁴⁴ In der zweiten Kritik schreibt Kant: Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens (KpV 25).⁴⁵

Das gilt sowohl für Glückseligkeit als Neigungsbefriedigung, zu der „alle Menschen schon von selbst die mächtigste und innigste Neigung“ haben (GMS 399), als auch für Glückseligkeit als übergeordnetem Handlungszweck. Denn dieser ist eine Absicht, die „man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann“ (GMS 415f.).⁴⁶ Kant schließt also sowohl aus, dass wir, zum Beispiel durch mentale Disziplin, den Wunsch nach Glückseligkeit prinzipiell ablegen können, als auch, dass wir uns vollständig dagegen entscheiden können, diesen Wunsch durch

44 R 6713, 19:139, von Adickes datiert auf 1771–1775. 45 Vgl.: „Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens, zu machen“ (KpV 61). Vgl. auch: „Glückseligkeit, d. i. Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist, sich zu wünschen und zu suchen ist der menschlichen Natur unvermeidlich“ (TL 387). Vgl. weiterhin: „Glückseligkeit ist unserer Natur nach für uns, als von Gegenständen der Sinnlichkeit abhängige Wesen, das erste und das, was wir unbedingt begehren“ (RGV 45f. Anm.; vgl. RGV 134). 46 Glückseligkeit ist ein „uns von der Natur selbst untergelegte[r] Zweck“ (Gemeinspruch 282) und ein „allgemeine[r] Zwec[k] der Menschen“ (Moralphilosophie Collins, 27:246), denn „wer wird nicht wollen, daß es ihm jederzeit wohl ergehe?“ (RGV 45 Anm. 2). Vgl. auch GMS 430, Gemeinspruch 278 u. TL 386.

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eigene Handlungen zu befriedigen versuchen.⁴⁷ Hier besteht also eindeutig ein Unterschied zwischen einzelnen Neigungen, denen wir entsagen können (und gegebenenfalls auch sollen) und der Glückseligkeit insgesamt, für die das nicht gilt. Warum ist das so? Diese Frage erhält weiteres Gewicht, wird bedacht, dass Kant ebenfalls sagt, wir wären frei in der Wahl unserer Zwecke.⁴⁸ Wenn wir also die Naturnotwendigkeit des Zwecks der Glückseligkeit erklären wollen, müssen wir darauf achten, dass sich diese Erklärung mit einer solchen Wahlfreiheit verträgt. Wood (1999, S. 66) hat vorgeschlagen, dass die Notwendigkeit des Zwecks der Glückseligkeit nicht deskriptiv, sondern normativ zu verstehen ist. Er versteht es als rationale Forderung, eine langfristige Glückseligkeit nicht für kurzfristige Vergnügen zu gefährden.⁴⁹ Dieser Vorschlag hat jedoch Schwächen: Er basiert auf der Annahme, dass es eine Art wahre Glückseligkeit gibt, die objektiv anderen Vorstellungen von Glückseligkeit vorzuziehen sei. Das schließt Kant aber gerade aus.⁵⁰

47 Letzteres scheint von ersterem abzuhängen, Kant thematisiert diesen Zusammenhang jedoch nicht explizit. Vgl. jedoch: „[D]ie Begierde zur Glückseligkeit, mithin auch die Maxime, dadurch sich jeder diese letztere zum Bestimmungsgrunde seines Willens setzt, [ist] allgemein“ (KpV 28). 48 Vgl. z. B.: „Eine jede Handlung hat also ihren Zweck, und da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür selbst zum Zweck zu machen, so ist es ein Act der Freiheit des handelnden Subjects, nicht eine Wirkung der Natur irgend einen Zweck der Handlungen zu haben“ (TL 385). Zum Beispiel Korsgaard (1998, S. 58f.) hat auf das Spannungsverhältnis zwischen dieser These und der These von der Naturnotwendigkeit des Zwecks der Glückseligkeit hingewiesen. 49 „The claim that happiness is necessarily the end of a finite rational being is both more interesting and more plausible if it is taken normatively, as a distinctive a priori principle of prudential reason (with ‚happiness‘ understood in the collective sense, as the idea of a sum of empirical satisfaction). What it says then is that it belongs to the essence of rationality that a rational being is bound to form the idea of its happiness and make that happiness an end [...]. In that case, the failure to make one’s happiness an end or to give this end priority to the satisfaction of a momentary desire, would be the violation of a distinctive principle of reason. [...] The problem is not that he wills the end (happiness) yet fails to will a necessary means to it. The irrationality lies instead in the fact that he fails (at least on this occasion) to will the end of happiness, or at least prefers to it a momentary pleasure that (according to reason) he ought to will only on the condition that it is consistent with his overall happiness and constitutes a proper part of it“ Wood (1999, S. 66). Auf dieser Interpretation basieren auch Woods Ansichten zum Podagristen, die ich oben (Abschnitt 5.2, S. 144) besprochen habe. Schon Paton (1948, S. 126f.) meint, Kant müsse die Unvermeidbarkeitsthese aus der Vernünftigkeit des Menschen ableiten. Nur so könne sie allgemein gelten. Wie aber ein solches, neben dem kategorischen Imperativ weiteres Vernunftprinzip, das nur jenem untergeordnet wäre, erklärt werden könne, ist für ihn alles andere als offensichtlich. 50 Johnson (2002, S. 322–325) bespricht und kritisiert den Vorschlag von Wood ausführlich. Vgl. auch Hills (2006, S. 247) und Hills (2009, S. 35). Für eine subtileren Vorschlag bezüglich eines potentiell normativen Gehalts unserer sinnlichen Begierden vgl. Höwing (2013, S. 185ff.).

5.4 Die Unvermeidbarkeit des Strebens |

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Ich schlage eine alternative Interpretation vor. Wie schon im vorhergehenden Abschnitt erläutert, ist Glückseligkeit ein Zweck, der unseren konkreten Handlungszwecken übergeordnet ist. Die Notwendigkeit dieses übergeordneten Zwecks lässt sich so erklären: Als sinnliche Wesen sind wir mehreren und teils konkurrierenden Neigungen ausgesetzt. Als rationale Wesen bilden wir mit unserer Einbildungskraft darauf aufbauend das Ideal der Glückseligkeit (ein Zustand, in dem die Neigungen befriedigt, keine Wünsche offen, keine Schmerzen vorhanden sind usw.). Dieses Ideal beeinflusst unsere Zwecksetzung, wenn wir unsere Neigungen in solcher Weise in unsere konkreten Handlungszwecke einfließen lassen, dass dieses Ideal möglichst angenähert wird. Auf diese Weise können wir verstehen, warum Kant die Unvermeidlichkeit des menschlichen Glücksstrebens zugleich auf die rationale und die endliche Natur des Menschen zurückführt. Er betont aber, dass es „ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem“ sei (KpV 25; vgl. GMS 415f.). Damit ist gemeint, dass Menschen kontinuierlich mit Bedürfnissen konfrontiert sind, die Schmerzen verursachen, solange sie nicht befriedigt sind.⁵¹ Diese Bedürfnisse steuern unsere Handlungen aber nicht direkt. Mit unserem Willen sind wir in der Lage, Handlungspläne zu entwerfen und bewusst zu entscheiden, welchen Bedürfnissen wir wann und in welcher Weise nachgehen. In dieser Zwecksetzung sind wir frei. Unser Wille hat jedoch, als praktische Vernunft, ein Eigeninteresse in Bezug auf die Gestaltung unserer Handlungspläne – und das ist systematische Einheit und innere Konsistenz. Engstrom (2009, S. 101f.) zieht hier einen Vergleich zur theoretischen Vernunft: Solange ich nicht weiß, welchen Durchmesser die Sonne hat, kann ich mehrere mögliche Werte denken. Aber sobald ich urteile (zum Beispiel mithilfe eines geeigneten Messverfahrens), um welchen Durchmesser es sich handelt, schließt das zuvor als möglich gedachte Werte aus, die diesem Ergebnis

51 Je nach Kontext meint Kant mit der ‚Endlichkeit‘ des Menschen etwas anderes: zum Beispiel seine moralische Endlichkeit, also dass „die subjective Beschaffenheit seiner Willkür mit dem objectiven Gesetze einer praktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt“ (KpV 79) oder auch seine Sterblichkeit. Letzteres schimmert durch, wenn Kant schreibt, der einzelne Mensch habe nicht genug Lebenszeit, um seine Anlagen voll zu entwickeln, deswegen komme diese Aufgabe der Gattung zu: „Am Menschen [...] sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. [...] [E]in jeder Mensch [würde] unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich geschehen ist), so bedarf sie vielleicht einer unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist“ (Idee 18f.).

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widersprechen. Ebenso ist es mit der praktischen Vernunft bewandt: Wenn ich überlege, wie ich den kommenden Nachmittag verbringen will, kann ich dabei zwei zeitlich parallel laufende Philosophievorlesungen in Betracht ziehen. In meiner Handlungsentscheidung schließt aber das Hören der einen Vorlesung das Hören der anderen aus. Auf diese Weise müssen wir unsere Ziele systematisieren, also aus dem „Ideal [...] der Einbildungskraft“ (GMS 418) ein „erträgliches System“ (KpV 73) formen, das wir tatsächlich durch Handlungen verfolgen können. Wir sehen also, dass sich diese Setzung von Glückseligkeit als Naturzweck und unsere Wahlfreiheit der Zwecke nicht ausschließen; ersteres ist sogar eine Bedingung für letzteres. Denn würden wir nicht, wie beschrieben, vernünftige Handlungspläne entwerfen, würden wir immer nur der Neigung folgen, die gerade am stärksten ist. Wir würden abrupt von einer Tätigkeit zur anderen wechseln, und kaum eine Handlung zu Ende bringen. Auch hierbei ist wiederum zu betonen, dass Kant nicht behaupten will, wir würden immer explizit Pläne aufstellen, in denen wir unsere Zwecke planen und einmal festgelegt, diese Pläne systematisch abarbeiten. Die gerade skizzierte Theorie, wie sich für uns aus dem kombinierten Anspruch unserer sinnlichen und unserer rationalen Seite die Glückseligkeit als notwendiger übergeordneter Zweck ergibt, beschreibt einen grundlegenderen Aspekt. Wir können es so formulieren: Ohne dieses Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Vernunft wäre es gar nicht möglich, Handlungen im Voraus zu planen und aufeinander abzustimmen.⁵² Glückseligkeit ist also der übergeordnete Zweck, zu dem alle konkreten Zwecke in gewisser Weise nur Mittel sind (dass wir sie überhaupt nur als Mittel zur Glückseligkeit wertschätzen können, wäre wahrscheinlich eine zu starke Formulierung). Konkret wirkt sich diese Zwecksetzung dadurch aus, dass sie unsere Handlungsstrategien beeinflusst: So versuchen wir z. B. Konkurrenz zwischen Neigungen dadurch aufzulösen, dass wir sie zugleich oder nacheinander befriedigen (vgl. das Beispiel des müden Studenten der Philosophie in Abschnitt 5.2) oder geben manche Neigungen ganz auf, um der Befriedigung anderer Neigungen den Vorzug zu geben.⁵³

52 Vgl. dazu ausführlicher Engstrom (2009, S. 85). 53 Vgl. auch: „Happiness can function as a second-order end, that blocks the pursuit of a firstorder end when it conflicts with the fulfilment of other strong desires. On this view, happiness itself is not normally directly pursued. Instead, it has a regulatory role, ensuring that we do not pursue one ob ject, money for example, at the expense of everything else that we want. These first-order ends are not valued merely as a means to happiness; but at the same time, happiness has a special authority over them“ (Hills 2006, S. 251). Vgl. für einen ähnlichen Ansatz: „Having one’s own happiness as one of one’s ends is therefore simply having a nonempty set of subjective ends. Because every individual must have some subjective ends, it follows that every individual

5.5 Die Unerreichbarkeit von Glückseligkeit |

151

Wenn wir uns nun an das Beispiel des Podagristen erinnern, der sich konkurrierenden Neigungen ausgesetzt sieht (seine Gesundheit zu erhalten und zu essen, was ihm schmeckt), so besteht die Notwendigkeit des Zwecks der Glückseligkeit weder darin, dass sich von Natur aus jeder für das erste entscheiden würde (dafür finden wir offenkundig viele Gegenbeispiele), noch normativ darin, dass dies vernünftiger wäre, weil es vermeintlich langfristig glücklicher macht (wie Wood meint). Sondern darin, dass notwendig in seine Handlungsentscheidung mit eingeht, welche Handlung ihn glücklicher machen würde.⁵⁴

5.5 Die Unerreichbarkeit von Glückseligkeit Gleichgültig, wie klug wir uns auch anstellen mögen – laut Kant werden wir vollständige Glückseligkeit nicht erreichen. Und wenn wir uns die Liste seiner Gründe für diese These ansehen, scheint er nicht der Ansicht gewesen zu sein, dass wir auch nur nahe an dieses Ziel herankommen können. Über viele seiner Werke verteilt zählt Kant eine ganze Reihe solcher Gründe auf, die wir wie folgt einteilen können: (1.) Die Unberechenbarkeit von Neigungen erschwert es enorm, eine stabile Vorstellung von dem zu entwickeln, was glücklich macht. (2.) Gerade die Fähigkeit zur Kultur und der vernünftigen, klugen Planung, die auf den ersten Blick effektive Mittel zum Zweck der Glückseligkeit sind, gefährden die Erreichung dieses Zwecks. (3.) Die natürliche Umgebung des Menschen birgt Risiken und Gefahren. 1. Wir können uns von unserer Glückseligkeit „keinen bestimmten und sichern Begriff machen“ (GMS 399). „Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat“ (KpV 118). Somit

must have his own happiness as an end [...]. To say that happiness is a necessary human end is not, accordingly, to say that all human beings have a deliberate policy of pursuing their own happiness. It is to say only that all persons have a totality of ends, and that as they attempt to achieve each of their separate ends they also, consciously or unconsciously, attempt to achieve the totality“ (Rosen 1993, S.68f.). 54 Vgl. entgegen der hier vorgeschlagenen Deutung Hills (2006, S. 252): „Kant said that all rational dependent beings have happiness as their end by necessity. On the interpretation presented here, happiness is not a naturally necessary end for us, as we are free to adopt it or to reject it at any time by refusing to set the objects of our inclinations as ends. Nor [...] is happiness an end of reason, because we are not required by reason to adopt the objects of our inclinations as our ends. We can unify ourselves now and in the future without choosing to set the objects of our desires as ends, and therefore without setting happiness as a second-order end either.“ Vgl. auch Johnson (2002, S. 329f.).

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ändert sich unsere Idee davon, was uns glücklich macht sehr oft; es liegt nicht in der Natur des Menschen, „irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu werden“ (KU 430). Außerdem können die Neigungen „in verschiedenen Subjecten sehr verschieden sein“ (KpV 25). Wir haben damit nicht die Sicherheit, dass etwas, das den einen glücklich macht, auch dem anderen Zufriedenheit verschafft. Schließlich kann gerade die Befriedigung von Neigungen (also eigentlich der Erfolgsfall, der uns näher an unsere Glückseligkeit bringen soll) negative Konsequenzen mit sich bringen, zum Beispiel die Sorge des Reichen, seinen Reichtum wieder zu verlieren.⁵⁵ 2. Mit den Möglichkeiten, die uns Vernunft durch Kultur und Wissenschaft bietet, gehen so viele Mühseligkeiten einher und wachsen neue Bedürfnisse, dass der gebildete, kultivierte Mensch oftmals sogar kleinere Chancen auf Glückseligkeit als der einfältige Mensch zu haben scheint. Klugheit fordert also nicht nur, die Neigungen möglichst gut zu ordnen und effektive Mittel zu ihrer Befriedigung zu finden, sondern auch, darauf zu achten, dass bei ebendieser Tätigkeit nicht Ungemach und neue Neigungen entstehen, die die ‚Glücksbilanz‘ ins Negative ziehen. Stellt man nun fest, dass diese Rechnung gar nicht aufgeht, und zwar aufgrund und nicht trotz allen Bemühens, kann das zu etwas führen, dass Kant Misologie, Hass auf die Vernunft, nennt.⁵⁶ Mit diesem Gefühl kann der Neid auf diejenigen einhergehen, die sich scheinbar mit viel einfacheren

55 „Will er Reichthum, wie viel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen! Will er viel Erkenntniß und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen, u. s. w.“ (GMS 418). 56 „In der That finden wir auch, daß, je mehr eine cultivirte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme, woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben, wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von Misologie, d. i. Haß der Vernunft, entspringt, weil sie nach dem Überschlage alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen von der Erfindung aller Künste des gemeinen Luxus, sondern sogar von den Wissenschaften (die ihnen am Ende auch ein Luxus des Verstandes zu sein scheinen) ziehen, dennoch finden, daß sie sich in der That nur mehr Mühseligkeit auf den Hals gezogen, als an Glückseligkeit gewonnen haben“ (GMS 395f.). Vgl. auch: „Das Übergewicht der Übel, welche die Verfeinerung des Geschmacks bis zur Idealisirung desselben und selbst der Luxus in Wissenschaften, als einer Nahrung für die Eitelkeit, durch die unzubefriedigende Menge der dadurch erzeugten Neigungen über uns ausschüttet, ist nicht zu bestreiten“ (KU 433). Vgl. für eine andere Bedeutung des Ausdrucks ‚Misologie‘ (eher im Sinne von Wissenschaftsfeindlichkeit) KrV A 855/B 883 und Logik 26.

5.5 Die Unerreichbarkeit von Glückseligkeit |

153

Mitteln ein glückliches Leben machen.⁵⁷ Kant ist aber gleichfalls skeptisch, dass die Rückkehr zu einem einfältigen Leben und dem „reinen Genuß eines sorgenfreien, in Faulheit verträumten oder mit kindischem Spiel vertändelten Lebens“ möglich ist (Muth 122).⁵⁸ Eine weniger subtile Folge menschlicher Vernunfttätigkeit sind die Verbrechen, Kriege und andere Übel, die Menschen über sich selbst bringen.⁵⁹ Dabei stellt Kant heraus, „daß die größten Übel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich oder gewesen ist, als von der nie nachlassenden und sogar unaufhörlich vermehrten Zurüstung zum künftigen zugezogen werden“ (Muth 121). 3. Schließlich nennt Kant auch die „verderblichen Wirkungen“ der Natur, wie „Pest, Hunger, Wassergefahr, Frost, Anfall von andern großen und kleinen Thieren“ (KU 430) als Gefahr für unsere Glückseligkeit. Wenn wir uns aber die vorhergehende Liste anschauen, wird deutlich, dass auch ohne Naturkatastrophen, Krankheiten und dergleichen ein glückliches Leben schwer zu erreichen ist. Kants Fazit kann angesichts dieser Aufzählung nicht überraschen: Was das Leben für uns für einen Werth habe, wenn dieser bloß nach dem geschätzt wird, was man genießt (dem natürlichen Zweck der Summe aller Neigungen, der Glückseligkeit), ist leicht zu entscheiden. Er sinkt unter Null; denn wer wollte wohl das Leben unter denselben Bedingungen, oder auch nach einem neuen, selbstentworfenen (doch dem Naturlaufe gemäßen) Plane, der aber auch bloß auf Genuß gestellt wäre, aufs neue antreten? (KU 434 Anm.)⁶⁰

57 „[U]nd darüber [viele] endlich den gemeinern Schlag der Menschen, welcher der Leitung des bloßen Naturinstincts näher ist, und der seiner Vernunft nicht viel Einfluß auf sein Thun und Lassen verstattet, eher beneiden als geringschätzen“ (GMS 396). 58 Vgl. jedoch Kants Lob für das Argument des Diogenes, dass derjenige, der wenig Bedürfnisse hat, sich mit wenig zufrieden gibt und zugleich weniger Verführungen ausgesetzt ist, unmoralische Handlungen zu begehen (Moralphilosophie Collins, 27:248f.). 59 „[D]as Widersinnische der Naturanlagen in ihm [versetzt] ihn noch in selbstersonnene Plagen und noch andere von seiner eigenen Gattung durch den Druck der Herrschaft, die Barbarei der Kriege u. s. w. in solche Noth [...] und er selbst, so viel an ihm ist, [arbeitet]an der Zerstörung seiner eigenen Gattung [...], daß selbst bei der wohlthätigsten Natur außer uns der Zweck derselben, wenn er auf die Glückseligkeit unserer Species gestellt wäre, in einem System derselben auf Erden nicht erreicht werden würde, weil die Natur in uns derselben nicht empfänglich ist“ (KU 430). 60 Schmucker (1961, S. 48) weist daraufhin, dass wir eine solche Skepsis – und damit Abweichung von der Wolff’schen Vollkommenheitslehre – schon in sehr frühen Schriften wie der Nova Dilucidatio finden. Ein möglicher Grund dafür ist das Erdbeben von 1755, das einen prägenden Eindruck auf Kant hinterlassen hat (vgl. 1:417–473).

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Das hat manche Kommentatoren dazu gebracht, Kants Glückseligkeitslehre als pessimistisch zu bezeichnen.⁶¹ Dieser Wortwahl können wir entgegenhalten, dass Kant uns mit der Moral eine Alternative zum egoistischen Glücksstreben anbietet, deren ganzer Gegenstand, das höchste Gut, Glückseligkeit beinhaltet. Schauen wir uns aber die lange Liste der Hindernisse an, die unserer Glückseligkeit im Wege stehen, müssen wir allerdings fragen, ob die Glückseligkeit im höchsten Gut schlichtweg eine andere ist, so dass sie von diesen Hindernissen nicht betroffen ist. Kant hat mit der Seligkeit und der Selbstzufriedenheit zwei solcher Formen ‚anderer‘ Glückseligkeit diskutiert und als Alternativen für das höchste Gut verworfen. Sie sind das Thema der beiden folgenden Abschnitte.

5.6 Seligkeit Im vorhergehenden Abschnitt wurde beschrieben, was uns laut Kant daran hindert, glücklich zu werden. Da ein wesentlicher Teil davon auf die Natur unserer Neigungen zurückgeht, können wir Kants Bemerkungen verstehen, dass wir den Wunsch haben, diese loszuwerden: Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nöthigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein (KpV 118).⁶²

61 Paton (1948, S. 116), Shell (2003, S. 197), Hills (2009, S. 44). 62 Vgl.: „Die Neigungen selber aber als Quellen des Bedürfnisses haben so wenig einen absoluten Werth, um sie selbst zu wünschen, daß vielmehr, gänzlich davon frei zu sein, der allgemeine Wunsch eines jeden vernünftigen Wesens sein muß“ (GMS 428). Vgl. auch aus der Vorlesungsmitschrift Mrongovius: „Es ist kein Glük Neigungen zu haben“ (25:1339). Vgl. auch Moran (2011, S. 82f.), für eine andere Interpretation dieser Passagen: Moran geht davon aus, dass sie Kants Drang geschuldet sind, nur Moralität und Autonomie irgendeinen Wert zuzusprechen – sie seien aber nicht sein letztes Wort. Kant habe vielmehr eingesehen, dass es unmöglich sei, als menschliches Wesen seine Neigungen ganz abzulegen und der Wunsch danach dementsprechend irrational sei. Weiterhin habe Kant bemerkt, dass ein solcher Wunsch der zweiten Formel des kategorischen Imperatives widerspricht, so zu handeln, „daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ (GMS 429). Eine fundamentale Voraussetzung für den Menschen als rationales, zwecksetzendes Wesen (und damit als Zweck an sich selbst), sei es, Neigungen zu haben, somit könne nicht zugleich rational gewollt werden, moralisch zu handeln und dass es gar keine Neigungen gäbe. Während ich Moran nicht darin widersprechen will, dass Kant diese Positionen vertritt, lehne ich aber die hier skizzierte Verknüpfung ab. Denn Kant begründet den Wunsch, frei von Neigungen zu sein, mit dem Argument, dass Neigungen nicht rational und systematisch zu befriedigen sind. Wir können also sagen, dass dieser Wunsch direkt aus der praktischen Rationalität folgt und nicht aus einem Abscheu des moralischen Menschen vor dem Nicht-Moralischen. Diese Sichtweise hat

5.6 Seligkeit |

155

Wenn das Erreichen der Glückseligkeit so beschwerlich und letztendlich unmöglich ist, und unsere Neigungen Quelle dieses Übels sind, wäre es dann nicht sinnvoller, möglichst eine Unabhängigkeit von den Neigungen anzustreben? Kant erwägt diese Möglichkeit einerseits durch den Begriff der Seligkeit (als völlige Unabhängigkeit von den Neigungen) und andererseits durch den Begriff der Selbstzufriedenheit (als Beherrschung der Neigungen). In diesem Abschnitt schauen wir uns den ersten dieser beiden Begriffe näher an, im folgenden Abschnitt den anderen. Die häufigste Erwähnung im kantischen Werk findet der Ausdruck ‚Seligkeit‘ in theologischen Zusammenhängen: wir verbinden mit unserem Glauben die Hoffnung auf einen zukünftigen positiven Zustand.⁶³ Es ist nicht ganz klar, was Kant an diesen Stellen genau unter Seligkeit versteht. Manchmal bezeichnet er Seligkeit auch schlicht als eine „künftige Glückseligkeit“ (z. B. Mißlingen 260). Meines Erachtens meint Seligkeit an diesen Stellen eine Art Seelenruhe, die zwar, wie die sinnliche, neigungsabhängige Glückseligkeit, angenehm ist, jedoch nicht den Gefahren und Risiken wie diese ausgesetzt ist, die wir im vorhergehenden Abschnitt betrachtet haben. Da Seligkeit bloß etwas ist, auf das wir hoffen, etwas, das für endliche, sinnliche Wesen wie den Menschen immer etwas Zukünftiges bleibt, ist es ein spekulativer, unterbestimmter Begriff: Denn wir wissen nicht, ob es überhaupt möglich ist, ihn zu erreichen, und wir können uns auch keine Vorstellung davon machen, ob wir einen solchen Zustand, in dem wir ‚wunschlos glücklich‘ sind, überhaupt als angenehm empfinden würden. Im Vergleich dazu ist Glückseligkeit zwar auch eine Idee der Vernunft, der als solcher nie ein Gegenstand unserer Erfahrung korrespondiert; doch ist unsere Einbildungskraft in der Lage, uns ein Ideal zu entwerfen: wir können uns diesen Zustand vorstellen. Eine Bestätigung findet dieser Interpretationsvorschlag in der zweiten Kritik, in der der Begriff im Vergleich zu anderen veröffentlichten Schriften präziser definiert wird. Seligkeit bedeutet dort eine „gänzliche Unabhängigkeit von Neigungen und Bedürfnissen“ (KpV 118). Dementsprechend setzt Seligkeit „ein Bewußtsein [unabhängiger] Selbstgenugsamkeit“ voraus (KpV 25).⁶⁴

auch den Vorteil, dass wir Kant hier nicht unterstellen müssen, er habe sich zuerst zu der einen Aussage emphatisch hinreißen lassen und die damit einhergehenden Konsequenzen erst später bemerkt. 63 Vgl. z. B. Religion 62, 116; Streit 44; Dinge 328f. 64 Die Charakterisierung von Seligkeit als Selbstgenügsamkeit und Unabhängigkeit von äußeren Umständen finden wir auch in vielen Reflexionen der 80er Jahre, z. B. R 5631, 18:262 (1778–1789; Datierung hier und folgend von Adickes); R 6066, 18:441 (1785–1788); R 6206, 18:490 (1783–84); R 6117, 18:460 (1783–88). Eine frühere Reflexion verwendet zwar nicht diese Wortwahl, ist aber inhaltlich eng verwandt: „Die Seeligkeit ist ein vollkommenes ruhiges vergnügen, Zufriedenheit

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Wenn Kant sein Konzept des höchsten Guts darlegt, beschreibt er die Rolle der Seligkeit – im Vergleich zu und in Abgrenzung von den Begriffen der Heiligkeit und der Glückseligkeit – wie folgt: Die Heiligkeit der Sitten wird ihnen in diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen, das dieser proportionirte Wohl aber, die Seligkeit, nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt: weil jene immer das Urbild ihres Verhaltens in jedem Stande sein muß, und das Fortschreiten zu ihr schon in diesem Leben möglich und nothwendig ist, diese aber in dieser Welt unter dem Namen der Glückseligkeit gar nicht erreicht werden kann (so viel auf unser Vermögen ankommt) und daher lediglich zum Gegenstande der Hoffnung gemacht wird (KpV 129).

Kant stellt hier die Einstellungen gegenüber, die wir jeweils gegenüber der Heiligkeit und der Seligkeit einnehmen sollen. Während der tugendhafte Mensch nach Heiligkeit streben soll, wird Seligkeit „lediglich“ zum Gegenstand der Hoffnung erklärt. Verkompliziert wird der Satz dadurch, dass Kant nicht direkt sagt, wir könnten auf Seligkeit hoffen, sondern, dass diese unter dem Namen der Glückseligkeit in dieser Welt durch unser eigenes Vermögen erreicht werden und deshalb nur ein Gegenstand der Hoffnung sein kann. Was bedeutet das? Zunächst einmal müssen wir zwei Thesen unterscheiden: Zum einen wird die Aussage getroffen, dass wir Glückseligkeit in dieser Welt nicht erreichen können und deswegen nur darauf hoffen können. Wir sind dieser These Kants schon mehrfach begegnet. Im vorhergehenden Abschnitt haben wir uns zum Beispiel im Detail angesehen, warum und inwiefern Kant Glückseligkeit für unerreichbar hält. Zum anderen müssen wir uns fragen, was die enge Bindung von Seligkeit und Glückseligkeit durch die Formel „unter dem Namen“ bedeutet. Meines Erachtens lässt sich das so erklären. Wenn Seligkeit ‚Seelenfrieden durch Abwesenheit von Neigungen‘ bedeutet, so ist dies ‚in dieser Welt‘, also in einer Welt, in der wir als sinnliche, endliche Wesen sinnlichen Begierden ausgesetzt sind, nur dadurch anzunähern, dass sämtliche Neigungen erfüllt werden und sie uns deswegen nicht mehr in ihren Bann ziehen. Deswegen ist (für uns, in dieser Welt) Seligkeit nur ‚unter dem Namen‘ der Glückseligkeit möglich. Dann müssen wir uns fragen, warum Seligkeit nur erhofft werden kann, während wir uns die Heiligkeit als Ziel setzen sollen. Dies lässt sich so begründen. Eine tugendhafte Person hat nur in zweierlei Situationen Grund, einzelne Neigungen zurückzuweisen: Entweder, wenn diese ihrem tugendhaften Handeln entgegenstehen, oder ihrer langfristigen, größeren Glückseligkeit und ihre Klugheit ihr dementsprechend zu Zurückhaltung rät. Aber wir finden bei Kant keine weitere

im Bewustseyn seines Zustandes als eines guten. “ (R 4112, 17:420, 1766–1771). Vgl. zu Kants frühen Versuchen zur Seligkeit als einer moralischen Glückseligkeit Himmelmann (2003, S. 86ff.).

5.6 Seligkeit |

157

moralische Pflicht, aktiv danach zu streben, überhaupt keine Neigungen mehr zu haben und somit dem Streben nach Glückseligkeit vollständig zu entsagen.⁶⁵ Es gibt noch ein weiteres Argument, warum ein bewusstes Streben nach Seligkeit nicht im Sinne der Moral wäre. Laut einer Mitschrift sagte Kant in einer seiner Vorlesungen in den 80er Jahren, dass, wenn der Mensch keine Neigungen hätte, „nichts von Thatigkeit bei ihm anzutreffen sein“ würde (Mrongovius, 25:1339). Warum ist das so? Im ersten Kapitel dieser Arbeit haben wir festgestellt, dass – größte Tugend vorausgesetzt – keine moralischen Handlungen möglich wären, gäbe es unser Streben nach Glückseligkeit nicht (welches wir uns in diesem Fall als in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformiert denken). Das heißt, gleichgültig ob ich nur auf meinen eigenen Vorteil bedacht bin oder nach moralischen Maximen handle, sind das Streben nach Glückseligkeit und damit meine Neigungen eine Grundvoraussetzung dafür, dass ich überhaupt handeln kann. Einen weiteren damit verwandten Erklärungsansatz finden wir in Kants anthropologischen Überlegungen: Ohne den beständigen Wechsel von Schmerzen, die wir stillen oder im Vorfeld vermeiden wollen, und Vergnügen, auf die wir Aussicht haben, hätten wir keinen Antrieb und würden überhaupt nichts tun.⁶⁶ Dies wird noch deutlicher, wenn Kant eine absolute Zufriedenheit metaphorisch mit dem Stillstand des Herzens vergleicht. Es mag ein Gegenstand der Hoffnung sein, in einem anderen Leben nicht den Mühen des ständigen Wechselspiels der

65 Genau genommen spricht dies nur dafür, dass Seligkeit Glückseligkeit im höchsten Gut nicht ersetzen kann, wenn wir von letzterem als Gegenstand einer Pflicht sprechen. Das heißt aber nicht, dass das höchste Gut, als Gegenstand der Hoffnung betrachtet, Glückseligkeit durch Seligkeit ersetzt. Kant sagt schon in der ersten Kritik, „alles Hoffen geht auf Glückseligkeit“, im nächsten Absatz wird Glückseligkeit über Neigungsbefriedigung definiert (KrV A 805f./B 833f.). Auch in der zweiten Kritik ist nicht nur Seligkeit, sondern auch Glückseligkeit etwas, worauf wir hoffen (z. B. KpV 130). Während die Seligkeit also bestimmt eine Funktion in der kantischen Moraltheologie hat, ist es sicherlich nicht die, Glückseligkeit als die ‚wahre‘ Form des Wohlbefindens im höchsten Gut abzulösen. Aus diesem Grunde halte ich auch Ansätze wie den von Mariña (2000), die zwischen einem immanenten und einen transzendenten höchsten Gut unterscheiden, wobei das letztere aus Heiligkeit und Seligkeit bestehen und einen wichtigeren und prominenteren Platz einnehmen soll, für nicht vom Text gedeckt und daher für nicht überzeugend. Vgl. auch Zobrist (2008, S. 305ff.), der meint, wäre die Glückseligkeit im höchsten Gut empirisch-bedingt, so „hätte [dies] die absurde Konsequenz zur Folge, dass Gott direkt in die Naturordnung der Sinnenwelt eingreifen müsste“. Daraus folge, „dass ‚Glückseligkeit‘ kaum eine an die Sinnenwelt gebundene, empirische Glückseligkeit meinen kann, sondern dass das eigentlich Gemeinte treffender mit ‚Seligkeit‘ umschrieben ist, die gleichsam nur als ‚Aussicht in eine selige Zukunft‘ gehofft werden kann.“ 66 „Vergnügen ist das Gefühl der Beförderung; Schmerz das einer Hinderniß des Lebens. Leben aber (des Thiers) ist, wie auch schon die Ärzte angemerkt haben, ein continuirliches Spiel des Antagonismus von beiden“ (Anth 231).

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Neigungen ausgesetzt zu sein, aber in diesem Leben würde es faktisch unseren Tod bedeuten.⁶⁷

5.7 Selbstzufriedenheit Ein zur Glückseligkeit verwandtes, aber damit nicht zu verwechselndes Phänomen ist die Selbstzufriedenheit. Auch wenn Kant Glückseligkeit manchmal als ‚Zufriedenheit‘ bezeichnet, müssen beide voneinander unterschieden werden. Selbstzufriedenheit ist der Seligkeit ähnlich: Während letztere vollständige Unabhängigkeit von Neigungen bedeutet, ist mit Selbstzufriedenheit nur eine größtmögliche Unabhängigkeit von Neigungen und eine „Obermacht“ über dieselben gemeint (KpV 118). Selbstzufriedenheit ist also im Gegensatz zur Seligkeit grundsätzlich für Menschen in diesem Leben erreichbar.⁶⁸ Kant sagt, Selbstzufriedenheit sei kein „Genuß [...] aber doch ein Wohlgefallen an seiner Existenz [...], welche das Bewußtsein der Tugend nothwendig begleiten muß“, und damit ein „Analogon der Glückseligkeit“ (KpV 117). Dieses Wohlgefallen ist „in seiner eigentlichen Bedeutung“ bloß negativ, da es wesentlich dadurch definiert ist, dass „man nichts zu bedürfen sich bewußt ist“ – da unerfüllte Bedürfnisse Schmerz und Unglück bedeuten, ist die Abwesenheit unerfüllter Bedürfnisse (und auch die Abwesenheit der Unsicherheit, ob Bedürfnisse erfüllt werden können) ein

67 „Die Natur hat den Schmerz zum Stachel der Thätigkeit in ihn gelegt, dem er nicht entgehen kann, um immer zum Bessern fortzuschreiten, und auch im letzten Augenblicke des Lebens ist die Zufriedenheit mit dem letzten Abschnitte desselben nur comparativ (theils indem wir uns mit dem Loose Anderer, theils auch mit uns selbst vergleichen) so zu nennen; nie aber ist sie rein und vollständig. – Im Leben (absolut) zufrieden zu sein, wäre thatlose Ruhe und Stillstand der Triebfedern, oder Abstumpfung der Empfindungen und der damit verknüpften Thätigkeit. Eine solche aber kann eben so wenig mit dem intellectuellen Leben des Menschen zusammen bestehen, als der Stillstand des Herzens in einem thierischen Körper, auf den, wenn nicht (durch den Schmerz) ein neuer Anreiz ergeht, unvermeidlich der Tod folgt“ (Anth 235; dazu 25:1074f.). Shell (2003, S. 223 Fn. 223) weißt darauf hin, dass der Schmerz als wesentlicher Antrieb zum Leben bei Kant nicht nur in den anthropologischen Schriften genannt wird, sondern z. B. auch bei dem ersten Beispiel der Anwendung des kategorischen Imperativs in der Grundlegung: „Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden könne und folglich dem obersten Princip aller Pflicht gänzlich widerstreite“ (GMS 422). Laut Shell ist jene Empfindung nicht die Selbstliebe, sondern der Schmerz. 68 Vgl. für diese grundsätzliche Ordnung der Begriffe Glückseligkeit, Selbstzufriedenheit und Seligkeit Religionslehre Pölitz, 28:1089f.; R 5631, 18:262; R 6115, 18:460; R 6616, 19:111.

5.7 Selbstzufriedenheit |

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angenehmes Gefühl. Wir können dies mit Kants Charakterisierung der Gesundheit als „negatives Wohlbefinden“ vergleichen, die „selber [...] nicht gefühlt werden“ kann, da wir uns ihrer eigentlich nur durch die Abwesenheit von Krankheit und Schmerzen bewusst sind (TL 485). Es ist wichtig, die Selbstzufriedenheit von einem anderen, damit eng verwandtem Gefühl zu unterscheiden. Denn an einer anderen Stelle spricht Kant ebenfalls von einem mit Tugend verbundenem Gefühl (einem „Trost“, einer „innere[n] Beruhigung“), welches „blos negativ“ ist, aber in einem anderen Sinn: Es geht hierbei nicht um das Bewusstsein der Abwesenheit von Neigungen, sondern von Pflichtübertretungen und damit das Bewusstsein, „die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt [zu haben], daß [man] sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe“ (KpV 88). Der Unterschied zur Selbstzufriedenheit liegt auf der Hand: Während es hier um den Wert der eigenen Person geht, um die Bewertung des eigenen Wohlverhaltens, geht es bei der Selbstzufriedenheit um den Wert des eigenen Zustandes, um das eigene Wohlbefinden. Kurz bevor er den Begriff der Selbstzufriedenheit einführt, sagt Kant, dass „der Rechtschaffene sich nicht glücklich finden“ könne, „wenn er sich nicht zuvor seiner Rechtschaffenheit bewußt ist“, weil „die moralische Selbstverdammung ihn alles Genusses der Annehmlichkeit, die sonst sein Zustand enthalten mag, berauben“ würde (KpV 116).⁶⁹ Hier ist der Leser aufgrund der Textnähe dazu verführt, dieses Bewusstsein der eigenen Rechtschaffenheit mit dem Begriff der Selbstzufriedenheit zu identifizieren. Klarerweise spricht Kant aber hier von dem zweiten gerade beschriebenen negativen Gefühl. Für diese Lesart spricht auch, dass wir anderenfalls in folgende Unstimmigkeit geraten würden: Wäre die Selbstzufriedenheit (anstatt des Bewusstseins der Rechtschaffenheit) notwendige Bedingung für die Glückseligkeit des Tugendhaften, würde das heißen, dass gerade das Be-

69 Ähnlich sagt Kant in der Metaphysik der Sitten: Der Mensch „kann nämlich nur hoffen glücklich (oder innerlich selig) zu sein, wenn er sich seiner Pflichtbeobachtung bewußt ist“ (TL 377). Zu beachten ist hierbei allerdings wieder der ungenaue Sprachgebrauch: Denn streng genommen (siehe den vorhergehenden Abschnitt) schließen sich Pflichtbeobachtung (was ja grundsätzlich das Vorhandensein von Neigungen voraussetzt) und Seligkeit gegenseitig aus. Detaillierter führt Kant den Gedanken hier aus: „[D]er Mensch kan nicht glüklich seyn, ohne wenn er sich selbst wegen seines Charakters Beyfall geben kan. Er kan dieses aber nur alsdann nicht, wenn er in der Moralität einen absoluten Werth sieht. Wenn er hierauf nicht rücksicht nimmt, wenn ihm das Wohlbefinden aus physischer Empfindung genug ist, so kan er glücklich seyn, ohne sich im mindesten um die Übereinstimung seines Verhaltens mit der Moral zu bekümmern, davon er nur den äußeren Schein oder die Beobachtung nach dem Buchstaben, als eine von den Regeln der Klugheit, benutzt aber ohne die Gesinung, für derselben irgend einen inneren Werth zuzugestehen“ (R 7314, 19:310).

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wusstsein der Abwesenheit von Neigungen notwendige Bedingung ihrer Erfüllung wäre. Selbstzufriedenheit und Glückseligkeit sind also nicht direkt miteinander verbunden, sondern nur ähnlich oder analog, wie Kant sagt, weil sie beide durch die Abwesenheit unerfüllter Neigungen gekennzeichnet sind.⁷⁰ Von diesen beiden negativ definierten Arten moralischer Zufriedenheit ist nun eine weitere zu unterscheiden, die positiv definiert ist: Laut Kant ist die Vernunft „einer Zufriedenheit nach ihrer eigenen Art, nämlich aus der Erfüllung eines Zwecks“ fähig (GMS 396). Dementsprechend sagt Kant, dass die wiederholte Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz „subjectiv zuletzt ein Gefühl der Zufriedenheit mit sich selbst wirken könne“. Es gehöre „selbst zur Pflicht, dieses, welches eigentlich allein das moralische Gefühl genannt zu werden verdient, zu gründen und zu cultiviren“ (KpV 38f.).⁷¹ Diese dritte Art moralischer Zufriedenheit rückt damit in die Nähe der Glückseligkeit als dem Gelingen meiner Zwecke (siehe Abschnitt 5.3).⁷² Wir können diese verschiedenen Arten der moralischen Zufriedenheit wie folgt ordnen: Eine gewisse Meisterschaft über die eigenen Neigungen geht, wenn man sich ihrer bewusst wird, mit einem Gefühl der Selbstzufriedenheit einher. Sie ist aber auch eine notwendige Bedingung für Tugend oder Rechtschaffenheit, welche mit zwei weiteren Formen von Zufriedenheit verbunden ist; erstens, negativ, keine Pflichtübertretungen begangen zu haben und zweitens, positiv, nach moralischen Maximen gehandelt, sich im Kampf gegen die Neigungen behauptet zu haben. Erstere der beiden ist wiederum notwendige Bedingung für die Glückseligkeit des Tugendhaften, weil ein schlechtes Gewissen uns das Vergnügen an der Befriedigung unserer Neigungen zu nehmen droht. Ähnlich wie bei der Seligkeit können wir uns auch hier fragen: Warum kann im höchsten Gut, im Ideal der Moral, das Wohlbefinden nicht nur aus einer (oder allen) von diesen unverdächtigen moralischen Zufriedenheiten bestehen? Es sind immerhin Gefühlszustände, die dem Menschen als endlich-sinnlichem Wesen

70 In diesem Sinne hat Wike (1994, S. 18f.) ganz recht: „[S]elf-contentment and happiness are not [...] necessarily linked because the former is a negative satisfaction (the state of recognizing no needs or ignoring needs) and the latter is a positive satisfaction (the state of gratifying needs)“. 71 In der Metaphysik der Sitten spricht Kant ähnlich von einer „moralischen Lust, die über die bloße Zufriedenheit mit sich selbst (die blos negativ sein kann) hinaus geht“ (TL 391). 72 Der Vollständigkeit wegen können wir hier eine weitere Unterscheidung zwischen der Zufriedenheit mit der eigenen moralischen Willensbestimmung und der Erreichung der eigenen moralischen Zwecke einführen, die sich an der Unterscheidung zwischen engen und weiten Pflichten orientiert: Nur letztere sind mit einem Zweck verbunden, also kann auch nur die Erfüllung weiter Pflichten in der entsprechenden Art moralischer Selbstzufriedenheit resultieren.

5.8 Glückseligkeit im höchsten Gut |

161

möglich sind.⁷³ Wie wir aus einigen Reflexionen ersehen können, hat sich Kant zumindest zeitweise mit dieser Möglichkeit beschäftigt.⁷⁴ Ein Teil von Kants Antwort auf diese Frage würde sicher in seiner Kritik an der stoischen Position, „Tugend sei das ganze höchste Gut und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Besitzes derselben“ (KpV 112), bestehen. Da für Kant aber nun klar war, „daß die Maximen der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit in Ansehung ihres obersten praktischen Princips ganz ungleichartig sind“ (KpV 112), und eine Selbstzufriedenheit, die notwendig mit Tugend einhergeht, somit nicht die ganze eigene Glückseligkeit ausmachen konnte, sah er sich vor folgende Alternative gestellt: Entweder besteht das zweite Element des höchsten Guts nur aus Selbstzufriedenheit und die Beförderung des höchsten Guts geht mit einer vollständigen Aufgabe des eigenen Glücksstrebens einher. Oder das zweite Element des höchsten Guts umfasst doch mehr als Selbstzufriedenheit. Wir haben in Abschnitt 5.4 gesehen, dass die erste Option für Kant ausscheidet. Kants Antwort wäre aber nicht vollständig ohne den Hinweis, dass das Glücksstreben und die Neigungen nicht an sich böse sind.⁷⁵ Es ist von vornherein keine moralische Aufgabe, diese vollständig aufzugeben. Insofern ist die Aufnahme von sinnlich bedingter Glückseligkeit in das höchste Gut kein Kompromiss, kein bloßes Zugeständnis an unsere sinnliche Seite, sondern geht allein aus der Idee einer moralisch guten Person, und weitergehend, aus der Idee einer moralischen Welt hervor. Mit ersterem werden wir uns im nächsten Abschnitt auseinandersetzen, mit letzterem in Kapitel 6.

5.8 Glückseligkeit im höchsten Gut In diesem Abschnitt kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Was ist Kants Argument für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut? Warum sollte Moralität, welche „wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen [kann], als etwas,

73 So auch Brandt (2007, S. 372): „Es mußte starke Gründe geben, die diese einfache, sich gewissermaßen von selbst anbietende Lösung ausgeschlossen und die vorgebliche Antinomie und die Postulate in der Dialektik erzwangen.“ Vgl. auch Wentscher (1900, S. 46f.), der davon ausgeht, die Glückseligkeit im höchsten Gut bestehe ausschließlich aus Selbstzufriedenheit. 74 „Nun kan man durch die Tugend an sich glükseelig seyn, wenn man das physische seines Zustandes für gleichgültig hält und im Bewustseyn seines Zustand moralischen Zustandes, so fern er ein immerwährender Fortschritt zum bessern ist, den ganzen Werth seines Daseyns setzt“ (R 7311, 19:309). 75 Das Böse besteht nur darin, „die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen“ (RGV 60).

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das seinen vollen Werth in sich selbst hat“ (GMS 394), „mit angemessener Glückseligkeit [ge]krön[t]“ (KpV 131) werden? Daran anschließend werden wir auch darauf eingehen, um wessen Glückseligkeit es sich dabei handelt und worin Glückseligkeit im höchsten Gut genau besteht. Betrachten wir zunächst noch einmal Kants eigene Worte, die für die Notwendigkeit von Glückseligkeit im höchsten Gut argumentieren: [Tugend ist] nicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen; denn um das zu sein, wird auch Glückseligkeit dazu erfordert und zwar nicht blos in den parteiischen Augen der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urtheile einer unparteiischen Vernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht theilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen (KpV 110).

Kurz gefasst ist es demnach nicht vernünftig, Tugend allein und ohne Glückseligkeit als höchstes Gut anzusehen. Und dies scheint sowohl vom Stand einer unparteiischen Vernunft als auch eines vollkommenen Willens zu gelten, wobei noch zu klären ist, worin zwischen beiden der Unterschied besteht. In der Literatur wurde mehrfach die Ansicht vertreten, diese Passage enthalte kein ausreichendes Argument für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut.⁷⁶ Dementsprechend wurde die Möglichkeit in Betracht gezogen, die Suche nach einem inhaltlichen Argument aufzugeben, und stattdessen anzunehmen, dass Kant sich gezwungen sah, das höchste Gut auf diese Weise zu konstruieren, um damit über die Antinomie der praktischen Vernunft das Postulat der Gottesexistenz zu rechtfertigen.⁷⁷ Diesem Vorschlag muss zugutegehalten werden, dass Kant in der ersten Kritik explizit die Zielvorgabe macht, für die transzendentalen Ideen, die die Grundlage der Postulatenlehre bilden, eine Anwendung im Praktischen zu finden (KrV A 797ff./B 825ff.). Darauf aufbauend wird im zweiten Abschnitt

76 Vgl. z. B. Murphy (1965, S. 105ff.), Simmons (1993, S. 362), Beiser (2006, S. 595), Zobrist (2008, S. 303). 77 „If Kant’s fundamental aims in the second Critique include establishing rational belief in God’s existence and the immortality of the soul, then he should feel free to appeal to whatever means are necessary to demonstrate the postulates. The Antinomy of Practical Reason is relevant in this context because Kant argues that only the notion of the complete highest good provides him with the means to establish both of these beliefs as rational. In particular, it is the inclusion of the notion of happiness, which is contained only in the notion of the complete highest good, that is indispensable for rational belief in God’s existence, given that only God, it is argued, is in a position to proportion happiness to virtue“ (Watkins 2010a, S. 163).

5.8 Glückseligkeit im höchsten Gut |

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des Kanons der reinen Vernunft die Lehre des höchsten Guts entwickelt. Da Kant in der zweiten Kritik jedoch einen anderen Aufbau wählt und dort eben nicht mehr eine Anwendung für die transzendentalen Ideen sucht, sondern von einem praktischen Standpunkt behauptet, das höchste Gut sei notwendiger Gegenstand des moralischen Gesetzes, scheint eine solche Deutung unzureichend zu sein. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Kants Formulierung, dass Tugend eine Person würdig macht, glücklich zu sein, so zu deuten, dass die Tugendhaften mit Glückseligkeit ‚belohnt‘ werden sollten. Eine Welt, in der die Tugendhaften nicht glücklich sind, kann demnach nicht das höchste Gut sein, weil sie ungerecht ist. Es ist jedoch problematisch, den Belohnungsgedanken als wesentliches Argument für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut anzusehen, denn die Glückseligkeit im höchsten Gut soll laut Kant gerade nicht als Belohnung für Moralität aufgefasst werden. Es ist somit zweifelhaft, dass eine solche Idee von Gerechtigkeit die treibende Kraft bei der Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut spielt.⁷⁸ Silber (1963, S. 193) ist der Auffassung, erst mit dem höchsten Gut, bestehend aus Tugend und Glückseligkeit, bekäme das moralische Gesetz und damit das moralische Wollen eine Materie, einen Zweck. Ohne dieses könnten wir Menschen gar nicht nach dem moralischen Gesetz handeln. Silbers Deutung ist dahingehend irreführend, dass moralisches Wollen nicht erst mit dem höchsten Gut eine Materie erhält, sondern schon dadurch, dass der kategorische Imperativ sich auf die immer schon vorhandenen materialen Maximen bezieht. Die Aufgabe des höchsten Guts ist nicht, der Moralität einen Zweck zu geben, sondern alle moralischen Zwecke zu vereinigen. Warum eine solche Vereinigung überhaupt notwendig ist, ist eine separate Frage.⁷⁹ Sie hilft uns jedenfalls nicht bei der Frage weiter, warum Glückseligkeit notwendig Teil des höchsten Guts sein muss. Der Lösungsvorschlag von Ward (1972, S. 85) konzentriert sich auf die Unvermeidbarkeit des menschlichen Glücksstrebens: Würde uns das moralische Gesetz ein höchstes Gut als obersten Zweck aller unsere Handlungen vorschreiben, in dem unser eigenes Wohlergehen gar nicht vorkommt, wäre es für uns nicht verfolgbar. Diese Idee ist unbefriedigend, insofern der kategorische Imperativ selbst keine Rücksicht auf das eigene Wohlergehen nimmt; und laut Kant ist er jederzeit befolgbar.⁸⁰ Aus der Kritik von Wards Vorschlag können wir jedoch die Richtung bestimmen, die wir einzuschlagen haben: Wir suchen eine Lösung, in

78 In Kapitel 6 werden wir uns ausführlicher mit dem Zusammenhang zwischen dem höchsten Gut und Gerechtigkeitsidealen dieser Art auseinandersetzen. 79 Vgl. dazu auch die Diskussion des höchsten Guts als Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft in Abschnitt 2.8, S. 69. Vgl. auch RGV 4ff. u. Gemeinspruch 279f. Anm. 80 Vgl. z. B.: „Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit“ (KpV 36). Vgl. auch KU 471 Anm.

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der die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut aus dem Konzept des kategorischen Imperativs hervorgeht. Eine Lösung, die hier bloß ein Zugeständnis an die sinnlichen Schwächen des Menschen sieht, ist unzureichend. Schließlich hat Grünewald (1993, S. 136) in einem kurzen Beitrag zum höchsten Gut darauf hingewiesen, dass die kantische Forderung danach, die Glückseligkeit anderer in das eigene Glücksstreben einzuschließen (KpV 34), eine entscheidende Rolle bei der Erklärung der Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut spielen müsse. Wir haben diese Passage bereits im ersten Kapitel untersucht und werden darauf aufbauend eine Lösung beschreiben. Um eine zufriedenstellende Antwort auf unsere Frage zu entwickeln, möchte ich zunächst auf einige Details der Wortwahl Kants eingehen. Was hat es mit dem Urteil der ‚unparteiischen Vernunft‘ auf sich, die die Person überhaupt als ‚Zweck an sich‘ betrachtet? Letzteres scheint eine Anspielung auf die zweite Formel des kategorischen Imperativs zu sein (GMS 429). Da ihr eine Person, die ‚sich selbst zum Zweck macht‘, gegenübergestellt wird, können wir davon ausgehen, dass Folgendes gemeint ist: Nicht nur ein auf sein eigenes Wohl fokussierter Mensch würde seine eigene Glückseligkeit als Teil des höchsten Guts ansehen, sondern auch eine tugendhafte Person, die von den eigenen Neigungen abstrahieren kann. Und so verstehe ich auch die Redeweise von der unparteiischen Vernunft. Wir denken uns hier im Gedankenexperiment ein Vernunftwesen, das soweit von seinen eigenen Wünschen abstrahieren kann, dass es unparteiisch urteilt. Was ist nun der Unterschied zwischen dieser unparteiischen und der reinen praktischen Vernunft?⁸¹ Bei Letzterer handelt es sich um eine Abstraktion. Ähnlich, wie wir bei der sinnlichen Welt von „allen Hindernissen der Sittlichkeit [...] abstrahieren“, um uns auf diese Weise eine moralische Welt zu denken (KrV A 809/B 837), können wir durch Abstraktion von der praktischen zur reinen praktischen Vernunft gelangen. Im Gegensatz dazu hat sich Kant mit der Rede von einer unparteiischen Vernunft im Gedankenexperiment bloß eine Person gedacht, die zu unparteiischem praktischen Denken fähig ist.⁸²

81 Diese Frage stellt auch Rawls (2002, S. 409). 82 Kant verwendet die Redeweise von der unparteiischen Vernunft auch bei der Einführung des Gottespostulats auf dieselbe Weise wieder (KpV 124). Auch in der Grundlegung wird diese Formulierung benutzt, um den entgegengesetzten Fall zu beschreiben: „[E]in vernünftiger unparteiischer Zuschauer [kann] sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben [...]“ (GMS 393). Vgl. auch KrV A 813/B 841: „Selbst die von aller Privatabsicht freie Vernunft, wenn sie, ohne dabei ein eigenes Interesse in Betracht zu ziehen, sich in die Stelle eines Wesens setzte,

5.8 Glückseligkeit im höchsten Gut |

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Denselben Interpretationsansatz können wir nun bei den Formulierungen ‚vollkommenem Wollen‘ und ‚zugleich alle Gewalt‘ verwenden. Zwar lassen diese Formulierungen vermuten, bestimmte Annahmen über Gott lägen dem Argument als Prämissen zugrunde.⁸³ Da jedoch erst die Konstruktion des höchsten Guts als notwendig bestehend aus Tugend und Glückseligkeit zum Gottespostulat führt, wirkt dies, zumindest konzeptuell, zirkulär: Wir können entweder die Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut mit einem Postulat über die Existenz Gottes begründen oder umgekehrt das Gottespostulat mit der Notwendigkeit der Glückseligkeit im höchsten Gut – nicht beides zugleich. Dem Text nach ist die letztere Möglichkeit eindeutig Kants Weg (KpV 124ff.). Dagegen kann zwar eingewandt werden, dass Kant hier Gott nicht postuliert, sondern, wenn überhaupt, nur vorschlägt, ihn sich versuchsweise zu denken. Trotzdem wäre es merkwürdig, an dieser Stelle ein Gedankenexperiment zur Existenz Gottes als Argument einzusetzen. Denn Kant verwendet zuvor Mühe darauf, zu zeigen, dass wir nur das über den göttlichen Willen annehmen können, was wir zuvor in ihn hineinlegen.⁸⁴ Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass besagte Formulierungen auf Gott hindeuten sollen.⁸⁵ Übernehmen wir aber die Idee des Gedankenexperiments, das wir oben für die ‚unparteiische Vernunft‘ skizziert haben, ergibt sich ein plausibleres Bild. Im ersten Kapitel habe ich die These vertreten, dass moralisch gute Handlungen immer nach allgemeiner Glückseligkeit streben. Eine Person gilt aber nicht erst dann als tugendhaft, wenn sie dieses Ziel tatsächlich erreicht, da der moralische Wert ihrer Handlungen nicht von deren Wirkungen, sondern von den Maximen der Person abhängen. Es sind also durchaus tugendhafte Personen vorstellbar, die durch ihre Handlungen weit weniger Glückseligkeit bewirken, als sie beabsichtigen (oder im

das alle Glückseligkeit ändern auszutheilen hätte, kann nicht anders urtheilen.“ Vgl. weiterhin KU 471 Anm. 83 Das nimmt z. B. Smith (1984, S. 182) an. Vgl. für Kants Theorie göttlicher Prädikate KpV 140, KU 444 und ausführlicher Religionslehre Pölitz, 28:1070–1091. 84 Vgl. Kapitel 3, insb. Abschnitt 3.2, S. 89. 85 In der Grundlegung verwendet Kant eine ähnliche Argumentationsfigur: „Nun ists unmöglich, daß das einsehendste und zugleich allervermögendste, aber doch endliche Wesen sich einen bestimmten Begriff von dem mache, was er hier eigentlich wolle“ (GMS 418). Hier wird noch deutlicher, dass nicht Gott gemeint sein kann, da Gott gar keine sinnlichen Neigungen hat. Stattdessen handelt es sich um ein Gedankenexperiment: Wir denken uns einen Menschen aus Fleisch und Blut, jedoch mit Allmacht und Allwissenheit ausgestattet, aber ansonsten mit denselben Schwächen wie andere Menschen auch. Laut Kant würde selbst dieser Mensch nicht mit Gewissheit sagen können, was ihn glücklich machen wird. Vergleiche für eine frühere Variante Kants Skizzierung einer moralischen bzw. intelligiblen Welt, KrV A 808/B 836.Vgl. dazu auch Milz (2002, S. 109), der die Interpretation, es sei hier eine göttliche Perspektive gemeint, ablehnt.

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Extremfall keine), weil ihre Handlungen nicht zu dem beabsichtigten Erfolg führen. Aus diesem Grund schlägt Kant in oben zitierter Passage ein Gedankenexperiment vor, in dem wir uns einen tugendhaften Menschen vorstellen (‚vollkommenes Wollen‘), der seine Absichten auf allgemeine Glückseligkeit tatsächlich erfolgreich realisieren kann (‚zugleich alle Gewalt‘). Im ersten Kapitel habe ich weiterhin argumentiert, dass die allgemeine Glückseligkeit, die eine tugendhafte Person anstrebt, notwendig seine eigene Glückseligkeit einschließt. Es wäre demnach tatsächlich ausgeschlossen, dass eine tugendhafte Person, die ihre Absichten erfolgreich realisieren kann, der Glückseligkeit „nicht theilhaftig“ wird.⁸⁶ Somit können wir auch verstehen, dass Kant das höchste im Sinne eines vollständigen Guts als „dasjenige Ganze, das kein Theil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist“, bezeichnet (KpV 110; H.v.m.). Tugend und Glückseligkeit sind schließlich nicht von ‚derselben‘ Art. Kant schließt hier meiner Ansicht nach an die Charakterisierung des höchsten Guts als Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft im vorhergehenden Abschnitt an. Demzufolge ist das vollständige Gut die vollständige Summe aller Gegenstände der reinen praktischen Vernunft. Tugend ist Teil von diesem Gut, insofern ein tugendhafter Wille selbst ein solcher Gegenstand ist; und es ist das oberste Gut, insofern ein tugendhafter Wille die oberste Bedingung all dieser Gegenstände ist. Glückseligkeit ist Teil des vollständigen Guts, insofern Gegenstände der reinen praktischen Vernunft, wenn erfolgreich realisiert, allgemeine Glückseligkeit hervorbringen. Und die erfolgreiche Realisierung wird hier, wie gezeigt, vorausgesetzt. Gehen wir nun kurz auf die Frage ein, um wessen Glückseligkeit es sich im höchsten Gut handelt. Schauen wir uns dazu den Satz an, der sich an das Argument für die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut anschließt: Tugend und Glückseligkeit zusammen [machen] den Besitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit [...] ausgetheilt, das höchste Gut einer möglichen Welt aus (KpV 110).

Kant spricht hier über zwei Arten des höchsten Guts, das höchste Gut „in einer Person“ (HG P ) und das höchsten Gut „einer möglichen Welt“ (HG W ). Dem beschriebenen Gedankengang folgend ist mit ersterem ein Individuum gemeint, das vollkommen tugendhaft ist und seine Zwecke vollständig realisieren kann; mit

86 Vgl. folgende Parallelstelle: „Denn in der That versetzt uns das moralische Gesetz der Idee nach in eine Natur, in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde, und bestimmt unseren Willen die Form der Sinnenwelt, als einem Ganzen vernünftiger Wesen, zu ertheilen“ (KpV 43).

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letzterem ist eine Welt gemeint, in der alle Personen vollkommen tugendhaft sind und ihre Zwecke vollständig realisieren können. In Bezug auf die Glückseligkeit scheint ein Unterschied zwischen beiden zu bestehen: In HG W ist sie proportional zur Sittlichkeit, in Bezug auf HG P ist sie es nicht. An dieser Stelle wollen wir uns auf HG P konzentrieren. Wir sprechen also darüber, was das höchste Gut für ein einzelnes Individuum ausmacht. Im nächsten Kapitel, das sich hauptsächlich der Proportionalitätsthese widmet, werden wir uns mit HG W auseinandersetzen. Kommen wir nun zu der Frage, worin die Glückseligkeit in HG P besteht. Zunächst ist zu betonen, dass Kant an keiner Stelle seine mehrmals wiederholte These zurücknimmt, Neigungsbefriedigung spiele eine konstitutive Rolle in Bezug auf menschliche Glückseligkeit (vgl. Abs. 5.2). Deshalb ist davon auszugehen, dass auch bei der Glückseligkeit im höchsten Gut die Befriedigung von Neigungen eine wesentliche Rolle spielt. Jene Neigungen, die nur durch unmoralische Handlungen zu befriedigen sind, müssen allerdings unbefriedigt bleiben. Weiterhin stellt sich die Frage, wie sich die möglichen Einschränkungen, die wir in Abschnitt 5.5 zusammengetragen haben, auf die Glückseligkeit im höchsten Gut auswirken können. Ich gehe davon aus, dass auch eine Person, die alle Gewalt hat, ihre Zwecke zu realisieren, von der fundamental instabilen Natur der Neigungen, der Gefahr der Misologie und ungünstigen Naturumständen betroffen sein kann. Die Glückseligkeit in HG P besteht somit nicht aus maximaler Neigungsbefriedigung. Es handelt sich lediglich um eine Teilmenge, die durch die genannte Bedingungen beschränkt ist. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass Kant das höchste Gut als Gegenstand praktischer Vernunft entwirft. Folgerichtig ist mit der Glückseligkeit in HG P die Glückseligkeit gemeint, die das betreffende Individuum durch eigene Handlungen bewirken kann: Mit HG P stellen wir uns einen einzelnen Menschen von höchster Tugend vor, der alle seine Zwecke erfolgreich realisieren kann. Der übergeordnete Zweck all dieser Zwecke ist allgemeine Glückseligkeit, die seine eigene enthält. Äußere Umstände und die guten und bösen Taten anderer mögen kontingent die Glückseligkeit dieses Individuums mindern oder steigern. Aber all diese äußeren Umstände verhindern nicht, dass es einen notwendigen Zusammenhang gibt zwischen der Tugend dieser Person, und der Glückseligkeit, die sie kraft ihres Handelns erwirkt. Deswegen bezeichnet Kant HG P als „Tugend und

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Glückseligkeit zusammen“, wobei Glückseligkeit nicht, wie in HG W , zur Sittlichkeit proportional ist.⁸⁷ Gleichgültig, ob wir Glückseligkeit als möglichst vollständige Befriedigung der Neigungen oder Realisierung der Zwecke betrachten, ist zu beachten, dass es einen gewichtigen Unterschied zwischen dem guten Menschen, der das höchste Gut anstrebt, und dem bösen Menschen, der das nicht tut, gibt: Die Neigungen einer tugendhaften Person sind eher von Menschenliebe, Mitleid und ähnlichem geprägt, da die eigenen guten Handlungen entsprechende Folgen in Bezug auf ihr Begehren haben (vgl. MS 212f.). Ebenso ist der übergeordnete Zweck tugendhafter Handlungen allgemeine Glückseligkeit anstatt nur der eigenen. Das bedeutet aber nicht, dass sinnliche Begierden gar keine Rolle mehr für gute Menschen spielen, die das höchste Gut anstreben.⁸⁸ Wie wir in den vorangehenden Abschnitten herausgearbeitet haben, kann auch der Tugendhafte ohne Neigungsbefriedigung nicht glücklich werden. Das Bewusstsein seiner Rechtschaffenheit und das Gelingen seiner moralischen Zwecke sind nur weitere notwendige Bedingungen, die hinzukommen. Wir dürfen also nicht daraus schließen, dass der Tugendhafte, der ‚aus Pflicht‘ und nicht ‚aus Neigung‘ handelt, seine Glückseligkeit nicht länger in die Befriedigung seiner Neigungen setzt. Zusammengefasst können wir sagen, dass die Glückseligkeit in HG P (i) aus Neigungsbefriedigung besteht, sofern sie durch moralischen Handlungen möglich ist, (ii) aus der Zufriedenheit mit der Erreichung der eigenen Zwecke, unabhängig davon, ob eine einzelne Handlung dem eigenen Wohl oder dem Wohl anderer dient, und (iii) aus der Zufriedenheit mit der eigenen Moralität. Im nächsten Kapitel werden wir die bisher ausgeklammerte These Kants untersuchen, im höchsten Gut sei Glückseligkeit proportional zur Sittlichkeit. In diesem Zusammenhang werden wir den hier entwickelten Gedankengang über die Glückseligkeit im höchsten Gut wieder aufgreifen und auf HG W übertragen.

87 Somit gilt auch Kants Charakterisierung der Glückseligkeit im höchsten Gut als „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“ (KpV 124), meines Erachtens nur für HG W . Vgl. ausführlich Abschnitt 6.2, S. 174. 88 Ich widerspreche damit Kleingeld, die meint, dass der Tugendhafte, der „seinen Willen nicht durch Neigung, sondern durch Vernunft bestimmt, [...] Glückseligkeit nicht länger in die Befriedigung von Neigungen [setzt]“. Wer „aus moralischen Gründen die Glückseligkeit anderer in seine Maxime aufgenommen hat“, werde „umso glücklicher, je mehr sich dieses Willensobjekt realisiert hat“ (Kleingeld 1995a, S. 153f.).

6 Die Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit Laut Kant besteht zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit im höchsten Gut ein proportionales Verhältnis.¹ Das vorliegende Kapitel widmet sich der Analyse dieser These. Was bedeutet sie und wodurch wird sie motiviert? In Abschnitt 6.1 werden die bisherigen Ergebnisse der Literatur zusammengefasst. Ein Großteil der Interpreten deutet die Proportionalitätsthese quantitativ, das heißt als Aussage über die Bestimmung und den Vergleich von Sittlichkeit und Glückseligkeit als quantitative Größen. Diese Idee wird oft damit verbunden, eine bestimmte Vorstellung von Gerechtigkeit als Motivation für die Proportionalitätsthese anzunehmen: Die Tugendhaften sollen belohnt und die Lasterhaften bestraft werden. Beide Interpretationsvorschläge sind aus mehreren Gründen problematisch. Laut Kant ist Glückseligkeit nicht ausreichend präzise quantifizierbar. Weiterhin widerspricht die Idee einer Belohnungsgerechtigkeit dieser Art Kants Leitgedanken, die Achtung für das moralische Gesetz sei „die einzige [...] moralische Triebfeder“ (KpV 78). Der Gedanke der Strafgerechtigkeit hingegen scheint wenig mit dem höchsten Gut zu tun zu haben, da hier moralisch Strafwürdiges per Definition (das höchste Gut beinhaltet größtmögliche Tugend) ausgeschlossen zu sein scheint. Abschnitt 6.2 stellt eine neue, alternative Interpretation vor, die die gezeigten Schwächen vermeidet. Ihr zufolge muss die Proportionalitätsthese wesentlich qualitativ verstanden werden. Wenn Glückseligkeit zur Sittlichkeit proportional ist, dann hat sie eine bestimmte Qualität, die adäquat oder passend zu der Sittlichkeit ist. Das ist dann der Fall, so meine These, wenn die tatsächlich erfahrene Glückseligkeit jene allgemeine Glückseligkeit ist, die durch Sittlichkeit angestrebt wird. Die These, dass das höchste Gut größtmögliche Sittlichkeit beinhaltet, kann unterschiedlich verstanden werden: Manchmal behauptet Kant, es gehe um vollkommene Sittlichkeit im strengen Sinne einer unfehlbaren Heiligkeit (KpV 122). An

1 Die These, dass zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit im höchsten Gut ein proportionales Verhältnis bestehe, wiederholt Kant immer wieder mit leicht voneinander abweichenden Wendungen: Im höchsten Gut werde Glückseligkeit „ganz genau in Proportion der Sittlichkeit [...] ausgetheilt“ (KpV 110). Es gebe ein „Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionirten Glückseligkeit“ (KpV 119). Zweites Element des höchsten Guts sei die der „Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit“ (KpV 124). Es gebe eine „genau[e] Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit“ (KpV 125). Vgl. auch KrV A 814/B 842; Denken 139; KpV 115, 130, 144, 145; KU 436 Anm., 450 Anm., 451. https://doi.org/10.1515/9783110599763-007

170 | 6 Die Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit

anderen Stellen scheint klar zu sein, dass es um ein menschenmögliches Maximum geht (vgl. z. B. KpV 129). Hierbei ist wiederum die Frage, ob dieses Maximum auch Schwächen beinhaltet (weil diese für sinnliche, endliche Wesen unvermeidbar sind), oder es sich von der Heiligkeit nur dadurch unterscheidet, dass letztere der Moral entgegenstehende Willensbestimmungen notwendig ausschließt. Abschnitt 6.3 vergleicht für jede dieser Varianten die qualitative mit der quantitativen Interpretation und zeigt, dass letztere in allen Fällen überzeugender ist. Abschnitt 6.4 kommt auf Kants erwähnte Äußerungen bezüglich eines Gerechtigkeitsideals zurück und schlägt vor, dass dieses aus der Proportionalitätsthese folgen, anstatt sie zu motivieren. Wenn das höchste Gut als moralische Welt eine Welt vorstellt, wie sie nach dem kategorischen Imperativ sein soll, dann sind Gerechtigkeitsurteile solcher Art Urteile über signifikante Differenzen zwischen der tatsächlichen Welt und dem höchsten Gut, die aber weder handlungsmotivierend sein, noch Belohnungserwartungen rechtfertigen sollen. Auch die Idee einer an die Moral geknüpften Hoffnung ist mit diesem Gedankengang verbunden. Diese ist genau dann rational gerechtfertigt, wenn der Hoffende (i) tugendhaft ist und (ii) auf eine seiner Tugend proportionalen Glückseligkeit hofft. Dieser Glückseligkeit ist er würdig. Da der böse Mensch hingegen keinerlei Hoffnung rational begründen kann, kann schließlich von einer Idee der Strafwürdigkeit gesprochen werden, die indirekt aus dem Konzept des höchsten Gutes und dem kategorischen Imperativ hervorgeht, obwohl eine Aufforderung zur Bestrafung des Bösen nicht direkt aus letzterem abgeleitet werden kann.

6.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick Laut Kant ist Glückseligkeit im höchsten Gut proportional zur Sittlichkeit.² Ein Großteil der Literatur geht jedoch davon aus, dass Kant die Glückseligkeit im höchsten Gut proportional zur Tugend setzt.³ Das bedeutet nur dann dasselbe, wenn wir Tugend nicht im engen Sinne (z. B. Tugend als Stärke) verstehen, sondern im weiten Sinne als die Form von Sittlichkeit, zu der Menschen als endliche,

2 Vgl. KrV A 809–814/B 837–842; KpV 110, 119, 124, 125, 145; Denken 139; KU 450 Anm., 451. 3 Vgl. z. B. Auxter (1979, S. 127), Smith (1984, S. 169), Reath (1988, S. 602), Engstrom (1992, S. 747), Wood (1992, S. 402), Kleingeld (1995b, S. 91), Milz (2002, S. 108), Bowman (2003, S. 48), Denis (2005, S. 34), Caswell (2006, S. 184), Insole (2008, S. 336), Watkins (2013, S. 220) u. Fugate (2014, S. 184). Die Verwendung des Begriffes der Tugend kommt im Zusammenhang mit Proportionalität tatsächlich äußerst selten vor, vgl. z. B. KpV 115. Dort spricht Kant allerdings nicht über sein eigenes Konzept, sondern über die Theorien anderer Philosophen.

6.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

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sinnliche Wesen fähig sind.⁴ Um Missverständnisse auszuschließen, folge ich in den nachfolgenden Abschnitten dieses Kapitels Kants Sprachgebrauch und werde von Sittlichkeit sprechen, zu der Glückseligkeit im höchsten Gut proportional ist. Die Annahme, dass es bei der Proportionalitätsthese wesentlich darum geht, die Umfänge von Tugend und Glückseligkeit zu messen und zu vergleichen, ist in der Literatur so weit verbreitet, dass sie oft nicht explizit genannt oder gar hinterfragt wird.⁵ Eine Extremposition nimmt dabei die Interpretation von Bader ein. Seiner Ansicht nach ist Tugend als der prozentuale Anteil der moralischen Handlungen einer Person an der Summe aller ihrer Handlungen zu verstehen. Die Proportionalitätsforderung bedeute, dass jede Person selbst dafür verantwortlich sei, die eigene Glückseligkeit zu bestimmen und gemäß der eigenen Tugend anzupassen.⁶ Es gibt einige Probleme mit diesem Vorschlag, von denen ich eines näher ausführen will. Wir können es das Problem der Quantifizierbarkeit nennen. Denn es ist nicht klar, ob und wie Grade von Tugend und Glückseligkeit präzise genug bestimmt werden können. Kant spricht zugegebenermaßen in einigen wenigen Fällen von ‚Graden der Tugend‘. Jedoch fügt er hinzu, dass wir den Grad unserer Tugend „nur durch die Größe der Hindernisse, die der Mensch durch seine Neigungen sich selber schafft, schätzen können“ (TL 405). Kant warnt in diesem Zusammenhang zudem vor der Täuschung, „die subjective Bedingung der Schätzung einer Größe für die objective der Größe an sich selbst zu halten“, „weil wir kein Maß für den Grad einer Stärke, als die Größe der Hindernisse haben, die da haben überwunden werden können“ (TL 397). Kant sagt also, dass wir kein objektives Maß für die

4 Vgl. dazu Abschnitt 4.2, S. 115. 5 Vgl. z. B. Rawls (2000, S. 314): „Consider in sequence the members of a social world and assign to each an appropriate measure of achieved moral worth. Then the highest good for this particular world is given by a sequence of degrees of happiness, each degree of which is paired with the assigned measure of moral worth of the corresponding member.“ Vgl. auch Bader (2015, S. 187): „The proportionality requirement implies that given a certain ‚level‘ or ‚amount‘ of virtue, practical reason judges a corresponding amount of happiness to be good and one of its objects. Having this level or amount of virtue without the corresponding happiness would leave out something good and would constitute an incompleteness, while having a certain amount of happiness without having the corresponding level or amount of virtue would not be something good but would instead conflict with the necessary connection that holds between the components if the complete good.“ Vgl. weiterhin Silber (1959, S. 472), Engstrom (1992, S. 750 u. 766f.), Atwell (1986, S. 101ff.), Reath (1988, S. 602), Moran (2011, S. 79), Fugate (2014) u. O’Connell (2014, S. 488). 6 Vgl. Bader (2015, S. 198): „[T]he proportionality claim is not to be understood in terms of there being reason to apportion happiness proportionately, but rather in terms of there being proportionate reason to pursue happiness. That is, rather than determining what people deserve and then ensuring that they end up with what they deserve, people have reason to pursue happiness only to the extent to which it is deserved.“

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Grade der Tugend besitzen, wie Baders Interpretation es zu benötigen scheint. Eindeutiger noch, Kant diskutiert nirgendwo etwas Vergleichbares in Bezug auf Glückseligkeit, etwa Grade der Glückseligkeit. Für eine weniger anspruchsvolle Version dieser Interpretation würde es ausreichen, dass es nicht wir sind, die Grade von Tugend und Glückseligkeit präzise genug bestimmen können müssen, sondern dass sie prinzipiell bestimmbar sind (bzw. von einem göttlichen Wesen). Für Kant liegt jedoch auf der Hand, dass Glückseligkeit ein Begriff mit ständig wechselndem Inhalt ist, der zu keinem Zeitpunkt richtig zu fassen ist. Und diese Unfähigkeit bzw. die Unmöglichkeit der präzisen Bestimmung sei nicht auf eingeschränkte Fähigkeiten des Subjekts zurückzuführen, sondern auf essentielle Eigenschaften des Objekts (GMS 418).⁷ Die quantitative Interpretation der Proportionalitätsthese wird anscheinend dadurch begünstigt, dass wir den Proportionalitätsbegriff vor allem aus der Mathematik kennen. Jedoch greift Kant weder auf die mathematische Definition zurück, um die Verwendung des Proportionalitätsbegriffs in dem Konzept des höchsten Guts zu erläutern, noch belegen die Anhänger dieser Interpretation am Text, welche Stellen eine solche Sichtweise nahelegen.⁸ Ich möchte hinzufügen, dass eine mathematisch korrekte Lesart des Proportionalitätsbegriffs Kommutativität implizieren würde: Laut der seit Euklid gebräuchlichen Definition in der Mathematik sind zwei Variablen dann proportional, wenn eine Änderung in der einen Variable immer von einer Änderung in der anderen Variable begleitet wird und diese Änderungen immer jeweils mit demselben Faktor geschehen. Dies gilt aber für beide Richtungen: Wenn zwei Variablen proportional sind, verursacht nicht nur eine Änderung in der ersten Variable eine Änderung in der zweiten, sondern auch umgekehrt.⁹ In Bezug auf das höchste Gut müsste also eine Steigerung bzw. Minderung von Glückseligkeit eine entsprechende Anpassung der Sittlichkeit zur Folge haben. Ein großer Teil von Kants Ausführungen zum höchsten Gut besteht aber nun gerade darin, zu betonen, dass die moralische Komponente das führende

7 Aus diesem Grunde würde auch der folgende Einwand ins Leere laufen: Kant definiert Glückseligkeit als die „Idee [in der sich] alle Neigungen zu einer Summe vereinigen“ (GMS 399); das könnte so verstanden werden, als ob der Grad der Glückseligkeit als das Verhältnis der Anzahl befriedigter Neigungen zur Anzahl aller Neigungen definiert werden könnte (à la Bader). Wenn wir unsere Neigungen tatsächlich zählen und der Wichtigkeit nach gewichten könnten, wäre Glückseligkeit vielleicht wirklich auf diese Weise messbar. Eine solche Sichtweise ist jedoch nicht vom kantischen Text gedeckt. 8 Darauf hat auch Keller (2008, S. 139f.) hingewiesen. Vgl. auch Albrecht (1978, S. 100f.), der sich ebenfalls ablehnend gegenüber Interpretationen geäußert hat, die das „Abmessen von Tugendund Glückseligkeitsquanten“ beinhalten. 9 Vgl. z. B. Walz (2002, S. 269f.) u. Bosch (2000, S. 616).

6.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

173

Element ist, das Glückseligkeit bedingt und verursacht und nicht umgekehrt (vgl. KpV 110ff.). Sehen wir von den genannten Problemen ab und halten dennoch an der grundsätzlichen These fest, Sittlichkeit und Glückseligkeit seien zwei veränderbare Größen, und die Proportionalitätsthese sei eine Aussage über den Zusammenhang jener Änderungen, bleiben einige Herausforderungen bestehen. So führt Guyer (2000b, S. 52 Fn.14) gegen die Proportionalitätsthese ins Feld, dass es im höchsten Gut ausschließlich um Maxima von Tugend und Glückseligkeit gehe. Es lässt sich somit fragen, was Proportionalität in diesem Kontext bedeutet, wenn damit mehr gesagt sein soll, als dass zwei Größen einander entsprechen sollen, indem sie beide maximal sind. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Kant Seligkeit als „das proportionirte Wohl“ von Heiligkeit bezeichnet (KpV 128). Da – im Gegensatz zu Sittlichkeit und Glückseligkeit – weder Seligkeit noch Heiligkeit als veränderbare Größen beschrieben werden, erhalten wir hier einen weiteren Grund dafür, der quantitativen Deutung der Proportionalitätsthese mit Skepsis zu begegnen.¹⁰ Es gibt eine weit geteilte Annahme in der Literatur, die Motivation für die Einführung der Proportionalitätsthese sei eine bestimmte Idee von Gerechtigkeit: jedem solle Glückseligkeit in dem Maße zu Teil werden, wie es die eigene Tugend rechtfertige. Diese Annahme korreliert häufig mit einer quantitativen Interpretation der Proportionalitätsthese.¹¹ Zwar finden wir einige Passagen im kantischen Werk, die nahelegen, dass Kant eine solche Gerechtigkeitsauffassung vertreten hat.¹² Allerdings ist nicht klar, ob diese Auffassung hinter der Proportionalitätsthese im höchsten Gut steht. Darüber hinaus wären damit einige Probleme verbunden. Wenn Gerechtigkeit Kants Motivation wäre, wäre erstens zu erwarten, dass das Konzept des höchsten Guts auf Glückseligkeit als Belohnung für Tugend Bezug nehmen würde und auf Vorenthaltung oder Wegnahme von Glückseligkeit als Strafe für Laster. Tatsächlich sagt Kant jedoch, Tugend sei ihr „eigner Lohn“ (TL 391); Glückseligkeit im höchsten Gut solle gerade nicht als Belohnung für Tugend verstanden werden. Strafgerechtigkeit scheint hingegen thematisch weit vom höchsten Gut entfernt zu sein. Denn für was soll bei größtmöglicher Tugend

10 Vgl. zur Seligkeit auch Abschnitt 5.6, S. 154. 11 Nach Schmitz (1989, S. 87) bedeute die Proportionalitätsthese, dass die Tugend „mit Heller und Pfennig“ abgerechnet werden müsse. Vgl. auch Anacker (1981, S. 262), Smith (1984, S. 179), van der Linden (1988, S. 79), Wood (1992, S. 402), Nenon (1997, S. 426ff.), Recki (1998, S. 607), Beiser (2006, S. 597), Geismann (2006, S. 2), Brandt (2007, S. 376), Härle (2011, S. 79), O’Connell (2012, S. 271), Dörflinger (2012, S. 48) u. Barney (2015, S. 177). 12 Vgl. KpV 61, KU 458, Misslingen 260 Anm.

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Bestrafung nötig sein?¹³ Zweitens ist nicht klar, ob eine solche Gerechtigkeitsidee von dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden kann. Wenn nicht, würde hier ein zusätzliches moralisches Prinzip eingeführt, das potentiell mit dem kategorischen Imperativ in Konflikt geraten kann. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass eine solche Idee von Gerechtigkeit andere Handlungen gebietet als der kategorische Imperativ.¹⁴ Auch, wenn die Proportionalitätsthese nicht durch ein Gerechtigkeitsideal begründet wird, kann es einen solchen Konflikt geben. Denn auch dann müssten wir zeigen, wie diese These aus dem kategorischen Imperativ abgeleitet werden kann.¹⁵ Es gibt also eine gewisse textliche Nähe zwischen der Proportionalitäts- und der Gerechtigkeitsthese, aber die Verbindung zwischen beiden kann nicht darin bestehen, dass erstere durch letztere motiviert wird. Zusammenfassend können wir sagen, dass wir bei der Proportionalitätsthese vor zwei großen Problemen stehen: Es ist nicht klar, welchen sachlichen Inhalt sie hat. Und wir wissen nicht, mit welcher Motivation Kant sie eingeführt hat. Für beide Probleme hat die Literatur bisher keine befriedigenden Lösungen angeboten. Im folgenden Abschnitt schlage ich vor, Proportionalität im Kontext des höchsten Guts wesentlich qualitativ anstatt quantitativ zu verstehen. Wir werden sehen, dass diese Interpretationsrichtung überzeugender mit den genannten Herausforderungen umgehen kann.

6.2 Ein qualitatives Verständnis von Proportionalität Wir haben festgestellt, dass die bisherigen Interpretationsvorschläge der Literatur zur Proportionalitätsthese nicht überzeugend sind. Eine zentrale Prämisse vieler dieser Vorschläge ist die Idee, die Proportionalitätsthese, angelehnt an die entsprechende Definition in der Mathematik, quantitativ zu verstehen, und somit als die

13 Aus diesen Gründen haben sich Hägerström (1902, S. 538ff.), Albrecht (1978, S. 81) und Himmelmann (2003, S. 203) gegen den Vorschlag ausgesprochen, die Proportionalitätsthese werde durch ein Gerechtigkeitsideal motiviert. 14 Dieses Problem hat schon Yovel (1972, S. 265) gesehen: „The inevitable conclusion is that, on this crucial issue, extraneous moralistic considerations are brought in, deriving probably from a vague feeling of ‚justice‘ but rootless in Kant’s basic ethics. [T]his is an external viewpoint which Kant attributes to the moral law itself, without being able to show its derivation from it.“ 15 „[T]here is nothing in the [procedure of the categorical imperative] that can generate precepts requiring us to proportion happiness to virtue“ (Rawls 2000, S. 316). Vgl. auch Reath (1988, S. 611f.), Kleingeld (1995a, S. 163) und schon Greiling (1795, S. 292): „Es ist bis jetzt kein Grund aufgezeigt worden, warum Glückseeligkeit mit Sittlichkeit in Harmonie treten solle.“

6.2 Ein qualitatives Verständnis von Proportionalität |

175

Aussage, dass Sittlichkeit und Glückseligkeit zwei Größen sind, die sich in demselben Verhältnis ändern. Allerdings bezieht sich Kant an keiner Stelle explizit auf die mathematische Definition. Es ist somit ebenso plausibel, dass Kants Gebrauch des Ausdrucks „proportional“ eine Übersetzung des lateinischen „proportio“ ins Deutsche sein könnte, was allgemein ein „ähnliches Verhältnis“ meinen kann und keinesfalls auf die mathematische Bedeutung beschränkt ist.¹⁶ Wenn wir uns von letzterer lösen, bemerken wir, dass ein quantitatives Verständnis von Proportionalität ebenfalls nicht zwingend ist, da auch dieses nicht von Kant vorgegeben wird.¹⁷ Diesem Gedanken folgend möchte ich eine neue Interpretation vorschlagen, derzufolge die Proportionalitätsthese im Konzept des höchsten Guts wesentlich qualitativ anstatt quantitativ verstanden wird. Die grundsätzliche Idee lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Eine Person ist glücklich in Proportion zu ihrer Sittlichkeit, wenn sie so glücklich ist, wie sie in einer Welt wäre, in der jeder (i) sittlich allgemeine Glückseligkeit anstreben würde und (ii) diese angestrebte Glückseligkeit vollständig realisiert würde.

Bevor dieser Vorschlag detaillierter begründet wird, sei kurz erläutert, wie er zu verstehen ist. Erstens bleibt davon die plausible Annahme unbenommen, dass Sittlichkeit und Glückseligkeit als Größen beschreibbar sind, die uns subjektiv kleiner oder größer erscheinen können (z. B. ‚Heute bin ich glücklicher als noch vor einem Jahr.‘ – ‚Früher war ich nur auf meinen Vorteil bedacht; heute nehme ich auf die Interessen anderer Rücksicht.‘). Bestritten wird nur die Behauptung, mit der Proportionalitätsthese wolle Kant sagen, diese Größen ließen sich hinreichend präzise und objektiv messen und aufeinander abbilden.¹⁸ Zweitens soll der Ausdruck ‚qualitativ‘ nicht sagen, dass eine tugendhafte Person auf eine ‚bessere‘ Weise glücklich sei als eine böse Person. Es soll damit lediglich ausgedrückt werden, dass es verschiedene Arten von Glückseligkeit gibt, die nicht quantitativ vergleichbar sind; und die Glückseligkeit im höchsten Gut ist von einer Art, die Sittlichkeit qualitativ entspricht.

16 Vgl. dazu Georges (1992, S. 2013f.). Eine Anmerkung von Reath (1988, S. 604f. Fn. 16) hat mich veranlasst, in diese Richtung zu forschen. 17 Vgl. die Stellenangaben in Fußnote 2, S. 170. 18 Vgl. TL 397, 405. Wenn wir uns technischer Termini aus der Mathematik bedienen, können wir sagen, dass es zwar unplausibel ist, verschiedene Grade von Sittlichkeit und Glückseligkeit objektiv auf einer kardinalen Skala abzubilden, aber es dennoch möglich ist, sie subjektiv auf einer ordinalen Skala anzuordnen.

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Mein Vorschlag eines qualitativen Verständnisses der Proportionalitätsthese basiert auf Kants Unterscheidung zwischen dem höchsten Gut „in einer Person“ (HG P ) und dem höchsten Gut „einer möglichen Welt“ (HG W ). HG P besteht aus „Tugend und Glückseligkeit zusammen“, HG W schließt zusätzlich „Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit“ mit ein (KpV 110).¹⁹ Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Versionen des höchsten Guts besteht also darin, dass in der einen die Proportionalitätsthese gilt und in der anderen nicht. Ein Vergleich beider Versionen ermöglicht uns somit den Schluss auf den sachlichen Gehalt der Proportionalitätsthese. Aufbauend auf den Ergebnissen des ersten und des fünften Kapitels können wir Folgendes sagen: Kant konstruiert HG P durch ein Gedankenexperiment, bei dem wir uns eine vollkommen sittliche Person vorstellen („vollkommenes Wollen“), die zugleich alle Macht hätte, ihre Ziele zu erreichen („alle Gewalt“). Da jede moralische Handlung als übergeordnetem Zweck allgemeine Glückseligkeit inklusive der eigenen anstrebt, kämen somit in jener Person „Tugend und Glückseligkeit zusammen“ (KpV 110). HG P ist demnach ein gewisses praktisches Maximum, das ein Individuum erreichen kann, unabhängig davon, wie sich andere Personen verhalten: Größtmögliche eigene Tugend, zusammen mit der damit einhergehenden Selbstzufriedenheit und maximaler Umsetzung eigener moralisch erlaubter Zwecke. Schauen wir uns nun den zweiten Teil des Satzes an: [...] hiebei aber auch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion der Sittlichkeit [...] ausgetheilt, [würde] das höchste Gut einer möglichen Welt ausmachen (KpV 110).

Wir können annehmen, dass dies eine Erweiterung des Gedankenexperiments ist. HG W ist eine Welt, in der alle Personen vollkommen sittlich sind und ihre Zwecke vollständig realisieren können. Es ist eine Welt, wie sie gemäß dem kategorischen Imperativ sein soll. Während die moralisch beste Person (HG P ) zwar allgemeine Glückseligkeit anstrebt, ist für sie die Partizipation an einer solchen nur in der moralisch besten Welt (HG W ) garantiert. Nur in HG W ist die Glückseligkeit des Handelnden im Einklang mit seiner Sittlichkeit, insofern nur in einer solchen Welt die allgemeine Glückseligkeit verwirklicht ist, die von sittlichen Personen angestrebt wird. Meine These ist nun, dass dies der sachliche Kern der Proportionalitätsthese ist: In HG W ist die Glückseligkeit jedes Einzelnen von einer Art, die adäquat oder passend zur Sittlichkeit ist, insofern sie Teil der realisierten allgemeinen Glückseligkeit ist, die gemeinsam sittlich angestrebt wird. Betrachten wir hingegen HG P ,

19 Vgl. zum höchsten Gut einer möglichen Welt auch Gemeinspruch 279, RGV 5 u. KU 453.

6.2 Ein qualitatives Verständnis von Proportionalität |

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so könnte sie – trotz „aller Gewalt“, die wir zum Versuche annehmen – nicht in solcher Weise an einer maximalen allgemeinen Glückseligkeit partizipieren, da eine solche (i) die Sittlichkeit aller Personen voraussetzt und (ii) durch ungünstige Natureinflüsse wie schwere Krankheiten und Naturkatastrophen gemindert werden kann.²⁰ Betrachten wir die Glückseligkeit des Einzelnen, so gibt es zwischen HG P und HG W zwei wesentliche Unterschiede. Erstens schließen in HG W alle anderen Akteure die Interessen des Einzelnen in ihre praktischen Überlegungen mit ein. Eine solche Welt wäre geprägt von Gleichberechtigung, Interessenausgleich und gegenseitiger Fürsorge. Da aber das führende Unterscheidungsmerkmal zwischen HG P und HG W nicht ‚Individuum vs. Gesamtheit aller Individuen‘ ist, sondern das Vorhandensein von Proportionalität nur in HG W , müssen wir, zweitens, davon ausgehen, dass in HG W jedwede negativen Natureinflüsse auf die allgemeine Glückseligkeit ausgeschlossen sind oder ausgeglichen werden.²¹ HG W ist also die ideale Welt, wie sie durch reine praktische Vernunft vorgestellt und eingefordert wird. Die Proportionalitätsthese macht demnach nicht eine Aussage über das quantitative Verhältnis zweier Größen, sondern darüber, ob der sittliche Mensch an der Art von allgemeiner Glückseligkeit partizipieren kann, die er selbst anstrebt. Im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen HG P und HG W können wir schließlich Kants Charakterisierung der Glückseligkeit im höchsten Gut als den „Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“, einordnen (KpV 124). Dieser Satz ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens ist es eine der seltenen Explikationen des Begriffs in der Dialektik der zweiten Kritik. Dies ist insofern auffällig, als in der Grundlegung und der Analytik der zweiten Kritik häufig mit Verwendung des Glückseligkeitsbegriffs zumindest eine kurze Formel zu seiner Bestimmung einhergeht (vgl. Abschnitt 5.1). Zweitens ist diese Formulierung relativ selten im kantischen Werk und hebt sich von den Definitionen ab, die von Neigungsbefriedi-

20 Ein ähnlicher Gedanke wird schon im Kanon der KrV ausgedrückt: „Nun läßt sich in einer [...] moralischen Welt [...] ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionirten Glückseligkeit auch als nothwendig denken, weil die durch sittliche [...] Gesetze theils bewegte, theils restringirte Freiheit selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit [...] sein würd[e]. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann thue, was er soll [...]“ (KrV A 809f./B 837f.). Vgl. für alternative Deutungen dieser Stelle Denis (2008, S. 85ff.), Denis (2011, S. 173) u. Yovel (1972, S. 256–269f.). 21 Wie das genau geschieht bzw. was wir darüber wissen können, ist dem hier analysierten Gedankengang konzeptuell nachgelagert und wird in der Postulatenlehre behandelt.

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gung, Zufriedenheit oder Wohlbefinden sprechen.²² Die Formel ‚Wunsch und Wille‘ können wir wie folgt verstehen: Es sind sowohl die Bedürfnisse gemeint, die nicht direkt mit einer Handlungsmotivation verbunden sind (Wunsch), als auch solche, die es sind (Wille).²³ Für HG P geht, wie wir gesehen haben, nicht „alles nach Wunsch und Willen“. Es ist somit davon auszugehen, dass diese Beschreibung des Glückseligkeitsbegriffs ausschließlich für HG W gilt. Aufbauend auf Kants Unterscheidung zwischen HG P und HG W haben wir die These aufgestellt, dass die Glückseligkeit im höchsten Gut einer möglichen Welt proportional zur Sittlichkeit ist, weil sie als allgemeine, kooperativ erreichte Glückseligkeit adäquat zu ihr ist. Im Anschluss an diese Unterscheidung beschreibt Kant HG W weiterhin wie folgt: [...] so bedeutet dieses [HG W ; F.M.] das Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugend immer als Bedingung das oberste Gut ist, weil es weiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeit immer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar angenehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und in aller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraussetzt (KpV 110f.).

In Kapitel 4 haben wir erkannt, dass in dieser Passage die Formulierung des Bedingungsverhältnisses besonders heraussticht: Glückseligkeit setze „jederzeit das moralische gesetzmäßige Verhalten als Bedingung“ voraus (KpV 110). Wir haben argumentiert, dass hier – im Gegensatz zum sonstigen Gebrauch des Bedingungsbegriffs im Praktischen – keine hinreichende, normative Bedingung für ein Verhalten festgelegt wird, sondern eine notwendige Bedingung für die Existenz tatsächlicher Glückseligkeit.²⁴ Nun können wir diese Aussage etwas besser verstehen, da sie – ebenso wie die Proportionalitätsthese – nur für HG W und nicht für HG P gilt: In HG P kommen Tugend und Glückseligkeit zusammen, weil wir von einem Individuum von größtmöglicher Sittlichkeit ausgehen, das seine Zwecke vollständig realisieren kann. Deshalb wird die eigene Glückseligkeit in dem Sinne maximal befördert, dass sie durch moralische Maximen und Handlungen beförderbar ist. Darüber, wie sich das Verhalten anderer auf die Glückseligkeit dieses Individuums auswirkt, kann a priori keine Aussage gemacht werden, da wir über seine Mitmenschen keinerlei Annahme getroffen haben. Betrachten wir aber die der Sittlichkeit angemessene oder eben proportionale Glückseligkeit in HG W , so ist

22 Vgl. jedoch GMS 418, TL 480. 23 Vgl. für das entsprechende Verständnis des Ausdrucks Wunsch als „Begehren ohne Kraftanwendung“ Anth 251 und MS 213. Vgl. für sein Konzept des Willens, das demgegenüber stark an das Handeln gekoppelt ist, GMS 427 und MS 213. 24 Vgl. Abschnitt 4.3, S. 120.

6.2 Ein qualitatives Verständnis von Proportionalität |

179

moralisches Verhalten tatsächlich eine notwendige Bedingung dafür, weil es eine allgemeine Glückseligkeit ist, die zwar von Einzelnen unabhängig von Anderen angestrebt, aber nur von allen gemeinsam realisiert werden kann. In dem sich anschließenden Absatz spricht Kant von Tugend und Glückseligkeit als „[z]wei in einem Begriffe nothwendig verbundene[n] Bestimmungen“ (KpV 111). Nach der Proportionalitätsthese und dem soeben erwähnten Bedingungsverhältnis ist dies eine weitere Behauptung, die Kant nicht explizit begründet. Auf Basis der hier entwickelten Interpretationsrichtung lässt sich jedoch zeigen, dass sie sich aus den vorhergehenden Überlegungen Kants ableiten lässt: Tugend und Glückseligkeit sind genau dann notwendig miteinander verbunden, wenn es Tugend nicht ohne Glückseligkeit und Glückseligkeit nicht ohne Tugend gibt. Das ist in HG W der Fall. Weil dort die Voraussetzung gilt, dass alle Zwecke vollständig realisiert werden können, kann es dort größte Tugend nicht ohne allgemeine Glückseligkeit geben, die von jeder sittlichen Handlung als übergeordnetem Zweck angestrebt wird. Jene allgemeine, der Sittlichkeit angemessene Glückseligkeit setzt wiederum die Sittlichkeit aller voraus, da sie durch letztere nicht nur verursacht, sondern inhaltlich bestimmt wird. Dem Text chronologisch folgend spricht Kant schließlich davon, dass Tugend Glückseligkeit im höchsten Gut „wie die Ursache eine Wirkung, hervorbringe“ (KpV 111). Wie wir sehen, geht auch diese These, im Lichte der hier vorgestellten Interpretation, aus Kants vorangehendem Gedankengang hervor. Ein möglicher Einwand gegen den hier vorgestellten Gedankengang könnte auf dem fehlenden Bezug zu dem Postulat der Gottesexistenz basieren. Schließlich führt Kant Gott als „ein[e] von der Natur unterschieden[e] Ursache der gesammten Natur“ ein, „welche den Grund [...] der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit“ enthalte (KpV 125), und bezeichnet Gott sogar als „Austheile[r]“ der Glückseligkeit im höchsten Gut (KpV 128). Müsste sich eine Deutung der Proportionalitätsthese nicht darauf beziehen? Zunächst ist zu sagen, dass die Konstruktion des höchsten Guts der Postulatenlehre konzeptuell vorgelagert ist. Kant begründet die Postulatenlehre anhand von Eigenschaften des höchsten Guts und nicht umgekehrt. Die Proportionalitätsthese – als etwas letzterem Zugehöriges – muss somit unabhängig von der Postulatenlehre begründbar sein.²⁵ Diesem Anspruch wird der hier dargelegte Ansatz dadurch gerecht, indem er die Proportionalitätsthese aus Kants Überlegungen darüber ab-

25 Es ist allerdings ergänzend zu dem hier dargelegten Ansatz möglich, die qualitative Interpretation der Proportionalitätsthese mit Rückschlüssen aus Kants Ausführungen zum Postulat der Gottesexistenz zu begründen. Vgl. dazu Marwede (2016).

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leitet, wie eine Welt, die unter idealen Bedingungen vom kategorischen Imperativ bestimmt wäre, aussehen würde.²⁶ Erst im Anschluss an die Konstruktion des höchsten Guts einer möglichen Welt stellt Kant fest, dass zwei Dinge der vollständigen Realisierung von HG W im Wege stehen: Erstens kann die Sittlichkeit der Menschen als endliche, sinnliche Wesen zu keinem Zeitpunkt die Form der Heiligkeit annehmen, also der notwendigen Übereinstimmung des Willens mit dem moralischen Gesetz. Zweitens richten sich die Naturgesetze und damit die äußere Umwelt, in der wir uns befinden, nicht nach dem moralischen Gesetz; im ungünstigen Fall trifft den sittlichen Menschen großes Unglück, auch wenn er und seine Mitmenschen alles daran setzen, das höchste Gut hervorzubringen. Diese Mängel sind die Motivation für die Einführung der Postulatenlehre. Es ist also keine Schwäche, die Proportionalitätsthese ohne Bezug auf die Postulatenlehre zu deuten. Im Gegenteil, der hier vorgestellte Ansatz entspricht dem kantischen Argumentationsverlauf. Um die qualitative Interpretation der Proportionalitätsthese weiter zu untermauern, sei auf ein konkretes Beispiel hingewiesen, dass Kant in der Schrift Anthropologie in pragmatischer Hinsicht dafür gibt, wie Sittlichkeit und Glückseligkeit in Proportion gebracht werden können. Es handelt sich um eine Passage aus dem dritten Buch des ersten Teils, die mit „Von dem höchsten moralisch=physischen Gut“ überschrieben ist (Anth 277ff.). Darin geht es um die Tugend der Umgänglichkeit, genauer um die „Regeln eines geschmackvollen Gastmahls, das die Gesellschaft animirt“ (Anth 281). Zu den Pflichten eines Gastgebers gehöre es etwa, die Zahl der Gäste weder zu klein noch zu groß zu wählen, so dass das Tischgespräch weder stockt, noch die Gesellschaft sich in kleinere Gruppen aufspaltet. Zunächst ist leicht zu sehen, dass Kant hier die Anwendung des moralischen Überlegens beschreibt, wie wir es im ersten Kapitel untersucht haben. Wer bloß zum eigenen Vergnügen oder auch aus Sympathie zu seinen Mitmenschen eine Tischgesellschaft ausrichtet, handelt noch nicht allgemeingültig, auch wenn seine Maxime im Verfahren des kategorischen Imperativs keinen ‚Widerspruch im Denken‘ produziert. Die Transformation des Strebens nach eigenem Glück in ein Streben nach allgemeinem Glück muss hinzukommen. Besonders aufschlussreich sind dabei Kants Hinweise, der Gastgeber müsse die Perspektive des Gastes einnehmen (z. B. Anth 278 Anm. 2). Der Gastgeber soll also nicht aus Eigennutz handeln,

26 Dies steht in direkter Opposition zu Engstrom (1992, S. 778): „[I]t is only subsequent to the postulation of the existence of God that there is any basis for thinking of proportionality in relation to a given outcome.“

6.3 Proportionalität und sittliche Vollkommenheit |

181

sondern ein Mahl ausrichten, dass alle Teilnehmenden genießen können, und an diesem allgemeinen Glück partizipieren. In Bezug auf „die Elemente und die Proportion ihrer Verbindung“ im höchsten Gut sagt Kant, dass es „hier nicht auf den Grad des“ Wohllebens ankomme, „sondern nur auf die Art des Verhältnisses, wie die Neigung [...] durch das [moralische] Gesetz [...] eingeschränkt werden soll“ (Anth 277; H.v.m.). So darf etwa der zu erwartende Genuss für den Gastgeber nicht willensbestimmend sein, da anderenfalls die Gefahr besteht, dass „der gesellschaftliche Genuß prahlerisch durch Verschwendung erhöht wird“ (Anth 277). Es geht also nicht darum, den Grad der Glückseligkeit an den Grad der Sittlichkeit anzupassen, sondern allein darum, nach dem kategorischen Imperativ zu handeln. Die resultierende Glückseligkeit für den Handelnden ist dann – im Erfolgsfall – proportional zu seiner Sittlichkeit, weil es Teil der allgemeinen Glückseligkeit ist, die durch diese Sittlichkeit angestrebt wurde. Wir sehen also, dass auch in Bezug auf dieses Beispiel die qualitative Interpretation der Proportionalitätsthese klar zu bevorzugen ist.

6.3 Proportionalität und sittliche Vollkommenheit Laut Kant besteht das höchste Gut aus der „größte[n] Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit als in der genausten Proportion verbunden“ (KpV 129). An manchen Stellen klingen Kants Äußerungen zwar so, als wäre vollkommene Sittlichkeit für Menschen tatsächlich möglich.²⁷ Oft sagt Kant jedoch deutlich, dass ein endliches Wesen wie der Mensch niemals einen perfekten – oder heiligen – Willen haben kann; tatsächlich können wir einen solchen, wie Kant meint, nur durch einen unendlichen Fortschritt erreichen.²⁸ Zu jedem beliebigen Zeitpunkt wird die Tugend eines endlichen Wesens demnach niemals perfekt sein. Aber auch, wenn wir von letzterem ausgehen, ist nicht ganz klar, was das ‚größte Maß‘ an Tugend hier bedeutet: (a) ein Grad der Tugend, der sich von Heiligkeit nur darin unterscheidet, dass er nicht notwendigerweise erreicht wurde, oder (b) ein Grad an Tugend, der immer auch einige Schwächen beinhaltet (weil diese für sinnliche, endliche Wesen unvermeidbar sind).

27 Vgl. z. B.: „Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit“ (KpV 36). Vgl. KU 471 Anm. 28 Vgl. „Das moralische Gesetz [...] fordert Heiligkeit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommenheit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immer nur Tugend ist [...], folglich Bewußtsein eines continuirlichen Hanges zur Übertretung“ (KpV 128; H.v.m.). Vgl. auch KpV 32f., 83, 122f. und R 6157, 23:471.

182 | 6 Die Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit

Die hier vorgestellte qualitative Interpretation berücksichtigt, anders als die quantitative, beide Fälle. Betrachten wir zuerst Fall (a): Denken wir uns zum Versuche eine Person in dem höchsten Gut einer möglichen Welt (HG W ), welche vollkommen sittlich ist und eine Art von Glückseligkeit genießt, die auf gegenseitiger Fürsorge und Anerkennung basiert. Diese Glückseligkeit ist in gewisser Weise ein Maximum, da es die Glückseligkeit ist, die tugendhafte Personen unter idealen Bedingungen genießen können. Sie ist jedoch vollständig verschieden von der Glückseligkeit einer bösen Person, die alle Macht hätte, ihre Ziele zu erreichen. Auch das ist eine Art von Glückseligkeit, die als Maximum beschrieben werden könnte, denn sie erlaubt maximale Neigungsbefriedigung ohne Rücksicht auf moralische Bedenken. Ich bezweifle, dass wir eine sinnvolle Antwort auf die Frage finden, welche dieser beiden Arten von Glückseligkeit quantitativ größer oder kleiner ist. Aber wir können den qualitativen Unterschied beschreiben. Im ersten Fall hat zum Beispiel das wechselseitige Anbieten und Annehmen von Hilfe ohne Erwartung einer Gegenleistung einen großen Einfluss auf die erfahrene Glückseligkeit der Beteiligten. Im zweiten Fall können solche Aktivitäten die Glückseligkeit schwerlich beeinflussen; es ist zu bezweifeln, dass eine böse Person überhaupt in der Lage ist, ein solches Miteinander über den bloßen Eigennutzen hinaus wertzuschätzen. Umgekehrt ist eine tugendhafte Person nicht fähig, Neigungsbefriedigung zu genießen, die mit bösen Handlungen einhergehen, da ihre Glückseligkeit das Bewusstsein der eigenen Rechtschaffenheit als notwendige Bedingung voraussetzt.²⁹ Vertreter einer quantitativen Deutung der Proportionalitätsthese verdächtigen diese der Redundanz, wenn sie das höchste Gut als statisches Maximum (vollkommene Sittlichkeit, unter diesen Bedingungen größtmögliche Glückseligkeit) betrachten (vgl. Abschnitt 6.1). Deutet man die Proportionalitätsthese jedoch qualitativ, können wir ihren sachlichen Gehalt erkennen: Die Glückseligkeit muss der Sittlichkeit qualitativ entsprechen. Denn eine Glückseligkeit, die nur auf möglichst vollständiger Neigungsbefriedigung basiert, kann nicht Teil des höchsten Guts sein, weil die Glückseligkeit im höchsten Gut durch Sittlichkeit inhaltlich bestimmt wird. Betrachten wir nun den Fall (b): Ein Beispiel für eine Schwäche eines beinahe vollkommen tugendhaften Wesens ist „Unlauterkeit“, die Kant als den „Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen“ beschreibt.³⁰ Was würde sich verändern, wenn eine ansonsten tugendhafte Person in HG W in Einzelfällen unlauter in ihren Motiven wäre? Sie würde ihre moralischen Pflichten erfüllen und zum Glück anderer beitragen. Ihre Handlungen wären äußerlich

29 KpV 116. Vgl. auch Abschnitt 5.7, S. 158. 30 RGV 29; vgl. auch RGV 37f. und zum Gegenbegriff der Lauterkeit TL 446.

6.3 Proportionalität und sittliche Vollkommenheit |

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dieselben, als wenn sie vollständig tugendhaft wäre. Nur einige ihrer Handlungen, die zwar immer noch pflichtgemäß wären, würden nicht aus Pflicht getan. Es gäbe allerdings einen anderen Unterschied. Sobald jene Person ihre Unlauterkeit bemerken würde, würde sie weniger glücklich sein, da, wie gesagt, das Bewusstsein der eigenen Rechtschaffenheit eine notwendige Voraussetzung des Glücks des Tugendhaften ist. Nun erscheint es auch hier unsinnig zu sein, ein quantitatives Maß dafür angeben zu wollen, um wie viel ein schlechtes Gewissen der Glückseligkeit einer tugendhaften Person abträglich ist oder wie viel Unglück sie verdient hat. Auch hier behaupte ich, dass es mehr Sinn ergibt zu sagen, dass ihre Glückseligkeit in einem qualitativen Sinn angemessen zu ihrer Sittlichkeit wäre; denn die Unglücklichkeit, die mit dem schlechten Gewissen einhergeht, resultiert aus dem Bewusstsein der Person, auf der Grundlage unlauterer Maximen gehandelt zu haben. Wir können Folgendes zusammenfassen: Gleichgültig, was wir genau unter dem „größten Maße“ an Sittlichkeit verstehen, hat die Proportionalitätsthese nach der qualitativen Lesart einen plausiblen Gehalt. Im Gegensatz dazu hat die quantitative Interpretation in beiden Fällen Schwierigkeiten, zu erklären, was die behauptete Proportionalität der Glückseligkeit zur Sittlichkeit genau bedeuten soll. Schließlich ist zu beachten, dass Kant im Kontext des höchsten Guts Seligkeit das „proportionirte Wohl“ zur Heiligkeit nennt (KpV 129). Es ist davon auszugehen, dass Kant den Begriff der Proportionalität hier auf dieselbe Weise verwendet wie im höchsten Gut. Nun sind aber weder Heiligkeit und Seligkeit quantifizierbar: Seligkeit bedeutet die „gänzliche Unabhängigkeit von Neigungen und Bedürfnissen“ (KpV 118; H.v.m.) und Heiligkeit „die völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze“ (KpV 122; H.v.m.). Die quantitative Deutung des Proportionalitätsbegriffs würde also auch hier keinen Sinn ergeben. Verstehen wir die Proportionalitätsaussage hingegen qualitativ, also in dem Sinne, dass Seligkeit das adäquate, angemessene Wohl für ein heiliges Wesen ist, ergibt sie einen Sinn: Wer selig ist, und somit von keinerlei Neigungen abhängt, kann auch keine der Moral entgegenstehenden Neigungen haben, die der Heiligkeit des Willens entgegenstehen könnten.³¹ Also ist auch in diesem Fall die hier vorgeschlagene Interpretationsrichtung zu bevorzugen.

31 Vgl. für den Begriff der Seligkeit ausführlich Abschnitt 5.6, S. 154.

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6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe In Kants Konzept des höchsten Guts, und insbesondere in Verbindung mit der Proportionalitätsthese, begegnen uns einige weitere moralphilosophische Begriffe, die wir bisher noch nicht eingeordnet haben: Die Idee einer gerechten Glücksverteilung nach Maßgabe der Tugend; die Hoffnung darauf, in dem Maße glücklich zu werden, wie man sich durch seine Tugend würdig gemacht hat; dementsprechend auch Tugend als die Würdigkeit, glücklich zu sein; und schließlich die Vorstellung, dass demnach ein böser Mensch Strafe verdient. Diese Konzepte verdienen eigenständige und umfängliche Untersuchungen, und diesen Anspruch können wir an dieser Stelle nicht einlösen. Dieser Abschnitt hat das bescheidenere Ziel, (a) zu skizzieren, inwiefern diese Konzepte aufbauend auf der vorgestellten Interpretation der Proportionalitätsthese begründet und erklärt werden können, und (b) zu zeigen, wie sie miteinander zusammenhängen. Ist die Motivation für die Proportionalitätsthese ein Gerechtigkeitsideal derart, dass jedem Glückseligkeit in dem Maße zu Teil werden soll, wie es die eigene Tugend rechtfertigt? Wir haben bereits festgestellt, dass diese Annahme zwar naheliegend, doch zugleich problematisch ist (vgl. Abs. 6.1). Denn damit würde auf axiomatische Weise ein normatives Prinzip eingeführt, ohne zu zeigen, in welchem Zusammenhang es zum kategorischen Imperativ steht. Der vorliegende Interpretationsvorschlag, die Proportionalitätsthese qualitativ zu deuten, hat den Vorzug, auf diese Annahme und die damit verbundene Problematik verzichten zu können. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Kant besagtes Gerechtigkeitsideal vertreten und mehrfach in großer textlicher Nähe zu dem Konzept des höchsten Guts formuliert hat.³²

32 So sagt Kant, „daß ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann“ (GMS 393), und dass ein böser Mensch, der „mit einer tüchtigen Tracht Schläge abgefertigt wird“, „in seiner Vernunft erkennen [muss], daß ihm Recht geschehe, weil er die Proportion zwischen dem Wohlbefinden und Wohlverhalten, welche die Vernunft ihm unvermeidlich vorhält, hier genau in Ausübung gebracht sieht“ (KpV 61; H.v.m.). Ferner müsse „sich das Urtheil unvermeidlich einfinden: daß es im Ausgange nimmermehr einerlei sein könne, ob ein Mensch [...] für seine Tugenden kein Glück, oder für seine Verbrechen keine Strafe angetroffen habe“ (KU 458). Weiterhin „frohlock[e] der mit dem Himmel gleichsam versöhnte, sonst parteilose Zuschauer“, wenn „ein ungerechter, vornehmlich Gewalt habender Bösewicht nicht ungestraft aus der Welt entwischt“ (Misslingen 260 Anm.). Schließlich heißt es in einer Reflexion, deren Entstehungsjahr Adickes auf 1790–1795 schätzt, dass „wenn wir [...] uns selbst [...] als nach moralischen Gesetzen das hochste Gut für die Welt entwerfend vorstellen, [...] ein jeder wollen [wird], daß tugend glücklich und Laster bestraft werde“ (R 6454, 18:725).

6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe |

185

In welcher Beziehung steht also die Gerechtigkeitsthese zum höchsten Gut? Zunächst ist auf eine textuelle Feinheit hinzuweisen, die auszuschließen scheint, dass jene These ein Handlungsprinzip darstellen soll. Denn in Kants Ausführungen ist es nicht das Subjekt, das die Gerechtigkeit herstellt. Es geht somit nicht um die moralische Pflicht, selbst aktiv für Gerechtigkeit zu sorgen, sondern um das Urteil eines passiven Beobachters, mit dem ein Gefühl der Befriedigung einhergeht, bzw. um denjenigen, der die Strafe empfängt und vernünftig einsieht, dass er sie zu Recht bekommt. Dies kann der oben erwähnten Befürchtung entgegengehalten werden, hier werde ein potentiell zum kategorischen Imperativ konkurrierendes Prinzip eingeführt. Eine Begründung für die Gerechtigkeitsthese muss allerdings trotzdem gefunden werden. Die genannten Passagen haben eine weitere Gemeinsamkeit: Laut Kant hält uns „die Vernunft“ das Gerechtigkeitsurteil „unvermeidlich vo[r]“ (KpV 61) bzw. es ist ein Urteil, das sich „unvermeidlich einfinden“ muss (KU 458). Schließlich ist von einem „parteilose[n] Zuschauer“ die Rede (Misslingen 260 Anm.), der das Urteil fällt. Es ist wahrscheinlich, dass Kant hier von dem Gedankenexperiment spricht, welches er zur Konstruktion des höchsten Gutes verwendet, in dem ebenfalls von einem unvermeidlichen Urteil einer „unparteiischen Vernunft“ (KpV 110) die Rede ist.³³ Denn anderenfalls müssten wir neu begründen, wie dieses unvermeidliche Vernunfturteil entsteht. Diesem Gedanken folgend können wir die Hypothese aufstellen, dass die Gerechtigkeitsidee, nach der jedem Glückseligkeit in dem Maße zu Teil werden solle, wie es die eigene Tugend rechtfertige, nicht motivierend in das Konzept des höchsten Gutes eingeht, sondern umgekehrt daraus folgt. Die Idee der Ungerechtigkeit entsteht demnach durch ein Urteil der Vernunft über die Differenz zwischen der wirklichen Welt und der moralischen Welt, wie sie nach dem kategorischen Imperativ sein soll. Es ist zu betonen, dass der positive Teil der Gerechtigkeitsidee, der dem guten Menschen Glückseligkeit zuspricht, keine Belohnungsgerechtigkeit derart ausdrücken soll, dass Glückseligkeit etwas ist, worauf Menschen kraft ihrer Tugend einen Anspruch haben und was sie erwarten dürfen.³⁴ Bei dem negativen Teil der

33 Vgl. Abschnitte 5.8 und 6.2. 34 Kant erklärt dies ausführlich im Rahmen seiner Deutung des Christentums: „Wenn das Christenthum Belohnungen verheißt [...]: so muß das nach der liberalen Denkungsart nicht so ausgelegt werden, als wäre es ein Angebot, um dadurch den Menschen zum guten Lebenswandel gleichsam zu dingen: denn da würde das Christenthum wiederum für sich selbst nicht liebenswürdig sein. Nur ein Ansinnen solcher Handlungen, die aus uneigennützigen Beweggründen entspringen, kann gegen den, welcher das Ansinnen thut, dem Menschen Achtung einflößen; ohne Achtung aber giebt es keine wahre Liebe. Also muß man jener Verheißung nicht den Sinn beilegen, als soll-

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Gerechtigkeitsidee hingegen, der dem bösen Menschen Strafe zuspricht, müssen wir auf eine andere Feinheit achten: Denn dieser Satz scheint nicht direkt aus der Idee einer moralischen Welt ableitbar zu sein. Über böse und somit strafenswerte Menschen macht das Konzept des höchsten Gutes schließlich keine Aussage. Diese konzeptuelle Verbindung haben wir also noch zu untersuchen. Dazu werden wir im Folgenden kurz auf zwei weitere mit dem höchsten Gut zusammenhängende Begriffe eingehen (den der Hoffnung und den der Glückswürdigkeit) und anschließend eine Lösung für dieses Problem anbieten. Die Idee des höchsten Guts dient nicht nur der Vereinigung unserer partikularen praktischen Überlegungen zu einem durchgängigen moralischen Verhalten (vgl. Abschnitt 2.8). Denn, wie wir gerade gesehen haben, dient sie auch der Entwicklung von Gerechtigkeitsurteilen, die grundsätzlich unabhängig von unserem eigenen Handeln sein können. Darüber hinaus verknüpft Kant das höchste Gut mit einem weiteren Aspekt unseres praktischen Lebens: Es ist die Grundlage für die Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“, die laut Kant nach „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ die dritte der grundsätzlichen Fragen ist, die „[a]lles Interesse [der] Vernunft“ vereinigen (KrV 804f./B 832f.).³⁵ Kants Antwort auf diese Frage lautet nämlich, dass „jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat“. Nun lasse sich in dem höchsten Gut als moralischer Welt „ein solches System der mit der Moralität verbundenen proportionierten Glückseligkeit auch als notwendig denken“ (KrV 809/B 837; H.v.m.). Wir sehen also, dass für Kant nicht nur besagte Gerechtigkeitsidee, sondern auch die der Hoffnung und der Glückswürdigkeit eng mit der Proportionalitätsthese verbunden sind. Wir wollen den Aspekt der Würdigkeit für einen Moment beiseite lassen und uns fragen, worauf sich Kant mit dem Begriff der Hoffnung genau bezieht und was es heißt, etwas hoffen zu dürfen. Chignell (2013, S. 198ff.) konzentriert sich bei seiner Untersuchung der Hoffnung bei Kant auf deren epistemischen Status. Durch eine alltagssprachliche Analyse versucht er zu untermauern, dass dieser geringer ist als der des Glaubens.³⁶

ten die Belohnungen für die Triebfedern der Handlungen genommen werden. Die Liebe, wodurch eine liberale Denkart an einen Wohlthäter gefesselt wird, richtet sich nicht nach dem Guten, was der Bedürftige empfängt, sondern bloß nach der Gütigkeit des Willens dessen, der geneigt ist es zu ertheilen“ (EAD 339). Vgl. auch TL 391, 406, 440, 489; RGV 162; Religionslehre Pölitz, 28:1085f. 35 Kant ergänzt an anderen Stellen die vierte Frage: „Was ist der Mensch?“ (Metaphysik L2 , 28:533f.; vgl. Logik 25 u. einen Brief an Carl Friedrich Stäudlin vom 4. Mai 1793, 11:429). 36 Chignell (2013, S. 198): „So if one has knowledge or justified Belief that p, one wouldn’t normally assert one’s hope that p.“

6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe |

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Während das zunächst durchaus plausibel zu sein scheint (‚Ich hoffe darauf, in der Lotterie zu gewinnen, aber ich glaube nicht daran.‘), scheint es mir an der wesentlichen Bedeutung, die Kant der Hoffnung zuschreibt, vorbeizugehen. Denn erstens stellt Kant selbst die Hoffnung nicht in eine Reihe mit den Arten des Fürwahrhaltens „Meinen, Wissen und Glauben“.³⁷ Zweitens gerät damit aus dem Blick, dass Kant die Frage der Hoffnung eng an die Frage des moralischen Sollens knüpft. Denn obwohl Kant die Frage nach der Hoffnung zunächst als eigenständige Grundfrage neben der nach der Moral formuliert, formuliert er sie sogleich um: „[W]enn ich nun thue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen?“ (KrV A 805/B 833).³⁸ Drittens stellt Kant die Hoffnung – anstatt dem Glauben – der Furcht gegenüber und scheint beide als Arten – oder übergeordnete Kategorien – der Neigung anzusehen.³⁹ Dementsprechend geht „alles Hoffen [...] auf Glückseligkeit“ (KrV A 805/B 833).⁴⁰ Bezogen auf den letzten Punkt müssen wir allerdings fragen, inwiefern die Hoffnung eine Art oder Kategorie der Neigungen sein kann. Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, da Kant diesbezüglich wenig sagt. Seine wenigen Hinweise ergeben folgendes Bild: Zunächst scheint eine Besonderheit der Hoffnung darin zu bestehen, dass ihr Gegenstand nicht (oder nicht vollständig) in unserer Gewalt ist. So teilt Kant auch das höchste Gut ein in den Teil, den wir selbst hervorbringen kön-

37 KrV A 820ff./B 848ff. Vgl. Logik 66ff. Vgl. dazu ausführlich Höwing (2016). 38 Eine frühe Kopplung zwischen Moral und Hoffnung finden wir schon in Geisterseher 373: „[E]s hat wohl niemals eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte.“ 39 Vgl. KpV 74: „Nun finden wir aber unsere Natur als sinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie des Begehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, es sei der Hoffnung oder Furcht) sich zuerst aufdringt, und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob es gleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob es unser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vorher und als die ersten und ursprünglichen geltend zu machen bestrebt sei.“ Vgl. Anth 154, 275; Streit 42; R 1513, 15:843. 40 Chignell gesteht die Schwäche seiner Analyse indirekt ein, indem er sich mehrmals darüber verwundert äußert, dass Kant die Hoffnung in den Mittelpunkt seiner theologischen Betrachtungen stellt und nicht den Glauben (vgl. Chignell 2013, S. 197f. u. Chignell 2014, S. 98f.). Meines Erachtens gibt es dafür eine einfache Erklärung, die ich an dieser Stelle nur andeuten möchte: Die Erweiterung der spekulativen Vernunfterkenntnis, die der Glaube darstellt, wird zwar von Kant als eigenständiges Ziel formuliert, insofern die spekulative Vernunft ein Interesse daran hat, dass ihre transzendentalen Ideen einen Gegenstandsbezug erhalten (KrV A 797ff./B 825ff.). Aber spätestens mit dem Primat der praktischen Vernunft wird deutlich, dass dieser Vernunftglaube nur deswegen rational zu rechtfertigen ist, weil er praktisch notwendig ist (KpV 119ff.). Kants Philosophie hat für ein eigenständiges Interesse am Glauben keinen Platz. An der Hoffnung gibt es hingegen ein solches: Auch wenn die Beantwortung von der Moral abhängt, ist die Frage nach der Hoffnung gleichberechtigt zu der nach der Moral.

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nen, und den, auf den wir bloß hoffen können.⁴¹ Daran anschließend ist es sinnvoll, das Hoffen vom ‚Wünschen‘ abzugrenzen: Denn auch das ist ein Begehren, das nicht „mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects“ verbunden ist (MS 213). Während es „bloße“ und „leer[e]“ Wünsche geben kann, die kontingent alles nur Erdenkliche zum Gegenstand haben können, auch Phantastisches und Unmögliches (z. B. „das Geschehene ungeschehen zu machen“, KU 177f. Anm.), scheint der Begriff der Hoffnung enger mit unserer praktischen Rationalität verbunden zu sein. Er ist somit solchen Gegenständen vorbehalten, die (i) nicht unmöglich sind und (ii) grundsätzlich einen Bezug zu meinen Handlungen haben. So ist Glückseligkeit zunächst mein Handlungsziel, aber ich hoffe darauf, glücklich zu werden, insofern es nicht in meiner Macht liegt. Es ist Pflicht, das höchste Gut hervorzubringen, ich hoffe aber darauf, „daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht“.⁴² Diesem Gedankengang folgend gehe ich davon aus, dass sich die Formulierung des ‚Hoffen dürfens‘ auf ähnliche rationale Bedingungen bezieht wie diejenigen, die für Postulate der reinen praktischen Vernunft gelten (KpV 122). Während ursprünglich „alles Hoffen [auf] Glückseligkeit [geht]“ (KrV A 805/B 833), ist es rational nur dann gerechtfertigt, wenn es sich auf Gegenstände bezieht, bei denen die Unmöglichkeit ihrer Hervorbringung theoretisch nicht beweisbar ist, und die sich aus der Differenz meiner moralischen Zielvorstellung und der tatsächlichen Beschaffenheit der Welt ableiten lassen. Meines Erachtens wird dieser Gedanke schon in der ersten Kritik angedeutet, wenn Kant etwas vage davon spricht, dass alles Hoffen „zuletzt auf den Schluß hinaus[läuft], daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil etwas geschehen soll“ (KrV A 806/B 834).⁴³

41 KpV 119, 127 Anm. u. 130. 42 KpV 127 Anm; vgl. KpV 130, RGV 171. Kant spricht auch davon, dass wir auf die Unsterblichkeit unserer Seele hoffen, um einen unendlichen moralischen Fortschritt leisten zu können (KpV 128). Weiterhin hoffen wir auch auf die Erreichung der Übereinstimmung unseres Willens mit einem göttlichen Willen (KpV 129) und auch auf die Bewirkung des höchsten Guts selbst (KpV 129). Insofern dies Ermöglichungsbedingungen einer Partizipation an der allgemeinen Glückseligkeit einer idealen moralischen Welt sind, widerspricht dies nicht der Aussage, dass der Gegenstand der Hoffnung letztlich immer Glückseligkeit ist. 43 Das Hoffen selbst wird dabei genauso wenig geboten, wie das Glauben („Ein Glaube aber, der geboten wird, ist ein Unding“, KpV 144). Ich widerspreche Chignell (2013, S. 216ff.) somit auch hier, wenn er, den normativen Aspekt des Hoffens erkennend, sogleich die Frage ändert und sagt, es gehe darum, was wir hoffen sollen (vgl. ähnlich auch O’Neill 1992, S. 104). Gegen ein Gebot zu hoffen kann Kants Satz ins Feld geführt werden, „[w]as ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht“ (TL 386).

6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe |

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Die Begriffe der Gerechtigkeit und der Hoffnung lassen sich somit wie folgt in Bezug auf das höchste Gut einordnen: Gerechtigkeitsurteile sind Urteile der Vernunft über Differenzen der wirklichen Welt zum höchsten Gut als moralischer Welt derart, dass die Glückseligkeit, die Personen zuteil wird, nicht ihrer Sittlichkeit entspricht. Wir haben die Pflicht, das höchste Gut zu befördern, und damit, diese Differenz zu überwinden.⁴⁴ Die Hoffnung steht nun für das rational gerechtfertigte Bedürfnis, dass die Elemente dieser Aufgabe, die durch uns nicht erfüllt werden können, dennoch erreicht werden, und uns somit eine Glückseligkeit zuteil wird, die unserer Sittlichkeit entspricht. Im Gegensatz zu anderen sinnlichen Neigungen kommen wir jedoch, zumindest in einem gewissen Sinn, schon durch die Hoffnung selbst, und nicht erst durch ihre Erfüllung, diesem Zweck näher.⁴⁵ Schließlich können wir an dieser Stelle eine Frage beantworten, die wir in Abschnitt 5.5, wo es um die Unerreichbarkeit von Glückseligkeit ging, offengelassen haben. Inwiefern wird dieses Problem mit dem höchsten Gut gelöst? Mit Bezug auf die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft (vgl. Abschnitt 2.8) können wir sagen, dass die Erkenntnisse der spekulativen Vernunft über die Unerreichbarkeit von Glückseligkeit ihren Absolutheitsanspruch verlieren, wenn wir die Welt nicht nur als aus Erscheinungen bestehend betrachten. Laut Kant ist der Glaube an Gott und an eine unsterbliche Seele rational zu rechtfertigen, und damit auch die Hoffnung auf das höchste Gut und einer mit der eigenen Tugend harmonierenden Glückseligkeit. Damit kommt dem Tugendhaften etwas zu, was dem bösen Menschen nicht zukommt. An dieser Konstruktion mutet paradox an, dass der Tugendhafte in dem Moment, in dem er seine Hoffnung zur Basis seiner moralischen Motivation macht, nicht mehr tugendhaft ist.⁴⁶ Für die (rational gerechtfertigte) Hoffnung gilt also dasselbe wie für die oben beschriebenen Gerechtigkeitsurteile: Beide gehen aus der moralischen Zielsetzung des höchsten Gutes hervor, dürfen aber nicht zum Motiv für moralisches Handeln werden. Kant sagt an mehreren Stellen, dass Tugend bzw. Sittlichkeit die „Würdigkeit, glücklich zu sein“, sei.⁴⁷ Die Rede von der Glückswürdigkeit hat zunächst mit den

44 Vgl. ausführlich zu dieser Pflicht Kapitel 7. 45 Ähnlich könnte man über die Furcht sagen, dass sie sich schon negativ auf eine Person auswirkt, bevor das, wovor man sich fürchtet, eintritt. Ich werde auf diesen psychologischen Aspekt nicht weiter eingehen. 46 Wenn „Furcht oder Hoffnung als Triebfedern zum Grunde gelegt werden“, wird der „ganz[e] moralisch[e] Werth der Handlungen vernichte[t]“ (KpV 129). 47 KpV 110. Vgl. KrV A 806–813/B 834–841; GMS 393, 439, 450; KpV 144; KU 450; Misslingen 257; RGV 6ff. Anm., 45f. Anm., 115, 145f. Anm.; Gemeinspruch 278, 279f. Anm., 288; TL 457, 469 u. Anth 326. Vgl. auch schon die von Adickes auf 1772 datierte Refl. 4461, 17:560.

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bereits besprochenen Konzepten der Gerechtigkeit und Hoffnung gemein, dass hier eine weitere Beziehung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit im Kontext des höchsten Gutes genannt wird, die auf den ersten Blick verständlich ist, da wir einen alltagssprachlichen Bezug dazu zu haben scheinen, aber auf den zweiten Blick Fragen aufwirft. Denn es ist schwierig, neben den Verbindungen, die wir zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit schon ermittelt haben, eine eigenständige Bedeutung der Glückswürdigkeit zu ermitteln.⁴⁸ Darüber hinaus können wir – wie schon bei den besprochenen verwandten Konzepten – ausschließen, dass Glückswürdigkeit bedeutet, der Tugendhafte verdiene Glückseligkeit als Belohnung oder dürfe diese erwarten. Der kantische Text ist bei der Suche nach einer genaueren Charakterisierung der Glückswürdigkeit nicht sehr ergiebig. An manchen Stellen definiert Kant sie derart, dass sie von der Definition der Sittlichkeit kaum zu unterscheiden ist, nämlich als „die Übereinstimmung aller unserer Maximen mit dem moralischen Gesetze“ (RGV 45f. Anm.).⁴⁹ Allerdings bezeichnet Kant die Glückswürdigkeit vereinzelt als „moralische Empfänglichkeit“ (RGV 115; vgl. RGV 145f. Anm.), und das kann uns bei der Differenzierung helfen. Denn Kant stellt in einer grundsätzlichen Einteilung die Empfänglichkeit als etwas Passives dem Vermögen als etwas Aktivem gegenüber.⁵⁰ In Bezug auf Sittlichkeit betont Kant deren aktiven Charakter. So schreibt er zum Beispiel, dass es dabei um „[d]ie Übereinstimmung [...] der Maxime der Handlung mit dem Gesetze“ gehe (MS 225; H.v.m.). Nun scheint der Begriff der Glückswürdigkeit im Gegensatz dazu für eine passive Eigenschaft zu stehen, die dem Subjekt zukommt, welches sittlich handelt. In der Forschungsliteratur finden wir zu diesem Thema bisher nur vereinzelte Ansätze, die nicht befriedigen können. So setzt Smith die Glückswürdigkeit mit dem moralischen Wert von Handlungen gleich⁵¹ und Dörflinger mit der Würde, die jedem Menschen kraft seines Menschseins zukomme.⁵² Der Vorschlag von Smith ist unplausibel, insofern (i) sich Kants Rede vom moralischen Wert auf Hand-

48 Vgl. insbesondere folgende der bisher erreichten Ergebnisse: Der übergeordnete Zweck aller sittlichen Handlungen ist allgemeine Glückseligkeit (Abschnitt 1.8). Sittlichkeit ist die normative Bedingung für unser Streben nach Glückseligkeit (Abschnitt 4.3). In einer idealen moralischen Welt wäre Glückseligkeit proportional zur Sittlichkeit (Abschnitt 6.2). 49 Vgl. auch Misslingen 257 u. Gemeinspruch 278. Vgl. für Kants übliche Definition des Sittlichkeitsbegriffs Abschnitt 4.2, S. 115. 50 „In Ansehung des Zustandes der Vorstellungen ist mein Gemüth entweder handelnd und zeigt Vermögen (facultas), oder es ist leidend und besteht in Empfänglichkeit (receptivitas)“ (Anth 140). 51 Vgl. Smith (1984, S. 174): „Moral worth is worthiness to be happy.“ 52 Vgl. Dörflinger (2012, S. 57): Da alle Menschen eine Würde haben (TL 462), und ihnen „auf grundsätzliche Weise moralischer Wert zukommt“, „ist im Prinzip auch durch jeden die Bedingung der Glückswürdigkeit erfüllt“.

6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe |

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lungen anstatt auf die Personen selbst bezieht und (ii) dabei keinerlei Bezug zur Glückseligkeit des Handelnden hergestellt wird. Der Vorschlag von Dörflinger ist hingegen nicht vereinbar damit, dass für Kant die Rede von der Glückswürdigkeit eine ergänzende Explikation des Sittlichkeits- bzw. Tugendbegriffs darstellt und somit klar ist, dass ein böser Mensch nicht glückswürdig ist. Kang (2015, S. 143) meint, die Würdigkeit, glücklich zu sein, meine (i), „dass wir unserer moralischen Bestrebung entsprechend an der Glückseligkeit sollten teilhaben können“ und (ii) „dass es keinen tatsächlichen kausalen Zusammenhang zwischen den beiden gibt.“ Ersteres scheint eher eine Erklärung der Proportionalitätsthese zu sein, letzteres widerspricht wiederum dem kantischen Text, geht es doch bei dem Konzept des höchsten Guts wesentlich darum, die Möglichkeit eines solchen kausalen Zusammenhangs nachzuweisen (vgl. Abschnitt 2.8). Die alltagssprachliche Analyse von Döring u. Düringer (2013, S. 145ff.) kommt indessen zu dem Ergebnis, dass eine Person P einer Sache S genau dann würdig ist, wenn (i) P und S als wertvoll zu betrachten sind (mit einem wahrscheinlich größeren Wert von S) und (ii) in einer idealen Welt P in dem Besitz von S wäre. Und oft scheint es demnach so zu sein, dass wir dann von Würdigkeit sprechen, wenn P das Streben nach S aufgeben muss, weil es nur durch unmoralische Handlungen zu erreichen wäre (Döring u. Düringer 2013, S. 154f.). Als Beispiel führen Döring u. Düringer die Figur des Edward Ferrars aus Jane Austens Sense and Sensibility an. Ferrars ist dank eines voreilig gegebenen Eheversprechens in der Situation, dass er entweder sein Versprechen halten und damit des Glückes würdig sein kann, was wahrscheinlich mit einem unglücklichen Leben einhergeht. Oder er kann sein Versprechen brechen, was im Sinne seiner eigenen Glückseligkeit augenscheinlich die klügere Entscheidung wäre, aber somit die Glückswürdigkeit verlieren. Der Nachteil des Ansatzes von Döring u. Düringer besteht darin, dass er weitgehend unabhängig vom kantischen Text entwickelt worden ist. So passen manche Resultate, wie z. B. dass P und S vergleichbare Werte sind, und S der größere Wert zugesprochen wird, nicht auf Kants Rede von der Tugend als Glückswürdigkeit. Allerdings scheint das ausgewählte Beispiel auch für Kants Begriff der Würdigkeit treffend zu sein, insofern es wesentlich darum geht, dass die Person aus der Perspektive eines fairen, unparteiischen Dritten (in diesem Falle der Leserin) als würdig beurteilt wird, glücklich zu werden. Dieses Urteil ist unabhängig davon, wie glücklich die betreffende Person tatsächlich ist. Um weitere Kenntnisse über die Glückswürdigkeit zu gewinnen, kehren wir zum kantischen Text zurück. Kant verwendet die Formel von der Glückswürdigkeit

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schon in frühen Reflexionen und behält sie durchgängig bis in das Spätwerk bei.⁵³ Dieser Umstand macht die Vermutung plausibel, dass Kant sie von einem seiner Vorgänger übernommen haben und implizit davon ausgegangen sein könnte, dass die Bedeutung klar sei. Eine ausführliche Untersuchung der in Frage kommenden Kandidaten ist an dieser Stelle nicht möglich, ich werde jedoch einen möglichen Ansatz dazu skizzieren. Wir werden sehen, dass wir auf diese Weise eine fruchtbare Ergänzung zu unseren bisherigen Ergebnissen erhalten können. Es fällt auf, dass Kant besonders häufig in seinen Kommentaren zu Alexander Gottlieb Baumgartens Initia philosophiae practicae primae von der Glückswürdigkeit spricht.⁵⁴ Als Quelle für den Begriff scheidet Baumgarten jedoch aus, da er ihn selbst nicht verwendet hat und sich auch kein entsprechendes Konzept in seiner Moralphilosophie finden lässt.⁵⁵ Das spricht dafür, dass Kant bereits über ein Konzept der Glückswürdigkeit verfügte und es verwendete, um Baumgartens Text, den er für seine Vorlesungen zur Moralphilosophie als Grundlage verwendete, zu ergänzen. Einen Beleg für diese Vermutung finden wir in der Nachschrift Moralphilosophie Collins: Demzufolge hat Kant in seiner Vorlesung unter dem Titel „Von Belohnungen und Bestrafungen“ Baumgartens Thesen zu diesem Thema zusammengefasst. Kant folgt Baumgarten in der Unterscheidung zwischen praemium (Belohnung) und merces (Lohn). Kant weicht jedoch von der vorgegebenen Lehre ab, indem er weiter zwischen praemia auctorantia (antreibende Belohnungen) und praemia remunerantia (vergeltende Belohnungen) unterscheidet. Und bei dieser Unterscheidung taucht interessanterweise der Begriff der Glückswürdigkeit an einer entscheidenden Stelle auf: Auctorantia sind solche Belohnungen, [...] wo man die Handlungen bloß wegen verheißenden Belohnungen thut; remunerantia sind solche Belohnungen, wo die Handlungen [...] bloß aus guter Gesinnung, aus reiner Moralität geschehn. [...] Demnach können die praemia auctorantia nicht moralia, aber die praemia remunerantia können moralia seyn. [...] Diese praemia sind größer als die auctorantia, denn hier ist die Uebereinstimmung der Handlung mit der Moralität, und das ist die größte Würde der Glükseeligkeit (Moralphilosophie Collins, 27:283f.; H.v.m.).

53 Vgl. für frühe Verwendungen des Begriffs R 4132, 17:427, von Adickes datiert auf 1769–71 u. R 4463, 17:561, von Adickes datiert auf 1772. Vgl. für späte Verwendungen des Begriffs Gemeinspruch 288, TL 482 u. Anth 326. 54 Vgl. R 6610, 19:107; R 6628, 19:117; R 6760, 19:151; R 6826, 19:173; R 6834, 19:175; R 6844, 19:177; R 6856, 19:181; R 6867, 19:186; R 6876, 19:189; R 6880, 19:190; R 6882, 19:191; R 6888, 19:192; R 6890, 19:195; R 6894, 19:197; R 6910, 19:203; R 6913, 19:204; R 6969, 19:216; R 7049, 19:235; R 7059, 19:238; R 7166, 19:262; R 7204, 19:283; R 7206, 19:284; R 7217, 19:288; R 7242, 19:293; R 7315, 19:313 u.v.m. 55 Ich verlasse mich hierbei auf die Expertise von Courtney Fugate, dem ich für ein klärendes Gespräch zu dieser Frage danke.

6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe |

193

Diese Abweichung von Baumgarten ist deswegen so beachtenswert, weil sie mit Kants eigener Theorie der moralischen Motivation und dem Handeln aus Pflicht eng zusammenhängt (GMS 397ff.). Letzteres steht dem Handeln aus Neigung gegenüber, welches dann vorliegt, wenn ich auf bestimmte Weise handle, weil ich mir einen Vorteil daraus erhoffe (‚antreibende‘ Belohnung). Der Begriff der Glückswürdigkeit musste von Kant demnach eingeführt werden, um von einer Verbindung zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit sprechen zu können, die mit Handeln aus Pflicht vereinbar ist.⁵⁶ Wir sind nun bei der Klärung des Begriffs der Glückswürdigkeit einen Schritt weiter. Die Frage nach dessen Quelle ist aber noch nicht geklärt. Hierzu möchte ich einen Vorschlag machen. Ein früher Einfluss auf Kant war Francis Hutcheson, dessen Werke Kant teilweise in deutscher Übersetzung vorlagen.⁵⁷ In Hutchesons Werk An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue in Two Treatises finden wir folgenden Satz darüber, welche Haltung Zuschauer gegenüber tugendhaften Menschen einnehmen: Virtue is then called Amiable or Lovely, from its raising Good-will or Love in Spectators toward the Agent; and not from the Agent’s perceiving the virtuous Temper to be advantageous to him, or desiring to obtain it under that View.⁵⁸

Was hat dies mit dem Begriff der Glückswürdigkeit zu tun? Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in der deutschen Übersetzung, die Kant vorlag, „amiable or lovely“ mit „liebenswürdig“ übersetzt wird.⁵⁹ Wenn wir dies nun mit entsprechenden Passagen bei Kant vergleichen, in denen Kant von dem Urteil eines „Zuschauers“ spricht, einen guten Menschen zwar nicht als liebenswürdig, aber doch als glückswürdig zu erachten, so sind die Ähnlichkeiten unübersehbar.⁶⁰ Der Grundgedanke, dass dem Handelnden aufgrund seiner Tugend etwas Positives zukommt, ohne dass dabei seine moralische Motivation durch Belohnungserwartungen gefährdet wird, ist schon bei Hutcheson vorhanden. Und dieser Gedanke ist es, mit dem Kant die Belohnungstheorie von Baumgarten in der Vorlesung ergänzt. Das ist natürlich weder ein Beweis dafür, dass Kant an der entsprechenden Stelle in der

56 Vgl. für einen Kommentar der zitierten Passage aus der Vorlesung Schmucker (1961, S. 355f.). 57 Vgl. zum Einfluss von Hutcheson auf Kant Henrich (1958) u. Kühn (2003, S. 131f., S. 160f.). 58 Vgl. Hutcheson 2004, S. 222; (Die entsprechende Passage wurde von Hutcheson in der CAusgabe ergänzt). 59 „Wir nennen die Tugend daher liebenswürdig, weil sie eine gütige Gesinnung oder Liebe des Zuschauers gegen die handelnde Person erwecket; und nicht deswegen, weil die handelnde Person bemerket, daß ihm ein tugendhaftes Herz nützlich sey, und es in dieser Absicht zu erhalten sich bestrebet“ (Hutcheson 2001, S. 138). 60 Vgl. z. B. GMS 393, KpV 110.

194 | 6 Die Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit

Vorlesung tatsächlich Hutcheson im Sinn hatte, noch, dass dies die Quelle des Glückswürdigkeitsbegriffs bei Kant ist. Es ist dennoch ein interessanter Fund, der mit unseren bisherigen Ergebnissen harmoniert. Wir schließen die Untersuchung an dieser Stelle ab und fassen die Ergebnisse zum Begriff der Glückswürdigkeit zusammen: Der Begriff bezieht sich auf eine passive Eigenschaft des Handelnden, der ihm aufgrund seiner Sittlichkeit zukommt. Passiv deswegen, weil sie weder etwas mit der Handlungsentscheidung noch der Handlungsmotivation zu tun hat, sondern vielmehr mit der Perspektive eines Zuschauers, der den Tugendhaften als der Glückseligkeit würdig erachtet. Die Frage, woher das Urteil dieses Zuschauers kommt, können wir leicht auf Basis unserer Untersuchungen in den Abschnitten 5.8 und 6.2 begründen: In einer Welt, die dem kategorischem Imperativ gemäß wäre, also dem höchsten Gut als moralische Welt, würde dem Tugendhaften diese Glückseligkeit tatsächlich zukommen. Der Begriff der Glückswürdigkeit ist somit ein komplementärer Begriff zu denen der Hoffnung und der Gerechtigkeit: Während sich die Hoffnung auf die rational gerechtfertigte Einstellung des Tugendhaften seiner eigenen Glückseligkeit gegenüber bezieht, und das Gerechtigkeitsurteil unabhängig vom Standpunkt des Urteilenden bzw. des Handelnden ist, bezieht sich die Würdigkeit auf die Perspektive, die wir gegenseitig aufeinander einnehmen. Daher kann Kant diese Begriffe auch eng miteinander verbinden, z. B. wenn er sagt, dass wir auf Glückseligkeit in dem Maße hoffen dürfen, in dem wir uns ihrer würdig gemacht haben (KpV 130).⁶¹ Kant kennt noch eine andere Würdigkeit, nämlich die „Strafwürdigkeit“. Auch die gehöre zur „Idee unserer praktischen Vernunft“ (KpV 37).⁶² Wir haben zu Anfang diesen Abschnitts schon bemerkt, dass auf den ersten Blick nicht einzusehen ist, wie diese aus dem Konzept des höchsten Guts abgeleitet werden kann, sie jedoch trotzdem über den Gerechtigkeitsbegriff indirekt damit verbunden zu sein scheint. Auf Basis der hier entwickelten Überlegungen können wir dieses Problem nun lösen. Erstens ist es plausibel anzunehmen, dass auch hier eine Würdigkeit im Sinne einer passiven Eigenschaft des Handelnden vorliegt. Es geht also nicht darum, aus Furcht vor Strafe böse Handlungen zu vermeiden oder etwa um die problematische

61 Vgl. auch: „Der Mensch kann hoffen glüseelig zu seyn, das muß ihn aber nicht bewegen, sondern nur trösten“ (Moralphilosophie Collins, 27:284, im Anschluss an die oben zitierte Passage über die Verbindung von vergeltenden Belohnungen und Glückswürdigkeit). 62 Es ist darauf hinzuweisen, dass die in der Rechtslehre thematisierte Strafe als „rechtlicher Effect“ (RL 227) des Verstoßes gegen äußere Gesetze von der hier gemeinten Strafe für moralisch böse Taten im engen Sinne zu unterscheiden ist. Vgl. für ersteres ausführlich Corlett (1993) u. Byrd u. Hruschka (2010, S. 261–278).

6.4 Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe |

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These, dass von uns moralisch gefordert wird, böse Menschen zu bestrafen.⁶³ Zweitens scheint aus Kants Konzept der Hoffnung zu folgen, dass der böse Mensch zu keinerlei Hoffnung berechtigt ist. Denn alle rational berechtigte Hoffnung gründet sich auf der moralischen Beförderung des höchsten Guts. Drittens ist daran zu erinnern, wie skeptisch Kant bezüglich unserer Chancen ist, allein durch Klugheit die eigene Glückseligkeit zu maximieren (auch wenn die Existenz böser, glücklicher Menschen nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann).⁶⁴ Aus der Sicht eines vernünftigen Zuschauers bestraft sich ein böser Mensch also selbst, da er sich aller berechtigter Hoffnung beraubt.⁶⁵ Das bedeutet nun weder, dass böse Menschen, einem natürlichen Gesetze gleich, unvermeidlich bestraft werden, oder, dass wir eine solche Bestrafung von einem gerechten Gott verlangen dürfen; noch, dass der Zuschauer dazu aufgerufen ist, die Strafe selbst zu vollstrecken. Es bedeutet nur, dass böse Menschen im Urteile einer unparteiischen Vernunft der Strafe würdig sind – und auch dieses Urteil beruht somit letztendlich auf der Idee einer moralischen Welt, die dem kategorischen Imperativ gemäß ist. Denn für böse Menschen ist in jener Welt kein Platz. Sie können also auch nicht an der allgemeinen Glückseligkeit des höchsten Guts partizipieren. Und anderen Versuchen, das eigene Glück zu maximieren, gesteht Kant wenig Erfolgsaussichten zu.⁶⁶ In diesem Abschnitt wurde gezeigt, wie die Begriffe der Gerechtigkeit, Hoffnung, Glückswürdigkeit und Strafe so verstanden werden können, dass sie sich in den Gedankengang, der Kant vom kategorischen Imperativ zum höchsten Gut führt, einfügen lassen. Ein wesentlicher Vorteil einer solchen Interpretation besteht darin, dass somit keine der Hauptargumentation äußeren Überlegungen eingeführt werden, sondern alle wesentlichen Bestandteile des höchsten Gutes auf das

63 Vgl. zu letzterem auch Abschnitt 7.1, S. 199. 64 Vgl. Abschnitt 5.5, S. 151. 65 Das würde auch der Stelle in RL entsprechen, wo Kant sagt: „Richterliche Strafe (poena forensis), die von der natürlichen ( poena naturalis ), dadurch das Laster sich selbst bestraft und auf welche der Gesetzgeber gar nicht Rücksicht nimmt, verschieden, kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat“ (RL 331). Somit können wir in Anspielung auf Dante Alighieris ‚lasciate ogni speranza‘ sagen, dass der böse Mensch sich „die Hölle, die auf der absoluten Verneinung der Moral errichtet ist“, selbst bereitet, und ihm diese nicht von anderen „Menschen bereitet“ wird, wie Himmelmann (2003, S. 221) ihr Werk über Glückseligkeit bei Kant beschließt. 66 Vgl. für eine alternative Interpretation, die die Proportionalitätsthese mit dem Gedanken der Strafe zusammenbringt O’Connell (2014, S. 489ff.), der versucht, eine direkte moralische Pflicht zur Bestrafung von bösen Menschen abzuleiten.

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Grundbestreben der Vernunft zurückzuführen sind, auch im praktischen Vernunftgebrauch das Unbedingte zu suchen. Auf dieser Basis konstruiert Kant das höchste Gut als moralische Welt, die dem kategorischen Imperativ gemäß ist. Folgen wir diesem Gedankengang, lässt sich zeigen, wie auch die Aufnahme der Glückseligkeit in das höchste Gut (Abschnitt 5.8) und die Proportionalitätsthese (Abschnitt 6.2) daraus folgen. Wie wir in diesem Abschnitt gesehen haben, ist dies ein geeignetes Fundament, um weitere wichtige Elemente des Konzepts des höchsten Guts bei Kant erklären zu können.

7 Die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts Wie kann das Streben nach einem glücklichen Leben mit moralisch gutem Verhalten vereinbart werden? Diese Frage tritt in der GMS und der Analytik der KpV zwar in den Hintergrund, ihre Beantwortung wird dort jedoch schon vorbereitet, indem die Unterscheidung und Abgrenzung dieser beiden grundlegenden menschlichen Ziele herausgearbeitet wird (vgl. KpV 35ff.). Auf Basis dessen ist es laut Kant möglich, „die Idee des Ganzen richtig zu fassen“ (KpV 10). Das ist das Ziel der Dialektik der KpV und des dort beschriebenen Konzepts des höchsten Guts. Das menschliche Verlangen nach einer Vereinbarkeit von Glücksstreben und moralischem Verhalten führt Kant auf eine grundlegende Tätigkeit unserer Vernunft zurück: der Suche nach dem Unbedingten. So entsteht das höchste Gut als Vernunftidee dadurch, dass wir im reinen praktischen Vernunftgebrauch nicht nur nach der ersten selbst unbedingten Bedingung suchen (dem moralischen Gesetz), sondern auch nach der vollständigen Reihe der Bedingungen. Wir können uns das höchste Gut als Gegenstand dieses Streben unserer Vernunft denken, unser moralisches Handeln in ein konsistentes System zu bringen, ebenso wie sie im theoretischen Gebrauch danach strebt, Konsistenz, System und Vollständigkeit in unser Wissen zu bringen (siehe Abschnitt 2.8). Darüber hinaus lässt sich mithilfe des höchsten Guts auch die Frage beantworten, inwiefern die Hoffnung auf ein glückliches Leben rational begründet werden kann: Wir dürfen darauf hoffen, so glücklich zu werden, wie wir in einer idealen moralischen Welt sein würden. Es wäre eine der Sittlichkeit proportionale, d.h. angemessene Glückseligkeit, die auf gegenseitiger Anerkennung, Fürsorge und Interessenausgleich basiert. Diese Art von Glückseligkeit erkennen wir einander zu, indem wir uns gegenseitig als würdig erachten. Zugleich urteilen wir, dass nur ein Zusammenkommen von Sittlichkeit und einer ihr proportionalen Glückseligkeit gerecht ist (vgl. Kapitel 6). Nun sagt Kant darüber hinaus, dass es eine Pflicht gebe, das höchste Gut zu befördern (vgl. z. B. KpV 125; im Folgenden PflichtHG ). Dieses Kapitel untersucht, inwiefern dies über die bereits beschriebenen Aspekte des höchsten Guts hinausgeht und ebenso, wie es mit denselben vereinbart werden kann. In Abschnitt 7.1 wird überblicksartig dargestellt, in welchen Schriften und Kontexten Kant von PflichtHG spricht. Anschließend wird auf die wesentlichen Interpretationsprobleme und die bisherigen Lösungsvorschläge der Literatur eingegangen. So ist weder klar, wie Kant PflichtHG begründen will, noch, was konkret ihren Inhalt ausmacht. Außerdem scheint sie – im Gegensatz zu anderen von Kant genannten Pflichten – nicht nur das Handeln nach einer allgemeingültigen Maxime zu fordern, sondern auch die vollständige Realisierung des damit verhttps://doi.org/10.1515/9783110599763-008

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bundenen Zwecks. Denn Kant betont, wie wichtig der Glaube an die Möglichkeit der Verwirklichung des höchsten Guts für unsere moralische Praxis ist (Postulatenlehre). Insbesondere die in der Literatur beliebte Annahme, PflichtHG sei im Grunde inhaltsgleich mit den beiden in der Metaphysik der Sitten beschriebenen Tugendpflichten (eigene Vollkommenheit, fremde Glückseligkeit) stößt hier an ihre Grenzen. Denn für letztere gilt eine solche Realisierungspflicht nicht (vgl. z. B. TL 393). Es erscheint ratsam, dieses Problem in zwei voneinander getrennten Schritten anzugehen und zum einen nach einer Ableitung von PflichtHG aus dem kategorischen Imperativ zu suchen, und in einem weiteren Schritt auf die genannte Besonderheit einzugehen. Dementsprechend wird in Abschnitt 7.2 nach dem Vorbild der Herleitung anderer Pflichten das praktische Gegenteil von PflichtHG ermittelt, um zu zeigen, dass es nicht verallgemeinerbar ist: ‚Ich werde meine eigene Glückseligkeit befördern, ohne dabei Rücksicht auf die Glückseligkeit anderer zu nehmen.‘ Anschließend wird dafür argumentiert, dass wiederum das direkte praktische Gegenteil dieser Maxime, dass wir aus der Umformulierung derselben und der Tatsache gewinnen, dass das Streben nach eigener Glückseligkeit unvermeidbar ist, inhaltsgleich mit PflichtHG ist: ‚Befördere deine eigene Glückseligkeit als Teil allgemeiner Glückseligkeit.‘ In Abschnitt 7.3 hingegen wird eine Lösung für das Rätsel entwickelt, inwiefern PflichtHG „über den Begriff der Pflichten in der Welt hinausgeht“ (RGV 6f.). Diese Lösung basiert auf Kants Thesen, dass (i) jede menschliche Handlung mit einem Zweck verbunden ist, der nicht von vornherein praktisch unmöglich sein darf und (ii) die reine Vernunft auch im praktischen Gebrauch das Unbedingte sucht und damit nicht nur nach einem durchgängigen moralischen Verhalten fragt, sondern auch nach dem umfassenden und letzten Zweck eines solches Verhaltens. Gilt nämlich auch für jenen sogenannten Endzweck, das höchste Gut, dass er nicht praktisch unmöglich sein darf, dann wird verständlich, inwiefern PflichtHG eine besondere Pflicht ist: Denn wenn das höchste Gut praktisch unmöglich wäre, und jede moralische Handlung dasselbe als übergeordneten Zweck anstrebt, wäre in gewisser Weise jede moralische Handlung irrational. Die Verwirklichung des höchsten Gutes ist somit insofern Pflicht, als nur dadurch ein fundamentaler Konflikt in der Vernunft – die praktische Vernunft müsste das selbst gegebene moralische Gesetz als sinnlos betrachten – ausgeschlossen werden kann. Abschnitt 7.4 kommt schließlich auf die Frage zurück, welche Funktion PflichtHG hat. In der Literatur wird regelmäßig der Vorschlag formuliert, PflichtHG gebe vor, wie die moralisch erlaubten Zwecke zum Ziele der eigenen Glückseligkeit und die moralisch gebotenen Zwecke systematisch zu ordnen und zu verfolgen sind. Die Schwäche dieses Ansatzes besteht darin, dass er nicht vom Text gedeckt ist. Kants einzige Vorgabe zur systematischen Anordnung besteht darin, dass das

7.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

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Glücksstreben der Moralität untergeordnet sein soll. Dies ist jedoch keine neue Idee der Lehre des höchsten Guts, sondern wird schon durch das Verfahren des kategorischen Imperativs festgelegt. Das Neue am Konzept des höchsten Guts gegenüber letzterem Verfahren besteht darin, nicht jeweils eine einzelne Maxime zu betrachten, sondern über Sinn und Ziel moralischen Verhaltens überhaupt zu reflektieren. Die Funktion von PflichtHG besteht somit darin, alle anderen Pflichten zu vereinigen und ihnen einen gemeinsamen Zweck zu geben, der ihnen zwar nicht zugrunde liegt, aber doch als Folge mit ihnen verbunden ist.

7.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick Kant spricht ab der zweiten Kritik von einer Pflicht, das höchste Gut zu ‚befördern‘, ‚hervorzubringen‘, oder ‚wirklich zu machen‘ (PflichtHG ). Wir können die Formulierungen, die Kant dabei verwendet, wie folgt kategorisieren:¹ 1. Formulierungen, die explizit von einer „Pflicht“ sprechen. Zum Beispiel: „Nun war es Pflicht für uns das höchste Gut zu befördern“ (KpV 125).²

1 Diese Liste stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit bezüglich Kants gesamtem Werk. 2 Vgl. auch: „Zur Pflicht gehört [...] die Bearbeitung zu Hervorbringung und Beförderung des höchsten Guts in der Welt“ (KpV 126). Das moralische Gesetz macht es uns „zur Pflicht“, uns „das höchste Gut [...] zum Gegenstande unserer Bestrebung zu setzen“ (KpV 129). „Dagegen ist ein Bedürfniß der reinen praktischen Vernunft auf einer Pflicht gegründet, etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern“ (KpV 142). „Es ist Pflicht, das höchste Gut nach unserem größten Vermögen wirklich zu machen“ (KpV 143f. Anm.). „Dieses ist eine Willensbestimmung von besonderer Art, nämlich durch die Idee des Ganzen aller Zwecke [...] noch die Pflicht hinzukommt, nach allem Vermögen es zu bewirken, daß ein solches Verhältniß (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existire“ (Gemeinspruch 279f. Anm.). „Weisheit aber ist die Zusammenstimmung des Willens zum Endzweck (dem höchsten Gut); und da dieser, sofern er erreichbar ist, auch Pflicht ist und umgekehrt, wenn er Pflicht ist, auch erreichbar sein muß, ein solches Gesetz der Handlungen aber moralisch heißt: so wird Weisheit für den Menschen nichts anders als das innere Princip des Willens der Befolgung moralischer Gesetze sein, welcherlei Art auch der Gegenstand desselben sein mag; der aber jederzeit übersinnlich sein wird: weil ein durch einen empirischen Gegenstand bestimmter Wille wohl eine technisch praktische Befolgung einer Regel, aber keine Pflicht (die ein nicht physisches Verhältniß ist) begründen kann“ (Verkündigung 418). „Wenn es nun Pflicht ist zu einem gewissen Zweck (dem höchsten Gut) hinzuwirken, so muß ich auch berechtigt sein anzunehmen: daß die Bedingungen da sind, unter denen allein diese Leistung der Pflicht möglich ist, obzwar dieselben übersinnlich sind, und wir (in theoretischer Rücksicht) kein Erkenntniß derselben zu erlangen vermögend sind“ (Verkündigung 418 Anm.). „[...] Dieser Endzweck der reinen praktischen Vernunft ist das höchste Gut, sofern es in der Welt möglich ist, welches aber nicht blos in dem, was Natur verschaffen kann, nämlich der Glückseligkeit (die größeste Summe der Lust), sondern was das

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2. Formulierungen, die zwar von keiner Pflicht, jedoch von einem ‚Gebot‘, einer ‚Anweisung‘, oder einer ‚Aufgabe‘ sprechen. Zum Beispiel: „Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen“ (KpV 129).³ 3. Formulierungen, die von einer moralischen oder praktischen Notwendigkeit sprechen, zum Beispiel: „Es ist a priori (moralisch) nothwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; [...]“ (KpV 113).⁴

höchste Erforderniß, nämlich die Bedingung ist, unter der allein die Vernunft sie den vernünftigen Weltwesen zuerkennen kann, nämlich zugleich im sittlich-gesetzmäßigsten Verhalten derselben zu suchen ist. Dieser Gegenstand der Vernunft ist übersinnlich; zu ihm als Endzweck fortzuschreiten, ist Pflicht“ (Preisschrift 294). 3 Vgl. auch: „In dieser Unterordnung allein ist das höchste Gut das ganze Object der reinen praktischen Vernunft, die es sich nothwendig als möglich vorstellen muß, weil es ein Gebot derselben ist, zu dessen Hervorbringung alles Mögliche beizutragen“ (KpV 119). Der Wille wird „zur Beförderung des höchsten Guts angewiesen“ (KpV 130). Das praktische Gesetz gebietet „die Existenz des höchsten in einer Welt möglichen Guts“ (KpV 134). Das praktische Gesetz „gebietet“, sich das höchste Gut „zum Objecte zu machen“ (KpV 135). „Das Gebot, das höchste Gut zu befördern, ist objectiv (in der praktischen Vernunft), die Möglichkeit desselben überhaupt gleichfalls objectiv (in der theoretischen Vernunft, die nichts dawider hat) gegründet“ (KpV 145). „Dergleichen ist das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt, dessen Begriff in keiner für uns möglichen Erfahrung, mithin für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend seiner objectiven Realität nach bewiesen werden kann, dessen Gebrauch aber zur bestmöglichen Bewirkung jenes Zwecks doch durch praktische reine Vernunft geboten ist und mithin als möglich angenommen werden muß“ (KU 469). „Denn die Summe der Moralität in mir, obgleich übersinnlich, mithin nicht empirisch, ist dennoch mit unverkennbarer Wahrheit und Autorität (durch einen kategorischen Imperativ) gegeben, welche aber einen Zweck gebietet, der, theoretisch betrachtet, ohne eine darauf hinwirkende Macht eines Weltherrschers, durch meine Kräfte allein, unausführbar ist (das höchste Gut)“ (Vornehmer Ton 397). 4 Vgl. auch: „Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind aber nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, sondern nur Bedingungen des nothwendigen Objects eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens [...]. [Sie sind] die Bedingungen der Anwendung des moralisch bestimmten Willens auf sein ihm a priori gegebenes Object (das höchste Gut)“ (KpV 4). „[D]ie Beförderung des höchsten Guts [ist] ein a priori nothwendiges Object unseres Willens [...] und [hängt] mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusamme[n]“ (KpV 114). „Also ist unerachtet dieses scheinbaren Widerstreits einer praktischen Vernunft mit sich selbst das höchste Gut der nothwendige höchste Zweck eines moralisch bestimmten Willens, ein wahres Object derselben“ (KpV 115). „Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt ist das nothwendige Object eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens“ (KpV 122). Das höchste Gut ist „mit der moralischen Gesetzgebung der reinen Vernunft nothwendig verbunden“ (KpV 124). „Gleichwohl wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d. i. der nothwendigen Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammenhang als nothwendig postulirt: wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen“ ( KpV 125). Das höchste Gut ist ein „durchs moralische Gesetz aufgegebene[s] Objec[t]“ (KpV 126). „Die durch die Achtung fürs moralische Gesetz nothwendige

7.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

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4. Andere Formulierungen, die in Bezug auf das höchste Gut zum Beispiel von einem ausgesteckten Ziel der Vernunft sprechen,⁵ von etwas, das man sich „zur Absicht seines Thuns und Lassens unnachlaßlich setzen soll“ (KpV 5) oder davon, dass zu einer dem moralischen Gesetz angemessen Gesinnung gehöre, „das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern“ (KpV 143).⁶ 28 der 38 hier aufgeführten Stellen entstammen der Dialektik der zweiten Kritik, die anderen aus später veröffentlichten Schriften. Dieser Befund kann uns zunächst als Anhaltspunkt dafür dienen, dass PflichtHG für Kant bei früheren Konzeptionen des höchsten Guts keine relevante Rolle gespielt hat, zum Beispiel im Kanon der reinen Vernunft.⁷ Weiterhin können wir davon ausgehen, dass Kant auch nach der zweiten Kritik die Existenz von PflichtHG annimmt, wird eine solche Pflicht doch regelmäßig thematisiert (zum Beispiel in KU, Gemeinspruch, Preisschrift und Verkündigung). Schließlich gehe ich davon aus, dass all diese verschiedenen Varianten grundsätzlich dieselbe Pflicht meinen, da es für Kant nicht unüblich ist, für denselben Fachterminus trotz feststehender Bedeutung immer wieder neue

Absicht aufs höchste Gut“ (KpV 132). „Um ein reines Erkenntniß praktisch zu erweitern, muß eine Absicht a priori gegeben sein, d. i. ein Zweck als Object (des Willens), welches unabhängig von allen theoretischen Grundsätzen durch einen den Willen unmittelbar bestimmenden (kategorischen) Imperativ als praktisch nothwendig vorgestellt wird, und das ist hier das höchste Gut“ (KpV 134). Das höchste Gut ist ein „praktisch schlechthin nothwendige[s] Objec[t]“ (KpV 134). Die reine Vernunft hat die „unvermeidlich[e] Aufgabe“ den Willen auf das höchste Gut zu richten (KpV 139). 5 Vgl.: Das höchste Gut ist ein durch „die Vernunft alle[r] vernünftige[r] Wesen ausgesteckte[s] Zie[l] aller ihrer moralischen Wünsche“ (KpV 115). Vgl. auch: „Nun beweiset aber die Kritik der reinen speculativen Vernunft die größte Unzulänglichkeit derselben, um die wichtigsten Aufgaben, die ihr vorgelegt werden, dem Zwecke angemessen aufzulösen, ob sie zwar die natürlichen und nicht zu übersehenden Winke eben derselben Vernunft, imgleichen die großen Schritte, die sie thun kann, nicht verkennt, um sich diesem großen Ziele, das ihr ausgesteckt ist, zu näheren, aber doch, ohne es jemals für sich selbst sogar mit Beihülfe der größten Naturkenntniß zu erreichen“ (KpV 146). 6 Vgl. auch: Wir fühlen „uns durch das moralische Gesetz gedrungen“, „nach einem allgemeinen höchsten Zwecke zu streben“ (KU 446). „In dem höchsten für uns praktischen, d. i. durch unsern Willen wirklich zu machenden, Gute werden Tugend und Glückseligkeit als nothwendig verbunden gedacht“ (KpV 113). „Das moralische Gesetz [...] bestimmt uns [...] a priori einen Endzweck, welchem nachzustreben es uns verbindlich macht: und dieser ist das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt“ (KU 450). Das höchste Gut ist „[d]er Endzweck, den das moralische Gesetz zu befördern auferlegt“ (KU 471 Anm.). „Wir sollen also handeln, um diesen Zweck [das höchste Gut; F.M.] wirklich zu machen“ (Logik 67f. Anm.). 7 Vgl. KrV A 804–819/B 832–847.

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Kurzbeschreibungen einzuführen (vgl. z. B. für die verschiedenen Formulierungen der Proportionalitätsthese Kapitel 6).⁸ Wenn wir uns anschauen, in welchem Kontext Kant von PflichtHG spricht, sehen wir, dass Kant immer wieder zwei Thesen wiederholt: Erstens wird diese Pflicht allein dadurch begründet, dass sie durch das moralische Gesetz aufgestellt wird. Dieser Zusammenhang wird jedoch in der KpV nicht näher erläutert, und auch spätere Schriften enthalten nur Andeutungen.⁹ Zweitens meint Kant, dass aufgrund PflichtHG die Möglichkeit des höchsten Guts vorausgesetzt werden muss, was seinerseits einen Vernunftglauben an die Postulate der reinen praktischen Vernunft als die Realisierungsbedingungen des höchsten Guts rechtfertigt.¹⁰ Dieser Vernunftglauben wird zwar ausführlich diskutiert, jedoch nicht auf eine Weise, die uns direkte Rückschlüsse auf PflichtHG selbst ermöglicht (vgl. z. B. KpV 132ff.; KU 467ff.). Das wesentliche Problem und damit die zentrale Fragestellung dieses Kapitels lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: Obwohl Kant uns nicht sagt, worin PflichtHG genau besteht oder wie diese Pflicht durch das moralische Gesetz begründet wird, verwendet er sie als Prämisse in dem zentralen Argumentationszusammenhang, mit dem er den kategorischen Imperativ mit der Postulatenlehre verbindet. Zeigt das Verfahren des kategorischen Imperativs, dass eine Maxime nicht verallgemeinerbar ist, ist das praktische Gegenteil dieser Maxime Pflicht (vgl. Abschnitt 1.1). Ist eine solche Ableitung auch für PflichtHG möglich? Die Stellenlage ist nicht eindeutig. Einerseits sagt Kant, das höchste Gut schaffe nur „einen besondern Beziehungspunkt der Vereinigung aller [moralischen] Zwecke“ und „[vermehrt] die Zahl der Pflichten nicht“ (RGV 5; H.v.m.). Andererseits komme über die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ hinaus „noch die Pflicht hinz[u], nach allem Vermögen es zu bewirken, daß ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existiere“ (Gemeinspruch 279f. Anm.; H.v.m.). In zwei in demselben Jahr erschienenen Schriften finden wir also unterschiedliche Aussagen dazu, ob PflichtHG eine zusätzliche, sozusagen gewöhnliche moralische Pflicht oder eine Art besondere, übergeordnete Pflicht ist.¹¹

8 Später in diesem Abschnitt diskutiere ich eine vermeintliche Trennung zwischen einer Pflicht zur ‚Beförderung‘ und ‚Verwirklichung‘ des höchsten Guts, wie sie von Teilen der Literatur vorgeschlagen wurde. 9 Vgl. z. B. KpV 114, 122, 124, 125, 126, 130, 132, 134, 135, 142; KU 469; Vornehmer Ton 397. 10 Vgl. z. B. KpV 113, 119, 125; Verkündigung 418 Anm., Preisschrift 294. Vgl. für eine Formalisierung dieses Arguments Vossenkuhl (1992, S. 169f.). 11 Als Anlass für den Aufsatz Gemeinspruch von 1793 gilt Garves Schrift Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben, die 1792 erschienen

7.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

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Ein damit verwandtes Interpretationsproblem lässt sich wie folgt beschreiben: Die Befolgung des moralischen Gesetzes, und damit die Befolgung aller daraus abgeleiteten Pflichten besteht darin, nur nach verallgemeinerbaren Maximen zu handeln, gleichgültig, wie die Resultate ausfallen mögen (GMS 394). Daraus folgt, dass die Befolgung des moralischen Gesetzes „in jedes Gewalt zu aller Zeit“ ist, weil es „nur auf die Maxime ankommt, die ächt und rein sein muß,“ und nicht auf „die Kräfte und das physische Vermögen, einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen“ (KpV 36); ebenso ist sie unabhängig von den äußeren Umständen der Natur, die das Handlungsresultat negativ beeinflussen könnten.¹² Folgerichtig stellt Kant bei der Beschreibung seiner Anwendungsbeispiele des kategorischen Imperativs gar nicht erst die Frage der Erfüllbarkeit der Pflicht (GMS 421ff.; KpV 27f.). Denselben Gedanken finden wir auch in Kants Konzept der Gegenstände der praktischen Vernunft wieder. Wenn der Wille auf einen Gegenstand der reinen praktischen Vernunft gerichtet wird, kommt es nicht auf einen „Vergleic[h] mit unserem physischen Vermögen“ an, denn „die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die auf die Existenz eines Objects gerichtet ist, wollen dürfen [...], mithin muß die moralische Möglichkeit der Handlung vorangehen“ (KpV 57f.).¹³ Prima facie ist kein Grund ersichtlich, warum das nicht auch für das höchste Gut, als Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft (KpV 108), gelten sollte. Eine Stelle in der Analytik der KpV scheint diesen Gedanken zu bestätigen. Dort schreibt Kant, dass uns das moralische Gesetz „der Idee nach in eine Natur [versetzt], in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde“ (KpV 43). Mit der „Ausführung“ dieser Idee mag es jedoch „stehen, wie es wolle“, denn „es mag nach diesen Maximen der Gesetzgebung einer möglichen Natur eine solche wirklich daraus entspringen, oder nicht, darum bekümmert sich die Kritik, die da untersucht, ob und wie reine Vernunft praktisch, d. i. unmittelbar willen[s]bestimmend, sein könne, gar nicht“ (KpV 45f.; H.v.m.). Die GMS und die Analytik der KpV zeichnen also ein konsistentes Bild der moralischen Pflicht als praktisches Gegenteil einer

ist (vgl. Wittwer 2015). Während eine frühe Version des ersten Stücks von RGV im April 1792 in der Berlinischen Monatsschrift erschien, wurde die RGV selbst, ebenso wie Gemeinspruch, 1793 veröffentlicht. Zwar ist Kühn (2003, S. 423) der Auffassung, dass die RGV vor dem Gemeinspruch abgeschlossen wurde, aber wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob das auch für den zitierten Satz aus der Vorrede der RGV gilt. Es kann auf diese Weise also nicht geschlossen werden, welche der beiden Aussagen über PflichtHG als das ‚letzte Wort‘ Kants in dieser Frage anzusehen ist. Es ist somit eine Interpretation zu finden, die beide Thesen prinzipiell gleichrangig berücksichtigt. 12 Vgl. auch KpV 45: „Nur auf die Willensbestimmung und den Bestimmungsgrund der Maxime desselben als eines freien Willens kommt es hier an, nicht auf den Erfolg.“ 13 Vgl. für Kants Konzept der Gegenstände der praktischen Vernunft Abschnitt 2.6, S. 59.

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nicht verallgemeinerbaren Maxime, deren Erfüllung darin besteht, sie in die Willensbestimmung aufzunehmen und das Handeln davon leiten zu lassen (und nicht darin, ihren Zweck faktisch zu erfüllen). Das scheint sich in der Dialektik derselben Schrift jedoch grundlegend zu ändern. Dort folgt aus der Existenz von PflichtHG , dass die Frage, wie das höchste Gut praktisch möglich ist, beantwortet werden muss (KpV 112). Darüber hinaus würde die „Unmöglichkeit“ des höchsten Guts die „Falschheit“ des moralischen Gesetzes beweisen (KpV 114). Dieser Zusammenhang hat eine große Bedeutung für Kant, denn ohne ihn verliert die Postulatenlehre, wie sie in der Dialektik der KpV vorgestellt wird, eine wesentliche Voraussetzung. Zumindest nach der Dialektik kann PflichtHG somit nicht nur aus der Befolgung des moralischen Gesetzes bestehen. Es ist plausibel anzunehmen, dass Kant in der RGV auf diese Besonderheit eingeht, wenn er schreibt, dass PflichtHG „über den Begriff der Pflichten in der Welt hinausgeht und eine Folge [...] (einen Effect) hinzu tut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist und daraus also analytisch nicht entwickelt werden kann“ (RGV 6f.). Was ist das für ein Effekt? Wie kann PflichtHG aus dem moralischen Gesetz hervorgehen und zugleich – im Gegensatz zu allen anderen moralischen Pflichten – eine solche Sonderstellung einnehmen? Schließlich werfen Kants Anmerkungen zum höchsten Gut in späteren Schriften ein weiteres Problem auf: Es gebe ein „Bedürfniß, ein höchstes [...] Gut in der Welt als den Endzweck aller Dinge anzunehmen“ (Gemeinspruch 279 Anm.; H.v.m.), denn ein diesbezüglicher Zweifel wäre „ein Hinderniß der moralischen Entschließung“ (RGV 5). Was ist das für ein Bedürfnis? Und wie ist es damit vereinbar, dass Kant die Achtung vor dem moralischen Gesetz als „einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder“ etabliert (KpV 78)?¹⁴ Mit der Frage, wie PflichtHG als eine solche, besondere moralische Pflicht begründet werden kann, ohne dass dies mit anderen kantischen Theoriestücken in Konflikt gerät, hat sich die bisherige Forschungsliteratur besonders schwer getan.¹⁵ Insbesondere Kants Satz, dass – diese Pflicht vorausgesetzt – aus der Unmöglichkeit der Realisierung des höchsten Guts folgen würde, dass das moralische

14 Darauf haben auch Forschner (1992, S. 84) u. Kleingeld (2016, S. 43) hingewiesen. 15 Vgl. Milz (2002, S. 123): „Im [D]unkeln liegt auch noch, worauf sich eine solche Pflicht zur Hervorbringung des höchsten Gutes gründet.“ Vgl. auch Habermas (2005, S. 225): „Ein solcher, nur indirekt aus der Summe aller moralischen Handlungen hervorgehender Idealzustand allgemeiner Glückseligkeit kann unter Prämissen der Kantischen Moraltheorie eigentlich nicht zur Pflicht gemacht werden.“ Vgl. weiterhin Kleingeld (2016, S. 33): „Kant claims that this alleged duty goes ‚beyond‘ obedience to the moral law [...]. This makes it even harder to see how this duty can be justified, and what exactly this duty amounts to.“ Ebenso Murphy (1965, S. 104).

7.1 Interpretationsprobleme und Literaturüberblick |

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Gesetz „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch“ wäre (KpV 114), ist in der Literatur auf Unverständnis gestoßen.¹⁶ Es ist ein wesentliches Ziel dieses Kapitels, eine befriedigende Lösung für dieses Problem zu entwickeln. Die Problematik bezüglich PflichtHG wird deutlicher, wenn wir die Einführung des höchsten Guts in der zweiten Kritik mit der in der ersten vergleichen. In der KrV wird das höchste Gut im Kontext der Frage „Was darf ich hoffen?“ begründet. Denn „jedermann [habe die Ursache,] die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen [...], als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat“ (KrV A 809/B 837). Diese erhoffte, zur Sittlichkeit proportionale Glückseligkeit ist von einer besonderen Art: Es ist die allgemeine Glückseligkeit, die Menschen in dem höchsten Gut als einer idealen, moralischen Welt selbst hervorbringen würden und an der sie dann auch partizipieren können.¹⁷ Da eine solche moralische Welt notwendige Bedingung für das Erreichen dieser Glückseligkeit ist, ist es hier zunächst die Hoffnung, die als treibende Kraft vorgestellt wird, die uns zur Beförderung des höchsten Gutes und zum Glauben an die damit einhergehenden Postulate drängt. Jedoch fügt Kant hinzu, dass ohne das höchste Gut „die herrlichen Ideen der Sittlichkeit zwar Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung, aber nicht Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung“ wären (KrV A 813/B 841). Während sich über die Überzeugungskraft dieser Ausführungen diskutieren lässt (und gerade der zweite Punkt aus der Perspektive späterer Schriften zu kritisieren ist), ist unstreitig, dass Kant hier eine nachvollziehbare Begründung dafür liefert, warum es für Menschen wichtig ist, über die Möglichkeit der Verwirklichung des höchsten Gutes zu reflektieren.¹⁸

16 Zweifel äußern z. B. Beck (1960, S. 245), Zobrist (2008, S. 299), vgl. für einen Überblick älterer Literatur in dieser Hinsicht Albrecht (1978, S. 152–166). 17 KrV A 809f./B 837f. Vgl. auch Abschnitt 6.4, S. 184. 18 Vgl. zu einer Untersuchung zu Kants Anpassungen des Konzeptes des höchsten Gutes ab der ersten Kritik Förster (1998).

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Mit der veränderten Begründung in der KpV – (i) Das moralische Gesetz fordert die Hervorbringung des höchsten Gutes, (ii) was Pflicht ist, muss auch möglich sein, (iii) der Glaube an die Postulate als die Realisierungsbedingungen des höchsten Gutes ist vernünftig – steht und fällt diese Nachvollziehbarkeit mit der Begründung von PflichtHG , die Kant uns aber schuldig bleibt. Somit ist die Skepsis verständlich, die die Literatur auch im Hinblick auf den Vergleich mit der KrV geäußert hat.¹⁹ Einige Autoren haben versucht, PflichtHG zu erklären, indem sie ihr eine Funktion zuwiesen. So hat Reath (1988, S. 617 Fn. 30, S. 619) vorgeschlagen, die Charakterisierung des höchsten Guts als ‚Vereinigung der Zwecke‘ nicht nur metaphysisch zu verstehen, sondern als Aufruf, als Gemeinschaft die sozialen Grundlagen und Institutionen für eine moralische Gesellschaft zu schaffen. Fugate (2014, S. 151) möchte das Konzept des höchsten Guts hingegen eher als eine Lehre verstehen, die zeigt, wie die eigene Tugend am besten kultiviert werden kann. Das Problem mit Erklärungsmodellen solcher Art liegt auf der Hand: Wäre das höchste Gut für etwas anderes gut, dann wäre es nicht das höchste Gut, sondern eben nur ein Mittel zu einem weiteren Zweck.²⁰ Engstrom (1992) hat sich intensiv mit den genannten Interpretationsproblemen auseinandergesetzt und einige Lösungsvorschläge unterbreitet, die auf der Ähnlichkeit des höchsten Guts, bestehend aus Sittlichkeit und Glückseligkeit, und den beiden Tugendpflichten basieren, die in der Metaphysik der Sitten beschrie-

19 Vgl. z. B. Kroner (1921, S. 206): „[D]as höchste Gut [dürfte] eigentlich gar nicht zum Gegenstande der reinen praktischen Vernunft gemacht werden, sondern allein zum Gegenstande des Vernunftglaubens. Auch erscheint es als völlig überflüssig, daß der Mensch das höchste Gut befördern soll; denn wenn Gott der Urheber der Sinnenwelt ist, so ist die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit durch ihn gesichert, und es bedarf nicht des menschlichen Willens, um sie herbeizuführen.“ Vgl. auch Brandt (2007, S. 371): „In ihr, der kraftlosen Dialektik, werden zwei uns interessierende Überlegungen mit einander verbunden; einmal ist es die vernunftnotwendige Hoffnung auf ein der Würdigkeit korrespondierendes Glück, das selbst nicht in unserer Macht liegt, jedoch durch Gott und Unsterblichkeit gewährleistet werden kann; dies ist die Lehre der KrV; zum anderen ist es die Konzeption eines höchsten Gutes als des Gegenstandes der Pflicht, den zu realisieren nicht in unserer Macht liegt; Gott und Unsterblichkeit sind hier nicht durch die Hoffnung mit der Moralität verbunden, sondern unmittelbar durch den Gegenstand der Moral selbst [...]. Wo haben wir erfahren, daß der kategorische Imperativ das höchste Gut, die Einheit also von Moralität und Glückseligkeit, zu seinem Gegenstand hat?“ Vgl. weiterhin Insole (2008, S. 345), der neben Dijudikation und Exekution religiöse Hoffnung als eigenständige Anforderung an praktische Rationalität setzen will, und das Konzept des höchsten Gutes nur in Bezug auf das letztere für relevant hält. Eine solche konzeptuelle Trennung kann nur funktionieren, wenn die behauptete PflichtHG außer Acht gelassen wird. 20 Vgl. zu diesem Einwand auch Kleingeld (2016, S. 44).

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ben werden (eigene Vollkommenheit, fremde Glückseligkeit; TL 385ff.). Engstroms Vorschläge können wie folgt zusammengefasst werden: 1. PflichtHG ist äquivalent zu den Pflichten (a) zur Beförderung der eigenen Glückseligkeit, (b) fremder Glückseligkeit, (c) eigener moralischer Vollkommenheit, (d) fremder moralischer Vollkommenheit und (e) zur Herstellung der Proportionalität zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit. 2. Zu (a), (d) und (e) können Menschen aus Gründen nicht direkt verpflichtet werden, die Kant selbst nennt: Eigene Glückseligkeit kann nicht direkte moralische Pflicht sein, denn „[w]as ein jeder unvermeidlich schon von selbst will, das gehört nicht unter den Begriff von Pflicht“ (TL 386). Die Vollkommenheit eines anderen zu befördern, kann nicht direkte moralische Pflicht sein, denn „es widerspricht sich, zu fordern [...], daß ich etwas thun soll, was kein anderer als er selbst thun kann“ (TL 386). Unsere eigene Glückseligkeit oder die anderer proportional an die jeweilige Sittlichkeit anzupassen, kann nicht zur direkten moralischen Pflicht gemacht werden, da wir nicht den dafür nötigen Einblick in die Motivation und Maximen haben, weder in Bezug auf uns selbst noch in Bezug auf andere.²¹ Engstrom ergänzt, dass selbst dann, wenn wir einen solchen Einblick hätten, dieser unzureichend wäre, da wir das praktische Leben einer Person insgesamt, die Zukunft eingeschlossen, nicht überblicken können.²² Engstrom weist schließlich daraufhin, dass eine solche Pflicht mit der Pflicht zur Wohltätigkeit kollidieren kann.²³ 3. In gewisser Weise geht mit der Erfüllung von (b) die Erfüllung von (e) einher. Dies schließt Engstrom (1992, S. 772f.) daraus, dass erstens jedem unterstellt werden kann, zu seiner eigenen moralischen Vollkommenheit verpflichtet zu sein, dass zweitens unter der Voraussetzung der Befolgung dieser Pflicht das Glücksstreben eines jeden als moralisch gut beurteilt werden kann und wir somit drittens durch Wohltätigkeit gegenüber tugendhaften Personen ihnen zu der Glückseligkeit verhelfen, die ihrer Sittlichkeit nach angemessen wäre.

21 Vgl. GMS 407, RGV 20, 63. Vgl. dazu auch schon Friedman (1984, S. 328f.). 22 „[T]here is a further aspect of our ignorance that must be taken into account-namely, that we are never in a position to sum up a person’s life as a completed whole. Even if we have some basis in past experience for estimating a person’s moral disposition, such estimation will fall short of a complete assessment, which would require a survey of future as well as past conduct“ (Engstrom 1992, S. 771). 23 „If we have a duty to promote the highest good and if the highest good involves happiness proportioned to virtue, then it appears to follow that we have a duty to proportion happiness to virtue and accordingly to diminish or prevent the happiness of the vicious. But this conflicts with the duty of beneficence“ (Engstrom 1992, S. 768).

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4. Es muss zwischen der Pflicht zur Beförderung (PflichtHG-B ) und zur Verwirklichung (PflichtHG-V ) des höchsten Guts unterschieden werden. Die Pflicht zu ersterem ist erfüllt, wenn eine Person nach ihren Kräften und Möglichkeiten alles getan hat, um das höchste Gut zu befördern (vgl. KpV 119, 125). Die Pflicht zu letzterem ist erst dann erfüllt, wenn die Realisierung des höchsten Guts tatsächlich erreicht ist (vgl. KpV 113, 122).²⁴ 5. PflichtHG-B ist an das Individuum adressiert, und umfasst nur (b), (c), und – wie wir gesehen haben – indirekt (e). Damit entspricht PflichtHG-B den beiden in der Metaphysik der Sitten beschriebenen Tugendpflichten.²⁵ 6. PflichtHG-V ist an die Gemeinschaft aller Vernunftwesen adressiert, Gott eingeschlossen.²⁶ Der wesentliche Verdienst Engstroms besteht darin, auf die Feinheiten aufmerksam gemacht zu haben, auf die bei der Interpretation von PflichtHG zu achten sind, wie etwa die Frage nach dem Adressaten oder dem Umstand, dass Kant vielleicht mit den verschiedenen Formulierungen zwischen Varianten der Pflicht unterscheiden möchte. Auch stimme ich mit Engstrom darin überein, dass PflichtHG nicht grundsätzlich etwas anderes gebietet als der kategorische Imperativ und die daraus abgeleiteten Pflichten. Eine Person, die PflichtHG befolgt, entscheidet sich nicht zu anderen Handlungen im Vergleich zu einer Person, die „nur“ das Verfahren des kategorischen Imperativs befolgt, wenn wir uns im Gedankenexperiment eine solche Person denken wollen. In Bezug auf Engstroms Lösungsvorschläge möchte ich jedoch einige Einwände geltend machen. Gegen (1.) spricht vor allem, dass Kant eine Zerlegung in Teilpflichten nicht vornimmt. Darüber hinaus impliziert eine solche Zerlegung, dass wir es bei PflichtHG mit verschiedenen Zielen zu tun haben, die jeweils durch eigene Handlungsstrategien anzugehen sind und womöglich miteinander konkurrieren. Der in der vorlie-

24 Vgl. Engstrom (1992, S. 776). 25 Vgl. TL 385ff. Auch bei Yovel (1972, S. 254 Fn. 49), Allison (1996, S. 164f.), Bielefeldt (2003, S. 81), Denis (2005, S. 36) u. Marthaler (2014, S. 63) finden wir den Vorschlag, PflichtHG sei mit den beiden Tugendpflichten identisch. Forkl (2001, S. 61f.) meint, die Tugendpflichten seien aus der Idee des höchsten Guts abgeleitet, es werde nur „aussortiert“, worauf nicht verpflichtet werden kann (eigene Glückseligkeit, fremde Tugend) – er lässt bei dieser Erklärung allerdings PflichtHG außer Acht. Dörflinger (2012, S. 54) schlägt in Anlehnung an die weite Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit vor, PflichtHG sei „eine weite, einen Spielraum lassende Pflicht [...], ohne die eigenen Glücksabsichten völlig aufzugeben doch die Glücksabsichten Anderer erfüllen zu helfen“. „Die Pflicht zur Beförderung des Weltbesten fordert [...], alle Menschen gleichermaßen als potentielle Adressaten glücksbefördernder wohltätiger Handlungen zu betrachten“ (Dörflinger 2012, S. 57). 26 Vgl. Engstrom (1992, S. 776 Fn. 30). Vgl. ähnlich auch Wimmer (1990, S. 76).

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genden Arbeit entwickelten Interpretation (vor allem in den Kapiteln 1, 5 und 6) zufolge wird jedoch mit jeder moralisch guten Handlung tugendhaft allgemeine Glückseligkeit angestrebt – somit ist der intrinsische Zusammenhang zwischen Tugend und Glückseligkeit schon in dem Konzept des kategorischen Imperativs angelegt. (Das heißt natürlich nicht, dass es keine besonderen moralischen Pflichten, z. B. zur Beförderung fremder Glückseligkeit geben kann, aber das ist eben nicht das Thema des höchsten Guts.) Schließlich ist gegen (1.) zu sagen, dass Kant mit der Tugendpflicht zur eigenen Vollkommenheit nicht nur die moralische, sondern auch die physische Vollkommenheit meint (TL 386f.). Es ist also die Frage, ob die Pflicht zur Beförderung der Tugend, die in PflichtHG enthalten zu sein scheint, sich eins zu eins in die Pflicht zur Beförderung der eigenen Vollkommenheit übersetzen lässt.²⁷ In Bezug auf (3.) – dass die Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit im Grunde die Beförderung der Proportionalität zwischen Tugend und Glückseligkeit schon einschließe – ist Folgendes zu sagen: Es ist nicht klar, warum aus der Tatsache, dass wir Moralität anderer Menschen anhand ihrer Motivation nicht ausreichend beurteilen können, folgen soll, dass wir sie anhand der Zwecke, die sie haben sollen, beurteilen können. Außerdem findet die Wohltätigkeitspflicht ihre Grenze unter anderem darin, andere nicht bei unmoralischen Handlungen zu unterstützen.²⁸ Da wir aber nach Engstrom die tatsächlichen Zwecke gar nicht berücksichtigen, wäre diese Grenze aufgehoben. Auch hier fehlt eine Begründung von Engstroms These. Gegen (4.) will ich zunächst auf die anfangs dieses Abschnitts aufgelistete Stellensammlung und den dort offenbarten Variantenreichtum bezüglich der Formulierung von PflichtHG hinweisen. Eine Einteilung in solche Passagen, die nur eine Beförderung und solche, die eine vollständige Realisierung verlangen, ist nicht sinnvoll möglich. Auch die Aufteilung, nach der sich eine Pflicht an die Individuen richtet, die andere aber an die Gemeinschaft – siehe (5.) und (6.) – findet sich nicht im Text wieder. Zudem gibt es Gegenbeispiele: Kant spricht auch in Bezug auf die Gemeinschaft von einer Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts (RGV 97). Weiterhin spricht gegen die Aufnahme Gottes in die Gemeinschaft der Wesen, an

27 Engstrom (1992, S. 776 Fn. 29) gesteht zu, dass er an dieser Stelle eine Vereinfachung in Kauf nimmt. Übrigens haben sich schon Hägerström (1902, S. 461ff.) und Gregor (1963, S. 93) skeptisch dazu geäußert, die Tugendpflichten mit PflichtHG zu identifizieren. 28 Vgl. z. B. TL 390: Die Pflicht zur Beförderung fremder Glückseligkeit kann durch andere Pflichtmaximen eingeschränkt werden.

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die eine Pflicht adressiert ist, dass Gott laut Kants Definition keine Pflichten haben kann.²⁹ Schließlich löst Engstrom das Hauptproblem nicht. Denn bevor wir uns mit der Frage beschäftigen können, wer für die Realisierung des höchsten Guts verantwortlich ist, müssen wir untersuchen, wie es überhaupt möglich ist, dass eine moralische Pflicht nach Kant mehr fordern kann als nur eine allgemeingültige Maxime, nämlich die tatsächliche Erreichung des Zwecks. Hägerström (1902, S. 472ff.), war der Ansicht, man solle nicht durch einzelne Passagen „zu der Auffassung geführt werde[n], Kant meine wirklich etwas so Unsinniges, wie dass die Verwirklichung selbst, die partielle oder totale, an und für sich Pflicht wäre.“ Er präzisiert diese etwas drastisch formulierte Aussage durch die Beobachtung, „dass die ursprüngliche moralische Notwendigkeit nur die ist, dass man sich die Verwirklichung des höchsten Guts zum Ziel setzt und dass erst in Beziehung auf diese Absicht die Verwirklichung selbst moralisch notwendig wird.“ Diese Unterscheidung zwischen einer ursprünglichen und einer später hinzu kommenden moralischen Notwendigkeit will ich im Folgenden aufgreifen. Im nächsten Abschnitt werden wir es unternehmen, erstere nachzuweisen, während es in dem darauf folgenden Abschnitt darum gehen soll, letztere zu untersuchen.

7.2 Ableitung der Pflicht aus dem kategorischen Imperativ In diesem Abschnitt wollen wir der Frage nachgehen, inwiefern PflichtHG aus dem Verfahren des kategorischen Imperativs ableitbar ist. Vorbild für diese Untersuchung ist die Ableitung anderer Pflichten, die Kant selbst beschreibt, z. B. die Pflicht, sich nicht mit Hilfe von Versprechen, die man nicht halten kann, Geld zu leihen.³⁰ Es gilt demnach, eine Maxime zu finden, die (i) das praktische Gegenteil von der besagten Pflicht verkörpert und (ii) nicht verallgemeinerbar ist. Worin besteht das praktische Gegenteil der Maxime, das höchste Gut zu befördern? Wir können dazu auf den Ergebnissen des ersten Kapitels aufbauen. Dort ging es um die Frage, wie mit dem Verfahren des kategorischen Imperativs moralisch gute Maximen ermittelt werden können, nach denen gehandelt werden darf

29 Vgl. KpV 32: „In der allergnugsamsten Intelligenz wird die Willkür als keiner Maxime fähig, die nicht zugleich objectiv Gesetz sein könnte, mit Recht vorgestellt, und der Begriff der Heiligkeit, der ihr um deswillen zukommt, setzt sie zwar nicht über alle praktische, aber doch über alle praktisch=einschränkende gesetze, mithin Verbindlichkeit und Pflicht weg.“ Dies bedeutet freilich nicht, zu bestreiten, dass nach Kant zur Verwirklichung des höchsten Gutes Gott vorausgesetzt werden muss (vgl. KpV 124ff., RGV 97). 30 Vgl. GMS 421f.; vgl. auch Abschnitt 1.1 dieser Arbeit.

7.2 Ableitung der Pflicht aus dem kategorischen Imperativ |

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– schien doch jede Maxime, die irgendein kontingentes Interesse enthielt, nicht allgemeingültig und damit moralisch verboten zu sein. Zur Beantwortung dieser Frage gingen wir von Kants These aus, dass wir immer nach unserer eigenen Glückseligkeit streben, und zwar übergeordnet zu den Maximen, die unser Handeln in der jeweiligen Situation bestimmen. Dieses übergeordnete Ziel ist der eigentliche Grund dafür, dass jene Maximen nicht allgemeingültig sind. Sie kann selbst als Maxime wie folgt formuliert werden: Ich werde meine eigene Glückseligkeit befördern, ohne dabei Rücksicht auf die Glückseligkeit anderer zu nehmen.

Warum ist das zugleich das praktische Gegenteil der Maxime, das höchste Gut zu befördern? Nun, wenn das höchste Gut „der ganze Gegenstand einer reinen praktischen Vernunft“ (KpV 109) ist, dann können wir annehmen, dass ich mit jeder einzelnen Handlung, die auf einer allgemeingültigen Maxime basiert, das höchste Gut befördere. Wenn ich hingegen nach nicht allgemeingültigen Maximen handle, ist das oberste Prinzip meiner Handlungen das meiner eigenen Glückseligkeit; und letztere ist in diesem Fall auch der übergeordnete Zweck meiner Handlungen.³¹ Zur „Hervorbringung [des höchsten Guts] alles Mögliche beizutragen“ (KpV 119) besteht somit darin, durchgängig nach allgemeingültigen Maximen, also nach dem kategorischen Imperativ zu handeln. Das praktische Gegenteil davon besteht darin, durchgängig nicht danach zu handeln, sich also die eigene Glückseligkeit als übergeordneten Zweck all seiner Handlungen zu setzen. Und das bedeutet, die eigene Glückseligkeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu befördern, gleichgültig, ob andere dabei Schaden nehmen.³² Im ersten Kapitel haben wir bereits nachgewiesen, dass die genannte Maxime, die wir gerade als praktisches Gegenteil von PflichtHG identifiziert haben, nicht verallgemeinerbar ist. Allerdings ist damit unsere Aufgabe an dieser Stelle noch nicht abgeschlossen.

31 Vgl. für Kants grundlegende Gegenüberstellung des Prinzips der Sittlichkeit zu dem der eigenen Glückseligkeit Abschnitt 1.2, S. 17 u. Abschnitt 3.2, S. 85. 32 Ergänzend können wir sagen: Wenn das höchste Gut die „Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft“ ist (KpV 108), und ein Gegenstand der reinen praktischen Vernunft eine moralisch gute Handlung ist, dann muss jede Beförderung des höchsten Guts aus guten Handlungen bestehen. Und wenn das Gegenteil einer guten Handlung in einer Handlung besteht, die der eigenen Glückseligkeit oberste Priorität einräumt, dann ist die uneingeschränkte Beförderung der eigenen Glückseligkeit das praktische Gegenteil der Beförderung des höchsten Guts.

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Denn im ersten Kapitel haben wir wiederum als praktisches Gegenteil die wie folgt formulierte Pflicht abgeleitet: Befördere deine Glückseligkeit nur als Teil deines Strebens, allgemeine Glückseligkeit zu befördern.

Ist diese Pflicht tatsächlich identisch mit PflichtHG ? Diese Frage sollte bejaht werden können, um die Ableitung von PflichtHG aus dem kategorischen Imperativ zu bestätigen. Nun fällt bei der Analyse dieser Formulierung auf, dass es möglich ist, der Pflicht nachzukommen, indem das Streben nach der eigenen Glückseligkeit vollständig aufgegeben wird. Denn letztlich ist die logische Struktur der Pflicht konditional: ‚Wenn du deine eigene Glückseligkeit beförderst, dann tue dies nur als Teil der Beförderung allgemeiner Glückseligkeit.‘ Wenn wir diese Pflicht mit anderen bekannten Beispielen für Pflichten vergleichen, die aus dem Verallgemeinerungsverfahren des kategorischen Imperativs abgeleitet werden, wird deutlich, dass diese Pflichten ebenfalls konditional formuliert sind: ‚Vermehre nicht Deinen Reichtum mit jedem sicheren Mittel‘, ‚Leihe kein Geld mithilfe von Versprechen, die Du nicht halten kannst‘, usw. Diese Pflichten mögen immer noch für eine Person formal gültig sein, die gerade nicht in Geldnot ist bzw. nicht ihren Reichtum vermehren will, aber sie betreffen ihre Praxis nicht, da der jeweilige Zweck von ihr gar nicht angestrebt wird. Das können wir verdeutlichen, in dem wir die Pflichten bedeutungsgleich wie folgt umformulieren – hier am Beispiel der als zweites genannten Pflicht: ‚Leihe entweder kein Geld oder halte Dich an Deine diesbezüglichen Versprechen.‘ Wir können die Pflicht, die wir oben entwickelt haben, auf ähnliche Weise modifizieren: Befördere entweder Deine eigene Glückseligkeit nicht, oder befördere sie als Teil allgemeiner Glückseligkeit.

Mit Hinblick auf die Identifikation mit PflichtHG ist das ein Problem: Denn keine ihrer Formulierungen lässt sich auf diese Weise umformulieren (vgl. z. B.: Es ist „ein Gebot“ des moralischen Gesetzes, Hervorbringung des höchsten Guts „alles Mögliche beizutragen“, KpV 119); „[n]un war es Pflicht für uns das höchste Gut zu befördern“, KpV 125.). Es gibt somit keine (moralisch gute) Alternative dazu, das höchste Gut zu befördern. Hier haben wir also ein Argument gegen die Gleichsetzung der hier diskutierten Pflicht mit PflichtHG gefunden. Es gibt allerdings einen Ausweg. Denn es ist unvermeidbar, die eigene Glückseligkeit anzustreben. Das macht sie zu etwas Besonderem unter allen Zwecken,

7.2 Ableitung der Pflicht aus dem kategorischen Imperativ |

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die sich Menschen setzen können.³³ Damit können wir von der als Disjunktion formulierten Pflicht zu folgender unbedingter Pflicht übergehen, da der erste Teil der Disjunktion niemals eintreten kann: Befördere deine eigene Glückseligkeit als Teil allgemeiner Glückseligkeit.

Wir haben im ersten Kapitel argumentiert, dass diese Pflicht der einzige Weg ist, um moralisch gute Handlungen abzuleiten, die unsere kontingenten Eigeninteressen berücksichtigen. (Ohne sie können wir nur bestimmen, welche Maximen moralisch verboten sind.) Und weil wir es mit einer Pflicht zu tun haben, die dazu nötigt, jede auf Eigennutz angelegte Maxime so zu ändern, dass sie allgemeine Glückseligkeit anstrebt, erfordert gutes Handeln eine durchgängige und dauerhafte Transformation des ursprünglichen Strebens nach eigener Glückseligkeit in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit. Für diese Transformation sind die Eigenschaften erforderlich, die Kant unter dem Begriff der Tugend zusammenfasst.³⁴ So gesehen ist es plausibel zu sagen, dass die Befolgung der Pflicht, die eigene Glückseligkeit als Teil allgemeiner Glückseligkeit zu befördern, der Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts entspricht. Wer durchgängig und konsequent PflichtHG befolgt, handelt nicht anders als jemand, der den kategorischen Imperativ zu seinem obersten Handlungsprinzip macht. Nun behauptet Kant jedoch selbst, dass PflichtHG „über den Begriff der Pflichten in der Welt hinausgeht und eine Folge [...] (einen Effect) hinzu tut, der in den moralischen Gesetzen nicht enthalten ist“ (RGV 6f.). Wir haben bereits in Abschnitt 7.1 ausführlich betrachtet, wie folgenreich dieser Satz ist. Lassen wir ihn außer Acht, können wir (wie hier gezeigt) zwar PflichtHG aus dem kategorischen Imperativ ableiten, aber – wie in diesem Verfahren nicht anders möglich – erhalten wir dabei immer nur eine zu befolgende Maxime und keine Pflicht, die erst erfüllt ist, wenn der damit verbundene Zweck tatsächlich erreicht ist. Damit würde aber eine notwendige Voraussetzung für die Postulatenlehre entfallen. Beziehen wir den Satz aber in unsere Interpretation mit ein, müssen wir die Frage stellen, wie es sein kann, dass es eine Pflicht gibt, die in diesem Sinne über das moralische Gesetz „hinausgeht“. Die Beantwortung dieser Frage ist die Aufgabe des nächsten Abschnitts.

33 Vgl. hierzu ausführlich Abschnitt 5.4, S. 147. 34 Vgl. hierzu ausführlich Abschnitt 4.2, S. 115.

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7.3 Die Verwirklichung des höchsten Gutes Wie kommt es, dass bei PflichtHG , im Gegensatz zu allen anderen Pflichten, die Kant uns nennt, notwendigerweise über die Realisierungsbedingungen des damit verbundenen Zwecks reflektiert werden muss? Warum wäre das moralische Gesetz „an sich falsch“, wenn sich das höchste Gut als praktisch unmöglich erweisen würde (KpV 114)? In diesem Abschnitt werde ich eine mögliche Interpretation entwickeln, die dieses Rätsel aufzuklären vermag. Der hier vorgestellte Ansatz basiert zum einen auf Kants Annahme, dass Menschen sich zu jeder Handlung einen Zweck denken können müssen und zum anderen auf Kants These von der Suche der Vernunft nach dem Unbedingtem im praktischen Vernunftgebrauch. Letztere führt uns zu der Frage, worin durchgängiges moralisches Verhalten besteht und was der umfassende Endzweck eines solches Verhaltens ist.³⁵ Laut Kant kann „ohne alle Zweckbeziehung [...] keine Willensbestimmung im Menschen statt finden, weil sie nicht ohne alle Wirkung sein kann“ (RGV 4). Denn es gebe eine „Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen noch außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen“ (RGV 6f. Anm.). Bei der Beschreibung unserer Praxis gehören Willensbestimmung, Handlung und Zweck also immer zusammen.³⁶ Der notwendig zur Willensbestimmung gehörende Zweck muss sich allerdings nicht immer als Grund auf die Handlung beziehen, sondern kann auch als bloße Folge mit dieser verbunden sein.³⁷ Ersteres wäre ein Fall heteronomer Willensbestimmung und somit für moralische Handlungen freilich ausgeschlossen.³⁸ Daraus folgt, dass im Falle von moralischen Willensbestimmungen die notwendig dazu gehörigen Zwecke sich nur als Folgen darauf beziehen können. Es ist hilfreich, diesen Auszug aus Kants Handlungstheorie anhand von Beispielen zu verdeutlichen. Wir werden dafür ein weiteres Mal die Beispiele aus Kapitel 1 verwenden: Wenn ich es mir zur Maxime mache „Sport zu treiben, um mein körperliches Wohlbefinden zu steigern“, so ist der Zweck (das Steigern des Wohlbefindens) der Grund der Handlung, und wir können den Ausdruck ‚Grund‘ in

35 Vgl. für einen ähnlichen Ansatz Kleingeld (2016, S. 45ff.). 36 Vgl. auch TL 384f. Vgl. ausführlicher zu Kants Handlungsbegriff Willaschek (1992, S. 35ff.) u. Watkins (2010b). 37 Es kann sein, „daß [die Handlung] auf einen [...] Zweck eine nothwendige Beziehung habe, nämlich nicht als auf den Grund, sondern als auf die nothwendigen Folgen der Maximen, die jenen gemäß genommen werden“ (RGV 4). 38 Vgl. Kapitel 3. Vgl. auch RGV 4: „[D]ie Moral [bedarf] zu ihrem eigenen Behuf keiner Zweckvorstellung, die vor der Willensbestimmung vorhergehen müßte.“

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diesem Fall im Sinne unseres alltäglichen Sprachgebrauchs verstehen: Ich treibe Sport, weil es mein körperliches Wohlbefinden steigert.³⁹ Denken wir hingegen an die Maxime „Kollegen im geeigneten Maßstab erbetene Hilfe zu gewähren“, so ist der Grund der Handlung die Allgemeingültigkeit der Maxime. Wir handeln auf diese Weise, weil es die moralisch richtige Entscheidung ist. Die Handlung hat dennoch einen Zweck, und zwar, durch unsere Hilfe zu dem Erfolg des Kollegen beizutragen. Der moralische Wert der Handlung wird jedoch nicht anhand dieses Erfolgs gemessen, sondern eben an der Allgemeingültigkeit dieser Maxime. Im Gegensatz dazu verliert im ersten Beispiel das „Sport treiben“ seinen Wert für uns, wenn es nicht mehr zu unserem körperlichen Wohlbefinden – und damit zu unserer Glückseligkeit – beitragen würde.⁴⁰ Im Falle der moralischen Handlung gibt es dennoch einen notwendigen Zusammenhang: Auch wenn die Hilfe für den Kollegen eine moralisch wertvolle Handlung ist, wenn ihm letztlich der Erfolg verwehrt bleibt, darf letzterer nicht als von vornherein ausgeschlossen gelten. Auch wenn eine moralische Handlung mit einem Zweck ‚nur‘ als Folge verbunden ist, muss dieser grundsätzlich als erreichbar vorgestellt werden können. Ist das nicht der Fall, ist die Handlung irrational. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Wenn ich – vielleicht aufgrund mangelnder Expertise – nichts zu dem Unterfangen des Kollegen beitragen kann, wäre eine (mögliche) vernünftige Handlungsalternative, ihn bei der Suche nach geeigneteren Helfern zu unterstützen. Darauf zu beharren, trotzdem direkt helfen zu wollen, scheidet als vernünftige, und damit auch als moralische Handlungsweise aus. Meines Erachtens nach hat Kant diese Bedingung gemeint, als er schrieb: [A]us der Moral geht doch ein Zweck hervor; denn es kann der Vernunft [...] unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: was dann aus diesem unserm Rechthandeln herauskomme (RGV 5).⁴¹

Dieser notwendige Zusammenhang zwischen Handlung und Zweck spielt ein wesentliche Rolle für das Verständnis von PflichtHG . Rekapitulieren wir dafür noch einmal, wie Kant das höchste Gut konstruiert: Wir können nicht nur unser Leben

39 Vgl. für den entsprechenden philosophischen Terminus bei Kant Negative Größen 202, KrV A 192ff./B 237ff. u. den Brief an Carl Leonhard Reinhold vom 12.05.1789, 11:35. 40 Zur Vereinfachung verzichte ich an dieser Stelle auf die Diskussion gemischter Motive: Wir könnten es unter Umständen als unsere indirekte moralische Pflicht betrachten, Sport zu treiben, um unsere Gesundheit zu erhalten und somit dennoch hinreichend dazu motiviert sein, obwohl es nicht zu unserem augenblicklichen Wohlbefinden beiträgt (vgl. Abschnitt 1.7, S. 32). 41 Einen ähnlichen Gedanken formuliert Kant, wenn er in Bezug auf Gegenstände der reinen praktischen Vernunft sagt, es komme zwar nur auf die moralische Möglichkeit an, es müsse sich aber dennoch um etwas handeln, das „in unserer Gewalt“ sei (KpV 58; vgl. Abschnitt 2.6, S. 59).

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als Abfolge von miteinander zusammenhängenden, praktischen Entscheidungssituationen betrachten, sondern unsere Vernunft hat auch ein unvermeidliches Interesse daran, diese Perspektive einzunehmen. Denn die reine Vernunft sucht auch in ihrem praktischen Gebrauch nach dem Unbedingten. In diesem Sinne ist das höchste Gut die Totalität oder vollständige Summe aller moralisch guten Handlungen. Auf diese Weise bringen wir all unsere Handlungen unter einen Begriff und betrachten ihre Gesamtheit.⁴² Laut Kant fragt sich der Mensch auch hier – wie bei der einzelnen Handlung –, was der Zweck dieser Gesamtheit aller moralischen Handlungen ist: Was ist der „Endzweck“ meiner – und unser aller – moralischen Handlungen? Der Endzweck ist „derjenige Zweck, der keines andern als Bedingung seiner Möglichkeit bedarf“ (KU 434) und ebenso „die unumgängliche und zugleich zureichende Bedingung aller übrigen enthält“ (RGV 6 Anm.).⁴³ Wir können den Begriff des Endzwecks in gewisser Weise als komplementär zu dem des moralischen Gesetzes verstehen. Ebenso, wie wir bei einer Handlung immer nach deren Prinzip fragen können und darauf aufbauend danach, welches das oberste Prinzip ist, dem alle anderen untergeordnet sind, so können wir auch immer nach dem Zweck einer Handlung fragen und schließlich, welches der Zweck ist, dem alle anderen Zwecke untergeordnet sind. Dieser Endzweck ist „das höchste durch Freiheit mögliche Gut“ (KU 450; vgl. KU 453) und damit die moralische, von allgemeiner Glückseligkeit erfüllte Welt, wie sie dem kategorischen Imperativ gemäß sein soll.⁴⁴ Es klingt nun etwas paradox, wenn Kant die Urheber und Zwecksetzer dieser Welt, also die „Menschen unter moralischen Gesetzen“ ebenfalls als „Endzweck“ bezeichnet.⁴⁵ Dies lässt sich vielleicht etwas besser verstehen, wenn wir den Aspekt der Selbstbezüglichkeit des guten Willens, den wir in einem der vorangehenden Kapitel schon kurz besprochen haben, auf moralisch gute Menschen anwenden.⁴⁶ Wenn ich es mir zum Beispiel zur Maxime mache, andere nicht zu betrügen, dann

42 Vgl. Abschnitt 2.8, S. 69. 43 Vgl. auch KU 443. Kant verwendet den Ausdruck ‚Endzweck‘ vereinzelt auch in der zweiten Kritik (vgl. KpV 129) und früheren Schriften (vgl. z. B. KrV B 425, A 840/B 868), gibt ihm jedoch erst in der KU eine präzise inhaltliche Bedeutung. In diesem Sinne wird er auch in späteren Schriften verwendet, vgl. z. B. Gemeinspruch 279 Anm.; TL 405, 441; Anth 192; Mißlingen 256 Anm. u. Preisschrift 294. 44 Ich lasse an dieser Stelle den Kontext außer Acht, in der Kant seine Theorie des Endzwecks am ausführlichsten vorträgt: die Kritik der teleologischen Urteilskraft, nach der sich teleologisches Denken in gewissen Grenzen abstrakt und unabhängig von menschlichen Handlungen rechtfertigen lässt, zum Beispiel bei der naturwissenschaftlichen Erklärung der Funktionsweise von Organismen. 45 KU 448f. Anm.; vgl. KU 435, 443, 473f.; Entdeckung 250. 46 Vgl. Abs. 2.6, S. 65.

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liegt der Ursprung dieser Maximenwahl in meinem guten Willen und meiner freien Willkür. Aber ich bringe mich dadurch auch als moralisch guter Mensch in einem wesentlichen Sinne selbst hervor. Somit ist der ‚Mensch unter moralischen Gesetzen‘ nicht nur derjenige, der sich gute Zwecke, und letztlich die Beförderung des höchsten Guts zur Aufgabe macht, sondern die Hervorbringung und Erhaltung seiner selbst als moralisch guter Mensch ist in gewissem Sinne Ziel dieses Unterfanges.⁴⁷ Hinzu kommt, dass unter den idealen Bedingungen, die wir bei dem höchsten Gut als moralischer Welt voraussetzen, mit einer solchen Gemeinschaft tugendhafter Menschen proportionale Glückseligkeit notwendig einhergehen würde. Bringen wir nun diese beiden Gedanken – die notwendige Verbundenheit von Handlung und Zweck sowie den Begriff eines Endzwecks – zusammen. Wir haben oben gesehen, dass auch eine moralische Handlung immer mit einem Zweck verbunden ist, den ich mir grundsätzlich als erreichbar vorstellen kann, oder in Kants Worten, der ‚in meiner Gewalt‘ ist. Dasselbe gilt nun auch für den Endzweck meines gesamten moralischen Verhaltens: das höchste Gut. Es darf nicht praktisch unmöglich sein, weil anderenfalls mein moralisches Verhalten irrational wäre. Um nicht in einen Widerspruch zu geraten, ist meine Vernunft also dazu angehalten, nach den Bedingungen zu suchen, unter denen das höchste Gut praktisch möglich ist. Wir können das mit einer konkreten Handlungssituation vergleichen: Der Entschluss, einem Mitmenschen in Not zu helfen, geht notwendig mit Überlegungen einher, wie diese Hilfe auf eine Weise gegeben werden kann, die uns praktisch möglich ist. Kant geht also davon aus, dass diese rationale Bedingung ebenso für den übergeordneten moralischen Zweck, das höchste Gut, gilt: Denn ein Endzweck kann durch kein Gesetz der Vernunft geboten sein, ohne daß diese zugleich die Erreichbarkeit desselben, wenn gleich ungewiß, verspreche und hiemit auch das Fürwahrhalten der einzigen Bedingungen berechtige, unter denen unsere Vernunft sich diese allein denken kann (KU 471 Anm.).

Dies ist ein wichtiger Schritt in unserer Untersuchung: Wir können damit zeigen, wie die Einführung der Postulatenlehre motiviert werden kann, ohne dass wir annehmen müssen, PflichtHG wäre von besonderer Art, nämlich erst dann erfüllt, wenn ihr Zweck verwirklicht ist. Demnach käme es auch bei PflichtHG nur auf die Allgemeingültigkeit der Maxime an, wie bei allen anderen moralischen Pflichten auch.

47 In diesem Sinne bezeichnet Kant moralisch gute Menschen als „Endzweck der Schöpfung“, KU 453f. u. 469.

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Kant wird sehr deutlich in Bezug darauf, dass PflichtHG sich diesbezüglich nicht von anderen Pflichten unterscheidet: Diesen [Endzweck] nun, so viel [...] in unserem Vermögen ist, zu befördern, wird uns durch das moralische Gesetz geboten; der Ausschlag, den diese Bemühung hat, mag sein, welcher er wolle. Die Erfüllung der Pflicht besteht in der Form des ernstlichen Willens, nicht in den Mittelursachen des Gelingens (KU 450f.).⁴⁸

In diesem Sinne wird die Zahl unserer Pflichten durch PflichtHG nicht vermehrt (RGV 5), sie ist „nur“ eine Vereinigung aller übrigen Pflichten. Ein Problem der Interpretation von PflichtHG ist nun gelöst, nämlich die Frage nach der Notwendigkeit der Reflexion über die Realisierungsbedingungen des höchsten Guts. Ein anderes Problem wird dadurch um so dringlicher. Wenn wir der oben skizzierten Interpretation folgen, stellt sich die Frage, wie mit den Textstellen umzugehen ist, in denen Kant scheinbar etwas Gegenteiliges behauptet: Mit dem höchsten Gut komme über die „Idee des Ganzen aller Zwecke“ hinaus „noch die Pflicht hinz[u], nach allem Vermögen es zu bewirken, daß ein solches Verhältnis (eine Welt, den sittlichen höchsten Zwecken angemessen) existiere“ (Gemeinspruch 279f. Anm.; H.v.m.). Wie ist das vereinbar mit dem Ergebnis unserer vorhergehenden Überlegungen, dass PflichtHG eben nicht eine solche Pflicht zur faktischen Verwirklichung einschließt? Zunächst einmal gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen einer einzelnen moralischen Handlung und der Gesamtheit aller moralischen Handlungen. Um diesen Unterschied zu verstehen, müssen wir die Differenzierung zwischen engen und weiten Pflichten berücksichtigen. Enge Pflichten gebieten, bestimmte konkrete Handlungen bzw. Handlungsarten zu unterlassen (z. B. ‚Nehme Dir nicht aus Verzweiflung das Leben.‘), während weite Pflichten gebieten, nach bestimmten Maximen zu handeln (z. B. ‚Helfe Notleidenden auf angemessene Weise.‘).⁴⁹ Ihrer Natur nach scheint es ausgeschlossen zu sein, dass es enge moralische Pflichten gibt, die praktisch unmöglich zu befolgen sind. Denn es wird nur gefordert, eine Handlung zu unterlassen. Die eigenen Neigungen mögen es uns im Einzelfall subjektiv ungeheuer schwierig machen, einer engen Pflicht zu folgen. Aber das beeinträchtigt nicht grundsätzlich die praktische Möglichkeit der Handlung.

48 Vgl. folgende Notiz auf der hinteren Deckelseite eines Handexemplar Kants der KpV (zitiert nach Lehmann 1981, S. 137f.): „Wir haben nichts zu thun, als dafür zu sorgen, daß wir bessere Menschen werden.“ 49 Vgl. Abschnitt 1.5, S. 25.

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Auf der anderen Seite haben weite Pflichten einen Spielraum, was die konkrete Ausgestaltung ihrer Befolgung angeht. Wir haben oben das Beispiel betrachtet, dass eine Rekrutierung kompetenterer Helfer manchmal die bessere Alternative dazu ist, direkt Hilfe zu leisten. Sogar wenn wir uns in einem Gedankenexperiment den Extremfall denken, dass wir uns zwar in der Situation sehen, zur Hilfestellung verpflichtet zu sein, aber jede Handlung, die als solche gelten könnte, praktisch unmöglich ist: Auch dann scheint es so zu sein, dass es eine korrekte moralische Handlungsoption gibt, nämlich sich zu enthalten.⁵⁰ Der entscheidende Punkt ist nun, und dies ist die Besonderheit gegenüber allen anderen Pflichten: dass PflichtHG weder als enge noch als weite Pflicht zu klassifizieren ist. Sie ist keine enge Pflicht, denn sie fordert eindeutig dazu auf, nach einer Maxime zu handeln und nicht, bestimmte Handlungen zu unterlassen. Der Grund hingegen, warum PflichtHG keine weite Pflicht ist, ist zwar weniger offensichtlich, aber trotzdem eindeutig: Es gibt keine moralisch gültige Alternative dazu, das höchste Gut zu befördern. Es gibt keine andere Pflicht, die mit PflichtHG in Konkurrenz treten könnte, in der Weise, wie z. B. die Fürsorgepflicht den eigenen Eltern und den eigenen Kindern gegenüber in Konkurrenz treten kann. Das liegt einfach daran, dass PflichtHG auf einer anderen Abstraktionsebene angesiedelt ist und alle konkreteren moralischen Pflichten in gewisser Weise umfasst. Das bedeutet, dass es in Bezug auf PflichtHG keinen Spielraum gibt, wie er für weite Pflichten charakteristisch ist.⁵¹ Mithilfe dieser gefundenen besonderen Eigenschaft von PflichtHG können wir eine Erklärung dafür anbieten, inwiefern mit ihr eben doch eine weitere, besondere Pflicht einhergeht. Da es keine moralisch gültigen Handlungsalternativen zu PflichtHG gibt, haben wir nicht die Möglichkeit, wie bei anderen Pflichten in konkreten Situationen, PflichtHG gegen andere Pflichten abzuwägen. Der einzige Ausweg, der uns bleibt, ist die Reflexion über die Realisierungsbedingungen des höchsten Guts, welche in der kantischen Lehre zu den Postulaten von Seelenunsterblichkeit und Gottesexistenz führt (vgl. KpV 122ff.). Und da wir uns, so Kant, vernünftig an diese Postulate glaubend, in der Lage sehen, das höchste Gut zu verwirklichen, und es, wie gesagt, keine moralische Alternative dazu gibt, ist es insofern tatsächlich Pflicht, das höchste Gut zu verwirklichen. Diese Pflicht kommt uns aber meines Erachtens nur auf indirekte Weise zu und ist nicht mit der oben beschriebenen Pflicht zu verwechseln, die direkt aus dem kategorischen

50 Zugegebenerweise behandelt Kant diese Möglichkeit nicht direkt, deswegen können wir nur spekulieren, wie er die Situation bewerten würde. Es ist aber auch zu betonen, dass solche Situationen in unserer alltäglichen Praxis aller Erfahrung nach äußerst selten sind. 51 Das bedeutet jedoch nicht, dass es in einer Situation nicht mehrere moralische Handlungsoptionen geben kann, was selbstverständlich möglich ist.

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Imperativ ableitbar ist.⁵² Damit können wir auch die Frage beantworten, warum das moralische Gesetz ‚falsch‘ wäre, wenn sich das höchste Gut als unmöglich erweisen würde. Denn dann müssten wir jede moralische Handlung als irrational ansehen. Das meint Kant, wenn er sagt, in diesem Fall wäre das moralische Gesetz „phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt“ (KpV 114). Wir haben nun eine mögliche Erklärung dafür gefunden, wie die Sätze Kants, mit PflichtHG vermehre sich einerseits die Zahl unserer Pflichten nicht, es komme aber andererseits eine Pflicht hinzu, verstanden werden können, ohne, dass sie sich gegenseitig ausschließen. Die Textlage ist allerdings nicht so eindeutig, dass wir letzte Zweifel ausschließen können. Diesbezüglich ist auf das Verhältnis hinzuweisen, in dem die für diese Interpretation verwendeten Passagen zueinander stehen: In der zweiten Kritik verwendet Kant PflichtHG , ohne sich dabei um eine Begründung oder Herleitung zu kümmern. In späteren Schriften liefert er dann Ansätze zu letzterer nach (RGV 6ff. Anm. u. Gemeinspruch 279f.), fügt dort aber einschränkend hinzu: „Den Schlüssel zur Auflösung dieser Aufgabe, soviel ich davon einzusehen glaube, kann ich hier nur anzeigen, ohne sie auszuführen“ (RGV 6ff. Anm.; H.v.m.). Es liegt somit auf der Hand, dass sich Kant selbst der Schwierigkeiten mit diesem Teil seines Konzepts des höchsten Guts bewusst war. Von dem zuletzt genannten Punkt unabhängig können wir an dieser Stelle ein mögliches Missverständnis aufklären. Kant behauptet an einigen Stellen, dass die Überzeugung, die Verwirklichung des höchsten Gutes sei unmöglich, ein „Hinderniß der moralischen Entschließung“ (RGV 5) sei.⁵³ Ist das ein Rückfall zur Position der ersten Kritik, dass der Glaube an die Möglichkeit des höchsten Gutes die moralische Motivation sichert (KrV A 811ff./B 839ff.)? Das wäre unplausibel, hat Kant diesen Gedankengang doch mit der Lehre von der Achtung für das moralische Gesetz in der GMS und der zweiten Kritik grundlegend revidiert.⁵⁴ Auf Basis unserer vorhergehenden Analyse können wir eine alternative Erklärung anbieten: Das genannte „Hindernis“ für die moralische Entschlusskraft ist

52 Somit gehe auch ich davon aus, dass zwischen zwei verschiedenen Sichten auf PflichtHG unterschieden werden muss, allerdings auf andere Weise, als Engstrom es vorschlägt (vgl. Abschnitt 7.1). 53 Vgl. auch KU 446: Wir müssen annehmen, dass die Verwirklichung des höchsten Guts möglich ist, „damit wir jene Bestrebung in ihren Wirkungen nicht für ganz eitel anzusehen und dadurch sie ermatten zu lassen Gefahr laufen.“ Vgl. weiterhin RGV 183: Der Glaube an Gott diene zum Mittel, „das, was an sich einen besseren Menschen ausmacht, die Tugendgesinnung, zu stärken, dadurch daß sie ihr (als einer Bestrebung zum Guten, selbst zur Heiligkeit) die Erwartung des Endzwecks, dazu jene unvermögend ist, verheißt und sichert.“ 54 Vgl. GMS 401 u. KpV 71–89.

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auf einer anderen Ebene angesiedelt. Somit laufen die diesbezüglichen Aussagen nicht Gefahr, in Konflikt mit der Lehre von der Achtung zu geraten. Wir können dies an einem Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir an, ich stehe unter einem Apfelbaum, und der nächste Ast, an dem ein Apfel hängt, befindet sich so hoch über mir, dass ich ihn unmöglich aus eigener Kraft erreichen kann. Dies wäre ein Hindernis insofern, als es irrational wäre, hochzuspringen, um den Apfel zu pflücken. Das heißt aber nicht, dass es meine Neigung, Appetit auf einen Apfel zu verspüren, mindert.⁵⁵ Ein verwandtes Beispiel für eine moralische Handlung haben wir oben schon betrachtet (siehe 1.): Wenn es vollkommen ausgeschlossen erscheint, dass ich jemandem in Not direkt zur Hilfe kommen kann, wäre es irrational es dennoch zu versuchen (und z. B. sinnvoller, kompetentere Helfer zu rekrutieren). Und auch hier geht damit keineswegs einher, dass sich meine Triebfeder, in diesem Fall die Achtung für das moralische Gesetz, vermindert. In Bezug auf das höchste Gut haben wir nun einen Sonderfall: Wenn jede moralische Handlung als übergeordneten Zweck das höchste Gut als moralische und glückliche Welt hat, die Verwirklichung dieses Zwecks aber unmöglich erscheint, so wäre dies ein Hindernis für die moralische Entschließung insgesamt, da wir jede moralische Handlung als irrational betrachten müssten. Deswegen sagt Kant: [W]enn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich: wir müssen es auch können (RGV 50).

Die Not, in die ein moralisch guter Mensch kommen kann, der nicht an die praktische Möglichkeit des höchsten Guts glaubt, wird ausführlich in der Kritik der Urteilskraft dargestellt.⁵⁶ Auch hier ist der Ursprung der Not nicht das sinnliche

55 Zur Vereinfachung schließe ich hier die in der alltäglichen Praxis häufiger vorkommenden Fälle aus, in denen wir den Handlungserfolg für unwahrscheinlich halten, aber dennoch „unser Glück“ versuchen. Es geht hier tatsächlich darum, dass wir völlig überzeugt sind, dass der Handlungserfolg unmöglich ist. 56 „Wir können also einen rechtschaffenen Mann [...] annehmen, der sich fest überredet hält: es sei kein Gott und [...] auch kein künftiges Leben; wie wird er seine eigene innere Zweckbestimmung durch das moralische Gesetz, welches er thätig verehrt, beurtheilen? er verlangt von Befolgung desselben für sich keinen Vortheil, weder in dieser noch in einer andern Welt; uneigennützig will er vielmehr nur das Gute stiften, wozu jenes heilige Gesetz allen seinen Kräften die Richtung giebt. Aber sein Bestreben ist begränzt; und von der Natur kann er zwar hin und wieder einen zufälligen Beitritt, niemals aber eine gesetzmäßige und nach beständigen Regeln (so wie innerlich seine Maximen sind und sein müssen) eintreffende Zusammenstimmung zu dem Zwecke erwarten, welchen zu bewirken er sich doch verbunden und angetrieben fühlt. Betrug, Gewaltthätigkeit und Neid werden immer um ihn im Schwange gehen, ob er gleich selbst redlich, friedfertig und wohlwollend ist; und die Rechtschaffenen, die er außer sich noch antrifft, werden unangesehen aller ihrer Würdigkeit glücklich zu sein dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen

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Empfinden der Person, sondern der Widerspruch der Vernunft, in die derjenige gerät, der sich zu PflichtHG verpflichtet sieht, die Verwirklichung des damit verbundenen Zwecks, das höchste Gut, aber als praktisch unmöglich ansehen muss.⁵⁷ Es ist zwar Neiman (1994, S. 176) zuzustimmen, wenn sie schreibt: „[...] it must be clear that Kant’s discussion of the Highest Good concerns not the motivation of discrete moral actions but sustaining moral resolution over the course of a life time.“ Aber es ist von entscheidender Bedeutung, hinzuzufügen, dass der Unterschied nicht nur darin besteht, dass es um das gesamte praktische Leben im Gegensatz zu einzelnen Entscheidungen geht. Der Unterschied besteht auch darin, dass mangelnde Aussicht auf das höchste Gut nicht mangelnde Stärke beim Umgang mit der Moral entgegenstehenden Neigungen bedeutet, sondern einen Konflikt innerhalb der Vernunft.⁵⁸ Damit sind wir schließlich in der Lage, eine weitere Frage bezüglich PflichtHG zu beantworten: Stellen wir uns beispielhaft eine tugendhafte Person vor, die PflichtHG nach allen ihren Möglichkeiten erfüllt. Doch die Umstände konterkarieren ihre Bemühungen, und am Ende bleiben sie ohne jede Wirkung in der Welt. Hat besagte Person nun PflichtHG erfüllt oder nicht? In dem Sinne, wie wir PflichtHG im vorhergehenden Abschnitt betrachtet haben, können wir die Frage bejahen, denn wir setzen voraus, dass die Person nach verallgemeinerbaren Maximen gehandelt hat. Gehen wir jedoch von der Sichtweise auf PflichtHG aus, die wir in diesem Abschnitt unter 3. entwickelt haben, müssen wir prima facie annehmen, dass die Pflicht nicht erfüllt ist. Denn das höchste Gut kann ja nicht verwirklicht sein, wenn doch jede Handlung in diese Richtung wirkungslos war. Nun ist es aber so, dass eine tugendhafte Person, die an die Postulate der Seelenunsterblichkeit und der Gottesexistenz glaubt, nie an den genannten zeitlichen Endpunkt kommt, an dem sie all ihre Bemühungen für gescheitert halten muss. Für sie gibt es immer (aufgrund des ersten Postulats) eine Zukunft, auf die sie (aufgrund des zweiten Postulats) mit Hoffnung schauen kann. Nur die in diesem Sinne nicht gläubige Person kann überhaupt in die Lage kommen, an der eigenen Moralität auf die

Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes gleich den übrigen Thieren der Erde unterworfen sein und es auch immer bleiben, bis ein weites Grab sie insgesammt (redlich oder unredlich, das gilt hier gleichviel) verschlingt und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurück wirft, aus dem sie gezogen waren“ (KU 452f.). 57 Vgl. dazu auch meine Ausführungen zur Antinomie der praktischen Vernunft in Abschnitt 2.8, S. 69. 58 Vgl. dazu auch schon Friedman (1984, S. 337f.): „Kant is not re-opening the question of motivation [...]. The issue for Kant is logical rather than motivational.“

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Weise zu verzweifeln, wie Kant es so anschaulich an der oben angegebenen Stelle in der KU beschreibt. Es hängt also von dem Vernunftglauben des betreffenden Subjekts ab, wie die Frage nach der Erfüllung der Pflicht beantwortet wird.⁵⁹

7.4 Die systematische Einheit des moralischen Handelns Einer in der Literatur einflussreichen Position zufolge gehen aus dem Verfahren des kategorischen Imperativs erlaubte, verbotene und gebotene Maximen hervor. Solche Maximen, die den Verallgemeinerungstest bestehen, sind erlaubt; solche, die den Test nicht bestehen sind verboten; und jeweils das praktische Gegenteil einer verbotenen Maxime ist eine gebotene Maxime und damit moralische Pflicht.⁶⁰ Oft nimmt diese Position eine Form an, bei der der kategorische Imperativ im Wesentlichen auf eine Art Filter für die Vorhaben, die aus unserem natürlichen Glücksstreben hervorgehen, reduziert wird: Manche davon werden uns erlaubt, andere eben nicht. Dementsprechend ist der kategorische Imperativ erst in zweiter Linie Quelle moralischer Pflichten, und zwar dadurch, dass wir aus dem praktischen Gegenteil eines Verbots eine Pflicht ableiten können. Im ersten Kapitel haben wir schon einige Schwächen dieser Interpretationsrichtung betrachtet. An dieser Stelle wollen wir darauf eingehen, welche Folgen sie für das Verständnis des höchsten Guts nach sich zieht. Eine Konsequenz dieses Ansatzes ist nämlich, dass ein tugendhafter Mensch zwei separate Projekte in seinem Leben verfolgt. Zum einen das ‚moralische Projekt‘, das darin besteht, seinen moralischen Pflichten nachzukommen, die er anhand des Verallgemeinerungsverfahrens aus verbotenen Maximen gewinnt. Zum anderen das ‚Projekt seines eigenen Wohlbefindens‘, welches darin besteht, nach erlaubten Maximen zu handeln, die auf sein eigenes Glück zielen. Das ist aus mehreren Gründen problematisch. Ein Problem ist, dass im Konfliktfall immer das moralische Projekt vorzuziehen ist, und es somit unklar bleibt, ob und wann ich meine individuellen Partikularinteressen überhaupt verfolgen darf. Weiterhin mutet die Trennung beider Projekte und die Annahme, jeder Zweck lasse sich klarerweise einem der beiden zuordnen, artifiziell an. Denn es ist davon auszugehen, dass die Neigungen einer tugendhaften Person von Menschenliebe, Empathie und Solidarität geprägt sind, da die eigenen guten Handlungen entsprechende

59 Ich betrachte hier nicht das potentiell objektive Urteil eines außerhalb von Zeitbedingungen stehenden göttlichen Wesens. Auch ist die Postulatenlehre gewiss reicher als dargestellt – es ging mir hier nur um ihren Bezug auf PflichtHG in dieser speziellen Hinsicht. 60 Vgl. Abschnitt 1.1, S. 15.

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Folgen in Bezug auf ihr Begehren haben.⁶¹ Somit erscheint es in Bezug auf unsere alltägliche Praxis unplausibel, die Zwecke tugendhafter Personen in egoistische bzw. natürliche und moralische aufteilen zu wollen. Einige Interpreten haben versucht, diese Schwäche an anderer Stelle, und zwar bei der Deutung des Konzepts des höchsten Guts, auszugleichen. Sie schlagen vor, dass im höchsten Gut zwei verschiedene Arten von Zwecken (‚moralische‘ Zwecke und ‚natürliche‘ Zwecke) kombiniert werden, in dem diese ‚systematisiert‘ und die einen den anderen ‚untergeordnet‘ werden.⁶² Dieser Vorschlag ist jedoch keineswegs als tragfähige Lösung geeignet. Denn erstens führt Kants Konzept des höchsten Guts keine neuen Regeln ein, um Zwecke zu systematisieren. Die einzige Regel, auf die wir uns berufen könnten – das moralische Zwecke immer höhere Priorität haben als natürliche – lässt völlig offen, wann es mir überhaupt gestattet ist, etwas für mein eigenes Wohlbefinden zu tun. Darüber hinaus ist diese Regel eben nicht neu, sondern wird schon vorher etabliert (vgl. z. B. KpV 73). Es macht also wenig Sinn zu sagen, sie sei eine Besonderheit der Lehre des höchsten Guts. Zweitens ist unklar, wie es auf dieser Basis eine notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit geben kann. Denn so beschrieben sind die Handlungen, zu denen ich moralisch verpflichtet bin völlig verschieden von dem, was mir für

61 Vgl. Abschnitt 5.8, S. 161. 62 „A conception of the Highest Good is constructed by systematizing different kinds of ends, but as they are structured by the Moral Law. The Moral Law combines these two kinds of ends into a single scheme by subordinating the natural to the moral“ (Reath 1988, S. 600). Wenn ich es richtig verstehe, hat Reath ein zweistufiges Verfahren im Blick: (i) Das moralische Gesetz authorisiert zwei Arten von Zwecken, es gebietet nämlich moralische Zwecke zu verfolgen und es erlaubt manche natürliche Zwecke; (ii) im höchsten Gut werden beide Arten von Zwecken kombiniert und in einem System angeordnet, so dass die moralischen Zwecke den natürlichen übergeordnet sind. Vgl. ähnlich auch Silber (1959, S. 478f.). Vgl. auch Moran (2011, S. 84): „[I]t adds a claim about our obligation to discover and adopt the empirical means necessary to achieve the highest good. Far from simply being a reassertion of the duties that we already have, Kant’s claim that we a duty to pursue the highest good actually gives us a great deal of insight into the specific kinds of duties that we, as agents in a material world, have“. Vgl. auch Louden (2015, S. 114): Kant views the highest good „as a rationally necessary way of structuring one’s practical life. A rational life is an ordered, coherent life, and it is by means of the concept of the highest good that rational agents are able to bring coherence and structure to their practical lives [sic!]. The highest good, according to [...] Kant, enables us to bring order to our practical activities, to fit these activities into a rational life plan.“ Vgl. weiterhin Kang (2015, S. 151): „Für ein endliches Vernunftwesen ist [das höchste Gut] nichts anderes als ein auf der höheren Ebene angesiedelter Zweck gedacht, in welchem sittliche Zwecke und die auf Glückseligkeit ausgerichteten Zwecke systematisch verknüpft werden: Glückseligkeit und Moralität stellen für endliche Vernunftwesen jeweils ihren eigenen Zweckbereich zur Verfügung. Innerhalb dieser beiden Zweckordnungen sind Handlungen zu bestimmen, die als Mittel zur Verwirklichung dieser Zwecke dienen.“

7.4 Die systematische Einheit des moralischen Handelns |

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mein eigenes Wohlbefinden zu tun erlaubt ist.⁶³ Eine notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit ist jedoch wiederum ein wesentlicher Aspekt von Kants Konzept des höchsten Guts (vgl. KpV 111).⁶⁴ Im Gegensatz dazu hat die hier entwickelte Lesart die Konsequenz, dass der tugendhafte Mensch nur ein einziges Projekt verfolgt. Demzufolge gibt es keine Unterordnung disjunkter Zweckgruppen, sondern eine Transformation des egoistischen Strebens nach eigenem Wohlbefinden in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit – und damit auch eine Transformation der entsprechenden Zwecke –, die schon bei der moralischen Willensbestimmung durch das Verfahren des kategorischen Imperativs stattfindet. In dem Maße, in dem wir tugendhaft sind, bringen wir, der Absicht nach, schon allgemeine Glückseligkeit hervor, unsere eigene Glückseligkeit eingeschlossen. Das heißt, dass es eine notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit in unserem Willen und damit in jedem einzelnen moralisch guten Zweck gibt, den wir uns setzen.⁶⁵ Wenn wir vom Verfahren des kategorischen Imperativs zum Konzept des höchsten Guts übergehen, so ist die wesentliche Neuerung also nicht, dass im letzteren zwei verschiedene Arten von Zwecken ‚systematisch angeordnet‘ werden. Das höchste Gut kennt nur eine Art von Zwecken, nämlich moralisch gute Zwecke. In diesen sind das, was wir – in Reaths Worten – als ‚morally good‘ und ‚naturally good‘ beurteilen, enthalten und miteinander verbunden. Der entscheidende Unterschied besteht hingegen darin, dass die Gesamtheit aller Handlungen und Zwecke betrachtet und in einem Gedankenexperiment der Idealfall entworfen wird, nämlich eine Welt, wie sie dem kategorischen Imperativ gemäß sein soll. In dieser Welt besteht die notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit

63 Konsequenterweise weist Reath eine notwendige Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit zurück: „It implies no necessary connection between virtue and happiness, but instead describes the Highest Good as a union of two distinct ends, one of which is subordinate to the other. The first would be the moral perfection of all individuals, and the second the satisfaction of their permissible ends“ (Reath 1988, S. 605). 64 Im Vergleich dazu wäre es plausibler, den beiden Tugendpflichten (fremde Glückseligkeit, eigene Vollkommenheit) einen Zwecke ordnenden Charakter zuzuschreiben. So weist Kang (2015, S. 138) darauf hin, dass die Tugendpflichten dem moralisch guten Menschen zusätzliche Sicherheit geben können: Da er nie wissen kann, ob er nicht doch aus einem geheimen Antrieb der Selbstliebe heraus handelt, kann er zusätzlich zu dem Verfahren des kategorischen Imperativs prüfen, ob die geplante Handlung eine oder beide Tugendpflichten erfüllt. Natürlich darf diese Orientierung an den Tugendpflichten das Verallgemeinerungsverfahren des kategorischen Imperativs nur ergänzen und nicht ersetzen. Aber im Gegensatz zur Lehre des höchsten Guts lässt die Tugendlehre immerhin Spielraum für die Interpretationsrichtung, sie sei nicht nur metaphysische Theorie, sondern enthalte auch Elemente einer konkreten Anleitung für die moralische Praxis. 65 Vgl. ausführlich dazu Kapitel 1, insbesondere Abschnitt 1.4 , S. 23 u. Abschnitt 1.6, S. 30.

226 | 7 Die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts

nicht nur im Willen aller Vernunftwesen, sondern ist auch faktisch vorhanden (vgl. dazu Kapitel 5 und 6). Ein offensichtlicher Vorteil dieser Lesart ist, dass die eigene Glückseligkeit im Handeln einer moralisch guten Person einen angemessenen Platz findet. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass sich die moralisch gute Person prinzipiell in die Lage versetzt sieht, ihr praktisches Leben als kontinuierlich auf einander aufbauenden Handlungsentscheidungen zu betrachten. Ein möglicher Einwand gegen den vorgetragenen Gedankengang könnte darin bestehen, dass das höchste Gut demzufolge keinen Beitrag zur moralischen Willensbestimmung liefert (denn, wie vorgetragen, geschieht diese vollständig durch das Verfahren des kategorischen Imperativs).⁶⁶ Dagegen ist zunächst zu sagen, dass Kant an keiner Stelle behauptet, die Idee des höchsten Gutes bzw. die Pflicht, es zu befolgen, habe Einfluss auf die Willensbestimmung derart, dass dabei andere Entscheidungen getroffen würden, als bei bloßer Anwendung des kategorischen Imperativs. Im Gegenteil, Kant weist explizit darauf hin, dass das höchste Gut nur insofern „Bestimmungsgrund des reinen Willens“ sei, als das moralische Gesetz in ihm als oberste Bedingung enthalten ist (KpV 109f.). Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass es auch andere Elemente in Kants praktischer Philosophie gibt, die ebenfalls keinen direkten Beitrag zur moralischen Entscheidungsfindung liefern und doch wesentlich und unverzichtbar sind. Ein Beispiel dafür ist Kants Theorie der Freiheit. Wären wir davon überzeugt, unser Wille wäre nicht frei, sondern eher mit einem „Bratenwender“ vergleichbar, der „wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet“ (KpV 97), wie könnten wir dann für unsere bösen Taten Verantwortung übernehmen (vgl. KpV 95f.)? Dementsprechend wäre eine solche Überzeugung eine große Gefahr für unsere moralische Praxis. Denn wir würden die Möglichkeit der Reflexion über unsere Maximen und einer daraus folgenden Wahlfreiheit für eine Illusion halten. Der Versuch, moralisch zu handeln, müsste als irrational angesehen werden.⁶⁷ Ähnlich verhält es sich mit dem höchsten Gut: Wären wir davon überzeugt, es sei praktisch unmöglich, das höchste Gut zu verwirklichen, müssten wir den Versuch dazu, und damit jede moralische Handlung, gleichfalls als irrational einordnen.⁶⁸ 66 Vgl. z. B. Auxter (1979, S. 131f.): „[The duty to promote the highest good] does not make us more effective in the sense of giving us a firmer grasp of what particular actions we should be choosing, because there is no apparent connection between the highest goo[d] and a testing procedure that could tell us when we have chosen a morally correct action (e.g., when we have parcelled out enough happiness to a given person).“ 67 Dies ist meines Erachtens der Grund dafür, warum Kant die Freiheit an einer Stelle neben der Gottesexistenz und der Seelenunsterblichkeit zu den Postulaten der reinen praktischen Vernunft zählt (KpV 132). 68 In diesem Sinne lese ich auch die Ausführungen von Friedman (1984, S. 331): „[I]t might [...] be pointed out that the concept of freedom does [also] not contribute to the elucidation of the

7.4 Die systematische Einheit des moralischen Handelns |

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Das höchst Gut steht also für die systematische Einheit unseres moralischen Handelns und ist ein notwendiger Bestandteil unseres praktischen Lebens. Nicht, weil dies für die Entscheidungsfindung notwendig ist oder die moralische Entschlusskraft stärkt, sondern weil es eine Bedingung unserer Vernunft ist, dass unser Handeln einen Sinn und ein Ziel hat. Die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts kann dabei einerseits direkt aus dem Verfahren des kategorischen Imperativs abgeleitet werden. Wir haben dafür argumentiert, dass sie durch die Formel ‚Befördere deine eigene Glückseligkeit als Teil allgemeiner Glückseligkeit‘ ausgedrückt werden kann. Dass es jedoch andererseits Pflicht ist, den damit verbundenen Zweck, das höchste Gut, vollständig zu verwirklichen, kann nur indirekt dadurch begründet werden, dass es keine moralischen Alternativen zu PflichtHG gibt, wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt. PflichtHG steht für die Forderung unserer Vernunft, unser egoistisches Glücksstreben in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit zu transformieren und auf diese Weise eine moralische und glückliche Welt hervorzubringen.

structure of moral decision making. [...] It only serves to indicate its possibility. This point is perhaps quite irrelevant for the logician or moral decision making but is certainly not for the moral agent. Just as the denial of freedom, Kant believes, would require the denial of the moral law so the denial of the highest good would require the denial of the possibility of morality.“

Schluss Das wesentliche Ziel dieser Arbeit war es zu untersuchen, wie Kants Konzept des höchsten Guts mit dem Verfahren des kategorischen Imperativs zusammenhängt und wie ersteres aus letzterem argumentativ hervorgeht. Dieser Untersuchung liegt eine bestimmte Interpretation des kategorischen Imperativs zugrunde: Mit diesem können Maximen daraufhin überprüft werden, ob sie verallgemeinerbar und damit potentiell allgemeingültig sind. Ist dies nicht der Fall, so ist es moralische Pflicht, nach ihrem praktischen Gegenteil zu handeln. Ist eine Maxime hingegen verallgemeinerbar, so dürfen wir danach handeln. Allerdings ist keine unserer originären Maximen verallgemeinerbar, da sie alle auf kontingenten Interessen beruhen und somit niemals notwendig und allgemein gelten können. Um die Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen zu erreichen, müssen wir die Interessen der anderen einbeziehen und somit unser ursprünglich egoistisches Glücksstreben in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit transformieren. Wir können also das genannte Hindernis für die Verallgemeinerbarkeit unserer Maximen dadurch aufheben, dass wir die Zwecke anderer als grundsätzlich gleichberechtigt zu unseren eigenen Zwecken ansehen. Da dies grundsätzlich und für jede Handlungssituation gilt, folgt daraus, dass allgemeine Glückseligkeit (inklusive der eigenen) der übergeordnete Zweck aller moralisch guten Handlungen ist, wenn auch nicht der Bestimmungsgrund derselben. Aufbauend auf diesem Verständnis des kategorischen Imperativs haben wir gezeigt, wie sich alle wesentlichen Elemente des höchsten Guts aus dem kategorischen Imperativ ableiten lassen. Dies wird nun im Zusammenhang dargestellt, allerdings mit einem anderen Aufbau als von der Kapitelstruktur vorgegeben. Während letztere darauf ausgelegt ist, die einzelnen Aspekte voneinander zu trennen und im Detail zu analysieren, wird es uns die hier gewählte Reihenfolge erleichtern, das Konzept des höchsten Guts in seiner Gesamtheit zu verstehen. Tugend ist das erste Element des höchsten Guts und zugleich selbst das oberste Gut, insofern Tugend die oberste Bedingung alles weiteren Guten ist (KpV 110). Wir haben dieses Bedingungsverhältnis wie folgt präzisiert: Eine Bedingung im praktischen Vernunftgebrauch ist eine normative, asymmetrische und transitive Abhängigkeit eines Gegenstandes der praktischen Vernunft von einer praktischen Regel, wobei die Bedingung hinreichend, aber nicht notwendig ist. Laut dieser Definition sollte das moralische Gesetz als oberste Bedingung alles weiteren Guten bezeichnet werden, was Kant auch tut. Es ist davon auszugehen, dass er diese Charakterisierung auf den Begriff der Sittlichkeit ausweitet, weil letztere nichts anderes als die Anwendung des moralischen Gesetzes auf die eigenen Maximen bedeutet. https://doi.org/10.1515/9783110599763-009

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Wir haben dafür argumentiert, dass Kant unter Tugend die Form versteht, die Sittlichkeit in dem Willen eines Menschen als endlichem Wesen annehmen muss. Deswegen kann Kant auch Tugend als oberste Bedingung alles weiteren Guten bezeichnen. Mit Tugend geht erstens das Bewusstsein der eigenen moralischen Schwächen einher. Zweitens bedeutet sie die innere Stärke, wenn nötig auch entgegen den eigenen Neigungen moralisch zu handeln. Drittens ist Tugend eine Fähigkeit, die einerseits geübt werden kann und andererseits immer wieder neu erworben werden muss, da wir anderenfalls Veränderungen in unseren moralischen Herausforderungen nicht gewachsen wären. Wir haben vorgeschlagen, dass Kant den Begriff der Tugend als Bezeichnung für das erste Element des höchsten Guts bevorzugt, weil die genannten Eigenschaften für den erwähnten Transformationsprozess des egoistischen Strebens nach eigenem Glück in ein Streben nach allgemeiner Glückseligkeit notwendig sind. In Bezug auf das zweite Element des höchsten Guts lässt sich bereits aus dem Konzept des kategorischen Imperativs schließen, dass eine tugendhafte Person (i) notwendig allgemeine Glückseligkeit als übergeordneten Zweck anstrebt und dass (ii) dieser Zweck ihre eigene Glückseligkeit beinhaltet. Das bedeutet aber noch nicht, dass eine moralische Person notwendig glücklich wird. Im Gegenteil: Unsere Erfahrung lehrt uns, dass unser tatsächliches Wohlbefinden wesentlich von dem Einfluss der natürlichen Umgebung abhängt und damit kontingent variieren kann, unabhängig von unserem moralischen Verhalten. Kant konstruiert das höchste Gut in einem Gedankenexperiment als das ideale Resultat moralischen Handelns, indem er einerseits einen moralisch vollkommenen Willen bei der handelnden Person voraussetzt und andererseits annimmt, diese Person habe alle Gewalt, ihre Zwecke zu realisieren. Es wäre demnach ausgeschlossen, dass eine solche Person der Glückseligkeit nicht teilhaftig wird. Dabei kann aber keine Aussage über das Maß der Glückseligkeit gemacht werden, da diese wesentlich von dem Verhalten anderer abhängt, in Bezug auf welches an dieser Stelle nichts vorausgesetzt wird. Dieses höchste Gut ‚in einer Person‘, welches sich auf ein einzelnes Individuum bezieht, muss jedoch von dem höchsten Gut ‚einer möglichen Welt‘ unterschieden werden. Letzteres geht über das bisher Gesagte hinaus und setzt voraus, dass alle Individuen einen vollkommenen Willen und die Macht besitzen, jeden ihrer Zwecke zu realisieren. Zusätzlich nimmt Kant bei dieser Form des höchsten Guts an, dass die Natur die Glückseligkeit der Tugendhaften nicht beeinträchtigt. Daher spricht er bei diesem höchsten Gut auch davon, dass die Glückseligkeit proportional zur Sittlichkeit sei. Das bedeutet, dass die allgemeine Glückseligkeit, an der jeder partizipiert, genau die Glückseligkeit ist, die jeder Einzelne sittlich durch seine eigenen Handlungen angestrebt hat. Es ist eine zu der Tugend der Handelnden adäquate Glückseligkeit, die von gegenseitiger Anerkennung, Fürsorge und Interessenausgleich geprägt ist. Da in einer solchen Welt (i) auf Tugend notwen-

230 | Schluss

dig Glückseligkeit folgt und (ii) jene Art von Glückseligkeit nur durch allgemeine Tugend hervorgebracht werden kann, sind Tugend und Glückseligkeit notwendig verbunden. Wir haben oben davon gesprochen, dass Kant das höchste Gut anhand eines Gedankenexperiments beschreibt. Inwiefern ist diese Konstruktion mit dem Wesen unserer Vernunft verbunden und muss damit Bestandteil einer Moralphilosophie a priori sein? Kant geht davon aus, dass das allgemeine Prinzip der reinen Vernunft, das er in der KrV beschreibt, auch für den praktischen Vernunftgebrauch gilt. Dieses Prinzip besagt, dass wenn das Bedingte gegeben ist, auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben ist und wir uns das Unbedingte somit auf zwei Arten denken können: als die erste selbst unbedingte Bedingung in einer Reihe von Bedingungen und als die vollständige, unendliche Reihe von Bedingungen selbst (KrV A 307f./B 364). In Bezug auf den praktischen Vernunftgebrauch heißt das, dass wir unser praktisches Leben als eine Reihe von praktischen Vernunftschlüssen betrachten können. Die praktische Vernunft sucht einerseits nach dem obersten unbedingten Prinzip, das all diese Vernunftschlüsse bedingt, und findet es im moralischen Gesetz. Und sie sucht andererseits nach der vollständigen Reihe, also nach der Gesamtheit solcher durch das moralische Gesetz bedingter Vernunftschlüsse. Diese zweite Suche führt uns zu dem höchsten Gut, so wie wir es oben beschrieben haben. Unsere Erfahrung spricht dagegen, dass wir das höchste Gut einer möglichen Welt jemals erreichen können. Da sich der Handlungserfolg nach unserem Wissen der Naturgesetze und unserem physischen Vermögen richtet und nicht nach unserer moralischen Gesinnung, sieht unsere Vernunft im theoretischen Gebrauche die Hervorbringung des höchsten Guts als praktisch unmöglich an. Da sie ebendieses aber zugleich im praktischen Gebrauche notwendigerweise anstrebt, gerät sie in einen Konflikt mit sich selbst. Kant beschreibt diesen Konflikt als ‚Antinomie der praktischen Vernunft‘ (KpV 113). Die These der Antinomie lautet ‚Das höchste Gut ist praktisch möglich‘ und die Antithese ‚Das höchste Gut ist praktisch unmöglich‘. Die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft besteht laut Kant darin, zu bemerken, dass es eben doch nicht unmöglich ist, dass Sittlichkeit Glückseligkeit hervorbringen kann, wenn wir zugestehen, dass dieser Zusammenhang nicht unmittelbar, sondern mittelbar durch einen intelligiblen Urheber der Natur, also einen allmächtigen und gütigen Gott hergestellt wird. Dieser Gedankengang führt uns zu der Postulatenlehre. Unter einem Postulat der reinen praktischen Vernunft versteht Kant einen theoretischen Satz, dessen Gültigkeit jedoch theoretisch weder bewiesen noch widerlegt werden kann, und der mit einer Forderung unserer reinen praktischen Vernunft notwendig zusammenhängt. Die Annahme der Existenz Gottes und der Untersterblichkeit der Seele sind solche Sätze, da wir nur auf diese Weise die praktische Möglichkeit des höchsten Guts sichern und damit die Kon-

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sistenz unserer reinen praktischen Vernunfterkenntnis aufrechterhalten können. Auf diese Weise führt Moral zur Religion (und laut Kant ist dies der einzige Weg, Religion rational rechtfertigen zu können). Wie wirkt sich das höchste Gut nun konkret auf unser praktisches Leben aus? Wir können mehrere Dinge ausschließen, die prima facie in Betracht kommen würden. Erstens dient das höchste Gut nicht dazu, uns bei der Entscheidung zu helfen, wie wir unsere einzelnen moralischen Zwecke ordnen und systematisieren können. Diese Systematisierung unserer kontingenten Neigungen und auch der einzelnen moralischen Pflichten, zu deren Erfüllung wir uns verbunden sehen, in einen durchgängigen, konsistenten Handlungsplan, geschieht bereits durch das Verfahren des kategorischen Imperativs. Zweitens hat das höchste Gut auch nichts mit moralischer Motivation zu tun. Es geht nicht darum, dem Tugendhaften eine Belohnung für seine guten Taten in Aussicht zu stellen. Denn genau das würde eine reine moralische Motivation aus Achtung vor dem moralischen Gesetz zunichte machen. Ein tugendhafter Mensch würde also auch ohne Aussicht auf das höchste Gut, wenn wir uns einen solchen zum Versuche denken wollen, (i) dieselben moralischen Entscheidungen treffen und wäre (ii) mit gleicher Stärke dazu entschlossen. Das höchste Gut hat jedoch andere Konsequenzen. Wir haben zum Beispiel gezeigt, dass die fundamentale Gerechtigkeitsidee, nach der jeder Person Glückseligkeit in dem Maße zu Teil werden solle, wie es ihre Tugend rechtfertige, aus der Idee des höchsten Gutes folgt. Wenn wir eine Situation als ungerecht beurteilen, entsteht dies demnach dadurch, dass wir die Differenz zwischen der wirklichen Welt und der moralischen Welt, wie sie nach dem kategorischen Imperativ sein soll, erkennen. Diese Erkenntnis ist unabhängig davon, ob wir selbst in jener Situation handelndes Subjekt oder außenstehender Beobachter sind. Eine solche Idee von Gerechtigkeit kann aus dem kategorischen Imperativ nicht direkt abgeleitet werden. Ein weiteres Phänomen unseres praktischen Lebens, das nicht direkt durch den kategorischen Imperativ erklärt werden kann, fasst Kant unter den Begriff der Glückswürdigkeit. Dieser Begriff bezieht sich auf eine passive Eigenschaft des Handelnden, die ihm aufgrund seiner Sittlichkeit zukommt. Passiv nennen wir die Eigenschaft deswegen, weil sie weder etwas mit der Handlungsentscheidung noch der Motivation des Subjekts zu tun hat, sondern vielmehr mit der Perspektive eines Zuschauers, der den Tugendhaften als der Glückseligkeit würdig erachtet. Der Ursprung dieses Urteils eines Zuschauers, liegt ebenfalls in der Idee des höchsten Gutes: In einer Welt, die dem kategorischem Imperativ gemäß wäre, also dem höchsten Gut als moralische Welt, würde dem Tugendhaften die Glückseligkeit, derer er als würdig erachtet wird, tatsächlich zukommen.

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Oben wurden die Postulate der reinen praktischen Vernunft abstrakt als Konsistenzbedingungen unserer praktischen Rationalität dargestellt. Darüber hinaus ist der mit ihnen verbundene Vernunftglaube Voraussetzung für ein Phänomen, das wir mit unserer alltäglichen Praxis assoziieren können: mit der Hoffnung auf ein glückliches Leben. Denn nach Kant ist der Weg über das höchste Gut und die Postulate die einzige Möglichkeit, eine solche Hoffnung rational zu rechtfertigen. Der Begriff der Hoffnung ist somit ein komplementärer Begriff zu denen der Gerechtigkeit und der Glückswürdigkeit: Gerechtigkeitsurteile sind Urteile der Vernunft über die Differenz der wirklichen Welt zum höchsten Gut als moralischer Welt, unabhängig vom Standpunkt des Urteilenden. Mit dem Begriff der Glückswürdigkeit bezieht sich Kant auf die Perspektive, die wir gegenseitig aufeinander einnehmen. Die Hoffnung schließlich ist die rational gerechtfertigte Einstellung des Tugendhaften hinsichtlich seiner eigenen möglichen Glückseligkeit. Die Hoffnung ist von daher ein besonderes Phänomen, weil sie einen positiven Effekt auf den Hoffenden hat, bevor das Erhoffte tatsächlich eintritt oder der Hoffende auch nur weiß, dass es eintreten wird. Das unterscheidet das Hoffen vom bloßen Wünschen, aber auch vom Wollen. In einem gewissen Sinne kann die Hoffnung auf eine moralische und glückliche Welt, und damit auf eine Glückseligkeit, die meiner Tugend angemessen ist, ein Ersatz dafür sein, dass die Welt, so wie ich sie zu diesem Zeitpunkt (und zu jedem Zeitpunkt in der Zukunft) erfahre, nach denselben Maßstäben ungerecht eingerichtet ist. Das Konzept des höchsten Guts ist somit nicht nur ein wesentlicher Bestandteil von Kants Vernunftphilosophie, sondern hat auch einen realen Bezug zu unserer Praxis. Auf diese Weise erfüllt das höchste Gut nach Kant wichtige Funktionen in unserem praktischen Leben, ohne dabei mit dem moralischen Gesetz als oberstem praktischen Prinzip in Konkurrenz zu treten. Denn auch für das höchste Gut gilt, dass es durch das moralische Gesetz bestimmt werden muss. Würde aus einem zuerst gesetzten höchsten Gut das moralische Gesetz abgeleitet, so wäre es nicht allgemeingültig, da wir in diesem Falle das höchste Gut nur mittels des Gefühls der Lust und Unlust in unsere Willensbestimmung aufnehmen könnten. So wie das Konzept des höchsten Gutes hier jedoch rekonstruiert wurde, wird diese Regel nicht verletzt; und das höchste Gut fügt sich nahtlos in Kants deontologische Ethik ein.

Zitierweise Kant-Zitate folgen dem Text der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Nur Texte aus Kants Vorlesung zur Moralphilosophie (Nachschrift Kaehler) sind nach der von Werner Stark 2004 editierten Ausgabe zitiert (abgekürzt: Moralphilosophie Kaehler). Alle Passagen, außer aus der Kritik der reinen Vernunft, sind nach Seitenzahl der Akademie-Ausgabe und mit in der Literatur üblichen Siglen ausgewiesen, z.B. KpV 110 = Kritik der praktischen Vernunft, S. 110. Wo es hilfreich erscheint, ist zusätzlich die Bandnummer angegeben. Auf die Kritik der reinen Vernunft ist nach der Originalpaginierung der A- und B-Auflage verwiesen. Hervorhebungen im Kant-Text sind kursiv wiedergegeben. Weggelassene Hervorhebungen sind nicht kenntlich gemacht; eigene Hervorhebungen sind durch „H.v.m.“ („Hervorhebungen von mir“) gekennzeichnet. Hilfreiche eigene Ergänzungen in Zitaten, die über bloße Satzumstellungen hinausgehen, sind durch „FM“ gekennzeichnet. Bei Veröffentlichungen Kants in lateinischer Sprache wurde auf Standardübersetzungen zurückgegriffen, die entsprechend angegeben sind.

https://doi.org/10.1515/9783110599763-010

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Personenregister Adickes, Erich 4, 129, 134, 136–138, 147, 155, 189, 192 Albrecht, Michael 70, 71, 76, 172, 174, 205 Alighieri, Dante 195 Allison, Henry E. 17, 72, 112, 115, 116, 208 Anacker, Ulrich 173 Aristippos von Kyrene 86 Aristoteles 2 Atwell, John E. 171 Aune, Bruce 17 Austen, Jane 191 Auxter, Thomas 6, 170, 226

Dörflinger, Bernd 26, 173, 190, 208 Döring, Sabine 191 Düringer, Eva-Maria 191 Düsing, Klaus 1, 6

Bacin, Stefano 45 Bader, Ralf M. 4, 45, 171 Barney, Rachel 143, 173 Barth, Ulrich 45 Basaglia, Federica 42, 45 Baumanns, Peter 141 Baumgarten, Alexander Gottlieb 192, 193 Beck, Lewis W. 5, 42, 44, 67, 115, 129, 137, 205 Beiser, Frederic C. 130, 162, 173 Bielefeldt, Heiner 208 Blöser, Claudia 118 Bobzien, Susanne 45 Bowman, Curtis 170 Brandt, Reinhard 5, 16, 41, 80, 161, 173, 206 Broad, Charlie D. 2 Byrd, Sharon B. 194

Förster, Eckart 76, 205 Forkl, Markus 208 Forschner, Maximillian 204 Frankena, William K. 2, 80 Franz I. 139 Friedman, R.Z. 6, 207, 222, 226 Fugate, Courtney 170, 171, 192, 206

Caswell, Matthew 170 Chignell, Andrew 186–188 Cohen, Hermann 4, 129 Conradt, Michael 137 Corlett, J.A. 194 Cornelius, Hans 4 Crusius, Christian August 133 Davidovich, Adina 113 Denis, Lara 112, 113, 116, 170, 177, 208 Dieringer, Volker 44, 57 Diogenes von Sinope 153 https://doi.org/10.1515/9783110599763-012

Ebert, Theodor 30 Engstrom, Stephen 7, 15, 17, 25, 28, 45, 53, 54, 58, 66, 67, 79, 83, 113, 130, 135, 146, 149, 150, 170, 171, 180, 206–210 Enskat, Rainer 15 Epikur 1, 86 Euklid 172

Garve, Christian 202 Geismann, Georg 15, 173 Gesang, Bernward 91 Graband, Claudia 16, 45 Gregor, Mary J. 33, 41, 209 Greiling, Johann C. 4, 174 Gressis, Rob 17 Grier, Michelle 72 Grünewald, Bernward 164 Grundmann, Walter 90 Guyer, Paul 1, 14, 115, 137, 173 Habermas, Jürgen 5, 204 Hägerström, Axel 13, 114, 174, 209, 210 Härle, Winfried 173 Haydn, Joseph 139 Heine, Heinrich 5 Held, Carsten 14 Helvétius, Claude Adrien 86 Henrich, Dieter 30, 193 Herman, Barbara 30 Hill, Thomas E. Jr. 27 Hills, Alison 141, 143, 148, 151, 153

246 | Personenregister Himmelmann, Beatrix 137, 156, 174, 195 Hobbes, Thomas 87 Höwing, Thomas 104, 141, 148, 187 Horn, Christoph 15, 16 Hruschka, Joachim 194 Hutcheson, Francis 193 Illies, Christian F.R. 16 Insole, Christopher 170, 206 Jenisch, Daniel 91 Johnson, Robert N. 148, 151 Kain, Patrick 144 Kang, Ji Y. 224, 225 Karl V. 139 Keller, Daniel 113, 172 Kleingeld, Pauline 7, 13, 45, 115, 130, 168, 170, 174, 204, 206, 214 Klemme, Heiner F. 30, 41 Klingner, Stefan 68 Korsgaard, Christine 15, 30, 34, 58, 144, 148 Kroner, Richard 206 Kühn, Manfred 193, 203 La Mettrie, Julien Offray de 86 Lehmann, Gerhard 56, 218 Linden, Harry van der 173 Louden, Robert B. 83, 224 Mandeville, Bernard 87 Mariña, Jaqueline 6, 112, 157 Marthaler, Ingo 100, 208 Meyer, Susan S. 2 Milz, Bernhard 5, 70, 71, 76, 165, 170, 204 Montaigne, Michel de 86 Moran, Kate A. 154, 171, 224 Muirhead, John H. 2 Murphy, Jeffrie G. 6, 162, 204

O’Neill, Onora 15, 16, 24, 188 Paton, Herbert J. 29, 141, 144, 148, 153 Paulsen, Friedrich 5 Pieper, Annemarie 45 Pistorius, Hermann Andreas 91 Platon 1, 90 Pluhar, Werner 67 Puls, Heiko 43, 44 Rawls, John 4, 15, 16, 24, 164, 171, 174 Reath, Andrews 4, 6, 17, 83, 91, 100, 101, 112, 130, 170, 171, 174, 175, 206, 224, 225 Recki, Birgit 173 Rehberg, August W. 44 Ricken, Friedo 2 Rischmüller, Marie 52 Rosen, Allen D. 151 Sala, Giovanni B. 23, 100 Santozki, Ulrike 1 Schönecker, Dieter 16 Schmitz, Hermann 5, 173 Schmucker, Josef 153, 193 Schneewind, J. B. 85 Schopenhauer, Arthur 4, 129 Schrader, George A. 90 Schwemmer, Oswald 137 Sensen, Oliver 97, 99 Shell, Susan M. 153, 158 Silber, John R. 6, 163, 171, 224 Simmons, Lance 162 Slote, Michael 3 Smith, Steven G. 165, 170, 173, 190 Sommer, Manfred 4 Stäudlin, Carl Friedrich 186 Stark, Werner 42 Stolzenberg, Jürgen 45 Surprenant, Chris W. 115

Natorp, Paul 41 Neiman, Susan 16, 222 Nenon, Thomas 6, 173 Nietzsche, Friedrich 5 Nisters, Thomas 17

Vossenkuhl, Wilhelm 202

O’Connell, Eoin 171, 173, 195

Ward, Keith 163

Timmermann, Jens 3 Timmons, Mark 15, 16 Torralba, José M. 45

Personenregister |

Watkins, Eric 70, 76, 121, 123–125, 162, 170, 214 Weischedel, Wilhelm 41 Wentscher, Max 161 Westra, Adam 16, 45 Wike, Victoria S. 33, 137, 160 Willaschek, Marcus 15, 68, 76, 94, 115, 122, 146, 214 Wimmer, Reiner 13, 15, 208 Wittwer, Héctor 203

247

Wolff, Christian 136, 153 Wood, Allen W. 6, 17, 31, 86, 91, 103, 113, 115, 116, 133, 143, 144, 148, 151, 170, 173 Yovel, Yirmiahu 114, 119, 174, 177, 208 Zeldin, Mary-Barbara 6 Zimmermann, Stephan 41, 42 Zobrist, Marc 5, 157, 162, 205

Sachregister Allgemeingültigkeit 18, 92, 98, 215, 217 Allgemeinheit 84, 96 Angenehme, das 57, 58, 86, 97, 134, 146, 155 Anratung 94, 123, 144, 145 Anschauung 45, 47, 65, 100 Antinomie 69–73, 75, 121 – der praktischen Vernunft 2, 69–71, 76, 162, 189 Ausnahmslosigkeit 98 Autonomie 82, 154 Böses, radikales 88, 116 Bedingung 121, 178 Begehren 53, 104, 141 Begehrungsvermögen 46, 60 Begierde 140, 141 Begriff 41, 47 Belohnung 192 Christentum 185 Demut 116 Denken 50 Dijudikation 206 Elternliebe 27 Empfänglichkeit, moralische 190 Endlichkeit 149 Endzweck 67, 106, 216, 217 Entscheidung, vernünftige 57 Erfahrung 96, 134, 135, 145 Erfahrungsurteil 47 Erkennen 50 Erkenntnis 47, 63, 121, 141 – praktische 46–48 Erlaubnis 22, 26, 33 Ethik – deontologische 2, 3, 80, 111 – teleologische 2, 80 Exekution 206 Fürwahrhalten 187 Factum der Vernunft 70 https://doi.org/10.1515/9783110599763-013

Form 17 Freiheit 28, 41, 42, 65, 69, 76, 125 – transzendentale 42, 118 Furcht 103, 187, 194 Gastmahl 180 Gebot 94 Gefühl – der Lust und Unlust 96, 101, 104 – moralisches 85, 87, 89 – physisches 85, 86 Gegenstand 42, 45, 63 Gegenstand der praktischen Vernunft 40, 60, 122, 203 Gerechtigkeit 163, 173, 184, 185, 189, 194 Geschicklichkeit 87, 95, 115 Gesetz – allgemeines 18 – moralisches 3–6, 49, 115, 203 – praktisches 94 Gesetzmäßigkeit, bloße 115 Gesinnung 113 Gesundheit 144 Glück 135 Glückseligkeit 2, 4, 83, 86, 126, 129, 134, 135, 138, 140, 141, 143–146, 148, 150, 151, 153, 154, 156, 158, 161, 167, 170, 172, 173, 177, 179, 187, 193 – allgemeine 19, 28, 34, 79, 176, 180, 205, 213 – eigene 18, 32, 112, 211 – empirische-bedingte 4 – fremde 18–20 – intellektuelle 136 – moralische 136 Glückswürdigkeit 163, 189–194 Glaube 155, 186 Gott 5, 87, 89, 102, 103, 165, 195, 208 gut – an sich selbst 56, 58, 97 – mittelbar 56, 58, 97 Gut, höchstes 3, 36, 67, 75, 79, 105, 113, 119, 129, 146, 153, 161, 179, 186, 189 – einer möglichen Welt 176, 182

Sachregister |

– in einer Person 176 Gute, das 38, 51, 57, 95, 97 Habitus 142 Handlung 38, 45, 50, 63, 65, 97, 214 Heiligkeit 115, 118, 156, 173, 183 Heteronomie 82 Hoffnung 103, 155–157, 186, 187, 189, 194, 195, 205 Ideal der Einbildungskraft 4, 141, 144, 149, 150, 155 Imperativ 49, 63 – hypothetischer 83 – kategorischer 15, 20, 22, 83, 116, 123, 135, 174, 176, 184, 202, 210 Instinkt 141 Klugheit 95, 115, 145, 195 Kynismus 1 Lebensziel 2 Liebenswürdigkeit 193 Lohn 192 Lust 52, 84, 104, 140 – intellektuelle 104 – sinnliche 104 Mönchsasketik 136 Materie 17, 18 Maxime 15, 17, 18, 28, 38, 56, 65, 97, 115 Messiasgeheimnis 90 Misologie 152, 167 Mitleid 104 moralneutral 30 Nächstenliebe 27 nützlich 56 Neigung 20, 74, 117, 118, 130, 136, 138, 140–143, 145, 148, 150, 151, 154, 156, 158, 161, 167, 187 Notwendigkeit 84, 96 Objekt 42 Paradoxon 80 Person 38, 65, 97

249

Pflicht 3, 94 – enge 25, 218 – moralische 16, 27 – weite 26, 219 – zur Beförderung des höchsten Gutes 5, 199, 201, 210–215, 217–220, 222 Podagrist 144, 151 Postulat 179, 188, 202, 217 – der Existenz Gottes 2, 5, 131, 138, 162, 164, 165, 179, 219, 222, 226 – der Unsterblichkeit der Seele 2, 5, 219 Proportionalität 4, 119, 170, 173, 174, 176, 178, 179, 181, 183 Ratschlag 87 Religion 5 Schein, transzendentaler 72 Schmerz 142, 143, 145, 149, 157, 158 Seelenruhe 155 Seelenunsterblichkeit 115, 188 Selbstzufriedenheit 136, 158, 159, 161 Selbstzweck-Formel 56 Seligkeit 136, 155–158, 173, 183 Sittengesetz 94 Sittlichkeit 95, 115, 118, 119, 126, 170, 173, 176, 189, 193 Sollen 49, 63, 187 Stärke, moralische 113, 117 Sterblichkeit 149 Stoa 1, 91, 161 Strafe 103, 186, 194 Strafwürdigkeit 194 Tapferkeit 117 Totalität 69, 75, 79, 119 Transformation des Glücksstrebens 23, 31, 34, 35, 54, 119, 213 Tugend 2, 4, 56, 112, 113, 116–120, 126, 127, 129, 156, 161, 163, 171, 179, 189 Tugendethik 2 Tugendlehre 116, 117 Tugendpflicht 116 Unbedingte, das 69, 75, 120 Unlauterkeit 116, 182 Unparteilichkeit 98 Utilitarismus 35

250 | Sachregister Verallgemeinerbarkeit 15, 29 Verhalten 13, 40, 64 – freies 49, 50 – moralisches 14, 17, 56, 74, 79, 87, 106, 119 Vernunft – praktische 149 – unparteiische 164 Vernunftgebrauch – logischer 71, 121 – realer 121, 122 Vernunftglaube 202, 223 Vernunftschluss 72 – praktischer 74, 122 Vernunftwesen 208 Vollkommenheit 37, 85 – ontologische 87 – sittliche 181 – theologische 87 Vorstellung 41, 46, 47 Wahrnehmungsurteil 47

Widerspruch – im Denken 24, 180 – im Wollen 24, 62 – praktischer 15, 22, 25 Wille 46, 65, 97, 149 – göttlicher 89, 102–104, 130 – guter 56 Willensbestimmung 48, 51, 53, 95, 105, 214 – lustbasierte 135 – lustorientierte 51, 61 – moralische 51, 54, 56 Wohlbefinden 133, 159 Wohltätigkeit 23, 30, 35 Wohlverhalten 134, 159 Zufriedenheit 133, 134 – moralische 160 Zuschauer, parteiloser 185 Zweck 18, 20, 28, 39, 58, 68, 112, 138, 146, 150, 214 – an sich 164