Das Gesicht Europas: Die Vielfalt unserer Landschaften 3806240817, 9783806240818

Europas Landschaften - bildschön und vielfältig Bezaubernde Wiesen, rauschende Flüsse und mystische Moore - der europäi

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Das Gesicht Europas: Die Vielfalt unserer Landschaften
 3806240817, 9783806240818

Table of contents :
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Titel
Über den Inhalt
Über den Autor
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Geleitwort
I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird
Gliederung und Grenzen Europas
Wie groß ist Europa? Flächen und Besiedlungsdichten
Flächennutzung – ein Indikator für Natur?
Geologie, Klima, Vegetation – Grundlagen der Vielfalt
Die Geologie Europas
Das Klima prägt die Vegetation
Die Vegetation – was wächst wo und warum
Vom Biotop zur Biosphäre
II. Landschaften und Lebensräume
Wald
Wälder in Europa
Gibt es in Europa Urwälder?
Wo welche Bäume wachsen und warum
Bis wohin Bäume wachsen
Was in und an Bäumen lebt
Im Wald da sind die Räuber
Wasser
Von der Quelle bis zur Mündung – Fließgewässer
Seen, Weiher, Tümpel – Stillgewässer
Moore und Sümpfe
Meere und Küsten
Wüste
Gibt es in Europa Wüsten?
Dünen
Kältewüsten
Felsen und Gesteinshalden
Karst
Grasland
Grasland oder Grünland?
Steppen in Europa
Vom Winde verweht
Steppentiere
Kulturland
Von der Natur zur Kultur
Grünland – Weiden und Wiesen
Äcker
Weinlandschaften
Lebensraum Stadt
Landschaft im Wandel
Bergland
Gebirge in Europa
Höhenstufen
Lebensraum Hochgebirge
III. Natur oder Kultur – unser Erbe und wie wir damit umgehen
Wo gibt es in Europa noch Wildnis?
Wald
Wasser
Wüste und Steppe
Hochgebirge
Sind auch Kulturlandschaften schützenswert?
Dramatischer Artenrückgang
Gibt es noch Hoffnung?
Wer schützt Europas Natur- und Kulturlandschaften?
Schutzgebiete
Organisationen
Grenzüberschreitende Initiativen
IV. Gesicht zu erkunden – wo gibt es was zu sehen?
Albanien
Andorra
Baltikum
Estland
Lettland
Litauen
Belgien
Bosnien und Herzegowina
Bulgarien
Dänemark
Deutschland
Finnland
Frankreich
Griechenland
Irland
Island
Italien
Kosovo
Kroatien
Liechtenstein
Luxemburg
Malta
Moldawien
Montenegro
Niederlande
Nordmazedonien
Norwegen
Österreich
Polen
Portugal
Rumänien
Russland
San Marino
Schweden
Schweiz
Serbien
Slowakei
Slowenien
Spanien
Tschechien
Ukraine
Ungarn
Vereinigtes Königreich
Weißrussland
Literatur- und Quellenverzeichnis
Register
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Bernd-Jürgen Seitz

Das Gesicht Europas

Bernd-Jürgen Seitz

Das Gesicht Europas Die Vielfalt unserer Landschaften

„Selbst unsere gezähmte, regulierte, über Jahrhunderte von Menschenhand überformte mitteleuropäische Landschaft ist immer noch so unendlich reich, vielfältig, aufregend, bezaubernd, wunderschön. Diese Schönheit aber kann man nur genießen, wenn man sich ihr zuwendet, sie im Wortsinn ,zur Kenntnis nimmt‘ – sich also die Mühe macht, die Vielfalt der Arten wahrzunehmen und zu unterscheiden.“  Johanna Romberg, Federnlesen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Christiane Martin, Köln Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Seeheim Einbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4081-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-4095-5 eBook (epub): 978-3-8062-4096-2

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

II.

. . . . . . . . . . . .



Gliederung und Grenzen Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie groß ist Europa? Flächen und Besiedlungsdichten . . . . . . . . . . . . . . . . . Flächennutzung – ein Indikator für Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geologie, Klima, Vegetation – Grundlagen der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . Die Geologie Europas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Klima prägt die Vegetation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vegetation – was wächst wo und warum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Biotop zur Biosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Landschaften und Lebensräume

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wälder in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es in Europa Urwälder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wo welche Bäume wachsen und warum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bis wohin Bäume wachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was in und an Bäumen lebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Wald da sind die Räuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Quelle bis zur Mündung – Fließgewässer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seen, Weiher, Tümpel – Stillgewässer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moore und Sümpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meere und Küsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wüste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es in Europa Wüsten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dünen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kältewüsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Felsen und Gesteinshalden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grasland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grasland oder Grünland? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steppen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Winde verweht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steppentiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Natur zur Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grünland – Weiden und Wiesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weinlandschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensraum Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landschaft im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bergland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebirge in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Höhenstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebensraum Hochgebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III. Natur oder Kultur – unser Erbe und wie wir damit umgehen

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Wo gibt es in Europa noch Wildnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wüste und Steppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hochgebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sind auch Kulturlandschaften schützenswert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

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Inhalt

Dramatischer Artenrückgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gibt es noch Hoffnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wer schützt Europas Natur- und Kulturlandschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzüberschreitende Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Gesicht zu erkunden – wo gibt es was zu sehen?

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Albanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andorra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baltikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Estland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Litauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bosnien und Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bulgarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Finnland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Griechenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Irland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Island . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kosovo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kroatien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liechtenstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Luxemburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Malta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Moldawien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Montenegro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nordmazedonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norwegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Portugal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rumänien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Russland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . San Marino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serbien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Slowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Slowenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tschechien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ukraine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vereinigtes Königreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weißrussland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur- und Quellenverzeichnis Register . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Nach

meinem 2017 erschienenen Buch „Das Gesicht Deutschlands: Unsere Landschaften und ihre Geschichte“ war es für mich fast eine logische Konsequenz, meinen Radius auszudehnen und ein Buch über Europa zu schreiben, zumal ich bereits viele europäische Länder bereist habe. Mit einem Buch über die Landschaftsgeschichte Europas hätte ich mich aber übernommen, sodass hier das heutige Gesicht der vielfältigen Landschaften und Lebensräume Europas im Vordergrund steht. Im ersten Teil werden die Grenzen Europas abgesteckt und die politische und geographische Gliederung aufgezeigt. Ich stelle unter anderem die Frage, ob die Flächennutzung und insbesondere der Waldanteil eines Landes ein Indikator für Naturnähe ist. Es folgen Ausführungen über Geologie und Klima als Grundlagen für die Vegetation bzw. die Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Ich erläutere Begriffe aus der Ökologie vom Biotop zur Biosphäre und gehe dann auf die Biogeographischen Regionen Europas ein. Im zweiten, zentralen Teil des Buches wird die Vielfalt Europas auf der Grundlage seiner wichtigsten Landschaften und Lebensräume beschrieben. In den sechs Hauptkapiteln Wald  –  Wasser  –  Wüste  –  Grasland  –  Kulturland  –  Bergland schildere ich, welche Umweltbedingungen zu welchen Lebensräumen führen, und stelle charakteristische Tier- und Pflanzenarten vor. Dabei werden wichtige und aktuelle Themen immer wieder in Form von „Infoboxen“ eingestreut.

Im dritten Teil gehe ich den Fragen nach, wo es in Europa noch Wildnis gibt und ob auch Kulturlandschaften schützenswert sind. Ich nehme es gleich vorweg: Wenn das nicht der Fall wäre, gäbe es in Mittel- und Südeuropa nicht viel zu schützen, denn dort gibt es kaum noch größere Naturlandschaften. In der mitteleuropäischen Kulturlandschaft ist ein dramatischer Artenrückgang zu verzeichnen, der mit Bienen- oder Insektensterben nur unzureichend umschrieben wird. Dem gegenüber stehen zahlreiche Regelungen und Initiativen zum Schutz europäischer Natur- und Kulturlandschaften. Da gibt es einmal Schutzgebiete wie Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks bis hin zu Schutzgebietsnetzwerken wie dem Smaragd-Netzwerk und Natura 2000, dem Schutzgebietsnetz der Europäischen Union. Dazu gibt es mehrere Organisationen, die sich dem Schutz der europäischen Natur verschrieben haben, und  –  besonders erfreulich  –  auch etliche grenzüberschreitende Initiativen. Besonders hervorzuheben ist dabei das „Grüne Band Europa“ (European Green Belt), das eine Gesamtlänge von rund 1400  km hat und entlang des ehemaligen sogenannten Eisernen Vorhangs durch 24 europäische Staaten vom Eismeer im Norden Norwegens bis zum Schwarzen Meer reicht. Der vierte und letzte Teil des Buches ist eine Art Reiseführer zu den Natur- und Kulturlandschaften Europas. Die Länder Europas werden alphabetisch mit ihren wichtigsten Daten, Besonderheiten, Landschaften, Naturräumen und Lebensräumen aufgeführt.  Dr. Bernd-J. Seitz

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Abb. 1: Landschaft in Sachsen (Deutschland), im Hintergrund das Erzgebirge.

Geleitwort Das

Gesicht eines Landes oder Erdteils wird von der Vielfalt seiner Strukturen, ihrer Zusammensetzung und Anordnung geprägt, deren Betrachtung und Erlebnis die menschlichen Sinne und Empfindungen bewegen. Wanderungen und Reisen durch die Länder sind davon motiviert, jene Vielfalt kennenzulernen und in der Erinnerung festzuhalten. Doch viele Menschen wollen das Gesicht eines Landes nicht nur erleben und sich daran erfreuen, sondern möchten auch gern erfahren, wie es zustande kommt, worauf sich seine Strukturen und ihre Anordnung in Raum und Zeit gründen. Diesen Wunsch erfüllt das vorliegende Buch mit seinen vier Hauptkapiteln, die von den allgemeinen natürlichen Gegebenheiten bis zu Kurzbeschreibungen der europäischen Länder reichen, in umfassender Weise. Als Grundlagen jener Vielfalt Europas beschreibt der weitgereiste Verfasser Geologie, Klima und die Pflanzendecke des Landes und verknüpft diese mit der menschlichen Besiedlung und Nutzung der Flächen. Daraus ergibt sich der  –  oft verwickelte  –  Zusammenhang von Natur und Kultur, die beide in regionaler Verschiedenheit und Gewichtung das Gesicht des Landes bestimmen und darin „Landschaften“ hervorgebracht haben. Dieses Wort, dessen Ursprung im Anblick eines als ästhetisch empfundenen Bildes von einem „Stück Land“ liegt und auch zur künstlerischen Gestaltung anregt, hat sich inhaltlich auch auf den Begriff des „Lebensraums“ ausgeweitet.

Dessen Bestandteile und Funktionen bringen wiederum die Vielfalt von Natur und Kultur mit ihrer gegenseitigen Abhängigkeit zum Ausdruck  –  vom Naturland der Wälder, Grasländer, Gewässer, Moore und Gebirge zum davon ausgehenden Kulturland, das zur Lebensgrundlage der Menschen geworden ist. Heute ist das Gesicht des Landes überall von den Menschen und ihren Entscheidungen bestimmt, die über das Land gebieten und dabei vor kaum überwindbaren Gegensätzen stehen: zwischen Wildnis oder Naturnähe und Kultivierung oder Überbauung, zwischen Schützen und Nutzen, zwischen Stadt und Land (wobei „Land“ die zusätzliche Bedeutung als quasi-natürlicher Gegensatz zum rein technischen Gebilde „Stadt“ erhält) sowie zwischen Verantwortung und Gewährenlassen. Diese komplizierten Zusammenhänge werden in diesem Buch  –  trotz vieler Details und Verwendung von (gut erläuterten) Fachausdrücken  –  verständlich und übersichtlich dargestellt. Es vereinigt die Qualitäten eines Reiseführers (Teil IV) mit einem populären Fachbuch der Landschaftskunde, das mit didaktischem Geschick geschrieben ist. Daher empfehle ich es sogar als „transdisziplinäres Lernbuch“, das auch Studierende an Hochschulen neben der reinen Fachliteratur verwenden sollten. Darüber hinaus wird es dazu beitragen, die in aller Vielfalt zum Ausdruck kommende Einheit der Kultur Europas im globalen Kontext hervorzuheben und zu fördern.  Prof. em. Dr. Wolfgang Haber,  Technische Universität München in  Freising-Weihenstephan, Landschaftsökologie

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I Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

„Man kann heute die Welt nicht ohne Karte sehen noch sich vorstellen. Die Karte ist eine Transkription der Welt, wie sie ist, sie regt auch die Imagination an und bewahrt unsere Erinnerungen. Woran wir uns in Wirklichkeit erinnern, sind die unzähligen Bilder, die uns die Karten veranschaulicht haben.“  Timothy Brooks (in Francois/Serrier: Europa)

Gliederung und Grenzen Europas Europa ist ein Teil des Kontinents Eurasien, also ein Subkontinent, der aus historischen und kulturellen Gründen aber im Allgemeinen als eigener Kontinent betrachtet wird. Mit über 700 Mio. Einwohnern, die auf einer Fläche von etwa 10   Mio.   km² leben, gehört Europa zu den dichter besiedelten Teilen der Erde, vor allem weist es eine große Anzahl an Großstädten auf. Deutschland liegt in Mitteleuropa und zumindest nach unserem Empfinden ziemlich genau in der Mitte Europas. Befindet sich also auch der geographische Mittelpunkt Europas in Deutschland? Der Autor war selbst überrascht, als er erfuhr, dass sich dieser in Litauen befindet, das aus deutscher Sicht sehr weit nordöstlich liegt. Allerdings hängt die Berechnung des Mittelpunkts von den zugrunde gelegten Grenzen Europas ab, und die sind alles andere als eindeutig. Die Grenzfestlegung richtete sich nach wechselnden historischen und welt-

Abb. 2: Unterschiedliche Definitionen der Grenze zwischen Europa und Asien. A: Grenze nach Philip Johan von Strahlenberg (1730), B: Grenzziehung entlang Ural (Gebirge und Fluss), F: KaukasusWasserscheide.

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I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

anschaulichen Kriterien und war daher im Lauf der Zeit immer wieder Änderungen unterworfen. So haben Geographen aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1867–1918) den 939  m hohen Tillenberg (tschechisch Dyleň) in der Nähe der böhmischen Stadt Eger als den geographischen Mittelpunkt Europas errechnet. Umstritten ist heute insbesondere die Grenze Europas zwischen Kaspischem Meer und Schwarzem Meer (Abb. 2). Die Diskussion geht darum, ob der Hauptkamm des Kaukasus (Abb. 3) oder die Manytschniederung, die einst als Meeresstraße das Kaspische Meer mit dem Schwarzen Meer verband, als Grenze anzusehen ist. Nicht eindeutig ist auch die Abgrenzung in der Ägäis. Gemeinhin wird hier die politische Grenze zwischen Griechenland und der Türkei mit der Grenze zwischen Europa und Asien gleichgesetzt. Der westlichste Punkt Europas liegt auf der portugiesischen Felseninsel Monchique bei Flores (Azoren), auf dem Festland ist es der Cabo da Roca in Portugal. Der östlichste Punkt ist Kap Olenij im Norden der russischen Insel Nowaja Semlja; auf dem Festland erreicht das Uralgebirge in seinem nördlichen Teil den 67.  östlichen Längengrad. Der nördlichste Punkt ist Kap Fligely auf der russischen Inselgruppe Franz-Josef-Land, die allerdings gelegentlich zu Asien gezählt wird. Unstrittig zu Europa gerechnet wird die norwegische Inselgruppe Spitzbergen, deren nördlichste Insel Rossøya bis über 80° Nord reicht. Auf dem Festland ist der nördlichste Punkt nicht etwa das Nordkap, das auf einer Insel liegt, sondern das Kap Kinnarodden auf der Halbinsel Nordkinn in Norwegen. Der südlichste Punkt ist Kap Tripiti auf der griechischen Insel Gavdos, auf dem Festland ist es die Punta de Tarifa in Spanien (Abb. 4). Betrachtet man den Kaukasus-Hauptkamm als südöstliche Grenze Europas, was in Frankreich und den englischsprachigen Ländern der Fall ist, liegt der geographische Mittelpunkt Europas nach einer Berechnung des Nationalen Geographischen Instituts Frankreichs im Dorf Purnuškės, etwas nördlich von Vilnius in Litauen (Abb. 5). Nach dem Vorschlag des Ständigen Ausschusses für geographische Namen (StAGN) beim Bundesamt für Kartographie und Geodäsie in Frankfurt/Main wird Europa, wie Abb. 6 zeigt, in Regionen eingeteilt. Einige Staaten liegen nur teilweise in Europa und/oder sind Mitglieder europäischer Bündnisse:

Abb. 3: Der Doppelgipfel des Ushba (4737 m) im georgischen Kaukasus an der Grenze zu Russland.

Abb. 4: Die Punta de Tarifa in Andalusien ist der südlichste Punkt des europäischen Festlands; die Berge im Hintergrund befinden sich in Marokko.

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Europa. Beide Länder sind, wie auch Armenien, Mitglied im Europarat. Georgien fühlt sich als christlich geprägtes Land  –  schon 337 wurde das Christentum im antiken georgischen Staat Iberien zur Staatsreligion erklärt  – zu Europa gehörig und wird von seinen Bewohnern als „Balkon Europas“ bezeichnet. Zypern gehört geographisch zu Asien, wird politisch und kulturell jedoch meist zu Europa gezählt.

Wie groß ist Europa? Flächen und Besiedlungsdichten Wie eingangs bereits erwähnt, leben in Europa auf rund

Abb. 5: Der geographische Mittelpunkt Europas liegt nördlich der litauischen Hauptstadt Vilnius.

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Russland liegt mit bis zu 25  % seiner Fläche in Europa, wenn man den Nordkaukasus dazuzählt. Im europäischen Teil leben, je nach Zuordnung des Nordkaukasus, etwa 65 bis 75  % der Bevölkerung. Das Land ist ethnographisch, historisch und kulturell Teil Europas. Kasachstan wird politisch und kulturell zu Asien gezählt und liegt nach der am weitesten verbreiteten geographischen Abgrenzung am Uralfluss mit 5,4  % seiner Landfläche in Europa. Etwa die Hälfte der Einwohner sind Angehörige europäischer Völker (Russen, Ukrainer, Polen, Deutsche). Die Türkei liegt nach der traditionellen geographischen Abgrenzung an Bosporus und Dardanellen mit 3  % ihrer Fläche in Europa. Etwa 12  % der Bevölkerung leben im europäischen Teil, vor allem in der Altstadt Istanbuls. Wenn man die Wasserscheide des Kaukasus als Grenze zwischen Europa und Asien ansieht (s.  o.), dann liegen auch kleinere Teile Georgiens und Aserbaidschans in

I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

10   Mio.   km² über 700   Mio. Menschen. Eine Fläche kann man sich leichter vorstellen, wenn man sie als Quadrat zeichnet (Seitz 2017). Bei einer in Quadratkilometern (km²) angegebenen Fläche hat man dann die Seitenlänge in Kilometern. Deutschland mit knapp 360 000  km² wird dann zu einem Quadrat mit 600  km Seitenlänge (man zieht einfach die „Quadratwurzel“). Europa mit etwas über 10   Mio.   km² wäre ein Quadrat mit ungefähr 3170  km Seitenlänge. Das größte Land Europas ist eindeutig Russland, dessen Gesamtfläche mit rund 17   Mio.   km² die Fläche des restlichen Europas deutlich übertrifft. Etwa 75  % davon liegen in Asien, die 25  % in Europa machen aber immer noch über 4   Mio.   km² aus; die Seitenlänge des entsprechenden Quadrats beträgt also mehr als 2000  km. Das zweitgrößte Land Europas wäre eigentlich Dänemark, wenn man das über 2,2   Mio.   km² große Grönland berücksichtigt. Mit seinem europäischen Anteil liegt Dänemark allerdings nur auf Platz 32. Das größte vollständig in Europa liegende Land ist die Ukraine mit rund 600 000  km², danach kommt Frankreich mit 544 000  km². Deutschland mit seinen 357 000  km² liegt nach Spanien (505 000  km²) und Schweden (450 000  km²) auf Platz 5. Gehen wir an das andere Ende der Skala: Der kleinste Staat Europas ist der Stadtstaat Vatikanstadt mit nicht einmal 0,5  km², Monaco umfasst immerhin rund 2  km². Auf rund 60  km² bringt es der „Zwergstaat“ San Marino; Liechtenstein (160  km²), Malta (316  km²) und Andorra (468   km²) sind schon etwas größer. Luxemburg ist 2568  km² groß; alle weiteren Staaten Europas haben mindestens 10 000  km², ihr Quadrat hat also eine Seitenlänge von über 100  km (Abb. 7).

Abb. 6: Vorschlag des Ständigen Ausschusses für geographische Namen zur Abgrenzung europäischer Regionen.

Die Einwohnerdichte eines Landes ist in der Regel umso höher, je kleiner es ist. Dies ist auch in Europa so, wobei Monaco mit über 25 000 Einwohnern pro Quadratkilometer (Ew./km²) deutlich vor Vatikanstadt liegt, das „nur“ 1800 Ew./km² beherbergt. Über 1000 Ew./km² liegt sonst nur noch Malta. Am dünnsten besiedelt ist

nicht Russland als größtes Land, sondern Kasachstan und Island mit wenig mehr als 3 Ew./km². Das bedeutet, dass jedem Einwohner theoretisch eine Fläche von über 30 ha (oder 300 000  km²) zugeordnet werden kann. Russland hat eine Einwohnerdichte von 8 Ew./km², im europäischen Teil liegt sie mit 26 Ew./km² jedoch deut-

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Abb. 7: Fläche Europas im Verhältnis zu ausgewählten europäischen Staaten (angegeben in km2 und gerundeter Seitenlänge des Quadrats in m).

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Abb. 8: Einwohnerdichte Europas und ausgewählter Staaten, dargestellt als Fläche pro Einwohner (angegeben in km2 und gerundeter Seitenlänge des Quadrats in m).

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lich darüber. Wie im Deutschland-Buch (Seitz 2017) ist die Einwohnerdichte in Abb. 8 als Fläche dargestellt, die einem Einwohner theoretisch zur Verfügung steht, Kasachstan und Island liegen hier also an der Spitze.

Flächennutzung – ein Indikator für Natur? In Deutschland wird etwas über die Hälfte der Fläche landwirtschaftlich genutzt, rund 30  % sind von Wald bedeckt, die Siedlungs- und Verkehrsfläche macht (mit steigender Tendenz) knapp 14  % aus. Da auch die Wälder überwiegend nicht mehr dem Naturzustand entsprechen, gibt es in Deutschland keine vom Menschen unbeeinflusste „natürliche“ Landschaften mehr (Seitz 2017). Lediglich ein Drittel der Fläche Deutschlands ist noch „naturnah“ (geringe menschliche Beeinflussung) oder „halbnatürlich“ (extensiv genutzt), zwei Drittel der Fläche kann als „naturfern“ (intensiv genutzt) oder „naturfremd“ (versiegelt) bezeichnet werden (Quelle: www. ioer-monitor.de). Wie sieht es in dieser Hinsicht in den anderen europäischen Ländern aus? Zu den naturfremden „künstlichen Oberflächen“ gibt es nur für die Länder der Europäischen Union verlässliche Daten. Sie bedecken etwa 3,5  % der Gesamtfläche, sind allerdings nicht deckungsgleich mit den Siedlungs- und Verkehrsflächen, die neben den versiegelten („künstlichen“) Flächen auch z.  B. Flächen für Hofräume, Grünflächen, Seitenstreifen u.  a. enthalten. So umfassen die „künstlichen Oberflächen“ in Deutschland nur etwas über die Hälfte der Siedlungs- und Verkehrsflächen, nämlich 7,4  %. Dieser Anteil liegt in der Europäischen Union nur auf der kleinen Insel Malta (23,7  %) sowie in den Niederlanden (12,1  %), Belgien (11,4  %) und

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I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

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Luxemburg (9,8  %) höher, knapp hinter Deutschland liegen Dänemark und Italien (6,9  %), dann folgt das Vereinigte Königreich mit 6,5  %. Am wenigsten versiegelte Fläche weisen in der EU Finnland, Lettland und Schweden mit 1,6  % und Bulgarien mit 1,8  % auf, gefolgt von Estland mit 2  % und Rumänien mit 2,2  % (Quelle: Eurostat, Daten von 2015). Auch wenn bei Weitem nicht alle Wälder naturnah sind, so ist doch der Anteil der Waldfläche eines Landes ein Indikator für dessen Naturnähe. Zu den Waldflächen der europäischen Länder gibt es unterschiedliche Angaben und Statistiken; hier werden (wie in Wikipedia) die Daten der Weltbank aus dem Jahr 2015 verwendet  –  aufgelistet werden nur Länder, die (zumindest mit ihrem Kernland, wie z.  B. Frankreich) vollständig in Europa liegen (Abb. 9). Finnland und Schweden stehen mit Waldanteilen von 73  % bzw. 69  % an der Spitze, gefolgt von Slowenien (62  %), Lettland (54  %) und Estland (53  %). Ganz am unteren Ende dieser Skala stehen Island und die Insel Malta mit einem Waldanteil von gerade einmal 0,5 bzw. 1  %, weniger als 15  % Waldfläche haben Irland und die Niederlande (jeweils 11  %), das Vereinigte Königreich (13  %) und Dänemark (knapp 15  %). Auf der anderen Seite weist ein hoher Anteil an landwirtschaftlich genutzten Flächen eher auf „Naturferne“ hin, da die Agrarflächen heute meist intensiv genutzt werden. Hier steht die Republik Moldau mit fast 75  % an der Spitze, gefolgt von der Ukraine und dem Vereinigten Königreich (71  %), Irland (64  %), Dänemark (62  %), Griechenland, Rumänien (je 60  %) und Ungarn (59  %). Den bei Weitem geringsten Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche haben Norwegen (3  %), Finnland und Schweden (je 7,5  %), mit großem Abstand folgen San Marino und Montenegro (je 17  %), Island (19  %), Estland (23  %) und Kroatien (28  %). Noch deutlichere Hinweise in Bezug auf die Naturnähe eines Landes erhält man, wenn man landwirt-

schaftliche und forstwirtschaftliche Nutzung miteinander in Beziehung setzt. So übersteigt in Norwegen, Finnland und Schweden der Waldanteil den Anteil an landwirtschaftlichen Flächen um den Faktor 11, 9,1 und 8,6, mit riesigem Abstand folgen Montenegro mit 3,6, Estland mit 2,3 und Slowenien mit 2,1, also mit doppelt so viel Waldfläche wie landwirtschaftlich genutzte Fläche. Deutschland liegt mit dem Faktor 0,7 im hinteren Mittelfeld; ganz am Ende stehen, sieht man einmal von Malta und Island mit ihrer extrem geringen Waldfläche

Kategorie

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ab, die Niederlande, Dänemark, Irland, das Vereinigte Königreich, Moldawien und die Ukraine mit 0,2 (Verhältnis Waldfläche zu Landwirtschaftsfläche 1 :  5). Wie hoch der Anteil der Waldfläche und der Landwirtschaftsfläche in Gesamteuropa liegt, lässt sich nur ungefähr abschätzen, da vor allem für den europäischen Teil Russlands keine verlässlichen Daten vorliegen. Wenn man zugrunde legt, dass der Anteil dieser Nutzungen im europäischen Teil ungefähr gleich ist wie in Gesamtrussland, nämlich 50  % Waldfläche und 13  %

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Albanien 28 748 7715 Andorra 468 160 Belgien 32 545 6834 Bosnien u. Herzegow. 51 129 21 850 Bulgarien 110 994 38 230 Dänemark 43 098 6122 Deutschland 357 121 114 190 Estland 45 227 22 320 Finnland 338 144 222 180 Frankreich 543 965 169 890 Griechenland 131 957 40 540 Irland 70 273 7540 Island 103 000 492 Italien 301 336 92 970 Kroatien 56 542 19 220 Lettland 64 589 33 560 Liechtenstein 160 69 Litauen 65 301 21 800 Luxemburg 2586 867 Malta 316 4 Moldawien 33 843 4090 Montenegro 13 812 8270 Niederlande 41 526 3760 Nordmazedonien 25 713 9980 Norwegen (m. Spitzb.) 385 207 121 120 Österreich 83 879 38 690 Polen 312 685 94 350 Portugal 92 345 31 820 Rumänien 238 391 68 610 Russland 3 955 800 1 977 900 Schweden 447 435 280 730 Schweiz 41 285 12 540 Serbien 88 361 27 200 Slowakei 49 034 19 400 Slowenien 20 253 12 480 Spanien 504 645 184 179 Tschechien 78 866 26 670 Ukraine 603 700 96 570 Ungarn 93 030 20 690 Vereinigtes Königreich 242 910 31 440 Weißrussland 207 595 86 335 Europa 10 029 886 3 983 377

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Abb. 9: Waldanteil der europäischen Länder (6 Kategorien).

Landwirtschaftsfläche, kommt man für Europa auf ca. 4   Mio.   km² Waldfläche (davon allein 2   Mio. in Russland) und 3   Mio.   km² Landwirtschaftsfläche  –  bei einer Gesamtfläche von rund 10   Mio.   km² wären das 40  % Waldfläche und 30  % Landwirtschaftsfläche. Genug der statistischen Daten, die für unser Thema „Natur in Europa“ nur grobe Hinweise geben können. Über großräumige naturnahe Landschaften wie das Wattenmeer (s.  S.  64) oder artenreiche Kulturlandschaften wie die spanischen Dehesas (s. S. 104) sagen sie gar nichts aus.

Geologie, Klima, Vegetation – Grundlagen der Vielfalt Abb. 10: Spalte an der Grenze der Eurasischen und Nordamerikanischen Platte im Þingvellir-Nationalpark auf Island.

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Die Geologie Europas Die gegenwärtige Küstenlinie Europas mit ihrem vertrauten Umriss ist eine verhältnismäßig junge Erscheinung, größere Veränderungen gab es noch nach dem Ende der jüngsten Kaltzeit. So lag noch vor gut 10 000

I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

Jahren zwischen Ostengland und Dänemark ein großes Landgebiet, als Doggerland bezeichnet (Park 2015). Im vorliegenden Buch geht es aber nicht um die geologische Geschichte Europas, sondern um das heutige „Gesicht“ des Subkontinents. Der geologische Untergrund soll hier vor allem als Substrat für die Bodenbildung und die Vegetation betrachtet werden. Deshalb genügt die Betrachtung der groben Einteilung in Silikatgesteine und Karbonatgesteine, die entscheidend ist, da Silikate in Verbindung mit Wasser sauer, Karbonate aber basisch (alkalisch) reagieren. Dies wiederum ist von grundlegender Bedeutung für die Bodenbildung und die Pflanzendecke, die das Gesicht Europas prägten. Fast 90  % der Erdkruste bestehen aus Silikaten, sodass diese zumindest mengenmäßig bedeutender sind als die Karbonate. Unter Letzteren überwiegt das Kalziumkarbonat, der Grundbestandteil des Kalksteins. Die imposantesten Zeugnisse der Landschaftsentwicklung sind sicherlich die Gebirge, die zu unterschiedlichen Zeiten durch Vorgänge der Plattentektonik (Abb. 10) aufgefaltet wurden, und zwar durch die Kollision von Kontinentalplatten. Den Unterschied zwischen Mittelund Hochgebirgen machen wir heute vornehmlich an ihrer Höhe fest; in Wahrheit sind die meisten Mittelge-

Abb. 11: Topographie Europas.

birge aber lediglich älter und wurden seither zu großen Teilen durch Wasser und Wind abgetragen  –  man nennt dies Erosion. So entstanden viele Mittelgebirge wie der Schwarzwald, der Harz oder das Rheinische Schiefergebirge vor 300 bis 400   Mio. Jahren und werden seither abgetragen, während die Alpen erst vor 50 bis 100   Mio. Jahren aufgefaltet wurden und immer noch wachsen. Die europäischen Gebirge (Abb. 11) entstanden im Wesentlichen in drei Phasen der Gebirgsbildung (Orogenese). Bei der Kaledonischen Orogenese entstanden vor rund 450 Mio. Jahren die heute nur noch als erodierte Reste erhaltenen Gebirge der Britischen Inseln, teilweise auch die skandinavischen Grundgebirge. Die Variszische Orogenese, die vor etwa 420 Mio. Jahren begann und vor 250   Mio. Jahren endete, ist für die heutigen Mittelgebirge Mitteleuropas bis nach Südengland und Südirland verantwortlich. Die bislang letzte globale Gebirgsbildungsphase, bei der die europäischen Hochgebirge von den Pyrenäen über die Alpen und die Karpaten bis zum Kaukasus aufgeworfen wurden, wird als Alpidische Orogenese bezeichnet. Sie begann vor etwa 200   Mio. Jahren im Zeitalter des Jura und hält bis heute an.

Das Klima prägt die Vegetation Überwiegend liegt Europa in der gemäßigten Klimazone, die sich durch große Unterschiede zwischen den Jahreszeiten und große Schwankungen der Tageslänge auszeichnet. Dabei nimmt von West nach Ost der Einfluss des Meeres ab, das Klima ist zunehmend kontinental geprägt, d.  h. die Temperaturunterschiede zwischen den Jahreszeiten werden größer und die Niederschlagsmenge geringer. Der Norden Europas ist der kaltgemäßigten und subpolaren Klimazone zuzurechnen. Im Süden herrscht mit dem Mittelmeerklima ein subtropisches Klima vor. Die Sommer sind heiß und trocken, die Winter mild und niederschlagsreich. In den Gebirgsregionen herrscht aufgrund großer Höhen ein meist sehr kaltes Klima, in einem typischen Gebirge sinkt die jährliche Durchschnittstemperatur alle 1000 Höhenmeter um etwa 6 °C. An den Gebirgsrändern stauen sich feuchte Luftmassen bzw. Regenwolken, diese kühlen sich mit zunehmender Höhe ab und erzeugen starke Niederschläge. Die nun trockenen Luftmassen strömen jetzt über das Zentrum des Gebirges hinweg und am anderen Gebirgsrand als Föhn herab. Auch kön-

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Abb. 12: Durch menschliche Nutzung geprägtes Vegetationsmosaik am Rand eines Weinbergs (Kenzingen, Deutschland).

nen innerhalb des Gebirges aufgrund von Höhenunterschieden starke Luftströmungen entstehen. Das Klima ist der prägende Faktor für die Vegetation einer Region und damit letztlich auch für die Tierwelt. Die biogeographischen Regionen Europas (s. S. 23) richten sich im Wesentlichen nach dem Klima.

Die Vegetation – was wächst wo und warum Wichtigste großräumige Faktoren für das Vorkommen oder Fehlen bestimmter Pflanzenarten sind das Klima und der geologische Untergrund, hinzu kommen kleinräumig wirksame Faktoren. Von Bedeutung ist etwa die Exposition, d.  h. die Ausrichtung eines Hangs in eine bestimmte Himmelsrichtung. Ist der Hang nach Süden geneigt, dominieren wärme- und trockenheitsliebende (bzw. -ertragende) Pflanzen, während bei Nordexposition solche vorherrschen, die Schatten und höhere Luftfeuchtigkeit bevorzugen. Auch die Neigung bzw. Steilheit eines Hangs spielt eine Rolle: Einen Extremfall stellt etwa ein Fels oder eine senkrechte Lösswand dar, auf der nur wenige Pflanzen wachsen können. Ein entscheidender Faktor in der Kulturlandschaft ist natürlich der Einfluss des Menschen. Auf einer Wie-

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I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

se wachsen andere Pflanzen als auf einem Acker oder in einer Rebfläche. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Nicht jede Pflanzenart erträgt eine ein- bis mehrmalige jährliche Mahd, und noch weniger werden mit einer Bodenbearbeitung in Form von Hacken, Pflügen oder Fräsen fertig. Es gibt aber auch Unterschiede im Pflanzenbewuchs, die sich nicht so einfach erklären lassen: Warum stehen an einem Wegrand an einer Stelle hauptsächlich Brennnesseln, während einige Meter weiter vorwiegend Gräser wachsen und noch ein Stück weiter Gebüschsteht? Auch hier hat der Mensch seine Finger im Spiel: An einer Stelle wurden vielleicht des Öfteren organische Abfälle abgelagert, was das Nährstoffangebot stark erhöht hat; eine andere Stelle wird regelmäßig gemäht, eine dritte ist nur in geringem Ausmaß Nährstoffen oder Störungen ausgesetzt (Abb. 12). Bereichert der Mensch durch seine Eingriffe also die Kulturlandschaft? Dies gilt nur, solange ein ausgewogenes Verhältnis zwischen vergleichsweise intensiv und extensiv bzw. nicht genutzten Bereichen besteht. Sind die Störungen zu groß bzw. ist die Nutzung zu intensiv geht die Anzahl der Tier- und Pflanzenarten drastisch zurück. Bei genauerer Betrachtung der Pflanzenbestände fällt auf, dass man an vergleichbaren Standorten ähnliche Artenkombinationen antrifft. Dies hängt damit zusammen, dass diese Arten mit den entsprechenden Standortbedingungen besser zurechtkommen als andere und daher einen Konkurrenzvorteil haben. Solche wiederkehrenden Typen von Pflanzenbeständen nennt man Pflanzengesellschaften. Die Fachrichtung innerhalb der Botanik, die sich mit der Vergesellschaftung von Pflanzen befasst, ist die Pflanzensoziologie (Wilmanns 2002). Aktuell ist der größte Teil der Fläche Europas nicht von Naturlandschaften, sondern von Kulturlandschaften bedeckt. Um die grundlegenden ökologischen Faktoren der Vegetation zu verstehen, soll hier zunächst die natürliche Vegetation Europas betrachtet werden (BfN 2000), auch wenn diese in manchen Regionen fast verschwunden ist. Die potenzielle Verbreitung der vorherrschenden natürlichen Vegetation steht im Einklang mit den aktuellen klimatischen Gegebenheiten, ist ein Ausdruck der Geologie und der Böden und zeigt ferner die Gesetzmäßigkeiten der Differenzierung der Vegetation in Länge, Breite und Höhe auf. Dagegen bleiben die Auswirkungen des direkten menschlichen Eingriffs weitgehend unberücksichtigt, da diese auf die potenzielle natürliche Vegetation bisher nur schwer eingeschätzt werden können.

Der größte Teil Europas wäre ohne Einfluss des Menschen von Wäldern bedeckt. In Mitteleuropa würden von Natur aus Buchenwälder (s. Abb. 17) dominieren, die vor allem in Berglagen weit nach Süden reichen würden. Auf Auenstandorten oder im winterkalten Kontinentalklima von Osteuropa gedeiht die Buche nicht sehr gut, an die Stelle der Buchenwälder treten Eichen-Hainbuchenwälder. Im kalten Klima Ost- und Nordeuropas treten Nadelbäume wie Fichte und Kiefer in den Vordergrund, man spricht von borealem Nadelwald oder Taiga. Die relativ gleichförmigen Nadelwaldgebiete werden unterbrochen von baumfreien Mooren. Noch weiter im Norden lichten sich die Wälder und Birken, Fichten oder Kiefern wechseln sich mit Zwergsträuchern und Hochstaudenfluren ab. In Süd- und Südosteuropa besteht die natürliche Vegetation aus wärmeliebenden Laubmischwäldern, in denen zahlreiche verschiedene Eichenarten vorkommen. Im submediterranen Bereich mit warm-gemäßigtem Klima sind es meist sommergrüne Laubwälder, d.  h. die Bäume werfen im Winter ihr Laub ab. Im Mittelmeerklima werden sie von immergrünen Hartlaubwäldern abgelöst, deren Bäume sich durch ledrige und langlebige Blätter vor der sommerlichen Trockenperiode schützen. Auch hier dominieren meist Eichenarten wie die Steineiche oder die Korkeiche (s. Abb. 18 und 19). Wird das Klima noch trockener, wie im äußersten Südosten Europas, gehen die Laubwälder von aufgelichteten Waldsteppen in baumlose Steppen und schließlich sogar in Wüsten über (s. S. 77 ff.). Als Wüsten bezeichnet man auch die vegetationsarmen Flächen im hohen Norden (Kältewüsten), an die sich bei weniger extremen Bedingungen die Tundra oder Kältesteppe anschließt. Charakteristisch für die verschiedenen Formen der Tundra ist eine offene, baumfreie Landschaf – meist über dauerhaft gefrorenen Böden (Permafrostböden) – die von Flechten, Moosen, Gräsern und Zwergsträuchern dominiert wird (Abb. 13). Neben der bisher erwähnten zonalen Vegetation, die hauptsächlich vom Großklima der entsprechenden Zone bestimmt wird, gibt es auch die azonale Vegetation, die von speziellen Standortsbedingungen abhängt. Hierzu gehören z.  B. die Wasservegetation, die Küstenvegetation und die Vegetation der Flussauen und sonstiger Feuchtstandorte. Weiterhin gibt es noch die extrazonale Vegetation auf Standorten, deren Mikroklima und sonstige Standortverhältnisse so stark vom Großklima abweichen, dass sie eher einer Vegetationseinheit einer anderen Klimazone gleichen. Ein Beispiel hierfür ist

die Vegetation der Hochgebirge, die stark an diejenige des hohen Nordens erinnert und auch etliche Arten mit ihr gemeinsam hat (Arten mit boreo-alpiner Verbreitung. Die biogeographische Region der Holarktis, die den Großteil der nördlichen Hemisphäre der Erde umfasst und zu der auch Europa gehört, wird in verschiedene Florenregionen unterteilt, die sich nach den dort vorkommenden Pflanzenarten richten. Durch die Kaltzeiten des Pleistozäns starb in Europa ein Großteil der Pflanzenarten des vorangegangenen Pliozäns aus, sodass die europäische Flora heute verarmt ist.

Vom Biotop zur Biosphäre Die Biologie besteht aus vielen Teildisziplinen wie Zoologie, Botanik, Mikrobiologie, Genetik usw. Die Ökologie  –  als Lehre vom Haushalt der Natur  –  ist in der Regel keine eigene Teildisziplin, sondern „versteckt“ sich in anderen, wie z.  B. der Zoologie und der Geobotanik. Der Autor, der Biologie studiert hat, hatte das Glück, an der Universität Freiburg zwei hervorragende Lehrer in Sa-

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Abb. 13: Typische Zwergstrauchtundra (Fjäll in Nordschweden).

Abb. 14: Gestufter Waldrand auf der Schwäbischen Alb (Baden-Württemberg, Deutschland).

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chen Ökologie zu haben, Herrn Prof. Dr. Günther Osche (1926–2009) und Frau Prof. Dr. Otti Wilmanns (*1928). „Ein Biotop ist, wenn man Gummistiefel braucht“, kolportierte Frau Prof. Wilmanns augenzwinkernd, denn das war es, was viele „gefühlsmäßig“ für ein Biotop hielten, als damals die Feuchtgebiete im Fokus des Naturschutzes standen. Viel diskutiert war auch die Frage, ob es „das Biotop“ oder „der Biotop“ heißen musste. In universitären Kreisen wurde Letzteres vertreten, heute geht beides. Wörtlich übersetzt heißt Biotop „Ort des Lebens“ (griechisch: bios = Leben, topos = Ort), und das trifft auch ziemlich genau die Bedeutung des Begriffs: Ein Biotop ist der Lebensraum einer Lebensgemeinschaft – einer Biozönose – in einem bestimmten Gebiet. „Biotope sind die kleinsten Einheiten der Biosphäre“ (Quelle: Wikipedia/Biotop). Und damit sind wir schon beim nächsten „Bio-Begriff“, der Biozönose. Der Begriff „Biocönose“ wurde 1877 von Karl August Möbius (1825–1908) geprägt, der die auf einer Austernbank lebenden Organismen als eine Lebensgemeinschaft auffasste. Heute ist eine Biozönose definiert als Gemeinschaft von Organismen verschiedener Arten in einem abgrenzbaren Lebensraum (Biotop) bzw. Standort. Biozönose und Biotop bilden zusammen ein Ökosystem.

I. Das Gesicht Europas – und wodurch es geprägt wird

Den Übergangsbereich zwischen zwei Ökosystemen nennt man Ökoton. In diesen Übergangsbereichen finden sich in der Regel mehr Tier- und Pflanzenarten als in den angrenzenden Ökosystemen. Ökotone können natürlich auftreten, z.  B. Seeufer oder die alpine Waldgrenze, oder auf den Einfluss des Menschen zurückgehen, z.  B. Heckenstreifen und Waldränder in der Kulturlandschaft (Abb. 14). Bisweilen falsch verwendet wird der Begriff der ökologischen Nische einer Tier- oder Pflanzenart. Das Wort „Nische“ suggeriert eine räumliche Kategorie, die ökologische Nische bezeichnet jedoch die Gesamtheit der biotischen und abiotischen Umweltfaktoren, die das Überleben einer Art beeinflussen. Einige Autoren (z.  B. Osche 1973) umschreiben die ökologische Nische von Tieren auch als deren „Beruf“ oder „Planstelle“ innerhalb einer Lebensgemeinschaft. Das trifft die Sache insofern ganz gut, als die ökologische Nische neben den von einer Art genutzten Requisiten eines Lebensraums auch die „Fähigkeit“ (Anpassung) der Art beinhaltet, mit diesen Requisiten umzugehen. Es soll nun hier noch auf einen weiteren, eher selten verwendeten Begriff eingegangen werden, der aber in diesem Buch eine Rolle spielt: das Biom, in den Geowissenschaften auch als Ökoregion oder Ökozone bezeichnet. Diese Begriffe stehen für die vorherrschende Lebensgemeinschaft (Biozönose) oder auch das gesamte vorherrschende Ökosystem eines ausgedehnten Bereichs der Erdoberfläche. Die Umweltstiftung WWF (World Wide Fund for Nature) entwickelte ein Modell weltweiter Ökoregionen, die als relativ große Bereiche der Erdoberfläche „nach der potenziellen Zusammensetzung der Arten, der Lebensgemeinschaften und der Umweltbedingungen vor großen Landnutzungsänderungen geographisch abgegrenzt werden“ können. Wie bei allen biogeographischen Modellen erfolgt auch hier eine künstliche Grenzziehung, da die Übergänge zwischen den Regionen in Wirklichkeit fließend sind. Im Gegensatz zum klassischen Ökoregion-Begriff, der ausschließlich durch die Gestalt seiner Pflanzenformationen abgegrenzt wird, beruht das WWF-Modell auf einer Kombination verschiedener biogeographischer Konzepte. In einem zehnjährigen Prozess unter Hinzuziehung von Hunderten verschiedener Experten entstand so ein beispielhaftes System aus über 800 Land-Ökoregionen (terrestrisch), die in 14 „Major habitat types“ (Haupt-Biome) und sieben biogeographischen Reichen untergliedert werden. Ebenfalls neu ist die Festlegung von Süßwasser- und Meeres-Ökoregionen (Quelle: www.lexas.de).

Die Biosphäre ist der Raum der Erde, in dem Leben vorkommt. Sie reicht von ungefähr 60  km über bis 5  km unter die Erdoberfläche, dabei werden ihre Außengrenzen ausschließlich von Mikroorganismen bewohnt. Innerhalb der Biowissenschaften wird der Begriff vor allem in ökologischem Zusammenhang verwendet. Dies wird durch das Konzept der UNESCO-Biosphärenreservate untermauert, die teilweise ebenfalls kurz als „Biosphäre“ bezeichnet werden. Es handelt sich um Modellregionen, in denen nachhaltige Entwicklung in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht exemplarisch verwirklicht werden soll. Die Biosphärenreservate werden im weiteren Verlauf des Buches noch eine Rolle spielen. Zur ökologischen Zonierung Europas werden in diesem Buch die Biogeographischen Regionen der Europäischen Union verwendet (Abb.  15), die auch die europäischen Länder außerhalb der EU mit umfassen – sie dienen insbesondere der Einordnung der Natura 2000-Gebiete und des Smaragd-Netzwerkes (s. S. 141). Teilweise wurden die Regionen etwas willkürlich an Ländergrenzen „abgeschnitten“, aber insgesamt sind sie gut geeignet, um die Biome bzw. Ökoregionen Europas abzugrenzen und zu charakterisieren. In Europa gibt es zehn Biogeographische Regionen (Tab. 1).

Azoren

Madeira und Kanarische Inseln

Arktisch

Kontinental

Mediterran

Boreal

Alpin

Makaronesisch

Atlantisch

Pannonisch

Schwarzmeer Anatolisch Nach einer Karte der Europäischen Umwelt-Agentur: www.eea.eu.it

Steppe

Name

Lage

Charakteristische Lebensräume

Fläche km²

Staaten

Boreale Region

Nordeuropa (südlich der arktischen Region)

Nadelwälder (Taiga), Moore, Seen

2 900 000

8

Kontinentale Region

Küstenfernes Mittel-, Ost- und Südosteuropa

Laubwälder, Flüsse

2 700 000

24

Mediterrane Region

Südeuropa

Hartlaubwälder, Meer, Küsten

1 200 000

15

Steppenregion

Eurasische Steppe, Nordküsten von Schwarzem und Kaspischem Meer

Steppe, Waldsteppe, Meer, Küsten

1 150 000

7

Atlantische Region

Küstennahes Nordwesteuropa

Meer, Küsten, Dünen, Ästuare, Heiden, Moore, Kiefernwälder

830 000

10

Alpine Region

Hochgebirge

Wälder, Krummholz, alpines Grasland, Bergheiden, Felsen, Bergbäche

780 000

28

Arktische Region

Nördliches Nordeuropa, Küsten und Inseln des Arktischen Ozeans

Tundra, Kältewüste, Meer, Küsten

670 000

3

Pannonische Region

Pannonisches Becken (Ungarn und einige Nachbarländer)

Steppe, Waldsteppe, Steppenseen

133 000

7

Schwarzmeer­ Region

Südküsten des Schwarzen Meeres

Meer, Küsten, Donaudelta

120 000

4

Makaronesische Region

Atlantische Inseln: Kanaren, Azoren, Madeira

Loorbeerwälder, Meer, Küsten, Halbwüste

10 000

2

Abb. 15: Biogeographische Regionen Europas (s. auch Tab. 1).

Tab. 1: Die Biogeographischen Regionen Europas in der Reihenfolge ihrer Fläche mit charakteristischen Lebensräumen und Anzahl der Staaten, in denen sie vorkommen.

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Abb. 16: Blick auf den 1062 m hohen Pfänder, den „Hausberg“ von Bregenz (Österreich).

II Landschaften und Lebensräume

„Landschaft ist etwas außerordentlich komplexes, nicht nur von ihrer Ausstattung her, sondern auch –  oder insbesondere – bezüglich der Ansprüche, die an sie gestellt werden.“ Werner Konold (in Schindler/ Stadelbauer/Konold: Points of View)

Abb. 17: Buchenjungwuchs in einem rumänischen „Urwald“ (Nationalpark Semenic-Cheile Carasului, Rumänien).

Wald Wälder in Europa Die Wälder Europas sind gegenüber denen anderer Kontinente vergleichsweise artenarm, insbesondere arm an Baumarten. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass in Europa Querbarrieren wie die Alpen und der Kaukasus die Wanderung von Süd nach Nord erschweren oder gar verhindern, während dies z.  B. in Nordamerika nicht der Fall ist – dort verlaufen die gro-

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II. Landschaften und Lebensräume

ßen Gebirge von Nord nach Süd. Insbesondere während der Kaltzeiten (Pleistozän) verschwanden viele Baumarten aus Mitteleuropa, nur einige konnten danach wieder zurückkehren. Nach der letzten Kaltzeit traten an die Stelle der eiszeitlichen Tundren nach und nach lichte, mit Kiefern durchsetzte Birkenwälder, später breiteten sich von den Alpen her Haselnusssträucher aus. In der sogenannten Mittleren Wärmezeit (Atlantikum) vor etwa 8000 bis 4000 Jahren dominierte der Eichenmischwald; zur Eiche gesellten sich Ulme, Linde und Esche. Danach wur-

de das Klima allmählich kälter und es tauchten erstmalig Buchen, Tannen und Fichten in größerer Zahl in den Wäldern auf. Für den steinzeitlichen Menschen verschlechterten sich durch zunehmende Bewaldung nach und nach die Jagdbedingungen. Zunächst konnte dies dadurch kompensiert werden, dass sich die Menschen bevorzugt an Gewässern ansiedelten, wo Fische und andere Wassertiere noch genügend Nahrung boten. Vor etwa 7000 Jahren war Mitteleuropa ein weitgehend geschlossenes Waldland. Wie dicht dieser Wald war, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es gab zu dieser Zeit nämlich

eine ganze Anzahl großer Pflanzenfresser wie Wisent, Auerochse und Wildpferd, die in der Lage waren, den Wald zurückzudrängen. Große Pflanzenfresser heißen in der Fachsprache Megaherbivoren, und daher wird die Auffassung, dass viele Wälder durch diese Pflanzenfresser stark aufgelichtet waren, als Megaherbivorenhypothese bezeichnet. Diese Frage ist auch deshalb so interessant, da vor 7000 bis 8000 Jahren die Ackerbauern und Viehzüchter der Jungsteinzeit (Neolithikum) aus Südosteuropa nach Mitteleuropa einwanderten. Wenn damals die Wälder (noch) nicht völlig geschlossen waren und z.  B. baumlose „Inseln“ bestanden, sind die ersten Sied-

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Abb. 18: Alte Steineiche (Sierra de Grazalema, Andalusien, Spanien).

lungen wohl an diesen offenen Stellen angelegt worden (Poschlod 2015). Auch ohne die Megaherbivoren waren die Wälder zur Zeit der Einwanderung der Menschen nach Mitteleuropa deutlich lichter als heute, und zwar deshalb, weil ihnen ein „Schattbaum“ fehlte, der heute in unseren Laubwäldern allgegenwärtig ist: die Rotbuche, meist nur Buche genannt (Abb. 17). Sie wurde während der letzten Kaltzeit aus Mitteleuropa verdrängt und überlebte im Mittelmeerraum. Vor etwa 10 000 Jahren begann ihre Rückeroberung des europäischen Verbreitungsgebiets, vor etwa 7000 Jahren trat sie erstmals in Südostdeutschland auf. Da zu dieser Zeit die „Neolithiker“ bereits eingewandert waren, bezeichnen manche die Buche sogar als Kulturfolger. Da sie auf den meisten Standorten konkurrenzkräftiger ist als die anderen Baumarten, dominierte die Buche unsere Wälder mehr und mehr. Heute findet man Buchenwälder von Mittel- bis Osteuropa, im Mittelmeerraum kommen sie in der Bergwaldstufe der Gebirge vor. Im osteuropäischen Tiefland werden sie nach und nach durch Eichen-Hainbuchen-Wälder ersetzt. Im Nordosten reicht die Rotbuche bis zur Weichselniederung in Polen, einzelne Bäume kommen noch bis Kaliningrad (Königsberg) vor. Nach Norden sind Buchenwälder bis Südschweden und Südengland verbreitet,

Abb. 19: Korkeichenwald mit teilweise abgeschälter Borke (Naturpark Los Alcornocales, Andalusien, Spanien).

Abb. 20: Mit Ausnahme des roten Samenmantels ist die Eibe sehr giftig.

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II. Landschaften und Lebensräume

in Norwegen in direkter Meeresnähe bis zu den Lofoten. Die artenreichsten Buchenwälder Europas finden sich im Norden der Balkanhalbinsel (Kroatien). Buchenwälder können in den Süd- und Südostalpen die natürliche Baumgrenze bilden und hier bis über 1800  m Höhe wachsen. In Mitteleuropa und in den Nordalpen werden sie ab etwa 800 bis 1000  m Höhe von Nadelbaumarten, vor allem der Fichte, abgelöst. Ähnlich wie in hohen Berglagen nehmen nach Norden hin die Nadelbäume zu, bis sich schließlich in Nordeuropa relativ einförmige boreale Nadelwälder breitmachen, auch Taiga genannt. Sie werden von Fichten, Kiefern, Tannen und Lärchen geprägt, Laubbäume wie Birken und Espen kommen in geschützten Lagen hinzu. Der Boden ist zumeist flächendeckend von niedrig wachsenden, sommergrünen Zwergsträuchern (z.  B. Heidel- und Preiselbeeren) und von dicken „Teppichen“ aus Moosen und Flechten bedeckt. Im warmen Mittelmeergebiet findet man dagegen häufig Hartlaubgewächse wie die Steineiche (Abb. 18) mit kleinen, steifen, ledrigen und langlebigen Blättern, die oft wie die Nadeln der Koniferen immergrün sind. Dies ist eine Anpassung an die sommerliche Trockenperiode. Im Mittelmeerraum sind die hochwüchsigen und

geschlossenen Steineichenwälder, die früher für die Region kennzeichnend waren, durch Übernutzung (Holzeinschlag, Beweidung, Ackerbau) auf winzige Reste zusammengeschmolzen (s.  S.  99). Im westlichen Mittelmeergebiet gibt es teilweise noch ausgedehnte Korkeichenwälder (Abb. 19). Die submediterrane Klimazone, die nördlich und in größeren Gebirgshöhen an die eigentliche mediterrane Zone anschließt, ist die Heimat der Flaumeichenwälder. Allerdings sind auch diese Wälder durch jahrhundertelange starke Übernutzung vielerorts stark zurückgedrängt und die verbliebenen Bestände degradiert worden. So wird für Italien geschätzt, dass Flaumeichenwälder in über 20  % der Landesfläche die potenzielle natürliche Vegetation bilden; ihr tatsächlicher Anteil beträgt aber nur noch 0,8 %. Die Flaumeiche erreicht u. a. am Kaiserstuhl den Süden Deutschlands.

Gibt es in Europa Urwälder? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muss man zunächst fragen, was Urwälder überhaupt sind. „Ursprüngliche Wälder“ können es nicht sein, da sich die Vegetation im Lauf der Erdgeschichte in ständigem Wandel befindet und man daher keinen „Ursprung“ definieren

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Abb. 21: Stehendes und liegendes Totholz in einem Buchenurwald (Nationalpark Semenic-Cheile Carasului, Rumänien).

kann. Während manche Regenwälder Millionen von Jahren alt sein können  –  das älteste Waldgebiet der Erde in Malaysia ist 130 Mio. Jahre alt –, ist das Alter von Wäldern in Europa durch die Kaltzeiten sehr begrenzt. Lediglich einige Baumarten wie die Eibe (Abb. 20) haben die Kaltzeiten in Refugien überdauert und gelten als sogenannte Tertiärrelikte. Nach der Definition der FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) sind Urwälder oder Primärwälder Waldgebiete, die eine natürliche Vegetation aufweisen, ohne sichtbaren menschlichen Einfluss sind und deren natürliche Dynamik ungestört verläuft. Zumindest in Mitteleuropa gibt es nur noch ganz wenige vom Menschen unbeeinflusste Wälder. Die aus der Nutzung genommenen Naturwaldzellen oder Bannwälder werden daher auch als „Urwälder von morgen“ be-

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II. Landschaften und Lebensräume

zeichnet, da sie bis vor kurzer Zeit noch genutzt wurden und erst in der Zukunft vielleicht einmal an Urwälder erinnern werden. Auch wiederhergestellte „Urwälder“ können der FAO-Definition genügen. Unter der Bezeichnung „Alte Buchenwälder und Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas“ führt die UNESCO zahlreiche räumlich getrennte Buchenwaldgebiete in Albanien, Belgien, Bulgarien, Deutschland, Italien, Kroatien, Österreich, Rumänien (Abb. 21), der Slowakei, Slowenien, Spanien und der Ukraine als Weltnaturerbe. Die Gesamtfläche der eingetragenen Buchenwälder beträgt ca. 92 000 ha, wovon rund 30  % in der Ukraine liegen. In Deutschland handelt es sich bis auf winzige urwaldartige Reliktflächen um naturnahe Altwälder, während die Bestände in den Karpaten als echte Urwälder bezeichnet werden.

Im Jahr 2018 wurde eine Studie über die letzten Urwälder Europas veröffentlicht (Sabatini et al. 2018). Zunächst einmal stellten die zahlreichen Autorinnen und Autoren der Studie fest, dass über Primärwälder nur lückenhafte Daten vorliegen und diese kaum zwischen den verschiedenen Staaten verglichen werden können. Bekannte Urwälder bedecken immerhin 1,4   Mio.  ha in 32 Ländern, das sind 0,7  % der europäischen Waldfläche. Die Urwälder sind sehr ungleichmäßig über die europäischen Staaten, die biogeographischen Regionen und die Waldtypen verteilt, die meisten gibt es in unzugänglichen Bergregionen und in der nordischen Taiga (Abb. 22). Ein Großteil dieser Flächen (89  %) ist geschützt, aber nur 46  % sind streng geschützt. Bisher nicht kartierte Urwälder gibt es wohl vor allem in den unzugänglichsten und am dünnsten besiedelten Regio-

nen, in denen der Waldanteil hoch ist und die Waldnutzung eine geringe Rolle spielt bzw. spielte. Viele dieser Urwälder sind nach wie vor gefährdet, vor allem in Osteuropa gehen gerade in jüngster Zeit große Flächen verloren (Beispiel Rumänien, Polen). Dagegen sind weite Teile im westlichen Russland noch heute von unberührten Wäldern bedeckt und bilden inzwischen das einzige Rückzugsgebiet für jene Tierarten, denen über 30 andere europäische Länder keinen Lebensraum mehr bieten: Große Raubtiere (s.  S.  43) wie Braunbär, Wolf und Luchs zählen dazu, aber auch kleinere Tiere wie Gleithörnchen (s. S. 44), Dreizehenspecht und Uhu bevorzugen unberührte Baumbestände, weil sie in Asthöhlen wohnen, im morschen Altholz nach Larven suchen oder wie der Uhu sehr empfindlich auf Störungen am Brut- oder Rastplatz reagieren.

Abb. 22: Borealer Nadelwald an einem See (Nationalpark Norra Kvill, Småland, Schweden).

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THEMA Abb. 23: Balzender Auerhahn.

Das Auerhuhn Das Auerhuhn ist der größte Hühnervogel Europas, der Hahn (Abb. 23) kann bis zu 1  m groß werden, die Henne bis zu 60  cm. Lebensraum des Auerhuhns sind lichte Wälder, in denen seine Hauptnahrungsquelle, die Heidelbeere, gut gedeiht. Wegen seiner Größe ist das Auerhuhn kein guter Flieger, auch deshalb sollten die Bäume nicht zu dicht stehen. Es hält sich hauptsächlich am Boden auf, nur zum Schlafen flattert es auf Äste. Auerhühner fressen nicht nur die Heidelbeeren, sondern fast die ganzen Sträucher, vor allem die Triebe, Blätter und Blüten  –  bis zu 2  kg täglich. Im Winter stellen sie ihre Nahrung um auf Kiefernnadeln, im Notfall weichen sie auch auf Tannenund Fichtennadeln aus. In ihrem Muskelmagen befinden sich zahlreiche Steinchen, mit denen die karge Nahrung zerrieben wird. Da Kiefernnadeln nicht sehr nahrhaft sind, ist es wichtig, dass die Vögel im Winter nicht gestört werden. Müssen sie fliehen, verbrauchen sie zu viel Energie. Im Extremfall kann es tödlich sein, wenn sie nicht genügend Kalorien zu sich nehmen können. Beeindruckend ist die Auerhahnbalz im März und April. Dazu versammeln sich einige Auerhähne an bestimmten Balzplätzen und versuchen, die Auerhennen mit ihrem Imponiergehabe zu beeindrucken. Ihr Balzgesang klingt für menschliche Ohren in etwa wie das Schleifen einer Sense und das Ploppgeräusch beim Entkorken einer Weinflasche. Nach dem Gesang vollführen sie einige Flattersprünge, und wenn dann noch nicht klar ist, wer der Hahn im Korb ist, kämpfen sie gegeneinander. Zu Verletzungen kommt es selten. Die Hennen suchen sich dann ihren Partner aus, mit dem sie eine Familie gründen möchten.

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II. Landschaften und Lebensräume

95  % des europäischen Bestands leben in Russland und Skandinavien, während die Bestände in Mitteleuropa außerhalb der Alpen stark rückläufig sind. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts gingen in Mitteleuropa die Bestände zurück, Randpopulationen z.  B. in den Ardennen und in Niedersachsen erloschen. Seit Ende der 1940er-Jahre beschleunigte sich der Rückgang drastisch. Hauptgrund für die Abnahme der Auerhuhnvorkommen ist der Verlust von geeigneten Lebensräumen. Da das Auerhuhn hohe Ansprüche an sein Habitat stellt, sind Schutzmaßnahmen schwer zu realisieren. Für eine stabile Population werden etwa 50 000 ha zusammenhängende und ausreichend strukturierte Fläche benötigt. Die Populationen verhalten sich äußerst labil gegenüber Infrastrukturprojekten, die ihren Lebensraum einschränken und die Tiere bis hin zum Stresstod (im Winter) stören können. Des Weiteren spielt in Mitteleuropa die hohe Prädatorenzahl (Fuchs, Baummarder, Habicht, Wildschwein u. a.) eine  –  wenn auch umstrittene  –  Rolle. Auch in Deutschland ist das Auerhuhn stark im Rückgang begriffen, neben der alpinen Population im Nationalpark Berchtesgaden besiedelt es hauptsächlich den Schwarzwald, den Bayerischen Wald und das Fichtelgebirge. Im Schwarzwald, wo bisher die meisten deutschen Auerhühner lebten, ist in den letzten Jahren nochmals ein beschleunigter Rückgang zu verzeichnen, sodass sich die Frage stellt, ob sein Aussterben im höchsten deutschen Mittelgebirge noch aufzuhalten ist (Hockenjos 2019) – trotz umfangreicher Schutzbemühungen wie dem „Aktionsplan Auerhuhn“.

Wo welche Bäume wachsen und warum Warum sind die Wälder in Mitteleuropa aus anderen Baumarten zusammengesetzt als in Nord-, Ost- oder Südeuropa? Wie bereits erklärt, ist das Klima hierfür der hauptsächliche Faktor; eine Rolle spielen aber auch andere Qualitäten des Standorts wie Feuchtigkeit, geologischer Untergrund, Hangneigung usw. Hinzu kommt, dass nicht alle Baumarten, die auf einem Standort wachsen können, auch dort vorkommen. Auch die Konkurrenz unter den Baumarten spielt eine Rolle, also die Frage, welche Baumart in der Lage ist, einen Standort zu „erobern“ und andere Arten „in den Schatten zu stellen“ und zu verdrängen. Anhand von jeweils drei Laubbaum- und Nadelbaumarten soll dies näher beleuchtet werden:

breit, eiförmig, spitz, am Grund keilförmig bis abgerundet, Blattrand oft wellig (Abb. 25) Blüten und Früchte: blüht ab einem Alter von 30 bis 50 Jahren, die männlichen und weiblichen Blüten sind an einem Baum zu finden (monözisch); die als Bucheckern bekannten Früchte sitzen zu zweit in einem Fruchtstand zusammen Maximalalter: 300 Jahre Verbreitung in Europa: von Süd-Skandinavien bis Sizilien; in west-östlicher Richtung von der Atlantikküste Frankreichs, wo sie sehr häufig vorkommt, bis zur Weichselniederung im Nordosten Polens und den Karpaten in der Westukraine

Abb. 25: Blätter und Früchte der Buche.

Höhengrenze: in den Alpen bis 1500 m Standort: an ozeanisches Klima gebunden; Zeigerart feucht-gemäßigten Klimas, der sogenannten nemoralen Zone; nach Osten durch den Übergang zum kontinentalen Klima begrenzt; verträgt keine Staunässe und stark schwankende Grundwasserspiegel, ebenso wenig längere Dürreperioden; aufgrund hoher Schattentoleranz bei gleichzeitig starker Schattenwirkung der Kronen Verdrängung anderer Baumarten Nutzung: als Nutzholzlieferant der Eiche unterlegen, daher lange vernachlässigt und zurückgedrängt; heute Verwendung vor allem in Spielzeug- und Möbelindustrie, Parkett- und Treppenbau; hervorragendes Brennholz Weitere Buchenarten: im südöstlichen Balkan und im Kaukasus wird die Rotbuche durch die Orient-Buche (Fagus orientalis) abgelöst

Abb. 24: Buchenstämme mit silbergrauer Rinde.

Rotbuche (Fagus sylvatica), meist nur Buche genannt Höhe: bis ca. 30 m, im dichten Wald bis 45  m Wurzel: Wurzeln dringen in alle Richtungen vor (Herzwurzler) Krone: Kronenform je nach Standort unterschiedlich; freistehende Exemplare können im Alter ausladende, regelmäßig und fein verzweigte ovale Kronen von 20 bis 30  m Durchmesser ausbilden, deren untere Zweige fast bis auf den Boden reichen Rinde: meist silbergrau, am Hauptstamm bis ins hohe Alter dünn und glatt (Abb. 24) Blätter: zwischen 7 und 10  cm lang und bis zu 5  cm

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Verbreitung in Europa: kommt in fast ganz Europa vor; fehlt nur im Süden der Iberischen Halbinsel, auf Sizilien, im Süden Griechenlands, im nördlichen Skandinavien und in Nordrussland Höhengrenze: in den Alpen bis 1000  m Standort: am besten entwickelt sich die Stieleiche auf nährstoffreichen, tiefgründigen Lehm- und Tonböden, sie kann aufgrund ihrer guten Anpassungsfähigkeit aber auch wechselfeuchte bis nasse Böden besiedeln; wird wegen ihrer Lichtbedürftigkeit in Mitteleuropa an normalen Standorten von der schattentoleranten, konkurrenzstarken Rotbuche verdrängt und ist deshalb nur an Sonderstandorten bestandsbildend Nutzung: vielseitig verwendbar: als Bauholz, im Wasserbau, für Eisenbahnschwellen und für Pfähle, im Innenausbau als Parkett, für Treppen und als Möbelholz; hochwertiges Eichenholz wird als Furnier verarbeitet oder zum Fassbau verwendet; hervorragendes Brennholz; früher war die Nutzung der Eicheln als Futter für die Schweine und das Wild genauso wichtig wie die Holznutzung; eine weitere Nutzung war die der Rinde als Gerberlohe zum Gerben von Leder Weitere Eichenarten: die Traubeneiche (Quercus petraea) ist neben der Stieleiche die in Mitteleuropa am weitesten verbreitete Eichenart, ihr Verbreitungsgebiet reicht nicht so weit in den Osten; die Flaumeiche (Quercus pubescens) hat ihren Schwerpunkt in Südeuropa und im südlichen Mittel- und Westeuropa, in Deutschland kommt sie nur im Bereich von Wärmeinseln vor (z.  B. Kaiserstuhl); im Mittelmeergebiet gibt es etliche weitere Eichenarten, u. a. die hartlaubigen Arten Steineiche (Quercus ilex) und Korkeiche (Quercus suber) Abb. 26: Alte Stieleiche (Naturschutzgebiet Wildenstein bei Bubendorf, Basel-Landschaft, Schweiz). Abb. 27: Blätter und Früchte der Stieleiche.

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Stieleiche (Quercus robur) Höhe: bis ca. 40  m Wurzel: kräftige Pfahlwurzel, daher sehr sturmfest Krone: Kronenform je nach Standort unterschiedlich, freistehend oft ausladend und „knorrig“ Rinde: bei älteren Bäumen dicke, tief längsrissige, graubraune Borke (Abb. 26) Blätter: 10 –15  cm lang, ledrig, kurz gestielt, oberseits tiefgrün glänzend, auf der Unterseite heller und in fünf bis sechs Buchten gelappt (Abb. 27) Blüten und Früchte: die männlichen und weiblichen Blüten sind an einem Baum zu finden (monözisch); die Eicheln sitzen zu dritt bis fünft an langen Stielen (Abb. 27), daher der Name Stieleiche Maximalalter: 1000 Jahre II. Landschaften und Lebensräume

Schwarz-Erle (Alnus glutinosa) Höhe: bis ca. 30  m, selten bis 40  m Wurzel: tiefreichendes Herzwurzelsystem mit Wurzelknöllchen, in denen durch eine Symbiose mit Bakterien der elementare Stickstoff der Luft gebunden und so für die Pflanze verwertbar wird Krone: Kronenform je nach Standort unterschiedlich Rinde: bei älteren Bäumen dunkelgraue bis schwarzbraune, durch Risse in kleine, eckige Stücke geteilte Schuppenborke (Abb. 28) Blätter: verkehrt-eiförmig bis rundlich geformt, Blattrand ist grob doppelt gesägt (Abb. 29) Blüten und Früchte: männliche und weibliche Blüten an einem Baum zu finden (monözisch); nach milden Wintern Blühbeginn schon im Januar, typische Blütezeit

Februar bis April; die zäpfchenartigen Fruchtstände (Abb. 29) bleiben über den Winter am Baum Maximalalter: 120 Jahre Verbreitung in Europa: in ganz Europa verbreitet, fehlt nur im Norden Skandinaviens und auf Island; im Norden endet die Verbreitung dort, wo die Monatsmitteltemperaturen mehr als ein halbes Jahr unter 0 °C liegen Höhengrenze: in den Zentralalpen bis 1800  m Standort: bevorzugt halbschattige, kühle Standorte, gedeiht in Bruchwäldern (Abb. 30), auf Feucht- und Nasswiesen und an Sumpfstandorten, an anderen Standorten wird sie als Pionierbaumart später von anderen Arten verdrängt. Nutzung: die extreme Haltbarkeit des Erlenholzes unter Wasser wurde schon vor mehr als 4000 Jahren von

den Erbauern der jungsteinzeitlichen Pfahlbauten am Bodensee und am Federsee erkannt und genutzt – in den schlammigen Grund gerammte Erlenstämme bildeten das Stützgerüst der Pfahlbausiedlungen; auch Venedig und Alt-Amsterdam stehen zum Teil auf Erlenstämmen; aufgrund seiner guten Bearbeitbarkeit wurde Erlenholz häufig zur Herstellung von Holzschuhen verwendet; in jüngerer Zeit geht die wirtschaftliche Bedeutung des Erlenholzes zurück, es wird hauptsächlich als Massivholz in der Kunst- und Möbeltischlerei verwendet Weitere Erlenarten: die Grau-Erle (Alnus incana) wächst wie die Schwarz-Erle bevorzugt an Gewässerrändern, gedeiht jedoch im Gegensatz zu dieser schlecht auf sauren Böden; die Grün-Erle (Alnus viridis) ist ein bis zu 6  m hoher Strauch, der vor allem in Gebirgen vorkommt

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Abb. 28: Rinde der Schwarz-Erle. Abb. 29: SchwarzErle mit unreifen Fruchtständen.

Abb. 30: Erlenbruchwald (Biebrza-Nationalpark, Polen).

Abb. 31: Fichten im Wald von Elatia (Rhodopen, Nordgriechenland).

Abb. 32: Fichte mit unreifen Zapfen.

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Gemeine Fichte (Picea abies), auch Rotfichte oder Rottanne (Abb. 31) Höhe: bis ca. 40  m, in Ausnahmefällen bis 60  m Wurzel: auf schweren Böden flaches Wurzelsystem (Tellerwurzel), daher erhöhte Windwurfgefährdung Krone: kegelförmig, (Abb. 31), Zweige quirlig angeordnet Rinde: in tieferen Lagen rötlich-braun gefärbt, feinschuppig, in Gebirgslagen eher Grautöne Nadeln: stechend-spitz, im Querschnitt vierkantig Blüten und Zapfen: Blütenentwicklung meist nur in mehrjährigem Abstand, Windbestäubung, Zapfen nach unten hängend (Abb. 32) Maximalalter: 600 Jahre Verbreitung in Europa: fast ganz Europa mit Ausnahme der Britischen Inseln und der Iberischen Halbinsel, vor allem Mittel, Ost- und Nordeuropa, im südlichen Verbreitungsgebiet in Gebirgen Höhengrenze: >  2000  m Standort: bevorzugt feuchtes und kühles Klima, in gemäßigtem Klima von Natur aus nur im Bergland; gut durchlüftete Böden mit ganzjährig ausreichender Wasserversorgung Nutzung: wegen schnellen Wachstums wird die Fichte auch als „Brotbaum“ der Forstwirtschaft bezeichnet; in Deutschland wichtigster Holzlieferant u. a. für Bauholz, Verpackungen, Möbel; langsam gewachsene Fichten für Musikinstrumente

II. Landschaften und Lebensräume

Weitere Fichtenarten: die Sibirische Fichte (Picea obovata) ist eine Baumart des borealen Nadelwalds; von Nordeuropa bis in den Ural kommt es zur Bildung von Mischbeständen mit der Gemeinen Fichte, mit der die Sibirische Fichte auch Hybride bildet

Weißtanne (Abies alba) Höhe: bis ca. 50  m, in Ausnahmefällen bis 65  m Wurzel: zählt zu den am tiefsten wurzelnden Nadelbäumen, daher sehr sturmsicher Krone: Kronenform kann stark variieren und hängt vor allem vom geographischen Standort und den Lichtverhältnissen ab, typisch bei älteren Bäumen ist die sogenannte „Storchennestkrone“ (Abb. 33) Rinde: ab einem Alter von 40 bis 60 Jahren weiß- bis dunkelgraue, schuppige Borke (Abb. 34) Nadeln: an der Spitze gerundet, im Querschnitt rhombisch (Lichtnadeln) bis flügelförmig (Schattennadeln), an Unterseite zwei weiße Wachsstreifen Blüten und Zapfen: Windbestäubung, Zapfen stehen nach oben (Abb. 35) Maximalalter: 600 Jahre Verbreitung in Europa: europäischer temperater Gebirgsgürtel von den Pyrenäen bis zur Balkanhalbinsel; fehlt im Norden, Osten und mediterranen Süden (Abb. 36) Höhengrenze: >  2000  m Standort: bevorzugt ozeanisches und gemäßigt kontinentales Klima, in Mittel- und Südeuropa vor allem in Gebirgen; benötigt eine rund dreimonatige frostfreie Vegetationszeit und eine mindestens dreimonatige Winterruhe; eine gute Wasserversorgung ist wichtiger

Abb. 33: Weißtanne mit „Storchennestkrone“ (Schlesische Beskiden, Polen).

Abb. 34: Weißtannen mit Bartflechten. Abb. 35: Weißtanne mit Zapfen.

als eine gute Nährstoffversorgung und Durchlüftung des Bodens Nutzung: bis Ende des 19. Jahrhunderts Verwendung im Schiffsbau, speziell für Masten („Holländertannen“), in jüngster Vergangenheit wieder zunehmende Ver-

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Abb. 36: Weißtannenwald.

Waldkiefer (Pinus sylvestris)

Abb. 37: Spanische Tanne (Sierra de las Nieves, Andalusien, Spanien).

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wertung als Bauholz, ansonsten sehr unterschiedliche Verwendung Weitere Tannenarten: in Mitteleuropa gibt es keine weitere Tannenart; in Südost- und Südwesteuropa wachsen mit der Griechischen Tanne (Abies cephalonica) und der Spanischen Tanne (Abies pinsapo, Abb. 37) endemische Arten mit punktueller Verbreitung; die als Weihnachtsbaum beliebte Nordmann-Tanne (Abies nordmanniana) stammt aus dem Kaukasus

II. Landschaften und Lebensräume

Höhe: bis knapp 50 m Wurzel: Pfahlwurzel bis in 6  m Tiefe Krone: Wuchsform sehr variabel, je nach Standort schmale kegelförmige oder breite schirmförmige Krone Rinde: ältere Bäume durch braunrote, tiefrissige Schuppen deutlich zweifarbig (Abb. 38) Nadeln: 4 bis 7  cm lang, gedreht, paarweise in einer Nadelscheide zusammengefasst (Abb. 39) Blüten und Zapfen: Windbestäubung, Zapfen eikegelförmig (Abb. 39) Maximalalter: 600 Jahre Verbreitung in Europa: das Hauptverbreitungsgebiet umfasst Europa bis weit nach Sibirien, es reicht im Norden bis Lappland, im Süden bis in den äußersten Nordwesten Spaniens und in die Türkei Höhengrenze: >  2000  m Standort: anspruchslose Baumart, tolerant gegenüber vielen Böden und Klimaten; von Natur aus auf armen, trockenen Böden auf sandigen und moorigen Standorten sowie auf trockenen Kalkböden, da hier das Durchsetzungsvermögen anderer Baumarten geschwächt ist (Abb. 40) Nutzung: in Europa häufig in plantagenartigen Monokulturen, um den Bedarf an Bau- und Industrieholz zu decken; aus dem Harz können durch Destillation Terpentinöl und Kolophonium gewonnen werden  –  in Deutschland ist die Harzgewinnung (Abb.  41) heute nicht mehr üblich, in Österreich gibt es noch harzverarbeitende Betriebe

Abb. 38: Rinde einer alten Waldkiefer (Masuren, Polen).

Abb. 39: Waldkiefer mit Zapfen.

Abb. 40: Die Waldkiefer ist der „Brotbaum“ der polnischen Forstwirtschaft (Wigierski-Nationalpark, Polen).

Abb. 41: Waldkiefer mit Spuren der in der DDR betriebenen Harzgewinnung (Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft).

Weitere Kiefernarten: in Mitteleuropa gibt es außer der Waldkiefer noch die Bergkiefer (Pinus mugo), die in unterschiedlicher Gestalt als Latsche bzw. Legföhre, Hakenkiefer oder Moor-Spirke auftritt; die Zirbelkiefer oder Arve (Pinus cembra) kommt in den Alpen, der Hohen Tatra und den Karpaten vor; der Verbreitungsschwerpunkt der Schwarzkiefer (Pinus nigra) liegt im südlichen Europa; im Mittelmeergebiet kommt eine Reihe weiterer Arten vor wie die Aleppo-Kiefer (Pinus halepensis), die Pinie (Pinus pinea) und die See-Kiefer (Pinus pinaster)

39

Abb. 42: Konkurrenzverhalten der Waldkiefer im Vergleich zu den Laubbaumarten Buche und Eiche. Die Kiefer wächst ohne Konkurrenz wie alle anderen Arten an mittleren Standorten am besten. In Konkurrenz mit den schneller wachsenden Laubbäumen Buche und Eiche wird sie in trockene oder nasse Bereiche verdrängt, wo sie sich im Gegensatz zu den Laubbäumen gut behaupten kann (nach Pfadenhauer 1993).

Bis wohin Bäume wachsen Phytomasse

Buche

Eiche Kiefer

nass

feucht

Phytomasse

frisch

trocken

Buche

Eiche

Eiche

Kiefer

nass

Kiefer

feucht

frisch

trocken

Bei den einzelnen Baumarten gibt es unterschiedliche Strategietypen. Die Schwarz-Erle und die Waldkiefer sind Pionierbaumarten, d.  h. die ersten Baumarten, die Freiflächen (Kahlschläge, Brandflächen u. a.) besiedeln. Später werden sie von anderen Arten zurückgedrängt, den sogenannten Klimaxbaumarten, die im Endstadium (Klimaxstadium) eines Waldes dominieren. Klimaxbaumart der meisten mitteleuropäischen Wälder ist die Rotbuche, in Berglagen kommt die Weißtanne hinzu. In nordischen Wäldern oder in sehr hohen Berglagen ist die Fichte Klimaxbaumart, im kontinentalen Klima Osteuropas und in Auwäldern ist es die (Stiel-)Eiche. Ohne Konkurrenz wachsen alle Baumarten an mittleren, weder zu nassen noch zu trockenen Standorten am besten. In Konkurrenz mit anderen Baumarten setzt sich jedoch an den besten Standorten die Klimaxbaumart durch, z.  B. die Rotbuche, während die konkurrenzschwächeren Baumarten an die ungünstigeren Standorte verdrängt werden. So nimmt z.  B. bei Konkurrenz von Buche, Eiche und Kiefer die Buche die günstigsten Standorte ein; die Eiche und die Kiefer werden an Standorte verdrängt, die für die Buche zu nass oder zu trocken sind (Abb. 42).

40

II. Landschaften und Lebensräume

Was brauchen Bäume, um zu wachsen? Im Prinzip brauchen sie dasselbe wie alle anderen Pflanzen auch: genügend Licht, Wärme und Wasser. Da für die Bildung des Holzes und das Erreichen einer größeren Höhe mehr Energie erforderlich ist als beispielsweise für das Wachstum einer krautigen Pflanze, haben Bäume größere Ansprüche. Ist der Winter lang und die Vegetationsperiode nur kurz wie im hohen Norden, haben Bäume keine Chance. Weltweit gilt, dass bei einer mittleren Temperatur von weniger als 6,4 °C während der Wachstumszeit auch keine einzelnen Bäume oder Baumgruppen mehr vorkommen. Diese Baumgrenze ist von der Waldgrenze zu unterscheiden, bis zu der die Bäume geschlossene Bestände, also Wälder bilden. Die Distanz zwischen den beiden Grenzen ist oft nur klein und wird vielfach auch vom Menschen beeinflusst. An der Waldgrenze ist das Baumwachstum stark gebremst. Wegen der Kürze der Vegetationsperiode und aufgrund des hier meist stärker wehenden Windes kommt es zu verkrüppelten Baumformen, die klein bleiben und dichte Gebüsche bilden. Dieser Bereich ist als Krummholzzone (Krummholzgürtel) bekannt. Zu den Bäumen, die am weitesten nach Norden oder in die Hochlagen der Gebirge vordringen, gehören vor allem Nadelbäume wie Lärchen, Kiefern, Fichten und Tannen, in feuchteren Regionen auch Laubbäume wie Birken und Erlen. Die arktische Waldgrenze im Norden ist ein fließender Übergang vom geschlossenen borealen Nadelwald zur baumfreien Tundra, der bis zu Hunderte von Kilometern breit sein kann. Der Landschaftstyp dieser Übergangszone wird Waldtundra genannt. Ebenfalls klimatisch bedingt ist die alpine Waldgrenze (Abb. 43), die in der Regel zwischen 1500 und 2500  m ü.  NN liegt  –  je weiter südlich man kommt, desto höher verläuft sie. An Küsten und auf freistehenden Bergen ist die Baumgrenze häufig viel niedriger als innerhalb eines größeren Gebirges, weil die hohen Windgeschwindigkeiten das Baumwachstum nachteilig beeinflussen. Auch in Steppen, Wüsten oder Halbwüsten (s. S. 77 ff.) wachsen keine Bäume, da dort zu wenig Niederschläge fallen. Wie bei der Tundra gibt es bei der Steppe eine Übergangszone zum geschlossenen Wald: die Waldsteppe. An extrem nassen Standorten können sich keine Bäume entwickeln, da der Boden mit Wasser gesättigt ist und der Sauerstoff fehlt, den die Baumwurzeln benötigen. Es gibt aber Bäume wie die Schwarz-Erle (s. S. 34),

die durch Stelzwurzeln am Stammfuß eine starke Vernässung und auch schwankende Wasserstände besser verkraften kann als viele andere Baumarten. Einen Erlenwald an solchen Standorten nennt man Erlenbruchwald  –  der Begriff „Bruch“ bezeichnet Sumpf- und Moorland und ist in unterschiedlichen Schreibweisen ein Bestandteil vieler Siedlungs- und Flurnamen. Bäume können auch dort nicht wachsen, wo durchwurzelbarer Boden fehlt, wie z.  B. auf Felsen, oder der Boden aus anderen Gründen (z.  B. hoher Salz- oder Schwermetallgehalt) nicht für Bäume geeignet ist (edaphische Waldgrenze).

Was in und an Bäumen lebt Bäume sind Lebensräume für zahlreiche andere Organismen. Besonders die Eiche (Stiel- und Traubeneiche) sticht hier hervor, die in ihrer Krone bis zu 1000 Insektenarten beherbergen kann. An ihr fressen die Raupen von über 100 Schmetterlingsarten. Auch zahlreiche Pilzarten finden an und in der Eiche ein Zuhause. Einige der größten Käferarten wie der Hirschkäfer (Abb. 44), der Große Eichenbock, der Eremit und der Nashornkäfer entwickeln sich am und im Eichen-

holz. Unter den Vögeln zimmert der seltene Mittelspecht (Abb. 45) seine Höhlen am liebsten in alten Eichen. Diese Vielfalt gründet sich auf verschiedene Faktoren. Eichen sind entwicklungsgeschichtlich wesentlich älter als etwa unsere Rotbuche. Auch sind die Eichen nach der letzten Eiszeit etliche tausend Jahre früher als die Rotbuche nach Deutschland zurückgekehrt, sodass eine längere Phase der gemeinsamen Evolution (Koevolution) zwischen den Tierarten und den Eichen stattfinden konnte. Da Rinde, Holz, Blätter und Früchte der Eichen gerbstoffhaltig sind, musste eine spezielle Anpassung stattfinden, um diese chemische Abwehr zu überwinden. Deshalb finden sich auffällig viele monophage (sich nur von einer

Abb. 44: Hirschkäfer. Abb. 45: Mittelspecht.

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Abb. 43: Waldgrenze in den Tannheimer Bergen (Österreich).

Pilze beherbergen. An einer alten Weidbuche im Südschwarzwald wurden 127 epiphytisch wachsende Organismen erfasst, das ist die höchste bisher in Europa an einem Baum festgestellte Anzahl (Wirth 2018). Manche Arten leben nur an sehr alten oder toten Bäumen und kommen daher fast nur in nicht (mehr) bewirtschafteten Wäldern vor. Das gilt z.  B. für viele Holzkäfer, aber auch für Pilze wie die Zitronengelbe Tramete, die in Deutschland nur in den Nationalparken Bayerischer Wald und Schwarzwald vorkommt (Abb. 47). Über 1000 der rund 6000 in Deutschland vorkommenden Käferarten siedeln auf Totholz, 60  % von ihnen stehen auf der Roten Liste gefährdeter Tierarten.

Mykorrhiza Viele Baumarten leben in einer Symbiose mit Pilzen, die mit dem Wurzelsystem in Kontakt stehen. Dies wird als Mykorrhiza bezeichnet. Die Mykorrhizapilze liefern der Pflanze Nährsalze und Wasser und erhalten ihrerseits einen Teil der durch die Photosynthese der Pflanzen erzeugten Assimilate. In einem Buchenwald wird etwa ein Drittel der Photosyntheseprodukte durch die Mykorrhizapilze verbraucht. Im Gegensatz zu anderen Bodenpilzen fehlen vielen Mykorrhizapilzen Enzyme, die nötig wären, um komplexe Kohlenhydrate abzubauen, darum sind sie auf die Versorgung durch die Pflanze angewiesen. Die Pilze verfügen über ein im Vergleich zur Pflanze erheblich größeres Vermögen, Mineralstoffe und Wasser aus dem Boden zu lösen. Dadurch wird die Wasser- und Nährstoffversorgung der „infizierten“ Pflanzen verbessert. Weiterhin bietet die Mykorrhiza einen gewissen Schutz vor Schädlingen, wie etwa Blattläusen oder schädlichen Pilzen, und erhöht auch die Trockenre-

Abb. 46: Mit Flechten und Moosen bewachsene Weidbuche (Südschwarzwald, Baden-Württemberg, Deutschland).

Abb. 47: Zitronengelbe Tramete (Nationalpark Schwarzwald).

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Pflanzenart ernährende) Arten unter den Schmetterlingen und Käfern an der Eiche (Quelle: www.waldwissen.net). In älteren Eichen zersetzen Pilze das Kernholz, ohne die lebenswichtige Versorgung mit Wasser und Nährstoffen zu beeinträchtigen. Somit schaffen sie langlebige Höhlenstrukturen für Insekten, Vögel und Fledermäuse. Für tropische Regenwälder typisch sind die sogenannten Epiphyten oder Aufsitzerpflanzen. Doch auch in den europäischen Wäldern spielen sie eine Rolle, dort handelt es sich vor allem um Flechten und Moose. Rotbuchen bieten zwar deutlich weniger Tieren und Pflanzen Lebensraum als Eichen, können aber vor allem als bizarre Weidbuchen (Abb. 46) viele Flechten, Moose und

II. Landschaften und Lebensräume

Abb. 48: Wurzelspitzen mit Mykorrhiza.

Abb. 49: WinterTrüffel.

sistenz der Pflanzen, was vor allem an extremen Standorten von Vorteil sein kann. Die Symbiose von Landpflanzen mit Pilzen trat schon im Devon, also vor 400 Mio. Jahren auf. Von den Landpflanzen sind etwa 90  % zur Mykorrhizabildung befähigt. Es wird vermutet, dass die Mykorrhiza überhaupt erst die Landbesiedelung durch die ersten terrestrischen Pflanzen ermöglichte. Dafür spricht auch der Befund, dass der gemeinsame Vorfahre aller Landpflanzen über Gene verfügte, die für die Ausbildung der Mykorrhiza erforderlich sind. Weltweit sind ca. 200 Arten von Mykorrhizapilzen beschrieben, die mit etwa 80  % aller Landpflanzenarten in Symbiose stehen. Eine solche unspezifische Symbiose kann sich nur schwer nachträglich entwickelt haben. Bei den meisten Bäumen unserer Wälder bildet das Pilzmycel einen dichten Mantel um die jungen Wurzelspitzen (Abb.  48). Als Reaktion schwellen diese keulig an und bilden keine Wurzelhaare mehr. Die Pilzhyphen (fadenförmige Zellen, die insgesamt das Mycel bilden) wachsen auch in die Wurzelrinde hinein, dringen aber nicht in die Wurzelzellen ein, sondern bilden außerhalb der Zellen ein Netzwerk, das den Nährstoffaustausch zwischen Pilz und Pflanze erleichtert. Während die meisten Pflanzenpartner an geeigneten Standorten auch ohne Pilze gedeihen können, gibt es einige, die auf Pilze als Partner angewiesen sind. Es wird angenommen, dass sehr viele Großpilze wie Pfifferlinge und Knollenblätterpilze zur Mykorrhiza fähig sind. Während diese sogenannten Ständerpilze oberirdische Fruchtkörper bilden, haben sich die begehrten Trüffel vollständig an die unterirdische Lebensweise angepasst. Da die Sporen nicht mehr einfach nach draußen entlassen werden können, bedienen sich Trüffel der Tiere zur Verbreitung. Der starke Geruch wird von Wildschweinen selbst durch den Waldboden hindurch

wahrgenommen, nach dem Verzehr werden die unverdaulichen Sporen wieder ausgeschieden. Auch Insekten, etwa die Trüffelfliege oder bestimmte Käferarten, werden von Trüffeln angelockt (Abb. 49).

Im Wald da sind die Räuber Die Umbenennung der „Raubvögel“ in „Greifvögel“ hat sich weitgehend durchgesetzt; weniger erfolgreich war der Versuch, die Säugetierordnung der „Raubtiere“ in „Beutegreifer“ umzubenennen. Eine der wichtigsten ökologischen Zusammenhänge heißt auch nach wie vor Räuber-Beute-Beziehung. Raubtiere gibt es in allen Wäldern, nicht überall verbreitet sind aber die europäischen Großraubtiere Braunbär, Wolf und Luchs (Abb. 51 bis 53). Das größte Raubtier Europas ist der Braunbär. In Deutschland gibt es keine wildlebenden Braunbären mehr, bereits im Mittelalter wurden sie in waldreiche und schwer zugängliche Gebiete zurückgedrängt. Ein 1835 in Ruhpolding erlegter Bär soll der letzte Braunbär Deutschlands gewesen sein. 2006 wanderte ein Braunbär von Österreich nach Deutschland ein, der später in der Presse als „Problembär Bruno“ bezeichnet wurde. Nach vergeblichen Versuchen, den Bären lebend zu fangen, wurde er schließlich erschossen. Heute steht er „ausgestopft“ im Museum „Natur und Mensch“ in München. Der Braunbär war früher in allen waldreichen Gebieten Europas von Skandinavien bis zum Mittelmeer heimisch. Heute gibt es in Europa nur noch dort Braunbären, wo größere, wenig erschlossene Wälder erhalten blieben. Die größte Population gibt es in Russland, danach folgt Rumänien; vor allem in den Wäldern der Karpaten leben vermutlich noch über 5000 Braunbären. Größere Bestände gibt es auch noch in der Slowakei, auf

43

THEMA

Abb. 51: Braunbär.

der Balkan-Halbinsel und in Nordeuropa, wozu in dieser Hinsicht auch Estland gezählt werden kann. Kleine Populationen existieren in Spanien (vor allem im Kantabrischen Gebirge), in Italien und in Frankreich (Pyrenäen). In Kulturlandschaften reagieren Bären oft stark auf die Anwesenheit des Menschen, da sie als Allesfresser

viele neue Futterressourcen wie etwa Maisfelder, Kompost, Obstplantagen, Bienenstöcke, Abfall und gelegentlich Nutztiere verwerten können. Somit kommen sie mit dem Menschen oft in Konflikt (Heurich 2019). Der Wolf war vor der Ausbreitung des Menschen und der Entwicklung von Land- und Weidewirtschaft das am weitesten verbreitete Landsäugetier der Erde. Er war in ganz Europa und Asien sowie in Nordamerika beheimatet. In weiten Teilen dieses einst riesigen Verbreitungsgebiets, besonders in großen Teilen Westeuropas und Nordamerikas, wurde der Wolf durch menschliche Verfolgung ausgerottet. In Europa gibt es in Osteuropa und auf dem Balkan noch größere zusammenhängende Populationen. Seit Anfang dieses Jahrhunderts sind die Bestände in vielen europäischen Ländern stabil oder nehmen zu. Speziell in Albanien, Finnland, Mazedonien, Portugal und in der spanischen Sierra Morena kam es jedoch zu rückläufigen Bestandsentwicklungen. Wölfe treffen in Europa auf ein Beuteangebot, das höher ist als je zuvor. Rehe, Rotwild und Wildschweine, örtlich auch Damwild, stellen etwa 90  % ihrer Nahrung. Mit den Bedingungen der Kulturlandschaft kommen Wölfe gut zurecht. Sie sind nicht auf Wildnis angewiesen, bevorzugen aber weiträumige Waldgebiete (Heurich 2019). Die letz-

Europäisches Gleithörnchen

Abb. 50: Europäisches Gleithörnchen auf einer Briefmarke aus Estland.

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Das Europäische Gleithörnchen ist kleiner als das Eichhörnchen, es erreicht mit einer KopfRumpf-Länge von 14 bis 20  cm etwa die Größe eines Siebenschläfers. Eine von der Handwurzel ausgehende Flughaut ermöglicht es den Tieren, bis zu 80  m weite Strecken durch die Luft zu gleiten. Sie können den Flug mit Hilfe des Schwanzes und der Beine sowohl nach oben und unten als auch horizontal steuern, beim Landen bremst die Flughaut die Geschwindigkeit ab. Gleithörnchen legen in Baumhöhlen ein kugelförmiges Nest aus Flechten und Moosen an, in dem sie tagsüber schlafen, teilweise findet man die Nester auch in Nistkästen. Nachts gehen die Gleithörnchen auf Nahrungssuche, auf dem Speiseplan stehen verschiedene Blätter, Blüten, Beeren, Nüsse, Knospen und Samen. Wenn im Winter  –  Gleithörnchen halten keinen Winterschlaf  –   die Nahrung knapp ist, nehmen sie auch mit Nadeln

II. Landschaften und Lebensräume

und Rinde vorlieb. In Baumhöhlen legen sie auch Nahrungsvorräte an. Der Name „Europäisches Gleithörnchen“ ist insofern unpassend, als das Verbreitungsgebiet zum allergrößten Teil in Asien liegt. Die einzigen europäischen Länder, in denen Gleithörnchen leben, sind Finnland, Estland, Weißrussland und Russland. Der Bestand des Europäischen Gleithörnchens ist global gesehen nicht gefährdet, da es ein sehr großes Verbreitungsgebiet hat. Regional ist es jedoch mancherorts bedroht, so steht es in Finnland und Estland auf der nationalen Roten Liste und ist in Estland das Symboltier des Estnischen Naturschutzfonds (Abb. 50). Der Bestand ist in den letzten 20 Jahren dramatisch gesunken. Von den Gleithörnchen der Europäischen Union leben weit über 90  % in Finnland, in Lettland gilt das Gleithörnchen als ausgestorben.

ten ursprünglich im Gebiet des heutigen Deutschland lebenden Wölfe wurden bis spätestens 1850 ausgerottet. Die ab der Mitte des 19.    Jahrhunderts bis Ende des 20.    Jahrhunderts in Deutschland angetroffenen Wölfe waren wahrscheinlich ausnahmslos Zuwanderer. Im Jahr 2000 wurde im sächsischen Teil der Lausitz erstmals wieder eine erfolgreiche Fortpflanzung des Wolfs in Deutschland nachgewiesen. Seitdem hat der Bestand an Wölfen kontinuierlich zugenommen; das Verbreitungsgebiet hat sich beständig vergrößert und auf große Teile der Bundesrepublik ausgedehnt. Im Erfassungszeitraum 2017/18 gab es in sechs Bundesländern insgesamt 75 Rudel, 33 Paare und 3 territoriale Einzeltiere (Quelle: dbb-wolf.de). Durchziehende Einzeltiere wurden mit Ausnahme der drei Stadtstaaten und des Saarlands in allen Bundesländern nachgewiesen. Auch der (Eurasische) Luchs wurde seit Jahrhunderten stark verfolgt, in Europa begannen im Spätmittelalter systematische Ausrottungsversuche. Sein europäisches Verbreitungsgebiet reichte noch zu Beginn der Neuzeit von den Pyrenäen in einem breiten Gürtel bis zum Ural. Nachdem der Luchs zu Beginn des 20.   Jahrhunderts weitestgehend aus West- und Mitteleuropa verschwunden war  –  in Deutschland wurde der letzte Luchs um 1850 geschossen –, wanderte er ab etwa 1950 aus angrenzenden Gebieten wieder ein und wurde auch gezielt wieder angesiedelt. Die größte europäische Population findet sich wie beim Braunbär in Russland, größere Bestände gibt es noch auf dem Balkan, in Rumänien und in Nordeuropa. Verglichen mit dem Wolf ist der Luchs weniger negativ besetzt: Weite Teile der Bevölkerung stehen der Rückkehr des Luchses positiv oder gleichgültig gegenüber. Die Rückkehr des Wolfs ist dagegen von einer deutlich ablehnenderen Haltung begleitet und wird stärker mit einer Gefährdung von Menschen und Nutztieren assoziiert. Nach der Meinung des Naturschutzexperten Josef Reichholf (2007) ist dies darauf zurückzuführen, dass Katzenarten nicht in vergleichbarer Weise wie der Wolf zum Aufbau eines Feindbildes geeignet sind. Dies vereinfacht Wiederansiedelungsprojekte, da sich der Widerstand gegen diese Projekte vor allem auf Interessenskreise wie Landwirte und Jäger begrenzt, die Auswirkungen auf Wild und Weidetiere befürchten. In verstärktem Maße gilt das für die allseits beliebte „kleine Schwester“ des Luchses, die Europäische Wildkatze. Auch sie war im späten 19.   Jahrhundert in Mitteleuropa nahezu ausgerottet, im 20.   Jahrhundert erholten sich die Populationen wieder. Heute ist die Wildkatze

vor allem durch Zerschneidung und Zersiedelung der Landschaft bedroht. Sie lebt ausschließlich in ruhigen und intakten Wäldern mit Altholzbestand. Nur im naturnahen Wald findet die Wildkatze alte Baumhöhlen, Fuchs- oder Dachsbaue, die sie für die Aufzucht der Jungen benötigt. Da sich die Wildkatze nur ungern in der offenen Landschaft aufhält, ist sie „Zielart“ für den Biotopverbund durch Waldkorridore.

Abb. 53: Luchs.

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Abb. 52: Wolf.

Wasser Von der Quelle bis zur Mündung – Fließgewässer

Abb. 54: Europäische Hauptwasserscheiden.

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Da der Autor zwischen Schwarzwald und Rhein lebt, hat er es mit Fließgewässern aller Art zu tun, vom plätschernden Bergbach im Schwarzwald über einen Fluss wie die Elz bis hin zum großen Strom, dem Rhein. Die Elz, an der seine Heimatstadt Kenzingen liegt, beginnt nach einem Quellaustritt im Schwarzwald als Bergbach, mausert sich dann zum kleinen Fluss und mündet nach mehreren abrupten Wendungen im Rhein. Durch den Schwarzwald verläuft die Europäische Hauptwasserscheide zwischen Rhein- und Donausystem und damit zwischen Nordsee und Schwarzem Meer. Solche Hauptwasserscheiden durchziehen ganz Europa und „scheiden“ die Wassereinzugsgebiete von Atlantik, Nordsee, Ostsee, Polarmeer, Schwarzem Meer (mit Asowschem Meer), Adria und Mittelmeer (Abb. 54). Die Donau ist mit 2845  km der zweitlängste Fluss Europas, noch länger ist die Wolga mit 3530  km. Auch auf den Plätzen drei bis fünf folgen Flüsse, die weit-

II. Landschaften und Lebensräume

gehend durch Russland fließen: Dnjepr (2845  km), Don (1870  km) und Petschora (1802   km). Auf Platz sechs steht der durch die Ukraine und Moldawien fließende Dnister (Dnestr) mit 1352  km, und erst an siebter Stelle folgt der Rhein mit 1233  km, danach kommen Elbe (1094  km), Weichsel (1047  km) und Oder mit Warthe (1045  km; Quelle: Wikipedia/Liste von Flüssen in Europa). Man kann den Verlauf eines Fließgewässers in mehrere Abschnitte gliedern, in denen verschiedene Organismen leben. Die bekannteste Gliederung ist die nach Fischregionen, bei denen bestimmte Fischarten als namensgebende Leitarten für die jeweilige Region gelten. Diese Einteilung gilt im Wesentlichen für das klimatisch gemäßigte Mitteleuropa, in Nord- und Südeuropa kommen andere Fischarten vor. In der Quellregion, dem kurzen Abschnitt direkt am Ursprung eines Fließgewässers, leben in der Regel keine Fische. Hier halten sich gerne Feuersalamander auf, deshalb spricht man gelegentlich von der Salamanderregion. Der folgende Abschnitt, der Quell- oder Bergbach, heißt Forellenregion. Hier fließt das Wasser sehr schnell, ist sehr kalt und sauerstoffreich. Die Wassertemperatur liegt zwischen 5 und 10 °C. Der Untergrund ist oft steinig, deshalb können sich kaum Wasserpflanzen halten. Der Leitfisch für die Forellenregion ist die Bachforelle, dazu kommen Groppe, Elritze und Bachneunauge. In der Äschenregion existiert immer noch eine starke Strömung und hoher Sauerstoffgehalt, aber es gibt mehr Pflanzen als in der Forellenregion. Die Wassertemperatur steigt hier schon bis 15 °C, der Untergrund besteht aus Geröll und Kies. Leitfisch ist die Äsche, dazu kommen etliche weitere Fischarten wie Nase, Döbel oder Quappe. In der Barbenregion strömt das Wasser gemächlich dahin, die Temperatur beträgt 15 bis 20 °C. Der Untergrund besteht aus grobkörnigem Sand und feinem Kies. Die Fließgewässer werden breiter, der Sauerstoffgehalt schwankt, die Uferzone ist vegetationsreich. Der Leitfisch ist die Barbe aus der Familie der Karpfenfische. Die Brachsenregion ist die artenreichste Fischregion und liegt am Unterlauf eines Flusses. Die Temperaturen steigen im Sommer über 20 °C, im Winter friert der Fluss oft zu. Der Pflanzenbewuchs ist sehr üppig und der Untergrund besteht aus feinem Sand, teilweise lagert sich Schlamm ab. Der Sauerstoffgehalt ist sehr niedrig. Leitfisch ist die Brachse (auch Blei genannt), die ebenfalls zu den Karpfenartigen gehört, daneben kommen zahlreiche weitere Fischarten wie Zander, Flussbarsch, Rotfeder, Rotauge, Schleie und Hecht vor.

Die Kaulbarsch-Flunder-Region liegt im Mündungsdelta zum Meer im Einflussbereich von Ebbe und Flut, daher hat das Wasser bereits einen gewissen Salzgehalt (Brackwasser). Im Sommer können über 20 °C erreicht werden. Der Untergrund besteht aus feinem Sand, Kies und Schlamm; der Sauerstoffgehalt ist je nach Gezeiten unterschiedlich. Leitfisch ist der Kaulbarsch, dazu kommen u. a. Flunder und Meeräsche. Auch die Begleitvegetation ändert sich mit dem Verlauf eines Fließgewässers. In ihrem Oberlauf werden die Bäche und kleinen Flüsse meist von Galeriewäldern aus Erlen gesäumt, häufig kommt die Esche dazu. Bei den Erlen handelt es sich meist um die Schwarz-Erle (s. S. 34), in höheren Lagen und auf kalkhaltigen Böden dominiert die Grau-Erle. Im Mittel- und Unterlauf weist die Wasservegetation eine Quergliederung von der Flussmitte bis zum Rand der

Aue auf. Im häufig überschwemmten Uferbereich herrschen verschiedene Arten von Weiden vor, wegen des weichen Holzes der widerstandsfähigen und überschwemmungstoleranten Weiden (Abb.  55) nennt man diesen Bereich Weichholzaue. Weiter vom Fluss entfernt etabliert sich bei geringerer Überschwemmungsdauer und Wassertiefe eine Hartholzaue mit Baumarten wie Stieleiche, Ulme und Esche.

Seen, Weiher, Tümpel – Stillgewässer Stillgewässer sind Binnengewässer, die keine oder nur eine sehr geringe Fließgeschwindigkeit aufweisen. Die größten Binnengewässer sind Seen, die aber eher über ihre Tiefe als über die Fläche definiert werden. Die Tiefe muss für eine Temperaturschichtung ausreichen, die längere Zeit bestehen bleibt  –  dies ist in der Regel ab 8 bis 10  m Tiefe der Fall.

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Abb. 55: Silberweiden mit Stelzwurzeln (Donaudelta, Rumänien).

THEMA

Die Donau, der „europäischste“ aller Flüsse Abb. 56: Weltenburger Enge bei Kelheim (Bayern, Deutschland).

Abb. 57: Eisernes Tor an der rumänisch-serbischen Grenze.

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Was die Donau zum „europäischsten“ aller Flüsse macht, ist die Tatsache, dass sie zehn Länder durchfließt oder berührt  –  so viele, wie kein anderer Fluss der Erde. Dies sind vom Oberlauf bis zur Mündung in das Schwarze Meer: Deutschland, Österreich, Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien, Rumänien, die Republik Moldau und die Ukraine. Die Donau ist eine der ältesten und bedeutendsten europäischen Handelsrouten und verbindet dabei unterschiedliche Kulturkreise. Sie führt ihren Namen ab der Vereinigung zweier Quellflüsse, der Brigach und der längeren Breg, die beide im Schwarzwald entspringen, und durchquert drei große Beckenlandschaften: das nördliche Alpenvorland und das Wiener Becken (Oberlauf), die Pannonische Tiefebene (Mittellauf) und das Walachische Tiefland (Unterlauf). Die trennenden Gebirge durchschneidet sie in Engtälern, deren bekannteste

II. Landschaften und Lebensräume

Abschnitte der Donaudurchbruch bei Beuron, die Weltenburger Enge (Abb. 56), die Wachau, die Hainburger Pforte (auch Preßburger Pforte) und das Eiserne Tor (Abb. 57) sind. Der Strom mündet über das ausgedehnte Donaudelta (s. S. 59) ins Schwarze Meer. Das Einzugsgebiet der Donau umfasst ungefähr 800 000  km2. Die Donau passiert viele Landschaften und Klimazonen, entsprechend vielfältig ist ihre Flora und Fauna. Trotz zahlreicher, teils schwerer, menschlicher Eingriffe ist die Flusslandschaft in vielen Abschnitten noch immer außerordentlich artenreich, auch weil einige besonders sensible Lebensräume unter Schutz gestellt wurden, z. B. der Nationalpark DonauAuen nahe Wien (s. S. 204), Nationalpark Donau-Eipel (Duna-Ipoly) in Ungarn (s. S. 230), das Biosphärenreservat Srebarna im Nordosten Bulgariens (s. S. 167), der Nationalpark D - erdap in Serbien (s. S. 219) und das Biosphärenreservat Donaudelta in Rumänien (s. S. 211).

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THEMA

Die Biozönose im Bergbach

Abb. 58: Bachforelle.

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„Die Tiere des Bergbachs nehmen in biozönotischer Hinsicht eine Sonderstellung ein. Um die physiologischen Vorteile des Bergbachs (nahezu konstante Bedingungen im Jahresverlauf, hoher Sauerstoffgehalt u. a.) nutzen zu können, haben die Arten der Bergbachbiozönose unter der selektiven Wirkung der Strö-

schicht unmittelbar am Substrat bzw. die Totwasserräume und behaupten sich durch Saugnäpfe, Klebsekrete, Sekretfäden, Haken, Anker und dorsoventrale Abplattung ihres Körpers (Abb. 59) gegen die starke Strömung. Saugnäpfe sind konvergent von verschiedenen Insektenarten entwickelt worden, so z.  B. von den Larven der Lidmücken […]. Auch die Larven mancher Eintagsfliegen, so z. B. Rithrogena, haben ihre Tracheenkiemen zu einem saugnapfähnlichen Apparat umgebildet. […] Die in unseren Bergbächen häufige Kapuzenschnecke vermag sich mithilfe des Fußes festzusaugen. Die am meisten verbreitete strukturelle Anpassung an die starke Strömung ist die besonders bei den Larven der Eintagsfliegen und Steinfliegen ausgeprägte dorsoventrale Abplattung des Körpers, die den Tieren auch einen vor zu starker Strömung sicheren Aufenthalt in Spalten zwischen und unter den Steinen des Bachgrundes ermöglicht. […] Technik des Nahrungserwerbs: Viele Anpassungen an das strömende Wasser führen zu hemisessiler bzw. sessiler (festsitzender) Lebensweise. Das hat Konsequenzen für den Nahrungserwerb. Viele nicht miteinander verwandte Arten weisen, was den Nahrungserwerb betrifft, einen Komplex analoger Strukturen auf. Diese Arten kann man zu einem Lebensformtypus zusammenfassen. Im Bergbach können wir etwas vereinfacht Filtrierer, Weidegänger und Räuber unterscheiden. […]“ (aus Osche 1973)

mungsverhältnisse besondere strukturelle und funktionelle Merkmale entwickelt. Anpassung an die Strömung: Das frei fließende Wasser des Bergbachs ist ohne Plankton (frei im Wasser schwebende Organismen). Nur Fische vermögen sich durch Schwimmen in der starken Strömung zu halten. Forelle (Abb. 58) und Groppe dringen am weitesten in das schnellfließende Wasser vor. Die an die Strömung angepassten Arten sind vorwiegend an das Substrat gebunden (benthontische Lebensweise) und gehören zu den verschiedensten systematischen Gruppen; doch wird der überwiegende Teil der Bergbachfauna von Insektenlarven gestellt. Die torrenticolen Formen besiedeln die strömungsarme Grenz-

Abb. 59: Larve einer Eintagsfliege.

II. Landschaften und Lebensräume

Abb. 60: Bergbach (Nationalpark Berchtesgaden, Deutschland).

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Abb. 61: Ladogasee (Russland).

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Der größte europäische See ist der Ladogasee (Abb.  61) in Nordwest-Russland unweit der Grenze zu Finnland. Seine Wasserfläche beträgt 17  700  km², er ist damit größer als das Bundesland Thüringen (16  200  km²). In der Nähe des Ladogasees liegt der zweitgrößte europäische See, der Onegasee mit knapp 10  000  km². Mit rund 5500  km² deutlich kleiner ist der Vänern in Schweden, danach folgt der Saimaa-See in Finnland (4370  km²) und der Peipussee zwischen Estland und Russland  –  mit 3555  km² immer noch erheblich größer als das Saarland (2570  km²). In dieser Reihe der fünf größten europäischen Seen wurden nur die natürlichen Seen berücksichtigt, sonst würden zwei russische Stau-

II. Landschaften und Lebensräume

seen die Plätze drei und fünf belegen. Der Bodensee liegt mit 536  km² nur auf Platz 39. Bei den genannten Seen handelt es sich durchweg um Glazialseen, dem weltweit häufigsten Seentyp. Sie sind durch die abtragende oder aufschüttende Wirkung von Gletschern oder deren Schmelzwasser entstanden. Ein im Bereich der Grund- oder Endmoräne eines Gletschers entstandenes stehendes Gewässer nennt man Gletscherrandsee. Wurde der See durch eiszeitliche Gletscherzungen eingetieft, spricht man von einem Zungenbeckensee. Zu den Zungenbeckenseen gehören die meisten Seen des Alpenvorlands wie der Bodensee, der Ammersee oder der Genfer See, aber auch die italieni-

schen Seen vom Gardasee bis zum Luganer See. Auch einige Seen der Mecklenburgischen Seenplatte wie der Tollensesee sind Zungenbeckenseen, während der größte innerdeutsche See, die Müritz, ursprünglich mit den umgebenden Seen zusammenhing und sich infolge einer Seespiegelabsenkung in mehrere kleinere, miteinander verbundene Seen gliederte. Ebenfalls glazial entstandene Seenplatten sind die Finnische, die Pommersche und die Masurische Seenplatte (Abb. 62) sowie die Holsteinische Schweiz. Ein weiterer Seentyp sind Kraterseen, die durch vulkanische Aktivitäten oder den Einschlag eines Himmels-

körpers entstanden sind (Seitz 2019). Beispiele in Europa sind die Maare in der Eifel und der Bolsenasee in Italien (Abb. 63). Der fast 300  km² große Siljansee in Mittelschweden wurde durch den Einschlag eines Asteroiden vor etwa 370   Mio.  Jahren vorgeprägt, entstanden ist er jedoch infolge von wiederholten Vergletscherungen in den Kaltzeiten. Die Gletscher schürften die leichter zu erodierenden Gesteine der Kraterfüllung stärker aus als die der Umgebung, daher zeichnen der Siljansee und kleinere Seen im Umfeld die Umrisse des erodierten Kraters deutlich nach. Mit einem Durchmesser von 55  km handelt es sich um die größte sichtbare Einschlagstruktur in Europa.

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Abb. 62: See im Wigry-Nationalpark (Podlachien, Polen).

Abb. 63: Bolsenasee (Latium, Italien).

Abb. 64: Ohridsee (Nordmazedonien).

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Der Ohridsee (Abb. 64) an der Grenze zwischen Albanien und Nordmazedonien, der zweitgrößte See der Balkanhalbinsel, ist einer der ältesten Seen der Erde. Sein Alter wird auf 2 bis 5    Mio. Jahre geschätzt; das Vorkommen endemischer Arten, wie die Ohrid-Forelle, lässt auf

II. Landschaften und Lebensräume

eine Entstehung im Pliozän, also vor mehr als 2,6   Mio. Jahren, schließen. Manche Autoren geben für den Ohridsee und den südlich davon gelegenen Großen Prespasee sogar ein Alter von bis zu 35   Mio.  Jahren an (Schwaderer & Spangenberg 2009). Die Seen entstanden durch einen

Grabenbruch, der heute noch nicht abgeschlossen ist: Die Höhenzüge werden weiter aufgefaltet, die Becken sinken weiter ab. Dadurch wird eine Verlandung der Seen verhindert. Außerdem ist die Region stark durch Erdbeben gefährdet. Kleinere und flachere Stillgewässer haben unterschiedliche Bezeichnungen, die nicht überall gleich verwendet werden. So werden flache Stillgewässer mit oder ohne Abfluss häufig als Weiher bezeichnet; dieser Begriff wird aber auch für vom Menschen geschaffene Gewässer benutzt, deren Wasserstand regulierbar ist. Diese Gewässer werden auch Teiche genannt, sodass z.  B. in Süddeutschland meist von Fischweihern, in Norddeutschland von Fischteichen die Rede ist. Tümpel sind flache, periodisch austrocknende Gewässer mit stark schwankenden Wasserständen ohne Wasserführung bzw. Ablauf. Sie können natürlichen oder menschlichen Ursprungs sein.

Temperaturschwankungen, eine Sprungschicht (Metalimnion) mit rascher Temperaturabnahme und eine Tiefenschicht (Hypolimnion) mit einer konstanten Temperatur von 4 °C (bei dieser Temperatur hat das Wasser seine größte Dichte) und relativ niedriger Sauerstoffkonzentration. Während der Zirkulationsphasen im Frühjahr und Herbst wird diese Schichtung wieder beseitigt. Die Bodenzone (Benthal) wird unterteilt in die Tiefenzone (Profundal) und die Uferzone (Litoral). Die Tiefenzone umfasst das Sediment am Grund eines Sees und die unmittelbar darüber stehende Wasserschicht. Hierhin

Ökosystem See Natürliche Stillgewässer eignen sich hervorragend für eine Betrachtung als Ökosystem, die hier beispielhaft erfolgen soll. Seen können in unterschiedliche Lebensräume gegliedert werden, die jeweils verschiedene Organismen aufweisen. Vertikal können folgende Zonen unterschieden werden (Abb. 65): Die Freiwasserzone (Pelagial), die im Sommerhalbjahr eine relativ stabile Schichtung aufweist, wird unterteilt in Oberflächenwasser (Epilimnion) mit starken

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Abb. 65: Zonierung eines Sees (gegenüber der Beschreibung im Text vereinfacht).

gelangt nur sehr wenig Licht, außerdem ist kaum Sauerstoff vorhanden, sodass hier nur Bakterien leben können. Die Uferzone bezeichnet den Uferbereich des Stillgewässers und ist überwiegend von Pflanzen bewachsen. Aufgrund der unterschiedlichen Lebensgemeinschaften wird das Litoral in unterschiedliche Zonen unterteilt: Am obersten Rand des Ufers (Epilitoral), der nicht mehr vom Wellenschlag betroffen ist, wachsen aufgrund des hoch anstehenden Grundwasserspiegels Pflanzen, die mit einem feuchten Boden zurechtkommen. Unter den Bäumen sind das z.  B. Schwarz-Erle (s. S. 34) und Weiden, unter den krautigen Pflanzen Seggen, Binsen und Arten wie die Sumpf-Schwertlilie (Abb. 66) oder die Sumpf-Dotterblume (Bruchwaldzone). Die Spritzwasserzone (Supralitoral) wird zwar von den Wellen selbst nicht erreicht, aber vom Spritzwasser der sich am Ufer brechenden Wellen durchnässt. In der Brandungszone (Eulitoral) herrschen starke mechanische Kräfte, die das Wachstum größerer Pflanzen nicht zulassen. In der darunter liegenden Zone (Infralitoral) siedeln Pflanzen, die an einen ständig überfluteten Boden angepasst sind. Sie

Abb. 66: SumpfSchwertlilie.

besitzen ein zusammenhängendes System von großen Zellzwischenräumen (Aerenchym), sodass auch die Wurzeln mit Sauerstoff versorgt werden können. Das Infralitoral kann wiederum in verschiedene Abschnitte eingeteilt werden: Die Großseggenzone liegt im Bereich zwischen der Hochwasser- und der Niedrigwassermarke. Charakteristische Pflanzen sind Seggen, dazu gesellen sich nur wenige weitere Arten wie Wasserminze, Blutweiderich oder Sumpf-Schachtelhalm. Die Röhrichtzone wird meist von einer Pflanzenart, dem Schilf, dominiert, ist aber Lebensraum für zahlreiche Tierarten und kann wie jede andere Zone als eigenes Ökosystem betrachtet werden (s. u.). Die Schwimmblattzone befindet sich in windgeschützten Teilen des Sees, hier können sich Schwimmblattpflanzen ansiedeln, die bis auf die Blätter vollständig untergetaucht sind. Diese Blätter schwimmen auf der Wasseroberfläche und haben  –  im Gegensatz zu den Landpflanzen  –  die Spaltöffnungen für den Gasaustausch auf der Oberseite der Blätter. Am auffälligsten sind die Seerose und die Teichrose (Abb. 67). In der Tauchblattzone (Laichkrautzone) leben nahezu vollständig untergetauchte Wasserpflanzen, die auch unterhalb der Wasserlinie Blätter aufweisen. Diese sind dann oft stark zergliedert, um die Oberfläche für den Stoffaustausch zu vergrößern. In eine Tiefe von unter 10  m können Blütenpflanzen nicht mehr vordringen, da der Wasserdruck ihr Aerenchym zerstören würde. Wenn das Licht ausreicht, können aber Moose und Algen bis zu 30  m Tiefe vorkommen. Die Armleuchteralgen (Characeae) bilden die unterste Zone der unterseeischen Wiesen (Characeenzone). Darunter folgt die vegetationsfreie Tiefenzone (s.  o.).

Ökosystem Schilfröhricht Jede der oben betrachteten Zonen kann auch als eigenes Ökosystem aufgefasst werden. Als Beispiel soll hier die Röhrichtzone näher beleuchtet werden, die als Teilzone des Infralitorals zur Uferzone (Litoral) eines Sees gehört. Wenn man die Röhrichtzone von den Blütenpflanzen her betrachtet, ist sie ziemlich artenarm. Auf den ersten Blick sieht man meist nur Schilf (Abb. 68), das als einheitliche Wand den Blick zum See versperrt. Manchmal kommen noch der Rohrkolben, der Froschlöffel und wenige andere Blütenpflanzen dazu. Normalerweise gilt für ein Ökosystem: Je reicher es an Pflanzenarten ist, desto mehr Tierarten kommen dort vor. Also müsste das Schilfröhricht eigentlich arm an Tierarten sein. Doch das Gegenteil ist der Fall.

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II. Landschaften und Lebensräume

Abb. 67: Gelbe Teichrose.

Abb. 68: Schilfernte am Neusiedler See (Österreich, 1996).

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Abb. 69: Drosselrohrsänger.

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Zunächst einmal fallen die zahlreichen Vogelarten auf, die in einem Schilfröhricht leben. Einige, wie die Rohrsänger (Abb.  69), die Rohrammern oder die Rohrdommeln, haben ihren Namen vom Schilfrohr. Sie halten sich praktisch das ganze Jahr über in der Röhrichtzone auf und brüten auch dort. Auf der Seeseite der Röhrichtzone nisten u. a. Blässralle und Teichralle (auch Blässhuhn und Teichhuhn genannt). Auch Reiher gehen oft am Rand der Schilfzone auf Jagd, am stärksten an die Röhrichtzone gebunden ist dabei der Purpurreiher (Abb. 70). Viele Vögel wie Stare, Schwalben, Stelzen u. a. nutzen Röhrichte als Rast- und Schlafplatz. Die mit Luft gefüllten Halme des Schilfrohrs dienen vielen Insekten und Spinnen als Überwinterungsplätze; die Besatzdichte liegt zehn- bis zwanzigmal so hoch wie die von Getreidestoppeln (Ostendorp 1993). Von den im Schilf überwinternden Gliedertieren (Arthropoden) ernähren sich im Herbst und Winter zahlreiche Kleinvögel wie der besonders häufig im Schilf überwinternde Zaunkönig, aber auch Arten wie Kohlmeise, Rotkehlchen,

II. Landschaften und Lebensräume

Heckenbraunelle und Amsel. Von allen Wintergästen ist die Blaumeise am besten an den Nahrungserwerb im Schilf angepasst. Sie erbeutet auch die im Halm verborgenen Larven und Puppen, indem sie die Stängelwand mit dem Schnabel gezielt aufpickt. Dabei ist die Trefferquote sehr hoch  –  entweder optisch oder durch „Resonanzklopfen“ erkennt die Blaumeise, ob der ansonsten hohle Halm gefüllt ist. Auch als Nahrungspflanze wird Schilf von zahlreichen Tieren genutzt, von Kleintieren (Zooplankton) bis hin zu Schnecken und Insektenlarven. Auch Vögel wie die Graugans und die Blässralle ernähren sich teilweise von Schilf. An verschiedenen mitteleuropäischen Seen wird die Graugans für das „Schilfsterben“ mitverantwortlich gemacht, da im Umkreis ihres Nestes die Vegetation völlig verbissen wird. Auch die Blässralle kann lokal zur Schädigung des Schilfgürtels beitragen. Eine besondere Anpassung an das Nahrungsangebot im Röhricht zeigt die Bartmeise. Während der Brutzeit sucht sie im Dickicht der seewärtigen Röhrichte nach Spinnen

und Insekten, im Winter durchstreifen kleine Trupps die Rispenregionen der Schilf- und Rohrkolbenbestände und picken die Fruchtstände aus. Unter den Säugetieren ernährt sich vor allem der aus Nordamerika eingeführte Bisam (Bisamratte) fast ausschließlich pflanzlich; Sumpfpflanzen wie Rohrkolben und Schilf sind seine Hauptnahrung. Der Bisam fügt der Röhrichtvegetation schweren Schaden zu; am Neusiedler See entspricht die jährlich von einer Bisam-Familie gefressene Schilfmenge der Jahresproduktion von 30  m². Die durch den Bisam hervorgerufenen Veränderungen sind so schwerwiegend, dass von einer landschaftsverändernden Wirkung gesprochen werden kann. Auch die ebenfalls eingebürgerte Nutria (auch Biberratte oder Sumpfbiber genannt) ernährt sich überwiegend

von Sumpfpflanzen und kann große Schäden anrichten. Verschiedene Insektenarten bilden Gallen am Schilf, andere fressen die jungen Schilfhalme von innen heraus auf. Bei den Larven des Schilfkäfers liegt eine interessante Form des Parasitismus vor: der „Sauerstoffparasitismus“. Sie bohren das Gewebe des Schilfrohrs an, um vom Sauerstoff des Aerenchyms zu profitieren. Von den pflanzenfressenden (phytophagen) Insekten leben wiederum räuberische Tiere wie die Spinnen. Im Schilfröhricht ist also nicht nur eine einfache Nahrungskette, sondern ein komplexes Nahrungsnetz entwickelt. Das größte Schilfgebiet der Erde ist das Donaudelta (Abb. 71) im Mündungsgebiet der Donau in das Schwarze Meer. Die eng miteinander verbundenen Lebensräume wie Röhrichte, schwimmende Inseln, Altarme und

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Abb. 70: Purpurreiher.

Abb. 71: Rosapelikane im Donaudelta (Rumänien).

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Seen,  Auwälder und extreme Trockenbiotope in den Dünen bilden im Mündungsgebiet ein einzigartiges Netzwerk von über 30 Ökosystemen. Die Nahrungskette der Ökosysteme des Fließgewässerbereichs reicht vom Zoooder Phytoplankton über Insekten bis hin zu Amphibien und Fischen, die ihrerseits von Vögeln gejagt werden. Die Sumpfvegetation aus Schilfrohr, Rohrkolben, Seggen und Binsen nimmt fast 80  % der für Vegetation geeigneten Fläche des Deltas ein. Mit etwa 1800  km² ist es die größte zusammenhängende Schilffläche der Erde. Das Schilf kann eine Höhe von über 6  m erreichen und wächst hier seit etwa 8000 Jahren. Immer wieder lösen sich Teile des Wurzelteppichs ab und bilden schwim-

II. Landschaften und Lebensräume

mende Schilfinseln, die eine beachtliche Größe erreichen können und auf den ersten Blick für festes Land gehalten werden (Kahl 2018). Die Sümpfe und die küstennahen Lagunen beherbergen neben ausgedehnten See- und Teichrosenfeldern eine Vielzahl seltener und geschützter Pflanzen wie Wassernuss (Abb. 72), Europäische Seekanne, Krebsschere und Schwanenblume. Dieses Ökosystem ist in ständigem Wandel begriffen, da die teilweise mobilen Schilfinseln die Landschaft permanent verändern, was von den hier vorkommenden Arten eine ständige Anpassung erfordert. Fische bevorzugen Sumpflandschaften für die Eiablage, da die Jungfische zwischen den Wasserpflanzen vor Raubfischen Schutz finden. Auch

viele Vogelarten nutzen die Sumpfgebiete für die Aufzucht ihres Nachwuchses, weil die Nester in der dichten Vegetation vor Räubern besser geschützt sind. Hier leben auch zahlreiche Amphibien, Reptilien und Säugetiere. Das größte Flussdelta Europas ist jedoch nicht das Donaudelta, sondern das Wolgadelta. Seine Fläche hat sich durch das Absinken des Seespiegels des Kaspischen Meers von etwas über 3000  km² im 19.    Jahrhundert auf fast 30  000  km² vergrößert. Das Wolgadelta, von dem große Teile unter Naturschutz stehen (s. S. 213), ist eine wichtige Zwischenstation für Zugvögel auf ihrem Weg nach Süden und auch wichtiger noch verbliebener Lebensraum zahlreicher gefährdeter Tierarten wie dem Stör, dessen Fang hier streng reguliert ist.

Moore und Sümpfe Moore unterscheiden sich von Sümpfen dadurch, dass sie ständig wassergesättigt sind, während Sümpfe gelegentlich austrocknen. Durch den ständigen Wasserüberschuss ist der Boden sauerstoffarm, das verhindert den vollständigen Abbau pflanzlicher Reste, die als Torf abgelagert werden. Moor und Torf gehören also untrennbar zusammen. Europa  –  insbesondere die nördlichen und mittleren Breiten  –  gehört zu den moorreichen Regionen der Erde. Ausgedehnte Moorbildungen existieren noch heute in Skandinavien, dem Baltikum (Abb. 73) und dem nördlichen Russland, ein weiterer Schwerpunkt sind Weißrussland und die nördliche Ukraine. Ein Großteil der europäischen Moore  –  etwa 60  %  –  wurde allerdings zerstört, das gilt vor allem für Mittel- und Westeuropa. Besonders hohe Anteile an durch Landwirtschaft zerstörter Moorfläche weisen Ungarn (98  %), Griechenland (ca. 90  %), Niederlande und Deutschland (jeweils 85  %) sowie die Schweiz, Dänemark und Polen (jeweils 70  %) auf (Quelle: lfu.brandenburg.de). Welche Vegetation ein Moor trägt, hängt in erster Linie vom Nährstoffgehalt des Wassers ab. Wird ein Moor nur von Regenwasser gespeist, ist es sauer und sehr nährstoffarm (oligotroph). Die Pflanzendecke wird überwiegend von Torfmoosen (Sphagnen) gebildet, die praktisch unbegrenzt wachsen können. Während sich die Pflanze nach oben hin entwickelt, stirbt die Basis wegen Sauerstoffmangels ab; aus dem sich unvollständig zersetzenden Gewebe entsteht Torf. Torfmoose können selbst in geringsten Konzentrationen vorkommende Nährstoffe aufnehmen. Im Gegenzug geben sie Wasserstoffionen an die Umgebung ab und schaffen damit ein saures Milieu, mit dem sie anderen Pflanzen das Leben

schwer machen. Neben den Torfmoosen können sich unter diesen Extrembedingungen nur wenige weitere Pflanzenarten halten. Einige von ihnen wie der fleischfressende Sonnentau brauchen tierische Zusatzkost, um sich hier zu behaupten, andere wie die Heidekrautgewächse (Ericaceen) schließen die wenigen Nährstoffe mithilfe von Bodenpilzen auf. Ist das Wasser nährstoffreich und enthält Mineralien aus dem Untergrund, tragen die Moore eine gänzlich andere Vegetation wie Röhrichte, Bruchwälder oder Seggenriede. In Mitteleuropa werden die nährstoffarmen Moore als Regenmoore oder Hochmoore bezeichnet, da sie ausschließlich von Regenwasser gespeist werden und sich durch das Wachstum der Torfmoose allmählich über die Umgebung erheben. Ist dies (noch) nicht der Fall, spricht man von einem Niedermoor oder Flachmoor. Wenn ein See verlandet, entsteht zunächst ein Niedermoor und bei ausreichend hohen Niederschlägen schließlich ein Hochmoor. Die Übergangsstadien zwischen Nieder- und Hochmoor bezeichnet man als Zwischen- oder Übergangsmoor. Diese Dreigliederung in Hoch-, Zwischenund Niedermoore gilt vor allem für das regenreiche westliche Mitteleuropa, für weite Teile Europas trifft sie jedoch nicht zu. Hier unterscheidet man die verschiedenen ökologischen Moortypen nach der Vegetation, dem Nährstoffgehalt des Torfs und dem pH-Wert (Succow & Joosten 2001).

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Abb. 72: Die Wassernuss ist in Deutschland vom Aussterben bedroht.

Abb. 73: Moor im Kemeri-Nationalpark (Lettland).

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Man kann die Moore auch nach ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Wasserregime (Hydrologie) differenzieren. Beim Zuwachsen eines Sees entsteht ein Verlandungsmoor, durch Wasseranstieg in einer Senke entwickelt sich ein Versumpfungsmoor. Überflutungsmoore bilden sich in durch Flüsse oder Seen überfluteten Bereichen, Durchströmungsmoore finden sich in Landschaften mit einem starken und gleichmäßigen Wasserdargebot. Werden die Moore z.  B. in Hanglage nur oberflächlich überrieselt, spricht man von Überrieselungsmooren, zu denen in Mitteleuropa die Hangmoore oder die Quellmoore gehören. Im besonderen Interesse von Forschern, Naturliebhabern und Moorfreunden stehen die Kesselmoore. Es sind

II. Landschaften und Lebensräume

oft kleine abgeschieden im Wald liegende Moore mit ausgeprägter Vegetationszonierung. Ihre große Moortiefe und die oft gut erhaltenen Torfschichten, die vielfach bis zum Ausgang der letzten Eiszeit zurückreichen, spiegeln über viele tausend Jahre die Vegetationsgeschichte wider. Das Besondere an Kesselmooren ist, dass sie sich durch zusätzlichen Bodenwasserzufluss oberhalb des Grundwasserspiegels (Oberflächenzufluss) auf anderen Moortypen (meist Verlandungs-, seltener Versumpfungsmoore) entwickeln und so über den Grundwasserspiegel emporwachsen. Man nennt das auch sekundäre Moorbildung. An der nördlichen Verbreitungsgrenze der Regenmoore in der subpolaren Zone (nördlich des 66.  Breiten-

grades) können sich Hochmoore nur noch inselartig innerhalb von durch Mineralbodenwasser versorgten Mooren ausbilden. In ebener Lage sind diese Inseln unregelmäßig verteilt, in Hanglagen ordnen sie sich zu hangparallelen Wällen an. Derartige Moore, die hauptsächlich in den skandinavischen Gebirgen und in Finnland vorkommen, nennt man nach einem finnischen Ausdruck Aapa-

moor (Abb. 74). Im Grenzbereich des arktischen Dauerfrostbodens (s. S. 80) können die Stränge der Aapamoore zu meterhohen Torfhügeln, sogenannten Palsas, aufwachsen. Man spricht dann von einem Palsamoor. Trotz der extremen Lebensbedingungen sind viele heute selten gewordene Tier- und Pflanzenarten an Moore gebunden. Bei den Pflanzen gibt es neben dem

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Abb. 74: Aapamoor (Nationalpark Muddus, Schweden).

Sonnentau (Abb. 75) weitere Arten, die ihren Nährstoffbedarf durch den Fang kleiner Tiere decken wie das Fettkraut und der Wasserschlauch. Unter den Libellen sind viele zumindest in Mitteleuropa gefährdete Arten Moorbewohner wie z.  B. die Kleine Moosjungfer oder die Arktische Smaragdlibelle (Abb. 76).

Meere und Küsten Europa ist von sechs Meeren umgeben: dem Nordatlantik, zu dem auch die Nordsee gehört, dem Europäischen Nordmeer zwischen Norwegen, Spitzbergen und Island, dem Arktischen Ozean (Nordpolarmeer) nördlich von Skandinavien und Russland, der Ostsee als junges europäisches Binnenmeer und größtes Brackwassermeer der Erde, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Das an Europa angrenzende Kaspische Meer ist kein Meer, sondern ein Salzsee und damit der größte See der Erde.

Abb. 75: Rundblättriger Sonnentau mit kleinen Insekten auf den mit Klebedrüsen besetzten Blättern.

Abb. 76: Die Arktische Smaragdlibelle ist an Moore gebunden.

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Weltnaturerbe Wattenmeer Das Wattenmeer (Abb. 77) der Nordsee ist eine im Wirkungsbereich der Gezeiten liegende 450  km lange und bis zu 40  km breite Landschaft zwischen Dänemark im Nordosten und den Niederlanden im Südwesten. Den bei Niedrigwasser freiliegenden Grund der Nordsee bezeichnet man als Watt. Es handelt sich um das größte Wattenmeer der Welt. Seit 2014 ist mit der Aufnahme des dänischen Teils das gesamte Wattenmeer der Nordsee als UNESCO-Weltnaturerbe gesichert, insgesamt ein Gebiet von rund 11  500  km²  –  davon etwa 7650  km² in Deutschland, 2570   km² in den Niederlanden und 1220  km² in Dänemark  –  entlang der Küste mit einer Länge von etwa 500  km. Für die Anerkennung als UNESCO-Weltnaturerbe muss ein Gebiet „außergewöhnliche universelle Kriterien“ erfüllen, und hier sticht das Wattenmeer mit gleich drei Kriterien hervor: Es ist eine sehr junge Landschaft, deren Entwicklung in der letzten Eiszeit begann und heute noch weitergeht. In der „Kampfzone zwischen Land und Meer“ wird die Landschaft mit Salzwiesen, Dünen und Wattflächen ständig neu geformt. Weiterhin zeigt das Wattenmeer auf einmalige Weise, wie sich Pflanzen und Tiere an eine ständig wechselnde Landschaft anpassen. Es haben sich ganz spezielle Lebensgemeinschaften herausgebildet, die überwiegend von Naturkräften wie Wind und Wasser bestimmt werden. Auch das Kriterium „Vielfalt des Lebens“ wird mit rund 10  000 Arten von Einzellern, Pilzen, Pflanzen und Tieren wie Würmern, Schnecken und Muscheln, Fischen, Vögeln und Säugetieren beeindruckend erfüllt. 10 bis 12   Mio. Vögel sind auf ihrer Durch-

II. Landschaften und Lebensräume

reise von ihren nordischen Brutgebieten zu den südlichen Überwinterungsgebieten auf das Wattenmeer mit seiner enormen Produktion von Biomasse angewiesen. Die markante Kette der Nordseeinseln ist in verschiedene Zonen gegliedert. Seewärts liegt der Sandstrand, dann folgen landeinwärts die Dünen, nach ihrem Alter gegliedert in Weiß-, Grau- und Braundünen, jeweils gekennzeichnet durch eine spezielle Vegetation. Auf der dem Festland zugewandten Seite, wo wenig Strömung herrscht, haben sich Salzwiesen gebildet. Hier gedeihen nur Pflanzen, denen die Überflutung mit Salzwasser nichts anhaben kann. Je nach Höhenlage und damit der

Zahl jährlicher Überflutungen stellen sich unterschiedliche Pflanzengesellschaften ein. Brutvögel der Salzwiesen sind u. a. Austernfischer, Rotschenkel (Abb. 79) und Säbelschnäbler. Im Frühjahr bilden die Salzwiesen eine wichtige Nahrungsgrundlage für rastende Ringelgänse. Die Salzwiesen bilden den Übergang zum eigentlichen Watt, den Sand- und Schlickflächen zwischen Inseln und Festland, die bei Ebbe regelmäßig trockenfallen. Das Watt, das auf den ersten Blick eher unbelebt und „öde“ wirkt, ist bezüglich seiner Biomasse einer der produktivsten Lebensräume der Erde. Die für diese Produktivität verantwortlichen Organismen leben jedoch un-

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Abb. 77: Wattenmeer bei Dagebüll mit Hallig Oland.

Abb. 78: Der Wattwurm ist einer der „Small Five“ des Wattenmeers.

terirdisch und sind auch ziemlich unscheinbar. Die Basis des Ökosystems Wattenmeer bilden die „Small Five“ (Wilhelmsen & Stock 2015): der Wattwurm (Abb. 78), von dem auf 1  km² Watt bis zu 100 Tiere leben, die Herz-

Abb. 79: Der Rotschenkel, ein Brutvogel der Salzwiesen.

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II. Landschaften und Lebensräume

muschel, die Nordseegarnele (Nordseekrabbe), die Wattschnecke und die Strandkrabbe. Die einzige Muschelart, die dauerhaft auf der Wattoberfläche lebt, ist die Miesmuschel, die Plankton und Schwebstoffe aus dem Nordseewasser herausfiltert. Auf den Miesmuschelbänken werden die höchsten Stoffumsätze im Wattenmeer gemessen, außerdem bieten sie vielen weiteren Arten Halt im weichen Schlick. Ein gewichtiges Argument für den Schutz des Wattenmeers ist sein enormer Vogelreichtum. Insbesondere der Vogelzug verleiht ihm weltweite Bedeutung als wichtigster Zwischenstopp auf der Ostatlantikroute. Über 40 Vogelarten suchen das Wattenmeer in international bedeutenden Bestandsgrößen auf, mehr als 30 Arten brüten in Salzwiesen (Abb. 79), Dünen und auf Stränden. Bei der Hälfte aller Brutvögel gingen die Bestände in den letzten Jahren kontinuierlich zurück  –  die Gründe dafür sind nicht immer klar, aber Störungen durch den Menschen spielen häufig eine Rolle.

Trotz mehrfacher Rückschläge durch Krankheiten leben heute über 15  000 Seehunde im Wattenmeer, und auch die Kegelrobbe, die zwischenzeitlich gar nicht mehr im Wattenmeer vorkam, bildet heute wieder einige Kolonien mit insgesamt 2000 Tieren (s. S. 73).

Die Ostsee  –  wechselvolle Geschichte und vielfältige Küste Bevor die heutige Ausbildung der Ostsee erreicht war, hatten sich mit Gletscherwasser gefüllte große Senken und Seen gebildet, die vorübergehend Zugang zum Meer fanden, vom Meer wieder abgeriegelt wurden und schließlich über das Kattegatt eine Verbindung zur Nordsee aufbauten und sich mit dem einfließenden Salzwasser vermischten. Unter geologischen Gesichtspunkten gesehen ist die Ostsee also ein sehr junges Meer, dessen heutige Gestalt und Eigenart über mehrere Zwischenstufen durch das Zusammenspiel von Gletscherabtauung, Landhebung und Meeresspiegelanstieg entstand. Die wechselvolle Geschichte belegen die unterschiedlichen Schnecken- und Muschelarten, die man in den jeweiligen Ablagerungen fand, und die verschiedene Ansprüche an den Salzgehalt des Wassers haben. Heute weist die Ostsee aufgrund des eingeschränkten Wasseraustauschs mit der Nordsee und eines umfangreichen Süßwassereintrags aus Flüssen einen geringen Salzgehalt auf, der von West nach Ost abnimmt. Die Ostsee ist damit das größte Brackwassermeer der Erde. Außerdem unterliegt nur der westliche Teil einem geringen Gezeiteneinfluss, in der übrigen Ostsee gibt es weder Ebbe noch Flut. Diese Bedingungen machen das Meer besonders anfällig gegenüber Nährstoffeinträgen, die zu Sauerstoffmangel und somit zu einer „Todeszone“ in den tiefen Becken der Ostsee führen. Die Küstenformen der Ostsee sind ein Resultat eiszeitlicher Gletscherbewegungen und nacheiszeitlicher Geländehebung im nördlichen und Geländeabsenkung im südlichen Bereich der Ostsee, die bis heute andauern. Beeinflusst werden die Küsten außerdem durch die Lage in der Westwindzone, wodurch von Westen her beständig Sedimente angeschwemmt werden. Unterschieden werden folgende Erscheinungsformen: Die schwedisch-finnische Küste in der Zentralen, Nördlichen und Östlichen Ostsee ist fast ausschließlich eine Schärenküste. Schären sind der Küste vorgelagerte, kleine und kleinste felsige Inseln, die durch den Abschleifeffekt der Gletscher eine charakteristische Kuppenform haben. Weil die Ostsee nur geringe Gezeiten aufweist, sind sie über die letzten Jahrtausende praktisch unverändert ge-

blieben. Das flach abfallende Gelände wurde beim Abschmelzen des Eispanzers überflutet und die Kuppen ragten fortan als Inseln heraus. Durch die Geländehebung sind mit der Zeit weitere, vorgelagerte Schären entstanden. An einigen Stellen, z.  B. auf Gotland, Bornholm, Møn und Rügen, haben sich Kliffküsten gebildet. Diese ragen steil und schroff hervor und markieren Geländebrüche im geologischen Untergrund. Kliffkanten finden sich auch unterhalb des Meeresspiegels. Auch die Nordküste Estlands zum Finnischen Meerbusen hin ist durch solch eine Bruchlinie geprägt (Abb. 80). Von West nach Ost rückt dieses Kliff immer näher an die aktuelle Küstenli-

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Abb. 80: Kliffküste (Insel Saaremaa, Estland).

Abb. 81: Boddenküste bei Zingst (Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft).

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nie heran und erreicht teilweise knapp 60  m Höhe. Eine bekannte Steilküste befindet sich auf der Insel Rügen. Der weiße Kreidefelsen des Königsstuhls im dortigen Nationalpark Jasmund kann als totes Kliff bezeichnet werden, da er nicht ständig von der Brandung erreicht wird. Dagegen sind die benachbarten Wissower Klinken im Jahr 2005 ein Opfer der Meeresbrandung geworden. Die Ostküste Schleswig-Holsteins und Jütlands ist durch Förden gekennzeichnet. Diese schmalen langen Buchten sind bei der Entstehung der Ostsee durch den Anstieg des Meeresspiegels vollgelaufene ehemalige Gletscherzungenbecken. Der Unterschied zu Fjorden besteht darin, dass die Gletscher sich nicht vom Land zur See bewegten, sondern umgekehrt der Eispanzer über der heutigen Ostsee Gletscher vorantrieb, die nach dem Abschmelzen eine Rinne übrig ließen, die sich mit Seewasser füllte. Die vorpommersche Küste ist durch Bodden (Abb.  81) geprägt, die dadurch entstanden sind, dass vormalige Inseln durch stetige Zuführung von Material, haupt-

II. Landschaften und Lebensräume

sächlich Sand, durch schmale Brücken miteinander verbunden worden sind. Die rückwärtigen Gewässer, die Bodden, sind dadurch größtenteils von der Ostsee abgetrennt worden und mit ihr nur noch durch Rinnen verbunden. Die Ausgleichsküste bestimmt vor allem die Küstenlinie Polens von Stettin bis kurz vor Danzig und die lettische Küste. Hier sind die typischen reich gegliederten glazialen Küstenformen durch die Anströmung und den Sedimenttransport von Westen her ausgeglichen worden, sodass der Verlauf fast gerade ist. Dies ist möglich geworden, weil die zumeist vom Westwind geprägte Brandung auf eine Küstenlinie trifft, die von Südwest nach Nordost verläuft und dadurch Transportmaterial anlagert. Auch an der Küste Vorpommerns sind durch solche Ausgleichsprozesse Landzungen und Nehrungen entstanden wie z.  B. die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Die Haff- oder Nehrungsküste ist im Küstenabschnitt zwischen Danzig (Polen) und Klaipėda (Litauen) entstanden, das Stettiner Haff wird ebenfalls dazugezählt. Haf-

fe entstehen vor Flussmündungen als Brackwasserreservoire, die durch schmale Landzungen, die Nehrungen, von der übrigen Ostsee größtenteils abgetrennt wurden. Durch die ständige Zufuhr von Flusswasser schließen sich die Nehrungen nicht, sondern bleiben als langgestreckte Halbinseln bestehen, die eine Rinne zum Meer offen lassen. Die bekanntesten Haffe sind das Kurische (Abb. 82) und das Frische Haff.

Unbekanntes Schwarzes Meer Das Schwarze Meer (Abb.  83) ist mit einer Fläche von etwa 436 000  km² das größte Binnenmeer der Welt; über den Bosporus und die Dardanellen hat es einen einge-

schränkten Wasseraustausch mit dem Mittelmeer. Die Gewässer des über 2000  m tiefen Schwarzen Meers sind in Tiefen von 150 bis 200  m sauerstofffrei (anoxisch). Das hat zur Folge, dass in den tieferen Bereichen des Meers keine Organismen existieren können, die einen auf Sauerstoffatmung basierenden Stoffwechsel betreiben. Das Asowsche Meer ist ein Nebenmeer des Schwarzen Meers und ist mit diesem durch die Straße von Kertsch verbunden. Die Stadt Asow an der Mündung des Don ist Namensgeber für das Binnenmeer, das mit 37  600  km² etwa 70-mal so groß ist wie der Bodensee und etwas größer als Baden-Württemberg, die maxima-

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Abb. 82: Kurische Nehrung mit Haff.

Abb. 83: Schwarzes Meer, Kap Kaliakra (Bulgarien).

le Tiefe beträgt aber lediglich 14  m. Mit nur 8  m durchschnittlicher Wassertiefe ist das Asowsche Meer das flachste Meer der Erde, wodurch im Sommer ohne weiteres 25 bis 30 °C Wassertemperatur erreicht werden können, während es im Winter zwei bis vier Monate lang zufrieren kann. Die wichtigsten Zuflüsse sind der Don und der Kuban, sie sorgen aufgrund ihres permanenten Süßwasserzuflusses für einen niedrigen Salzgehalt, der nur ein Viertel des Salzgehalts im Schwarzen Meer beträgt.

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II. Landschaften und Lebensräume

Artenreiches Mittelmeer Das Mittelmeer weist aufgrund der hohen Verdunstungsraten und eines geringen Süßwassereintrags aus Flüssen einen hohen Salzgehalt auf. Es verfügt über einen eingeschränkten Wasseraustausch mit dem Atlantik und dem Schwarzen Meer und ist das Meer mit der größten biologischen Vielfalt in Europa. Laut Schätzungen kommen im Mittelmeer etwa 700 Fischarten vor. Das Standardwerk von Rupert Riedl (1925–2005) über die Flora

„Das Schwarze Meer ist das unbekannteste Meer Europas, denn lange Zeit war es  –  zumindest für Westeuropäer  –  q uasi unzugänglich. Verborgen blieben die faszinierenden Küsten mit ihren steilen Klippen, sandigen Ufern, gigantischen Vogelvorkommen und Hafenstädten. Verborgen blieb damit lange auch die Region, in der Geoforscher vermuten, dass hier die biblische Sintflut stattgefunden haben könnte. […] Lange war das Schwarze Meer ein reiner Binnenund Süßwassersee. Wie es dann zu einem salzigen Gewässer mit Zugang zum Mittelmeer wurde, beschäftigt bis heute die Geologen. Fest steht, dass irgendwann in der Geschichte der Bosporus durchbrach und dadurch eine dauerhafte Verbindung zum Mittelmeer entstand. Diese Verbindung besteht seit ca. 7000 Jahren. Wie es dazu kam, darüber gibt es unterschiedliche Theorien. Die in ihrem Charme bestechendste Vermutung ist, dass es vor 7000 Jahren zu einer gigantischen Überflutung des Schwarzen Meers kam. In dieser Überflutung sehen einige Wissenschaftler die biblische Sintflut. Die führenden Wissenschaftler, die die These von der Sintflut am Schwarzen Meer vertreten, sind Walter Pitman und William Ryan. Sie veröffentlichten ihre Thesen Mitte der 1990er-Jahre in einem Buch, das weltweit Furore machte. Pitman und Ryan vertreten darin die Ansicht, dass zum Ende der jüngsten Eiszeit die Gletscher abschmolzen, sodass der Spiegel der Weltmeere stark anstieg. Dadurch soll sich der Bosporus mit tosender Gewalt ins tiefer gelegene Schwarze Meer ergossen haben. Dieser Theorie widersprechen andere Wissenschaftler. So haben die Potsdamer Geowissenschaftler Helge Arz und Christian Borowski mithilfe von Bohrkernen herausgefunden, dass es Salzwassermuscheln auch schon vor 100  000 Jahren gab. Also war die Überschwemmung vor 7000 Jahren nicht das erste Salzwasser, das in das Schwarze Meer gelangt ist. Viele Wissenschaftler widersprechen zudem der Annahme, dass diese Sintflut die Ausmaße hatte, wie sie Ryan und Pitman nahelegen. Sie vermuten eher, dass das Salzwasser nicht über den Bosporus gestürzt, sondern gemächlich geschwappt ist. […] Neben dem Salzwasser aus dem Mittelmeer gelangen auch kontinuierlich gewaltige Süßwasser-

mengen ins Schwarze Meer  –  aus den großen Zuflüssen wie Donau, Dnjepr und Don. So kommt es, dass der Salzwassergehalt im Schwarzen Meer nur etwa halb so hoch ist wie in den großen Ozeanen. Zudem gibt es zwei Wasserschichten, die quasi keinen Wasseraustausch untereinander haben. Dabei schwimmt die leichtere, salzärmere Schicht über der schwereren, salzhaltigeren unteren Schicht. Vor etwa 4000 Jahren kippte das Wasser der unteren Schicht um. Wissenschaftler sprechen vom anoxischen beziehungsweise anaeroben, d. h. sauerstofffreien Wasser. Umweltwissenschaftler wie Professor Gerhard Bohrmann vom Marum-Zentrum der Uni Bremen erklären sich diesen Vorgang so: Das organische Material der oberen Schicht fiel kontinuierlich in die untere Schicht, wo es mikrobiologisch abgebaut wurde. Für diesen Vorgang wurde Sauerstoff benötigt. Zudem stieg vom Meeresboden Methangas auf. Auch Methan reagiert mit Sauerstoff und verbraucht ihn damit, sodass der Sauerstoffgehalt der unteren Schicht immer kleiner wurde, bis gar kein Sauerstoff mehr vorhanden war. Seitdem ist nur noch die obere Wasserschicht von etwa 150  m sauerstoffhaltig und die gewaltige Wassermenge darunter (das Schwarze Meer hat eine Tiefe von bis zu 2200  m) ist tot. Dort kann kein Lebewesen existieren  –  mit Ausnahme einiger hoch spezialisierter Mikroorganismen. In der oberen Schicht allerdings quoll das Schwarze Meer lange Zeit von Leben über. Die Fischgründe des Schwarzen Meers schienen lange Zeit unerschöpflich und es gab enorme Vorkommen von Wasservögeln. Die Umweltbelastungen der vergangenen 150 Jahre allerdings haben das Schwarze Meer zu einem der bedrohtesten Meere der Erde gemacht. Die Zuflüsse bringen heute kaum mehr Frischwasser, sondern Abwässer aus Industrie und Städten. Küstengebiete, die traditionell Laichplätze für Fische waren, sind vielfach zubetoniert und es gibt quasi keine Klärwerke. Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime im Ostblock wird dem Schwarzen Meer allerdings eine Atempause gewährt. Auch können die EU-Länder Bulgarien und Rumänien mit Geld aus Brüssel in Klärwerke investieren. […]“  (Quelle: www.planet-wissen.de)

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THEMA

Das Schwarze Meer

Abb. 84: An Mittelmeerstränden findet man häufig eigroße Seebälle aus den abgestorbenen Pflanzenteilen des Neptungrases, die deshalb auch als Neptunbälle bezeichnet werden. Abb. 85: Seegraswiese aus Neptungras.

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und Fauna des Mittelmeers (Riedl 1983) enthält mehr als 2000 Tier- und Pflanzenarten. Die wichtigste und gleichzeitig häufigste Gefäßpflanzenart im Mittelmeer ist das Neptungras (Posidonia oceanica). Die von ihm gebildeten Seegraswiesen sind die Grundlage bedeutender mariner Ökosysteme. Bekannt sind sie für die aus ihnen entstehenden Seebälle (Abb. 84). Der spanische Meeresbiologe Carlos Duarte vom Mittelmeerinstitut der Balearen in Esporles/ Mallorca stellte fest, dass Seegraswiesen doppelt so viel CO2 speichern können wie z.  B. eine gleich große Fläche Regenwald, was ihnen eine wichtige Rolle beim Klimaschutz zuweist. Zudem ist das Neptungras (Abb. 85)

II. Landschaften und Lebensräume

Brutraum für viele Fische und Lebensraum für Schnecken. Darüber hinaus schützt es Küsten vor Erosion und trägt so dazu bei, dass Strände nicht abgetragen werden. Außerdem nimmt das Seegras viele über die Flüsse ins Meer gespülte Nährstoffe auf, schützt so das Meer vor Überdüngung und hält das Wasser klar und sauber. Allerdings wird das Seegras zum einen durch die zunehmende Klimaveränderung und Erwärmung der Meere stark geschädigt, zum anderen wird es durch ankernde Schiffe aus dem Meeresboden herausgerissen und vernichtet. Zwischen den Baleareninseln Formentera und Ibiza besteht seit 1999 ein auf der Liste des UNESCO-Welterbes geführter Naturpark, der „Parque Natural de Ses Salines d’Eivissa i Formentera“. Die dort befindlichen größten zusammenhängenden Flächen an Neptungras werden jedes Jahr durch starken Motorbootverkehr und ankernde Yachten erheblich geschädigt und reduziert. Ein Meeresbiologe aus Formentera filmte im Sommer 2011, wie eine 100  m lange Motoryacht an einem einzigen Tag 1  ha Seegras vernichtete. Im Mittelmeer liegen zahlreiche Inselgruppen und einzelne größere und kleinere Inseln. Die flächengrößte Insel ist Sizilien, gefolgt von Sardinien. Beide Inseln sind zugleich auch eigenständige Regionen Italiens. Weitere große Mittelmeerinseln sind  –  in absteigender Reihenfolge  –  Zypern, Korsika und Kreta. Zypern (das geographisch nicht zu Europa gehört) und Malta mit seinen Nachbarinseln sind die einzigen Inselstaaten des Mit-

telmeers. Sizilien ist mit mehr als 5   Mio. Einwohnern mit Abstand die bevölkerungsreichste Mittelmeerinsel.

Robben in Europa Wenn es um Robben in Europa geht, denken die meisten zunächst an den Seehund, vielleicht noch an die Kegelrobbe. Es gibt aber in Europa noch weitere Robbenarten. Zunächst jedoch zum Seehund (Abb. 86), einer kleinen und schlanken Robbe, die auf der Nordhalbkugel im Atlantik und Pazifik vorkommt. Der Seehund bevorzugt Küsten mit trockenfallenden Sandbänken, auf denen er vor Feinden sicher ist, man findet ihn aber auch an geschützten Felsküsten. Die weltweite Gesamtpopulation der Seehunde wird auf 500  000 Individuen geschätzt, von diesen leben 90  000 an europäischen Küsten. Während der Seehund an der gesamten Nordseeküste verbreitet ist, ist er in der Ostsee eine extreme Seltenheit  –  der Bestand wird auf 250 Tiere geschätzt. Die Ostsee-Seehunde leben an den Küsten dänischer Inseln und des südlichen Schwedens. Umherwandernde junge Seehunde kommen manchmal auch an die deutsche Ostseeküste. Die Kegelrobbe (Abb. 87) ist neben dem Seehund die zweite an deutschen Küsten verbreitete Robbenart und daneben das größte in Deutschland freilebend vorkommende Raubtier (bis zu 300  kg schwer und 2,5  m lang). Der Name leitet sich von den kegelförmigen Zähnen und

der Kopfform der Robbe ab. Vom Seehund unterscheidet sich die Kegelrobbe durch ihre viel massigere Gestalt, außerdem haben Seehunde einen rundlichen, Kegelrobben einen eher spitz zulaufenden Kopf. Aus dem Wattenmeer der Nordsee war die Kegelrobbe durch Bejagung fast verschwunden, erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kehrten die an felsigen und unzugänglichen Küsten der britischen Inseln überlebenden Tiere allmählich zurück. Die Ostsee-Kegelrobbe gilt

Abb. 86: Seehund.

Abb. 87: Kegelrobbe, deutlich größer als ein Seehund und mit kegelförmiger Schnauze.

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Abb. 88: MittelmeerMönchsrobbe mit charakteristischer doppelter Schwanzflosse.

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als eigenständige Unterart. Sie war früher in der gesamten Ostsee verbreitet, ist aber durch intensive Bejagung in die nördlichsten Teile (Küsten Schwedens, Finnlands, Lettlands und Estlands) zurückgedrängt worden. Inzwischen kommen aber immer öfter wandernde  –  zumeist jüngere  –  Kegelrobben an die Küsten Polens und Mecklenburg-Vorpommerns und sind regelmäßige Gäste im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft sowie dem Greifswalder Bodden. Die eng mit dem Seehund verwandte Ringelrobbe, die häufigste Robbenart der Arktis, bewohnt neben dem Arktischen Ozean auch die nördlichen Bereiche der Ostsee. Der Name Ringelrobbe beruht darauf, dass das Fell mit hellen Ringen versehen ist, die dunkle Flecken auf grauem Grund umranden. Die Ostsee-Ringelrobbe lebt in den kalten Bereichen der Ostsee, vor allem an den Küsten Schwedens, Finnlands und Estlands, nur sehr selten verirren sich einzelne Ringelrobben an die deutsche Ostseeküste. Daneben gibt es zwei im Süßwasser lebende Unterarten, eine im russischen Ladogasee, dem größten See Europas, und eine im finnischen Saimaa-See. Die einzige Robbenart des Mittelmeers ist die vom Aussterben bedrohte Mittelmeer-Mönchsrobbe (Abb. 88). Mit geschätzten 350 bis 450 Individuen ist sie eines

II. Landschaften und Lebensräume

der seltensten Säugetiere Europas. Sie ist deutlich größer als ein Seehund, charakteristisch ist die doppelte Schwanzflosse. Die größten Populationen befinden sich an den griechischen und türkischen Küsten, allein im griechischen „Alonnisos Marine Park“ (Nördliche Sporaden) sollen zwei Drittel des Bestands beheimatet sein. Zum Gebären sucht die Mönchsrobbe typischerweise Höhlen auf, die nur unter Wasser erreichbar sind, wobei historische Beschreibungen zeigen, dass bis zum 18. Jahrhundert auch offene Strände genutzt wurden. Das Kaspische Meer, das eigentlich ein Salzsee ist (s.  o.), hat seine eigene Robbenart, die Kaspische Robbe. Sie ist mit einer Länge von maximal 1,5  m noch etwas kleiner als der Seehund; Männchen tragen ein dunkles Fleckenmuster, während Weibchen hellere und schlechter sichtbare Flecken auf dem Rücken tragen. Die Kaspische Robbe wurde sehr stark bejagt; noch heute werden jährlich etwa 25 000 Robben kontrolliert wegen ihrer Häute erlegt, daneben gibt es seit dem Zerfall der Sowjetunion vermehrt Probleme durch Wilderer. Die Gifteinleitungen in das Kaspische Meer und eine damit einhergehende Schwächung des Immunsystems der Robben tragen zu stetigem Bestandsrückgang bei. Schätzungen über die Gesamtpopulation gehen weit auseinander. Ursprünglich mag es über 1   Mio. Kaspische Robben gegeben haben. In den 1980er-Jahren wurde der Bestand auf knapp 400 000 geschätzt, inzwischen dürfte es nur noch etwas über 100 000 Robben geben; die IUCN (International Union for Conservation of Nature) führt die Kaspische Robbe daher als gefährdet. Im Arktischen Ozean kommen als weitere Robbenarten die Sattelrobbe, die Bartrobbe, die Klappmütze und das Walross vor.

„Whale Watching“ in Europa Wale werden in der Regel kaum mit Europa in Verbindung gebracht, allenfalls mit entlegenen Regionen wie Island oder den Azoren. Dabei kann man auch in Mittelund Südeuropa Wale beobachten, wenn auch in der Regel nicht die großen und spektakulären Arten wie Buckelwale, Pottwale oder Blauwale. Mit einer Körperlänge bis 1,80  m ist der Schweinswal (Abb.  89) in europäischen Gewässern der kleinste Wal. Sein Verbreitungsgebiet umfasst große Teile der nördlichen Erdhalbkugel; die östliche Atlantikküste bevölkern die Schweinswale, deren Population auf 300 000 Exemplare geschätzt wird, von Nordafrika über die gesamte europäische Küstenlinie, inklusive der Nordsee, bis an die Küsten von Spitzbergen.

Im Nationalpark „Niedersächsisches Wattenmeer“ besteht im Frühjahr zwischen März und Mai die beste Gelegenheit zum „Whale Watching“. Man braucht allerdings etwas Glück und Geduld, um die kleinen Meeressäuger zu entdecken, da sie nur kurz zum Luftholen auftauchen. Schweinswal-Beobachtung unter fachlicher Leitung bietet das Wattenmeer-Besucherzentrum am Wilhelmshavener Südstrand an  –  einem der besten Punkte zum Schweinswal-Watching von Land aus. Der Schweinswal nutzt insbesondere das nördliche Wattenmeer um Sylt und Amrum als Kinderstube, weshalb dort 1999 ein Walschutzgebiet eingerichtet wurde. Immer wieder stranden auch die bis zu 50  t schweren Pottwale an der Nordseeküste, im Februar 2016 waren es 29 Tiere innerhalb weniger Wochen. Bis Ende der 1990er-Jahre war es noch weitgehend unbekannt, dass sich in der Straße von Gibraltar, der Verbindung von Mittelmeer und Atlantik an der Engstelle zwischen Europa und Afrika, zahlreiche Wale und Delfine aufhalten. Als Erste wurde die Schweizerin Katharina Heyer darauf aufmerksam und gründete 1998 die Stiftung „firmm“ („foundation for information and research on marine mammals“). Zweck der Stiftung sind Information und Forschung zum Schutz der Meeressäu-

Abb. 89: Schweinswal auf einer Briefmarke aus Deutschland.

ger (Heyer 2016). Von Tarifa aus, der südlichsten Stadt des europäischen Festlands, erforscht die Stiftung Wale und Delfine in der Straße von Gibraltar und bietet interessierten Laien Whale-Watching-Ausfahrten sowie Beobachtungswochen an. Es kommen dort regelmäßig drei Delfinarten (Gemeiner Delfin, Blau-Weißer Delfin, Großer Tümmler) und vier Walarten (Grindwal, Schwertwal, Pottwal, Finnwal) vor; bei fast jeder Ausfahrt werden Grindwale (Abb. 90) und mindestens eine Delfinart gesichtet. In der Wasserstraße konzentriert sich natürlich auch der

Abb. 90: Grindwale in der Straße von Gibraltar, im Hintergrund ein Jungtier.

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Abb. 91: Blauwal, mit einer Körperlänge von bis zu 33 m und einem Gewicht von bis zu 200 Tonnen das schwerste bekannte Tier der Erdgeschichte.

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Schiffsverkehr: 80  000 Frachter (zuzüglich Fischerei- und Fährschiffe) passieren jährlich die Meerenge. Unzureichende Abwasserreinigung und der Erdölumschlagplatz Algeciras mit seinen Raffinerien stellen einen massiven Eingriff für die ganze Region dar (Quelle: www.firmm.org, www.wale.info). In Island kann man an verschiedenen Orten Wale beobachten, die selbst ernannte „Whale-Watching-Hauptstadt Europas“ ist Husavik im Norden der Insel  –  bei ca. 2500 Einwohnern gibt es hier mehr als 50  000 Whale-Watcher pro Jahr. Hier kann man das mit einer Körperlänge von bis zu 33  m und einem Gewicht von bis zu 200 Tonnen schwerste bekannte Tier der Erdgeschich-

II. Landschaften und Lebensräume

te beobachten, den Blauwal (Abb. 91). Aber auch weitere Arten wie Pottwal, Schwertwal oder Zwergwal sind um Island zu sehen. Die Azoren waren aufgrund ihrer Lage mitten im Atlantik früher ein bedeutender Ausgangspunkt für den Walfang; heute kann hier etwa ein Drittel aller auf der Welt vorkommenden Walarten beobachtet werden, u. a. Blauwale, Finnwale und Pottwale. Einige Wale leben permanent in den Gewässern um die Azoren, andere ziehen auf ihren Wanderungen nur vorbei. Die am häufigsten zu sehenden Wale sind Pottwale; die Männchen sind das ganze Jahr über hier, die Weibchen mit den Jungtieren vor allem von Mai bis Oktober.

Wüste Gibt es in Europa Wüsten? Wenn man von Wüsten spricht, bringt man diese nicht unbedingt mit Europa in Verbindung, sondern z.  B. mit Afrika, Asien und Australien. Bevor man fragt, ob es in Europa Wüsten gibt, muss man zunächst definieren, was man unter einer Wüste versteht. Das Wort „wüst“ kommt aus dem Althochdeutschen und heißt „leer, öde“. Als Wüsten bezeichnet man die vegetationslosen oder vegetationsarmen Gebiete der Erde. Die Ursachen für die fehlende oder karge Vegetation können unterschiedlich sein: Entweder ist es zu warm oder zu trocken, dann spricht man von einer Trocken- oder Hitzewüste, oder es ist zu kalt, dann hat man

eine Kälte- oder Eiswüste vor sich. Auch aufgrund von Bodenerosion vegetationsarme Gebiete werden oft im allgemeinen Sprachgebrauch „Wüsten“ genannt; in der Fachsprache wurde hierfür der englische Begriff Badlands übernommen. Eine Halbwüste befindet sich meist im Übergangsbereich zwischen Wüste und Steppe bzw. Savanne (s. S. 88). Ein Beispiel für eine Trockenwüste in Europa ist die Desierto de Tabernas (Wüste von Tabernas) in Andalusien (Spanien). Sie liegt etwa 30  km nördlich der Provinzhauptstadt Almería und erstreckt sich über 280  km². Nach klimatischen und vegetationskundlichen Kriterien handelt es sich um eine Halbwüste bzw. um von Erosionsrinnen zerschnittene Hügel, also um Badlands (Abb. 92). Es ist die trockenste Region in Westeuropa. In der Flora des Gebiets mischen sich mediterrane Arten

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Abb. 92: „Badlands“ in der Wüste von Tabernas (Andalusien, Spanien).

Abb. 93: Wüste im Biosphärenreservat Cherny Zemli im nördlichen KaukasusVorland (Russland).

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mit Wüstenarten. Die offizielle Tourismus-Webseite von Andalusien wirbt damit, dass in der Wüste von Tabernas zwei Igelarten vorkommen: der „normale“ Europäische Igel und der Algerische Igel, der im Mittelmeergebiet vom Menschen eingeführt wurde. Von der „ersten Wüste Europas” wird teilweise gesprochen, wenn von Kalmückien in Südrussland, nordwestlich des Kaspischen Meers, die Rede ist. Dort herrscht eigentlich Steppe vor, aber infolge schlecht geplanter und durchgeführter Bewässerungsprojekte ist Kalmückien seit den 1960er-Jahren stark von Wüstenbildung (Desertifikation) betroffen. 1993 wurde dort das Biosphärenreservat Cherny Zemli („Schwarzes Land“; Abb. 93) ausgewiesen, das den Manytsch-Gudilo-See und

II. Landschaften und Lebensräume

die umgebenden Trockengebiete enthält. Dort kommen noch Restbestände der vom Aussterben bedrohten Saiga-Antilope (s.  S.  97) vor, die in offenen Steppen und Halbwüsten lebt.

Dünen Sanddünen bringt man weltweit oft mit Wüsten in Verbindung, in Europa jedoch am ehesten mit Küsten. Küstendünen bilden sich an Flachküsten, der Sand wird durch vorherrschende auflandige Winde vom Sandstrand herangeweht, stammt also ursprünglich aus dem Meer. Es gibt aber auch Binnendünen abseits der Küsten, die ursprünglich im kalten Tundrenklima der letzten Kaltzeit gebildet wurden. Zunächst wurden diese als

Wanderdünen ständig vom Wind verlagert, schließlich aber durch die aufkommende Vegetation festgesetzt. Unter dem Einfluss des Menschen wurde dann teilweise die Vegetationsdecke z.  B. durch intensive Beweidung zerstört und die Sandverwehung wieder aktiviert. So begruben auf der Kurischen Nehrung (heute Litauen und Russland) riesige Wanderdünen immer wieder Ortschaften unter sich. Erst in der zweiten Hälfte des 19.   Jahrhunderts gelang es, die Dünen zu bepflanzen und zu stabilisieren. Die Parnidis-Düne bei Nida (Litauen, Abb. 94) ist eine der größten Dünen Europas. Früher auch „ostpreußische Sahara“ genannt, dient sie immer

wieder als Filmkulisse. Als größte Wanderdüne Europas gilt gemeinhin die Dune du Pilat bei Arcachon in Frankreich, die zurzeit etwa 110  m hoch ist. Über 260  m hoch ist jedoch die Düne von Sarykum (Abb. 95) im Osten Dagestans (Russland) unweit des Kaspischen Meers. Zahlreiche Tiere haben sich auf den besonderen Lebensraum Sanddüne spezialisiert, sie werden als psammophil (sandliebend) bezeichnet. Die extremen Lebensbedingungen  –  vornehmlich die extremen Schwankungen und Maxima der Temperatur, aber auch die überwiegend hohe Trockenheit der obersten Bodenschicht  –  erfordern spezielle Anpassungen. Insbesondere unter der Insek-

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Abb. 94: ParnidisDüne auf der Kurischen Nehrung (Litauen).

Abb. 95: Düne von Sarykum (Russland).

tenordnung der Hautflügler (Bienen, Wespen, Ameisen) finden sich zahlreiche an Sanddünen angepasste Arten. Vor allem Grabwespen bietet dieser Lebensraum ideale Bedingungen, da im Sand ohne hohen Energieaufwand gegraben werden kann. Außerdem nutzen sie im Gegensatz zu den Wildbienen überwiegend die Vorderbeine zum Graben. Die Kreiselwespe (Abb. 96) ist eine Charakterart der mit Silbergras bewachsenen halboffenen Sandflächen, wo sie Kolonien bildet. Die Tiere jagen

Fliegen, besonders Schwebfliegen und Bremsen, mit denen sie ihre Larven während deren gesamten Entwicklung mit Nahrung versorgen. Nach jeder Fütterung wird der Nesteingang wieder sorgfältig mit Sand verschlossen. Von den über 450 Arten mitteleuropäischer Wildbienen ist etwa jede vierte ein Bewohner der Sandgebiete. Viele legen ihre Nester im lockeren Sand an, andere sind spezialisiert auf die hier typisch vorkommenden Pflanzen.

Kältewüsten Als Kältewüsten bezeichnet man Gebiete im Übergang von der Tundra (s. S. 93) zu den Eiswüsten, die weniger als 10  % Pflanzenbedeckung aufweisen. Der ganzjährig gefrorene Permafrostboden verhindert das Eindringen von Wurzeln und die Lufttemperatur ist so niedrig, dass das Pflanzenwachstum erheblich eingeschränkt ist. Daher finden sich auch für Tiere nur sehr eingeschränkte Lebensräume. Ein weiteres Merkmal der polaren Kältewüsten sind trockene Luft sowie starke Winde (Blizzards). Durch den fehlenden Schutz einer Pflanzendecke bzw. der daraus entstehenden Humusschicht

Abb. 96: Die Kreiselwespe ist eine Charakterart halboffener Sandflächen.

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II. Landschaften und Lebensräume

kommt es bei den eisigen Temperaturen zur sogenannten Frostverwitterung der Gesteine. Das Produkt wird „Frostschutt“ genannt. Charakteristisch für die verschiedenen Formen der Kältewüste ist eine offene, steinige oder sandige und zum größten Teil fast vegetationsfreie Landschaft. Vielfach sind die Flechtenkrusten auf den Gesteinen die einzigen sichtbaren Lebewesen. In geschützten Bereichen kommen zudem vorwiegend Moose und Gräser vor. Typisch für den Übergangsbereich zu den Tundren ist das unruhige Bodenrelief, das häufig durch Kuppen und Mulden oder netz- bzw. ringartig angeordnete Wälle gekennzeichnet ist. Es handelt sich dabei um sogenannte Frostmusterböden (Abb. 97). Im Wesentlichen führt das kurzzeitige, alljährlich erneut stattfindende Auf- und Abtauen des Bodens über dem Permafrost zu diesen ungewöhnlichen Strukturen. In Europa gibt es Kältewüsten z.  B. auf Island und Spitzbergen, aber auch in Hochgebirgen im Umfeld der Gletscher (subnivale Zone).

Felsen und Gesteinshalden Fels- und Steinwüsten sind weltweit wesentlich häufiger als Sandwüsten. Felswände in gemäßigten Breiten weisen ebenfalls wüstenartige Bedingungen auf, da sie sich durch große Temperaturschwankungen und extreme Lebensfeindlichkeit auszeichnen. An senkrechten und steilen Felsbereichen kann sich keine Erde halten, diese Flächen sind Überlebenskünstlern wie Algen, Flechten und Moosen vorbehalten. Höhere Pflanzenarten finden sich nur auf Felsköpfen oder in Felsspalten, wo sich flachgründiger Boden bilden kann. Auch hier sind die Bedingungen noch so extrem, dass sich nur eine hochspezialisierte Vegetation halten kann. Der Vorteil: Es gibt dort wenig Konkurrenz, die einem den Platz und das Licht streitig machen kann (Abb.  100). Daher halten sich Felspflanzen auch dann, wenn sich ringsum die Vegetation verändert, wie nach der letzten Kaltzeit. Pflanzen und Tiere, die sich seit der Eiszeit an bestimmten Standorten gehalten haben, ansonsten aber verschwunden sind, nennt man Eiszeit- oder Glazialrelikte.

Abb. 97: Steinringe auf Permafrostboden (Spitzbergen, Norwegen).

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THEMA Abb. 98: Weitgehend vegetationslose Fläche im isländischen Hochland, im Hintergrund ein Gletscher.

Wüsten auf Island  –  menschengemacht? Nur 1  % Islands ist von Wald bedeckt, ein Großteil der Insel besteht aus karger Tundra (s. S. 93) oder ist sogar weitgehend vegetationslos, vor allem im Umfeld der Gletscher (Abb. 98). Doch Island leidet weder unter Wassermangel, noch an extremen Temperaturen. Es regnet zehn Tage pro Monat und die Temperaturen liegen circa 5 bis 10 °C unter den deutschen Werten. Isländische Wissenschaftler stellen immer wieder die Frage: Wieso wächst in Island nichts, wo es doch genug Wasser gibt? Flüsse und Seen prägen die Landschaft. Prof. Dr. Ólafur Arnalds, Bodenspezialist der Agrarwissenschaftlichen Hochschule Islands, erklärt es so: „Für uns Isländer sind Wüsten ein wichtiges Thema, denn wir haben Wüsten, aber auch genügend Regen. Noch immer assoziieren Menschen mit Wüsten Hitze und Trockenheit. Dabei ist die entscheidende Frage: Was passiert eigentlich mit dem Wasser, wenn es auf den Boden kommt. Wird es dort gespei-

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II. Landschaften und Lebensräume

chert und an Pflanzen weitergegeben? Und wachsen auf dem Boden überhaupt verschiedene Pflanzen? Es ist also keine Frage des Klimas, sondern des Bodens.“ Deshalb möchten die isländischen Experten eine Neudefinition des Begriffs Wüste bewirken. Prof. Arnalds sagt weiter:  „Das Erdreich besteht aus mehreren Schichten. Außer der mittleren Erdschicht, die vor allem als Wasserspeicher dient, gibt es die obere Schicht, die die Nährstoffe trägt. Sie ist voll mit Leben. Die obere Schicht sorgt dafür, dass das gespeicherte Wasser an die Pflanzen abgegeben wird. Fehlt dieser obere Teil, nützt das ganze Wasser nichts. Es kann nichts mehr wachsen. Deshalb muss Erderosion unter allen Umständen verhindert werden. Die obere Schicht darf unter keinen Umständen verloren gehen.“ Die Erosion ist also der Hauptgrund für die vegetationslose Landschaft auf Island. Die Zerstörung des Bodens vollzieht sich in langsamen Etappen. Ei-

Bereits 1907 wurde auf Island der „Soil Conservation Service of Iceland“ gegründet, um der Erosion und dem Verlust fruchtbaren Landes entgegenzutreten. Er betreibt Aufklärung an den Schulen und führt Trainingsprogramme an den Universitäten durch. Dr. Andres Arnalds, Agrarwissenschaftler des Soil Conservation Services sagt: „Das Weiden schadet nicht, es kann sogar nützlich sein. Aber man muss es planen und managen. Schafe kann man nicht einfach grasen lassen. Schnell sind grüne Flächen dann überweidet. Und sobald das Land geschädigt ist, z.  B. durch Überweidung, wird das Grasen zum entscheidenden Problem. Es schadet dem Land und begünstigt die Erosion. Vor allem verhindert es, dass sich der Boden erholt. Wenn die neuen Pflänzchen immer wieder abgefressen werden, wächst irgendwann auf dem Boden einfach nichts mehr.“  (Quelle: www.daserste.de)

Abb. 99: Schafe auf Island.

nes der Probleme sind frei weidende Schafe und Pferde auf der Insel, insgesamt knapp 600 000. Sie reißen die geschlossene Vegetationsdecke zuerst auf. Wind und Wasser finden erste Angriffspunkte im angeschlagenen Grün. Der ständige Wind untergräbt Pflanzen und Sträucher. Unablässig bläst er Sandkorn für Sandkorn fort. Der Prozess dauert Jahrzehnte, allmählich wird die fruchtbare Schicht abgetragen. Das Problem ist im Kern menschengemacht. Ursprünglich war Island zu einem Drittel mit Wald bedeckt, die Wikinger holzten vor rund 1000 Jahren die meisten Bäume Islands ab. Die Vorfahren brachten Schafe mit und ließen sie frei weiden  –  bis heute ein Grundrecht auf Island (Abb. 99). Die Schafe sind geländegängig und überall zu finden. Jeder neu sprießende Keim fällt ihnen zum Opfer. Ökologen und Agrarwissenschaftler setzen sich deshalb für Zäune ein  –  ein schwieriges Unterfangen.

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Abb. 100: Weißstörche brüten auf Granitblöcken (Los Barruecos, Extremadura, Spanien).

Abb. 101: Blockhalde, bei der im Sommer am Hangfuß Kaltluft austritt (Biosphärengebiet Schwarzwald, Deutschland).

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II. Landschaften und Lebensräume

Ein weiterer Extremlebensraum sind Gesteinshalden, die durch Frostsprengung harter Gesteine entstehen (Abb.101). In tieferen Lagen wurden sie während der Kaltzeiten gebildet, in hohen Gebirgslagen geschieht das noch heute. Je nach Größe und Form der Steine spricht man von Blockhalden, Schutthalden oder Geröllhalden. Insbesondere bei Blockhalden gibt es den Effekt, dass im Sommer die warme Luft am oberen Rand der Halde eindringt, sich abkühlt und unten als kühle und feuchte Luft ausströmt. Dadurch können sich am unteren Ende der Blockhalden Pflanzen behaupten, die ansonsten nur noch in höheren Lagen oder weiter nördlich vorkommen. Im Winter kehrt sich der Effekt um, kalte Luft strömt unten ein und tritt oben erwärmt wieder aus  –  dort kommen in der Regel wärmeliebende Pflanzen vor. Blockhalden weisen auch eine ganz spezielle Tierwelt auf; so wurde in einer Blockhalde im Südschwarzwald eine Käferart entdeckt, die weltweit nur dort vorkommt.

Karst Der Karst ist eine Landschaft in Slowenien (historische Landschaft Krain) an der Grenze zu Italien im Hinterland der Bucht von Triest; es handelt sich um die nörd-

liche Spitze des Dinarischen Gebirges. Diese Landschaft ist namensgebend für das geologische Phänomen des Karsts, das hier von Wissenschaftlern der Habsburgermonarchie erstmals eingehend erforscht wurde. Da diese in deutscher Sprache publizierten, hat sich international der deutsche Name Karst gegen das slowenische und kroatische „kras“ und das italienische „carso“ durchgesetzt. Alle diese ähnlichen Namen stammen vom lateinischen carsus (= Stein, Fels) ab. Die Formen des Karsts entstehen dadurch, dass Kalkgestein durch die Kohlensäure des Regenwassers gelöst wird und das Wasser daher ins Erdinnere eindringt, wo ein verzweigtes Netz unterirdischer Flüsse und Höhlen entsteht. Dies hat auch zur Folge, dass Karstlandschaften meist sehr trocken sind. Kommen noch winterliche Orkanstürme (Bora-Winde) dazu wie beim dinarischen Karst, entsteht der weitgehend humus- und vegetationslose „nackte Karst“. Durch Lösungsverwitterung des Kalkgesteins entstehen auch die sogenannten Karren oder Schratten, das sind Gesteinsklüfte, die den Weg des Wassers von der Oberfläche in das Innere des Karsts vorzeichnen. So entstehen manchmal ganze Karrenfelder wie z.  B. im Gebirgsstock der Schrattenfluh (Abb. 102) im Kanton Luzern in der Schweiz (Biosphäre Entlebuch)

Abb. 102: Schrattenfluh mit „Karrenfeldern“ (Biosphärenreservat Entlebuch, Schweiz).

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Abb. 103: Die Höhlen von Šcokjan (Slowenien) wurden nach 1986 in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen.

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oder in der Karstlandschaft des Burren in Irland (s. Abb.  199). Ein weiteres Phänomen von Karstgebieten ist die Entstehung von Dolinen, auch als Erdfälle oder Karsttrichter bezeichnet. Dolinen sind meist runde oder elliptische, oberirdisch sichtbare Einbruchstrichter. In aller Regel zeichnen sich Karstlandschaften durch Höhlen aus, so auch der Dinarische Karst. Auf der UNESCOWelterbeliste stehen die Höhlen von Škocjan (Abb. 103) in Slowenien unweit vom italienischen Triest. Im ersten Abschnitt der Kalksteinschichten fließt die Reka (das ist auch das slowenische Wort für Fluss) noch oberirdisch durch eine 4  km lange Schlucht. Vor einigen 100  000 Jahren stürzten Höhlendecken über dem Fluss ein, dadurch entstanden zwei bis zu 165  m tiefe Einsturzdolinen. Die Reka versickert dann in ein insgesamt 6  km langes Höhlensystem, die Höhendifferenz zwischen dem höchsten Eingang und dem tiefsten Punkt beträgt über 200  m. Die größte Halle ist über 300  m lang und fast 150  m hoch. Neben den Höhlen sind sogenannte Karstpoljen das faszinierendste Phänomen einer Karstlandschaft. Sie entstehen dort, wo Kalkgestein (oder Dolomit) am Rande einer Vertiefung mit wasserundurchlässigem Lehmboden durch Regen- oder Höhlenwasser gelöst wird.

II. Landschaften und Lebensräume

Die Flächen wachsen dadurch langsam in die Breite und sind umschlossen von oft steilen und hohen Bergen (Schneider-Jacoby & Strumberger 2011). Die Wasserläufe in diesen Karstfeldern werden von unterirdischen Quellen gespeist und bei hohen Niederschlägen im Winterhalbjahr oft überschwemmt. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür ist der Cerkniško jezero (Zirknitzer See, Abb. 104) im Südwesten von Slowenien unweit der Höhlen von Škocjan. Der See weist bei geflutetem Karstbecken eine Fläche von 26 bis 38  km² auf; mit einer Länge von über 10  km und einer Breite von fast 5  km ist er der größte See in Slowenien und auch weltweit der größte seiner Art. Das größte regelmäßig überschwemmte Karstpolje der Welt ist das Livanjsko Polje in Bosnien (Abb. 105). Über Jahrtausende hinweg hat sich das Wasser hier über komplexe Lösungsvorgänge in das Kalkgestein des Dinarischen Gebirges gefressen und eine 400  km² große Ebene geschaffen. Das Wasser strömt unterirdisch aus mehreren anderen Poljen, die stufenweise in Abständen von etwa 150 Höhenmetern oberhalb im Dinarischen Gebirge liegen, ins Livanjsko Polje. Eingerahmt von schroffen Felswänden, konnte sich hier ein bunter Teppich

Abb. 104: Cerkniško jezero (Zirknitzer See), ein periodisches Gewässer in einem Karstbecken (Slowenien).

Abb. 105: Livanjsko, Polje (Bosnien und Herzegowina), das größte überschwemmte Karstpolje der Welt.

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THEMA

Riesenschlangen in Europa Abb. 106: Westliche Sandboa.

Ähnlich wie bei den Wüsten bringt man auch Riesenschlangen kaum mit Europa in Verbindung. Doch mit der Westlichen und Östlichen Sandboa gibt es sogar zwei europäische Arten aus dieser hauptsächlich in den Tropen verbreiteten Schlangengruppe. Mit einer Körperlänge von bis zu 80 cm sind sie zugegebenermaßen nicht gerade riesig. Das Verbreitungsgebiet der Westlichen Sandboa (Abb. 106) reicht vom Iran

und Irak über den mittleren Osten und Nordafrika bis auf den Balkan und nach Südosteuropa sowie über den Kaukasus bis an das Kaspische Meer. Dort schließt sich das Verbreitungsgebiet der Östlichen Sandboa an, das sich bis nach Zentralasien zieht. Die beiden Sandboas sind die Überlebenden einer Gattung, die im Miozän (vor 5 bis 20 Mio. Jahren) im gesamten Mittelmeergebiet vorkam.

unterschiedlicher Lebensräume entwickeln: Röhrichte, Moore, Grasland und Wälder liegen dicht beieinander und bergen eine große Artenvielfalt. Die Wiesen in der Umgebung des „Kranichmoors“ im Norden des Poljes beherbergen die größten Vorkommen des Wachtelkönigs in Südeuropa. Die ausgedehnten Wasserflächen dieses natürlichen Wasserspeichers, aber auch seine Sumpfvegetation und Erlenbruchwälder bieten einer Vielzahl von Wat- und Wasservögeln wie Rohrdommel und Wiesenweihe wichtige Rast- und Brutplätze. Für Kraniche und andere Zugvögel bietet das Livanjsko Polje auf der Adria-Zugroute einen Rastplatz von unschätzbarem Wert.

europa würde aber in aller Regel Wald wachsen. Das Grünland ist durch menschliche Nutzung entstanden und wird daher überwiegend im nächsten Kapitel (Kulturland) behandelt. Bezieht man die natürlichen Flächen mit ein, auf denen Gräser vorherrschen, spricht man international von Grasland. Weltweit ist Grasland das größte Biom; Beispiele für Grasland-Ökosysteme sind Steppen und Savannen. Als Steppen werden mäßig trockene, baumlose, von Gräsern und Kräutern dominierte Landschaften der gemäßigten Breiten bezeichnet, während Savannen ein tropischer oder subtropischer Landschaftstyp sind, der aus einer geschlossenen Krautschicht und einer eher offenen Gehölzschicht besteht. Natürliches Grasland gibt es bis heute in Regionen, in denen weniger als 400  mm Niederschlag im Jahresdurchschnitt fallen und deshalb keine natürliche Sukzession hin zu Busch- und Waldland stattfindet.

Grasland Grasland oder Grünland? Im deutschen Sprachraum werden landwirtschaftlich genutzte Flächen, auf denen Gras und krautige Pflanzen als Dauerkultur wachsen und die entweder beweidet oder als Wiese gemäht werden, als Grünland bezeichnet. Auf den von Gras dominierten Flächen in Mittel-

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II. Landschaften und Lebensräume

Steppen in Europa Typische Merkmale einer Steppe sind kontinentales Klima mit Winterkälte und sommerlicher Trockenheit, feinerdige Böden (oft Löss) und einförmiger Bewuchs. Am Übergang der Steppenregion zur Laubwaldzone gibt

es eine als Waldsteppe bezeichnete Zone, in der die Grassteppe in Gewässernähe und auf durchlässigen Böden von Waldinseln durchsetzt ist.

Die große Eurasische Steppe Die weltweit größte Steppenregion ist die Eurasische Steppe, die sich vom Burgenland in Österreich über die Puszta in Ungarn und Rumänien sowie die Nordküsten von Schwarzem und Kaspischem Meer bis in die östliche Mongolei erstreckt. In Europa haben daran Ungarn, Rumänien, Moldawien, die Ukraine, Russland und Kasachstan Anteil. Man kann Steppen nach den Gründen ihrer Entstehung folgendermaßen einteilen: Primärsteppen sind klimatisch bedingt und entstehen dort, wo ein trocke-

nes Klima mit Niederschlägen unter 250  mm pro Jahr herrscht. Die Böden, auf denen sie entstehen, können durchaus tiefgründig und nährstoffreich sein und ein hervorragendes Ackerland abgeben, sofern sie künstlich bewässert werden. So werden die ehemaligen primären Steppen in der Ukraine heute oft als landwirtschaftliche Fläche genutzt. Sekundärsteppen entstanden auf waldfähigen Standorten durch menschliche Rodung und Nutzung als Weidefläche für die Nutztiere des Menschen. Ein Beispiel sind Teilgebiete der Puszta (Abb. 107), welche von Natur aus bewaldet waren, in einigen Regionen war die Puszta aber auch primär Waldsteppe und Steppe. Nach jüngeren Erkenntnissen entstand die Puszta als Waldsteppe vor über 35  000 Jahren, verwandelte sich vor über 8000

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Abb. 107: Puszta (Ungarn).

Jahren allmählich in eine Grassteppe und breitete sich in den letzten 3000 Jahren durch menschliche Einwirkung als Kultursteppe bzw. Sekundärsteppe schrittweise aus. Besonders im Laufe des 20. Jahrhunderts, wurde die Puszta für intensive Landwirtschaft kultiviert. Von der alten Steppenlandschaft gibt es nur noch wenige großflächige Gebiete  –  z.  B. der Nationalpark Hortobágy (s. S. 229).

Die Crau – eine bedrohte Schottersteppe Steppen gibt es auch dort, wo der Boden keine hohe Vegetation zulässt, z.  B. auf Felsen, Schotter, Sand, Löss, schwermetallhaltigen oder salzhaltigen Böden. Die Crau (Abb. 109) ist eine Schottersteppe in Südfrankreich, nordöstlich der Camargue. Bis in das letzte Jahrhundert hinein war sie eine von vielen Steinsteppen, die sich an der Mittelmeerküste entlangzogen. Alle entstanden durch Ablagerung von Sedimenten großer Flüsse wie die Durance. Nach der letzten Eiszeit fielen die Schotterflächen trocken und die steppenartigen Landschaften, die Craus, entstanden. Heute ist nach der laufenden Zerstörung dieser Flächen nur noch die Crau d‘Arles als große, zusammenhängende Fläche übrig. Ein Großteil des verbliebenen Bereichs erstreckt sich in dem Dreieck zwischen Arles, Salon-de-Provence und Fos-sur-Mer.

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II. Landschaften und Lebensräume

Bis vor etwa 2 Mio. Jahren lag das Gebiet der Crau noch unter der Oberfläche des heutigen Mittelmeers, es wurde während dieser Phase mit wasserundurchlässigen, grauen Tonen bedeckt. Nachdem sich das Meer zurückgezogen hatte, mündete die Durance mit einem großen Delta ins Meer, die „Vieille Crau“ entstand durch langsame Aufschüttung von Schotter und Kies, die die Durance aus den Alpen mit sich führte. Durch diese Schotter verbaute sich die Durance den Weg und verlagerte ihren Lauf nach Südosten. Dort vergrößerte der Fluss sein Delta und schüttete, wie zuvor, wieder Schotter und Kies aus silikathaltigen Gesteinen aus den Alpen auf – die „Crau de Luquier“ und „Crau de Miramas“ entstanden (vor 120 000 bzw. 70 000 Jahren). Vor 12 000 Jahren änderte die Durance ein letztes Mal ihren Lauf und fließt bis heute in die Rhône. Durch diese „Wanderung“ des Flusses, sowie die Aufschüttung von Gesteinsmaterial entstand über einen langen Zeitraum die 600  km² große Crau. Von Anfang an war das Wasser ein wichtiger Faktor. Es hat den für die Crau so typischen, sehr wasserdurchlässigen Schotter aufgetragen. Eine Besonderheit in der Crau ist jedoch, dass der Schotter und die Gerölle in 40 bis 60  cm Tiefe durch ein kalkhaltiges Bindemittel

THEMA

Der Mensch in der Steppe Die eurasische Steppe spielte eine große Rolle in der Geschichte Eurasiens der vergangenen 10 000 Jahre (Cunliffe 2016): „Die Steppe ist eine übermächtige Landschaft, eine unendliche Welt ohne Gnade, die einem nichts anderes übrig lässt, als in Bewegung zu bleiben. Und sie hatte ohne Frage einen immensen Einfluss auf jene, die ihr Leben dort verbrachten. Für einen Reiter, der zu Frühlingsbeginn in der Großen Ungarischen Tiefebene auf sein Pferd steigt und die Steppe nicht verlässt, wäre es möglich, noch vor Anbruch des Winters die Mongolei zu erreichen. […] Die Steppe ist der bemerkenswerteste natürliche Korridor der Welt. Hier wurden die ersten Pferde (Abb. 108) domestiziert und geritten, hier kam erstmals der mobile Pastoralismus auf, hier wurde der schnelle zweirädrige Wagen erfunden und hier lernten die Reiter zum ersten Mal, als eine Kavallerie zusammenzuwirken  –  und das mit weltbewegenden Folgen.“ Abb. 108: Przewalski-Pferde.

Abb. 109: Die Crau, eine Schottersteppe in Südfrankreich.

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Abb. 110: Schafherde in der Crau.

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ein teilweise meterdickes, betonhartes Konglomerat (Taparas) bilden. Diese geologische Besonderheit ist sehr wichtig für den speziellen Wasserhaushalt in der Crau. Sie führt dazu, dass das Wasser aus dem Grundwasserreservoir für die Pflanzen und Tiere der Crau nicht erreichbar ist. Durch diese begrenzte Wasserzufuhr ist nur dort Baumwuchs möglich, wo die Konglomeratschicht natürlich verwittert ist und Löcher entstanden sind. Durch diese „laurons“ kann dann das Grundwasser an die Oberfläche gelangen. Die hauptsächliche Bewirtschaftung der Crau ist die Schäferei (Abb. 110), die bereits vor 10  000 Jahren hier betrieben wurde, wie Knochenfunde belegen. Die Schäfer blieben jedoch in den Randbereichen der Crau, da sie die Steinwüste als bedrohlich empfanden. Deshalb wurde die Crau selbst bis zum 11. Jahrhundert kaum genutzt. Die Schafhaltung wurde dann zunehmend wirtschaftlicher, unterstützt durch Bewässerungsmaßnahmen. Da es im Sommer für die Schafe zu heiß ist  –  die Crau ist wärmer als die umliegenden Gebiete, weil die Sonne die

II. Landschaften und Lebensräume

Steine tagsüber aufheizt –, wurden sie in dieser Zeit auf Almen in den Alpen getrieben. Aus diesem Auftrieb entstand der noch heute existierende Schaftrieb, die Transhumanz zwischen der Crau und den Alpen. Durch Bewässerung, intensive Landwirtschaft und Industriegebiete verlor die Crau aber immer mehr ihren Steppencharakter, zudem wurde die Mülldeponie von Marseilles mitten in die Crau platziert. Nach langjährigen Bemühungen verschiedener Institutionen, u. a. von Euronatur (s. S. 141), ist die Crau inzwischen Teil eines UNESCO-Biosphärenreservats. Die Crau ist Durchzugsgebiet für viele Zugvögel und Lebensraum für gefährdete Arten wie Spießflughuhn, Zwergtrappe, Triel, Rötelfalke und Perleidechse. Die Naturschutzaktivitäten werden vom Écomuseé in Saint-Martin-de-Crau aus koordiniert. Vermittelt von Euronatur sind Markgröningen in Baden-Württemberg und Saint-Martin-de-Crau 1989 eine der ersten „umweltorientierten“ Städtepartnerschaften eingegangen. In beiden Kommunen gibt es große Natur-

schutzflächen. Außerdem war Markgröningen wie SaintMartin-de-Crau einst ein „Mekka“ der Schäferei.

Tundra Das Baumwachstum wird nicht nur durch geringe Niederschläge verhindert, sondern auch durch eine kältebedingte kurze Vegetationsperiode. In diesem Fall entwickelt sich eine Kältesteppe oder Tundra (Abb.  111). Vergleichbare Pflanzenformationen kommen auch weltweit in der alpinen Höhenstufe der Gebirge vor, die als azonale Vegetationstypen (s. S. 21) den Tundren zuge-

ordnet werden können. Charakteristisch für die verschiedenen Formen der Tundra ist eine offene, baumfreie Landschaft (zumeist) über Permafrostböden, die von Flechten, Moosen, Gräsern und/oder Zwergsträuchern beherrscht wird. Eine Sonderform der Tundra ist die Bergtundra, in Skandinavien als Fjell (norweg.) oder Fjäll (schwed.) bezeichnet (s. Abb. 11)  –  ein Begriff für Berge oder Hochflächen oberhalb der Waldgrenze. Auf die letzten Fjell-Birken folgt in feuchten Bereichen ein dichter Gürtel aus verschiedenen mannshohen, strauchförmigen arktischen

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Abb. 111: Tundralandschaft im europäischen Teil Russlands.

THEMA

Flechten – Symbiose zur Besiedlung extremer Lebensräume

Abb. 113: Lungenflechte.

In der Tundra, auf Felsen, auf Bäumen  –  dort, wo sonst nichts mehr wächst, trifft man auf Flechten. Was sind Flechten überhaupt und was macht sie so widerstandsfähig? Flechten sind keine einzelnen Arten, sondern Lebensgemeinschaften, Symbiosen aus einem oder mehreren Pilzen (Mycobionten) und einem oder mehreren Photosynthese betreibenden Partnern (Photobionten)  –  entweder Grünalgen oder Cyanobakterien (früher als Blaualgen bezeichnet). Der Vorteil besteht für den Pilz darin, dass er von den Photobionten mit Nährstoffen versorgt wird, welche die Alge durch Photosynthese bildet. Der Pilz wiederum schützt den Partner vor zu rascher Austrocknung. Auch durch die gemeinsame Vermehrungsstrategie von Pilz und Alge ergibt sich für beide Symbionten ein Vorteil. Nach der Wuchsform und der Auflagefläche des Lagers, auch Pilzthallus genannt, unterscheidet man zwischen Krustenflechten, Laub- oder Blattflechten, Strauchflechten und Gallertflechten. Eine typische Krustenflechte, die dicht auf dem Untergrund liegt und diesen durchwächst, ist die Landkartenflechte (Abb. 112). Die gefährdete Lungenflechte (Abb. 113), die in niederschlagsreichen Regionen an der Rinde von Bäumen wächst, ist eine Blattflechte. Die Rentierflechte (fälschlicherweise auch als Isländisch Moos bezeichnet), die von der Laubwaldzone bis in die Tundra verbreitet ist, gehört zu den Strauchflechten (Abb. 114).

Flechten besitzen keine Möglichkeit, ihren Wasserhaushalt zu regeln, da sie keine echten Wurzeln zur aktiven Wasseraufnahme und auch keinen Verdunstungsschutz besitzen. Über die Oberfläche des Flechtenlagers können sie wie ein Schwamm Feuchtigkeit in relativ kurzer Zeit aufsaugen, entweder in

flüssiger Form oder als Wasserdampf. Bei Trockenheit verlieren sie relativ schnell das für die Aufrechterhaltung des Stoffwechsels nötige Wasser und wechseln in einen „leblosen“ Zustand, in dem der Wassergehalt bei weniger als 10 % des Trockengewichts liegen kann. Die Fähigkeit der Ruhestarre ist besonders in kalten Gebieten sehr wichtig, da gefrorenes Wasser nicht für den Stoffwechsel verfügbar ist. Die Zeit, in der eine Flechte in einem solchen Stadium überleben kann, variiert je nach Art; es ist jedoch der Fall einer Wüstenflechte bekannt, die nach 40 Jahren im ausgetrockneten Zustand durch Befeuchtung „wiederbelebt“ werden konnte. Dieser Lebensrhythmus ist auch eine Ursache für das extrem langsame Wachstum mancher Flechten. Krustenflechten wachsen manchmal nur wenige Zehntel-Millime-

Abb. 112: Landkartenflechte.

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II. Landschaften und Lebensräume

Abb. 114: Rentierflechte.

ter pro Jahr, Laubflechten meist weniger als einen Zentimeter. Zum langsamen Wachstum trägt jedoch auch die ungleiche Symbiose bei, in welcher der Photobiont, der oft nur 10 % des Flechtenvolumens einnimmt, allein für die Ernährung des Mycobionten aufkommen muss. Wegen ihres langsamen Wachstums können Flechten nur an Standorten überleben, an denen sie nicht von Pflanzen überwuchert und an der Photosynthese gehindert werden. Das ist der Grund, warum Flechten sich auf Extremstandorte zurückgezogen haben. Sie kommen auf blankem Fels, in der Wüste, in Heidelandschaften, in Mooren sowie in Permafrostgebieten vor und können in Trockenstarre Temperaturen von –47 bis +80 Grad Celsius überstehen. Der extremste Lebensraum, in dem Flechten bisher ihre Überlebensfähigkeit unter Beweis stellen konnten, ist ohne Zweifel der Weltraum. Durch im Mai 2005 durchgeführte Experimente u.  a. an der Landkartenflechte konnte gezeigt werden, dass diese Arten zumindest für einen Zeitraum von etwa zwei Wochen in der Lage sind, die lebensfeindlichen Bedingungen außerhalb der Erdatmosphäre zu überstehen, wie starke Temperaturschwankungen und hohe UV-Strahlungsintensität.

Flechten zählen zu den langlebigsten Lebewesen und können ein Alter von mehreren hundert Jahren, in Einzelfällen sogar von über 4500 Jahren erreichen, wie etwa bei einer Landkartenflechte aus Grönland nachgewiesen. Besonders im hohen Norden, wo die Vegetation spärlich ist, sind Flechten während der Wintermonate für Rentiere mit etwa 90  % Hauptbestandteil der Nahrung. Meist handelt es sich um Rentierflechten, welche die Rentiere mit ihren Hufen auch unter einer Schneedecke freilegen und mit Hilfe eines Enzyms verwerten können. Auch Elche nutzen diese Nahrungsquelle. Für viele Larven von Schmetterlingen dienen Flechten als Nahrungsgrundlage, wie etwa für Vertreter der Gattung der Flechtenbärchen, deren Raupen sich ausschließlich von Flechten ernähren. Flechten gelten als Zeigerorganismen für bestimmte Umweltbedingungen, insbesondere für die Luftqualität. Dies liegt daran, dass das Zusammenleben zwischen Pilz und Alge leicht gestört werden kann. Die ersten Berichte über eine massive Verarmung der Flechtenvegetation im Bereich industrialisierter Städte stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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Weiden. In trockeneren Bereichen geht der Wald oder das Weidengebüsch in Zwergstrauchheiden mit Heidelbeere, Preiselbeere, Krähenbeere, Zwergbirke und andere Sträucher über. Je höher man kommt, desto dominanter werden Gräser, Strauchflechten (Rentierflechte u.  a.) und Kräuter. Im mittelalpinen Fjell wachsen nur noch ausdauernde Gräser und die speziell angepassten Pflanzen der sogenannten Schneesenken. Im Frostschuttgürtel leben nur noch Moose und Steinflechten (z.  B. Landkartenflechte).

Vom Winde verweht Schon einmal von Steppenrollern gehört? Man nennt sie auch Bodenläufer, Bodenroller, Steppenläufer oder Steppenhexe, in Nordamerika und Australien Tumbleweed, und auch einen wissenschaftlichen Namen gibt es dafür: Chamaechorie. Es handelt sich um eine Form der Ausbreitung von Pflanzen, bei der nicht nur die Samen, sondern größere Pflanzenteile vom Wind rollend oder rutschend über den Boden getrieben werden. So etwas funktioniert natürlich am besten in einer offenen Landschaft, und daher

Abb. 115: FeldMannstreu, der sich als Steppenroller ausbreitet.

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II. Landschaften und Lebensräume

hat sich diese Strategie auch dort entwickelt. Ein Beispiel aus Mitteleuropa ist der Feld-Mannstreu, bei dem der oberirdische Anteil der Pflanze in seiner Gesamtheit rollend vom Wind vertrieben wird (Abb. 115). Sind die Samen reif, werden die Sprosse bei Windgeschwindigkeiten von mindestens 4  m/s an einer vorgegebenen Abbruchstelle am Wurzelballen abgerissen und dann als Ganzes fortgerollt, wobei die Samen allmählich ausgestreut werden. Chamaechorie, übersetzt „Erdausbreitung“, ist eine Sonderform der Anemochorie d. h. der Windausbreitung. Die Ausnutzung des Windes bei der Ausbreitung ist bei Pflanzen recht häufig, es gibt z.  B. Windflieger wie den Löwenzahn, die ihre Samen mit dem Wind treiben lassen, oder Windstreuer wie den Klatschmohn, dessen Samen nur wenige Meter verstreut werden.

Steppentiere Steppen sind der ideale Lebensraum für große Pflanzenfresser, in den europäischen Steppen wird man ihnen heutzutage aber kaum begegnen. War das immer so? Während der Kaltzeiten ganz sicher nicht. Über wei-

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Wie sich Pflanzen ausbreiten Neben der Chamaechorie (s. o) tritt ebenfalls häufig die Ausbreitung durch Tiere (Zoochorie) auf, wobei man zwischen Endozoochorie (Samen werden gefressen und wieder ausgeschieden) und Epizoochorie (Samen haften der Körperoberfläche an) unterscheidet. Für die Endozoochorie eignen sich z.  B. Vögel sehr gut, da sie die Samen in weitem Umkreis verbreiten können. Klettfrüchte wiederum haften am besten am Fell von Säugetieren. Bei Waldpflanzen weit verbreitet ist die Ausbreitung durch Ameisen (Myrmekochorie), Beispiele sind das Schneeglöckchen und das Leberblümchen. Die Samen der myrmekochoren Pflanzen haben ein nährstoffreiches Anhängsel, Elaiosom genannt, das allein für den Verzehr durch Ameisen bestimmt ist. Der Same verbleibt im Ameisennest oder in dessen Nähe, wo gute Bedingungen für die Keimung herrschen. Große Distanzen können auch mithilfe von Fließgewässern zurückgelegt werden, sodass die Ausbreitung mittels Wasser (Hydrochorie) bei Wasser- oder Uferpflanzen meist das Mittel der Wahl ist. Selbstausbreitung (Autochorie) bezeichnet die selbstständige Ausbreitung von Samen oder Früchten ohne die Mitwirkung fremder Kräfte (Wind, Wasser, Tiere). Am bekanntesten hierfür sind Pflanzen, die über Schleudermechanismen verfügen, wie das Springkraut

(Abb. 116). Manche Früchte haben lange Grannen und können damit beim Wechsel von feuchten und trockenen Perioden durch Bewegungen einige Zentimeter über den Boden kriechen. Ein Beispiel hierfür ist die Küchenschelle.

te Teile des unvergletscherten nördlichen Eurasiens von Mitteleuropa bis Ostasien breitete sich die Mammutsteppe aus. Zu den Bewohnern dieser Steppe zählten neben dem Charaktertier dieses Lebensraums, dem Wollhaarmammut, auch andere Großsäuger wie das Wollnashorn, der Moschusochse, das Ren, die Saiga-Antilope, aber auch der ausgestorbene Steppenbison und eine Unterart des Wildpferds. Die Großtiere ernährten sich dabei nicht nur, wie ursprünglich teilweise angenommen, ausschließlich von Gräsern, sondern ebenfalls von den krautigen Pflanzen, was anhand von Mageninhalten von Kadavern aus dem Permafrost bewiesen werden konnte. Als Tarpan wird die ausgerottete westliche Form des eurasischen Wildpferds bezeichnet. Sie war westlich des Urals (vor allem in den südrussischen Steppen) verbreitet und verschwand spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts. Abzugrenzen ist der Tarpan vom

Przewalski-Pferd, das lange Zeit als die östliche Unterart des Wildpferds angesehen und fälschlicherweise für die (einzige) überlebende Wildform dieser Art gehalten wurde. Eine Veröffentlichung im Fachmagazin „Science“ im Jahr 2018 zeigt, dass Przewalski-Pferde verwilderte und im 4.    Jahrtausend v.   Chr. von der Botai-Kultur in Nordkasachstan domestizierte Pferde sind. Das Przewalski-Pferd ist jedoch auch nicht die Stammform des Hauspferdes, welches vermutlich in der eurasischen Steppe vor rund 6000 Jahren domestiziert wurde (Quelle: Wikipedia/Tarpan). Bis heute überlebt hat auch die Saiga-Antilope (Abb. 117), die als stark gefährdet gilt und fast nur noch in Russland, Kasachstan und der Mongolei vorkommt. Noch im 18.    Jahrhundert existierten die westlichsten Vorkommen am Fuß der Karpaten am südlichen PruthFluss. Am Anfang des 20.    Jahrhunderts schmolzen die

Abb. 116: Großes Springkraut oder Rühr-mich-nichtan, rechts oben der Mechanismus des Ausschleuderns der Samen.

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Bestände vor allem durch starke Bejagung weiter dramatisch, in den 1920er- und 1930er-Jahren gab es nur noch wenige isolierte Restvorkommen. Man schätzt den damaligen Gesamtbestand auf weniger als 1000 Tiere. Nachdem die Saiga fast ausgerottet war, wurde sie 1923 von der Sowjetunion unter vollkommenen Schutz gestellt. Die Bestände erholten sich so weit, dass schon Mitte der 1950er-Jahre wieder 2   Mio. Saigas auf dem Gebiet der UdSSR lebten. Damals konnten sie ihr Verbreitungsgebiet im Westen bis an den Fuß des Kaukasus und im Norden bis Wolgograd und Orsk ausdehnen; man erlaubte sogar wieder eine geregelte Bejagung der Bestände. Seit den 1970er-Jahren sanken die Bestandszahlen jedoch abermals drastisch durch Lebensraumverlust, schlechtes Management, zu starke Bejagung und Wilderei. Der Zerfall der Sowjetunion sorgte zusätzlich dafür,

Abb. 117: SaigaAntilopen.

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II. Landschaften und Lebensräume

dass die Schutzbestimmungen nicht mehr eingehalten wurden. Nachdem sich der Bestand der Saiga aufgrund von Schutzprogrammen bis 2014 auf rund 250 000 Individuen erhöht hatte, ereilte die Population in Kasachstan 2015 ein rätselhaftes Massensterben, dem nach unterschiedlichen Schätzungen 120   000 bis fast 200   000 Tiere zum Opfer fielen. 2016 wurde als Ursache eine Bakterieninfektion identifiziert. Zählungen, die im Jahr 2016 aus der Luft vorgenommen wurden, ergaben eine Gesamtbestandszahl von etwa 108   000 ausgewachsenen Saiga-Antilopen, davon leben etwa 70   000 im Bereich des Flusses Ural und westlich davon in der Kalmückensteppe, also in Europa. Zwei weitere in der eiszeitlichen Mammutsteppe vorkommende große Pflanzenfresser, der Moschusochse und das Ren (oder Rentier), leben heute noch in der nor-

dischen Tundra. Der Moschusochse hat allerdings nur im Norden Kanadas und auf Grönland natürliche Vorkommen, in Norwegen (Dovrefjell) und Schweden wurde er wieder angesiedelt. Vom Ren gibt es auf dem europäischen Festland nur noch in der norwegischen Hardangervidda eine kleine Population des Wildrens, bei den großen Rentierherden Lapplands handelt es sich ausschließlich um (geringfügig) domestizierte „halbwilde“ Rentiere, die unter der Obhut der Samen stehen. Unter den Nagetieren ist der Ziesel (Abb. 118) ein typisches Steppentier, dessen Verbreitungsgebiet von Ostösterreich über Zentralasien und Sibirien bis in die Mongolei reicht. In Europa kommen nur zwei Zieselarten vor: der Europäische Ziesel und der Perlziesel. Wie die Murmeltiere leben sie in Erdbauen. Auf die Ziesel abgesehen hat es der kleine Bruder des Wolfs, der Goldschakal, der ebenfalls offene Landschaften bevorzugt. Sein Verbreitungsschwerpunkt in Europa ist der Balkan, man findet Populationen im Norden Griechenlands, in Albanien, Rumänien, Bulgarien sowie in Serbien, Slowenien, Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina. Momentan breitet er sich nach Norden und Westen aus und ist inzwischen auch in Deutschland unterwegs (Quelle: Badische Zeitung vom 26.03.19).

Steineiche überlebt. Der hochwüchsige und geschlossene Steineichenwald, der früher für die Region kennzeichnend war, ist auf kleine Relikte zusammengeschmolzen. Das Hauptnutzungstier der Macchie ist die Ziege, deren Futteranteil zu 60  % oder mehr aus Laub und Astwerk bestehen kann. Weit weniger sind Schafe und Schweine in der Macchie zuhause. Bei der Weidenutzung wurde und wird die Macchie periodisch abgebrannt, um den Weidetieren den Zugang zu den Weideflächen zu ermöglichen und ihr Futter zu verbessern. Dies ist heute zwar in allen Mittelmeerstaaten verboten, wird aber vielfach weiter praktiziert. Die Macchie kann sich nach

Kulturland Von der Natur zur Kultur Übernutzung am Mittelmeer Das Mittelmeergebiet war ursprünglich weitgehend bewaldet, bis die Wälder von den Griechen und Römern gerodet wurden, um landwirtschaftliche Nutzung zu betreiben. Insbesondere die Römer mit ihrer Expansionspolitik trugen zur Übernutzung der Ressourcen bei nach dem Motto „Feuer, Entwaldung, Weizen, Ziegen“ (Lesch & Kamphausen 2016). Das „Imperium Romanum“ konnte nur bestehen, solange die Grenzen immer weiter nach außen verschoben und neue Ressourcen erschlossen werden konnten. Vor allem der Ressourcenverbrauch für Schiffsbau, Straßen und Häuser führte zur ersten europäischen Umweltkatastrophe  –  Sizilien und Tunesien wurden vollständig entwaldet. Dennoch blieb das Mittelmeergebiet eine der artenreichsten Regionen Europas. Aus den Wäldern ging die Macchie hervor, ein 3 bis 5  m hoher Buschwald. In der Macchie haben die meisten der Baumarten wie z.  B. die

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Abb. 118: Europäischer Ziesel.

Abb. 119: Übergang zwischen Macchie und Garigue (Extremadura, Spanien).

Brand in wenigen Jahren regenerieren, wenn weitere degradierende Einflüsse ausbleiben. Die Macchie ist in Teilen des Mittelmeerraums sehr ausgedehnt, insbesondere auf den Inseln. So ist mehr als die Hälfte Korsikas von Macchie bedeckt. Wird die Macchie zu oft abgebrannt, kann sie sich nicht mehr vollständig regenerieren. Die immergrünen Baum- und Straucharten treten vor allem zugunsten der Zistrosen zurück, es entsteht eine offene Strauchheide, die man als Garigue (auch Garrigue geschrieben) bezeichnet. Sie ist in Europa vor allem in Frankreich (insbesondere auf Korsika) und Italien (insbesondere auf Sardinien) verbreitet. Sie wird bis zu 2  m hoch und hat einen reichhaltigen Pflanzenbestand (Abb. 119). Die Bezeichnung ist vom Namen des südlichen Teils der Cevennen, der Garrigue, abgeleitet. Im östlichen Mittelmeerraum werden entsprechende Pflanzengemeinschaften als Phrygana bezeichnet, in Spanien als Matorral oder Tomillar.

Was ist eine Heide? Der Begriff „Heide“ benannte ursprünglich das vom Menschen unbebaute Land, später auch eine unfruchtbare, nicht urbar zu machende Landschaft und war damit ein

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II. Landschaften und Lebensräume

Synonym für Wildnis. Im engeren Sinne versteht man darunter einen Vegetationstyp, der durch Sträucher oder Zwergsträucher mit immergrünem, hartem Laub geprägt ist. Als Heiden werden dabei insbesondere Bestände bezeichnet, die von Heidekrautgewächsen dominiert werden, wie die atlantischen Zwergstrauchheiden Nordwesteuropas. Im traditionellen Sprachgebrauch werden regional verschiedene Landschaftstypen als „Heide“ bezeichnet, teils auch mit zusammengesetzten Begriffen wie Felsheide oder Steppenheide. Die Heiden Mitteleuropas verdanken dabei historisch ihre Entstehung der ungeregelten Beweidung, bei der ein Hutewald durch den Verbiss des Viehs in eine mehr oder weniger baumfreie, offene Fläche umgewandelt wurde. Im engsten Wortsinn werden aber Flächen „Heide“ genannt, die durch vorherrschendes Heidekraut auf nährstoffarmen und sauren Böden gekennzeichnet sind, oft mit eingestreutem Wacholder. Der Name des Heidekrauts ist schon im Althochdeutschen belegt und zeigt dadurch die langbestehende Verbindung des Landschaftsnamens mit weitgehend unfruchtbarem Flachland. Das blühende Heidekraut als Leitpflanze verwandelt einmal im Jahr – von Sommer bis Herbst – die weite, baumlose Heideland-

schaft in einen lilafarbenen Teppich (Abb. 120). Die Bezeichnung Heide wurde in manchen Regionen auch auf die Allmendweiden übertragen, die von allen Bauern der Gemeinde gemeinsam genutzt wurden; dabei waren Wald und Weideland nicht voneinander geschieden, der Wald wurde mitbeweidet und dadurch immer mehr aufgelichtet. Heide war in der Folge mehr ein Rechtsbegriff als eine Landschaftsform, entsprechend sind Heiden in Norddeutschland Zwergstrauchfluren, in Süddeutschland Kalktriften mit Magerrasen, im Osten lichte Kiefernwälder. In der Neuzeit setzte sich dann  –  wohl bedingt durch das Heidekraut und die Berühmtheit der Lüneburger Heide  –  der Begriff Heide vor allem für die norddeutsche Ausprägung durch. In Europa gibt es eine Vielzahl von Heidegebieten. Zu unterscheiden sind drei Haupttypen von atlantischen Heiden: Küstennahe Heiden sind vom milden, feuchten Meeresklima geprägt. Diesen Heidetyp gibt es in Norwegen, Irland, Nordwestschottland sowie auf den Orkney- und Shetland-Inseln. Er ist mit Moor- und Sumpflandschaften verbunden und stellt einen natürlich gewachsenen Landschaftstyp dar. Charakterart dieser Feuchtheiden ist die Glockenheide. Die zentralen, nicht unmittelbar an der Küste gelegenen Heideregio-

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Abb. 120: Lüneburger Heide.

Abb. 121: Atlantische Heide (New Forest-Nationalpark, Südengland).

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nen umfassen Gebiete in Schweden, Dänemark, Deutschland, den Benelux-Staaten, England (Abb.  121), Frankreich, Polen und den baltischen Staaten. Dabei handelt es sich überwiegend um Sandheiden, die durch menschliche Einflüsse entstanden sind. Ein dritter, ebenfalls anthropogen entstandener Typ befindet sich in Südeuropa. In Südfrankreich, Spanien und Portugal liegen die Heideregionen im küstennahen, steilen Bergland (vgl. Macchie), während die küstenfernen Heidegebiete eher in flach welligen Tieflandregionen zu finden sind. Der Begriff Wacholderheide bezeichnet keinen eigenständigen Lebensraum, da Wacholder sowohl auf kalkreichen als auch auf sauren Böden wächst. Wacholder wird vom Weidevieh nicht gerne gefressen, daher findet man ihn auf aktuellen oder ehemaligen Viehweiden. Das schwedische Wort Alvar bezeichnet ein nahezu baumloses, für Landwirtschaft ungeeignetes Land mit einer lückigen Vegetation auf felsigem Kalkuntergrund.

II. Landschaften und Lebensräume

Die wissenschaftliche und nunmehr international gebräuchliche Definition fügt hinzu, dass der Kalkfels von eiszeitlichen Gletschern abgehobelt wurde und dass ein sommertrockenes, kühles Klima herrscht. Ein Alvar ist ein einzigartiges, in sich differenziertes Biotop mit einer charakteristischen Flora und Fauna. Am eindrucksvollsten ist die Alvarlandschaft auf dem Kalkuntergrund der schwedischen Ostseeinsel Öland ausgeprägt. In deren südlichem Teil trägt ein Areal von etwa 255  km² den Namen „Stora Alvaret“ (Großes Alvar, Abb. 122). Es wurde zusammen mit der angrenzenden Kulturlandschaft von der UNESCO im Jahr 2000 als „Agrarlandschaft Südölands“ zum Welterbe erklärt.

Halboffene Landschaften Besonders naturnah wirken halboffene Landschaften, bei denen die Bedeckung mit Bäumen und Sträuchern in der Regel nicht über 50  % hinausgeht. Beispiele hier-

für sind Streuobstwiesen in Mitteleuropa, aber auch die sogenannten Dehesas in Südspanien, insbesondere in der Extremadura. Halboffene Weidelandschaften bzw. Hutewälder (Abb. 126) gab es historisch in fast ganz Europa, heute sind sie durch die Intensivierung oder Aufgabe der Landwirtschaft auf wenige Regionen zurückgedrängt. Ein Beispiel in Südwestdeutschland  –  direkt vor der Haustür des Autors  –  sind die Allmendweiden im Biosphärengebiet Schwarzwald mit ihren bizarren Weidbuchen (s. Abb. 46). Die Entwicklung dieser im Südschwarzwald als Weidfelder oder Weidberge bezeichneten großflächigen

Rinderweiden verfolgt der Autor als Mitarbeiter der baden-württembergischen Naturschutzverwaltung bereits seit über 30 Jahren. Zur Erhaltung und Verbesserung der Weidewirtschaft wurde 1930 die „Staatliche Weideinspektion Schönau“ gegründet. Bestand deren Aufgabe ursprünglich vor allem in der Verbesserung der Weidfelder aus landwirtschaftlicher Sicht (d.  h. Intensivierung), wurde im Laufe der Zeit immer mehr die Erhaltung der Weidfelder bzw. die Offenhaltung der Landschaft zur Hauptaufgabe. Zunehmend interessierte sich auch der Naturschutz für die artenreichen Weidfelder, in denen z.  B. noch große Bestände der in Deutschland stark ge-

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Abb. 122: Stora Alvaret (Öland, Schweden).

THEMA

Dehesas und Steppen in der Extremadura Dehesa ist die spanische Bezeichnung für beweidete Eichenhaine (Hutewälder), die vor allem im Südwesten Spaniens (Extremadura und Andalusien) und in Portugal ausgedehnte Flächen einnehmen. Die Dehesa wurde traditionell als Gemeineigentum (ähnlich einer Allmende) gemeinsam bewirtschaftet; noch heute befinden sich die Ländereien oft im Eigentum der Gemeinde. Die Dehesas in der Extremadura umfassen heute etwa 1   Mio. Hektar und bedecken ein Viertel der Gesamtfläche der Region. Dehesas sind entstanden, indem die ursprünglichen Stein- und Korkeichenwälder durch Schafe und Ziegen, später auch von Rindern beweidet wurden. Durch ihre extensive Bestockung mit Eichen ermöglicht die Dehesa die Nutzung als Weidefläche auch für das Iberische Schwein (Abb. 123), das sich in freier Natur von Gräsern, Wurzeln, Pilzen, Baumrinden, Beeren, Eicheln sowie von Insekten und Kleintieren

Abb. 123: Dehesa mit Schweinen (Extremadura, Spanien).

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II. Landschaften und Lebensräume

ernährt. Auf den flachgründigen, nährstoffarmen Böden im Südwesten der Iberischen Halbinsel sind die Voraussetzungen für Ackerbau schlecht, die Weidewirtschaft lohnt sich eher. So entstanden parkartige Baumbestände  –  die Bäume schützen den Boden vor Erosion, spenden den Weidetieren Schatten und liefern die zur Mast der Schweine geschätzten Eicheln. Eine Besonderheit der Nutzungsform der Dehesa liegt in ihrem hohen Alter  –  der älteste Beleg für die Dehesas datiert 4000 Jahre zurück. Die Menschen vernichteten große Teile des dichteren Waldbestands (Primärwald), wie es ihn heute noch im Nationalpark Monfragüe (Abb. 124) gibt, um Weideflächen zu erhalten. Der Wandel zur Dehesa vollzog sich so langsam, aber stetig. Dehesas gelten als Musterbeispiel für eine naturnahe Kulturlandschaft: Bäume schützen den Boden, liefern Brennstoffe (früher wurde aus dem Holz von

Steineichen Holzkohle hergestellt) oder Kork und Futter für die Weidetiere (Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen). Bis auf den heutigen Tag spielt auch die naturnahe Aufzucht von Jungstieren eine große Rolle, die dann allerdings im Alter von etwa 3 oder 4 Jahren in den Stierkampfarenen ihr Leben lassen. Dennoch sind die Dehesas heute gefährdet, da die traditionellen Weidetiere durch moderne, produktivere Rassen ersetzt werden, deren Futteranspruch durch Importfutter gedeckt werden muss. Nicht genutzte Dehesas sind am aufkommenden Buschbewuchs zu erkennen. Die Dehesas dienten für Schafe und Ziegen oft nur als Winter- und Frühjahrsweiden; im Sommer zog man mit den Herden in höher gelegene Regionen und blieb dort mehrere Monate (Transhumanz). Rinder und Schweine blieben dagegen in ihren angestammten Dehesas. In der Extremadura gibt es neben den Dehesas auch offene, steppenartige Landschaften mit einem Wechsel aus stark beweidetem Grasland und Acker-

land. Auch diese Flächen waren ursprünglich bewaldet und wurden vom Menschen im Lauf der Zeit ihres gesamten Baumbewuchses entledigt. Für Ornithologen sind diese Gebiete noch ergiebiger als die Dehesas, finden sich dort doch Steppenvögel wie Großtrappe (Abb. 125), Zwergtrappe, Triel, Wiesenweihe, Sand- und Spießflughuhn sowie Kalanderlerche.

Abb. 125: Balzende Großtrappe (La Serena, Extremadura, Spanien).

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Abb. 124: Nationalpark Monfragüe (Extremadura, Spanien).

Abb. 126: Hutewald mit alten Eichen (NewForest-Nationalpark, Südengland). Abb. 127: Warzenbeißer.

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fährdeten Arnika, der seltene Warzenbeißer, eine große Heuschrecke (Abb. 127) und viele andere gefährdete Tierund Pflanzenarten vorkommen. Mit dem Hinterwälder Rind (Abb.  128), der kleinsten Rinderrasse Mitteleuropas, verfügt das Gebiet über einen leichtfüßigen und robusten Landschaftspfleger. Von 2002 bis 2012 wurde ein Naturschutzgroßprojekt durchgeführt, bei dem die Er-

II. Landschaften und Lebensräume

haltung und naturschutzkonforme Nutzung der Weidfelder im Mittelpunkt stand. Das Projekt kam bei Gemeinden und Landnutzern so gut an, dass daraus 2016 das Biosphärengebiet Schwarzwald (Konold & Seitz 2018) hervorging. Zu den halboffenen Landschaften gehören auch die (Streu-)Obstwiesen, ein Zweinutzungssystem mit hochstämmigen Obstbäumen und einer Wiese im Unterwuchs. Charakteristisch ist die Mischung von Obstarten und Obstsorten, bei älteren Beständen auch die gemischte Altersstruktur. In Deutschland gibt es nach Schätzungen des NABU ca. 300  000 ha Streuobstwiesen mit Schwerpunkt Süd- und Mitteldeutschland; der Maximalbestand in Deutschland lag um 1950 bei 1,5 Mio ha. Großflächige Bestände gibt es auch in manchen Regionen von Frankreich (Normandie, Lothringen), Luxemburg, Spanien (Norden), Österreich, der Schweiz, Slowenien und Tschechien. Streuobstwiesen weisen eine sehr hohe Artenvielfalt auf mit über 5000 Tier- und Pflanzenarten; unter den Vogelarten sind Steinkauz, Wendehals, Grünspecht und

Halsbandschnäpper typisch. Auch die Vielfalt an Obstsorten (ca. 3000 in Deutschland, über 6000 in Großbritannien) ist herausragend, sodass Streuobstbestände höchste Bedeutung für die Biodiversität in West- und Mitteleuropa haben. Ökologisch vergleichbar sind sie mit hochstämmigen Oliven-, Kork- und Steineichenbeständen Südeuropas (Quelle: www.nabu.de).

Naturnahes Grasland In Mitteleuropa ist Grasland meist durch die Einwirkung des Menschen entstanden, sei es durch Beweidung mit Nutztieren oder durch Mahd. Nur an wenigen Standorten, wie z.  B. in den Hochlagen der Alpen, sind strauchund baumfreie Lebensräume natürlicherweise vorhan-

den, aber auch dort weiden Nutztiere das Gras ab. Unter naturnahem Grasland sind daher nicht Lebensräume ohne Einwirken des Menschen zu verstehen, sondern artenreiche Lebensräume mit extensiver Nutzung. Zum naturnahen Grasland gehören die Magerrasen (auch Trockenrasen genannt), die je nach geologischem Untergrund in Kalkmagerrasen und Silikatmagerrasen eingeteilt werden. Kennt man den Begriff „Rasen“ vor allem aus dem Siedlungsbereich, so wird er in der Vegetationskunde für niedrigwüchsige, von Gräsern beherrschte Pflanzengesellschaften verwendet. Auf Kalkgestein oder Löss ist die Aufrechte Trespe die charakteristische Art der Mager- oder Trockenrasen. Ansonsten sind diese sehr artenreich und weisen oft auch Orchideen

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Abb. 128: Hinterwälder Rinder auf Flügelginsterweide (Biosphärengebiet Schwarzwald, Deutschland).

Abb. 129: Pyramiden-Orchis auf Halbtrockenrasen (Luxemburg).

Abb. 130: Federgras (Tauberland, Baden-Württemberg, Deutschland).

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(Abb. 129) auf. Von Volltrockenrasen spricht man, wenn die Standorte so flachgründig und exponiert sind, dass dort von Natur aus kein Wald wachsen würde. Sind die Flächen tiefgründiger, werden aber nicht oder kaum gedüngt, handelt es sich um Halbtrockenrasen. Wenn diese nicht gemäht werden, kommt mit der Zeit Wald auf. Aufgrund ihrer Nährstoffarmut werden sie aber meist nur einmal pro Jahr gemäht. Auf sauren Böden ist das Borstgras die kennzeichnende Art der Magerrasen, die daher auch als Borstgrasrasen bezeichnet werden. Diese Bestände werden heute nur noch in seltenen Fällen gemäht, sondern meist beweidet. Im nordöstlichen und östlichen Mitteleuropa werden die Trespen-Trockenrasen ersetzt durch Steppenrasen, die durch verschiedene Federgras-Arten charakterisiert werden (Abb. 130). In Mitteleuropa können sich Steppenlebensräume in Regionen mit maximal 500 bis 600 mm Jahresniederschlag ausbilden. Sie gehen graduell in die echten Steppen Osteuropas (s. S. 80 ff.) über, im Gegensatz zu diesen sind sie aber nicht aufgrund zu geringer Niederschläge waldfrei, sondern haben ihren Baumbestand durch menschliche Nutzung verloren.

II. Landschaften und Lebensräume

Auch dort, wo sich Bäume nicht oder nur schwer entwickeln können, dominiert naturnahes Grasland. So entwickeln sich auf Binnendünen (s. S. 78) Sandrasen. Eine typische Pflanze kalkfreier Flugsande ist das horstförmig wachsende, graublau schimmernde Silbergras. Sind die Böden durch früheren Erzabbau mit Schwermetallen belastet, entwickeln sich Schwermetallrasen. Auf ostwestfälischen Bergbauhalden entstand sogar eine neue Pflanzenart: das Galmeiveilchen, das sich auf schwermetallbelastete Standorte spezialisiert hat. Auch in der alpinen Stufe oberhalb der Baumgrenze entwickelt sich Grasland, das in der Regel beweidet wird (Hochalmen). Das alpine Grasland ist sehr artenreich, auch hier ist der geologische Untergrund (Kalk oder Silikat) ganz entscheidend für die Artenzusammensetzung (s. S. 18). Auf nassen oder zeitweise überschwemmten Standorten in Senken und Randbereichen von Flutmulden der großen Ströme treten sogenannte Stromtalwiesen oder Auenwiesen auf. Wiesen auf nassen Böden werden als Feucht- oder Nasswiesen bezeichnet, sie können ähnlich artenreich sein wie Magerrasen (Abb. 131).

Ameisenliebe Über den Blüten artenreicher Wiesen flattern oft zahlreiche Schmetterlinge. Meist eher klein, aber auffällig gefärbt sind die Bläulinge. Unter den Bläulingen gibt es eine besonders interessante Artengruppe: die Ameisenbläulinge. Der Helle und der Dunkle WiesenknopfAmeisenbläuling haben im europäischen Naturschutz in den letzten Jahren vor allem deshalb von sich reden gemacht, weil sie durch die Fauna-Flora-Habitatrichtlinie (s. S.109) geschützt sind und daher bei jedem geplanten Projekt berücksichtigt werden müssen. Die Raupen beider Arten ernähren sich in frühen Entwicklungsstadien ausschließlich von den Blüten des Großen Wiesenknopfs (Abb. 132), der in Feuchtwiesen wächst. Warum aber der Name Ameisenbläuling? Das hängt mit ihrer „Myrmekophilie“ zusammen, wörtlich übersetzt heißt das „Ameisenliebe“.

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Abb. 131: Nasswiese mit Orchideen (Luxemburg).

Abb. 132: Dunkler WiesenknopfAmeisenbläuling.

Sie lieben die Ameisen nicht nur, sie haben sie „zum Fressen gern“. Im Spätsommer werden ihre Raupen nämlich von Ameisen in deren Nester getragen, wo sie überwintern und räuberisch von Ameisenbrut leben. Im Gegenzug überlassen sie den Ameisen ein zuckerhaltiges Sekret. Die Raupen sind in der Lage, den Nestgeruch der Ameisen zu imitieren. Einmal im Ameisennest untergebracht, werden sie von den Ameisen wie die eigene Brut gepflegt. Sie überwintern im Ameisenbau und verpuppen sich auch im Frühjahr dort. Nach dem Schlüpfen aus der Puppe muss der Schmetterling sofort das Ameisennest verlassen, da jetzt die Tarnung nicht mehr funktioniert und der Schmetterling nun als Beute betrachtet wird. In Europa gibt es vier Arten von Ameisenbläulingen (Abb. 133), neben den beiden Wiesenknopf-Ameisenbläulingen sind das der Enzian-Ameisenbläuling und der Quendel-Ameisenbläuling, dessen Raupen an Thymian und Oregano leben.

Abb. 133: Alle vier europäischen Arten der Ameisenbläulinge auf einem Briefmarkenbogen aus Tschechien.

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II. Landschaften und Lebensräume

Grünland – Weiden und Wiesen Die Weiden werden hier bewusst zuerst genannt, da sie wesentlich älter sind als Wiesen. Wie oben beschrieben, wurden die Wälder im Mittelmeergebiet bereits zur Römerzeit weitgehend zurückgedrängt  –  durch Ackerbau und Beweidung. Damals (etwa 100  n.  Chr.) berichtete Tacitus von den „schaurigen Wäldern“ Germaniens (Seitz 2017). Das änderte sich in Mitteleuropa erst im Mittelalter, als sich ortsfeste Siedlungen entwickelten, was einen grundsätzlichen Wandel in der Kulturlandschaft nach sich zog. Das Vieh weidete nicht nur auf offenen Flächen, sondern auch in Wäldern, die dadurch zunehmend lichter wurden. Durch die im Hochmittelalter ständig wachsende Bevölkerung brauchte man mehr landwirtschaftliche Nutzfläche, sodass auch bisher fast unbewohnte Mittelgebirge besiedelt wurden. Bis zum Mittelalter gab es meist keine deutliche Trennung von Wald und Weide, lediglich die Ackerflächen wurden z.  B. durch Steinmauern von den Weideflächen abgetrennt. Auf den Weideflächen wurde der Wald zurückgedrängt, durch den Viehverbiss wurden die Gräser gefördert, da diese schneller nachwachsen können als Kräuter. So entstand das erste Grünland. Rinder waren zumindest in den feuchteren Regionen Mitteleuropas die hauptsächlichen Weidetiere, da sie dreifach genutzt werden können („Dreinutzungsrind“): zur Milch- und Fleischproduktion und als Arbeitstiere. Schafe wurden meist nicht von ortsansässigen Bauern gehalten, sondern von einem Wanderschäfer „nomadisierend“ durch offenes, frei zugängliches Land geführt. Ziegen wurden sowohl bei Rinder- als auch bei Schafherden mitgeführt, da sie am effektivsten für die Reduktion von Gehölzen sorgen und so die Landschaft „offen halten“. In kälteren Regionen kam das Vieh im Winter in den Stall; während dieser Zeit wurde Winterfutter benötigt. Da auf den Weiden nicht mehr viel zu holen war, wurde früher oft das Laub von Bäumen verfüttert (Laubheu). Typische Flächen zur Gewinnung von Winterfutter sind dagegen die Wiesen, die zu diesem Zweck einmal oder mehrmals im Jahr gemäht werden. Nicht oder wenig gedüngte Wiesen vertragen maximal zwei Schnitte im Jahr, stark gedüngte Intensivwiesen können bis zu sechsmal im Jahr geschnitten werden. Da der (tierische) Dünger früher hauptsächlich für die Äcker benötigt wurde, wurden die klassischen Futterwiesen (Glatthaferwiesen, Abb. 134) nur wenig gedüngt und zweimal im Jahr gemäht. Die meisten Futterwiesen sind aber heutzutage wesentlich stärker gedüngt und werden häufiger gemäht

als die Fettwiesen. Natürliche Standortunterschiede werden durch Entwässerung und Düngung nivelliert, die Wiesen werden heute vier- bis sechsmal im Jahr geschnitten. Ergebnis davon sind die im Mai einheitlich gelb-grünen Löwenzahnwiesen, die mancher als ästhetisch ansprechend empfinden mag, die aber nur noch wenige verschiedene Pflanzenarten und eine stark verarmte Tierwelt aufweisen. Auch bei den Weiden gibt es eine Reihe steigender Intensität: Auf die nicht oder kaum gedüngten Borstgrasrasen oder -weiden (s. S. 108) folgt die mäßig gedüngte Rotschwingelweide, danach die stark gedüngten Intensivweiden. Während der Viehbesatz bei extensiv

genutzten Weiden bei 0,5 bis 1,5 GVE/ha (GVE = Großvieheinheiten, eine GVE entspricht einem ausgewachsenen Rind von ca. 500 kg) liegt, beträgt er bei einer Intensivweide in der Regel über 2 GVE/ha und kann bis zu 6 GVE/ha betragen. Auch für die Weiden gilt: Je weniger intensiv die Nutzung, desto artenreicher.

Äcker Ebenso wie naturnahes Gras- bzw. Grünland stehen zumindest die Getreideäcker als Ökosystem den natürlichen Steppen nahe. Da in ihnen jedoch nur eine Pflanzenart gefördert und alle anderen mit unterschiedlichen Mitteln unterdrückt werden, sind Äcker in der Re-

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Abb. 134: Blütenreiche Glatthaferwiese.

Abb. 135: Der Feldhamster galt lange als Plage, heute steht er in Mitteleuropa am Rande des Aussterbens.

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gel wesentlich artenärmer als Grünland. Dennoch können sie, vor allem in Verbindung mit Randstrukturen, Lebensräume für verschiedene Tier- und Pflanzenarten sein. Als der Mensch vor etwa 12 000 Jahren den Ackerbau im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds (überwiegend in der heutigen Osttürkei, im Irak und in Syrien) „erfand“, gehörte der Klatschmohn zu den ersten Ackerwildkräutern. Er begleitete dann die nach Mitteleuropa einwandernden „Neolithiker“, die nicht nur das Getreide und den Mohn mitbrachten, sondern auch domestizierte Schafe, Ziegen, Rinder und Schweine. Getreidefelder mit Klatschmohn, Kornblume und anderen „Unkräutern“ waren bis vor wenigen Jahrzehnten ein gewohntes Bild, heute gibt es auf der überwiegenden Zahl der Äcker weder Kornblume noch Klatschmohn. Der Grund hierfür: Ende des 19.   Jahrhunderts begann die zunehmende Technisierung der Landnutzung. Die Erfindung der Dampfmaschine ermöglichte erstmals eine intensive Bodenbearbeitung. Ab 1869 waren Dampfpflüge im Einsatz, die bis über 2  m tief pflügen konnten und zur Umwandlung von Mooren in landwirtschaftliche Nutzflächen eingesetzt wurden. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg, vermehrt aber nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden Traktoren verwendet und ersetz-

II. Landschaften und Lebensräume

ten nach und nach die Zugtiere. Zudem wurde auf Ackerflächen zunehmend Mineraldünger eingesetzt, seit den 1950er-Jahren auch synthetische Herbizide. Mehr und mehr wurden traditionelle Landnutzungsformen aufgegeben, die daran gebundenen Tiere und Pflanzen wurden immer seltener (Seitz 2017). Viele der in Ackerlandschaften vorkommenden Tierund Pflanzenarten stammen aus Steppenlandschaften. Dies gilt z.  B. für den Feldhamster (Abb.  135), der ursprünglich in den Steppen Osteuropas und Asiens beheimatet war und sich im Gefolge der landwirtschaftlichen Nutzung nach Westeuropa ausbreitete. Bis weit ins 20. Jahrhundert galt der Feldhamster als Plage, in der ehemaligen DDR wurden bis in die 1980er-Jahre Prämien für erlegte Tiere vergeben. Heute steht er in Mitteleuropa am Rand des Aussterbens und ist inzwischen europaweit geschützt. Auch die Individuenzahlen vieler Vogelarten in der Agrarlandschaft sind stark rückläufig. Das Rebhuhn war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine der häufigsten Vogelarten der Ackerlandschaft, sein Bestand ist europaweit seit 1980 um 94   % zurückgegangen. Selbst vor wenigen Jahren noch regelmäßig anzutreffende Vögel wie die Feldlerche werden immer weniger. Sie profitierte wie viele andere Tierarten zwischenzeitlich vom Flächenstilllegungsprogramm der 1990er-Jahre, das von der EU für 10  % der bewirtschafteten Fläche verordnet wurde, um Überschüsse abzubauen. Heute redet niemand mehr von Flächenstilllegung, man spricht im Gegenteil von einem „Flächenhunger“. Die niedrigen Zinsen und die energetische Nutzung von Feldfrüchten haben zu einer weiteren Monotonisierung der Agrarlandschaft (Abb. 136) geführt.

Weinlandschaften Schon 5800 Jahre v. Chr. lässt sich im Südkaukasus im heutigen Georgien erstmals der Anbau von Weinreben nachweisen. Der Weinbau breitete sich im gesamten Nahen Osten aus; im 4. Jahrtausend v.   Chr. bauten die Alten Ägypter Wein an, etwa um 1700 v.   Chr. kultivierten auf Kreta die Minoer erstmals Reben. Griechische Kolonisten dürften im 7./6. Jahrhundert v.  Chr. erstmals Rebstöcke nach Gallien gebracht haben. Sicher nachgewiesen ist Weinherstellung im heutigen Frankreich um 400 v.  Chr. Im heutigen Schweizer Kanton Wallis konnte nachgewiesen werden, dass bereits zwischen 800 und 600 v.  Chr. Reben kultiviert wurden. Mit den Römern breitete sich der Weinbau in Spanien, Gallien und Nordafrika aus, etwas später auch an Rhein und Mosel (Germanien).

Weinproduktion und Weinkonsum erreichten ab der Übergangsphase vom Früh- zum Hochmittelalter durch die mittelalterliche Warmzeit in ganz Europa einen absoluten Höhepunkt. Wein war nicht mehr nur für die wohlhabende Schicht verfügbar. Weingärten wurden auch in klimatisch ungünstigen Gebieten angelegt, sie reichten in ihrer nördlichen Ausdehnung bis nach Königsberg und Thorn in Ostpreußen oder Grünberg in Schlesien. Auch in Südengland wurde umfangreich Weinbau betrieben. Nach Klimaverschlechterungen wurden Grenzlagen aber wieder aufgegeben.

Der Weinbau ist in vielen Teilen Europas landschaftsprägend. Führende Weinbaunationen Europas sind mit großem Abstand Frankreich, Italien und Spanien, die zusammen etwa ein Drittel der weltweiten Weinanbaufläche und fast 45  % der erzeugten Weinmenge auf sich vereinen. Mit weitem Abstand folgt Portugal bezüglich der Fläche, Deutschland bezüglich der erzeugten Menge. In den deutschsprachigen Ländern spricht man in der Regel von Weinbergen, da die Reben meist am Hang angebaut werden, um die Sonneneinstrahlung optimal zu nutzen. Wegen des ausgeglichenen Klimas in Was-

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Abb. 136: Monotone Agrarlandschaft (Thüringen, Deutschland).

Abb. 137: Weinlandschaft an der Ahr (Rheinland-Pfalz, Deutschland).

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sernähe liegen an der Nordgrenze des Weinbaus viele der klassischen Weinbaugebiete in Flusstälern oder deren Umgebung. Besonders dann, wenn sich die Weinberge an felsigen Steilhängen festkrallen, wie an der Mosel, der Nahe, dem Mittelrhein oder der Ahr (Abb. 137), entstehen beeindruckende Landschaftsbilder. Weiter im Süden ist der Anbau am Hang aus klimatischen Gründen nicht mehr erforderlich, dennoch liegen die Weinberge wie z.  B. in der italienischen Toskana (Abb. 138) meist im Hügelland, da die Ebenen in der Regel für den Ackerbau genutzt werden. Auch beim Weinbau gibt es wie beim Ackerbau eine zunehmende Intensivierung und Mechanisierung;

II. Landschaften und Lebensräume

schwer zu bearbeitende Steillagen werden häufig aufgegeben, historische Trockenmauern beseitigt. Im Qualitätsweinbau gibt es jedoch auch eine Renaissance der Steillagen. Im durch den Portwein bekannt gewordenen Weinbaugebiet Alto Douro in Portugal, das 2001 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde, werden die bereits aufgegebenen Terrassenweinberge zum Teil wiederhergestellt (Abb. 139). Der Weinbau ist zwar eine mit dem Ackerbau vergleichbare Intensivkultur, viele Weinbaugebiete sind aber durch die besonderen klimatischen Bedingungen und durch Begleitstrukturen wie Trockenmauern Lebensräume zahlreicher Tier- und Pflanzenarten. Ins-

Abb. 138: Weinberge in der Toskana (Italien).

Abb. 139: Terrassierte Weinlandschaft am Oberen Duoro (Alto Duoro, Portugal).

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Die Zippammer  –  vom Aussterben bedroht? Von der Größe und Gestalt her kommt die Zippammer (Abb. 140) einem langschwänzigen Sperling nahe. Obwohl sie also deutlich weniger attraktiv ist als z. B. der Bienenfresser und der Wiedehopf, die in der Umgebung von Kenzingen, dem Wohnort des Autors, vor allem im Kaiserstuhl wieder recht häufig sind, ist die Zippammer für den Autor die größere Attraktion: Nur an wenigen felsigen Hängen im Südschwarzwald konnte man sie bisweilen aufstöbern. Normalerweise erkennt man die Singvögel an ihrem Gesang, und gerade bei den Ammern wie der Goldammer, der Grauammer und der Zaunammer ist dieser besonders charakteristisch. Die Zippammer ist wesentlich schüchterner als ihre Verwandten und singt nur recht leise und eher selten. Da dem Autor aber ihre Brutgebiete bekannt waren  –  felsige, vorzugsweise südexponierte Weidfelder (s. S. 102) –, hat er dennoch ab und zu eine zu Ge-

Abb. 140: Zippammer.

besondere an der Nordgrenze des Weinbaus zeichnen sich Weinberge durch das Vorkommen wärmeliebender Arten aus, die ansonsten selten geworden sind. In den Rebflächen selbst sind bisweilen Zwiebelpflanzen zu finden wie die Weinberg-Tulpe, der Weinberg-Lauch, die Weinbergs-Traubenhyazinthe sowie verschiedene Milchstern- und Gelbstern-Arten. In Weinberglagen eingestreut oder in ihrer Nachbarschaft finden sich häufig Trockenrasen mit ihrer charakteristischen Vegetati-

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II. Landschaften und Lebensräume

sicht bekommen. In den letzten Jahren ist ihm das aber im Südschwarzwald nicht mehr gelungen, denn es gibt dort nur noch wenige Brutpaare. Da es im übrigen Schwarzwald wohl gar keine Zippammern mehr gibt, ist sie im höchsten deutschen Mittelgebirge akut vom Aussterben bedroht. Ausgestorben ist sie bereits im Pfälzerwald, wo es in den 1990er-Jahren noch eine Population in Kahlschlägen gab. Die größten Populationen gibt es noch an flussbegleitenden steilen Hanglagen des Rheins und seiner Nebenflüsse, wo in der Regel auch Wein angebaut wird. Da die Zippammer jedoch nicht vom Wein, sondern von felsigem Gelände abhängig ist, kommt sie nur in Weinbergen vor, die von Felsen begleitet werden, und dies ist an Mosel, Mittelrhein und Ahr regelmäßig der Fall. Dennoch haben die Bestände in Mitteleuropa wohl überwiegend aufgrund von Veränderungen in der Landschaftsstruktur seit etwa 1960 stark abgenommen. Es wird vermutet, dass Zippammern, die an die klimatisch bevorzugten Gebiete  –  Weinstandorte an den Flusshängen von Ahr, Mosel, Nahe, Rhein und Main  –  adaptiert sind, nicht als Quellpopulationen für an das raue Gebirgsklima angepasste Zippammern z. B. des Pfälzerwalds und des Schwarzwalds fungieren können. In ihrem Hauptverbreitungsgebiet Südeuropa kommt die Zippammer in felsigen Gegenden noch verbreitet vor; auch in Gebirgen wie den Pyrenäen, den Alpen und den Vogesen trifft man sie noch regelmäßig an. Bei einer Fahrt durch das Karstgebiet des Balkans kann man fast an jeder „Straßenecke“ eine Zippammer auffliegen sehen, sie ist dort noch immer einer der häufigsten Vögel, da sie in diesem kargen Felsenreich auf ideale Bedingungen trifft.

on. Auch an Felsen und Mauern sind spezielle Tiere und Pflanzen zu finden. Welche Vögel in unterschiedlich strukturierten Weinbergen vorkommen, war eine Fragestellung der Doktorarbeit des Autors (Seitz 1989). Einige Vogelarten wie der Bluthänfling bauen sogar ihre Nester in die Reben. Über das Vorkommen der verschiedenen Arten entscheidet vor allem, in welcher Region man sich befindet und was außer den Reben noch auf einer Fläche vorkommt.

Lebensraum Stadt Manche landwirtschaftlich intensiv genutzten Regionen weisen eine geringere Artenvielfalt auf als Städte, die mit ihren Grünflächen, aber auch mit ihren Gebäuden eine Vielzahl von Tieren und Pflanzen beherbergen können. In Parkanlagen mit alten Bäumen kommen etliche Tiere vor, die sonst in Wäldern leben, wie Kleiber, Spechte und viele Insekten, darunter auch seltene Holzkäfer wie der Eichenbock. In Berlin lebt sogar der Biber mitten in der Stadt (Seitz 2017). Industriebrachen sind Lebensraum für Eidechsen, Amphibien, Wildbienen und viele andere Tiere und Pflanzen. Auch Gärten im Stadtgebiet können eine bemerkenswerte Artenvielfalt aufweisen, wie eine Studie der Universität Basel zeigt (Quelle: www.unibas.ch). In 35 Gärten konnten insgesamt 254 Arten nachgewiesen werden, darunter 24 Ameisen, 10 Asseln, 87 Kurzflügelkäfer und 24

Laufkäfer, 39 Schnecken, 52 Spinnen und 18 Tausendfüßler. Neben den erwarteten weitverbreiteten Arten fanden sich auch einige seltene und auf der Roten Liste der Schweiz aufgeführte Arten. Bezüglich der Artenvielfalt gab es große Unterschiede zwischen den untersuchten Gärten. Entscheidend ist die Strukturvielfalt, also die Kombination verschiedenster Kleinlebensräume wie Grasflächen, Büsche, Laubhaufen oder Totholz. Gartenbesitzer können also durch eine aktive Erhöhung der Strukturvielfalt ihres Gartens die Artenvielfalt direkt fördern und so einen nachhaltigen Beitrag zur urbanen Biodiversität leisten. Etliche Tiere und Pflanzen akzeptieren Gebäude als Ersatz für Felsen oder Höhlen. An Dächern nisten Schwalben und Mauersegler. Besonders viele Arten sind an und in Kirchen zu finden, wie z.  B. Fledermäuse, Schleiereulen, Turmfalken und bisweilen sogar Wanderfalken. Im Mittelmeergebiet lebt der Rötelfalke (Abb. 141), der an-

Abb. 141: Rötelfalke.

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Norden ausgebreitet hat. Er brütet dort zwar auch außerhalb von Siedlungen, diese dürften in Europa jedoch mittlerweile 90  % des Gesamtbestands beherbergen.

Landschaft im Wandel

Abb. 142: Haussperling.

THEMA

sonsten überwiegend menschenleere Steppen bewohnt, inmitten großer Städte wie Sevilla, wo eine Kolonie mit einigen Dutzend Paaren an einer Kathedrale brütet. Das „Haus“ in ihrem Namen tragen Vögel wie Haussperling (Abb. 142) und Hausrotschwanz. Während beim inzwischen fast weltweit verbreiteten Haussperling nicht geklärt ist, wo er ursprünglich lebte, war der Hausrotschwanz ursprünglich ein reiner Gebirgsvogel, der sich erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts von den Alpen nach

Konkurrenz aus Gibraltar? Abb. 143: Berberaffe mit Chipstüte. Abb. 144: Warnung vor den Übergriffen der Berberaffen.

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Ist der Mensch die einzige freilebende Primatenart Europas? Sollte man meinen, da es in Europa ja keine Affen gibt. Oder doch? Von einer kleinen, felsigen Halbinsel im Süden der Iberischen Halbinsel droht uns Konkurrenz: durch die Berberaffen (auch Magots genannt) auf Gibraltar. In punkto Schnelligkeit, Wendigkeit und Schwindelfreiheit sind sie uns eindeutig

II. Landschaften und Lebensräume

Im Buch „Das Gesicht Deutschlands“ (Seitz 2017) wird am Beispiel Deutschlands der gravierende Landschaftswandel vor allem seit dem 19. Jahrhundert geschildert. Die Erfindung der Dampfmaschine im 18.  Jahrhundert und des Mineraldüngers im 19. Jahrhundert ermöglichten die zunehmende Mechanisierung der Landwirtschaft, die erst im 20. Jahrhundert zum Abschluss kam. Da neben den Straßen die Gewässer  –  insbesondere nach dem Aufkommen von Dampfschiffen  –  wichtige Verkehrswege waren, wurden große Flussregulierungen durchgeführt. Nachdem die großen Flüsse reguliert waren, wurden Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kanäle gebaut, um die Flüsse bzw. Nord- und Ostsee miteinander zu verbinden. Die Städte wuchsen im 19. Jahrhundert sehr schnell über ihre nicht mehr als Schutz benötigten mittelalterlichen Mauern hinaus. Wenig Gedanken machte man sich zunächst um Umweltzerstörung, Landschaftsverbrauch, Schadstoffdeponierung, Abwasser und Abgase; die Flüs-

überlegen. Als der Autor vor Kurzem mit seiner Familie dort war und gerade die Warnschilder auf einer Aussichtsterrasse studierte (Abb. 144), war es schon geschehen: Ein Berberaffe kam wie aus dem Nichts, landete kurz auf dem Rücken der Tochter und klaute eine Chipstüte aus dem Kinderwagen des Enkels. Damit setzte er sich auf das Terrassengeländer, riss die Tüte auf und fraß in aller Seelenruhe einen Kartoffelchip nach dem anderen. Offenbar handelte es sich um das Alphamännchen, denn ein hinzukommendes Weibchen bekam trotz eindeutiger Annäherungsversuche keinen einzigen Chip ab. Der Verlust der Chipstüte war zu verkraften, da so in aller Seelenruhe schöne Bilder gemacht werden konnten (Abb. 143).

se wurden teilweise zu stinkenden Kloaken. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Energiegewinnung eines der vordringlichen Probleme. Elektrischer Strom wurde einerseits durch Kohlekraftwerke gewonnen, andererseits in Wasserkraftwerken, die in Form von Laufwasserkraftwerken an größeren Flüssen oder als Talsperren in Mittelgebirgen errichtet wurden. Während das 19. Jahrhundert ein Zeitalter der Eisenbahn war, wurde das folgende das Zeitalter des Automobils, das eine gewaltige Zunahme des Individualverkehrs mit sich brachte. Die bereits im 19. Jahrhundert begonnene Rationalisierung bzw. Industrialisierung der Landwirtschaft, die „Grüne Revolution“, schlug in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg voll durch und führte zu gravierenden Landschaftsveränderungen. Um noch ausreichenden Gewinn zu erzielen, hieß es für die landwirtschaftlichen Betriebe „wachsen oder weichen“. Gewichen sind vor allem kleine Betriebe auf „Grenzertragsstandorten“, z.  B. in den Mittelgebirgen. Dies führte zu einer Aufteilung in ertragreiche, monotone „Nutzlandschaften“ und schwierig zu nutzende Flächen, die zunehmend dem Wald überlassen wurden. Da viele unserer Tiere und Pflanzen auf strukturreiche, halboffene Landschaften mit Feldrainen, Bäumen, Gebüschen und so weiter angewiesen sind, gerieten immer mehr Arten in Bedrängnis.

Ein weiteres brisantes Thema ist der Landschaftsoder Flächenverbrauch. Damit ist insbesondere die Versiegelung der Böden durch Bebauung oder Infrastruktur gemeint. Auch wenn man in den letzten Jahren versucht, die Flächeninanspruchnahme etwa durch „Innenverdichtung“ zurückzufahren, kommen in Deutschland täglich nach wie vor rund 60 ha an bebauter Fläche hinzu bzw. gehen anderen Nutzungen (Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz, Freizeit) verloren. Der Abbau von Rohstoffen bedeutet in vielen Fällen einen Eingriff in die Landschaft. Bei den traditionellen Energieträgern gilt dies vor allem für die Braunkohle, die über Tage abgebaut wird. Ein veränderter Landschaftscharakter oder sogar ganz neue Landschaften entstehen in den letzten Jahren aber auch durch die Nutzung regenerativer Energien wie Wind, Wasser oder Biomasse. Begriffe wie „Verspargelung“ oder „Vermaisung“ der Landschaft machen die Runde. Während die „Vermaisung“ sich auf den zunehmenden Anbau von Mais im Zusammenhang mit der Nutzung von Biomasse z.  B. in Biogasanlagen bezieht, hat „Verspargelung“ nichts mit der Zunahme von Spargeläckern zu tun, sondern mit den Windenergieanlagen (Abb.  145), die für die einen den Hauptbeitrag zum regenerativen Energiemix leisten, für die anderen das Landschaftsbild verschandeln.

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Abb. 145: Windkraftanlagen bei Dagebüll (Schleswig-Holstein, Deutschland).

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II. Landschaften und Lebensräume

Diese für Deutschland geschilderten Entwicklungen treffen vom Grundsatz her für weite Bereiche Europas zu, während auf der anderen Seite immer mehr Schutzgebiete ausgewiesen werden. Zunehmend gibt es eine Trennung in „Nutzlandschaften“ und „Schutzlandschaften“.

Bergland Gebirge in Europa Die Bescheibung des Berglands bildet den Abschluss des Kapitels über die Landschaften und Lebensräume Europas, da es alle bisher erwähnten Lebensräume in sich vereint. Im Bergland gibt es die meisten naturnahen Wälder, dort entspringen viele Flüsse als klare Bergbäche und bilden teilweise gewaltige Schluchten, die Felswände stellen aus ökologischer Sicht „Wüsten“ dar, über der Baumgrenze entwickelt sich alpines Grasland, das meist beweidet wird und daher zum Kulturland überleitet. Und auch das Bergland, an vorderster Stelle die Alpen, wurde nicht von einem gravierenden Landschaftswandel verschont, wie in Werner Bätzings Buch „Die Alpen – Das Verschwinden einer Kulturlandschaft“ (Bätzing 2018) eindrucksvoll dargestellt wird. Rund 25  % der Fläche Europas werden von Gebirgen eingenommen. Für die Unterscheidung zwischen Mittelund Hochgebirgen gibt es keine allgemeingültige Definition; das wichtigste Merkmal eines Hochgebirges ist die Erhebung über die klimatische Waldgrenze  –  in Europa liegt diese bei 1500 bis 2500  m (s. S. 40). Wie bereits erwähnt (s. S. 19), gab es in Europa drei Phasen der Gebirgsbildung: die Kaledonische, die Variszische und die Alpidische Orogenese. Während die in den ersten beiden Phasen entstandenen Gebirge heute allenfalls noch als Mittelgebirge vorhanden sind, wurden die heutigen Hochgebirge alle durch die Alpidische Orogenese geschaffen. Die Alpidische Orogenese wurde durch den Zusammenprall der afrikanischen mit der europäischen Platte verursacht, daher liegen die dadurch aufgefalteten Gebirge auch weitgehend im Süden Europas. Neben dem Kaukasus an der südöstlichen Grenze Europas wurden die Alpen am stärksten in die Höhe gedrückt. Weitere während der Alpidischen Orogenese aufgeworfene Gebirge sind die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien, die Apenninen in Italien, die Karpaten östlich sowie die Dinariden und weitere Gebirge südöstlich der Alpen (s. Abb. 11).

Höhenstufen An den Bergen fasziniert besonders, dass man beim Anstieg vom Tal in die Höhe auf relativ kurzen Distanzen verschiedene Vegetationszonen und unterschiedliche Jahreszeiten erleben kann, wofür man sonst erhebliche Strecken von Süden nach Norden zurücklegen müsste. Selbst in einem Mittelgebirge wie dem Schwarzwald kann man im April gleichzeitig blühende Kirschbäume oder austreibende Reben im Tal und schneebedeckte Gipfel sehen (Abb.  146). Auf der Spitze des knapp 1500   m hohen Feldbergs liegt die durchschnittliche Jahrestemperatur mit knapp 4 °C deutlich unter der von Reykjavik, der Hauptstadt von Island (7 °C). Die verschiedenen Höhenstufen unterscheiden sich bezüglich ihres Klimas und damit auch ihrer Vegetation  –  hier erläutert am Beispiel der Alpen: Die planare Stufe (Flachland) bezeichnet die Tieflagen mit relativ hoher Durchschnittstemperatur; die natürliche Vegetation ist in weiten Bereichen durch Kulturland ersetzt. Die kolline Stufe (Hügelland) bis ca. 800  m ist der Bereich, in dem Weinbau betrieben werden kann. Die naturnahen Wälder werden von der Rotbuche dominiert, hinzu kommen verschiedene Eichenarten. Ab ca. 800  m beginnt die montane Stufe, in der Nadelgehölze wie die Fichte zunehmen; bei ungefähr 1500  m liegt die Obergrenze des Laubwalds. Die Waldgrenze befindet sich in der subalpinen Stufe zwischen 1500 und 2500  m. Dort können noch Nadelbäume wie Fichte, Lärche, Zirbelkiefer (Arve) und Latsche gedeihen, die im Bereich der Krummholzzone (s. S. 40) immer niedriger werden. Hier befinden sich auch die Hochalmen. In der alpinen Stufe zwischen 2000 und 3000  m liegt die Grenze geschlossener Vegetation, man findet dort Bergtundra (s. S. 93), alpines Grasland, Staudenfluren, Polsterpflanzen, in höheren Lagen vor allem Flechten und Moose. Die nivale Stufe über 3000  m ist schließlich weitgehend vegetationsfrei, die Niederschläge fallen ganzjährig als Schnee. Die verschiedenen Höhenstufen mit ihrer unterschiedlichen Vegetation bilden auch ein mehr oder weniger durchgängiges Ökoton (s. S. 22), was ebenfalls zur enormen Artenvielfalt des Berglands beiträgt.

Lebensraum Hochgebirge Die Vielfalt der Gebirge resultiert nicht nur aus den verschiedenen Höhenstufen, sondern auch aus der enormen Vielfalt unterschiedlicher Standorte, verursacht u. a. durch unterschiedliche Gesteine, Neigung und Exposition. Dies gilt insbesondere für die Hochgebirge und soll hier am Beispiel der Alpen näher erläutert werden.

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Abb. 146: Feldberg im Schwarzwald, im Vordergrund austreibende Reben (Kenzingen, Baden-Württemberg, Deutschland).

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Alpenwanderer Abb. 147: Herbstlich goldgelbe Lärchen an der Grande Traversata delle Alpi.

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Der Alpentourismus setzte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Der erste Alpenverein wurde 1857 gegründet  –  in England. Die Engländer waren es auch zunächst, die den „Fremdenverkehr“ in Mitteleuropa und den Alpen begründeten. Nachdem norwegische Ski importiert und nach 1890 in Deutschland erste Skivereine gegründet worden waren, weitete sich der Tourismus auch auf den Winter aus. Heute sind die Alpen touristisch weitgehend erschlossen, vor allem der Wintersport greift mit seiner Infrastruktur (Pisten, Lifte, Beschneiungsanlagen mit Wasserspeichern) erheblich in die Landschaft ein. Auch im Sommer sind vor allem die durch Seilbahnen erschlossenen Bereiche sehr stark belastet, während sich der Mensch aus anderen Alpenregionen zunehmend zurückzieht. So beklagt der Kulturgeograph Werner Bätzing das Verschwinden der Kulturlandschaft in vielen Tälern der Südalpen (Bätzing 2018) und hat versucht, dem mit der Werbung für die Grande Traversata delle Alpi (GTA, Abb. 147) entgegenzuwirken. Die GTA ist ein italienischer Weitwanderweg, der mit rund 1000  km Länge und in 65 Tagesetappen den gesamten piemontesischen Westalpenbogen

II. Landschaften und Lebensräume

durchzieht, von den Walliser Alpen und den Grajischen Alpen über die Cottischen Alpen, die Seealpen und die Ligurischen Alpen bis ans Mittelmeer (Ventimiglia). Da dieser Teil der Alpen in zahlreiche Quertäler gegliedert ist, verlaufen die Tagesetappen oft über Pässe, die hochgelegene Talorte miteinander verbinden; andere Etappen sind Höhenwege innerhalb eines Tals. Die Idee stammt aus Frankreich, wo um 1970, zeitgleich mit der Entwicklung der Europäischen Fernwanderwege, eine „Grande Traversée des Alpes“ eingerichtet wurde. Einige Jahre später begann eine Gruppe Turiner Bergbegeisterter, das Konzept eines Fernwegs entlang des piemontesischen Alpenbogens auszuarbeiten; ab 1979 gab es einen Boom mit bis zu 300 Übernachtungen pro Saison und Etappenort. Nach wenigen Jahren erlahmte das Interesse der italienischen Wanderer jedoch: Nach einer großartigen ehrenamtlichen Aufbauleistung schaffte man es nicht, der GTA eine dauerhaft tragfähige Organisationsstruktur zu geben. Seit 1985 wird die GTA im deutschen Sprachraum von Werner Bätzing als Beispiel für ökologisch verträglichen Tourismus propagiert; 1989 brachte er einen Wanderführer heraus,

der seitdem regelmäßig aktualisiert wird. Durch Zeitschriftenartikel und Bildbände machten neben Bätzing auch einige weitere Reisejournalisten und Wanderleiter wirksame Öffentlichkeitsarbeit für die GTA. Tatsächlich nahm die Zahl der Trekkingtouristen aus dem deutschen Sprachraum ab Mitte der 1980er-Jahre stark zu und glich den Rückgang der italienischen Wanderer ungefähr aus; heute wird die GTA ganz überwiegend von Wanderern aus dem deutschen Sprachraum begangen. Da der Zusammenbruch der traditionellen Strukturen in Italien deutlich später als im benachbarten Frankreich erfolgt ist, hat man auf der GTA noch reichhaltige Gelegenheit, Relikte der alten Wirtschaftsweise zu beobachten. Oft verläuft die GTA auf alten Wegen, die früher die einzelnen Weiler einer Gemeinde miteinander verbanden. Besonders beeindruckend (und angenehm zu nutzen) sind die befestigten „Mulattieras“ (Maultierpfade) in den Kastanienwäldern der kollinen Höhenstufe (Abb. 148). Diese Stufe war dicht besiedelt, bis Anfang des 20.  Jahrhunderts eine Kastanienkrankheit die bisherige Ernährungsgrundlage der Einheimischen schlagartig vernichtete. In höheren Lagen kann man immer wieder Begrenzungsmauern alter Ackerterrassen entdecken, da in jeder Gemeinde zur Selbstversorgung auch Getreide angebaut wurde. In einigen Gegenden, insbesondere im Nordteil, ist auch die Almwirtschaft noch lebendig. Dominik Siegrist von der Hochschule Rapperswil (Schweiz) hat Qualitätsstandards für den zunehmend nachgefragten naturnahen Tourismus im Alpenraum

entwickelt (Siegrist et al. 2015). Im Sommer 2017 wanderte er mit Freunden in 120 Tagen 1800  km von Wien nach Nizza und nannte das Projekt „Whatsalp“. Rund 200 Personen wanderten mit der „Whatsalp“Gruppe über kürzere oder längere Zeit mit. Dabei ging es um deutlich mehr als eine Weitwanderung, es sollte der Zustand der Alpen dokumentiert werden. Siegrist und seine Mitwandernden sprachen mit Alpenbewohnern, diskutierten mit Umweltaktivisten, trafen Tourismusmanager und befragten Forscherkollegen (Siegrist 2019). Einen wichtigen Rahmen des Projekts stellte die Alpenkonvention dar, zu der sich die Alpenländer zum Schutz und zur nachhaltigen Entwicklung der Alpen bekannt haben. Auf der Wanderung wurde deutlich, dass die Alpen keine homogene Einheit bilden, und dass die Ausgangslage und die aktuelle Situation in den verschiedenen Alpenregionen sehr unterschiedlich sind. Als Projektpartner begleiteten die „Commission Internationale pour la Protection des Alpes“ (CIPRA) und der Schweizer Verein „Alpen-Initiative“ (rätoromanisch: „Iniziativa da las Alps“) die Reise. Die wichtigsten Ergebnisse des Projektes „Whatsalp“: Die Klimaerwärmung hat weiter zugenommen und ihre Folgen werden immer deutlicher sichtbar. Dem global ausgerichteten, unökologischen Intensivtourismus stehen neue Formen des naturnahen Tourismus in den Alpen gegenüber. Der Transitgüterverkehr auf der Straße hat weiter zugenommen und auch der motorisierte Freizeitverkehr hat sich in den vergangenen 25 Jahren stark entwickelt. Die Energiewende führt zu neuen Konflikten zwischen Energieprojekten und Landschaftsschutz. Im Rahmen von neuen Parks und Großschutzgebieten stellt sich die Frage: Kulturlandschaft oder Wildnis fördern? Das „Bioland Alpen“ ist seit 1992 in vielen Tälern Realität geworden, während an anderen Orten weiterhin eine intensive und unökologische Land- und Forstwirtschaft dominiert. Die Alpen sind durch ein starkes Bevölkerungswachstum geprägt, leiden aber dennoch in vielen Regionen verstärkt an einer flächenhaften Abwanderung. Der Alpenraum kann nachhaltiger gestaltet werden.

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Abb. 148: Alte Esskastanie.

In den Kaltzeiten wurden die Bäume vollständig aus den Alpen verdrängt, und es dauerte eine Zeit lang, bis sie aus ihren südeuropäischen Refugien wieder einwandern konnten. Daher sind die natürlichen Wälder der Alpen heute noch relativ artenarm: Es gibt nur etwa 40 Baumarten, darunter acht Nadelbäume, und keine für die Alpen endemische Baumart. Da während der Kaltzeiten jedoch die Pflanzen des alpinen Graslands (Rasengesellschaften) an geschützten Stellen überleben konnten, hat

sich bei ihnen eine sehr hohe Artenvielfalt ausbilden können (Bätzing 2018). Von den knapp 5000 Pflanzenarten der Alpen stammen sehr viele aus den Rasengesellschaften, und unter ihnen gibt es ca. 350 Endemiten. Im Hochgebirge herrschen extreme klimatische Bedingungen, z.  B. eine lange Schneebedeckung und eine starke Sonneneinstrahlung. Hieran haben sich die Alpenpflanzen auf unterschiedliche Weise angepasst. Einige Pflanzenarten werfen die Blätter ab und sind im

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Endemismus

Abb. 149: Haberlea rhodopensis.

Als Endemiten werden in der Biologie Pflanzen oder Tiere bezeichnet, die im Gegensatz zu den Kosmopoliten nur in einer bestimmten, räumlich abgegrenzten Umgebung vorkommen  –  sie sind in diesem Gebiet endemisch. Vor allem in der Botanik ist die Unterscheidung in „Paläoendemiten“ (Reliktendemiten) und „Neoendemiten“ (Entstehungsendemiten) üblich. Paläoendemiten sind Arten mit ursprünglich weiterer Verbreitung, die durch Änderung der Lebensbedingungen oder neue Konkurrenten in ein Reliktareal, meist eine Insel oder ein Gebirge, abgedrängt worden sind. Ein Beispiel hierfür ist die Europäische Forsythie, deren natürliches Verbreitungsgebiet die Balkanhalbinsel darstellt. Damit ist sie die einzige

Abb. 150: AlpenNelke (Dianthus alpinus).

Art der Gattung Forsythia außerhalb des ansonsten mit China, Korea und Japan relativ geschlossenen Verbreitungsgebiets. Ein weiteres Beispiel ist die Gattung Haberlea (Abb. 149) aus der überwiegend tropisch verbreiteten Pflanzenfamilie der Gesneriengewächse. Zwei Arten der Gattung kommen in Bulgarien und Griechenland vor. Sie sind ein Relikt aus dem Tertiär, als in Europa tropisches Klima herrschte. Neoendemiten sind Arten, die sich erst vor (erdgeschichtlich) kurzer Zeit aus weit verbreiteten Pflanzentaxa unter besonderen Standortbedingungen entwickelt haben. Dies nimmt man z. B. für die zahlreichen Arten der Nelkengattung Dianthus auf Berggipfeln im Mittelmeerraum an (Abb. 150).

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II. Landschaften und Lebensräume

Frühling dann gezwungen, neue auszubilden. Andere behalten ihre Blätter und fügen im Frühling nur wenige neue hinzu, wodurch sich die Photosyntheseleistung erhöht. Einige Pflanzenarten keimen völlig neu, sobald der Schnee schmilzt. Als Schutz vor Austrocknung dienen z.  B. Polster- und Rosettenwuchs, eine dichte Behaarung (Abb.  151) oder wachsartige Überzüge. Durch Polsterwuchs entsteht ein eigenes Mikroklima  –  die Temperatur an der Oberfläche wird erhöht, und im Polster werden Humus und Wasser gespeichert. Auch Tiere haben im Alpenraum die Eiszeit überdauert. So ist das Alpenschneehuhn (Abb. 152) in einem eng umgrenzten Gebiet der Alpinstufe ein verbreiteter bis häufiger Brutvogel, in Mitteleuropa ein Eiszeitrelikt. Weitere Vorkommen liegen im Norden Skandinaviens, es ist außerdem die einzige Vogelart, die ganzjährig auf Spitzbergen anzutreffen ist.

Abb. 151: Edelweiß mit dichter Behaarung als Schutz vor Austrocknung.

Abb. 152: Alpenschneehuhn, vorne das Männchen, hinten das Weibchen; im Winter sind sie fast schneeweiß.

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Abb. 153: Gänsegeier (Regionaler Naturpark Vercors, Frankreich).

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Geier – ausgerottet und wieder angesiedelt Jeder kennt die Geier, aber kaum einer liebt sie – haben sie doch als Aasfresser den Ruf, Vorboten des Todes zu sein. Dabei kommt ihnen eine enorm wichtige ökologische Funktion zu: Beseitigen sie das Aas nicht, breiten sich gefährliche Erreger wie Anthrax, Tuberkulose oder Tollwut aus. In Afrika befinden sich die Geier im „Sturzflug“ (Quelle: Badische Zeitung vom 17.05.2019), alle neun afrikanischen Geierarten sind gefährdet oder gar vom Aussterben bedroht. Wie sieht es in Europa aus? Bei einer Reise durch Südspanien im Frühjahr 2019 konnte sich der Autor davon überzeugen, dass dort die Bestände des Gänsegeiers

II. Landschaften und Lebensräume

noch sehr groß sind. Der europäische Bestand wurde um das Jahr 2004 auf rund 24 000 Brutpaare geschätzt, der Großteil davon (ca. 22 500 Paare) lebt in Spanien. Mehr als 100 Brutpaare gibt es in Europa ansonsten nur noch in Frankreich (Abb. 153), Portugal und Griechenland. Auch der Mönchsgeier, nach dem Bartgeier (s. u.) der zweitgrößte Greifvogel Europas, weist in Spanien noch stabile Vorkommen auf. Im Gegensatz zum Gänsegeier, der in Felsnischen brütet, baut der Mönchsgeier seinen Horst auf Bäumen. Sein Lebensraum sind vor allem bewaldete Hügel und Berge, auf Nahrungssuche überfliegt er aber auch häufig offenes Gelände. Nach Meinung von Experten des Nationalparks Monfragüe (s. S. 223), wo

sich die größte Kolonie in Europa befindet, schwindet allerdings sein Bestand, sodass seine Einstufung als bedrohte Tierart absehbar ist. Der deutlich kleinere Schmutzgeier kommt von Südeuropa bis Zentralasien sowie in Afrika und Südasien vor. In Spanien leben etwa 1300 bis 1500 Paare, im übrigen Europa kommen etwa 1000 weitere Paare vor. Der Bartgeier (oder Lämmergeier,  Abb. 154) zählt mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,90  m zu den größten flugfähigen Vögeln der Welt. Er ist der größte Greifvogel Europas und mit 225 bis 250 Brutpaaren einer der seltensten. Typische Lebensräume des Bartgeiers sind Bergregionen oberhalb der Baumgrenze, die durch große Höhenunterschiede, steile Felswände, gute Thermik und Aufwinde gekennzeichnet sind. Unzugängliche Felsnischen sind notwendig, damit die Bartgeier zur Brut kommen. Wichtig ist für den Bartgeier gleichfalls, dass es Raubtiere wie Wolf und Luchs sowie große Greifvögel wie Steinadler in seinem Lebensraum gibt  –  er benötigt sie, da er von ihnen einen Teil der Beute übernimmt. Lebte der Bartgeier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch in einem Großteil des Alpenbogens, wurde er in weniger als 100 Jahren in den Alpen restlos ausgerottet. Mit der zunehmenden Nutzung der Gebirgsregionen durch den Menschen wurde einerseits seine Nahrung zunehmend knapper, gleichzeitig war er einer rigorosen Bejagung ausgesetzt  –  die Landesherren lobten sogar Prämien aus. Die letzten Bartgeier wurden 1886 in der Schweiz, 1906 in Österreich und 1913 in Italien erlegt. In den 1970er-Jahren schien eine Wiederansiedlung in den Alpen möglich, denn es gab wieder große Mengen wildlebender Huftiere, die als Nahrung für den Bartgeier in Frage kamen. Dazu trat ein neues Gesetz in Kraft, das den Bartgeier schützte und die Anwendung von Strychnin in Ködern untersagte. Angeregt durch Zuchterfolge im Innsbrucker Alpenzoo bildete sich eine internationale Gruppe mit dem Ziel der Wiederansiedlung des Bartgeiers durch Auswilderung in den Alpen, die sich als sehr erfolgreich erwies. Die Wiederansiedlungsversuche, die in den 1980er-Jahren begannen, waren von umfangreichen Aufklärungskampagnen begleitet. Zu den ungewöhnlicheren Maßnahmen gehörte auch, dass man sowohl in einigen Zuchtstationen als auch in Zoos im Gehege der Bartgeier Kaninchen, Murmeltiere und Hühner hielt, um auch so zu demonstrieren, dass Bartgeier sich nicht an lebenden Tieren vergreifen. Laut aktuellen Angaben der staatlichen Vogelwarte der Schweiz leben in den Alpen derzeit etwa 100 Bartgeier (Quelle: Wikipedia/Bartgeier).

Auch für andere Geierarten gibt es erfolgreiche Wiederansiedlungsprogramme. So wurde der Gänsegeier in Frankreich im Zentralmassiv und in den Alpen wieder angesiedelt. Auf Mallorca gibt es eine Naturschutzorganisation zur Erhaltung des Mönchgeiers. Sie betreibt Zählungen und fängt junge Mönchsgeier ein, um sie in den Pyrenäen und anderen europäischen Regionen anzusiedeln. Eine neue Gefährdung der Geier ist die Nutzung der Windenergie. So wurden in Windparks in Nordspanien von 2000 bis 2016 fast 2000 getötete Gänsegeier gefunden (Quelle: Wikipedia/Gänsegeier).

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Abb. 154: In den Alpen leben derzeit etwa 100 Bartgeier.

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III. Natur oder Kultur – unser Erbe und wie wir damit umgehen

Abb. 155: Intensiver Ackerbau.

III Natur oder Kultur – unser Erbe und wie wir damit umgehen

„Bestenfalls könnte uns ein Bewusstsein für geologische Zeitspannen dabei helfen, uns als Teil eines Netzwerkes zu begreifen, in dem wir schenken, erben und weitervererben, das sich über Jahrmillionen in die Vergangenheit und Zukunft erstreckt, um zu bedenken, was wir den nachfolgenden Wesen und Epochen hinterlassen wollen.“  Robert Macfarlane, Im Unterland

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Wo gibt es in Europa noch Wildnis?

Abb. 156: Ausschnitt aus der Wildnisweltkarte.

Wildnis ist  –  wie Landschaft und Natur – kein naturwissenschaftlicher, sondern ein alltagssprachlicher Begriff mit unterschiedlichen, kulturell geprägten Bedeutungen. Es gibt zwei verschiedenartige Begriffsbestimmungen: Nach der einen wird unter Wildnis eine vom Menschen weitgehend unbeeinflusste Naturlandschaft verstanden, die sich durch naturwissenschaftliche Parameter beschreiben und von Kulturlandschaften, Städten, Landwirtschaftsflächen, Forsten usw. abgrenzen lässt. Die zweite Begriffsbestimmung ist mit einem Werturteil verbunden. Demnach wird ein Gebiet als Wildnis bezeichnet, wenn ihm die Bedeutung einer Gegenwelt zu einem kulturellen Ordnungsprinzip zugewiesen wird. Dabei kann die Bewertung sowohl positiv als auch negativ ausfallen: abwertend z.  B. als „ungezähmte, unor-

Eisschilde und Gletscher Polare Kältewüsten Tundren Alpine Hochgebirgsregionen Temperierte Nadelwälder Temperierte Laub- und Mischwälder Temperierte Steppen Wüsten und Halbwüsten Subtropische Trockenvegetation Subtropische Feuchtwälder Vom Menschen überprägt

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III. Natur oder Kultur – unser Erbe und wie wir damit umgehen

dentliche“ Natur im Gegensatz zur kultivierten Natur, aufwertend z.  B. als „unverdorbene, unschuldige“ Urnatur (Quelle: Wikipedia/Wildnis). Im Februar 2009 hat das Europaparlament auf Antrag einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen (NGO) eine (rechtlich nicht bindende) Resolution zur Erhaltung von Wildnisgebieten in Europa verabschiedet, die in das Naturschutznetzwerk „Natura 2000“ integriert werden sollen. Daraufhin bildeten die NGOs eine Arbeitsgruppe (European Wilderness Working Group) zur Konkretisierung der Empfehlungen, die 2012 abgeschlossen wurde. Festgelegt wurde folgende Definition von Wildnis: „Wildnisgebiete sind große, unveränderte oder nur leicht veränderte Naturgebiete, die von natürlichen Prozessen beherrscht werden und in denen es keine menschlichen Eingriffe, keine Infrastruktur und keine Dauersiedlungen gibt. Sie werden dergestalt geschützt und betreut, dass ihr natürlicher Zustand erhalten bleibt

und sie Menschen die Möglichkeit zu besonderen geistig-seelischen Naturerfahrungen bieten.“ (Quelle: European Wilderness Working Group, September 2011; Übersetzung von Bernhard Kohler, WWF Österreich). Die vom WWF initiierte Organisation „PAN Parks“ hat als eine der federführenden NGOs dieses Prozesses für „große Naturgebiete“ einen Wert von mindestens 100  km² festgelegt. Nach der Übernahme der PAN Parks durch die European Wilderness Society (EWS) im Jahr 2014 hat die EWS vorgeschlagen, die Mindestgröße „echter Wildnis“ im Kern solcher Schutzgebiete auf 30  km² festzulegen. Die umgebenden Gebiete bilden eine Pufferzone zu bewirtschafteten Regionen und sollen sich dann im Laufe der Zeit ebenso zu Wildnis entwickeln. Da es in Europa nur noch extrem wenige Gebiete gibt, die die strengen IUCN-Kriterien für Wildnisgebiete erfüllen, wurde darüber hinaus von der „European Wilderness Working Group“ eine weitere Definition für sogenannte „wilde Regionen“ (wild areas) vorgeschlagen: „Wilde Regionen sind naturnahe Lebensräume, deren Entwicklung überwiegend von natürlichen Prozes-

sen dominiert wird. Sie sind zumeist kleiner oder stärker fragmentiert als Wildnisgebiete, können jedoch auch sehr großflächig sein. Der Zustand ihrer Biotope, Prozesse und Artenzusammensetzung zeigt oft deutliche Spuren früherer menschlicher Nutzung und Inanspruchnahme, wie z.  B. durch Beweidung, Jagd, Fischerei, Forstwirtschaft, Sportaktivitäten oder andere Folgen menschlicher Aktivitäten.“ Die größten verbliebenen Wildnisgebiete des westlichen Europas liegen in Skandinavien und Island (Abb.  156). Finden sich keine markierten Wanderwege oder touristischen Anlagen in zusammenhängenden Gebieten, die größer als 1000  km² sind und mehr als 15  km von Straßen oder Eisenbahnlinien entfernt liegen, spricht man in Schweden von „Wildniskernen“ (Abb. 157). Nach dieser strengen Festlegung gibt es noch neun Wildniskerne, sie liegen ausschließlich in der nördlichsten Provinz Norrbotten und machen 4,5  % der Fläche Schwedens bzw. 14,5  % Norrbottens aus. In den am dichtesten besiedelten Ländern Europas, wo ursprüngliche Wildnis nahezu nur noch in den höchsten Bergregionen zu fin-

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Abb. 157: Nordische Wildnis (SarekNationalpark, Schweden).

den ist (z.  B. gelten noch 4  % der Alpen als Wildnis), geht man notgedrungen von noch kleineren Mindestflächen aus. So hält der NABU Deutschland für „neue“, geschützte Waldwildnis mindestens 0,4  km² für erforderlich. Die angestrebte Flächengröße sollte jedoch mindestens 10  km² betragen. Die Frage der Flächengröße ließe sich jedoch zurzeit nicht wissenschaftlich, sondern zunächst einmal nur politisch begründen. Für „neue“ Wildnis- und Wildnisentwicklungsgebiete schlägt das Bundesamt für Naturschutz (BfN) Mindestflächen von 5  km² vor. Während weltweit noch rund 50  % der Landoberfläche unberührte Wildnis darstellen  –  der größte Anteil liegt in Fels-, Eis- oder Wüstenregionen, die ohnehin nicht besiedelt werden können –, sind es in Europa maximal 18  %. Fast neun Zehntel davon liegen in der Tundra und Taiga Nordeuropas, davon wiederum befinden sich mehr als zwei Drittel in Nordwestrussland. Die wilden Landschaften auf Island und in Skandinavien sind bereits deutlich fragmentiert, genügen jedoch noch den strengen Kriterien der IUCN. In den dicht besiedelten Regionen Europas findet man naturnahe Landschaften vorwiegend in unzugänglichen Gebirgsregionen. Zumeist handelt es sich dabei um Gebiete, die nicht seit jeher unberührt geblieben sind, sondern die sich lediglich in einem weitgehend wildnisähnlichen Zustand befinden. Den Status einer „Kernwildnis“ erreicht hier lediglich eine einzige Fläche in den südlichen Westkarpaten (