Das Gesangbuch und seine Bilder: Voraussetzungen, Gestaltung, Wirkung [1 ed.] 9783412519803, 9783412519780

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Das Gesangbuch und seine Bilder: Voraussetzungen, Gestaltung, Wirkung [1 ed.]
 9783412519803, 9783412519780

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DAS GESANGBUCH UND SEINE BILDER

Vor aussetzungen, Gestaltung, Wirkung Esther Wipfler (Hg.)

Veröffentlichungen der Forschungsstelle Realienkunde 6

Esther P. Wipfler (Hg.)

Voraussetzungen, Gestaltung, Wirkung

Unbenannt-12 1

08.05.20 08:52

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Geistreiches Gesang-Buch/ An D. Cornelii Beckers Psalmen und Lutherischen Kirchen-Liedern : mit ihren Melodeyen unter Discant und Basso, sammt einem Kirchen-Gebeth-Buche/ Auf Chur-Fürstl. Durchl. zu Sachsen [et]c Hertzog Johann Georgens des Anderen/ gnädigste Verordnung und Kosten/ für die Churfl. Häuser und Capellen aufgeleget und ausgegeben/ im Jahre 1676 (VD17 3:307776Y), Kupferstich von David Conrad (Exemplar Halle, ULB Sachsen-Anhalt, AB B 3533 [1]), Ausschnitt. Korrektorat : Dore Wilken, Freiburg Einbandgestaltung : Guido Klütsch, Köln Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51980-3

Inhalt

Esther Wipfler Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   7 Johannes Schilling Die Geburt des Gesangbuchs aus dem Geist des Evangeliums. . . . . . . . .  11 Stefan Rhein Latein im evangelischen Gesangbuch der Reformationszeit.. . . . . . . . . .  23 Esther Wipfler Frontispiz und Titelblatt evangelischer Gesang- und Gebetbücher – Typen, Entwicklungen, Funktionen und Gestalter. Versuch eines Überblicks . . . . .  45 Sven Limbeck Das bebilderte Gesangbuch der lutherischen Reformation. Eine Medien­ geschichte zwischen Kontinuität, Innovation und Konventionalisierung . . . .  83 Beat Föllmi Die Straßburger Gesangbücher aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts . 109 Konstanze Grutschnig-Kieser Blumen, Gärten und andächtige Seelen in evangelischen Gesangbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Ansgar Franz und Christiane Schäfer Vom Augenschmaus zum Gedankenstrich. Das Gesangbuch Johann Leisentrits (1567) und das »Gotteslob« (2013) der Deutschen Bischofskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Michael Fischer Bilder – Objekte – Texte. Plurimedialität von Kirchenlied-Illustrationen im 19. und 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Abstracts and Curricula Vitae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Esther Wipfler

Einführung

Gesangbücher1 gehören nach der Bibel zu den meistverbreiteten religiösen Schriften. Bis weit ins 20.  Jahrhundert waren sie ein ständiger Lebensbegleiter.2 Gesangbücher wurden aber im Gegensatz zur Bibel einem ständigen Wandel unterworfen, nicht nur was die Auswahl und Neuaufnahme von Liedern betraf, sondern auch ihre Illustration. Dabei war bis ins 20.  Jahrhundert hinein eine unüberschaubare Fülle unterschiedlicher regionaler Ausgaben in Gebrauch. Die Musik und die Texte von Gesangbüchern werden schon seit dem 18. Jahrhundert erforscht3, nicht so die Illustrationen  : Offenbar erst im Zuge der Begeisterung für die Druckgraphik der Dürerzeit und mit Blick auf das Lutherjubiläum 1933, als man die 450.  Wiederkehr des Geburtstags des Reformators feierte, begann man, sich für die Illustrationen zu interessieren.4 Nach den damals von Martin Hoberg für das 16. Jahrhundert und kurz darauf von Otto Lerche für das 20. Jahrhundert vorgelegten Arbeiten erhielt die Erforschung der Gesangbuch­ illustration erst wieder nach dem Zweiten Weltkrieg einen neuen Impuls durch die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Pietismus. Allerdings findet man beispielsweise in den Katalogen der nahezu ausschließlich regional angelegten Ausstellungen von Gesangbüchern zwar Abbildungen der Illustrationen, aber diese wurden jedoch größtenteils nicht kunsthistorisch eingeordnet oder analysiert. 1 Unter dem Begriff »Gesangbuch« wird hier vorrangig eine gebundene »Auswahl geistlicher Lieder (Psalmlieder, Hymnen, freie Lieddichtungen) für den gottesdienstlichen und den privaten Gebrauch, die durch Gebete, den Katechismus und die Gottesdienstordnung erweitert sein kann« verstanden (Esther Wipfler, Gesangbuch, evangelisch, in  : RDK Labor [2017], URL  : http://www.rdklabor.de/w/?oldid=101901 [letzter Zugriff  : 14.04.2020]), auch wenn vielfach Kantionalen ebenfalls als Gesangbücher tituliert wurden. 2 Dies vermag eine kurze Passage aus Eduard von Keyserlings »Beate und Mareile« illustrieren  : »Beate verließ das Krankenzimmer. Die Mutter schlief. Neben ihr, auf dem Sessel, das Gesangbuch aufgeschlagen auf den Knien, schlief auch Senëide«  ; zit. nach Jörg K. Sommermeyer (Hg.), Eduard von Keyserling. Beate und Mareile. Eine Schlossgeschichte (1903), Berlin 2018 (Eduard von Keyserlings Prosa, Ausgewählte Werke, 1), S. 62. 3 Zu den Anfängen der Hymnologie  : Anna Mańko-Matysiak, Schlesische Gesangbücher 1525–1741. Eine hymnologische Quellenstudie, Wrocław 2005 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2800), S. 17–28  ; speziell zu den Schriften von David Gottfried Schöber 1696–1778  : Stefan Michel, Gesangbuchfrömmigkeit und regionale Identität. Ihr Zusammenhang und Wandel in den reußischen Herrschaften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Leipzig 2007, S. 143 f. 4 Martin Hoberg, Die Gesangbuchillustration des 16. Jahrhundert. Ein Beitrag zum Problem Reformation und Kunst, Straßburg 1933  ; Otto Lerche, Druck und Schmuck des deutschen evangelischen G ­ esangbuchs im 20. Jahrhundert, Berlin 1936  ; Martin Hoberg, Mit und ohne Heinrich Vogeler. Das Bremer Gesangbuch 1917 und die Gesangbuchillustration des 20. Jahrhunderts, in  : Hospitium ecclesiae. Forschungen zur Bremischen Kirchengeschichte 13, 1982, S. 149–249.

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Esther Wipfler

Erst in dem 2005 erschienenen Tagungsband der Mainzer Forschungsstelle »Kirchenlied und Gesangbuch« mit dem Titel »Gesangbuchillustration«, der von Ulrike Süß und Hermann Kurzke herausgegeben wurde,5 legte man den Schwerpunkt auf die Bebilderung und versammelte Studien über das Phänomen in verschiedenen Regionen und Epochen. Doch fand dies keine Fortsetzung. In den zehn Jahre später in der Reihe der »Enzyklopädie der Kirchenmusik« erschienenen zwei Bänden über Kirchenmusik in Kunst und Architektur werden die Gesangbücher nur kurz angesprochen.6 Damit ist das Thema noch nicht erschöpfend behandelt. Einige Regionen wie zum Beispiel Siebenbürgen sind noch gar nicht in den Blickwinkel der Illustrationsforschung geraten, wie die Inhalte einschlägiger Aufsätze zeigen.7 Ein systematischer, regionen- und epochenübergreifender Überblick fehlt ebenso wie der internationale Vergleich. Allerdings sind auch noch viele elementare Fragen offen, zum Beispiel  : Wie verhalten sich die Motive zu den Liedtexten und der Musik und zur allgemeinen Entwicklung der Buchillustration  ; Dies ist nur interdisziplinär zu beantworten. Aus kunsthistorischer Sicht wäre zudem eine Systematik der Bildtypen wünschenswert, die darlegt, welche Motive wann, wo und wie lange vorkommen. Um diese Fragen einer Klärung näherzubringen, wurde 2018 am Zentralinstitut für Kunstgeschichte eine Tagung in Zusammenarbeit mit der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt veranstaltet. Sie wird 2024, anlässlich des Jubiläums »500 Jahre evangelisches Gesangbuch«, eine Ausstellung zeigen, die sich dem Phänomen ebenfalls interdisziplinär, aber vor allem mit Blick auf die Mentalitätsgeschichte widmet. Dieser Band versammelt die Beiträge zur Münchner Tagung. Zunächst geht es um die Voraussetzungen für die Schaffung von Gesangbüchern  : Zum einen werden die theologischen Hintergründe erläutert, zum anderen gezeigt, wie das lateinische Erbe in den Liedtexten weiterlebt. Dann geht es um die Gestaltung der Bücher, ihrer Texte, der Musik und vor allem auch der Bilder. Schließlich wird exemplarisch ihre Wirkung in Form der Wechselwirkung mit der populären Kultur vorgestellt. Schwerpunkt ist dabei der deutschsprachige Raum.

5 Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen und Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11). 6 Tilmann Seebass, Druckgraphische Darstellungen in protestantischen wie katholischen Gesangsbüchern, in  : Ulrich Fürst und Andrea Gottdang, Die Kirchenmusik in Kunst und Literatur 2, Laaber 2015 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 5,2), S. 202–207. 7 Hier werden weder illustrierte Gesangbuchausgaben erwähnt noch abgebildet  : Gabriella H. Hubert, Ungarischsprachige lutherische Gesangbücher der Frühen Neuzeit. Entstehung, Verbreitung und Verflechtungen mit den Gesangbüchern der ungarischen Reformierten und der anderssprachigen Lutheraner im Königreich Ungarn, in  : Márta Fata und Anton Schindling, Luther und die Evangelisch-Lutherischen in Ungarn und Siebenbürgen  : Augsburgisches Bekenntnis, Bildung, Sprache und Nation vom 16. Jahrhundert bis 1918, Münster i. W. 2017 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, 167), S. 645–668  ; Gyula Papay, Jakob Lucius der Ältere (um 1530–1597). Ein evangelisch-lutherischer Drucker, Formschneider und Zeichner aus Siebenbürgen, ebd., S. 577–585.

Einführung 

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Allen Autoren ist herzlich für die rasche Abgabe Ihrer Beiträge für die Druckfassung zu danken, ohne die ein so schnelles Erscheinen des Buches nicht möglich gewesen wäre. Für das Korrekturlesen und ihre Unterstützung danke ich Wolfgang Augustyn und Sibylle Appuhn-Radtke.

Abb. 1  : Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig  : Babst, 1545, Bl. A 3 v-A 4 r (nach  : Ameln 1988 [Anm. 18]).

Johannes Schilling

Die Geburt des Gesangbuchs aus dem Geist des Evangeliums I Geburtsstunden haben ihre eigene Faszination. Sie kommen nicht gänzlich unerwartet, aber ihr Ereignis ist doch kontingent. Was vorbereitet war, was sich angebahnt hat, tritt nun auf den Plan, ins Licht, in eine neue Wirklichkeit. So ist es auch mit der Geburt des Gesangbuchs aus dem Geist des Evangeliums. Gesang gab es seit Menschengedenken, Lieder gab es schon, Bücher gab es auch, und, natürlich, auch den Geist des Evangeliums. Das »Evangelium« war seit einigen Jahren neu gelesen, neu verstanden und neu konfiguriert worden, bevor es nun zum Movens, zum Anlass, zum Katalysator und zum Inhalt des Gesangbuchs werden sollte. »Die Geburt des Gesangbuchs aus dem Geist des Evangeliums« – das scheint mir die knappste und zugleich zutreffendste Bestimmung jenes neuen Mediums, das seit der Jahreswende 1523/24 die Druckerpressen verließ und die Herzen und Sinne der Gläubigen erreichte, wenn nicht eroberte. Durch den Gesang sollte das Evangelium unter den Leuten bleiben – das war Luthers Wunsch. Dieser Wunsch ist, betrachtet man die Geschichte der evangelischen Gesangbücher und der in ihnen enthaltenen Lieder, in hohem Maße Wirklichkeit geworden. Martin Luther, ohne den es das evangelische Gesangbuch in diesem Sinne nicht gäbe, hatte sich spätestens seit der Übernahme der »lectura in biblia« an der Universität Wittenberg im Jahre 1512 mit der Frage befasst, was das Evangelium denn sei. Dabei war das Verständnis unauflöslich mit Person und Werk Jesu Christi verbunden, man könnte sagen  : Für Luther ist Jesus Christus das Evangelium. Eine Begriffs­ geschichte von »Evangelium« kann hier nicht gegeben werden – sie wäre wohl so etwas wie eine Theologie Luthers in nuce. Aber zum Verständnis mögen zwei Texte dienen, ein prominenter und ein wahrscheinlich weniger geläufiger.

II Luther thematisierte das Evangelium in den »95 Thesen« gegen den Ablass und in deren »Resolutiones«, den Erläuterungen, die er im Frühjahr 1518 auf die Thesen selbst folgen ließ.

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Johannes Schilling

In den 95 Thesen1 selbst ist vom »Evangelium« an drei Stellen die Rede  : In These 55 wird gesagt, dass, wenn der Ablass mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst verkündet werde, das Evangelium  – »quod maximum est«  – mit hundert Glocken, hundert Prozessionen und hundert Gottesdiensten verkündet werden müsse. Auch in These  78 kommt das Evangelium vor, und zwar, unter Bezug auf 1.  Korinther 12,28, als die größte Gnadengabe, die Petrus und seinen Nachfolgern zu Gebote stehe, und das vor Wunderkräften und der Gabe, gesund zu machen. Die zentrale Aussage aber steht in der 62. These, in der Luther das Evangelium prominent thematisiert  : Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes – »Verus thesaurus ecclesie est. sacrosanctum euangelium glorie et gratie dei.«2 Dieser Satz war natürlich gegen die Lehre vom »Thesaurus ecclesiae«3 gerichtet  ; er konnte sie zwar nicht aufheben, führte sie aber geradezu ad absurdum, wenn er das Evangelium als den eigentlichen, den wahren – und den anderen damit als einen uneigentlichen, ja, den falschen und unwahren  – Schatz der Kirche definierte. Wo das Evangelium herrscht, und zwar das »euangelium glorie et gratie dei«, da ist kein Platz mehr für falsche Schätze – da ist das Gold zu Katzengold geworden, und es für den wahren Schatz auszugeben, wäre Betrug.

III In den »Resolutiones« legte Luther wenige Wochen später die Ablassthesen aus.4 In seiner Widmungsvorrede an Staupitz betonte er, er habe ein neues Verständnis der Buße gewonnen, der »meta-noia«, die eben nicht im Tun (»paenitentiam agere«), sondern im Wandel der Herzensregung, des »affectus«, liege.5 Und in der Auslegung der These 62 heißt es  :

1 Text  : Martin Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe [LDStA] 2, hg. von Johannes Schilling, Leipzig 2006, S. (1) 2–15  ; vgl. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [WA] 1, Weimar 1883, S. (229) 233–238. 2 LDStA (Anm. 1) 2, S. 10,12 f. 3 In der Bulle »Unigenitus dei filius« erklärte Papst Clemens VI. am 27. Januar 1343 den »Schatz der Verdienste Christi, der von der Kirche auszuteilen ist«. Text  : Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen […], hg. von Peter Hünermann, 37. Aufl., Freiburg i. B. u. a.1991, S. 412 f., Nr. 1025–1027. 4 Die »Resolutiones« sind eine Schrift von großer Bedeutung und von nicht geringem theologischem Rang. Indem der Verfasser gezwungen war, Rechenschaft über seine Thesen abzulegen, sie zu begründen und argumentativ zu entfalten, gelang ihm eine Bündelung und Vertiefung seiner Argumente – auch wenn er sich noch dem Urteil des Papstes unterwarf. Man möchte diese »Resolutiones« beinahe als eine ›Hauptschrift‹ Luthers vor jenen des Jahres 1520 bezeichnen. 5 Text  : LDStA (Anm. 1) 2, S. (17) 18–23 = WA 1, S. (522) 525–527.

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»Der wahre Schatz der Kirche ist das heilige Evangelium der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Das Evangelium Gottes ist bei einem großen Teil der Kirche eine ziemlich unbekannte Sache […] Christus hat auf der Welt nichts hinterlassen als das Evangelium. Daher hat er auch seinen berufenen Knechten nichts anvertraut als Pfunde, Zentner, Geld oder Groschen [Mt 25,14–30  ; Lk 19,12–27], um mit diesen Worten für Schätze zu verstehen zu geben, dass er selbst der wahre Schatz ist. […] Es ist aber das Evangelium nach dem Apostel Paulus [Röm 1,3 f.] eine Predigt von dem Sohn Gottes, der Mensch geworden und uns ohne unser Verdienst zum Heil und zum Frieden geschenkt ist. Es ist ein Wort des Heils, das Wort der Gnade, das Wort des Trostes, das Wort der Freude, die Stimme des Bräutigams und der Braut [Hld 2,8.14  ; 5,2], das gute Wort, das Wort des Friedens. Wie Jesaja sagt  : Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freudenboten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen [Jes 52,7]. […] Deshalb entspringt aus diesem Evangelium die wahre Ehre Gottes, indem wir gelehrt werden, dass nicht durch unsere Werke, sondern durch die Gnade Gottes, der sich unser in Christus erbarmt, das Gesetz erfüllt ist und noch erfüllt wird  ; nicht durch Tun, sondern durch Glauben.«6

Demnach richtet das Evangelium den Menschen ganz und gar auf Gott aus  : k r i t i s c h , indem es alles Vertrauen des Menschen auf sich selbst aufhebt, p o s i t i v, indem Gott selbst als ursprüngliches Gegenüber des Vertrauens auf den Plan tritt. Theologische Wahrheit und Lebenswahrheit gehen Hand in Hand.

IV Besonders prominent und ausführlich äußerte sich Luther in der Vorrede zu einer Sammlung von Musterpredigten, die er  – neben den zahlreichen anderen Schriften und Briefen und der Übersetzung des Neuen Testaments – auf der Wartburg verfasst hat. Diese »Wartburgpostille«, eine Evangelienpostille, eine Musterpredigtsammlung zu den Texten der Sonntagsepisteln und -evangelien von Weihnachten bis Epiphanias, wurde zu einem wesentlichen Faktor in der Verbreitung dessen, was Luther als die neue Gestalt der christlichen Religion suchte, erkannte und propagierte.7 Und entsprechend lautet diese Vorrede auch  : »Ein kleiner Unterricht, was man in den Evangelien suchen und erwarten soll.«8 Diese kleine Leseanweisung ist so etwas wie ein hermeneutischer Schlüssel für das Verständnis der Evangelien und »des Evangeliums«. 6 Martin Luther, Die 95 Thesen Lateinisch/Deutsch. Mit Quellen zum Ablassstreit, hg. von Johannes Schilling, Stuttgart 2016 (Reclams Universalbibliothek, 19329), S. 61–63. 7 Texte  : WA (Anm. 1) 10 I 1. 8 Text  : Martin Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe [DDStA] 1, hg. von Johannes Schilling, Leipzig 2012, S. 485–499 (vgl. WA 10 [Anm. 1] I 1, S. [VII] 8–18).

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Johannes Schilling

Luther ging zunächst von der Tatsache aus, dass der neutestamentliche Kanon vier Evangelien zählt. Es gebe aber nur ein Evangelium, das auf verschiedene Weise gefasst sei. Evangelium ist und soll nichts anderes sein »denn eyn Chronica / historia / legenda / von Christo«, die man freilich unterschiedlich darstellen könne, wie andere Geschichten auch. Aber »auffs kurtzlichst / ist das Euangelium / eyn rede von Christo / das er gottis szon vnd mensch sey fur vns worden / gestorben vnd aufferstanden / eyn herr vbir alle ding gesetzt«9. Was aber bedeutet denn ›Evangelium‹  ; Antwort  : »Das Hauptstück und der Grund des Evangeliums ist, dass du Christus zuvor, ehe du ihn zum Vorbild nimmst, als eine Gabe und Geschenk aufnimmst und erkennst, das dir von Gott gegeben und dir eigen ist, und zwar auf die Weise, dass du, wenn du ihm zusiehst oder zuhörst, wie er etwas tut oder leidet, nicht daran zweifelst, er selbst, Christus, sei mit solchem Tun und Leiden dein. Darauf sollst du dich nicht weniger verlassen, als hättest du es getan, ja, als wärest du Christus selbst. Siehe, das heißt das Evangelium reicht erkennen, das ist die überschwängliche Güte Gottes, die kein Prophet, kein Apostel, kein Engel jemals zu Ende aussprechen, über die sich kein Herz jemals genügend verwundern und es begreifen konnte. Das ist das große Feuer der Liebe Gottes zu uns. Davon werden das Herz und das Gewissen froh, sicher und zufrieden, das heißt den christlichen Glauben predigen. Daher heißt eine solche Predigt Evangelium. Das heißt auf Deutsch  : fröhliche, gute, tröstliche Botschaft, und nach dieser Botschaft werden die Apostel die zwölf Boten genannt.«10

Daraus könne man erkennen, dass das Evangelium eigentlich kein Gesetzbuch sei, sondern ein Buch der göttlichen Verheißungen, »in dem Gott uns alle seine Güter und Gaben in Christus verheißt, anbietet und gibt«11. Man dürfe daher Christus auch nicht wieder zu einem neuen Mose machen.

V Vor der Abfassung und Veröffentlichung seiner Lieder hat Luther also um ein neues Verständnis des Evangeliums gerungen und es, im beharrlichen Studium der Bibel, gefunden als die gute Nachricht von der freimachenden Gnade Gottes. In Christus schenkt Gott der Welt und den Menschen seine Liebe, und die neue Freiheit der Kinder Gottes soll nicht wieder in Knechtschaft verkehrt werden. Diese gute Nachricht, dieses Evangelium galt es nun nicht für sich selbst zu behalten, sondern allem Volk widerfahren zu lassen, in Wort und Schrift und Bild zu verbreiten – und auch in Lied und Gesang.

  9 DDStA (Anm. 8) 1, S. 488, 22 f. und 26–28. 10 DDStA (Anm. 8) 1, S. 491, 32/493, 6. 11 DDStA (Anm. 8) 1, S. 493, 32 f.

Die Geburt des Gesangbuchs aus dem Geist des Evangeliums 

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VI Um die Jahreswende 1523/24 muss Luther den Plan entwickelt haben, das Evangelium auch durch Lieder unter den Gläubigen zu verbreiten. Vorausgegangen war die Abfassung eines balladenhaften Liedes über das Schicksal zweier evangelischer Märtyrer, die am 1. Juli 1523 auf dem Marktplatz in Brüssel hingerichtet worden waren – zwei Augustinereremiten, die als Ketzer zu Tode gekommen waren, deren Zeugnis aber in Luthers Lied ein Vorzeichen für das Wiederaufleben des Evangeliums werden sollte.12 Schon im Lauf des Jahres 1523 hat sich Luther offenbar intensiv mit dem Gedanken getragen, das neu entdeckte Evangelium in Lieder zu fassen. Anders wäre es schwer erklärbar, dass bereits im Frühjahr 1524 eine beachtliche Anzahl von Liedern Luthers fertig waren, die dann alsbald auch im Druck erschienen (Abb. 2). Den Anstoß für die Abfassung evangelischer Lieder gab Luther in einem Brief an Georg Spalatin (1484–1545), den er wohl Ende 1523 verfasste. In ihm entwickelte Luther das Vorhaben, biblische Psalmen für den Gemeindegesang zu bearbeiten – dieser Brief ist die Wiege evangelischer Choräle und protestantischer Gesangbücher. »Gnade und Frieden  ! Ich habe den Plan, nach dem Beispiel der Propheten und der alten Väter der Kirche deutsche Psalmen für das Volk zu schaffen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt. Wir suchen daher überall nach Dichtern. Da Dir aber die Gabe und sichere Beherrschung der deutschen Sprache gegeben und durch vielfältige Übung verfeinert ist, bitte ich Dich, mit uns an diesem Vorhaben zu arbeiten und zu versuchen, einen Psalm in ein Lied zu übertragen, so wie Du es hier an meinem Beispiel siehst. Ich möchte aber neue und am Hof übliche Ausdrücke vermieden wissen  ; nach seinem Aufnahmevermögen soll das Volk möglichst einfache und gebräuchliche, freilich reine und passende Worte singen  ; außerdem soll der Sinn durchsichtig sein und den Psalmen so weit wie möglich nahekommen. Deshalb muss man hier frei verfahren, wenn nur der Sinn gewahrt ist, den Wortlaut vernachlässigen und durch andere geeignete Worte wiedergeben. Mir ist es nicht gegeben, es so auszuführen, wie ich es gern wollte. Deshalb will ich versuchen, ob Du ein Heman, Asaph oder Idithun [Sänger im Alten Testament] bist. Um dasselbe möchte ich Johann Dolzig bitten, der ebenfalls beredt und wortgewandt ist, doch nur, wenn Ihr Zeit dazu habt  ; wahrscheinlich habt Ihr gerade nicht viel. Nimm doch meine sieben Bußpsalmen und die Auslegungen dazu, aus denen Du den Sinn des Psalms greifen kannst. Oder, wenn Du einen zugeteilt haben möchtest, übernimm doch den ersten Bußpsalm ›Herr strafe mich nicht in Deinem Zorn‹ (Ps 6) oder den siebten ›Herr erhöre mein Gebet‹ (Ps 143). Johann Dolzig übertrage ich den zweiten Bußpsalm ›Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind‹ (Ps 32), denn ›Aus der Tiefe‹ (Ps 130) habe ich schon 12 Text  : Martin Luther, Die Lieder, hg. von Jürgen Heidrich und Johannes Schilling, Stuttgart 2016, S. 72– 77, 174 f. (vgl. WA [Anm. 1] 35, S. 411–415 und 487 f.).

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Johannes Schilling

übersetzt und ›Gott sei mir gnädig‹ (Ps  51) ist schon vergeben. Sollten diese vielleicht zu schwierig sein, so nehmt diese beiden ›Ich will den Herrn loben allezeit‹ und ›Freuet euch des Herrn, ihr Gerechten‹, also 34. und 33. oder Psalm 104 ›Lobe den Herrn, meine Seele‹. Antworte jedenfalls, was wir von Euch zu erhoffen haben. Lebe wohl im Herrn.«13

Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Brief nicht datiert ist und auch Spalatin ihn nicht mit einem Eingangsvermerk versah, wie er es sonst in der Regel tat, denn es war ja kein diplomatisches oder politisch brisantes Schreiben, das man verwaltungsmäßig ordentlich hätte behandeln müssen. Man kann also kein bestimmtes Datum für ein Jubiläum festsetzen, wohl aber die Tatsache selbst zum Anlass zur Freude nehmen – auch dieses Buch gäbe es ohne diesen Brief ja nicht oder jedenfalls nicht so. Dieser Brief ist nichts weniger als die Geburtsstunde des evangelischen Gesangbuchs – ein Programm  : Luther wollte Psalmen in deutsche Lieder übersetzen, er hatte selbst damit angefangen und dachte nun, das Projekt mit vereinten Kräften voranzubringen. Neben Spalatin, der Luthers Bitte nicht entsprach, baute dieser auch auf die Mithilfe Johann Dolzigs.14 Offenbar dachte Luther daran, die beiden könnten gemeinsam an ihren Texten arbeiten  ; anders ist der Vorschlag, sie könnten gegebenenfalls auch andere Psalmen für ihre Bearbeitungen wählen, nicht zu verstehen. Aber auch Dolzig lieferte keinen Text, so dass der Plan, von Wittenberg aus allmählich, Stück für Stück den Psalter zu übersetzen, nicht realisiert wurde. Dieser Brief ist zugleich das Initial für eine in den folgenden Jahren blühende Liederdichtung. Luther hatte viererlei im Auge  : 1. Das Evangelium soll auch durch den Gesang unter den Leuten bleiben. 2. Die Psalmen sind gute Beispiele und Vorlagen für evangelische Lieder. 3. Die Worte für die Texte sollen einfach und gebräuchlich und passend sein, der Sinn verständlich. 4. In der Übersetzung darf man frei verfahren, »wenn nur der Sinn gewahrt ist«. Über die Melodien schrieb er nichts. Aber man darf sicher ergänzen  : Die Melodien sollten den Texten entsprechen, eingängig und sangbar sein und es der singenden Gemeinde erlauben, aus Herzenslust einzustimmen. Aus Luthers Plänen wurde, mit den ins Auge gefassten Mitarbeitern, erst einmal nichts  ; seine eigenen Dichtungen setzte er nach dem »Liederfrühling« der Jahre 1523/ 24 bis in die letzten Jahre seines Lebens fort  ; zu einigen seiner Lieder hat er auch selbst die Melodien geschaffen. Neben dem Wunsch, das Evangelium auch durch den Gesang

13 Martin Luther. Ausgewählte Schriften 6, Übersetzung und Erläuterungen von Johannes Schilling, Frankfurt a. M. 1982, S. 66 f., Nr. 34  ; Lateinischer Originaltext  : WA. Briefwechsel 3, S. 220 f., Nr. 698. 14 Johann (Hans) von Dolzig (um 1485–1551), kursächsischer Rat.

Die Geburt des Gesangbuchs aus dem Geist des Evangeliums 

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Abb. 2  : Etlich Cristliche lyeder Lobgesang / vnd Psalm / dem rainen wort gotes gemeß, auß der hailigen gschrifft / durch mancherlai Hochgelerter gemacht / in der Kirchen zůsingen / wie es dañ zům tail berayt zů Wittemberg in yebung ist. Wittemberg. (Achtliederbuch), [Augsburg  : Melchior Ramminger], 1524, Titel [VD16 L 4697] (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar 1521).

unter die Leute zu bringen, wollte er das Singen und die Musik auch als Ausdruck der Freude der Menschen an Gott und seiner Schöpfung verstanden wissen.

VII Aus diesem Impuls erwuchsen die ersten reformatorischen Lieddichtungen und mit ihnen die Gesangbücher. Reformatorische Gesangbücher können geradezu als ein Kennzeichen der Kirche, eine »nota ecclesiae«, gelten. Singen ist ein, wenn nicht das Erkennungszeichen evangelischer Kirche und Kultur. Luther zählte den Gemeindegesang deshalb auch zu Recht zu den Kennzeichen der Kirche, den »notae ecclesiae«. In seiner Schrift »Wider Hans Worst«, die er 1541 gegen Herzog Heinrich den Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel richtete, gibt es ausführliche Erläuterungen über das, was die Kirche als solche ausmacht. Die »Confessio Augustana« hatte 1530 in ihrem siebenten Artikel als Kennzeichen der Kirche bestimmt, dass das Evangelium rein gepredigt und die beiden biblischen Sakramente, Taufe und Abendmahl, entsprechend ihrer Einsetzung gefeiert werden. Das genüge zur Wahrnehmung des Kirche-Seins der Kirche als solcher.

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Johannes Schilling

In der Geschichte der evangelischen Gesangbücher spiegelt sich auch die Geschichte der evangelischen Kirchen selbst. Gesangbücher in Deutschland sind seit der Reformation auf Stadt oder Territorium bezogene Bücher, die die Vielfalt der evangelischen Kirchen und ihre Bezogenheit auf die jeweiligen politischen Herrschaften ausweisen, aber auch den Reichtum dessen, was aus evangelischem Glauben an Liedern zur Welt kam. Von den ersten Liedblättern mit ein oder zwei Liedern führte der Weg um die Jahreswende 1523/24 über das »Achtliederbuch« (Abb. 2)15 (man sollte vielleicht besser von einem »Achtliederdruck« sprechen, denn ein »Buch« ist das kleine Heft eigentlich nicht) – es enthielt vier Lieder Luthers, darunter »Nun freut euch, lieben Christen g’mein«, drei Lieder von Paul Speratus, unter ihnen »Es ist das Heil uns kommen her« und einen anonymen Text – und die ersten Erfurter Gesangbücher zum Wittenberger Gesangbuch Johann Walters. Dieses enthielt in seiner ersten Ausgabe 38 deutsche Lieder und fünf lateinische Gesänge.16 In den folgenden Jahren sprossen die Gesangbücher wie Pilze aus dem Boden  : 1525 wurden 22 Ausgaben nachgewiesen, 1526 waren es 25, seit 1527 jährlich ungefähr 15, so dass man bis ins Jahr 1800 auf eine Gesamtzahl von mehr als 4000 Gesangbüchern kommt17  – allein die Zahl ist beeindruckend. Aber diese Bücher wurden nicht nur produziert und gekauft, sondern auch benutzt und gelesen, im Gottesdienst, in den Schulen und in den Häusern. Neben und vielleicht manchmal noch v o r den Bibeln waren sie Haus- und Lebensbücher von Generationen von Christenmenschen. Mit dem Wittenberger Gesangbuch von 1529 erhielt die im Aufbau befindliche evangelische Gemeinde ein Grundbuch, ja, wohl das Grundbuch für das Gemeindeleben und die Frömmigkeitspraxis der einzelnen Christenmenschen. Es ist, wie bekannt, in keinem Exemplar erhalten. Das einzige erhaltene Exemplar einer Neuauflage aus dem Jahr 1533 befindet sich – ein wahrer Schatz – in den Sammlungen des Lutherhauses in der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Abb. 3).18

15 VD 16 L 4698 und 4699. – Faksimile  : Das Achtliederbuch Nürnberg 1523/24 in originaltreuem Nachdruck, hg. von Konrad Ameln, Kassel/Basel 1957 [nach dem Exemplar in der Staats- und Universitäts­ bibliothek Göttingen]. 16 Übersicht bei Walter Blankenburg, Johann Walter. Leben und Werk. Aus dem Nachlaß hg. von Friedhelm Brusniak, Tutzing 1991, S. 137–142 (145). 17 Vgl. Susanne Rode-Breymann und Sven Limbeck (Hg.), Verklingend und ewig. Tausend Jahre Musikgedächtnis 800–1800, Wolfenbüttel 2011, S. 191–195. 18 Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Lutherhaus, Inv.nr. ss 1009. – Faksimile  : Das Klug’sche Gesangbuch, nach dem einzigen erhaltenen Exemplar der Lutherhalle zu Wittenberg […], hg. von Konrad Ameln, Kassel 1954, Nachdruck 1983 (Documenta Musicologica, 1. Reihe, Druckschriften-Faksimiles 35).

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Abb. 3 Geistliche lieder auffs new gebessert (Klug’sches Gesangbuch), Wittenberg  : Joseph Klug, 1533 (VD 16 ZV 6453), Titelblatt (nach  : Ameln 1983 [Anm. 18]).

VIII Für das Thema dieses Bandes ist das Babst’sche Gesangbuch von 1545 von besonderem Interesse (Abb. 1).19 Auch dieses ist, wie alle Gesangbücher der Reformationszeit (und zum Teil auch darüber hinaus) nur in wenigen Exemplaren überliefert  ; die Lutherbibliographie von Benzing und Claus20 verzeichnet nur ein Exemplar in der Staats-und Universitätsbibliothek Göttingen und eines in der British Library  ; hinzu kommen aber je ein Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, der Universitätsbibliothek Rostock, der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart und der Zentralbibliothek Zürich.21

19 VD 16 G 851. – Faksimile  : Das Babstsche Gesangbuch von 1545. Faksimiledruck mit einem Geleitwort, hg. von Konrad Ameln, 3. Aufl., Kassel u. a. 1988 (Documenta Musicologica, 1. Reihe, DruckschriftenFaksimiles 38). 20 Josef Benzing und Helmut Claus, Lutherbibliographie. Verzeichnis der gedruckten Schriften Luthers bis zu dessen Tod 1, 2. Aufl., Baden-Baden 1989 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana, 10), Nr. 3563. 21 Vgl. dazu Martin Luther, Geistliche Lieder. Nach dem Babstschen Gesangbuch 1545 hg. von Johannes Schilling, Leipzig 2019 (Große Texte der Christenheit, 7).

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Dieses Gesangbuch ist das Werk eines Druckerverlegers22, nicht Luthers selbst. Es enthält zunächst Luthers Lieder in der Reihenfolge ihrer Verwendung im Kirchenjahr, danach »geistliche Gesenge / darin der Catechismus kurtz gefasset ist / Denn wir ja gern wolten / das die Christliche lere auff allerley weise / mit predigen / lesen / singen etc. vleissig getrieben / vnd imer dem jungen vnd einfeltigen volck eingebildet / vnd also fuͤ r vnd fuͤ r rein erhalten vnd auff vnser nachkomen gebracht wuͤ rde«. Darauf folgen »etliche Psalm / zu geistlichen liedern / deutsch gemacht / Durch D. Martinum Luther«, schließlich alle übrigen Lieder und Gesänge Luthers. Eine zweite Abteilung bilden »andere / der vnsern lieder«, also solche reformatorischer Provenienz. Die dritte Abteilung umfasst »etliche geistliche Lieder / von fromen Christen gemacht / so vor vnser zeit gewesen sind«. Damit griff man auch für das evangelische Gesangbuch auf den Liederschatz der Christenheit zurück, der sich seit der alten Kirche herausgebildet und gesammelt hatte, ambrosianische Hymnen ebenso wie mittelalterliche Leisen. Aber nicht nur textlich und musikalisch, sondern auch ekklesiologisch ist diese Abteilung von Bedeutung. Die Begründung lautet nämlich  : »DJese alten Lieder / die hernach folgen / haben wir auch mit auffgerafft / Zum zeugnis etlicher fromen Christen / so vor vns gewest sind / in dem grossen finsternis / der falschen lehre. Auf das man jo sehen muͤ ge / wie dennoch allezeit leute gewesen sind / die Christum recht erkand haben / Doch gar wuͤ nderlich in dem selben erkentnis / durch Gottes gnade / erhalten.« – Unter den dort versammelten Liedern finden sich etwa »Der Tag der ist so freudenreich« (lateinisch  : »Dies est leticiae«) oder die Leise »Christ ist erstanden«. Ein Abschnitt aus Luthers Vorrede ist durch seine Aufnahme in das »Evangelische Kirchengesangbuch« der 1950er Jahre und seine Übernahme in das aktuelle »Evangelische Gesangbuch« besonders bekannt geworden  : »Singet dem Herrn ein neues Lied / Singet dem Herrn alle Welt. Denn Gott hat vnser hertz und mut froͤ lich gemacht / durch seinen lieben Son / welchen er fuͤ r vns gegeben hat zur erloͤ sung von sunden / tod vnd Teuffel. Wer solchs mit ernst gleubet / der kans nicht lassen / er mus froͤ lich vnd mit lust dauon singen vnd sagen / das es andere auch hoͤ ren vnd herzukomen. Wer aber nicht dauon singen vnd sagen wil / das ist ein zeichen / das ers nicht gleubet / vnd nicht ins new froͤ liche Testament / Sondern vnter das alte / faule / vnlustige Testament gehoͤ ret.«

Der anschließende Passus ist die Vorlage für die künstlerische Ausstattung des Gesangbuchs  : Luther lobt diese ausdrücklich – ob ihm vor der Abfassung seiner Vorrede Korrekturen oder Proben des Druckes vorgelegen haben, wissen wir allerdings nicht. 22 Über Valentin Bapst (Babst) d. Ä. vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet […], 2. überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden 2015 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 51), S. 562 f. (dazu meine Rezension in  : Lutherjahrbuch 85, 2018, S. 407–409).

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Freilich wäre eine Abfassung der folgenden Sätze ohne jede Kenntnis dessen, was am Ende erschien, eher unwahrscheinlich  : »Darumb thun die drucker sehr wol dran / das sie gute lieder vleissig drucken / vnd mit allerley zierde / den leuten angeneme machen / damit sie zu solcher freude des glaubens gereitzt werden / vnd gerne singen. Wie denn dieser druck Valtin Babsts / sehr lustig zugericht ist / Gott gebe / das damit dem Roͤ mischen Bapst der nichts denn heulen / trawren vnd leid in aller welt hat angericht / durch seine verdampte / vntregliche und leidige gesetze / grosser abbruch vnd schaden geschehe / Amen.«

Dieser Wunsch ist bekanntlich nicht in Erfüllung gegangen, und mit den ­Gesang­büchern Johann Leisentrits23 und anderer römisch-katholischer Theologen und Kirchenmänner hat auch diese Kirche Gesangbücher hervorgebracht, die »den leuten angeneme« waren und »sehr lustig zugericht« sind.

IX Gesangbücher bedürfen in der Tat herausragender Aufmerksamkeit im Hinblick auf ihre Gestaltung. Die Beiträge dieses Bandes vermitteln Einsichten, wie die Gesangbücher in dieser Hinsicht gemacht sind und welche von ihnen man als mehr oder weniger gelungen bezeichnen kann. Nicht zuletzt sind etwa die Neuausgaben des »Evangelischen Gesangbuchs« und des katholischen »Gotteslobs« Beispiele dafür, wie man typographisch bedacht und anspruchsvoll und in der Ausstattung sorgfältig arbeiten kann und muss, damit auch heute und künftig Menschen zur Freude des Glaubens gereizt werden und gerne singen.

23 Geistliche ǁ Lieder vnd Psalmen / der ǁ alten Apostolischer recht vnd warglau= ǁ biger Christlicher Kirchen / […] zusamen bracht. ǁ Durch ǁ Johann  : Leisentrit von Olmutz/ ǁ Thumdechant zu Budissin etc. ǁ. Bautzen  : Johann Wolrab, 1567. – VD 16 L 1061 (online). – Faksimile  : Johann Leisentrit, Gesangbuch von 1567. Faksimileausgabe mit einem Nachwort von Walther Lipphardt, Kassel u. a. 1966 [nach dem Exemplar der Forschungs-(seinerzeit  : Landes)bibliothek Gotha, Cant. Sacr. 677].

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Latein im evangelischen Gesangbuch der Reformationszeit Mit der Reformation wurde (angeblich) alles anders  : Stand in der katholischen Messe der Priester im Zentrum, so wurde im evangelischen Gottesdienst die Gemeinde zum Akteur, indem sie laut sang, während ihr die katholische Messordnung den Part des stummen Teilnehmers zuwies. Die Gemeinde gewann Stimme, da sie in ihrer Alltagssprache beten und singen durfte, während die katholische Messe den Status des Priesters als charismatischen Solitär im exklusiven Latein inszenierte. Die Epochengrenze wird zudem im populären Bildgedächtnis mit den Hammerschlägen des 31. Oktobers 1517 visualisiert und intoniert, so dass Messe und Gottesdienst, Priester und Pastor, Latein und Deutsch, Ohnmacht und Macht der Gemeinde in striktem Gegensatz und in klarer zeitlicher Abfolge zueinander stehen. Dass sich die Wirklichkeit als weitaus komplexer erweist, ist so banal wie einsichtig. Gleichwohl gehört es in Darstellungen zum evangelischen Gottesdienst zum festen Repertoire, emphatisch die Reformation als Singbewegung zu würdigen und ihr diesen Ehrentitel wegen ihrer volkssprachlichen Lieder zu verleihen. Dabei gab es bereits vor der Reformation deutsche Lieder im Gottesdienst, und es erklangen auch weiterhin lateinische Gesänge in evangelischen Kirchen. Die Übergänge waren fließend, und die Gleichzeitigkeit des vermeintlich Ungleichzeitigen konterkariert alle eindeutigen Epochenkonstruktionen.1 Eine scharfe Grenze zum Vergangenen sollte gleichwohl zum Jahreswechsel 1521/22 in Wittenberg gezogen werden. Luther war weit entfernt auf der Wartburg, während in Wittenberg sich Theologen wie Karlstadt anschickten, die neue reformatorische Lehre in die Praxis umzusetzen und aus der Theorie öffentliches Handeln zu machen. So fand an 1 Zum vorreformatorischen volkssprachlichen Gemeindelied vgl. zuletzt Franz Karl Praßl, Das katholische Kirchenlied des 16. Jahrhunderts im Kontext des Wandels liturgischer Ordnungen, in  : Michael Klaper (Hg.), Luther im Kontext. Reformbestrebungen und Musik in der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts, Hildesheim 2016, S.  117–138, und Wolfgang Fuhrmann, Kirchenmusik und Gemeindegesang in der Römischen Kirche vor und nach der Reformation, in  : Armin Kohnle und Christian Winter (Hg.), Zwischen Reform und Abgrenzung. Die Römische Kirche und die Reformation, Leipzig 2014, S. 127–155, hier  : S.  136–143. Aus hymnologischer Perspektive kritisiert Barbara Lange die Tendenz zur Idealisierung Luthers und zur Schematisierung und Simplifizierung der lutherischen Entwicklung des deutschen Gemeindegesangs in ihrer Rezension  : Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte. Ein hymnologisches Erbauungsbuch  ;, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 40, 2001, S. 192–216, hier  : S. 200–203. Zu den Kontinuitäten, Analogien und Brüchen zwischen den Konfessionen im 16. Jahrhundert vgl. Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung 1, Paderborn 2015, S. 12–20.

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Weihnachten 1521 in der Schlosskirche erstmals ein öffentlicher deutscher Gottesdienst mit Abendmahl unter beiderlei Gestalt statt. Die heute gängige Praxis irritierte bei ihrer Einführung viele Gemeindemitglieder zutiefst. Sie waren mit einem Pfarrer konfrontiert, der in Alltagskleidung vor ihnen stand, und sie sollten die Hostie in die Hand nehmen, also den heiligen Leib Christi berühren. Die Einführung dieser neuen Zeremonien überrumpelte offensichtlich viele. Die Wochen von Dezember 1521 bis Februar 1522 werden gern als »Wittenberger Unruhen« bezeichnet, als radikale Kräfte den Konflikt mit der altgläubigen Partei durch die rasche und umfassende Verwirklichung des theologisch Neuen eskalieren ließen. Dieser Konflikt wurde innerhalb der Stadtmauern Wittenbergs ausgetragen, denn es gab in jener Zeit nicht nur Aufgeschlossenheit gegenüber den reformatorischen Neuerungen, sondern auch ein starkes Festhalten an der kirchlichen Tradition, das vom Allerheiligenstift an der Schlosskirche und insbesondere von dessen Schutzherrn, Kurfürst Friedrich dem Weisen, der weiterhin Reliquien sammelte, einen intensiven Marienkult betrieb und Stiftungen unterhielt, getragen wurde.2 Luther erfuhr von den Tumulten, reiste von der Wartburg nach Wittenberg und konnte mit seinen Invokavit-Predigten die Lage wieder beruhigen. Er gewann dabei die Einsicht, dass eine Reform über die Köpfe der Gemeinde hinweg zum Scheitern verurteilt sei, jede Änderung die »Schwachen im Glauben« mitnehmen müsse und deshalb Vorbereitung und Unterweisung vonnöten seien. Auch die neue evangelische Freiheit kam im Gottesdienst nicht ohne liturgische Strukturen aus, so dass Luther nach der Erfahrung der »Wittenberger Unruhen« einen Weg zwischen Tradition und radikaler Änderung suchte. Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass Luthers Reform des Gottesdienstes in der Forschung völlig gegensätzlich beurteilt wird  : von den einen als Bruch mit der Tradition, von den anderen als kontinuierliche Fortführung der lateinischen mittelalterlichen Messe. Dabei ist, ohne dies hier auszuführen, beides richtig diagnostiziert, indessen meist ohne die unterschiedlichen Bezüge klar auseinanderzuhalten. Denn Luthers Verständnis des Gottesdienstes bricht normativ mit dem Opfer- und Verdienstcharakter der Messe als Werk, während gleichzeitig seine liturgische Erneuerung Formen der römischen Messe sehr wohl weiterführte und unter reformatorischen Vorzeichen adaptierte.3 2 Vgl. ausführlich Natalie Krentz, Von der Messestörung zur Gottesdienstordnung. Die Anfänge evangeli­ scher Liturgie in der Stadt Wittenberg, in  : Jan Brademann und Kristina Thies (Hg.), Liturgisches Handeln als soziale Praxis. Kirchliche Rituale in der frühen Neuzeit, Münster 2014, S. 161–189. Die »Unruhen« werden meist auf das – vermeintlich bilderstürmerische – Entfernen von Bildern und Skulpturen reduziert, doch griff Karlstadt in seiner Thesenreihe »De cantu gregoriano« auch die traditionelle polyphone Kirchenmusik an, vgl. Inga Mai Groote, »Cantus mensurativus devotionis impedimentum«. Schlaglichter aus protestantischen Kontroversen um die Rolle der Musik in der Messe, in  : Andrea Ammendola u. a. (Hg.), Polyphone Messen im 15. und 16. Jahrhundert. Funktion, Kontext, Symbol, Göttingen 2012, S. 267–281, hier  : S. 268. Vgl. auch Robin A. Leaver, Luther’s Liturgical Music. Principles and Implications, Minneapolis 2017, S. 35 f. 3 So Jochen Arnold, Liturgische Reformen, in  : Wolfgang Hochstein und Christoph Krummacher (Hg.),

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Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg nahm Luther die weitgehenden Änderungen des Winters 1521/22 zurück und beließ das Abendmahl unter beiderlei Gestalt nur außerhalb des regulären Gottesdienstes an einem besonderen Altar als gesonderte Abendmahlfeier.4 Erst ein Jahr später, wohl ab März 1523, schaffte er die Messen an Wochentagen mit Kommunionsspendung ab und wies ihnen nur noch die Aufgabe der Schriftauslegung zu  ; teilnehmen sollten an ihnen Geistliche und Schüler, zweimal am Tag, morgens um vier oder fünf Uhr und abends um fünf oder sechs Uhr, ähnlich den traditionellen Gebetszeiten der Mette und der Vesper. Diese Neuregelung berührte die Gemeinde kaum, da ihre Sonntagsmesse unverändert Bestand hatte.5 Seit der Passionszeit 1523 bereitete Luther in Predigten seine Zuhörer auf eine neue auch sonntägliche Gottesdienstpraxis vor, die mit der »Formula missae et communionis pro ecclesia Wittenbergensi« zu Weihnachten 1523 eingeführt wurde. Hier ist noch Latein die liturgische Sprache, im Zentrum steht die Forderung nach deutscher Predigt, das Abendmahl in beiderlei Gestalt soll gereicht und nicht von den Laien genommen werden. Ein Gutachten Georg Spalatins aus dem Spätjahr 1523 erlaubt einen Einblick in die damalige Wittenberger Diskussion  : Bei der Abschaffung der alten »überflüssigen und unchristlichen« Gebräuche müsse bedacht werden, »Was besseres und dem göttlichen Wort näher und gemäßer sollte aufgerichtet werden«. Wenn nicht Altes durch Neues ersetzt werde, drohe ein Zustand »Wie im vorigen Jahr«, also wie Anfang 1522.6 Spalatins politische Argumentation – ein ersatzloser Wegfall von Zeremonien verursache Geschichte der Kirchenmusik 1, Laaber 2011 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 1,1), S. 228–235, hier  : S. 228 f. Zur Debatte vgl. Dorothea Wendebourg, Luthers Reform der Messe – Bruch oder Kontinuität  ;, in  : Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 289– 306. Die Kontinuität der Liturgie belegt Friedrich Blume gerade mit Verweis auf die lateinische Sprache, vgl. Friedrich Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, 2. Aufl., Kassel u. a. 1965, S. 32–38 (»Lateinische und deutsche Liturgie«). Das existenziell und epochal Neue an Luthers Gottesdienstverständnis (personale Begegnung des Menschen mit Gott im Sinne einer »Subjektivitätsreligion«) wird jetzt eindrücklich herausgearbeitet von Michael Meyer-Blanck, Vom Altar zum Herzen. Luthers Gottesdienstreform als Quelle moderner Subjektivität, in  : Ute Mennecke und Hellmut Zschoch (Hg.), Von des christlichen Standes Besserung – 500 Jahre Reformation, Leipzig 2017, S. 117–129. Das Proprium des reformatorischen Gottesdienstes fasste in Abgrenzung zum überlieferten Kult Dorothea Wendebourg mit den Charakteristika »Gottesdienst als liturgischer Ort der bibelbezogenen Predigt«, »Gottesdienst als Gemeinschaftsgeschehen« und »Gottesdienst als akustisches Geschehen« zusammen (Dorothea Wendebourg, Reformation und Gottesdienst, in  : Zeitschrift für Theologie und Kirche 113, 2016, S. 323–365, hier  : S. 323 f.). 4 Vgl. Martin Luther  : Von beiderlei Gestalt des Sakraments zu nehmen (April 1522), in  : D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [WA] 10 II, 11–41. Luthers Erfahrungen mit den Unruhen Anfang 1522 prägten auch seine Musikauffassung, insbesondere die Aufwertung der Musik nach der Kontroverse mit Karlstadt, vgl. die chronologische Darstellung von Carl Bear, Why Luther Changed his Mind about Music. Martin Luther’s Theology of Music in Light of his Liturgical Reforms, in  : Klaper 2016 (Anm. 1), S. 15–38. 5 Vgl. Nicole Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533), Tübingen 2014, S. 249–258. 6 Vgl. Krentz 2014 (Anm. 5), S. 286.

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soziale Spannungen – wie auch Luthers seelsorgerlicher Impetus, dass die Schwachen im Glauben geschont werden müssten, führten zum gleichen Ergebnis  : Reformatorische Änderungen sollten auf biblischer Grundlage behutsam und mit Maß umgesetzt werden, und das theologisch Notwendige sollte durch sozial akzeptable neue Formate kommuniziert und institutionalisiert werden. Der Gemeindegesang ist folgerichtig in der »Formula missae« nur als Leerstelle thematisiert  : Gefordert werden »cantica vernacula«, also deutsche Gesänge, doch fügte Luther hinzu  : »Aber uns fehlen die Autoren, oder sie sind uns noch nicht bekannt.«7 Um die notwendige Alternative zum bisherigen Messgesang, d. h. reformatorische Kirchenlieder, bemühte sich Luther genau in diesen Wochen und teilte dies Spalatin mit, als wollte er ihm auf dessen Bedenken, Altes nicht nur abzuschaffen, sondern durch Besseres zu ersetzen, direkt antworten  : Ende 1523 unterrichtete er ihn von seinem Plan, »deutsche Psalmen für das Volk herzustellen […], damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe«, ein Schreiben, das gern als »die Geburtsstunde des deutschen Kirchenliedes« bezeichnet wird.8 Das folgende Jahr 1524 wird zum Geburtsjahr des evangelischen Gesangbuchs – allerdings zunächst außerhalb Wittenbergs, denn Müntzers »Deutsche Messe« mit ihren Gesängen zu den Hauptfestzeiten erscheint in Allstedt und das sog. »Achtliederbuch« verdankt seine Entstehung dem Nürnberger Drucker Jobst Gutknecht, der seiner kleinen Sammlung ausschließlich deutscher Lieder Dignität und Legitimation durch doppelten Bezug auf Wittenberg verleiht  : Auf dem Titelblatt behauptet er den Druckort Wittenberg und den Gebrauch der Lieder in Wittenberg  : »Etlich Christlich lider Lobgesang und Psalm, dem rainen wort Gottes gemeß auß der heiligen schrifft durch mancherley hochgelerter gemacht in der Kirchen zu singen, wie es dann zum tayl berayt zu Wittenberg in übung ist«.9 Auch die ebenfalls 1524 erschienenen zwei Ausgaben des Erfurter »Enchiridion« oder »Handbüchlein […] geystlicher gesenge und Psalmen Rechtschaffen und kunstlich verteutscht« beinhalten ausschließlich deutsche Titel und polemisieren im Vorwort gegen den alten Kirchengesang der »Baalspriester und Waldesel«.10    7 Vgl. WA (Anm. 4) 12, 218.   8 Der Brief ist übersetzt in Christian Möller (Hg.), Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu ihrer Geschichte, Tübingen 2000, S.  72–74. Vgl. den Katalog zur Ausstellung in Dresden  : »Luthers Lieder. Sprachkunst und Musik von der Reformation bis heute« (2012/2013), S.  181 (www.urn:nb :de:bsz:14qucosa-164346 [letzter Zugriff  : 14.04.2020]). Zu Luthers Weg zum Kirchenlied vgl. Andrea Hofmann, Luthers Liedschaffen als Synthese zwischen biografischen Erfahrungen, Wissenschaft und Praxis, in  : Peter Zimmerling u. a. (Hg.), Martin Luther als Praktischer Theologe, Leipzig 2017, S. 211–222.   9 Zur Diskussion des »Achtliederbuchs« als erstem lutherischen Gesangbuch vgl. Ada Kadelbach, Das »Achtliederbuch« vom Jahre »1523/1524«, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 50, 2011, S. 30–34 mit dem Faksimile des »Achtliederbuchs« als Beilage. 10 Nachdruck  : Ein Enchiridion oder Handbüchlein geistlicher Gesänge und Psalmen (Erfurt 1524), hg. von Christiane und Kai Brodersen, 2.  Aufl., Speyer 2011, S.  V  : »Unter vielen Missbräuchen, bisher durch viel Hochgelehrte und Erfahrene der Heiligen Schrift anzeiget, ist freilich im Grund der Wahrheit dieser nicht der geringsten einer […]. Als nämlich, dass sie allein den ganzen Tag im Chor gestanden sind und

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Abb. 1  : Hermann Finck, Practica Musica, Wittenberg 1556, Titel (Exemplar Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung SA.71.D.56).

Das erste dann auch tatsächlich in Wittenberg gedruckte Gesangbuch, das »Geistliche Gesangbüchlein« Johann Walters aus der zweiten Hälfte des Jahres 1524, bringt unter seinen 43 Kirchenliedbearbeitungen auch erstmals in der noch jungen Geschichte des evangelischen Gesangbuchs fünf lateinische Motetten. Die Wittenberger Gesangbuchtradition beginnt zweisprachig und belegt damit von Anfang an das skizzierte Miteinander von Bruch und Kontinuität.11 Die lateinischen Texte schließen das Buch nach Art der Priester Baals mit undeutlichem Geschrei gebrüllt haben und noch in Stiftskirchen und Klöstern brüllen wie die Waldesel zu einem tauben Gott. Nicht allein zum Nachteil ihrer selbst, dieweil sie auch selbst oft nicht verstehen, was sie singen oder lesen, sondern auch der ganzen christlichen Gemeinde. [..] Solchen Missbrauch aber nun zu bessern, wird christlicher Ordnung nach an vielen Orten ordentlich vorgenommen, deutsche geistliche Gesänge und Psalmen zu singen, auf dass auch einmal der gemeine christliche Haufen mit der Zeit möge lernen verstehen, was man handle unter der Gemeinde in Singen und Lesen.« Zum Neufund eines Exemplars des Erfurter Enchiridion »zum schwartzen Horrn« vgl. Helmut Lauterwasser, Verschollen geglaubte Gesangbücher der Reformationszeit wieder entdeckt, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 53, 2014, S. 168–182, hier  : S. 172–176. 11 Den Gedanken der »eigensinnige[n] Gleichzeitigkeit von Innovatorik und Konservatismus in der Gesangbuchgeschichte« führt Christian Senkel anregend fort  : Christian Senkel, Heilige Vielfalt. Protestantische Identität im Gedächtnis des Gesangbuchs, in  : Joachim Eibach und Marcus Sandl (Hg.), Pro-

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ab und bilden einen eigenen Abschnitt, da das »Geistliche Gesangbüchlein« noch kein inhaltliches Ordnungsprinzip etwa nach den Feiertagen kennt. In seiner Vorrede betonte Luther den Wert der Musik bei der Festigung und Verbreitung des Glaubens und richtet sich im Besonderen an die Jugend. Das »Gesangbüchlein« ist also nicht für den Gemeindegesang, sondern für den Chorgesang (vgl. Abb. 1) geschaffen worden.12 Die lateinischen Lieder erfüllen hier auch einen vordergründig didaktischen Zweck  : Sie dienen dem Spracherwerb, was Luther selbst als wichtige Aufgabe des lateinischen Singens hervorhebt  : »Wir wollen die jugend bey latinischen sprachen […] behalten und uben«, so schreibt er in seiner Vorrede zur »Deutschen Messe« von 1526 und bestimmt darin, dass die Schüler deshalb »ettliche psalmen latinisch« singen sollten.13 In seinen Predigten zu Leben und Werk des Reformators erwähnt der Joachimsthaler Pfarrer Johannes Mathesius die Präferenz Luthers für den lateinischen Schülergesang im Gottesdienst und zitiert ihn mit folgenden Worten  : »Will man deutsch singen, so singe man gute deutsche Lieder, will man Lateinisch singen, wie’s Schüler thun sollen, so behalte man die alten Choral und Text und thut das Unreine davon, besser wirds keiner machen […]. Bei lateinischen Schulen soll man Lateinisch singen, in deutschen Kirchen soll man deutsch predigen, so gehets recht.«14

Auch Johann Walter hat in seiner Erinnerung an seine Zusammenarbeit mit Luther gerade dessen Anliegen, Schüler durch lateinischen Gesang zu bilden, noch deutlich vor Augen  : »Die Vespern, die zu jener Zeit vielerorts abbrachen, befahl er, mit kurzen reinen Choralgesängen für die Schüler und die Jugend wieder einzurichten. Desgleichen auch, dass die armen testantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung der DDR, Göttingen 2003, S. 135–155. 12 Vgl. Joachim Stalmann, Gesangbücher im Reformationsjahrhundert, in  : Hochstein/Krummacher 2011 (Anm. 3), S. 236–255, hier  : S. 240  : »Diese Veröffentlichung war nicht für den Gemeindegesang bestimmt, sondern ist das programmatische Dokument beginnender evangelischer Kirchenmusik  : für Berufssänger und -musiker, aber auch für die – bald vielfach hohes Niveau erreichende – Schulmusikpflege.« 13 Vorrede in  : Wolfgang Herbst (Hg.), Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte, 2. Aufl., Göttingen 1992, S.  75. Das »Geistliche Gesangbüchlein« liegt als Chorbuch nach der zweiten Auflage Worms 1525 ediert von Christian Schmitt-Engelstadt, Köln 2017, vor. 14 Zitiert nach  : Ludwig Helmbold und Joachim a Burck, Hebdomas. Die Schöpfung. Ein lateinisches Schulliederbuch des 16. Jahrhunderts, hg. von Nikolaus Thurn, München 2018, S. 15. Vgl. Johannes Mathesius, Ausgewählte Werke 3, hg. von Georg Loesche, 2. Aufl., Prag 1906, S. 296. Mathesius blieb auch in diesem Punkt seinen Wittenberger Lehrern verpflichtet  ; zur lateinischen Chorpraxis in Joachimsthal vgl. Christopher Boyd Brown, Singing the Gospel. Lutheran Hymns and the Success of the Reformation, Cambridge, Mass. 2005, S. 59–65. Irreführend ist die Schlussfolgerung von Nikolaus Thurn aus diesem Zitat, wenn er von einer Forderung Luthers nach lateinischem Gemeindegesang in Städten mit Lateinschulen spricht (ebd.).

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Schüler, die nach Brot laufen, vor den Türen lateinische Gesänge, Antiphone und Responsorien passend zur Zeit singen sollten. Und er hatte keinen Gefallen daran, dass die Schüler vor den Türen nur deutsche Lieder sangen. Daher sind diejenigen auch nicht zu loben und sie tun auch nicht Recht, die alle lateinischen christlichen Gesänge aus der Kirche verstoßen, als sei es weder evangelisch noch gut lutherisch, wenn sie einen lateinischen Choralgesang in der Kirche singen oder hören sollten. Aber es ist auch Unrecht, wenn man nur lateinische Gesänge für die Gemeinde singt, da dann das Volk nicht gebessert wird. Deshalb sind die deutschen geistlichen, reinen, alten und lutherischen Lieder und Psalmen für den gemeinen Haufen am nützlichsten, die lateinischen aber zur Übung der Jugend und für die Gelehrten.«15

Luther legt in einem Brief an den Kieler Prediger Wilhelm Pravest sogar nahe, dass die Einführung des deutschsprachigen Gottesdienstes ihm aufgedrängt worden sei  : »Denn ich will keinesfalls die lateinische Sprache aus dem Gottesdienst verschwinden lassen und habe die deutsche nur erlaubt, weil man mich drängte.«16 Mag er hier auch vor allem die liturgische Sprache und weniger den Gesang im Blick haben, so bleibt doch seine Wertschätzung der lateinischen Tradition im Gottesdienst bemerkenswert. Diese kommt auch im bereits erwähnten Vorwort zur »Deutschen Messe« zum Ausdruck  : »Denn ich keineswegs will die lateinische Sprache aus dem Gottesdienst lassen wegkommen, denn es ist mir alles um die Jugend zu tun.« Die lateinische Sprache sei bewahrenswert auch wegen »so viel feiner musica und gesangs«. Für Luther ist die ausschließliche Verwendung der Volkssprache auch deshalb zu einseitig, da so der Dialog mit anderen Nationen unmöglich wird  : »Denn ich wollte gerne solche Jugend und Leute aufziehen, die auch in fremden Ländern können Christo nützlich sein und mit den Leuten reden, dass es uns nicht ergeht wie den Waldensern und Böhmen, die ihren Glauben in ihrer eigenen Sprache so gefangen haben, dass sie mit niemanden können verständlich und deutlich reden, es sei denn, er lerne zuvor ihre Sprache.«17

Luthers Einsatz für den Erhalt der lateinischen Sprache in Theologie, Religion und Gottesdienst hat demnach auch die Perspektive einer evangelischen Ökumene, die alles Nationalkirchliche transzendiert, im Blick. Dem Reformator lag daran, Latein als

15 Zitiert nach  : Möller 2000 (Anm. 8), S. 122. 16 WA (Anm. 4) Br 4, 412 (»denique missam latinam nequaquam sublatam, nec vernaculam permisissem nisi coactus«). In seinem Brief an Wilhelm Pravest vom 14.3.1528 beharrt Luther auf der Bedeutung der alten Zeremonien und Gewänder unter der Voraussetzung, dass einige volkssprachliche Gesänge eingestreut und die Einsetzungsworte auf Deutsch gesprochen werden. Vgl. Marie Schlüter, Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert. Quellenkundliche und sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 2010, S. 52 f. 17 Vgl. Herbst 1992 (Anm. 13), S. 71.

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die in der damaligen Welt gängige Wissenschafts- und Bildungssprache auch weiterhin in Schule und Kirche zu pflegen.18 Die Wertschätzung für die lateinischsprachige Tradition teilte übrigens auch Philipp Melanchthon, der am 16. Juli 1528 an den Coburger Pfarrer Balthasar Düring schreibt  : »Deshalb wünsche ich mir, dass die Zeremonien bei euch sich nicht allzu sehr von den alten unterscheiden. Wenn die lateinische Messe noch nicht abgeschafft ist, dann schafft sie nicht völlig ab. Es reicht, deutsche Gesänge irgendwo zu integrieren, so wie wir es in Wittenberg getan haben. Und Du weißt, das habe ich bereits vor drei Jahren auch für euch gewollt. […] Ich bitte Dich nur darum, dass Du nur Weniges erneuerst. Jede Neuerung schadet dem Volk. Es müssen also die alten Bräuche und Gewohnheiten erhalten bleiben, soweit sie ohne Sünde beibehalten werden können.«19

Wenn also das Achtliederbuch nur deutsche Gesänge wiedergibt und dies mit dem Gebrauch in Wittenberg rechtfertigt, so sind eben nicht ausschließlich diese Gesänge gesungen worden.20 Der reformatorische Gottesdienst war zweisprachig, wobei die Rollen klar verteilt waren  : Der Chor sang Latein, die Gemeinde sang Deutsch. Während in den werktäglichen Gottesdiensten durch den Chor ausschließlich Latein erklang, gab es in den Sonntagsgottesdiensten den Wechsel zwischen Chor und Gemeinde, zwischen Latein und Deutsch, zum Beispiel zwischen dem ambrosianischen »Veni redemptor gentium« und darauf antwortend dem lutherischen »Nun komm der Heiden 18 Vgl. Konrad Küster, Musik im Namen Luthers. Kulturtraditionen seit der Reformation, 2. Aufl., Kassel 2017, S. 18  : »Die Texte brauchten nicht unbedingt ins Deutsche übersetzt zu sein  ; denn von der weltweit geübten Bildungssprache Latein wollte Luther die Gläubigen nicht abgrenzen. Deshalb zieht sich durch die frühe liturgische Praxis des Luthertums wie ein roter Faden der Hinweis, dass Städte mit größeren Lateinschulen Sonderregelungen hinsichtlich der Gottesdienstgestaltungen hätten  ; stets geht es dabei um das Lateinische, und mit ihm öffneten sich auch Räume für mehrstimmige Musik«  ; vgl. auch Dorothea Wendebourg, Lust und Ordnung. Der christliche Gottesdienst nach Martin Luther, in  : Brademann/Thies 2014 (Anm. 2), S. 111–122, hier  : S. 116  : »Nicht nur sollte es weiterhin ›frey seyn‹, auch die lateinische Formula Missae dort zu gebrauchen, wo das Lateinische geläufig war, ja, sie sollte sogar weiterhin verwendet werden, damit diese Sprache geläufig blieb und die Verkündigung nicht in die Gefangenschaft nationaler Grenzen geriet.« Eine doppelte Rechtfertigung für den Einsatz des Lateins bietet die Preußische Gottesdienstordnung von 1525  : Latein muss bleiben, da in Königsberg viele Ausländer Deutsch nicht verstehen  ; Latein kann bleiben, da Paulus das Reden in fremden Zungen nicht verboten hat, vgl. Julius Smend, Die evangelischen deutschen Messen bis zu Luthers deutscher Messe, Göttingen 1896, S. 10. 19 Melanchthons Briefwechsel T 3, bearb. von Richard Wetzel, Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, Nr. 698. 1525 plädiert Melanchthon in einem Brief an den Nürnberger Rat ebenfalls für die Präsenz des Lateins im Gottesdienst (»Es ist das lateinisch Gesang gut für die Knaben, so zu der Lernung gezogen werden«) vgl. Schlüter 2010 (Anm. 16), S. 53 Anm. 153. Zum wirkungsvollen Beitrag Melanchthons zur Ausformulierung der Wittenberger Musikauffassung vgl. Inga Mai Groote, ›So sie in das gesang gefasset ist‹. Melanchthons Anteil an der ›lutherischen‹ Musikauffassung, in  : Klaper 2016 (Anm. 1), S. 71–95. 20 Vgl. Robin A. Leaver, The Whole Church Sings. Congregational Singing in Luther’s Wittenberg, Grand Rapids 2017, S. 66 f.

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Heiland«, gleichsam im fröhlichen Wechsel.21 Ähnliches beobachtete der reformatorische Theologe Wolfgang Musculus, der als Augenzeuge an dem Sonntagsgottesdienst vom 28. Mai 1536 in der Wittenberger Stadtkirche teilnahm  : Die Lesungen waren in Latein, der Pfarrer, in priesterlichem Gewand, kniete vor dem Altar, der Chor sang »latine«, bisweilen im Wechsel mit dem Pfarrer, Brot und Wein wurden hochgehalten, doch gab es auch deutsche Passagen, etwa das Lied »Wir glauben all an eynen Gott« oder den Dank und Segen des Pfarrers »Der Herr erleucht sein angesicht uber euch«.22 In den Gottesdiensten dominierte der Gesang des Schülerchors über die Hörbarkeit der Gemeinde in der Volkssprache, dies insbesondere in den größeren Städten mit Lateinschulen, so dass lateinische Texte hier in den Kirchen häufig sogar figuraliter, also mehrstimmig, zur Aufführung kamen.23

21 So z. B. die Praxis in Joachimsthal, vgl. die detaillierte Schilderung bei Brown 2005 (Anm. 14), S. 80–85. 22 Vgl. Henning Reinhardt, Das Itinerar des Wolfgang Musculus (1536), in  : Archiv für Reformationsgeschichte 97, 2006, S. 28–82, hier  : S. 71 f. Die Dominanz des Lateins war vielleicht auch der Teilnahme der gelehrten Gäste, die zum Wittenberger Konkordienkonvent gekommen waren, geschuldet, so Adolf Boës, Die reformatorischen Gottesdienste in der Wittenberger Pfarrkirche von 1523 an, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 4, 1958/59, S. 1–40, hier  : S. 20 f. WA (Anm. 4) Br 4, 412, Anm. 2, bezieht auch die Schilderung des Gottesdienstes vom 14.5.1536 auf die Wittenberger Stadtkirche, doch dieser Gottesdienst, den Musculus ebenfalls mit Befremden beschreibt (»more papistico«), fand im thüringischen Berka statt. Vgl. auch Küster 2017 (Anm. 18), S. 26–28. Während Musculus in der musikgeschichtlichen Literatur häufig als Augenzeuge des Wittenberger Gottesdienstes der Lutherzeit herangezogen wird, ist in diesem Zusammenhang auch der Bericht des Musikers Sixt Dietrich aussagekräftig  : Dietrich schreibt in einem Brief vom 29.5.1543 von der großen Liebe Luthers zur Musik (er habe mit ihm viel und oft gesungen) und berichtet von seinen Wittenberger Gottesdiensterfahrungen  : »ich geschweyg der ceremonien, die noch sein und erlich gehaltten zum goczdienst. Alle festa singt man ein herlich ampt in figuris  : Introit, Kyrie, Et in terra, Patrem, Alleluja, Sanctus, Agnus und Communio wie von altter her, also dass lüczel [= wenig] geändert ist« (Schlüter 2010 [Anm. 16], S. 94 f.). Der Chor sang also mehrstimmig in Latein, entsprechend den Bestimmungen der Wittenberger Kirchenordnung von 1543/44, zumindest an den Hochfesten. Dietrich, der wie Musculus von der oberdeutschen, dem Reformiertentum nahen Gottesdienstgestaltung geprägt ist, beschreibt gegenüber seinem Basler Briefpartner Bonifacius Amerbach mit Erstaunen den Wittenberger Gottesdienst  : er zeige die alte Art und Weise, da nur wenig sich geändert habe, stehe also dem vorreformatorischen Ritus nahe. Zur Präsenz lateinischsprachiger Polyphonie in den lutherischen Gottesdiensten Wittenbergs vgl. Stefan Menzel, ›Ain herlich Ampt in figuris‹  : Sacred Polyphony at St. Marien in Wittenberg 1543/44, in  : Early Music 45,4, 2017, S. 545–557. 23 Vgl. Küster 2017 (Anm. 18), S. 25 und 31. Küster verknüpft die lutherische Liedkultur eng mit den Schulen als Ort ihrer Pflege wegen ihrer didaktisch-sprachlichen Ausrichtung, so dass er die Schulen auch zu den zentralen Abnehmern der Gesangbücher zählt, abgesehen von den wohlhabenden und intellektuellen Bevölkerungsschichten (ebd., S. 41 f.). Für die schulische kirchliche Gesangskultur gab es zudem eigene Publikationen, v. a. die Kantionalien, in denen lateinische Texte in weitaus größerer Zahl als in den Gesangbüchern tradiert wurden. Zur institutionellen Verbindung von gottesdienstlicher Musikpraxis und Lateinschule vgl. Cordula Timm-Hartmann, »zu ausbreittung Göttlich lobs vnd zu nützlicher vbung der lieben jugent«. Georg Rhau und die Musikpraxis an mitteldeutschen Lateinschulen der Reformationszeit, in  : Kathrin Eberl-Ruf, Carsten Lange und Kathrin Pöge-Alder (Hg.), Musik und Bildung in der Reformationszeit, Halle a. S. 2017, S. 54–72.

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Diese Zweisprachigkeit in den Gottesdiensten spiegelte sich auch in den Gesangbüchern wider. Das Wittenberger »Geistliche Gesangbüchlein« von 1524 wurde schon erwähnt. Seine fünf lateinischen Motetten stammen von Hrabanus Maurus (»Festum nunc celebre«, ein Hymnus zur Himmelfahrt Christi) oder sind eng mit dem Psalmentext der Vulgata (»Deus misereatur nostri«, nach Ps  66  ; »Deus qui sedes super thronum«, ein Responsorium nach Ps 9) und anderen Bibeltexten wie »Cottidie apud vos eram« (nach Mc 14) und »Vivo ego dicit dominus« (nach Ez 33) verknüpft.24 Die Auswahl der fünf lateinischen Texte im »Gesangbüchlein« bewegt sich demnach im Rahmen reformatorischer Theologie, da sie christozentrisch ausgerichtet sind und ausschließlich Bibeltexte paraphrasieren. Am Liederbestand des »Gesangbüchleins« orientiert sich das 1526 in Wittenberg bei Hans Lufft gedruckte »Enchyridion geistlicher Gesänge und Psalmen«, das auf dem Titelblatt seine Zielgruppe unmissverständlich benennt  : »für die leyen«. Im Gegensatz zum vierstimmigen »Gesangbüchlein« werden hier die Melodien einstimmig wiedergegeben, also den stimmlichen Möglichkeiten des Gemeindegesangs angemessen. Zur Zielgruppe passt überdies, dass kein lateinischer Text aufgenommen wurde und somit das erste ausschließlich deutschsprachige Wittenberger Gesangbuch entstanden war – neben 42 Liedern noch mit Texten und Melodien der Vesper, des Magnifikats, der Komplet, des Lobgesangs des Zacharias etc.25 Mit seinem Erscheinungsdatum 1526 ist ein Epochenjahr in der Entwicklung des evangelischen Gottesdienstes indiziert, denn nach dem Tod des altgläubigen Friedrich des Weisen 1525 und dem Amtsantritt seines der Reformation offen zugewandten Nachfolgers Johann des Beständigen wurde die reformatorische Ausgestaltung des Alltags intensiviert, so dass Luther 1526 auch seine Schrift von der »Deutschen Messe« publizierte, die das Programm eines umfassend deutschsprachigen Gottesdienstes formulierte.26 Stellt die Präsenz lateinischer Texte nur eine kurze Episode in der Geschichte des evangelischen Gesangbuchs dar  ; Das »Enchyridion« von 1526 ist ganz offensichtlich ohne Absprache mit den Urhebern des »Gesangbüchleins« von 1524 entstanden, denn nur so ist verständlich, dass die Vorrede Luthers von 1524 unverändert und unkom24 Vgl. die Ausgabe von 1525  : Schmidt-Engelstadt 2017 (Anm. 13), Nr. 39–43. 25 Digitalisat  : http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00016E4400000000 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). 26 Wolfgang Herbst leitet Luthers »Deutsche Messe« von 1526 folgendermaßen ein  : »Nachdem der deutsche Gottesdienst aber in Wittenberg zu einem Konflikt mit dem Kurfürsten geführt hatte, nahm Luther aus Furcht vor politischen Unruhen für längere Zeit Abstand von der Forderung deutschsprachiger Gottesdienste. Erst nach dem Tod Friedrichs des Weisen im Mai 1525, vor allem aber auf den überraschenden Zulauf hin, den die deutschen Gottesdienste und Gesänge Thomas Müntzers in Allstedt gefunden hatten, entschloß sich auch Luther zum Entwurf einer Meßordnung in deutscher Sprache« (in  : Herbst 1992 [Anm. 13], S. 69). Nach dem Tod Friedrichs des Weisen ging die Verantwortung für das Kirchenwesen allmählich vom Rat der Stadt Wittenberg auf den kursächsischen Landesherrn über, so dass sich die Deutsche Messe von 1526 als ein erster Beleg einer landesherrlichen Konfessionalisierungspolitik erweist, vgl. Holzem 2015 (Anm. 1), S. 76.

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mentiert übernommen wurde, die die Vierstimmigkeit und die notwendige Praxis der Jugend ankündigt, was keineswegs auf das »Enchyridion« zutrifft. Erst 1529 bzw. 1533 ist Luther wieder an einer Gesangbuchedition beteiligt, ablesbar an einer neuen programmatischen Vorrede und an einer erstmals inhaltlichen Anordnung der Lieder. Die heute als Klug’sches Gesangbuch bekannte Sammlung trägt den ausführlichen Titel »Geistliche Lieder auffs neu gebessert zu Wittemberg. Dr.  Martin Luther. 1533« und führt damit die beiden Autoritätsschlagwörter ›Wittenberg‹ und ›Martin Luther‹ gleich an prominenter Stelle, nämlich auf dem Titelblatt, an. Zusammen mit dem verantwortlichen Herausgeber und Redaktor Luther betritt wiederum das Latein die Bühne des Kirchengesangs  : Da ist zum einen die lateinische Litanei, die als »Latina Litania correcta« vorgestellt wird, das heißt als reformatorisch korrigierte Litanei, und die deshalb auch nur Gott adressiert, ohne die in der Tradition geläufigen Heiligenanrufungen einzusetzen. Die Texte und Melodien sind auf zwei Chöre aufgeteilt, treten also zum Gesang der Gemeinde hinzu.27 Nach den Festtags- und Psalmengesängen und vor den geistlichen Liedern anderer Zeitgenossen gibt es ein Kapitel, das sich dezidiert der Liedtradition widmet  : »Es folgen etliche geistliche Lieder, von den Alten gemacht.« Zu diesem Textbestand gibt Luther eine kurze Einführung, als bedürfte seine Aufnahme einer besonderen Begründung  : »Diese alten Lieder, die hernach folgen, haben wir auch mit aufgerafft zum Zeugnis etlicher frommer Christen, so für [= vor] uns gewest sind, in dem großen Finsternis der falschen Lehre, auf dass man ja sehen möge, wie dennoch allezeit Leute gewesen sind, die Christum recht erkannt haben, doch gar wunderlich in dem selbigen Erkenntnis durch Gottes Gnade erhalten.«28

Eine solche Konstruktion einer Traditionslinie rechten Glaubens ist eine Denkfigur der Reformation, um die eigene Lehre in die Abfolge wahrer Glaubenszeugen ­einzuglie­dern und sie unabhängig vom Papsttum mit der evangeliumsgemäßen Tradition anschlussfähig zu machen.29 Nach dieser programmatischen Hinführung folgt der latei­nische Weihnachtshymnus »Dies est laetitiae« mit vier Strophen, übrigens darunter zwei Marienstrophen, ergänzt durch eine deutsche Übertragung.30 Hier dient die lateinische 27 Geistliche Lieder auffs neu gebessert zu Wittemberg. D. Mart. Luth. XXXiij., Wittenberg  : Joseph Klug 1533, fol.  71r–79v. Es folgen (79v–81r) lateinische Gebete. Vgl. Das Klug’sche Gesangbuch 1533 nach dem einzigen erhaltenen Exemplar der Lutherhalle zu Wittenberg, hg. von Konrad Ameln, Kassel 1983. Die korrigierte lateinische Litanei wurde wohl ab 1528 in Wittenberg im Gottesdienst gesungen, wie Luther selbst brieflich mitteilt, vgl. Schlüter 2010 (Anm. 16), S. 57 f. 28 Geistliche Lieder 1533, fol. 86v  : Ameln 1983 (Anm. 27). 29 Zu den legitimatorischen Konstruktionen einer Kontinuitätsgeschichte vgl. Thomas Fuchs, Reformation, Tradition und Geschichte. Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung, in  : Eibach/Sandl 2003 (Anm. 11), S. 71–89. 30 Zu den Überlieferungen und Varianten (bis hin zum Klug’schen Gesangbuch) dieses weitverbreiteten

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Sprachform als Aufweis einer langwährenden Glaubenstradition, in deren Kontinuität sich die Reformation selbst einordnet – gegen alle Vorwürfe der Abkehr von der wahren »katholischen« Kirche. Diese Perspektive bleibt als Begründungsmuster für die Rezeption altkirchlicher lateinischer Gesangstexte virulent, etwa wenn Lucas Lossius seine »Psalmodia« von 1553 auf dem Titelblatt (Abb. 2) als Auswahl aus der Alten Kirche ankündigt (»Cantica sacra veteris ecclesiae selecta«) oder wenn David Chytraeus in seinem Vorwort zu den »Cantica sacra« Franz Elers (Hamburg 1588) den Bogen von den Hymnen der Kirchenväter zu den deutschsprachigen Liedern der Protestanten schlägt und damit die lutherischen Choräle in einen weiten Traditionszusammenhang einschreibt  : Zur Kirche Gottes gehören für den Rostocker Theologen Luthers deutsche Lieder wie auch die durch ihre besondere »gravitas« ausgezeichneten »Veteres Latinae cantiones Ecclesiasticae«. Die Musik der Alten Kirche wird hier programmatisch aufgerufen, um das eigene Selbstverständnis, die wahre Kirche zu sein, zu unterstreichen und die musikalische und textliche Überlieferung zur Identitätsversicherung zu aktivieren.31 Während die Litanei und der Weihnachtshymnus »Dies est laetitiae« die einzigen lateinischen Texte im Klug’schen Gesangbuch sind, ist im größten und zugleich letzten durch Luther mitbetreuten Gesangbuch, in dem Babst’schen Gesangbuch von 1545, der Anteil lateinischer Texte ausgeweitet worden.32 Die lateinische Sprache ist neben der wiederum abgedruckten, auf zwei Chöre verteilten »Latina Litania correcta« (Nr. 38  ; vgl. Abb. 3 f.) hier in zwei Abschnitten präsent und illustriert damit den Fokus des Gesangbuchs auf den Gemeinde- und zugleich Chorgesang. Die erste Gruppe wird mit einer den Formulierungen aus dem Klug’schen Gesangbuch ähnlichen Einführung eingeleitet (vgl. Abb. 5)  : »Nu folgen etliche geistliche Lieder von fromen Christen gemacht, so vor unser Zeit gewesen sind.« Der lateinische Textbestand umfasst über das zweisprachige »In dulci jubilo« (Nr.  56) und über den Weihnachtshymnus »Dies est lae­titiae« (Nr.  52) hinaus noch drei weitere Weihnachtsstücke, die bisher in Wittenberger Gesangbüchern noch nicht vorkamen  : »Resonet in laudibus« (Nr. 54), »Nunc Hymnus vgl. Katrin Ebinger-Möll, Die Liedersammlung Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Don. A III 18. Edition und Kommentar, Münster 2016, S. 72–83. 31 Die Praefatio des Chytraeus in  : Franz Eler, Cantica sacra, partim ex sacris literis desumta, partim ab orthodoxis patribus, et piis ecclesiae doctoribus composita, et in usum ecclesiae et iuventutis scholasticae Hamburgensis collecta, Hamburg 1588 (urn  :nbn  :de  :bvb  :12-bsb00092315-5 [letzter Zugriff  : 14.04.2020]), fol. 2r–6r, hier  : fol. 4v  : »Et in veteribus Latinis cantionibus Ecclesiasticis gravitas peculiaris, efficacia, Spiritus ac vita inest  : Et Melodiae cantus Gregoriani, ut nominatur, aptissime rebus et verbis subjectis accomodatae sunt.« Auch Eler spricht in seinem Widmungsbrief von den »Cantica haec a majoribus nostris, viris sanctissimis, qui ante aliquot secula vixerunt, composita« und sieht sich demnach selbst in der Tradition heiliger Autoren, die er zu »unseren Vorfahren« erklärt (fol. 8r). Zum Vorwort des Chytraeus einige Hinweise bei Inga Mai Groote, David Chytraeus und die (implizite) Geschichte der geistlichen Musik, in  : Musiktheorie 32, 2017, S. 243–256, hier  : S. 249 f. 32 Das Babstsche Gesangbuch von 1545. Geystliche Lieder. Faksimiledruck, hg. von Konrad Ameln, 4. Aufl., Kassel 2004.

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Abb. 2  : Lucas Lossius, Psalmodia, hoc est, Cantica Sacra Veteris Ecclesiae selectae, Nürnberg  : Gabriel Hayn und Johannes Petreus, 1553, Titel (Exemplar Wittenberg, RFB − Ev. Predigerseminar 2 Ph28).

angelorum gloria« (Nr. 55) und »Puer natus in Bethlehem« (Nr. 57, lateinischer Text mit deutscher Übersetzung). Gerade in den weihnachtlichen Festgottesdiensten traten Chöre auf und sangen Latein. Lateinische Gesänge galten als besonders feierlich und erklangen deshalb in den Festgottesdiensten, daneben aber auch häufig bei Beerdigungen. Folgerichtig wird der zweite lateinischsprachige Abschnitt im Babst’schen Gesangbuch von neun Begräbnisliedern gebildet. »Nu folgen Christliche Geseng Lateinisch und Deutsch zum Begrebnis. D. Martinus Luther«  : so lautet der Auftakt, der damit wörtlich den Titel des 1542 bei Joseph Klug erschienenen sogenannten »Begräbnisliederbuch« zitiert.33 Das Babst’sche Gesangbuch steht damit am Anfang einer 33 Zum Klug’schen Begräbnisliederbuch von 1542 vgl. Lukas Lorbeer, Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts, Göttingen 2012, S. 38. Luthers Vorrede zu den Begräbnisliedern von 1542 ist abgedruckt in  : Möller 2000 (Anm. 8), S. 80 f. Auch hier rechtfertigt Luther insbesondere die Aufnahme von Liedern aus der kirchlichen (»papistischen«) Tradition  : »Zudem haben wir auch zum guten Exempel die schönen Musica oder Gesenge, so im Papsttum in Vigilien, Seelmessen und Begrebnis gebraucht sind, genommen, der etliche in diesem Buch drucken lassen […]. Der Gesang und die Noten sind köstlich, schade wäre es, dass sie sollten untergehen, aber unchristlich und ungereimt sind die Texte oder Worte, die sollten untergehen […]. Es ist um die Veränderung des Textes und nicht der Noten zu tun.« Gleichwohl hat Luther zahlreiche lateinische Texte unverändert belassen,

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Tradition, die bis zu den lutherischen Gesangbüchern im 17. Jahrhundert reicht, in denen, wie Lukas Lorbeer nachweist, zahlreiche lateinische Begräbnislieder abgedruckt sind. Dass sie auch gesungen wurden, illustriert ausführlich der 1592 veröffentlichte »Ordo ecclesiasticus« des Hofer Kantors Enoch Widmann  : Die lateinischen Gesänge des Schülerchors begannen am Trauerhaus, wurden von deutschen Lutherliedern bei der Prozession zum Friedhof abgelöst und erklangen bei feierlichen Begräbnissen wiederum vor und nach der Predigt. Nach dem Kollektengebet gab es deutsche Lieder, aber auch den Hymnus »Iam moesta quiesce querela« des christlich-spätantiken Dichters Prudentius.34 Während in Wittenberg dank der Autorität Luthers (und Melanchthons) der lateinische Gesang im Gottesdienst weiterhin praktiziert wurde und im Gesangbuch seinen Niederschlag fand, wurde die Forderung nach einem volkssprachlichen Gottesdienst außerhalb Wittenbergs weitaus konsequenter umgesetzt. Zu den heftigsten Kämpfern für einen komplett volkssprachlichen Gottesdienst gehörte Joachim Slüter, der um 1523 die Reformation in Rostock einführte und 1525 das älteste erhaltene niederdeutsche Gesangbuch herausgab  : »Eyn gantz schone unde seer nutte gesangk boek«, in dem folgerichtig auch nur deutsche Texte abgedruckt werden, übrigens erstmals in liturgischer Ordnung und mit zahlreichen Bibelstellen am Rande versehen, um so ihre Schriftgemäßheit zu belegen.35 Sein stark erweitertes Gesangbuch von 1531 umfasst soweit sie seinem Verständnis von Tod, Sterben und Auferstehung (v. a. kein Fegefeuer  !) nicht widersprachen, und empfiehlt, es weiterhin auch »mit den latinischen Gesengen« zu halten. Die zitierten Ausführungen geben übrigens eine Antwort auf die Frage nach der Konfessionalität von Musik, vgl. – ohne Luthers Nachdenken darüber zu erwähnen – Ivana Rentsch, Luther-Lieder in katholischen Gefilden. Die mediale Wirkmacht des Gesangbuchs und die konfessionellen Anforderungen an Musik, in  : Johann Anselm Steiger (Hg.), Reformation und Medien. Zu den intermedialen Wirkungen der Reformation, Leipzig 2018, S. 181–195. 34 Vgl. Lorbeer 2012 (Anm. 33), S. 636 und 623–625. Schülerchöre mussten häufig Beerdigungen begleiten, was bisweilen zu starken Belastungen der Schüler bis hin zu von den Eltern beklagten Unterrichtsausfällen führte, vgl. Thomas Töpfer, Schule und musikalische »Dienstleistungen«. Ihre Bedeutung für die Visualisierung und Performanz der »Guten Ordnung« in der Frühen Neuzeit. Konturen eines vernachlässigten interdisziplinären Forschungsfelds zwischen Musik- und Bildungsgeschichte, in  : Erik Dremel und Ute Poetzsch (Hg.), Choral, Cantor, Cantus firmus. Die Bedeutung des lutherischen Kirchenliedes für die Schul- und Sozialgeschichte, Halle a. S. 2015, S. 73–92. Die intensive Inanspruchnahme der Schüler durch gottesdienstliche Gesangsverpflichtungen war zentraler Kritikpunkt der Bürger am spätmittelalterlichen Schulwesen, fand aber in der reformatorischen Musikpraxis seine Fortführung, vgl. Jürgen Heidrich, Das protestantische Repertoire für Knaben im Umfeld der Wittenberger Rhaw-Drucke, in  : Rekrutierung musikalischer Eliten. Knabengesang im 15. und 16. Jahrhundert = troja. Jahrbuch für Renaissancemusik 10, 2011 (2013), S. 143–156, hier  : S. 144–146. 35 Faksimile  : Joachim Slüter  : Ein gar schönes und sehr nützliches Gesangbuch. 1525. Eine schöne und sehr nützliche christliche Unterweisung. 1525, hg. von Gerhard Bosinski, Leipzig 1986, S. 1–112. Nachwort des Herausgebers  : S.  113–130. Sein Textbestand beruht auf den vorausgehenden Gesangbüchern aus Wittenberg, Erfurt und Nürnberg und erweitert diesen um 17 Lieder. Vgl. auch die CD samt Booklet  : »Wie klingt die Reformation im Norden  ;«. Aus Joachim Slüters Gesangbuch von 1525, mit Chorsät-

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Abb. 3–5  : Geistliche lieder auffs new gebessert (Klug’sches Gesangbuch), Wittenberg  : Joseph Klug, 1533, fol. 71r/v. und 86v/87r (Exemplar Wittenberg, RFB – Stiftung Luthergedenkstätten, Lutherhaus Inv.nr. ss 1009). zen von Johann Walter, hg. von Frank-Josef Holznagel, Göttingen 2018. Ausführliche Vorstellung des Gesangbuchs bis hin zu seinem Gebrauch in der Gemeinde (»Werklüde«) bei Gerhard Bosinski, Das Schrifttum des Rostocker Reformators Joachim Slüter, Berlin 1971, S. 36–68.

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im ersten Teil das Klug’sche Gesangbuch in seiner ersten Auflage von 1529 als niederdeutsche Fassung und im zweiten Teil 144 von Slüter zusammengestellte Lieder – ganz im Sinne Luthers, der in seiner Vorrede zum Klug’schen Gesangbuch forderte, seine Auswahl unverändert zu belassen und nach Bedarf um eine eigene Liedersammlung zu ergänzen. Die Sprache ist auch hier ausschließlich Deutsch, nur der Hymnus »Dies est laetitiae« ist aus dem Klug’schen Gesangbuch auch in seiner lateinischen Form, allerdings in besonders kleiner Type, übernommen.36 Auf lateinische Liedtexte verzichtete auch das im gleichen Jahr wie Slüters erste Gesangbuchausgabe, 1525, in Breslau erschienene »Eyn gesang Buchlien Geystlicher gesenge«.37 Die beiden frühesten Zwickauer Gesangbücher bieten ebenfalls nur deutsche Texte, das »Gesangbüchleyn« von 1525 und das »Enchiridion geistlicher Gesänge« von 1528, die von ihren jeweiligen Druckern, Jörg Gastel und Johann Schönsperger, initiiert und zusammengestellt wurden und offensichtlich auf die evangelischen Laien als potenzielle Käufer abzielten.38 Die gleiche Feststellung eines ausschließlich deutschen Textbestandes gilt ebenfalls für das älteste Leipziger Gesangbuch, das der Drucker Michael Blum um 1530 herausgab.39 Nicht anders verfuhr man im ausführlichsten Gesangbuch seiner Zeit, im »New Geseng buchlen« von Michael Weiße aus dem Jahr 1531. Es begründete die deutschspra36 Vgl. Bosinski 1971 (Anm. 35), S. 59. Das ausschließliche Insistieren auf der Volkssprache brachte Slüter übrigens in Konflikte mit seinen Prädikantenkollegen. Slüters Argumentation hatte das einfache Gemeindemitglied im Blick, dem fremde Sprachen unverständlich waren und das durch Latein vom gottesdienstlichen Geschehen ausgeschlossen werde. Nach Gesprächen, u. a. mit Bugenhagen, lenkte Slüter ein  : Das einfältige gemeine Volk solle stets nur deutsche Psalmen singen  ; dies gelte auch für die Jugend, da in den lateinischen Chorälen papistische Abgötterei enthalten sei  ; doch könnten in den Hauptkirchen zur Mette und Vesper, wenn nicht viel Volk anwesend sei, um der Schüler willen auch christliche lateinische Gesänge gesungen werden (ebd., S. 60). Zu Slüters Gesangbuch von 1531 ebd., S. 173–218, und Gerhard Bosinski, Joachim Slüter und Luthers Gesangbuch von 1529, in  : Theologische Literaturzeitung 108, 1983, S. 705–722. Vgl. jetzt  : Das Netz des neuen Glaubens. Rostock, Mecklenburg und die Reformation im Ostseeraum, Rostock 2017, S. 76. 37 Vgl. Anna Mańko-Matysiak, Schlesische Gesangbücher 1525–1741. Eine hymnologische Quellenstudie, Wrocław 2005, S. 34–56. 38 Vgl. die beiden Faksimile-Ausgaben  : Das älteste Zwickauer Gesangbuch von 1525, hg. von Otto Clemen, Zwickau 1935 (Ndr. Berlin 1960), und Enchiridion geistlicher gesenge, Leipzig 1979. Zum Gesangbuch von 1525 vgl. Kristina Leistner, »Getruckt in der Fürstlichen Stadt Zwickaw« – Das Zwickauer Druckschaffen in den Jahren 1523 bis 1525, in  : Erneuerung und Eigensinn. Zwickaus Weg durch die Reformation, Zwickau 2017, S. 39–43, hier  : S. 42, und Michael Beyer, in  : Markus Cottin und Holger Kunde (Hg.), Dialog der Konfessionen. Bischof Julius Pflug und die Reformation, Petersberg 2017, S. 419. 39 Vgl. Hans Hofmann, Das erste Leipziger Gesangbuch von Michael Blume, Leipzig 1914 (mit Reprint des einzigen erhaltenen Exemplars aus der Bibliothèque Royale de Belgique  ; die Auflage fiel offensichtlich der rigiden anti-lutherischen Zensurpolitik Herzog Georgs von Sachsen zum Opfer). Zu Blum vgl. Stefan Herz, Blum (Blume, Blöm, Plum, eigentl. Oswalt), Michael, in  : Sächsische Biografie, hg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V. (http://www.isgv.de/saebi [letzter Zugriff  : 14.04.2020]). Vgl. auch Jürgen Heidrich, Leipziger Notendrucke des 16. Jahrhunderts, in  : Stefan Keym und Peter Schmitz (Hg.), Das Leipziger Musikverlagswesen. Innerstädtische Netzwerke und internationale Ausstrahlung, Hildesheim u. a. 2016, S. 23–37, hier  : S. 31.

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chige Liedtradition der Böhmischen Brüder und ist auch die Quelle einiger Lieder im Babst’schen Gesangbuch geworden. Sein Bestand von 157 Liedtexten ist ausschließlich in Deutsch, sei es als Übersetzung aus dem Tschechischen und Lateinischen, sei es als eigene Dichtungen Weißes.40 Das »New Geseng buchlen« scheint wie Slüters Gesangbuch von 1525, das Breslauer »Gesang Buchlien«, die beiden Zwickauer Gesangbücher oder das Leipziger Gesangbuch die Behauptung nahezulegen  : Das Tradieren lateinischer Texte im Gesangbuch scheint unter dem Einfluss Luthers ein Proprium Wittenbergs gewesen zu sein, während an anderen Orten der volkssprachliche Gesang konsequent eingeführt wurde.41 Dies gilt zumindest in den Anfangsjahrzehnten der Reformation, denn mit dem Babst’schen Gesangbuch lag seit 1545 eine Sammlung vor, die in ihrem Nebeneinander von deutschen und lateinischen Texten stilbildend für künftige Gesangbücher auch außerhalb Wittenbergs wurde.42 Die Rechtfertigung für den weiteren Einsatz des lateinischen Gesangs rekurriert deshalb ausdrücklich auf Luthers Vorbild, so etwa bei dem Jenaer Theologen Johann Wigand. Im Entwurf einer Gesangbuchvorrede argumentiert er 1570 für den Vorrang der deutschen Lieder, da der fremde, lateinische Kirchengesang das Volk Gott entfremdet habe, doch solle man Latein auch im Gottesdienst der Schulen wegen weiterhin pflegen  : »Jedoch weil in den Steten allenthalben Schulen gehalten werden, darinnen die iugent in der Lateinischen sprachen auferzogen wirdt, hat es […] Martinus Luther, seliger gedechtnus, also laßen bleiben, daß die selben Schuler, da Stette sindt, auch etliche, doch wenige und reine gesenge in Lateinischer Sprachen mochten singen, und doch mit dieser vorsichtigen und Christlichen maße, erstlich, das die Schulmeister oder Cantores die Kinder unterrichten, was sie singen, und nicht furnemlich auf den klang der noten, sondern auf den text oder wort 40 Faksimileausgabe  : Gesangbuch der Böhmischen Brüder 1531, hg. von Konrad Ameln, Kassel/Basel 1957. Zu Biographie und Werk vgl. Gustav A. Krieg, in  : Wolfgang Herbst (Hg.), Wer ist wer im Gesangbuch, 2. Aufl., Göttingen 2001, S. 342–344. Vgl. auch Mańko-Matysiak 2005 (Anm. 37), S. 75–79. 41 Die ausschließliche Präsenz deutscher Liedtexte in Gesangbüchern ließe sich über die genannten Beispiele hinaus vielfältig belegen, z. B. für Nürnberg (etwa »Form und Ordnung des ampts der Meß Teütsch. Auch dabey das handbüchleyn Christlicher Gesenge« bei Hans Hergot 1526) oder auch für Königsberg (vgl. die Faksimileausgabe der beiden ältesten Gesangbücher von 1527, hg. von Joseph Müller-Blattau, Kassel 1933  ; sie werden sprachgeographisch vorgestellt von Manfred Caliebe, Die beiden ältesten Königsberger Gesangbücher von 1527. Herzog Albrecht und die Anfänge des evangelischen Kirchenliedes in Preußen, in  : Jürgen Jaehrling u. a. [Hg.], Röllwagenbüchlein. Festschrift Walter Röll, Tübingen 2002, S. 205–220). 42 Vgl. Erik Dremel, Sammeln und Sichten. Gesangbücher als Liedkanon, in  : Peter Bubmann und Konrad Klek (Hg.), Davon ich singen und sagen will. Die Evangelischen und ihre Lieder, Leipzig 2012, S. 45–61, hier  : S. 49  : »In der Zeit nach Luthers Tod (1546) wird das Babst’sche Gesangbuch von 1545, das letzte und umfangreichste Gesangbuch mit einer Vorrede von Martin Luther, zum Maßstab«  ; vgl. auch Stalmann 2011 (Anm. 12), S. 243  : 10 Auflagen des Babst’schen Gesangbuchs bis 1567, prägend für viele in Leipzig, Nürnberg, Frankfurt a. d. Oder, Wittenberg und Jena gedruckten Gesangbücher.

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selber achtung geben, ettwas von gott darinnen bitten, oder fur empfangene wolthaten Gott danken, oder sonsten einer feinen nutzlichen und trostlichen lehre sich erinnern.«43

Die Renaissance des Lateins mögen einige Beispiele illustrieren  : 1577 erschien das sog. »Rostocker Gesangbuch«, das umfassendste niederdeutsche Gesangbuch Mecklenburgs. Sein Herausgeber Lucas Bacmeister war Schüler Melanchthons und hat in den »Formae precationum piarum« die Gebete seines Lehrers ediert. Die Nähe zur humanistischen Gelehrtenkultur schlägt sich in seinem Gesangbuch nieder, denn lateinische Texte sind im Unterschied zum Rostocker Vorgängerbuch von Slüter sehr wohl aufgenommen  : nicht nur der Weihnachtshymnus »Dies est laetitiae«, sondern noch fünf weitere lateinische Hymnen. Der Hymnus des Prudentius »Iam maesta quiesce querela«, den man, so die Überschrift, bei Begräbnissen sang (fol. 157v/158r), und die beiden Weihnachtshymnen aus der Kurrendetradition »Resonet in laudibus« (fol. 11r−13r) und »Puer natus in Bethlehem« (fol. 13r−14r) stellen Übernahmen aus dem Babst’schen Gesangbuch dar. Die weiteren Gesänge in Latein und  – abschnittsweise  – in niederdeutscher Übersetzung sind der Hymnus »Jesu nostra redemptio«, der als Kinderlied zum Osterfest vorgestellt wird (fol. 38v/39r), außerdem als weiteres Kinderlied, diesmal zu Christi Himmelfahrt, der Hymnus »Ascendit Christus hodie« (fol.  45v/46v) und die Sequenz aus der weihnachtlichen Mitternachtsmesse »Grates nunc omnes reddamus Domino Deo« (fol.  6v). Die Durchsicht zeigt, dass der überwiegende Teil der lateinischen Liedtexte ganz traditionell den Schülerchören und den Gottesdiensten zu besonderen Festtagen zugeordnet ist.44 Das Rostocker Gesangbuch von 1577 bildet die nur wenig erweiterte Textgrundlage für das 1585 in Dortmund gedruckte niederdeutsche, für die Gemeinden in Westfalen vorbildliche Gesangbuch »Geistlike Leder unde Psalmen D. Martini Lutheri«, das unter seinen 220 Liedern 13 lateinische enthält. Sein Vorgänger, das erste erhaltene lutherische Gesangbuch Westfalens um 1564, ein Nachdruck eines bereits 1544 erschienenen Buches, war noch ohne lateinische Texte ausgekommen.45 Die zunehmende Präsenz des Lateins lässt sich übrigens auch an der Entwicklung des Wittenberger Ur-Gesangbuchs eindrucksvoll 43 Zitiert nach Töpfer 2015 (Anm. 34), S. 78 f. 44 Die Zitate nach der Ausgabe  : Geistlike Leder unden Psalmen D. Martini Lutheri unde anderer framen Christen […] (VD16 G 959), Rostock  : Ferber, 1577. Zu Lucas Bacmeister (1530–1608) vgl. Thomas Kaufmann, in  : Biographisches Lexikon für Mecklenburg 1, Rostock 1995, S. 22–26. 45 Zu der Liedersammlung von 1564, Teil der Neuenrader Kirchenordnung, die von Hermann Wilken verfasst wurde, und ihrer ganz auf den Verständnishorizont der Gemeinde hin verfassten Sprachform vgl. Sabine Arend, »Ermuntert einander mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern«  – Musik im Spiegel der evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in  : Klang der Frömmigkeit. Luthers musikalische Erben in Westfalen, Münster 2016, S. 73–85, hier  : S. 80. Auch in späteren Gesangbüchern Westfalens wie in dem 1630 in Dortmund erschienenen finden sich lateinische Lieder (hier 24 unter insges. 267), vgl. Erik Dremel, »Singet dem Herrn ein neues Lied« – Einblicke in die westfälische Gesangbuchgeschichte, in  : ebd., S. 101–121, hier  : S. 103 f.

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ablesen  : Das Waltersche Gesangbuch von 1524 begann mit fünf lateinischen Motetten, während seine letzte Ausgabe, das »Wittembergisch deudsch Geistlich Gesangbuchlein«, erschienen 1551, neben 78 deutschen nun 47 lateinische Lieder umfasst, so dass die Ankündigung auf dem Titelblatt »auffs neu mit vleis corrigirt und mit vielen schönen Liedern gebessert und gemehret« ganz offensichtlich auch die Schönheit des Lateins meint. In dieser Entwicklung schlägt sich der Erfolg der Lateinschulen und die Intensivierung der Lateinkenntnisse nieder, da die von Philipp Melanchthon und von Johannes Sturm geprägte protestantische Gelehrtenschule zu einem Anstieg der Lateinkompetenz führte, die als unabdingbar für einen gebildeten Menschen ganz unabhängig von ihrer beruflichen Anwendung gehalten wurde.46 Die Präsenz des Lateins ist besonders bei festlichen Gottesdiensten nicht zu übersehen, wofür das Gesangbuch des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken aus dem Jahr 1557 stehen mag, das bereits im Titel seine Zweisprachigkeit avisiert  : »Kirchengesang Teutsch und Lateinisch«.47 Im Vorfeld der Publikation widersprachen einige Theologen der Einführung lateinischer Gesänge »in Unsern teutschen Versammlungen [= Kirchen] und sonderlich bey ungelernten einfaltigen leyen«, obgleich sie »den gutten lateinischen Gesängen ihr lob nit entziehen« wollten, doch sollte man nicht auf »den eusserlichen schein und pracht« schauen, sondern »gutte christliche bekante teutsche psalmen und andere geistliche gesänge mit der gantzen Kirchen« singen, »dadurch nit allein drey oder vier personen, sondern die gantze gemeine gebessert und erbawet werde«.48 Ganz offensichtlich, lateinisches Singen war Sache einer gebildeten Minderheit, beliebt wegen der Feierlichkeit einer ehrwürdigen Tradition.49 Wenn in der Debatte im Vorfeld des 46 Vgl. Martin Rössler, Gesangbuch, in  : Musik in Geschichte und Gesellschaft, 2. Aufl., Kassel u. a. 1995, Sachteil  3, Sp.  1289–1323, hier  : Sp.  1299. Rössler erklärt diese Entwicklung mit dem Vordringen des neulateinischen Humanismus. Zur breiten und langanhaltenden Präsenz des Lateins in den Kirchen als Folge des humanistischen Sprachunterrichts vgl. auch Joachim Kremer, Change and Continuity in the Reformation Period. Church Music in North German Towns, 1500–1600, in  : Thomas Schmidt-Beste (Hg.), Institutions and Patronage in Renaissance Music, Farnham u. a. 2012, S. 355–367, hier  : S. 363–365. Seine regionale Einschränkung auf Norddeutschland, da in Mitteldeutschland das volkssprachliche Waltersche Gesangbuch von 1524 dominiert habe, ist allerdings unzutreffend. Zur Intensivierung der Lateinausbildung im 16. Jahrhundert vgl. Jürgen Leonhardt, Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009, S. 236–240. Es wurde im späten 16. und im 17. Jahrhundert lateinisch nicht nur gesungen, sondern auch gebetet, vgl. Johannes Wallmann, Zwischen Herzensgebet und Gebetbuch. Zur protestantischen deutschen Gebetsliteratur im 17. Jahrhundert, in  : Ferdinand van Ingen u. a. (Hg.), Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktion und Formen in Deutschland und den Niederlanden, Wolfenbüttel 2001, S. 13–46, hier  : S. 22–25 mit Verweis auf die zahlreichen lateinischen Gebetbücher. 47 Zweibrücker Gesangbuch 1557. Faksimileausgabe mit Einleitungstext, hg. von Klaus Bümlein, Heidelberg 2007. 48 Zitiert nach Heike Wennemuth, Das Gesangbuch der Zweibrücker Kirchenordnung von 1557 im Zusammenhang der südwestdeutschen Gesangbuch-Entwicklung, in  : Bümlein 2007 (Anm. 47), S. 239–259, hier  : S. 250. 49 In diesen Zusammenhang mag eine These von Wolfram Steude passen, der den steigenden Anteil lateinischer Kompositionen als Politikum erklärt, da die Musik des »Establishments«, also der Papstkirche, nun

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Zweibrücker Gesangbuchs die »äußerliche Pracht« des Lateins angegriffen wurde, dann wird hier ein ästhetisches Urteil formuliert, das auch positiv gewendet werden konnte. So begründete der lutherische Dichter und Theologe Erasmus Alber seine Vorliebe für lateinische Gesänge durch das ganze Kirchenjahr hindurch mit der Schönheit der alten Melodien, zu denen lateinische Texte weitaus besser klingen würden als deutsche.50 Die lateinischen Gesänge des Zweibrücker Gesangbuchs werden mit 64 Titeln (darunter das vierstimmige Magnificat in acht Tonarten) in einem gesonderten Index zusammengefasst (»Index cantionum latinarum in hoc libro contentarum«) und bilden einen eigenen Teil (ab fol. 76r), zunächst nach dem Kirchenjahr geordnet, danach Gesänge zum Gottesdienst. Dass der Abdruck und der Einsatz lateinischer Gesänge nicht unumstritten waren, illustriert der »Beschluss« (fol. 121r), der sich auf deren Rechtfertigung konzentriert  : »Ob auch schon nicht aller Kirchen gelegenheyt sein würdet, sich aller Lateinischen gesenge, so dieser ordnung inverleybet, zugebrauchen, in sonderheyt an denen orten, da nicht qualificirte Schuler dazu sind, so ist doch für gut angesehen, die fürnembste alte Lobgeseng, deren sich die Kirch auch vor dieser zeyt gebraucht hat, nicht außzulassen, Und sollen die Schulmeyster dieselbige in den Schulen die jugendt lehren, damit solche heylsame erinnerung von vilen hohen Artickeln des heyligen Christlichen glaubens der Kirchen nicht entzogen, oder verloren werde.«

Das Zweibrücker Gesangbuch war Teil der Kirchenordnung des Herzogtums.51 Auch in weiteren zahlreichen Kirchenordnungen erhält der lateinische Gesang seinen Platz als Mittel sprachlicher Ausbildung und zugleich Ausweis einer besonderen Feierlichkeit des Gottesdienstes. Dies geschah vor dem Hintergrund der engen Verknüpfung von Schule und Kirche sowie der schulischen Musikpraxis, die sich seit der Reformation maßgeblich am Gottesdienst und dem Gemeindegesang ausrichtete. Hier waren vor allem die Schulmeister gefordert, die im täglichen Musikunterricht den Chorgesang auch die Musik »des sich konsolidierenden evangelischen Landeskirchentums seit den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts« wird, vgl. Wolfgang Steude, Über den Gebrauch der deutschen Sprache als Politikum in der geistlichen Musik der Reformationszeit, in  : Ders., Annäherung durch Distanz. Texte zur älteren mitteldeutschen Musik und Musikgeschichte, hg. von Matthias Herrmann, Altenburg 2001, S. 46–59, hier  : S. 52 f. Diese These verkennt die Persistenz des Lateins das gesamte Reformationsjahrhundert hindurch. 50 Vgl. Leaver 2017 (Anm. 2), S. 212. Ähnlich argumentiert David Chytraeus, wenn er von der besonderen »gravitas«, Wirkmächtigkeit (»efficacia«), beseelenden Kraft (»spiritus«) und Lebendigkeit (»vita«) der alten lateinischen Kirchengesänge spricht (s. Anm. 31). 51 Sein lateinischer Liedbestand fußt auf Vorläufern wie der Naumburger Kirchenordnung von 1538 und auf der »Psalmodia« des Lukas Lossius, vgl. Wennemuth 2007 (Anm. 48), S. 248. Zu Nikolaus M ­ edlers Naumburger Kirchenordnung und der dort formulierten Beibehaltung der lateinischen Gesänge vgl. Victor H. Mattfeld, Georg Rhaw’s Publications for Vespers. A Study of Liturgical Practices of the Early Reformation, Brooklyn 1966, Appendix 1  : »The Organization of Hymns and Responsories in Nicolaus Medler, Kirchenordnung … Naumburg 1538«.

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ihrer Schüler zu üben hatten, um so die werktäglichen Andachten und die Festgottesdienste mitzugestalten.52 Die lateinischen Gesänge der Schülerchöre wurden allerdings größtenteils außerhalb der gemeindlichen Gesangbücher tradiert  ; es entstanden im Protestantismus Sammlungen und Kantionalien, die das lateinische Vokalrepertoire überlieferten und damit zum Beispiel den Gregorianischen Choral für die Gottesdienstpraxis wach hielten. Die Vielzahl der gedruckten Ausgaben belegt die Vitalität der lateinischsprachigen Tradition im Luthertum des 16. Jahrhunderts.53 Einflussreich war hier insbesondere die erstmals 1545 in Magdeburg erschienene Liedersammlung von Johannes Spangenberg, die im ersten Teil »Cantiones ecclesiasticae latinae« und im zweiten Teil »Kirchengesenge Deudtsch« entlang des Kirchenjahres zusammenstellt. In einem kurzen Vorwort zum volkssprachlichen Teil erklärt Spangenberg, lutherischer Pfarrer und Rektor der Lateinschule in Nordhausen, dass sein Werk dem von Pfarrern, Diakonen und Kirchendienern beklagten Mangel an Gesangbüchern abhelfen wolle, da »etliche im zweivel stehen, ob sie deutsch oder lateinsch singen sollen«. Doch Gott solle in allen Sprachen und Zungen gepriesen werden, deshalb habe er »Lateinisch und Deutsch beyeinander gestelt, das lateinisch umb der schüler und gelerten, das deutsch umb der leyen und ungelerten willen«. So war gerade in den größeren Städten mit Schulchören Latein vielfältig in den Gottesdiensten hörbar, während in den Dörfern die volkssprachlichen Lieder dominierten.54 52 Vgl. Arend 2016 (Anm.  45), S.  81 f., und Jean-Luc le Cam, Zur Organisation der lutherischen Lateinschule im 16. und 17. Jahrhundert als Träger der Kantorei und des Schulchors, in  : Dremel/Poetzsch 2015 (Anm. 34), S. 41–71. Beispiele zur Festlegung lateinischer Gesänge an hohen Festtagen bei Andrea Hofmann, Lieder in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in  : Sabine Arend und Gerald Dörner (Hg.), Ordnungen für die Kirche – Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Tübingen 2015, S. 75–92, hier  : S. 79 f. Zu Regelungen zum Gebrauch des Lateins in Kirchenordnungen vgl. auch Leonhardt Fendt, Der lutherische Gottesdienst des 16. Jahrhunderts. Sein Werden und sein Wachsen, München 1923, z. B. S. 222 (Brandenburg-Nürnberger Kirchenordnung von 1533  : »denn wenn [die lateinische Sprach] aus der Kirchen käme, würde sie auch in Schulen abnehmen«), S. 261 (Kirchenordnung der Stadt Hannover von 1534  : »Das Latein für die Jugend und Kirchendiener, dieweil noch viel schönes Gesanges vorhanden ist im Latein, das aus göttlicher Schrift durch fromme gelehrte Leute zur Kirchenübung gezogen ist«), S. 294 (Merseburger Synodalbericht von 1544  : Die reinen, lateinischen, alten, schönen Gesänge sollten »um der Jungen willen« erhalten bleiben). 53 Vgl. Erik Dremel, Einleitung. Musik als die »Mutter der Schulen«, in  : Choral, Cantor, Cantus firmus 2015 (Anm. 34), S. 1–27, hier  : S. 10 f. In der Reihe der Kantionalien nennt Dremel neben Johann Spangenberg 1545 noch Lucas Lossius 1553 (=  Psalmodia, hoc est, Cantica sacra veteris ecclesiae selecta, Nürnberg  : Gabriel Hayn 1553)  ; Johannes Keuchenthal 1573 (= Kirchen-Gesänge Latinisch und deudsch, Wittenberg  : Lorentz Schwenck 1573)  ; Franz Eler 1588 (= Cantica sacra, Hamburg  : Jakob Wolff 1588)  ; Matthäus Ludecus 1589 (= Vesperale et matutinale, hoc est, Cantica, hymni, Wittenberg  : Lehmann 1589  ; Ndr. Bonn 2007) und Laurentius Stiphelius 1607 (= Libellus scholasticus pro senatoriae Numburgensium scholae pueris, Jena 1607). 54 Abdruck der Vorrede Spangenbergs in  : Möller 2000 (Anm. 8), S. 103 f. (»früheste und wichtigste Sammlung zur liturgisch-musikalischen Einrichtung des evangelischen Hauptgottesdienstes an Sonn- und Feiertagen«). Zu Spangenberg als Pastor und Herausgeber der umfangreichsten lutherischen Kirchenge-

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Lateinische Texte blieben auch in evangelischen Gesangbüchern präsent, da sie weiterhin von den Schülerchören gesungen wurden. Der Fokus lag dabei auf dem Erlernen und Üben der wissenschaftlichen Kommunikationssprache. Die Kompetenz in Latein hielt die lutherischen Gelehrten sprachfähig über die engen Grenzen einer nationalen Kirche hinweg. Latein genoss darüber hinaus den Ruf des besonders Feierlichen, so dass es bei Festgottesdiensten und Beerdigungen erklang, und verknüpfte die ­eigene Gegenwart mit der vorreformatorischen Tradition als Ausweis eines gemeinsamen evangeliumsgemäßen Glaubens. Das lange Überleben der lateinischen Lieder ­entsprach offensichtlich einem Bedürfnis in den Gemeinden, an dem festzuhalten, was ihren Augen und Ohren vertraut war. So überlebte in den lutherischen Kirchen nicht nur die vorreformatorische Kunst, sondern auch der vorreformatorische Gesang wie auch die lateinische Sprache, in der auch der reformatorische Glaube Stimme und Klang erhalten konnte.55

sangssammlung zu Lebzeiten des Reformators vgl. Leaver 2017 (Anm. 2), S. 212–224. Leaver resümiert seine eindrucksvolle Studie zum lutherischen Musikverständnis und ihrer Praxis u. a. mit folgendem Ergebnis  : »As has been emphasized throughout this book, Luther had no wish to abolish the use of Latin with the publication of the Deutsche Messe. Thus in towns and cities where there were Latin schools or universities, such as Eisenach and Leipzig, German und Latin liturgical texts either alternated Sunday by Sunday, or were sung sequentially within a single Hauptgottesdienst.« Die Gleichzeitigkeit beider Sprachen führt er bis in die Bachzeit (ebd., S. 301 f.). 55 Zur Präsenz vorreformatorischer Kunst in lutherischen Kirchen vgl. z. B. Bridget Heal, A Magnificent Faith. Art and Identity in Lutheran Germany, Oxford 2017, S.  45–50. Eine exemplarische Lokalstudie zum gottesdienstlichen Konservatismus als offensichtlich von der Gemeinde bevorzugte Frömmigkeitsform vgl. Hans-Adolf Sander, Beiträge zur Geschichte des lutherischen Gottesdienstes und der Kirchenmusik in Breslau. Die lateinischen Haupt- und Nebengottesdienste im 16. und 17.  Jahrhundert, Breslau 1937. Latein überlebte natürlich auch in den katholischen Gesangbüchern, die in Aufnahme und zugleich Absetzung reformatorischer Muster entstanden. Während sie anfänglich aus Attraktivitätserwägungen dezidiert auf deutsche Gesänge setzten (Vehe, Leisentrit, Gigler, Hecyrus), polemisierte die kirchliche Obrigkeit gegen den volkssprachlichen Gemeindegesang (es gäbe nicht Widerwärtigeres, als »neben den rechten alt catholischen christlichen lateinischen Kirchengesängen, durch das gemaine Volk allerlay deutsche Psalmen, Letaneien und Lieder« singen zu lassen). Katholische Reformbestrebungen führten neben der Fortsetzung der lateinischen Liturgie zu einer lateinisch-deutschen gottesdienstlichen Zweisprachigkeit, also zur Rezeption volkstümlicher Liedformen und zu Publikationen wie »Catholische Teutsche und Lateinische Gesang« von 1574 durch Adam Walasser. Vgl. ausführlich Andreas Scheidgen, Das katholische Gesangbuch im Reformationsjahrhundert, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 48, 2009, S. 135–144, Zitat auf S. 141. Im reformierten Gottesdienst und folgerichtig auch im reformierten Gesangbuch hatte Latein indessen keinen Platz. Es ist eine reizvolle Frage, ob Luthers Plädoyer für die Zweisprachigkeit des Gottesdienstes eine Polemik gegen die oberdeutsche und schweizerische Haltung in sich birgt. So waren in Straßburg lateinische Lieder im Schulunterricht, aber nicht in der Kirche zugelassen (so Beat Föllmi in der Diskussion der Münchner Tagung).

Esther Wipfler

Frontispiz und Titelblatt evangelischer Gesangund Gebetbücher – Typen, Entwicklungen, Funktionen und Gestalter Versuch eines Überblicks

Auf der Basis des im Vorwort skizzierten lückenhaften Forschungsstandes wird im Folgenden der Versuch unternommen, die wichtigsten Typen- und Motivgruppen auf Titelblättern und Frontispizen zu definieren sowie deren Quellen und Entwicklung aufzuzeigen. Darüber hinaus wird nach der Funktion des jeweiligen Typus gefragt. Untersuchungsgebiet ist dabei der deutschsprachige Raum.

I Typen und Motive 1. Das Jahrhundert der Reformation Im 16.  Jahrhundert ist die Zahl der Gestaltungsformen des Titelblatts gering, ­be­schränkt sie sich doch zumeist auf die Übernahme von Randleisten aus anderen Zusammenhängen,1 was dann zu mehr oder weniger überzeugenden Ergebnissen führte. Ein Bezug auf den Inhalt ist in der Frühzeit bis auf die Lutherrose nur ausnahmsweise zu erkennen. Das Wappen Luthers ziert zum Beispiel das Titelblatt von Martin Luthers »Geistliche[n] Lieder auffs new gebessert zu Wittemberg« von 1533 (sog. Klug’sches Gesangbuch) wie auch schon dessen 1524 erschienenen deutschen Psalter und wurde dann auch von anderen Druckern (Georg Rhau, Hans Lufft) zum Zeichen der Autorisierung durch Luther gewissermaßen als Gütesiegel verwendet.2 Joachim Slüters »Geystlike leder vppt nye gebetert tho Wittenberch / dorch D. Martin Luther« (Rostock 1531) dagegen zeigt eine Leiste mit einem Zitat nach Luther »Torheit macht Arbeit«3, die bereits in ei1 Eine Übersicht des Materials boten Julius von Pflugk-Harttung (Hg.), Rahmen deutscher Buchtitel im 16. Jahrhundert, Stuttgart 1909, Ndr. Leipzig 1980 (Kunstgewerbe der Renaissance, 1)  ; Johannes Luther, Die Titeleinfassungen der Reformationszeit, Leipzig 1909, Ndr. Hildesheim/New York 1973. 2 Martin Treu, Lucas Cranach und Christian Döring als Wittenberger Verleger, in  : Stefan Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur der Reformationszeit, Leipzig 2015 (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, 21), S. 112  ; zum Psalter von 1524  : Heimo Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Ausstellungskatalog Wolfenbüttel und Hamburg, Braunschweig und Hamburg 1983, S. 146, Nr. 80 mit Abb. 75.   3 Vgl. Luthers Sprichwörtersammlung »Torheit macht erbeit« (D. Martin Luther’s Werke 51, Weimar 1914, S. 660, Nr. 442).

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nem niederdeutschen Gebetbuch desselben Verlegers in Rostock, Ludwig Dietz, aus dem Jahr 1522 (fol. 3r) Verwendung gefunden hatte.4 Immerhin gibt es auch Randleisten mit Personifikationen der Theologischen Tugenden. Bis fast zur Unkenntlichkeit eingepasst in das Rollwerk erscheinen sie zum Beispiel auf dem Titelblatt des Hamburger Gesangbuches bis ins 17. Jahrhundert.5 Nur selten wurde auf dem Titelblatt auf die Liturgie verwiesen, wie beim Zwickauer Gesangbüchlein von 1525 (Abb. 1).6 Es erschien ein Jahr nachdem dort erstmalig am Palmsonntag eine Messe nach den Vorstellungen Luthers gefeiert worden war.7 Das Titelblatt zeigt den Pastor mit erhobenen Armen im Gestus des Gebets dem Altar zugewandt und den Blick auf ein aufgeschlagenes großformatiges Buch gerichtet. Ist dies noch das römische Missale  ; Zwickau besaß zu diesem Zeitpunkt keine eigene Gottesdienstordnung, doch wurde sicherlich Luthers »Formula missae et communionis pro ecclesia Vuittembergensi« berücksichtigt, die jener auf Bitten des Zwickauer Reformators Nikolaus Hausmann verfasst hatte und die im Dezember 1523 im Druck erschienen war.8 Die dargestellte Haltung zeigt wohl das Beten des Vaterunser nach der Konsekration, denn eine Wendung »Versus populum« ist erst für den Friedensgruß im Anschluss an das Vaterunser sinnvoll. Auch die »Formula« sieht eine Wendung zum Volk für die Verkündigung vor.9 Hinsichtlich der liturgischen Gewandung wird dort nur zur Bescheidenheit gemahnt, ob priesterlich oder nicht, das sei Gott gleich.10 So dokumentiert der Holzschnitt eine Phase des Übergangs vom alten zum neuen Ritus. Das Zwickauer Gesangbuch selbst enthielt noch den eucharistischen Hymnus »Pange lingua«, der Thomas von Aquin (1225–1274) zugeschrieben wird und auf den gleichnamigen Kreuzhymnus des Venantius Fortunatus (um 540 bis zwischen 600 und 610) zurückgeht. Es wäre denkbar, dass noch das alte Messbuch  – wenn auch im neuen Geist – verwendet wurde. Wie Jochen Arnold betonte, ging es Luther nicht um einen   4 Georg C. Friedrich Lisch, Geschichte der Buchdruckerkunst in Meklenburg bis zum Jahre 1540, in  : Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte […] 4, Schwerin 1839, S. 164.  5 Herwarth von Schade, Zu Gottes Lob in Hamburgs Kirchen. Eine Hamburgische Gesangbuchgeschichte, Herzberg 1995 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs, 20), S. 74–81 mit Abb. 8 und 114–120 mit Abb. 9.  6 Dialog der Konfessionen. Bischof Julius Pflug und die Reformation, Ausstellungskatalog Zeitz 2017, Nr. X14 (Michael Beyer).   7 Adolf Laube (Hg.), Flugschriften gegen die Reformation 1, Berlin 2000, S. 72 f., Anm. 6. Eine deutsche Messe, wie Laube hier schreibt, kann dies noch nicht gewesen sein, da die »Formula« einen bis auf die Predigt lateinischen Ritus beschrieb.   8 Artur Göser, Kirche und Lied. Der Hymnus »Veni redemptor gentium« bei Müntzer und Luther. Eine ideologiekritische Studie, Würzburg 1995 (Epistemata, 136), S. 42  ; Edition des Textes mit Übersetzung  : Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe 3, hg. von Günther Wartenberg und Michael Beyer, Leipzig 2009, S. 649–679.   9 »dass man sich zur Verkündigung mit dem Gesicht zum Volk hin umwendet« (Studienausgabe 2009 [Anm. 8], S. 663). Den Hinweis auf diese Stelle sowie einen anregenden Gedankenaustausch über die Zwickauer Liturgie verdanke ich Michael Beyer (Schreiben an die Verfasserin vom 20. 9. 2018). 10 Studienausgabe 2009 (Anm. 8), S. 666/667.

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Abb. 1  : Eyn gesang Buchleyn/welche man[n] yetz und ynn kirchenn gebrauchen ist, Zwickau 1525, Titel (nach  : Ausstellungskatalog Zeitz 2017 [Anm. 5], S. 419).

Bruch mit der Form der römischen Messe, sondern um eine Änderung ihres sakramentalen Verständnisses und ihrer Sprache. Lange bestand bekanntlich eine deutschlateinische Mischform, in der hauptsächlich die Schulchöre, die »scholae«, sangen.11 So beklagte Luther noch in der »Formula«  : »Ich wollte auch, dass wir viele deutsche Lieder hätten, die das Volk während der Messfeier singen könnte, sowohl bei den Gradualliedern als auch beim ›Heilig, heilig‹ und ›Christe du Lamm Gottes‹. Denn wer will daran zweifeln, dass vor Zeiten Stimmen des ganzen Volkes gesungen haben, was nun allen der Chor singt oder dem Pfarrer auf den Segen antwortet  ; […] Aber es fehlt uns an Dichtern oder sie sind uns zur Zeit noch unbekannt, die fromme und geistliche Lieder, wie Paulus sagt, kunstgerecht hervorbringen können, die es wert wären, in der Kirche Gottes häufig gebraucht zu werden.«12

11 Jochen Arnold, Liturgische Reformen, in  : Wolfgang Hochstein, Christoph Krummacher u. a. (Hg.), Geschichte der Kirchenmusik 1, Laaber 2011 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 1,1), S. 229. 12 Studienausgabe 2009 (Anm. 8), S. 675.

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Immerhin in der Vorrede zu der 1545 von Valentin Babst in Leipzig verlegten illustrier­ ten Ausgabe der »Geystliche[n] Lieder«13 wies Luther dann ausdrücklich auf die förderliche Wirkung des Bilderschmucks hin  : »Darumb thun die drucker sehr wol dran / das sie gute lieder vleissig drucken / und mit allerley zierde / den leuten angeneme machen / damit sie zu solcher freude des glaubens gereitzt werden / und gerne singen.«

Der Gesang selbst scheint im 16.  Jahrhundert nicht auf dem Titelblatt des Gesangbuchs, sondern höchstens als Initiale von Kantionalien oder im Kontext der Vorreden dargestellt worden zu sein, wie die Straßburger Gesangbücher von 1541 und 1562 mit der wohl der Werkstatt Hans Baldung Griens zuzuschreibenden Initiale des »Herr Gott dich loben wir« im großen Straßburger Kantional von 1541 oder der Holzschnitt in der 2. Vorrede der 2. Auflage des »New Gesangbuechlein« von 1562 zeigen.14 2. Die Auswirkungen des Pietismus auf die Illustration von Gesangbüchern 2.1 Allegorien Im 17.  Jahrhundert kam es durch die Ausbreitung des Pietismus nicht nur zu einer Vervielfältigung der Lieder, sondern auch zu einer reichhaltigeren Gestaltung der Gesangbücher mit einer Ausweitung der Motivik. Für die Titelblätter und Frontispize wurden nun eigenständige Kompositionen mit übergreifenden Gedanken geschaffen. Dabei war die Addition von Bildfeldern mit Einzelszenen, wie man sie bei Johann Vogels »Psalmen Davids« sieht (Abb.  2), erschienen in Nürnberg 1638, eine seltene Ausnahme. Dieses erzählerische Prinzip hatte lange die Altarretabel und didaktischen Bildtafeln bestimmt, wofür die Zehn-Gebote-Tafel von Lucas Cranach, 1516, in Wittenberg ein protestantisches Beispiel ist, und wurde wohl deshalb vorrangig für katechetische Inhalte eingesetzt. In der Buchgraphik kommt die Aneinanderreihung von Bildfeldern jedenfalls später vorwiegend auf Titelblättern der emblematischen oder der pädagogischen Literatur vor, ein Beispiel für Letzteres ist »The Protestant Tutor« von 1679.15 Für das Gesangbuch schuf man stattdessen neue allegorische Kompositionen, wie zum Beispiel die Verkörperung der Andacht in der Musik in »Arnschwangers Neuen Geistlichen Liedern« von 1659 (Abb. 3).16 Aus dem Haupt der weiblichen 13 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Sven Limbeck in diesem Band. 14 Hans Baldung Grien, Ausstellungskatalog Karlsruhe 1959, S. 396, Nr. L (Ernst Brochhagen)  ; Digitalisat des Straßburger Gesangbuchs von 1541  : urn:nbn:de:bvb:12-bsb00028694-0 (letzter Zugriff  : 14.04.2020)  ; Der Sturmwind der Reformation, Ausstellungskatalog Straßburg, 2017, Nr.  4.12 f. (Beat Fölmi)  ; siehe dazu auch den Beitrag von Beat Föllmi in diesem Band. 15 Benjamin Harris, The Protestant Tutor, Instructing Children to Spel and Read English, and Ground them in the True Protestant Religio, and Discovering the Errors and Ceceits […], London 1679. 16 M. Johann Christoph Arnschwangers Neüe Geistliche Lieder, Nürnberg  : Christoph Gerhard, 1659

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Abb. 2  : Vogel, Johann, Die Psalmen Davids Sampt andern heyligen Gesängen, Nürnberg  : Jeremias Dümler, 1638, Titel (Exemplar Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, Th B VII 61).

Personifikation züngeln als Verweis auf die Trinität drei Flammen der Liebe, während sie die Laute schlägt. Ihr Gesicht ist von den Strahlen der göttlichen Sonne erhellt. Die Flammen auf dem Haupt erinnern dabei an Darstellungen der Caritas beispielweise in Cesare Ripas »Nova Iconologia« 1618. Im Hintergrund erkennt man ein Gebäude, das an das Tucherschloss erinnert und somit den Ort der Andacht definiert  : Es ist Nürnberg, wo man im »Pegnesischen Blumenorden« seit 1644 Verse schmiedete. Der Kreis der Dichter umfasste einen erheblichen Anteil an Theologen, so dass Wölfel das Nürnbergische Gesangbuch von 1677 sogar als jenes des Blumenordens bezeichnete.17 In Reimen ist auch die Bildlegende verfasst  : »Erklärung des Kupfer=Titels. Andacht gleicht einem Weibe/ Die/ mit keuschem Jungfer Leibe/ Stäts/ nach Gott/ wie eine Braut/ Nach des liebsten Augen schaut. Ihres Hertzens Lie-

(VD17 12:120399K). 17 Dieter Wölfel, Nürnberger Gesangbuchgeschichte 1524–1791, Nürnberg 1971 (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, 5), S. 178  ; dazu kritisch und differenzierend  : Ernst Rohmer, Gesangbuch und Konfession – am Beispiel Nürnberger Gesangbücher, in  : Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian-Knorr-von-Rosenroth-Gesellschaft 28, 2018, S. 178 und 181–197.

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Abb. 3  : M. Johann Christoph Arnschwangers Neüe Geistliche Lieder, Nürnberg  : Christoph Gerhard, 1659 (VD17 12  :120399K), Titel (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, P.o.germ. 53 v).

besFlammen Schlagen über sich zusammen  ; Dann es ist Ihr / ihre Lust In der Höhe / nur bewust. Ihre Lippen / Ihre Glieder Singen /spielen heilge Lieder/ derer süsse Lieblichkeit Gott auch selbst erregt zu Freud. Ihre Kleider/ welche gläntzen/ wie die Blumen/die/ im Lentzen/ Lieblich weisen ihre Zier/Bilden manche Tugend für. Und/ mit vielen anderen Weisen/ Die gehören Gott zu preisen/Ist die Andacht/wie sie sol/Ausgerüstet Demut vol.«

114 Jahre später erschien das Motiv in Fernsicht vor der Silhouette der Stadt auf dem Titel des »Neuen Gesangbuchs« für die Nürnbergischen Gemeinden (Abb.  4). Das Haupt der Personifikation der Andacht ist nun nicht mehr entflammt, und diese schlägt auch nicht mehr die Laute, sondern lässt die Harfe Davids erklingen. Die ganze Komposition ist symmetrisch angeordnet, gerahmt und mit dem »Motto« »Herr dich will ich loben« nach Psalm 34,2 versehen. Die Darstellung der Personifikation der Andacht ist nicht auf die Nürnberger Gesangbücher beschränkt  : Auf dem Frontispiz des 1724 in Eisleben erschienenen Gesangbuchs für die Grafschaft Mansfeld vertritt sie mit entsprechendem Wappen die Andacht der Grafschaft  ; ihr ist das Wort »evolemus«, ein angeblicher Ausspruch der Mutter des Augustinus, Monica, in den Mund gelegt, den man vermutlich durch Johann Arndts »Sechs Bücher vom Wahren Christentum« (3. Buch, Kap. 6) kannte. So wünschte man dem Benutzer laut Bilderklärung »gleich-

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Abb. 4  : Neues Gesangbuch zur öffentlichen Erbauung und Privatandacht, Nürnberg  : Endter, 1791 (VD18 14706407-001), Titelkupfer von A. L. Moeglich nach Daniel Chodowiecki (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Liturg. 505 m).

falls Flügel der Andacht zu haben, bey dem Gebrauch dieses neuen Gesangbuches ihr Herz in die Höhe zu schwingen und mit den heil. Engeln in der Herrlichkeit Gott zu loben und anzubeten«. Das Kreuz am Boden bei der Andacht auf dem Gesangbuch für die Nürnbergischen Gemeinden von 1791 verweist auf den Glauben, dessen Personifikation stets das Kreuz als Attribut besitzt. Der Glaube, also die theologische Tugend »Fides«, wird auch selbstständig personifiziert, zum Beispiel auf dem Frontispiz der »Geistlichen Lieder« Friedrich Gottlieb Klopstocks von 1758 in einem Kupfer von Johann Martin Preißler (Abb. 5).18 Sie ist im Gestus der Todesüberwinderin dargestellt, wie er in die protestantische Ikonographie durch die Gesetz-und-Gnade-Allegorien Cranachs eingeführt wurde, in denen der Tradition folgend Christus diese Handlung vollzieht.19 18 VD18 11984708-002  ; Digitalisat  : http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb: 12-bsb10924969-0 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). 19 Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte, Hamburg 2006  ; Miriam Verena Fleck, Ein tröstlich gemelde. Die Glaubensallegorie »Gesetz und Gnade« in Europa zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Korb 2010 (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 5)  ; Law and Grace. Martin Luther, Lucas Cranach, and the Promise of Salvation, Ausstellungskatalog Atlanta 2016/2017.

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Abb. 5  : Friedrich Gottlieb Klopstock, Geistliche Lieder, Kopenhagen/Leipzig  : Friedrich Christian Pelt 1758 (VD18 11984708-002), Frontispiz von Johann Martin Preißler (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Res/P.o.germ. 731 s-1).

Nur in speziellen Liedausgaben wie den Kantionalien wurden Allegorien der profanen Ikonographie bemüht wie z. B. die Musen oder Freien Künste wie bei der »Melpomene Sacra«, bei der dies schon im Titel angelegt ist.20 2.2 Motive Neben Allegorien, in denen Personifikationen im Mittelpunkt standen, gab es eine Vielzahl einzelner Motive, die immer wieder in allegorische Kompositionen eingebunden wurden. Hans Seidel und Suvi-Päivi Koski haben 2005 bereits einige Motive beschrieben und theologisch gedeutet, die im 18.  Jahrhundert häufig eingesetzt wurden  : das Jahwe-Tetragramm – nach Seidel ein Ausdruck des Philosemitismus im 18. Jahrhundert,21 das sich aber bald verselbstständigte, dann Figuren wie König Da20 Urania oder Geometria sowie eine Personifikation der Kunst der Arithmetik begleiten den Titel von Thomas Elsbeth, Melpomene Sacra, Festis fidelium nuncupata. Das ist Ausserlesene Geistliche Gesänge, auff alle Vornehme Fest durchs gantze Jahr, Breslau  : Georg Baumann [1624]  : https://jbc.bj.uj.edu.pl/ publication/292768 (letzter Zugriff  : 14.04.2020) (zu diesem Werk  : Anna Mańko-Matysiak, Schlesische Gesangbücher 1525–1741. Eine hymnologische Quellenstudie, Wrocław 2005 (Acta Universitatis Wratislaviensis, 2800), S. 126–128. 21 Hans Seidel, Gesangbuchillustrationen des 18. Jahrhunderts als theologische und kulturgeschichtliche

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vid, Mirjam, die Gemeinde, das Lamm Gottes auf dem Berg Zion (als Inbegriff der schützenden und Gnade erweisenden Gegenwart Jahwes  ; vgl. Ps 46,6 und 48,6)22, der Engelschor, die Sonne und die Weltkugel.23 Dieser Kreis kann um Motive erweitert werden, die bereits im 17. Jahrhundert vorkommen, darüber hinaus soll auch auf deren Quellen sowie Umdeutungen in der protestantischen Ikonologie eingegangen werden. 2.2.1 Herz Ein traditionelles Motiv war das Herz. Insbesondere durch die Herz-Jesu-Verehrung im Rahmen der Passionsmystik war es seit dem Mittelalter ein fester Bestandteil der Illustration von Andachtsliteratur und der Motivik selbstständiger Bildwerke. Dabei wurde auch das Herz des Gläubigen in Allegorien verbildlicht, die dessen Prüfung, aber auch die Einwohnung Gottes visualisieren sollten.24 Bekannte nachreformatorische Beispiele enthalten die »Emblemata sacra« des lutherischen Theologen Daniel Cramer, 1624 in Frankfurt a. M. erschienen, und das Werk des Jesuiten Estienne Luzvic »Cor Deo Devotum, Jesu Pacifici Salomonis Thronus Regius«. Dieses Werk war in der zweiten Auflage von 1627 mit einer Serie von Kupferstichen ausgestattet, die Antonie Wierix entworfen hatte und die bereits zuvor unter dem Titel »Cor Iesu amanti sacrum« publiziert worden waren.25 Dieses Werk, aber vor allem dessen Illustrationen von Wierix, inspirierten wie-

Quelle, in  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11), S. 15 f. 22 Simone Paganini und Annett Giercke-Ungermann, Zion/Zionstheologie, in  : https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/35418/ (erstellt im Mai 2013, letzter Zugriff 5.7.2018). 23 Seidel 2005 (Anm. 21), S. 13–48  ; Suvi-Päivi Koski, »Preiß/ Lob/ Ehr/ Ruhm/ Danck/ Krafft und Macht sei dem erwürgtem Lamm gesungen […]«. Das Frontispiz des Geist=reichen Gesang=Buches (Halle a.  S. 1704) als Spiegel der Theologie des Pietismus, in  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11), S. 62–102. Dieses Frontispiz war motivisch, insbesondere mit der Darstellung des Bergs Zion, des musizierenden David und der himmlischen Heerscharen, ein Vorbild für andere Gesangbücher wie zum Beispiel das Gesangbuch der reformierten Gemeinde des Doms zu Halle 1718 (Martin Filitz, Die reformierte Domgemeinde in Halle und ihr erstes Gesangbuch von 1718. Zum lokalen Kontext des Freylinghausenschen Gesangbuches, in  : Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch [Hg.], »Singt dem Herrn nah und fern«. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch, Tübingen 2008 [Hallesche Forschungen, 20], S. 154 mit Abb. 2) und das Magdeburger von 1738 (Mechthild Wenzel, Der Einfluß des »Freylinghausen« auf die Magdeburger Gesangbücher des 18. Jahrhunderts, in  : ebd., S. 235 mit Abb. 2). 24 Dieter Koepplin, Das christlich bewohnte Herz. Vorreformatorische Herz-Holzschnitte von Cranach, Baldung, Schäufelein. Cranachs Blatt von 1505 betrachtet im Sinne des Johannes von Staupitz, Basel 2019  ; Wilhem Egger u. a., Das durchbohrte Herz. Gedanken aus Theologie, Geschichte und Kunst zur 200-Jahr-Feier des Herz-Jesu-Gelöbnisses, 2. Aufl., Bozen 1996. 25 Karl-August Wirth, Religiöse Herzemblematik, Biberach an der Riss 1966, Sonderdruck 1968, S. 16. Zur nachhaltigen Wirkung dieses Werks auch  : Lauren G. Kilroy-Ewbank, Holy Organ or Unholy Idol  ; The Sacred Heart in the Art, Religion, and Politics of New Spain, Leiden/Boston 2018, S. 41–44.

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derum den lutherischen Pastor Christian Hoburg26 zu seinem Band »Lebendige Hertzens-Theologie«, der 1661 durch Christoffel Luyken auf Niederländisch veröffentlicht wurde.27 Dieser Band wie auch die deutsche Fassung war mit 22 Kupferstichen nach der Serie von Wierix illustriert und erschien in mehreren Auflagen.28 Noch in der Amsterdamer Ausgabe der Schrift Jacob Böhmes über die Sakramente von 1682 war das Herz ein zentrales Element des Titelkupfers.29 In der von Böhme beeinflussten Schrift von Paul Kaym »Helleleuchtender Hertzens-Spiegel«, Amsterdam 1680 mit Illustrationen von Nicolaus Häublin, bestimmt die Herz-Motivik bereits das ganze Text- und Bildprogramm.30 Zuvor griff der Illustrator des Titelblattes der »Geistlichen Seelen-Music« (Rostock 1659) des Rostocker Pfarrers und Theologieprofessors Heinrich Müller (geb. 1631 Lübeck  ; gest. 1675 Rostock) das Motiv auf (Abb. 6)  : Das Herz steht hier für die Seele. In deren Innern musizieren acht Engel, damit wird der inschriftlich zitierte Vers Epheser 5,19 (»Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen«) zum Ausdruck gebracht. Über drei Sängerinnen, – die möglicherweise auch auf die drei Grazien verweisen –, schwebt die Taube des Heiligen Geistes. Darüber fallen in das Herz die Früchte und Blumen, die die Hand Gottes aus einer Wolke streut. Damit wird der Gemeindegesang als von Gott inspiriert dargestellt.31 Der Mensch wird durch ihn zum engelgleichen Wesen. Dies 26 Hoburg war aufgrund seiner Kritik an der lutherischen Kirche entlassen worden und konnte erst nach mehreren Versuchen als Redakteur in Latum bei Arnheim wieder Fuß fassen, wo er 16 Jahre als reformierter Prediger tätig war bis er auch diese Position verlor, da er kompromisslos eine »Mystische Theologie« verteidigte. 1673 bis zu seinem Tode wirkte er schließlich in Altona als Prediger bei den Mennoniten (vgl. Winfried Zeller, Hoburg, Christian, in  : Neue Deutsche Biographie 9, Berlin 1972, S. 282 f.). Dies zeigt, wie selbst theologische Extremisten die Bilderwelt des Gesangbuchs mitprägen konnten. 27 Feike Dietz, Linking the Dutch Market to its German Counterpart  : The Case of Johannes Boekholt and a Newly Discovered 1661 Edition of Levendige herts-theologie, in  : Feike Dietz u. a. (Hg.), Illustrated Religious Texts in the North of Europe, 1500–1800, Farnham u. a. 2014, S. 252. 28 Z. B.: Lebendige Hertzens-theologie/ Das ist Andächtige Betrachtung/ wie Jesus im Hertzen inwohne und würcke/ und im Hertzen der Liebhabenden sey Alles  : Mit schönen Bildern und artigen Kupfferstücken vor diesem vorgestellet/ Jetzo aber auß Liebe mit Versen/ Soliloquien, Seufftzern und Bildern in 22. Kupffern vermehret von Christiano Hoburg, Predigern, Franckfurt/Amsterdam  : Seyler/Betkius, 1676 (VD17 23:679503G). 29 Jacob Böhme, Von Christi Testamenten Zwey Büchlein  : Das Erste von der H. Tauffe/ wie dieselbe im Grunde zu verstehen/ und warumb ein Christ soll getauffet werden  ; Das Zweyte von dem H.  Abendmahl des Herrn Christi/ was das sey/ nütze und würcke/ und wie dasselbe würdig genossen werde  ; Wie dieselben/ beydes nach dem Alten und Neuen Testament/ müssen verstanden werden, Amsterdam 1682 (urn:nbn:de:bvb:12-bsb10260376-2 [letzter Zugriff  : 14.04.2020]). Zu Böhmes Theosophie  : Claudia Brink (Hg.), Jacob Böhme  – Alles in Allem, die Gedankenwelt des mystischen Philosophen. Denken, Kontext, Wirkung, Dresden 2017  ; dies., Jacob Böhme – Grund und Ungrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen, Aufsatzband, Dresden 2017. 30 Cecilia Moratori, Licht, in  : Claudia Brink (Hg.), Jacob Böhme – Alles in Allem, die Gedankenwelt des mystischen Philosophen. Denken, Kontext, Wirkung, Dresden 2017, S. 71–81, hier 80 f. 31 Vgl. Steffen Arndal, Zwischen Emblem und Illustration. Zum Begriff des »Geistreichen« in den Frontispizen barocker und pietistischer Gesangbücher, in  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbu-

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vollzieht sich im Herzen. Angesichts einer solchen Darstellung von musizierenden Engeln, die ja kein Einzelfall ist,32 wie im Folgenden noch gezeigt wird, müssen die 2015 publizierten Aussagen von Tilmann Seebass als gänzlich abwegig gelten  : »Da aber die Reformation im 16. Jahrhundert mit dem Heiligen- und Marienkult aufräumte, konnte das dazugehörige Bild vom musizierenden Engel nur noch in den katholischen Gebieten weiterleben. […] Luthers Auffassung von der Wichtigkeit des Gotteslobs durch irdisches Musizieren mit allen Mitteln bedeutet für den Protestanten, dass er das Bild von Musikerengeln nicht mehr benötigt, um sich das himmlische und gottgefällige Musizieren mit Instrumenten vorzustellen.«33 Man muss hinzufügen, dass Darstellungen musizierender Engel ja nicht nur in der Musikliteratur, sondern an nahezu allen Ausstattungsstücken lutherischer Kirchen zu finden sind. Doch zeigt die Darstellung des Herzmotivs noch weitere Varianten  : Auf dem Frontispiz des Rudolstadter Gesangbuchs von 170434 (Abb. 7) umfasst das Herz selbst eine ganze Reihe weiterer Motive. Es selbst wird durch einen Rosenstrauch geformt, an dessen Fuße links eine Frauengestalt im zeitgenössischen Kostüm sitzt. Sie ist aber mit Buch und Anker als Personifikation von Glaube und Hoffnung zu identifizieren. Ihr gegenüber sitzt ein Engel. Beide weisen auf das Herz, also die Liebe, als dritte und höchste Theologische Tugend. Beiden Figuren sind Zitate nach Epheser  5,19 und Esaia 6,3 (»Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth, alle Lande sind seiner Ehre voll  ! 4 Und die Schwellen bebten von der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch.«) beigegeben. Die Darstellung wird ausführlich erläutert  : »Erklaerung des Kupfer=Bildes. / Gleich wie das Vogel-Heer / gibt seinem Schoepffer Ehr / Durch Girren/ Kirren/ Singen   ; / Gleich wie die Engel klingen  : / Wie heilig ist doch Gott / Der HErre Zebaoth  ! / So bleibt in diesem Stuecke / Ein Christ auch nicht zuruecke / Er ruffet / lobt und preist / Den / der Drey-Einig heist. / Und billich  : denn an Diesen / Hat Gott vielmehr erwiesen / Als aller Creatur  ; Man richt die Augen nur / Zu diesem Bild / und sehe/ Wie da so manches stehe /Das einen Christen=Muth / Reitzt an zur Andachts=Gluth. / Die chillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11), S. 61. 32 Auf dem Titelblatt der verschiedenen Auflagen der »Geistlichen Kirchen- und Haus-musik«, Breslau ab 1644, steht ein Engel über einem Bündel von Instrumenten und hält einen Notendruck, ein anderer weist auf den musizierenden König David  : Mańko-Matysiak 2005 (Anm. 20), S. 359 f.; auf dem Titel »Kirchenund Haus-musik, verlegt von Johann Gottfried Weber in Jauer 1709, musiziert ein ganzes Engelorchester im Himmel (ebd., S. 398), ebenso auf dem Frontispiz des Gesangbuchs »Kinder Gottes Himmel aufsteigende Hertzens- und Seelen-Music«, Nürnberg 1692. 33 Tilmann Seebass, Ikonographie der Engelsmusik – der himmlische Lobpreis bis 1600, in  : Ulrich Fürst und Andrea Gottdang (Hg.), Die Kirchenmusik in Kunst und Literatur 1, Laaber 2015 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 5,1), S. 61. 34 »Mit Lust und Liebe singen«. Die Reformation und ihre Lieder. Begleitband zur Ausstellung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Gotha 2012, Nr. 11.19.

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Abb. 6  : Heinrich Müller, Geistliche Seelen-Music, Rostock  : Johann Richel d. J., 1659 (VD17 547  :627211G), Kupfertitel (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, M  : Th 1858).

Dorn= und Rosen=Zweige / Sind unsers Glückes Zeuge. / Befleckt uns gleich die Suend / So hilfft das JEsus Kind / Das Kind/ des Weibes Samen/ In dessen Jesus=Namen / Und Pelicanen Blut /Die zarte Liebes=Bruth / Zum Leben wird erquicket / Wenn sei der Tod ersticket. / Das Grab war sonst verflucht / Nun trägt es Aehren=Frucht  ; / Denn JEsus solchs geweihet / Und uns vom Fluch befreyet / Durch seine Lebens=Bahn  ; Drum auch das Lamm die Fahn/ Als solches Sieges Spiegel / Traegt auf des Himmels Huegel  ; / Die Taube / die GOttes Geist /Uns gleichfals Gnad erweist / Mit ihren Friedes=Zweige / Den sie aus GOttes Reiche Bringt zu dem Kirchen=Schiff / Wenn durch des GlaubensGriff/ Sie da wird aufgenommen / Und man sie heist willkommen. /Wie gut ist doch die Rast / Wenn bey der Stuerme Last / Die Taeubgen sicher sitzen / In Jesu Felsen=Ritzen  ! Und wenn fuer Ungemach / zu ihrem Fluegel=Dach / Die Kuechlein koennen kriechen / Und um die Mutter liegen. / Die Creutz= und Suenden=Nacht/ Das Hertz zwar finster macht / Dennoch gibt Licht und Wonne / Des Wortes Lamp und Sonne/ Die leuchtet hell und klar / Aufs unsern Hertz=Altar / Im engen Truebsals-Sunde / Ja in der Todes=Stunde. / Gibt dies nicht Ursach gnug/ Daß man mit allen Fug/ Gleich wie den Weyrauch lasse / Hin zu der Himmels=Strasse / Die Andacht steigen auf / Im ganzen Lebens=Lauff  ; / Bey Fest= und Feyertagen /In Glueck und Unglueck Plagen  ; / Wohl dem / der Anckerfest / Auf JEsum sich verlaest  ! / Denselben lobt und liebet / Und sich im Singen uebet. / Er wird gar mercklich sehn / Das Hertz in Rosten stehn / Wenns schon in Dornen klebet / So lang allhier es lebet  !«

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Abb. 7  : Rudolstädtisches Gesang-Buch, Rudolstadt  : Heinrich Urban 1704 (VD18 11021810), Frontispiz (Exemplar Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8 CANT GEB 39/a-162). Abb. 8  : Gott Wohl=gefaellige Beth= und Buß-Rose […], in 6. unterschiedene Theile ans Licht gegeben. Nebst einem wohl=eingerichtetem Gesang=Buche, 9. Aufl., Striegau  : Johann Gottfried Weber, 1715, Frontispiz (Exemplar Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 80.L.29).

Darüber hinaus wurde noch ein Morgen- und ein Abendgebet mit den Motiven formuliert. Eine derartig lange Legende zum Bild ist kein Einzelfall. So erklärte auch der Graf von Zinzendorf das Frontispiz des Berthelsdorfer Gesangbuchs von 1725 in einer zwölfstrophigen Liedpredigt.35 Dadurch wird noch einmal deutlich, dass die Illustration nicht nur schmückendes Beiwerk war, sondern Teil der Andacht sein sollte. Angesichts solcher Bemühungen um Unmissverständlichkeit erscheint die Ansicht irrig, dass es zuweilen erwünscht gewesen sein soll, »dass Titelkupfer durch emblematische Inhalte rätselhaft wirkten«, wie Stefan Michel meinte.36 Eine solche Strategie hätte den Absatz der teuren illustrierten Ausgaben erheblich erschwert. Die Wechselwirkungen mit der Andachtsliteratur sind offensichtlich, v. a., wenn man als weiteres Beispiel das Frontispiz der »Gebets- und Bußrose« betrachtet (Abb. 8), ein primär als Gebetbuch gedachtes Werk, das aber als sechsten Teil auch Liedtexte enthält.37 Leider ist das Datum der Erstauflage nicht sicher zu ermitteln, da die ers35 Jürgen Henkys, Das Frontispiz des Berthelsdorfer Gesangbuches und seine Deutung durch Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, in  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11), S. 101–113. 36 Stefan Michel, Gesangbuchfrömmigkeit und regionale Identität. Ihr Zusammenhang und Wandel in den reußischen Herrschaften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Leipzig 2007, S. 113. 37 Gott Wohl=gefaellige Beth= und Buß-Rose […], in 6. unterschiedene Theile ans Licht gegeben. Nebst

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ten Auflagen offenbar einen anderen Titel trugen. Zugänglich waren der Verfasserin nur die 9.  Auflage von 1715 und die 11. von 1718.38 Auf deren Titelbild steht auch die Ikonographie des Herzens im Zentrum, sowohl die Herz-Jesu-Thematik als auch die Allegorie des menschlichen Herzens und zwar durch eine mit sämtlichen »Arma Christi« versehene Darstellung des Wappens Luthers, die sog. Lutherrose, die auch ein Herz im Zentrum zeigt. Luther deutete die Symbolik bekanntlich selbst in einem Brief vom 8. Juli 1530 an Lazarus Spengler  : »ein Merkzeichen meiner Theologie. Das erst sollt ein Kreuz sein, schwarz im Herzen, das seine natürliche Farbe hätte, damit ich mir selbs (sic  !) Erinnerung gäbe, daß der Glaube an den Gekreuzigten uns selig machet. Denn so man von Herzen glaubt, wird man gerecht. Ob’s nun wohl ein schwarz Kreuz ist, mortificiret und soll auch wehe tun, noch läßt es das Herz in seiner Farbe, verderbt die Natur nicht, das ist, es tötet nicht, sondern erhält lebendig. Iustus enim fide videt, sed fide crucifixi. Solch Herz aber soll mitten in einer weißen Rosen stehen, anzuzeigen, daß der Glaube Freude, Trost und Friede gibt und kurz in eine weiße fröhliche Rosen setzet nicht wie die Welt Fried und Freude gibt, darum soll die Rose weiß und nicht rot sein  ; denn weiße Farbe ist der Geister und aller Engel Farbe. Solche Rose stehet im himmelfarben Felde, daß solche Freude im Geist und Glauben ein Anfang ist der himmlische Freude zukünftig, jetzt wohl schon drinnen begriffen und durch Hoffnung gefasset, aber noch nicht offenbar.«39

Es werden bei der Buß- und Betrose aber auch noch andere Motive eingebunden  : So verweist die Weinrebe auf das Abendmahl und die Arbeiter im Weinberg des Herrn. Zudem ist Moses allegorisch handelnd dargestellt  : Er prüft bzw. stählt das menschliche Herz auf einem Altar, an dem die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten, also gewissermaßen der Katalog der Kriterien lehnt. Das Lamm Gottes verweist ebenso wie die fünf Wunden, die in die Rose eingeschrieben sind, auf den Opfertod Christi. Die Darstellung steht in der Tradition des Fünf-Wunden-Bildes wie sie aus Psaltern bekannt war (vgl. zum Beispiel London, British Library, Ms. Egerton 1821, fol. 9r)40. Die Texte einem wohl=eingerichtetem Gesang=Buche, 9. Aufl., Striegau  : Johann Gottfried Weber 1715  ; Neu-vermehrte Gott=wol-gefaellige Beth- und Buß-Rose/ Voll von Auserlesenen Geistreichen Andachten, so wohl Morgens und Abends, als zu allen Zeiten, und in allen Anliegen. Alles aus dem Kern erbaulicher Schrifften Gottes=gelehrter Maenner zusammen getragen, und in 6. unterschiedene Theile ans Licht gegeben. Nebst einem wohl=eingerichteten Gesang=Buechlein, 12. Aufl., Striegau  : Johann Gottfried Weber, 1718. 38 Möglicherweise wurde als solche vom Verleger Johann Gottfried Weber das Gebetbüchlein »Neu entsprossene || Passions= || Rosen/ || Vor Christ=glaeubige || Passions=Hertzen/ || Welche das bittere, schmertzli= || che Leiden und Sterben Jesu || Christi taeglich betrachten/ … In 7. Farben abgebildet. || Ausgehaendiget || von || … / Benedict Kunstmann«, Jauer  : Johann Gottfried Weber, 1702, betrachtet, das mit 35 Seiten aber nur ein Zehntel des Umfangs besaß. 39 Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, 5, Weimar 1934, S. 445, Nr. 1628. 40 Peter Parshall u. a., Origins of European Printmaking. Fifteenth-Century Woodcuts and Their Public, Ausstellungskatalog Washington, New Haven 2005, Nr.  59  ; Nancy Thebaut, Bleeding Pages, Bleeding

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Abb. 9  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder und Psalmen, Bautzen  : Michael Wolrab, 1567, fol. 241v (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Liturg. 696 g).

der Bet-und Bußrose sind wohl von dem Breslauer Theologen und Kirchenlieddichter Caspar Neumann (geb. 1648 Breslau  ; gest. 1715 ebenda) zusammengestellt worden41  ; in Bibliothekskatalogen findet sich als weiterer Herausgeber noch Christian Scriver, ebenfalls Pfarrer und Lieddichter, dessen Schriften weit verbreitet waren42, doch ein Kenner seines Werks wie Holger Müller sieht dies eher skeptisch.43

Bodies. A Gendered Reading of British Library MS Egerton 1821, in  : Medieval Feminist Forum 45, 2009, Heft 2, S. 175–200. 41 Peter Koch, Neumann, Caspar, in  : Neue Deutsche Biographie 19, Berlin 1999, S. 156. 42 Karl Dienst, Scriver, Christian, in Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon [BBKL] 9, Herzberg 1995, Sp. 1262–1264  ; Holger Müller, Seelsorge und Tröstung. Christian Scriver (1629–1693). Erbauungsschriftsteller und Seelsorger, Waltrop 2005. 43 So Holger Müller in einer E-Mail am 9.7.2018 an die Verfasserin »In Scrivers eigenem Oeuvre kommen viele kleinere Gebete und Seufzer zu Gott vor  ; doch dabei schöpft Scriver sichtlich und z. T. von ihm selbst nachgewiesen auch aus vielen anderen Quellen einschließlich bis heute bekannter Choräle. […] Ausführlichere Kirchengebete oder Gebete für die persönliche Andacht sind mir […] innerhalb seiner eigenen Werke praktisch nicht begegnet  ; eine Ausnahme macht da allenfalls die sehr spezielle Dokumentation ›Vom verlorenen und wiedergefundenen Schäflein‹ […] Zu Scrivers Lebzeiten erschien ein Gebetbuch von Othfarius […], zu dem Scriver zumindest ein Vorwort beigesteuert hat.«

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Mit der Ikonographie reagierte man offensichtlich auf eine Illustration des katholischen Gesangbuchs von Johann Leisentrit »Geistliche Lieder und Psalmen« von 1567 (Abb.  9),44 die dort gleich zweimal vorkommt  : Zuerst mit Bezug auf Psalm 23 (fol. 241v) und dann im Kontext der Lieder über die wahre Kirche (ungezählte Seite nach fol. 270v). Das Bild zeigt hier die Rose in der Mitte, die dort − laut Inschrift − für die Heilige Schrift steht, auch wenn sie, wohl mit Blick auf Luthers Bibelübersetzung nicht zufällig, der Lutherrose sehr ähnlich sieht. Sie teilt die christliche Gemeinschaft in Ketzer und Rechtgläubige, also in Wölfe und Schafe, Bienen und Spinnen, die dabei entweder behütet vom Hl. Geist oder angetrieben vom Teufel sind.45 Bei der Betund Bußrose lohnt auch der Vergleich der verschiedenen Auflagen  : Bemerkenswert ist nicht nur, dass eine Seitenverkehrung des Motivs stattfand, was beim Kopieren von Motiven recht häufig vorkam, sondern auch, dass entscheidende Elemente verändert wurden  : Die beiden Strahlenbündel an Moses Kopf wurden eliminiert und der sich um den Stamm der Betrose windende Weinstock trägt nun auch Früchte  : Große Trauben hängen herab, damit ist der Verweis auf das Abendmahl unübersehbar. Der weisende Gestus der Figur am Fuße der Rose, die vielleicht die bußfertige menschliche Seele darstellt, in Richtung der Arbeiter ist nun auch deutlicher zu erkennen. Häufig vorkommende Varianten des Herzmotivs waren das beflügelte und das brennende Herz  : Auf dem Vorsatzblatt der 1760 bei Johann Valentin Mayer erschienenen Neuausgabe des Memminger Gesangbuches fliegt das beflügelte Herz gen Himmel zur Dreifaltigkeit (Abb.  10). Darunter erscheint die Ansicht der Reichsstadt von Süden. Auf dem Frontispiz der »Sammlung geistlicher Lieder aus den Schriften der besten deutschen Dichter zur Beförderung der Haus-Andacht«, herausgegeben vom Stadtpfarrer Johann Georg Schelhorn d. J., die 1772 im Verlag von Johann Christoph Diesel erschien (Abb. 11), zeigt der Kupferstich von G. I. Hommel das brennende Herz auf dem Altar im Zentrum  ; ein breiter Lichtstrahl, ausgehend vom Tetragramm im Himmel, versieht es mit göttlichem Licht. Neben dem Altar steht Martin Luther mit dem Gesangbuch und zeigt nach oben. Mit seiner Person verwies man auch auf das Patronat der Kirche St.  Martin. Das Gesangbuch, das der Reformator hält, ist aufgeschlagen, und es sind die Anfangsworte der reformatorischen Hymne »Ein feste Burg ist unser Gott« zu lesen. Gegenüber ist jedoch ein katholischer Bischof dargestellt. Da er die Anfangsworte des »Te Deum« aufgeschlagen hält, und dieses seit dem Frühmittelalter auch als ambrosianischer Lobgesang (»Hymnus Ambrosianus«) galt, handelt es sich wohl um diesen Kirchenvater. Auch auf dem Frontispiz des von Thomas Hansen Kingo, Bischof von Fünen und Lieddichter, erstmalig 1699 herausgegebenen Gesangbuchs 44 Dazu ausführlich der Beitrag von Ansgar Franz und Christiane Schäfer in diesem Band. 45 Ausführlich  : Erin Lambert, Singing Together and Seeing Differently. Confessional Boundaries in the Illustrated Hymnal, in  : Dietz 2014 (Anm. 27), S. 265–267 mit Abb. 11.2. Zur Symbolik von Biene und Bienenkorb siehe auch Liselotte Stauch, in  : Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte [RDK] 2, Stuttgart 1939, Sp. 545–549.

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Abb. 10  : Neu aufgelegtes Memmingisches Gesang-Buch, Memmingen  : Johann Valentin Mayer, 1760, Frontispiz (Exemplar Memmingen, Stadtarchiv). Abb. 11  : Johann Georg Schelhorn d. J. (Hg.), Sammlung geistlicher Lieder aus den Schriften der besten deutschen Dichter zur Beförderung der Haus-Andacht, Memmingen  : Johann Christoph Diesel, 1772, Frontispiz (Exemplar Memmingen, Stadtarchiv).

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hält eine singende Seele ein brennendes Herz empor in Richtung der musizierenden himmlischen Heerscharen.46 Das Chemnitzer Gesangbuch von 1731 zeigt in einem der Medaillons ein großes brennendes Herz umgeben von einer Vielzahl kleinerer Gemeinde-Herzen.47 Selbst im reformierten Gesangbuch von Ambrosius Lobwasser wird der Psalmengesang mit einem brennenden Herzen eingeleitet.48 Im Breslauer Gesangbuch von 1734 schwebt das brennende Herz über den Tasten der Orgel in einer Achse mit der Taube des Heiligen Geistes.49 Eher selten wird das brennende Herz gelöscht, dies geschieht auf dem Frontispiz des »Sondershäusischen Gesangbuchs« von 1722 durch Jesus im Seelengarten (Abb. 12).50 Ein Engel hält das Unwetter von diesem wohlgeordneten Paradies ab, das sich vor einem einer barocken Schlossanlage gleichenden Tempel Gottes erstreckt. Der gießende Jesus verweist auf die Wassermetaphorik, die für das Motiv des »Fons pietatis«51 grundlegend ist. 2.2.2 Jesus als Gnadenquell Dieses Motiv des aus seinen Wunden in den Abendmahlskelch oder einen Brunnen blutenden Erlösers wurde früh in die protestantische Bilderwelt übernommen und dabei am wenigsten verändert, da es auf der Quell- und Brunnenmetaphorik basiert, die im Alten und Neuen Testament angelegt ist.52 Die Darstellung tritt in der protestantischen Ikonographie bereits um 1550 in dem bekannten Holzschnitt der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. auf, der die Austeilung des Abendmahles in beiderlei Gestalt durch Luther und Hus zeigt.53 Neu ist in der späteren protestantischen Ikonographie 46 Arndal 2005 (Anm. 31), S. 55 f., Abb. 4. 47 Vollständiges Chemnitzer Gesang-Buch. Darinnen des seel. Hn. D. Mart. Lutheri, und anderer Geistreichen Lehrer in die 765. auserlesene Lieder enthalten  ; Wie solche Jn denen Chur-Sächß. Landen bey iedes Orts Kirchen- und Hauß-Andacht pflegen gesungen zu werden. Mit vollkommenen Registern und Anweisung, was auf die Sonn- und Festtage durchs gantze Jahr zu singen, Auch gewöhnl. Versen derer Kirchen-Collecten versehen  ; Nebst darzu gehörigen Kirchen-Gebet-Buch  ; Chemnitz  : Konrad Stößel, 1731 (VD18 13056972), Titel  ; Stecher  : Johann Benjamin Brühl (Leipzig 1691–1763)  : Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker [AKL] 24, 1996, S. 489. 48 Zum Beispiel  : Neu-verbessertes Kirchen-Gesang-Buch, verfassend die 150 Psalmen Davids  : in deutsche Reimen gebracht von Ambrosio Lobwasser, Doctor und Professor zu Königsberg, auch Chur-Brandenburg Preußischen Rath  ; Nebst 150 auserlesenen geistreichen Kirchenliedern, alle nach französischer Melodey  ; Samt dem Heydelbergischen Catechismo, Kirchenformularien, uralten Glaubensbekänntnissen, auch einigen Kirchen- und Hausgebetern. Zu Gottes Ehren […] revidiret und approbiret durch den christlichen Synodum Generalem der Reformirten Kirchen in den vereinigten Ländern, Cleve, Jülich, Berg und Mark, Basel 1788. 49 12., verm. Aufl., Breslau  : Brachvogel, 1734  : Mańko-Matysiak 2005 (Anm. 20), S. 399, Abb. 3. 50 Ausstellungskatalog Gotha 2012 (Anm. 34), Nr. 11.17. 51 Esther P. Wipfler, Fons Pietatis, in  : RDK (Anm. 45), Bd. 10, 2004, Sp. 140–158. 52 Ebd., Sp. 140 f. 53 Der Druck ist mehrfach erhalten, z. B. in Eisenach, Karlsruhe und Stuttgart  ; bei der Zuweisung an Cra-

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Abb. 12  : Sondershäusisches Gesang-Buch, Sondershausen  : Jacob Andreas Bock, 1722, Titel und Frontispiz (nach  : Ausstellungskatalog Gotha 2012 [Anm. 34], S. 120, Abb. 95).

allenfalls eine noch prominentere Verknüpfung mit Zitaten aus der Bibel. Dies zeigt auch das Frontispiz der »Geistlichen Wasserquelle« von Georg Tietz (Jena  : Werther, 1685)54, das von dem Erfurter Kupferstecher Jacob Petrus gestochen wurde. Der in der oberen Brunnenschale stehende Christus blutet aus drei und nicht aus fünf Wunden, wie es traditionell dargestellt wird, und hält das Kreuz. Rechts und links seines Hauptes wird der Psalm 42 zitiert, darunter ist auch der dort erwähnte Hirsch dargestellt. Auf dem Rand der unteren Brunnenschale, in die sich aus der oberen Schale − in Analogie zu den Paradiesflüssen − vier Blutstrahlen aus Engelsköpfen ergießen, ist Jesaja  55,1 zitiert und unter dem Bild die Offenbarung des Johannes 21,6  : »Ich will dem dürstigen geben von dem Brun(n) des Lebendigen Wassers umb sonst.« Gegenüber auf dem Titelblatt erscheint auf gleicher Höhe das Zitat des Verses Johannes 4,14. Das Bild zeigt die entsprechende Szene mit Jesus und der Samariterin am Jakobsbrunnen. Deutlich nach, seine Werkstatt oder Nachfolge herrscht in der Forschung Uneinigkeit (Günter Schuchardt [Hg.], Gesetz und Gnade. Cranach, Luther und die Bilder, Ausstellungskatalog Eisenach und Torgau 1994, Nr. 8 mit Abb. S. 24  ; Lukas Cranach. Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik, Ausstellungskatalog Basel, Bd. 2, 2. Aufl., Stuttgart 1976, S. 513, Nr. 361). 54 VD17 7  :688680R.

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ist einerseits das Bestreben, das Bild stets durch ein Bibelzitat zu »legitimieren«, und andererseits die Absicht, den Text geradezu wörtlich ins Bild umzusetzen. 2.2.3 Die Kirche Wie schon am »Sondershäusischen Gesangbuch« von 1722 gezeigt, sind die dargestellten Architekturen zumeist Sinnbilder für die Kirche an sich. Auf dem Titelblatt des vom Leipziger Kantor Gottfried Vopelius 1682 herausgegebenen sogenannten »Neu Leipziger Gesangbuchs« (Abb. 13), das allerdings ein Kantional ist, steht das Bauen am Tempel Gottes im Zentrum einer komplexen Allegorie, die von Johann Oswald Harms entworfen und von Johann Atzel gestochen wurde. Dieses Werk bildete nicht nur die Grundlage für die Leipziger Kirchenmusikpflege bis weit ins 18. Jahrhundert und damit auch für viele der kirchenliedgebundenen Werke Johann Sebastian Bachs, sondern bestimmte ebenso jahrzehntelang die nord- und mitteldeutschen Gesangbuchausgaben mit. Begleitet von einer Vielzahl von Zitaten wird hier der Bau des Tempels Gottes imaginiert, den Pastoren in zeitgenössischer Tracht vollziehen. Im Innern der Kirche feiert Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl. Die Baustelle ist schützend umgeben von einer Zeltstadt mit Wappen protestantischer Fürstentümer, vorne in der Mitte sind z. B. die Wappen der Kurfürstentümer Pfalzgrafschaft bei Rhein und Herzogtum Sachsen zu erkennen. Die Situation des Heerlagers, die hier geschildert wird, spielt möglicherweise auf die politische Situation von 1682 im königlichen Ungarn an. Dort hatte sich 1678 der unterdrückte protestantische Adel gegen den Kaiser unter der Führung von Emmerich Thököly erhoben. Nach einem Waffenstillstand 1681 blieb die Situation unter der Regierung Thökölys aber weiterhin instabil. 3. Vignetten Der Bereich der Emblematik und der ihr entlehnten Motive und Mottos kann hier aufgrund der Fülle der Beispiele nur exemplarisch angesprochen werden. Das Titelblatt eines der bekanntesten Gesangbücher des 18.  Jahrhunderts, des »Geistreichen Gesangbuchs« von Iohann Anastasius Freylinghausen, Halle 1721 (Abb. 14), zeigt eine Vignette mit dem Motto »Illo splendente levabor« (»Durch seinen Glanz werde ich erhoben werden«). Das Bild mit diesem Motto kommt bereits in einer Ausgabe der »Emblèmes Ou Devises Chrétiennes« (Utrecht  : Schouten) der Calvinistin Georgette de Montenay von 1697 vor (Abb. 15). Das Emblem wurde, signifikant erweitert durch Gottfried August Gründler, dann zum Signet des Verlags des Waisenhauses August Hermann Franckes  :55 So verweisen die zur Sonne fliegenden Adler auf das Tympanon des Waisenhauses mit dem Jesajawort (40,31)  : »Die auf den Herrn harren, kriegen 55 Zum Beispiel  : David Etienne Choffin, Amusemens philologiques ou Mélange agréable de diverses pièces  : concernant l’histoire des personnes célèbres, les évènemens mémorables, les usages & les monumens des

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Abb. 13  : Neu Leipziger Gesangbuch […], Leipzig  : Christoph Klinger, 1682 (Wikimedia Commons).

neue Kraft, dass sie auffahren zum Himmel wie Adler«. Das Motto soll unterstreichen, dass alles in den Stiftungen nicht zur eigenen, sondern zur Ehre Gottes geschehe.56 Der Sämann im Vordergrund verbildlicht die Worte des Markusevangeliums (4,14) »Der Sämann sät das Wort« und damit die Gründungsidee des Verlages. Ob die beiden Adler auch heraldisch zu deuten sind und, wie Veltmann meinte, auf den Schutz durch das preußische Königshaus hinweisen, ist meines Erachtens höchst fraglich, denn Hinweise auf die Heraldik fallen in der Regel wesentlich konventioneller aus, um die Wiedererkennbarkeit des Wappens bzw. signifikanter Motive daraus zu gewährleisten  ; so ist auf dem Frontispiz des »Neu vermehrten Frankfurter Gesang-Buchs« von 1798 anciens, la morale, la mythologie, & l’histoire naturelle 3, 3. rev. Aufl., Halle a. S. 1764 (Exemplar der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle  : BFSt  : VERL:30:3 (3)). 56 Vgl. Claus Veltmann, August Hermann Francke und die »Marke« Waisenhaus, in  : Kulturfalter April 2013  : https://www.kulturfalter.de/magazin/stadtgeschichte/august-hermann-francke-und-die-marke-wai senhaus/ (letzter Zugriff  : 24.06.2019).

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Abb. 14  : Johann Anastasius Freylinghausen, Geistreiches Gesangbuch. Den Kern alter und neuer Lieder, Halle  : Verlag des Waisenhauses, 1721, Titel (Exemplar Hildesheim, Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik, Bibliothek, Gesangbuch-Archiv).

Abb. 15  : Georgette de Montenay, Emblèmes ou devises chrétiennes, Utrecht  : Schouten, 1697, S. 39 (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, H  : P 1942.8° Helmst.).

deutlich erkennbar der schreitende Hahn aus dem Wappen der Stadt Frankfurt an der Oder in eine den Dreipass des Stadttors aufgreifende Orgelarchitektur eingefügt, die sich über den Flammen der Andacht erhebt. Auch wenn es bei Gesangbüchern primär um Musik geht, spielt die Symbolik von Musikinstrumenten − mit Ausnahme der Harfe − eine eher untergeordnete Rolle. Die Harfe galt schon im Mittelalter als Attribut König Davids, sie ist aber auch als Einzelmotiv sicherlich das in der Gesangbuchillustration am häufigsten vorkommende Musikinstrument und auf Titelseiten insbesondere bei reformierten Psaltern omnipräsent. Nicht erst im Pietismus diente das Instrument aber auch als Verweis auf die Apokalypse (14,2  : »[…] und die Stimme, die ich hörte, war wie von Harfenspielern, die auf ihren Harfen spielen.«). Deshalb wäre es zunächst naheliegend zu vermuten, dass es

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Abb. 16  : Christoph Christian Sturm, Sammlung Geistlicher Gesänge über die Werke Gottes in der Natur, Halle a. S.: Carl Hermann Hemmerde, 1775, Titel (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, P.o.germ. 1428 h).

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Abb. 17  : Samuel Gotthold Langens Horatzische Oden  : nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werthe der Reime, Halle a. S.: Carl Herrmann Hemmerde, 1747 (VD18 11406224), Titel (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, P.o.germ. 793 d).

sich bei dem Titelbild der »Sammlung Geistlicher Gesänge über die Werke Gottes in der Natur« von Christoph Christian Sturm aus dem Jahr 1775 (Abb. 16) auch um einen solchen Verweis auf den Psalmengesang handeln könnte. Das Motiv mit der an den Baum gelehnten Lyra ist dort jedoch eine Hommage an Horaz. Denn das Zitat auf dem Spruchband »o laborum dulce lenimen« (»der Mühen süße Linderung«) ist den Oden des antiken Dichters entnommen.57 Horaz spricht an dieser Stelle seine Lyra an, die einst dem Dichter Alcaeus große Dienste geleistet habe. Das Monogramm »C. H. H.« in der Muschel unter dem Baum ist in diesem Kontext rätselhaft, lässt sich aber mit dem Namen des Verlegers, Carl Herrmann Hemmerde, auflösen. Die Vignette ist eine 57 Horaz Carm. I 32, 13 ff.: »O decus Phoebi et dapibus supremi grata testudo Iovis, o laborum dulce lenimen. mihi cunque salve rite vocanti.«

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freie Nachahmung des Titelmotivs der vom gleichen Verleger herausgebrachten »Horatzschen Oden« (Abb.  17), das von Johann Christian Gottfried Fritzsch gestochen und vielleicht auch entworfen wurde. Nun könnte man dies noch als höchst absichtsvollen Querverweis verstehen, wenn die gleiche Vignette nicht auch noch Klopstocks »Messias« zierte. Eine solche Beliebigkeit bedeutet, dass man das Ende der Ikonologie erreicht hatte. Wo die Interessen des Verlegers nach einer »corporate identity« so dominant waren, kam die individuelle Gestaltung zum Erliegen. Allerdings gab es auch noch andere Personen und Personengruppen, die an der Produktion von Gesangbüchern mitwirkten und dementsprechend repräsentiert werden wollten  : Zum einen das städtische Bürgertum und zum andern die Landesfürsten.

II Funktionen 1. Bürgerliche Selbstdarstellung Die bürgerliche Identität wurde im deutschsprachigen Raum zumeist über unmittelbare regionale und lokale Zusammenhänge definiert, so dass sie immer Teil der Selbstdarstellung und -vergewisserung waren.58 Dies spiegeln Gesangbuchtitel und -frontispize spätestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als Stadtansichten vermehrt abgebildet wurden. 1.1 Veduten und Heraldik Im Nürnberger Gesangbuch von 1677 präsentieren Personifikationen von Justitia und Pax die Stadtwappen über der Ansicht der Frankenmetropole.59 Die beiden Tugenden verweisen in einer Zeit nicht enden wollender militärischer Auseinandersetzungen auf den Friedenswunsch in Psalm 85,11, »dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen«. In Nürnberg ging die Selbstdarstellung bis in die Mikrotopographie, wie man am Beispiel des Gesangbuchs für die Mendlische Kapelle sieht. Dieser speziell für das Gesangbuch angefertigte Stich wurde später auch als exemplarische Abbildung dieses Orts zitiert.60 Dabei waren es nicht allein Reichsstädte wie Nürnberg, die die Gesangbuchillustration als Chance zur eigenen Darstellung nutzten, Eisenach als Luthergedächtnisort tat dies genauso im Frontispiz 58 An den reußischen Gesangbüchern exemplifizierte dies Michel 2007 (Anm. 36). 59 Johann Saubert, Nürnbergisches Gesang-Buch, Darinnen 1160. außerlesene, so wol alt als neue, GeistLehr- und Trostreiche Lieder, auf allerley Zeit- Freud- und Leid-Fälle der gantzen Christenheit gerichtet, und mit Voransetzung der Autorum Namen, auch theils vortreflich-schönen Melodien, Noten und Kupffern gezieret, zu finden, Deme beygefüget ein Christliches Gebet-Büchlein, in welchem MorgenAbend- Buß- Beicht- Communion- Räiß- Wetter- Krancken- und Sterb-Gebet kürtzlich enthalten […], Nürnberg, 1677 [VD17 12:122124Y]. 60 Christoph Gottlieb von Murr, Beschreibung der vornehmsten Merkwürdigkeiten in der Reichsstadt Nürnberg […], 2. erw. Aufl., Nürnberg 1801, S. 150.

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Abb. 18  : Neues vollständiges Eisenachisches Gesangbuch […], Eisenach 1673, Frontispiz nach dem Entwurf von Johann David Herlicius (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, M  : Tl 450).

seines Gesangbuchs von 1673 (Abb. 18), auch wenn sich das Stadtporträt gegenüber der himmlischen Musik Davids vergleichsweise bescheiden ausnimmt. Ähnlich verhält es sich auch beim »Neueingerichteten ostfriesischen Gesangbuch« von 176661, dem Frontispiz mit dem musizierenden David ist auf dem Titelblatt lediglich der preußische Adler, der das sechsfeldrige ostfriesische Wappen in seinen Krallen hält, gegenübergestellt. Die Stadtansicht sowie die Darstellung bestimmter Gedächtnisorte überlebte noch bis ins 20. Jahrhundert. Dabei zeigt sich aber eine deutlich überregionale Perspektive  : Auf dem Titelblatt des Einheitsgesangbuchs für die Kirchenprovinz Sachsen und Anhalt nach dem Entwurf von Josua Leander Gampp von 1931 erscheint oberhalb des Schriftzuges die Wartburg und darunter die Wittenberger Schlosskirche (Abb.  19).62 Bemerkenswert ist, dass die Wartburg hier wie auch andernorts, zum Beispiel für 61 Neueingerichtetes ostfriesisches Kirchengesangbuch, Aurich  : Hermann Tapper, Königl. Preuss. Ostfr. privil. Buchdrucker 1766  ; Signatur unter dem Frontispiz »Pingeling et fil  : del. et sc 1754 Hamb.« 62 Mechthild Wenzel, Illustrationen in Magdeburger Gesangbüchern, in  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11), S. 166 f. mit Abb.

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Abb. 19  : Gesangbuch für die Provinz Sachsen und Anhalt, Halle a. S.: Verlag der Buchhhandlung des Waisenhauses, 1931, Titelblatt nach dem Entwurf von Josua Leander Gampp (Exemplar der Verfasserin).

Straßburg 1899, auf Regionalgesangbüchern erscheint, die keinen Bezug zu Thüringen aufweisen. Dies ist offenbar auf die Assoziation der Wartburg mit dem Lied »Ein feste Burg« zurückzuführen, das als das lutherische Lied schlechthin galt und auch nicht erst im deutsch-französischen Krieg 1870/71 politisch instrumentalisiert wurde.63 Die Ansicht der Wartburg war somit ein Symbol. Die religiöse Überhöhung zeigt sich auch am Strahlenkranz, der die Wartburg auf dem Gesangbuch für die Provinz Sachsen und Anhalt umgibt. Blickt man nach Dänemark, so formen Veduten der wichtigsten Kirchen des Landes auf dem Titelblatt des 1953 autorisierten Gesangbuchs (»Den Danske Salmebog«) sogar ein Kreuz und bilden so eine nationalreligiöse Identität ab. Eine andere Form der bürgerlichen Selbstdarstellung war die Abbildung von Porträts der Reformatoren, Herausgeber und Lieddichter, die der Elite dieses Standes angehörten.

63 Ausführlich dazu Michael Fischer in diesem Band und in weiteren Veröffentlichungen.

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1.2 Porträts: Reformatoren, Herausgeber und Lieddichter Schon seit dem 16. Jahrhundert gibt es, wie erwähnt, Porträts in Gesangbüchern. Am häufigsten ist dabei die Darstellung Martin Luthers. Sie wird aber erst im 17. Jahrhundert als Frontispiz abgebildet, vorher steht sie vor der Vorrede (z. B. Gesangbuch […], Dresden  : Gimel Bergen, 1597) oder vor dem Index der Lieder (z. B. Gesangbuch […], Dresden  : Gimel Bergen, 1625). Luther wird dabei zumeist als Autor mit Buch gezeigt, aber nicht als Musiker. Der Aspekt des Gelehrten erscheint später noch verstärkt, wenn er einem Kirchenvater ähnlich in einer Bibliothek gezeigt wird (Abb. 20). Häufig begleitet ihn als weiteres Attribut auch die Gans als Verweis auf den Vorgänger Jan Hus (da Husa tschechisch »Gans« bedeutet) so im Märkischen Gesangbuch von 1757 und den Marburger Gesangbüchern von 1774 und 1795. Das Porträt ist nicht immer wie hier ganzfigurig gestaltet, sondern kann auch als Büste oder Halbfigur dargestellt sein. In der Schweiz wird, wenn auch spät, auf dem Titel des reformierten Gesangbuchs das Porträt Luthers demjenigen Zwinglis gegenübergestellt (Abb.  21). Herausgeber geistlicher Liedersammlungen wurden ähnlich wie Arndt oder Starck in den Ausgaben ihrer Erbauungsbücher gegenüber ihrer Vorrede oder im Frontispiz gezeigt  : So wird die Vorrede des mennonitischen Künstlers und Schriftstellers Karel van Mander (geb. 1548 Meulebeke  ; gest. 1606 Amsterdam) in seiner Liedersammlung »Goldene Harfe« in der Haarlemer Ausgabe von 162764 von einem Porträt begleitet (Abb. 22), das auf einen Kupferstich von Jan Saenredam nach Hendrik Goltzius zurückgeht (Abb. 23), der in Karel van Manders »Schilder Boeck« von 1604 zum ersten Mal erschienen ist. Das Bildnis ist schon dort mit van Manders religiösem Motto umgeben  : »Mensch soeckt veel, doch een is noodich« (»Der Mensch sucht viel, nur eins ist nötig«). Darunter erscheint im Liederbuch die Harfe mit Psalm 33 auf einem Wappenschild. Das Titelblatt der Rotterdamer Ausgabe zeigt zudem einen Todesengel. Möglicherweise verweist er darauf, dass der gefeierte Autor zu diesem Zeitpunkt schon verstorben war. Weitere Beispiele für Porträts von Lieddichtern sind die Bildnisse von Johannes Crüger in seiner »Praxis Pietatis Melica« (29. Aufl., Berlin 1721) oder von Paul Gerhard in seinen »Geistreichen Haus- und Kirchenliedern« (letzte Auflage Wittenberg 1723). Als Attribut hält Gerhard das Gesangbuch in der Hand. Ein weniger bekanntes und mit der Profilansicht ungewöhnliches Beispiel ist das Porträt des Memminger Pfarrers Johann Georg Schelhorn auf dem Frontispiz der von ihm herausgegebenen »Sammlung geistlicher Lieder aus den Schriften der besten deutschen Dichter zur Beförderung der Haus-

64 In gröberer Kopie erscheint es auch in den Rotterdamer Ausgaben von 1640 und 1643 (Karel van Mander, De gulden harpe, inhoudende al de liedekens, die voor desen by K.V.M. [Karel van Mander] gemaeckt, ende in verscheyden boecxkens uytghegaen zijn, […] vermeerdert met ›t Broodt-huys, Rotterdam  : Jan Wolffersz. Vleyser 1643).

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Abb. 20  : Neu-Vermehrtes Allgemein Gesangbuch/ Zur Übung Der Gottseeligkeit Hn. D. Mart. Luthers und anderer Gottseel. Lehrer, Franckfurt am Mayn  : Walther, 1697, Frontispiz (Exemplar Göttingen, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek, 8 H E RIT I, 11207 [8 CANT GEB 39/a-13]). Abb. 21  : Gesangbuch für die Evangelisch-Reformirte Kirche der deutschen Schweiz, Basel  : Friedrich Reinhardt, 1891, Titel nach dem Entwurf von Rudolf Münger (München, RDK Archiv).

Andacht« (Abb. 24).65 Offenbar soll der auf den Titel gerichtete Blick des Herausgebers die Aufmerksamkeit ganz auf das Werk lenken. Komponistenporträts kommen in der Regel nicht im Gesangbuch vor, was wohl mit der Vielzahl der bei einer solchen Liedersammlung in Frage kommenden Tonsetzer zu erklären ist. Anders verhält es sich bei den Kantionalien  : Das im Auftrag des sächsischen Kurfürsten gedruckte »Geistreiche Gesangbuch« von 1676 (Abb.  25) enthält einen zwei Seiten einnehmenden Kupferstich gleich am Anfang des Buches, der, wenn auch nicht sehr prominent, Heinrich Schütz, den Lehrmeister des Mitherausgebers dieses Werks Christoph Bernhardi mit seiner Kantorei in der Mitte der 1555 fertiggestellten Hofkirche zu Dresden zeigt. Der übliche Aufstellungsort für die Kantorei war 65 2. Aufl., Memmingen 1780  : VD18 1469560X-001.

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Abb. 22  : Karel van Mander, De gulden harp, inhoudende al de liedekens […], Rotterdam  : Jan Wolffersz. Vleyser 1640, Titel, Detail (Exemplar Gent, Universitätsbibliothek, BIB.ACC.035494/-1). Abb. 23  : Porträt des Karel van Mander, gestochen von Jan Saenredam nach Hendrik Goltzius, in Karel van Manders Schilder Boeck von 1604 (RKDimages, Art-work number 178022).

aber die Empore  ; auch an anderen Bildelementen wird deutlich, dass hier keine historische Aufführung dargestellt ist  :66 Vielmehr wird das Porträt von Schütz und seiner Kantorei allegorisch überhöht mit der Darstellung des musizierenden Königs David vor dem Altar mit dem aufgeschlagen liegenden Psalter. Es ist der Psalm 150 illustriert »Lobet den Herren in seinem Heiligtum  ; […] Lobet ihn mit Posaunen67  ; lobet ihn mit Psalter und Harfe  !« Somit verkörpert Schütz den Kirchenmusiker in der Nachfolge Asaphs, der von König David zum Tempelmusiker ernannt wurde (1 Chr 15), wie auch

66 Dieter Gutknecht, Musik als Bild. Allegorische »Verbildlichungen« im 17.  Jahrhundert, Freiburg i.  B. 2003 (Rombach Wissenschaften, Reihe Quellen zur Kunst, 21), S. 81–85  ; Beate Bugenhagen, Musik im Bild. Sinnbildliche Darstellungen zur Kirchenmusik auf Titelblättern der Frühen Neuzeit, in  : Ulrich Fürst und Andrea Gottdang (Hg.), Die Kirchenmusik in Kunst und Literatur 1, Laaber 2015 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 5,1), S. 161–176, hier  : 167 f. 67 Luthers Übersetzung von »Schofar« mit Posaune ist nicht richtig, bestimmte aber die Kirchenmusik nachhaltig  ; vgl. Seidel 2005 (Anm. 21), S. 26.

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Abb. 24  : Johann Georg Schelhorn, Sammlung geistlicher Lieder aus den Schriften der besten deutschen Dichter zur Beförderung der Haus-Andacht, 2. erw. Aufl., Memmingen 1780 [VD18 1469560X-001], Titel (Exemplar Memmingen, Stadtbibliothek).

in der Bildlegende erläutert wird.68 Die offenbar ungebrochen tradierte Analogiebildung zwischen himmlischer und irdischer Musik, der Kirche und dem himmlischen Jerusalem wird hier anschaulich. Auch in der theoretischen Literatur der Zeit ist davon die Rede, dass die Musik aus allen vier Richtungen strömen solle wie im Himmel, z. B. bei Michael Praetorius.69 Auch Sigismund Theophil Staden legte dies in seiner »Poetischen Vorstellung der irdischen und himmlischen Musik«, Nürnberg 1658, ausführlich dar. Als alleinige Autoren von mehrstimmigen Chorsätzen wurden die Komponisten allerdings durchaus porträtiert. So war jeweils auf der zweiten Seite des Drucks jeder Stimme der »Deutschen Psalmen« von 1605 das Porträt des Komponisten, Michael 68 Walter Salmen, Autorenbild, Tätigkeitsbild und Porträt. Der Status von Kirchenmusikern im Bild, in  : Ulrich Fürst und Andrea Gottdang (Hg.), Die Kirchenmusik in Kunst und Literatur 1, Laaber 2015 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 5,1), S. 199. 69 Gutknecht 2003 (Anm. 66), S. 84 f.

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Abb. 25  : Geistreiches Gesang-Buch/ An D. Cornelii Beckers Psalmen und Lutherischen KirchenLiedern  : mit ihren Melodeyen unter Discant und Basso, sammt einem Kirchen-Gebeth-Buche/ Auf Chur-Fürstl. Durchl. zu Sachsen [et]c Hertzog Johann Georgens des Anderen/ gnädigste Verordnung und Kosten/ für die Churfl. Häuser und Capellen aufgeleget und ausgegeben/ im Jahre 1676 (VD17 3:307776Y), Kupferstich von David Conrad (Exemplar Halle, ULB Sachsen-Anhalt, AB B 3533 [1]).

Praetorius, eigentlich Michael Schulteis (geb. 1571 Creuzburg bei Eisenach  ; gest. 1621 in Wolfenbüttel)70 platziert. Das Porträt, ein Kniestück, zeigt ihn einerseits als medaillendekorierten Höfling mit Handschuhen in der linken Hand, andererseits als »musicus religiosus«  : Seine Rechte ruht auf der Notenschrift seines Kanons »In Deo speravit Cor meum«, weitere drei geistliche Stücke werden in den Umschriften zitiert.71

70 Michael Praetorius war der jüngste Sohn des lutherischen Pfarrers Michael Schulteis. In Torgau besuchte er die Lateinschule, wo die musikalische Tradition Johann Walters gepflegt wurde. 1585 begann Praetorius das Studium der Theologie und Philosophie in Frankfurt a. d. Oder. Zwischen 1592 und 1595 wurde der Musiker bei Herzog Heinrich Julius Herzog zu Braunschweig und Lüneburg und Bischof von Halberstadt als Kammerorganist angestellt, 1604 folgte er Thomas Mancinus auf die Stelle des Hofkapellmeisters in Wolfenbüttel. Praetorius leitete bis 1620 die Hofkapelle mit ca. 18 Sängern und Instrumentalisten und war für die gottesdienstliche Musik in der Schlosskapelle sowie für die Tafel- und Tanzmusik bei Hofe verantwortlich. Von ihm selbst veröffentlichte Werksammlungen sind u. a. die »Motectae et Psalmi Latini« (1605/07) und die »Musae Sioniae«, Bd. 1–9 (1605–1610)  ; Bernhold Schmid, Praetorius, Michael, in  : Neue Deutsche Biographie 20, 2001, S. 668–670. 71 Salmen 2015 (Anm. 68), S. 181–209, hier  : S. 191.

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2. Fürstliche Repräsentation Neben den Kommunen waren die Landesfürsten wichtige Faktoren bei der Ge­sang­ buch­produktion,72 sie autorisierten den Druck in ihren Territorien vom ausgehenden 17. Jahrhundert an bis ins 19. Jahrhundert, als sie dieses Recht an Synoden bzw. Gemeinden abgaben.73 Für die Hofkirchen veranlassten sie die Herstellung eigener Gesangbücher von Anfang an. Darstellungen in Gesangbüchern wurden deshalb auch für die fürstliche Repräsentation genutzt. Das Gesangbuch wurde auch zu einem Ort der Herrscherpanegyrik und der Bindung der Untertanen an den Souverän. Dieses Anliegen widersprach zwar der überzeitlichen, eschatologisch ausgerichteten Weltsicht pietistischer Prägung,74 dennoch kam es auch hier zu Synthesen  : So wird in der Legende des Kupfers im »Geistreichen Gesang-Buch« des Kurfürsten Johann Georg der Auftraggeber explizit als »Rauten-David« angesprochen.75 Eigene Fürstenporträts erscheinen aber erst viel später, wohl erst um 1700, und zwar mit dem Aufkommen der Territorialgesangbücher.76 So ist eines der frühesten der Verfasserin bekannten Beispiele das Doppelporträt von Herzog Friedrich II. von SachsenCoburg und Gotha mit seiner Gattin im Gothaer Gesangbuch von 1699 (Abb. 26).77 Dies steht im Gegensatz zur Bibelausstattung, die das Phänomen schon im 16.  Jahrhundert aufweist  : Man denke nur an die sog. Kurfürsten-Bibel, die im Auftrag des Fürsten Johann  IV. von Anhalt-Zerbst 1541 von Hans Lufft in Wittenberg gedruckt und der 1554 noch das Porträt Georgs  III. von Anhalt-Plötzkau hinzugefügt wurde. Dem Porstschen Gesangbuch wurde zuerst 1722 eine Doppelseite mit den Porträts der regierenden Fürsten eingefügt, König Friedrich Wilhelms I. und seiner Gemahlin Sophie über der Ansicht Berlins, wie Christian Bunners dargelegt hat  ;78 beim Weimarer Gesangbuch geschah dies 1725, in Württemberg seit 1729, beim Saalfelder Gesangbuch 1744. Regierungswechsel erforderten eine ständige Aktualisierung der Porträts – eine nahezu durchgängige Regentenreihe zeigt das Porstsche Gesangbuch.79 Erfolgte diese Aktualisierung nicht, konnte damit ein spezieller Memorialgedanke verbunden 72 Vgl. Seidel 2005 (Anm. 21), S. 15. 73 Michel 2007 (Anm. 36), S. 29. 74 Vgl. Michel 2007 (Anm. 36), S. 117 f. 75 Salmen 2015 (Anm. 68), S. 199. 76 Michel 2007 (Anm. 36), S. 29 f. 77 Geistliches neu-vermehrtes Gothaisches Gesang-Buch  : Worinnen D. Martin Luthers/ und anderer frommer Christen geistreiche Lieder und Gesänge enthalten […], Gotha  : Reyher, 1699 (VD17 39:147910H)  ; Ausstellungskatalog Gotha 2012 (Anm. 34), Nr. 11.3. 78 Christian Bunners, Pietismus, Preußentum und der »Porst«. Zur Geschichte des Porstschen Gesangbuches in zwei Jahrhunderten, insbesondere zu seinen Frontispizien, in  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer Geschichte, Tübingen/Basel 2005 (Mainzer Hymnologische Studien, 11), S. 126. 79 Dabei wurde sogar bei langen Regierungszeiten der Alterungsprozess durch Auswechslung der Porträts berücksichtigt (Bunners 2005 [Anm. 78], S. 145).

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Abb. 26  : Geistliches neuvermehrtes Gothaisches Gesang-Buch  : Worinnen D. Martin Luthers/ und anderer frommer Christen geistreiche Lieder und Gesänge enthalten […], Gotha  : Reyher, 1699 (Exemplar Gotha, Forschungsbibliothek, Cant.spir. 8°509a nach  : Ausstellungskatalog Gotha 2012 [Anm. 34], Abb. 87).

sein wie beim Porträt der beliebten Preußenkönigin Luise (gest. 1810), das man erst in den 1830er Jahren, also erst 20 Jahre nach ihrem Tod, austauschte.80 Oder es lag schlichtweg ein Fehler vor  : So konnte das Bemühen um Selbstdarstellung durchaus ins Lächerliche verkehrt werden. Dies ist beim Hannoverschen Gesangbuch von 1733 feststellbar, in dem ein Bildnis Georgs I. von England nach einem Porträt von Godfrey Kneller81 unter der Bezeichnung »Georg III.« abgebildet wurde, aber eigentlich hätte der damals regierende Georg II. dargestellt sein müssen. Das Bildnis wurde offenbar erst in der Ausgabe von 1742 gegen einen Stich von dem Leipziger Johann Martin Bernigeroth (1713–1767) ausgetauscht.82 Einfacher zu erstellende heraldische Elemente oder Monogramme konnten das Porträt ersetzen. Bei Gesangbüchern für Hofkirchen wurde häufig auf die Stadtansicht verzichtet, wie man am Beispiel des Bayreuther Gesangbuchs von 1740 sieht, oder die Hofkirche selbst ist das Thema, wie das Dresdener Beispiel zeigt (Abb. 25).

80 Bunners 2005 (Anm. 78), S. 144 f. 81 AKL (Anm. 47) 45, 2005, S. 334. 82 AKL (Anm. 47) 9, 1994, S. 605.

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III Die Gestalter: Entwerfer und Stecher Nicht selten waren nicht nur die Komponisten der Lieder Hofkünstler, sondern auch die Entwerfer der Illustrationen von Gesangbüchern. Dies ist besonders gut nachvollziehbar in Dresden. So stammt z. B. der doppelseitige Stich mit der Innenansicht der Hofkirche im »Geistreichen Gesangbuch« aus dem Jahr 1676 von David Conrad (geb. 1604 Dresden  ; gest. nach 1681 ebenda). Conrad war wahrscheinlich der Sohn des gleichnamigen kurfürstlichen Münzdruckers und hatte wohl schon früh die Nähe zum Hof erfahren,83 die ihm einen solchen Auftrag vermitteln konnte. Aber auch in kleineren Residenzstädten waren Hofkünstler als Gesangbuchillustratoren tätig  : Johann David Herlicius (gest. Eisenach 1693), der das Eisenacher Gesangbuch von 1673 illustrierte (Signatur »Joh  : David Herlicius delin  : HL. fe  : aqua forti […]«), hatte vermutlich Malerei bei dem Eisenacher Hofmaler und Ratsherrn August Erich studiert und war anschließend Maler am Hof des Herzogs Johann Georg  I. von Sachsen-Eisenach. Für das Eisenacher Gesangbuch von 1673, das zu Bachs Zeit neben der Kirche in der Schule gebraucht wurde, fertigte Herlicius die Vorlagen für zwölf Kupferstiche, u. a. mit einer damaligen Innenansicht der Georgenkirche.84 Die Stecher und Entwerfer der verschiedenen Titelblätter für das Porstsche Gesangbuch sind bis auf die ersten beiden illustrierten Ausgaben unbekannt  : Das alle weiteren Ausgaben bestimmende Frontispiz der Ausgabe von 1722 gestaltete jedoch der seit 1704 als königlich preußischer Hofkupferstecher tätige Johann Georg Wolffgang (geb. 1662/4 Augsburg  ; gest. 1744 Berlin), jenes von 1724 signierte dann der Berliner Georg Paul Busch (gest. 1756 Berlin) als Stecher.85 Nach dem derzeitigen Forschungsstand ohne systematische Erfassung sämtlicher Signaturen in Gesangbüchern ergibt sich folgendes Bild der Herkunft der an der Illustration beteiligten Entwerfer und Kupferstecher im deutschsprachigen Raum  : Ein besonderer Schwerpunkt im Sinne einer Häufung von Künstlernamen ist in Nürnberg zu erkennen. Daneben gab es jedoch schon früh in Wittenberg, Magdeburg, Leipzig, Erfurt, Straßburg und auch in Hamburg eine eigene protestantische Gesangbuchproduktion, die auch Illustratoren beschäftigte, es folgten bald Lüneburg, Frankfurt a. M., Dresden, Halle, Rostock und Königsberg, um einige der wichtigsten zu nennen. Die starke Stellung Nürnbergs mag nicht allein damit zusammenhängen, dass die Metropole ein »Hauptumschlagsort« für das reformatorische Lied war86, sondern auch 83 AKL (Anm. 47) 20, 1998, S. 546. 84 Ein Exemplar des Gesangbuchs befindet sich im Bachhaus in Eisenach. Herlicius wird auch das einzige bekannte Porträt von Johann Ambrosius Bach, des Vaters von Johann Sebastian, zugeschrieben (Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin, Dauerleihgabe im Bach-Archiv Leipzig)  ; Conrad Freyse, Sebastian Bachs Gesangbuch, in  : Bach-Jahrbuch 45, 1958, S. 123–126. 85 AKL (Anm. 47) 15, 1997, 308  ; vgl. Bunners 2005 (Anm. 78), S. 143 f. 86 Joachim Stalmann, Gesangbücher im Reformationsjahrhundert, in  : Wolfgang Hochstein, Christoph Krummacher u. a. (Hg.), Geschichte der Kirchenmusik  1, Laaber 2011 (Enzyklopädie der Kirchenmusik, 1,1), S. 245.

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Abb. 27  : Johann Martin Preißler (1715–1794), Kupferstecher, Radierer, Zeichner, Porträt entworfen und gestochen von J. G. Will, Paris 1743 (Wikimedia Commons).

ein Zentrum der Druckgraphik, auch in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Nicht zufällig hatte Johann Jakob von Sandrart 1662 hier seine Kunstakademie gegründet. Häufig sind an den Gesangbuchillustrationen Künstler beteiligt, die ebenfalls bei den Bibeln aus dem Hause Endter, gedruckt von 1613 bis 1792, mitarbeiteten.87 Einer der produktivsten Stecher jener Zeit, der in einer Art Scheinselbstständigkeit für seine Verleger arbeitete, war Johann Jakob Schollenberger, der das Titelbild und rund zwanzig weitere Illustrationen zu Sauberts Gesangbuch von 167788 stach.89 Der Sohn und Schüler des von 1704–1737 amtierenden Akademiedirektors Johann Daniel Preißler, Johann Martin Preißler (geb. 1715 Nürnberg  ; gest. 1794 Lyngby bei Kopenhagen90  ; 87 Hermann Oertel, Die Frankfurter Feyerabend-Bibeln und die Nürnberger Endter-Bibeln in  : Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg [MVGN] 70, 1983, S. 112–116. 88 Carl Ferdinand Becker, Die Choralsammlungen der verschiedenen christlichen Kirchen, Leipzig 1845, S. 97. 89 Franz Reitinger, Johann Jakob Schollenberger (1646–1689). Nürnberg und die Bildproduktion der Kunst­verlage des Barock, Regensburg 2018. 90 Johann Martin Preißler entstammte einer von 1652 bis 1831 in Nürnberg nachweisbaren Künstlerfamilie. Nach der Ausbildung durch Vater und Bruder bewarb er sich 1739 bei dem Verleger Laurent Cars, der ihn für das Stechen von Reproduktionsgraphik engagierte. Preißler arbeitete fortan in Paris neben

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Abb. 27), der Klopstocks »Geistliche Lieder« illustrierte, arbeitete in Paris und schließlich in Kopenhagen, was sicherlich auch mit seinen guten Kontakten zu Klopstock zu tun hatte, dessen »Geistliche Lieder« er, wie erwähnt, mit einem Frontispiz ausgestattet hatte (Abb.  5). Preißlers Schüler Andreas Leonhard Moeglich (get. Nürnberg 1743  ; gest. 1822)91 stach für das Nürnberger »Neue Gesangbuch zur öffentlichen Erbauung und Privatandacht«, Nürnberg  : Endter 1791, das Titelblatt nach einer Vorlage des in Berlin tätigen Daniel Nikolaus Chodowiecki. Der Stecher Martin Tyroff (get. 1774  ; gest. 1849)92 und sein Entwerfer, Johann Jacob Schwarz (geb. 1703  ; gest. 1767), die die Ansicht der Mendlischen Kapelle für die Liedersammlung Johann Mayers schufen, waren beide Nürnberger Künstler. Dabei arbeitete Schwarz nicht nur als Maler, Zeichner und Kupferstecher, sondern auch als Organist in St. Jacob in Nürnberg. Auch für Gesangbücher anderer Städte arbeiteten Nürnberger Stecher  : Das beschriebene Titelbild des einflussreichen »Neu Leipziger Gesangbuchs« wurde von dem Nürnberger Stecher und Zeichner Johann Azelt (get. Nürnberg 1654  ; gest. 1692)93 gestochen, der an den Nürnberger Bibeln aus dem Hause Endter beteiligt war. Die Vorlage dafür stammte vielleicht von Johann Oswald Harms (geb. 1643  ; gest. 1708), der hauptsächlich in Dresden und Norddeutschland tätig war.94 Weiträumige Mobilität war für dieses Gewerbe bekanntlich die Regel, nicht nur was die Personen, sondern auch was die Vorlagen betraf, und beide Aspekte waren vielfach auch gekoppelt. Der Memminger Künstler, der Schelhorns Porträt für das Frontispiz der »Sammlung Geistlicher Lieder« schuf und mit »Albrecht del. Mem« signierte, ist nach wie vor unbekannt95, während als Stecher der Nürnberger Zeichner, Wachsbossierer, Kupferstecher, Miniaturmaler, Geometer, Kunstverleger Johann Ludwig Stahl (get. Nürnberg 1758  ; begr. 1835) nachweisbar ist.96 Ein Nürnberger Kupferstecher, Joseph von Montalègre (geb. Tübingen um 1672  ; begr. 1718 Nürnberg)97, signierte im BergiJohann Georg Wille, der ihn 1743 porträtierte (Abb. 27). 1744 berief ihn König Christian VI. nach Kopenhagen, wo er im Jahr darauf zum Hofkupferstecher ernannt wurde. Ab 1850 war der Künstler an der Gründung der dänischen Kunstakademie beteiligt, an der er als Professor für Zeichnen und grafische Techniken wirkte. Eine lange Freundschaft verband ihn mit dem Poeten Friedrich Gottlieb Klopstock, für den Preißler Vignetten entwarf  ; beide gehörten bis 1770 dem Freundeskreis um den Staatsminister J. H. E. Graf von Bernstorff an  ; AKL (Anm. 47) 96, 2017, S. 516. 91 Leonhard Möglich war Zeichner, Kupferstecher, Radierer, Wachsbossierer und »Stadtdekorateur« in Nürnberg (Manfred H. Grieb [Hg.], Nürnberger Künstlerlexikon 2, München 2007, S. 1024 f.). 92 Grieb 2007 (Anm. 91) 3, S. 1560. 93 Weitere Namensformen  : Arzoldt, Atzeld, Axel, Atzold  ; in Nürnberg war er von 1674–1691 als Kupferstecher im Ämterbüchlein eingetragen, 1692 wurde sein Name gestrichen. 1680 erhielt der Künstler einen strengen Verweis wegen Stechens von Spielkarten mit unzüchtigen Versen  ; Grieb 2007 (Anm. 91) 1, S. 45. 94 AKL (Anm. 47) 69, 2010, S. 366. 95 Julius Meyer, Allgemeines Künstler-Lexicon 1, Leipzig 1872, S. 235. 96 Grieb 2007 (Anm. 91) 3, S. 1470. 97 1714–1717 war Montalègre als Kupferstecher im Nürnberger Ämterbüchlein eingetragen, 1718 wurde sein Name gestrichen. Er lieferte Illustrationen zu den Endter-Bibeln. Bei seinem Tod wurde er als

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schen Gesangbuch von 171198 und im »Neu Vollständigen Nassau=Dillenburgisches Kirchen=Gesangbuch« aus dem gleichen Jahr (Herborn 1711). Ein weiteres einflussreiches Zentrum war Leipzig  : Johanna Dorothea Sysang (geb. Dresden 1729  ; gest. Leipzig 1791), erst Schülerin, dann Mitarbeiterin ihres Vaters, stach meist kleine Bildnisse von Fürsten, Offizieren und Gelehrten, darunter auch ein Porträt Luthers angeblich nach Cranach. Nach eigenen Zeichnungen schuf sie die 10 Kupfer zur Oktavausgabe des Klopstockschen »Messias«, der in Halle 1756 verlegt wurde, und 1775 den Titelkupfer zur »Sammlung Geistlicher Gesänge über die Werke Gottes in der Natur« von Christoph Christian Sturm.99 Leipziger Graphiker und Stecher waren auch in anderen Metropolen tätig  : Das »Neueingerichtete ostfriesische Kirchengesangbuch« (Aurich, 1766) wurde von Gottfried Christian Pingeling, Zeichner und Kupferstecher (geb. Leipzig 1688  ; gest. Hamburg 1769) illustriert. Er war 1724 einem anderen Leipziger, Christian Fritzsch,100 nach Hamburg gefolgt, wo er seit 1751 zusammen mit seinem Sohn Thomas Albrecht die durch Jahrzehnte bedeutendste Stecherwerkstatt Hamburgs führte, die auch für London und St. Petersburg arbeitete.101 Fritzsch selbst hat z. B. das »falsche« Porträt für das Hannoverische Gesangbuch von 1733 gestochen. Den Titelkupfer des Rudolstadter Gesangbuchs von 1704 signierte u. a. der Stecher »I. C. Oberdorffer«. Möglicherweise handelt es sich um den wohl aus Augsburg stammenden Kupferstecher Johann Christoph Oberdörffer (geb. Augsburg  ; um 1664  ; gest. Leipzig 1724).102 In »Georg Tietz, Geistliche Wasserquelle, Jena  : Werther, 1685« signierte der Erfurter Stecher Jacob Petrus,103 der auch in Lutherdrucken nachgewiesen ist.

Hochfürstlich Eichstättischer Kupferstecher bezeichnet, wohnhaft bei der Fleischbrücke auf der Lorenzer Stadtseite  ; Grieb 2007 (Anm. 91) 2, S. 1031. 98 Singende und Klingende Berge, das ist  : Bergisches Gesangbuch … Gebet=Büchlein, Frankfurt am Mayn 1711, Titel mit Frontispiz, Signatur unten rechts  : »Ios  : à Montalegre sc  : Norim  : Montalègre«. 99 Nach der Heirat 1755 mit G. Philipp signierte sie mit »J. D. Philippin geb. Sysangin«. Ihre Arbeit für das satirische Blatt der »Leipziger Studenten Geographie« (1773) zog für sie und den Zeichner, J. St. Capieux einen Prozess wegen Beleidigung nach sich  ; vgl. Hans Vollmer (Hg.), Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, begründet von Ulrich Thieme und Felix Becker,  32, Leipzig 1938, S. 368 (Ernst Sigismund)  ; Jochen Schmidt-Liebich, Lexikon der Künstlerinnen 1700–1900. Deutschland, Österreich, Schweiz, München 2005, S. 465. 100 Theodor Raspe, Fritzsch (Fritsch), Christian, in  : Thieme/Becker (Anm. 99) 12, 1916, S. 500 f. 101 Thieme/Becker (Anm. 99) 27, 1933, S. 58. 102 Grieb 2007 (Anm. 91) 2, S. 1091. 103 Elephantographia curiosa. Der Erfurter Kupferstecher Jacob Petrus und sein Beitrag zur barocken Buchkunst, Begleitblatt zur Ausstellung in Erfurt 2018.

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IV Zusammenfassung Es sind folgende Themen auf Frontispizen und Titelblättern zu erkennen  : Allegorien und Personifikationen der christlichen Ikonographie, vor allem die Theologischen Tugenden sind schon im 16. Jahrhundert Bestandteil der Gesangbuchikonographie. Eine neue Vorstellung ist dabei im 17. Jahrhundert die Verkörperung der Andacht in der Musik. Darüber hinaus schöpfte man vor dem Hintergrund des Pietismus aus dem Repertoire der Andachtsliteratur und kombinierte ihre Motive wie das Herz, Blüten und die Engel neu. Weitere häufige Motive sind dabei König David mit der Harfe, der Altar, das Tetragramm, die Trinität, Christus, das Lamm Gottes, der Berg Zion und die Kirche. Gemeinsam ist diesen Elementen ihre eschatologische Bedeutung.104 Erst im Zeitalter des Klassizismus war es in Einzelfällen möglich, dass die Harfe Davids gegen eine Verleger-Vignette mit der Lyra aus dem Kontext eines Horaz-Zitats eingetauscht wurde. Andererseits zeigte sich ab dem 17. Jahrhundert, aber erst in der 2. Hälfte, in den Kommunen ein zunehmendes Repräsentationsbedürfnis  : Die Stadtansicht ist mit Personifikationen, den himmlischen Heerscharen, David und dem Berg Zion kombiniert oder in einem eigenen Bildstreifen unterhalb der allegorischen Darstellung präsentiert. In der Stadtansicht sind die Kirche(n) und die jeweiligen weltlichen Herrschaftszentren wie Rathaus und/oder Burg betont. Allegorische und nichtallegorische Motive wurden häufig vermischt, wobei die Selbstdarstellung zunehmend die allegorischen Komponenten zurückdrängte. Dies zeigt auch der Einsatz von Porträts  : Diese setzte man zunächst nicht zur Titelillustration ein, sondern ordnete sie als Autorenbild dem jeweiligen Text zu. Das Bildnis war zunächst auf Luther beschränkt, dann erschienen auch Herausgeber und Lieddichter. Porträts der Landesfürsten wurden offenbar zuerst in Gesangbüchern für Hofkapellen eingesetzt, dann auch bei jenen für Residenzstädte, wo sie im Idealfall ständig aktualisiert wurden. Die Heraldik spielte bei Landesfürsten wie auch Kommunen eine große Rolle bei der Selbstdarstellung. Die beteiligten Künstler verwendeten für die Porträts und Stadtansichten zumeist vorhandene gestochene oder gemalte Vorlagen, bei den allegorischen Themen dagegen kam es zu neuen Bilderfindungen, die auf den Inhalt Bezug nahmen  ; die Kompositionen wurden häufig von Auflage zu Auflage verändert, z. T. auch vereinfacht.

104 Vgl. Suvi-Päivi Koski 2005 (Anm. 23), S. 63.

Sven Limbeck

Das bebilderte Gesangbuch der lutherischen Reformation Eine Mediengeschichte zwischen Kontinuität, Innovation und Konventionalisierung

Das Braunschweiger Gesangbuch von 1698 in einem Westentaschenformat hat neben einem Gebetsanhang einen Liedteil, der rund 800 Lieder auf 1142 Seiten umfasst, die nach Anlässen und Themen geordnet sind.1 Dieses willkürlich herausgegriffene Beispiel ist insofern charakteristisch für den gesamten Buchtyp Gesangbuch, als es keine Noten und von einem Titelkupfer abgesehen keine Bilder enthält (Abb. 1). Wenn nun weder Musik noch Bilder konstitutive Merkmale des in der ›longue durée‹ so erfolgreichen Mediums Gesangbuch sind, dann mag es nicht vollkommen sinnlos erscheinen, erneut danach zu fragen, was ein Gesangbuch eigentlich ist  – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer Vielfalt schriftlicher und bildlicher Medien, durch welche Lieder und andere Texte religiösen Inhalts überliefert werden und die dem Gesangbuch vorausgehen und seine Entwicklung flankieren.2

I Mediale Funktionen des Gesangbuchs Medientheoretisch kann man ein Gesangbuch als eine ›Körperextension‹ im Sinne Marshall McLuhans verstehen, als ein Instrument, mit dem wir Effekte bewirken, dessen Gebrauch aber auch auf uns selbst zurückwirkt, das heißt, es dient nicht allein der Übermittlung von Inhalten, sondern auch als Requisit eines performativen Prozesses.3 1 Vollständig Braunschweigisches Gesang-Buch / Vom neuen übersehen, [Braunschweig  :] Christoph Fried­ rich Zilligers Witwe und Erben 1698. Exemplar  : Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8 H E RIT I, 10945 [2]  ; Digitalisat  : http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN66435386X (letzter Zugriff  : 27.04.2020). 2 Vgl. Alexander Völker, Gesangbuch, in  : Gerhard Krause und Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie 12, Berlin und New York 1984, S. 547–565  ; Martin Rössler, Gesangbuch, in  : Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2., neubearb. Ausg., Sachteil 3, Kassel, Basel u. a. 1995, Sp. 1289–1323  ; Markus Matthias und Michael Fischer, Gesangbuch, in  : Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 4, Stuttgart und Weimar 2006, Sp. 572–579. 3 McLuhans Formulierungen lauten eigentlich »extension of man« oder »extension of ourselves« (»Ausweitungen des Menschen«), Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964, S. 7  ; dt.: Die magischen Kanäle. »Understanding Media«, übers. von Meinrad Amann, Düsseldorf und Wien 1968, S. 15  ; vgl. Dieter Mersch, Medientheorien zur Einführung, Hamburg 3. Aufl. 2013, S. 105–127. Zu Medien als ›Boten‹ vgl. Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik

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Abb. 1  : Vollständig Braunschweigisches Gesang-Buch, Braunschweig 1698, S. 170 f. (Exemplar Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 8 H E RIT I, 10945 [2]).

der Medialität, Frankfurt a. M. 2008, S. 103–121. Im Gegensatz zu Krämer seien Medien hier darüber hinaus als Instrumente performativer Prozesse verstanden  ; vgl. etwa Stanley Tambiah, Eine performative Theorie des Rituals, in  : Andréa Belliger und David  J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 4. Aufl. 2008, S. 225–248.

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Mehrere mediale Funktionen des Gesangbuchs lassen sich von daher unterscheiden  :4 Als das gottesdienstliche Rollenbuch der Gemeinde ist das Gesangbuch ein Medium des rituellen Vollzugs, denn mit der Umgestaltung der Liturgie durch die Kirchen der Reformation treten die singenden Gottesdienstteilnehmer an die Stelle der Choralschola des lateinischen Hochamtes. Da die Melodien in der Regel nicht wiedergegeben werden, dient das Gesangbuch als Magazin der Liedtexte. Die für die Musizierpraxis bestimmten Chorbücher, Stimmbücher und Tabulaturen sind gerade nicht als Gesangbücher anzusprechen. Nicht-musikalische erbauliche Anteile wie Gebete oder katechetische Texte geben im Gesangbuch ein Medium der religiösen Sozialisation zu erkennen. Aber auch das Singen der Lieder selbst ist eine Einstimmung in vorgängige Überzeugungen, die nicht mehr expliziter Normsetzung bedürfen.5 Als Ausdruck eines konfessionellen Normenhorizontes kaum davon zu trennen ist die Funktion des Gesangbuchs als obrigkeitliches Steuerungsinstrument. Das Gesangsrepertoire und seine Kanonisierung sind daher Instrumente der Lenkung des Kirchenvolkes, der konfessionellen Abgrenzung einerseits wie auch der Assimilation verschiedener konfessioneller Traditionen andererseits.6 Schließlich ist das Gesangbuch Medium der privaten Frömmigkeitspraxis, bei dem der einzelne Gläubige bei Gebet, Andacht und Gesang mit seinem Gesangbuch ein Kontinuum von Medium und Körper bildet und sich selbst dabei geistlich transformiert. Als ein eng mit der Person verbundenes heiliges Objekt kann das Gesangbuch so auch einen Fetisch-Charakter erwerben, der beispielsweise dann zum Tragen kommt, wenn ein bereits außer Gebrauch gekommenes Gesangbuch in einer Familie über Generationen weitervererbt und so zum Medium familiär-generationeller Beziehungen wird.7 Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen und mehr oder weniger hintergründigen medialen Funktionen des Gesangbuchs möchte ich aus einer mediengeschichtlichen Perspektive der Frage nachgehen, wie im 16.  Jahrhundert Bilder ins Gesangbuch gelangten und welchen Sinn sie dort haben. Ich werde mich dabei im Wesentlichen auf 4 Vgl. Patrice Veit, Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, in  : Archiv für Reformationsgeschichte 79, 1988, S. 206–229. 5 Exemplarisch dafür der Aspekt der Vorbereitung auf den Tod anhand des Gesangbuchs, der in extenso behandelt wird von Lukas Lorbeer, Die Sterbe- und Ewigkeitslieder in deutschen lutherischen Gesangbüchern des 17. Jahrhunderts, Göttingen 2012 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 104)  ; für den intendierten individuellen Umgang mit Gesangbüchern vgl. Michael Heymel, Das Gesangbuch als Lebensbegleiter. Studien zur Bedeutung der Gesangbuchgeschichte für Frömmigkeit und Seelsorge, Gütersloh 2012  ; zum Singen vgl. Johannes Block, Verstehen durch Musik. Das gesungene Wort in der Theologie, Tübingen und Basel 2002 (Mainzer hymnologische Studien, 6), S. 133–157. 6 Vgl. Elke Axmacher, Johann Arndt und Paul Gerhardt. Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2001 (Mainzer hymnologische Studien, 3). 7 Vgl. Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 118–121  ; Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006. Veit 1988 (Anm. 4), S. 221 f., weist darauf hin, dass Gesangbücher im protestantischen Umfeld zu wirkungsmächtigen sakralen Objekten werden, die ähnliche Funktionen wie Devotionalien im katholischen Umfeld haben.

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das Babst’sche Gesangbuch von 1545 beziehen, weil es sozusagen die multimediale, Text, Musik und Bild verbindende Höchstform des lutherischen Gesangbuchs darstellt.

II Die Entstehung des Gesangbuchs – Hymnologische Kontinuität und mediale Diskontinuität Die Entstehung des lutherischen Gesangbuchs erscheint aus einer auf Einzellied und Repertoire bezogenen hymnologischen Perspektive einigermaßen klar.8 Das in der Hauptsache aus der römischen Liturgie, spätantiken und mittelalterlichen Hymnen sowie den Psalmen gebildete und zum kleineren Teil aus originären Neudichtungen bestehende Repertoire von Liedern der Reformation wird zunächst auf Einblattdrucken verbreitet. Der Erfolg dieser Lieder und die Idee einer aus einem Gesangbuch singenden Gemeinde wie bei den Böhmischen Brüdern, die der lutherischen Reformation vorausging und für Luther vorbildlich wurde, bewirkt in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts in einem Mit- und Gegeneinander von verlegerischen Initiativen und theologischer wie kirchenpolitischer Steuerung aus Wittenberg eine Reihe von kleinen Liederheften, das Achtliederbuch und die Erfurter Enchiridien, welche eine noch geringe Anzahl Lieder, die zuvor einzeln verbreitet waren, erstmals zu Anthologien zusammenfassen.9 Inwieweit diese frühen Hefte überhaupt für den gottesdienstlichen Gebrauch gedacht waren, ist ausgesprochen fraglich. Durch Vorreden Luthers autorisierte Kirchengesangbücher mit einem immer weiter ausgebauten Repertoire, das nun nach Anlässen geordnet wird, erscheinen vermehrt in den dreißiger Jahren. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg ist das erstmals 1529 von Joseph Klug publizierte Wittenberger Gesangbuch, das ab der Ausgabe von 1533 das erste bebilderte Gesangbuch der lutherischen Reformation darstellt.10 In Organisation und Ausstattung stellt das Leipziger Gesangbuch, das Valentin Babst 1545 nach dem direkten Vorbild des Klug’schen Gesangbuchs herausgab und das danach mehrfach nachgedruckt und er  8 Exemplarisch für diese Perspektive Christoph Albrecht, Einführung in die Hymnologie, Göttingen 21984, S. 77–85.   9 ›Achtliederbuch‹  : Etlich Cristlich lider Lobgesang/ vnd Psalm/ dem rainen wort Gottes gemeß/ auß der heyligen schrifft/ durch mancherley hochgelerter gemacht/ in der Kirchen zu singen/ wie es dann zum tayl berayt zuͦ Wittenberg in uͤ bung ist. wittenberg. M. D. Xiiij. [sic], [Nürnberg  : Jobst Gutknecht 1524]. Exemplar  : Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek [HAB], A  : 236.3 Quod. (2)  ; Digitalisat  : http://diglib. hab.de/drucke/236-3-quod-2s/start.htm (letzter Zugriff  : 14.04.2020)  ; Nachdr. und moderne Ausgabe des ›Färbefass-Enchiridions‹  : Ein Enchiridion oder Handbüchlein geistlicher Gesänge und Psalmen (Erfurt 1524), hg. von Christiane und Kai Brodersen, 2. Aufl., Speyer 2011  ; vgl. Julius Smend, Das evangelische Lied von 1524. Festschrift zum 400jährigen Gesangbuch-Jubiläum, Leipzig 1924 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 137). 10 Geistliche lieder auffs new gebessert zu Wittemberg, Wittenberg  : Joseph Klug 1533  ; Nachdr.: Das Klug’­ sche Gesangbuch 1533 nach dem einzigen erhaltenen Exemplar der Lutherhalle zu Wittenberg ergänzt und hg. von Konrad Ameln, Basel und London 1983 (Documenta Musicologica, 1. Reihe, 35).

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Abb. 2  : Johann Walter, Geystliche Gsangbüchlin, Worms 1525, Tenor, Bl. B i v (Exemplar Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Mus.ant.pract. W 110).

weitert wurde, die am höchsten entwickelte Form des bebilderten Gesangbuchs dar. Reformationsgeschichtlich spiegelt sich in dieser Entwicklung die Konsolidierung von offenen experimentellen Anfängen hin zu einer gesteuerten konventionellen Ordnung. Diese Geschichte nimmt aber nicht in den Blick, wie das Repertoire verschiedene mediale Formen durchläuft, deren Verschiedenheit auf ihren jeweiligen Konventionen und Funktionen beruhen. Die spezifische mediale Gestalt eines Gesangbuchs und insbesondere seine Bebilderung, die sich ja nicht zwingend aus seiner primären Funktion ableiten lässt, kann man repertoiregeschichtlich nicht erklären. Nun hat bereits Martin Hoberg in seiner Studie »Die Gesangbuchillustration des 16. Jahrhunderts« aus kunsthistorischer Perspektive die Ikonographie und den Buchschmuck der lutherischen Gesangbücher in ihrer Gänze in die Tradition der mittelalterlichen christlichen Ikonographie gestellt.11 Auch wenn Hoberg mehr oder weniger jegliche Innovation seitens der 11 Vgl. Martin Hoberg, Die Gesangbuchillustration des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Problem Reformation und Kunst, Straßburg 1933 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 296).

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Abb. 3  : Einblattdruck  : Ein Liedt/ Erhalt vns Herr bey deinem Wort, Magdeburg 1549, fol. 32 (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 31.8 Aug. 2°).

Reformation negiert, scheint es sinnvoll, diesen Ansatz wieder aufzugreifen, allerdings medienhistorisch zu schärfen. Um den medialen Charakter einer gestalterisch elaborierten Form des Gesangbuchs wie dem Babst’schen Gesangbuch zu begreifen, muss man von der hymnologischen Erzählung der Repertoiregeschichte absehen, es gerade nicht in die Kontinuität mit anderen Schrift-, Bild- und Musikmedien stellen, sondern von diesen abgrenzen. So führt es beispielsweise in die Irre, wenn Johann Walters Chorsätze in seinem »Geystlichen gesangk Buchleyn«, zunächst 1524 in Wittenberg bei Joseph Klug erschienen und im Jahr darauf von Peter Schöffer in Mainz nachge-

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druckt, in den Zusammenhang der frühen Gesangbuchgeschichte gestellt werden.12 Denn es handelt sich hierbei um einen Stimmbuchsatz, also einen separaten Druck für jede Stimme einer mehrstimmigen Komposition (Abb. 2). Die mediale Form ist rein pragmatisch von der Aufführungssituation durch einen Chor her bestimmt, und das heißt, dass ein solcher Musikdruck nicht Teil einer Mediengeschichte des Gesangbuchs sein kann. Ebenso diskontinuierlich verläuft die Bebilderung von Liedern auf Einblattdrucken und in Gesangbüchern. Auf einem Einblattdruck, der wohl im Zuge des Interims 1548 produziert wurde, wird Luthers »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« in einen großformatigen Holzschnitt übersetzt (Abb.  3).13 Aus dem programmatischen »Kinderlied« zur Dreieinigkeit im gottesdienstlichen Gebrauch wird hier ein Kampflied der Reformation gegen die beiden ›Erbfeinde‹ des wahren Christentums, Papst und Islam. Das Bild, das den Text optisch dominiert, macht das Lied zur Propaganda. Format, Funktion und Motivik dieser Art von Bebilderung eines geistlichen Liedes bilden keine medienhistorische Linie zum Gesangbuch. Im Gegenteil, das Lied ist bereits 1543 im Wittenbergischen Gesangbuch erschienen, und der Einblattdruck führt sozusagen vom Gesangbuch weg.14 In der frühneuzeitlichen Liedpublizistik in Einblattdrucken und Flugschriften erscheint das Lied als Handelsware, dessen Standes-, Milieu- und Konfessionsgrenzen überschreitende Verbreitung unabhängig von Ästhetik oder Inhalt von den Kriterien des Marktes bestimmt wird.15

12 [Johann Walter,] Geystliche Gsangbüchlin, [Worms  :] Peter Schöffer 1525. 5 Stimmbücher. Exemplar  : Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz [SBPK], Mus.ant.pract. W 110  ; Digitalisat  : http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001D76D00000000 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). 13 Ein Liedt/ Erhalt vns Herr bey deinem Wort/ etc. Sampt Eim schön andechtich Gebet, [Magdeburg  :] Pancratius Kempff [1549]. Exemplar  : Wolfenbüttel, HAB, 31.8 Aug. 2°, fol. 32  ; Digitalisat  : http://diglib. hab.de/drucke/31-8-aug-2f-32fol/start.htm (letzter Zugriff  : 14.04.2020). Vgl. Harry Oelke, »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort und steur des Papsts und Türken Mord […]« Ein Kinderlied Luthers im Medien­ ereignis Reformation, in  : Lutherjahrbuch 75, 2008, S. 141–168  ; Sven Limbeck, Flugblatt als Medium des Liedes, in  : Susanne Rode-Breymann und Sven Limbeck (Hg.), »Verklingend und ewig«. Tausend Jahre Musikgedächtnis 800–1800, Wiesbaden 2011 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, 94), S. 203. 14 Vgl. Andreas Marti, Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort, in  : Martin Evang und Ilsabe Seibt (Hg.), Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch  21, Göttingen 2015, S. 3–8. 15 Vgl. Daniel Bellingradt, Fliegende Popularität. Liedflugschriften im frühneuzeitlichen Medienverbund, in  : Albrecht Classen, Michael Fischer und Nils Grosch (Hg.), Kultur- und kommunikationshistorischer Wandel des Liedes im 16. Jahrhundert, Münster, New York u. a. 2012 (Populäre Kultur und Musik, 3), S. 17–33. Zur medialen Gestalt von Liedeinblattdrucken vgl. Franz Jürgen Götz, Einblattdrucke als Publikationsmedien für Lieder im 15./16. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Produktion und Rezeption, ebd., S. 89–108.

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III Das Babst’sche Gesangbuch und seine mediale Gestalt Zur spezifischen medialen Gestalt des 1545 bei Valentin Babst in Leipzig erschienenen Gesangbuchs zählt insbesondere die Erweiterung der typographischen Text- und Musikaufzeichnung durch graphische Elemente, die als Holzschnitt ausgeführten Ornamente und Bilder.16 Das Babst’sche Gesangbuch greift im Wesentlichen auf das Wittenberger Gesangbuch von Joseph Klug zurück, was die Lieder, ihre Anordnung und Illustration anbelangt, übertrifft dieses im Ausstattungsanspruch und -niveau jedoch bei weitem. Im Babst’schen Gesangbuch sind alle Seiten mit einem aus vier Holzschnittbordüren zusammengesetzten Seitenrahmen versehen, wobei die beiden Seitenbordüren aus jeweils zwei Druckstöcken zusammengesetzt sind (Abb. 4).17 Die Bordüre am Fuß ist durchgehend etwas höher als die am Kopf der Seite, wodurch der gerahmte Seiteninhalt vertikal dezentriert und in die optische Mitte gerückt wird. Die zum Teil rein ornamentalen, zum Teil ins Figürliche übergehenden, aber niemals historisierten oder narrativen Bordüren-Holzschnitte verleihen dem Buch ein modernes Design im italianisierenden Groteskenstil, den wir so in der Buchmalerei des Spätmittelalters und frühen 16. Jahrhunderts nicht kennen, wohl aber aus der druckgraphischen Ornamentik (von wo aus er erst in die zeitgenössische Buchmalerei übergeht).18 Die weit über 20 verschiedenen Balusterformen für die Seitenränder und rund 30 verschiedenen Motive figürlich erweiterter Rankenformen werden frei kombiniert und ergeben eine enorme Variabilität der Seitenrahmung, die freilich nach dem typographischen Zufallsprinzip in keine inhaltliche Beziehung zu den gerahmten Seiteninhalten tritt. Die Holzschnittbebilderung erstreckt sich im ersten Teil des Gesangbuchs auf 27 Seiten und umfasst bei sieben Wiederholungen 20 verschiedene Motive. Der zweite Teil (»Psalmen vnd Geistliche lieder/ welche von fromen Christen gemacht vnd zusamen gelesen sind«) mit Zwischentitelblatt, neu beginnender Lagenzählung und eigenem Impressum enthält keine Holzschnittbilder. Das Bildprogramm entspricht der Anordnung der Lieder, die in acht deutlich voneinander abgesetzten Hauptgruppen

16 Geystliche Lieder. Mit einer newen vorrhede/ D. Mart. Luth., Leipzig  : Valentin Babst 1545  ; Nachdruck  : Das Babstsche Gesangbuch von 1545. Faksimiledruck mit einem Geleitwort hg. von Konrad Ameln, 3. Aufl., Basel, London und New York 1988 (Documenta musicologica, 1. Reihe, Druckschriften-Faksimiles 38). 17 Zur Seitenrahmung im Buchdruck vgl. Henning Wendland, Randleisten, in  : Severin Corsten, Stephan Füssel und Günther Pflug (Hg.), Lexikon des gesamten Buchwesens 6, 2. völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2003, S. 169–172, hier S. 172. 18 Vgl. Peter Jessen, Der Ornamentstich. Geschichte der Vorlagen des Kunsthandwerks seit dem Mittelalter, Berlin 1920, S. 39–48  ; Albert Fidelis Butsch, Handbook of Renaissance Ornament. 1290 Designs from Decorated Books, New York 1969  ; Günter Irmscher, Kleine Kunstgeschichte des europäischen Ornaments seit der frühen Neuzeit (1400–1900), Darmstadt 1984, S. 146–205  ; Carsten-Peter Warncke, Die ornamentale Groteske in Deutschland 1500–1650, 1–2, Berlin 1979 (Quellen und Schriften zur bildenden Kunst 6).

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Abb. 4  : Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig  : Valentin Babst, 1545, Bl. Y ii v (nach  : Ameln 1988 [Anm. 16]).

angeordnet sind. Die Verteilung der Bilder auf diese Gruppen ist unregelmäßig, aber in der Regel steht ein Bild einer Gruppe voran  : 1. Lieder zum Kirchenjahr von Advent bis Trinitatis mit neun Bildern, wobei jeweils eines auf eine geprägte Zeit oder ein Hochfest bezogen ist und den jeweiligen Liedern voransteht (Abb. 5), 2. Katechismuslieder mit fünf Bildern, 3. Psalmlieder mit einem Bild (König David als Psalmist), 4. andere Lieder (Zeitlieder und liturgische Gesänge) mit der Wiederholung des Psalmistenbildes vor dem deutschen »Te deum«, 5. Lieder von Luthers Zeitgenossen mit der vorangestellten zweiten Wiederholung des Psalmistenbildes und ohne ein weiteres Bild, 6. vorreformatorische Lieder, die wiederum dem Kirchenjahr folgend angeordnet sind und drei Holzschnitte (Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt) aus dem ersten Teil wiederholen, 7. die biblischen Cantica mit fünf Bildern, die u. a. die drei für die Tagzeitenliturgie bedeutsamen neutestamentlichen Cantica »Magnificat«, »Benedictus« und »Nunc dimittis« als Einzeltexte eigens hervorheben,

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Abb. 5  : Weihnachten, Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig  : Valentin Babst 1545, Bl. B iii v (nach  : Ameln 1988 [Anm. 16]).

8. Begräbnislieder,19 die nicht durch ein Bild eingeleitet, sondern durch eine Darstellung des Jüngsten Gerichts abgeschlossen werden. Es gibt demnach Liedgruppen, die weitgehend oder ganz unbebildert sind (die Psalmlieder, die Lieder von Luthers Zeitgenossen, die Begräbnislieder), während die Frequenz der Bilder mit neun verschiedenen Motiven am höchsten bei den Liedern zum Kirchenjahr ist. Der Aufbau der Bildseiten, die wie die Textseiten von Bordüren umgeben sind, ist regelmäßig  : Innerhalb der Bordüren wird der einkonturig gerahmte Holzschnitt unter eine Inscriptio mit der Bibelstelle, aus der der Bildinhalt abgeleitet wird, platziert. Die Bilder illustrieren demnach nicht die Lieder, sondern die Heilige Schrift und die Heilsgeschichte, auf die sich die Lieder im Anschluss beziehen. Die einzige Textsequenz, bei der man von der Bebilderung einzelner Gesänge sprechen kann, sind die drei neutestamentlichen Cantica. In jedem Fall aber wird die Beziehung zwischen Bild und Lied biblisch-heilsgeschichtlich vermittelt.

19 Ein eigenständiger Teil mit Begräbnisgesängen existiert im Klug’schen Gesangbuch noch nicht  ; vgl. Lorbeer 2012 (Anm. 5), S. 36–39.

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Abb. 6  : Taufe, Abendmahl und Predigt in  : Geistliche lieder auffs new gebessert (Klug’sches Gesangbuch), Wittenberg  : Joseph Klug, 1533, Bl. 27r (nach  : Ameln 1983 [Anm. 10]).

Die einzige Abweichung von diesem Prinzip der Verbildlichung biblischer Inhalte bildet der Holzschnitt zu dem Lied »Jesus Christus, unser Heiland, der von uns Gottes Zorn wand«, einer Adaption des Eucharistiehymnus »Jesus Christus nostra salus«.20 Es galt freilich als eine Dichtung des Johannes Hus, der als Märtyrer der Reformation verehrt wurde. Das Lied wird schon im Klug’schen Gesangbuch von einem Bild begleitet, auf dem wie auf einem Simultanbild drei Kerninhalte der Reformation diagrammatisch verknüpft werden  : Die Predigt als Verkündigung des Evangeliums und die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl, die noch gelten gelassen werden (Abb. 6).21 Ein gottesdienstlicher Zusammenhang wird aber durch eine entsprechende Rubrizierung nicht hergestellt. Im Babst’schen Gesangbuch hingegen wird das Lied zusammen mit dem nunmehr vorangestellten Psalm 111 »ICh danck dem Herrn von gantzem hertzen« als Danklied nach dem Empfang des Abendmahls ganz deutlich in den sa-

20 Historiae Rhythmicae. Liturgische Reimoffizien des Mittelalters. Achte Folge, hg. von Guido Maria Dreves, Leipzig 1904 (Analecta Hymnica, 45a), S. 105 f. (Nr. 125)  ; vgl. Helmut Lauterwasser, Jesus Christus, unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt, in  : Evang/Seibt 2015 (Anm. 14), S. 15–22. 21 Das Klug’sche Gesangbuch (Anm. 10), Bl. 27r.

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Abb. 7  : Abendmahl in  : Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig  : Valentin Babst 1545, Bl. F vi v (nach  : Ameln 1988 [Anm. 16]).

kramentalen Kontext gestellt.22 Das hier vorangestellte Bild modifiziert, verengt und konturiert die reformatorische Aussage, denn es stellt als Hauptszene die Austeilung des Abendmahls unter beiderlei Gestalt dar (Abb. 7). Das Bild bezieht – wiederum in der Art eines Simultanbildes, bei dem die Bildkomponenten quasi-illusionistisch in Architektur und Raum integriert werden – das Sakrament auf die Heilsgeschichte  : Im Hintergrund ist eine Abendmahlsdarstellung zu sehen und als Altarretabel dient eine Kreuzigung.23 Diese konzeptionelle Bildgestaltung entspricht  – wie im Übrigen die Wirklichkeit von Kirchenausstattungen während der Reformation – nur sehr bedingt einer Empfehlung Luthers in seiner Auslegung des 111. Psalms von 1530. Denn nicht die Kreuzigung sieht Luther als Altarbild vor, sondern zusammen mit der Inschrift »Der Gnedige und Barmhertziger Herr hat ein gedechtnis seiner wunder gestifft« (Psalm 111,4) das Abendmahl, das auf dem Holzschnitt ein Seitenmotiv darstellt und

22 Das Babst’sche Gesangbuch (Anm. 16), Bl. F vi r–G iii v. 23 Vgl. Rosa Micus, Das Katechismusbild in der Wittenberg-Leipziger Gesangbuchfamilie, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 35, 1994/95, S. 210–215  ; Sven Limbeck, Das Babst’sche Gesangbuch, in  : RodeBreymann/Limbeck 2011 (Anm. 13), S. 203 f.

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keine Inschrift beinhaltet.24 Stattdessen überschreiten diese Bilder im Bild »innerbildliche Raum- und Realitätsgrenzen und damit auch die Grenzen der Sichtbarkeit«.25 Es wird somit eine Bildtheorie visuell verhandelt, durch die das im gottesdienstlichen Handeln Unsichtbare als Heilsgeschichte ins Bild gesetzt wird. Diese Bildkonzeption einer liturgisch strukturierten Visualisierung von Heilsgeschichte ist für die gesamte Bildausstattung des Gesangbuchs vorauszusetzen, wie es insbesondere im ersten Teil bei den Liedern zum Kirchenjahr oder den Bildern zu den Cantica evident wird.

IV Kontinuitäten und Brüche medialer Darbietungsformen – Vom Kreuzoffizium zum Lied »Christus, der uns selig macht« Die Kontinuitäten und Brüche medialer Darbietungsformen in der Liedüberlieferung lassen sich im Repertoire des Babst’schen Gesangbuchs an dem Lied »Christus, der uns selig macht« exemplarisch aufzeigen. Vor diesem Hintergrund wird sich dann die spezifische Rolle des Bildes im Gesangbuch umso besser herleiten und konturieren lassen. Die textuelle Vorlage des Liedes ist der im Spätmittelalter weit verbreitete Hymnus »Patris sapientia«, der auch noch als Melodiemodell des Liedes angegeben wird. Von den zahlreichen deutschen Versionen dieses Passionshymnus wurde die Fassung von Michael Weiße, die zuerst 1531 im Gesangbuch der Böhmischen Brüder erschienen war, ab 1553 in die erweiterte Auflage des Babst’schen Gesangbuchs übernommen (Abb. 8).26 Vergleicht man dieses Lied mit der lateinischen Vorlage in der maßgeblichen modernen Ausgabe im 30.  Band der »Analecta Hymnica«, dann erscheint es so, als sei hier nichts weiter geschehen als die Transformation eines lateinischen in ein deutsches Lied.27 Diese Form der Darstellung hat allerdings nichts zu tun mit der Art und 24 Vgl. Martin Luther, Der 111. Psalm ausgelegt, in  : D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe 31,1, Weimar 1913, S. 384–426, hier S. 415. Vgl. Susanne Wegmann, Die Sichtbarkeit der Gnade – Bildtheorie und Gnadenvermittlung auf den lutherischen Altären, in  : Johanna Haberer und Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, Tübingen 2012 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 70), S. 187–211, hier S. 196–198  ; Joseph Leo Koerner, Die Reformation des Bildes, München 2017, S. 375–394. 25 Wegmann 2012 (Anm. 24), S. 207. 26 [Michael Weisse,] Ein New Geseng buchlen, Jungbunzlau  : Georg Wylmschwerer 1531  ; Nachdruck  : Gesangbuch der Böhmischen Brüder 1531, in originalgetreuem Nachdruck hg. von Konrad Ameln, Kassel und Basel 1957, Bl.  D  II  v–D  III  v. Ich stütze mich auf eine noch spätere Auflage  : Geystliche Lieder. Mit einer newen vorrede/ D.  M.  Luth., Leipzig  : Valentin Babsts Erben 1567, [Teil  II  :] Bl.  G vi  r–vii  r. Exem­plar  : Wolfenbüttel, HAB, 698 Theol. Vgl. Gerhard Jüngst, Christus, der uns selig macht, in  : Gerhard Hahn und Jürgen Henkys (Hg.), Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch 5, Göttingen 2002, S. 49–53  ; Christina Falkenroth, Die Passion Jesu im Kirchenlied. »Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude […]«, Tübingen 2017 (Mainzer hymnologische Studien, 28), S. 91–119. 27 Pia dictamina. Reimgebete und Leselieder des Mittelalters. Dritte Folge  : Stunden- und Glossen-Lieder, hg. von Guido Maria Dreves, Leipzig 1898 (Analecta Hymnica, 30), S. 32–35 (Nr. 13).

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Abb. 8  : »Christus, der uns selig macht« in  : Geystliche Lieder, Leipzig  : Valentin Bapst d. Ä. Erben, 1567 (VD16 ZV 6467), Teil II  : Bl. G v v–vi r (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 698 Theol.).

Weise, wie der Text in Handschriften und Drucken überliefert und verwendet wird. Der Hymnus beschreibt den Ablauf des Leidens Christi und ordnet in seiner Strophenfolge die einzelnen Geschehnisse den ihnen entsprechenden Tag- und Nachtzeiten des Stundengebets zu. In der Überlieferung steht der Hymnus in der Regel nicht für sich und bildet kein sukzessive zu singendes Lied, weil seine einzelnen Strophen Teil eines kleinen Offiziums sind, das über den Tag verteilt zu den kanonischen Horen zu beten ist.28 Dieses Kreuzoffizium bildet einen Kernbestand der Frömmigkeitspraxis des späten Mittelalters und steht in den meisten zeitgenössischen Privatgebetbüchern, insbesondere in den Stundenbüchern. Eine Doppelseite aus einem französischen Stundenbuch des 15.  Jahrhunderts vermag als willkürlich gewähltes Beispiel die mediale Gestalt dieses Kreuzoffiziums zu veranschaulichen (Abb.  9)  :29 Der Text des Offiziums steht auf der 28 Zum Kreuzoffizium (Officium s. crucis) vgl. Josef Stadlhuber, Das Laienstundengebet vom Leiden Christi in seinem mittelalterlichen Fortleben, in  : Zeitschrift für katholische Theologie 72, 1950, S. 282–325. 29 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 152 Blank., fol. 17v–18r  ; vgl. Hans Butzmann, Die Blankenburger Handschriften, Frankfurt a.  M. 1966 (Kataloge der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel, 11), S. 160 f. Zum Stundenbuch als graphisch-visuellem Paradigma vgl. Monika Schmitz-Emans, Graphien der Zeit. Über Stundenbücher in Mittelalter und Neuzeit, in  : Jörg Robert (Hg.), Intermedialität

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Abb. 9  : Stundenbuch mit Kreuzoffizium, Frankreich, 15. Jahrhundert, Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 152 Blank., fol. 17v–18r.

rechten Seite, beginnt mit dem Invitatorium (»Domine, labia mea aperies«), reicht bis zur Doxologie (»Gloria Patri«), worauf die erste Strophe des Hymnus »Patris sapientia« zur Matutin mit einer Antiphon folgt. Auf der nächsten Seite folgt ein Gebet, woran sich die nächste Hore und die zweite Strophe anschließen usw. Auf der linken Seite gegenüber steht eine Miniatur mit einer Kreuzigung als Zentralmotiv der Passion. Text und Bild sind gerahmt und räumlich gleichgewichtig platziert. Beide Seiten sind mit Bordüren aus reichem Rankendekor und einigen figürlichen Elementen umgeben. Das Kreuzoffizium ist vom Mittelalter und über die Reformation hinaus bis in die Neuzeit vielfach rezipiert und adaptiert worden.30 Es wird dabei transformiert und in der Frühen Neuzeit. Formen, Funktionen, Konzepte, Berlin und Boston 2017 (Frühe Neuzeit, 209), S. 215–235. 30 Vgl. Nigel F. Palmer, Tagzeitengedichte, in  : Burghart Wachinger (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 9, 2., völlig neu bearb. Aufl., Berlin und New York 1995, Sp. 577–588  ; Gisela Kornrumpf, Tagzeitengedichte [Korr./Nachtr.], ebd., 11, 2004, Sp.  1476–1488  ; Stefan Matter, Mittelhochdeutsche Tagzeitentexte im Spannungsfeld von Liturgie und Privatandacht. Zu Formen des Laienstundengebets im deutschsprachigen Mittelalter, in  : Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema (Hg.), Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIII.  Anglo-

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Abb. 10  : Loyset Compère, Officium de cruce, Selectae Harmoniae Quatuor Vocum, Wittenberg 1538, Bl. f i v (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, 4 Mus.pr. 106).

durchläuft unterschiedliche mediale Formen. In bestimmten Kontexten erhält sich dabei die Darbietungsform des Andachtsbuches, in anderen nicht.31 Letzteres geschieht etwa bei mehreren motettischen Vertonungen aus der Zeit von etwa 1500 bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts (Antonio de Ribera, Ludwig Senfl, Rupert Unterholtzer u. a.). Das »Officium de cruce« des franko-flämischen Komponisten Loyset Compère (gest. 1518) etwa ist in mehreren Handschriften, aber auch in zwei Drucken des 16. Jahrhunderts überliefert  : Ottaviano Petruccis »Motetti de passione« (Venedig 1503) und – in einem dezidiert evangelischen Kontext  – Georg Rhaus »Selectae harmoniae« (Wittenberg German Colloquium, Nottingham 2013, Tübingen 2017, S. 173–184  ; ders., Das Stundenlied ›Patris sapientia‹ und seine deutschsprachigen Übertragungen. Zu einem Schlüsseltext der spätmittelalterlichen Gebetbuchliteratur, in  : Wolfram-Studien  24, 2017, S.  137–153  ; ders., Transkulturelle Gärten. Zu den frühen Ausgaben des Hortulus animae, des Seelengärtleins und des Wurtzgartens, in  : Ingrid Kasten und Laura Auteri (Hg.), Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext, Berlin und Boston 2017, S. 293–299. 31 Grundlegend für die frühneuzeitliche Liedüberlieferung als intermedialer Prozess (mit Untersuchungen weltlicher Lieder) ist Nils Grosch, Lied und Medienwechsel im 16. Jahrhundert, Münster 2013 (Populäre Kultur und Musik, 6).

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Abb. 11  : Einblattdruck  : Das patris sapientia zu teutsch, Nürnberg [um 1504] (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, 2 Mus.pr. 15612/14#12).

1538).32 Hier erscheint der Text in musikalischer Adaption als Chor- bzw. Stimmbuch, in einer medialen Gestalt also, die für einen anderen pragmatischen Kontext konzipiert ist als das Privatgebet, dementsprechend bild- und schmucklos (Abb. 10). Bei den zahlreichen deutschen Versionen folgt die mediale Form ebenfalls dem jeweiligen Gebrauchskontext. Johann von Neumarkt übersetzte das gesamte Kreuzoffizium in deutsche Prosa und als Gebetstext erscheint diese Version in zahllosen deutschen Privatgebetbüchern des Spätmittelalters.33 Auch der Hymnus ist als Prosa 32 Motetti De passione De cruce De sacramento De beata virgine et huiusmodi, Venedig  : Ottaviano Petrucci 1503 [RISM 15031], Bl. 46v–55r  ; Selectae Harmoniae Quatuor Vocum De Passione Domini, [4 Stimmbücher] Wittenberg  : Georg Rhau 1538 [RISM 15381], Nr. V. Exemplar  : München, Bayerische Staatsbibliothek [BSB], 4 Mus.pr. 106  ; Digitalisat  : http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb00079632-9 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). Vgl. Loyset Compère, Opera omnia 4, hg. von Ludwig Finscher, [Rom] 1961 (Corpus Mensurabilis Musicae, 15,4), S. 14–24  ; Ludwig Finscher, Compère, Loyset, in  : Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2., neubearb. Ausg., Personenteil 4, Kassel 2000, Sp. 1446–1454  ; Ottaviano Petrucci, Motetti de passione, de cruce, de sacramento, de beata Virgine et huiusmodi B, Venice, 1503, hg. und eingel. von Warren Drake, Chicago und London 2002 (Monuments of Renaissance Music, 11), S. 53 zur Überlieferung und S. 218–247 Edition. 33 Vgl. Schriften Johanns von Neumarkt, hg. von Joseph Klapper 4, Berlin 1935 (Vom Mittelalter zur Re-

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Abb. 12  : Ein schoͤ n geistlich lied/ Von den siben gezeyten des tags/ Patris sapientia genant, Nürnberg [um 1550] (Exemplar Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, 55 in  : Slg. Wernigerode Hb 4380).

behandelt und an seine Sangbarkeit im stillen Gebet nicht gedacht. Es gibt aber bereits vor Michael Weiße die Adaption des Hymnus allein als deutsches Lied, so auf einem Nürnberger Liedeinblattdruck vom Anfang des 16. Jahrhunderts, der den lateinischen Text, eine deutsche Versbearbeitung und eine Melodie bietet (Abb. 11).34 In einer weiteren Bearbeitung als Lied, die seit etwa 1530 mehrfach als Liedflugschrift gedruckt wurde, erinnern zumindest die Titelholzschnitte mit Passionsszenen noch an die Herkunft aus dem Kreuzoffizium (Abb. 12).35 formation, 6,4), S. 1–26  ; vgl. Werner Höver, Johann von Neumarkt, in  : Kurt Ruh (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 4, 2., völlig neu bearb.  Aufl., Berlin und New York 1983, Sp. 686–695, hier Sp. 690 f.; Matter, Stundenlied 2017 (Anm. 30), S. 142–146. 34 Das patris sapientia zu teutsch, [Einblattdruck], [Nürnberg  :] Wolfgang Huber o. J. [um 1504]. Exemplar  : München, BSB, 2 Mus.pr. 156-12/14#12. Digitalisat  : http://daten.digitale-sammlungen.de/0009/bsb000 90649/images/index.html?id=00090649&groesser=&fip=193.174.98.30&no=&seite=1 (letzter Zugriff  : 14. 04.2020). Vgl. Philipp Wackernagel, Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts 2, Leipzig 1867, S. 801–803 (Nr. 1033)  ; Palmer 1995 (Anm. 30), Sp. 584 (Nr. II.9 [Fas­ sung V]). 35 Ein hübsch geistlich lied von den siben gezeyten des tags/ Patris sapientia genant, Nürnberg  : Georg Wachter o. J. [um 1530]. Exemplar  : Berlin, SBPK, Hymn. 1800  ; Ein schoͤ n geistlich lied/ Von den siben

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Abb. 13  : Hore semper benedicte virginis marie  : secundum vsum Romanum, Paris  : Thielmann Kerver, 1520, Bl. N i v–N ii r (Exemplar Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Libri in membr. impr. oct. 28).

Andererseits lässt sich bei der Überführung des handschriftlichen Stundenbuchs in den Druck eine Kontinuität bzw. kontinuierliche Weiterentwicklung der medialen Form beobachten. Das Kreuzoffizium in dem 1520 von Thielman Kerver in Paris gedruckten Stundenbuch zeigt alle Elemente der medialen Form, wie sie in den Handschriften vorzufinden waren  : eine Doppelseite mit Bild und Text, beide Seiten mit Bordüren gerahmt, nur dass die Herstellung typographisch erfolgte und der Stil sich der Zeit und dem Ort anpasste (Abb. 13).36 Im deutschen Kulturgebiet, wo das Stundenbuch nicht die gleiche Bedeutung erlangte wie im nordfranzösisch-belgischen Raum, trat gezeyten des tags/ Patris sapientia genant, Nürnberg  : Friedrich Gutknecht o.  J. [um 1550]. Exemplar  : Berlin, SBPK, 55 in  : Slg Wernigerode Hb 4380  ; Eyn huͤ bsch Geystlich Liedt/ von den siben gezeyten des Tags/ Patris Sapientia genandt, Nürnberg  : Valentin Neuber o. J. [um 1560]. Exemplar  : Berlin, SBPK, Hymn. 1807  ; vgl. Wackernagel 1867 (Anm.  34), S.  723 f. (Nr.  931)  ; Palmer 1995 (Anm.  30), Sp.  584 (Nr. II.9 [Fassung VII]). 36 Hore semper benedicte virginis marie  : secundum vsum Romanum, Paris  : Thielman Kerver 1520, Bl. N i v–N ii r. Exemplar  : Berlin, SBPK, Libri in membr. impr. oct. 28 (unvollständig)  ; Digitalisat  : http://resolver. staatsbibliothek-berlin.de/SBB000163D000000000 (letzter Zugriff  : 14.04.2020).

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Abb. 14  : Hortulus anime, Mainz  : Peter Schöffer, 1514, Bl. F ii v–iii v (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, S 369 Helmst. 8°).

an dessen Stelle etwa ein Andachtsbuch wie der »Hortulus animae«. Selbst ohne eine Bildseite zum Kreuzoffizium ist in einem Druck von Peter Schöffer aus dem Jahr 1514 das zugrunde liegende Paradigma deutlich zu erkennen (Abb. 14).37 Stark vereinfacht ist das Seitenlayout in der deutschen Übersetzung des »Hortulus animae« von 1507 (Abb.  15).38 Gleichwohl ist das Paradigma auch hier erkennbar. Auf den Dekor der Ränder wurde hier komplett verzichtet  ; immerhin ist aber auf der Folgeseite des Münchener Exemplars (Bl. g iii v) eine Rankenbordüre hinzugemalt worden. Die Reihe der Beispiele, die hier umstandslos zu vermehren wäre, mag einstweilen als Veranschaulichung medialer Transformationsprozesse ausreichen.

37 Hortulus anime, Mainz  : Johann Schöffer 1514, Bl. F ii  v–iii  v. Exemplar  : Wolfenbüttel, HAB, S 369 Helmst. 8°. Vgl. Maria Consuelo Oldenbourg, Hortulus animae [1494]–1523. Bibliographie und Illustration, Hamburg 1973, S. 40 (L 53). 38 Hortulus anime, Straßburg  : Johann Knobloch 1507, Bl. g ii v–g iii r. Exemplar  : München, BSB, Rar. 669. Vgl. Oldenbourg 1973 (Anm. 37), S. 25 (L 18).

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Abb. 15  : Hortulus anime, Straßburg  : Johannes Knobloch, 1507, Bl. g ii v–g iii r (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 669).

V Das Gesangbuch als Andachtsraum. Text, Bild und Rahmen So unbestreitbar das deutsche Kirchenlied zu den nachhaltigen Effekten der lutherischen Reformation zu zählen ist, so deutlich wird im Hinblick auf seine Medialität, wie wenig die mediale Gestalt des lutherischen bebilderten Gesangsbuchs mit der Reformation an sich zu tun hat, denn den medialen Paradigmata eignet unter bestimmten Bedingungen ein Beharrungsvermögen über den technischen und kulturellen Wandel hinweg. Das Gesangbuch erfüllt ein in Stunden- und anderen Andachtsbüchern des späten Mittelalters geprägtes Paradigma, dessen Zweck darin besteht, im Rahmen der Privatfrömmigkeit auf Buchseiten einen Andachtsraum zu schaffen, der die paraliturgische Gebetspraxis mit visuellen Meditationstechniken zu kombinieren erlaubt. Die konstitutiven Komponenten dieses Andachtsraums sind Text, Bild und Rahmen. Die lange kontrovers diskutierte Frage nach der Rolle des Bildes im christlichen Kult ist in den Bilderstürmen der Reformationszeit wieder aktuell geworden. Dass Bilder genuiner Ausdruck des christlichen Kultes sind, liegt dabei schon in der Inkarnation begründet  : Christus ist das Abbild Gottes in physischer Gestalt. Für die abendländische Theologie ist der kultische Bildgebrauch aufgrund eines zeichentheoretischen

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Bildbegriffs gerechtfertigt  :39 Das Bild steht nicht einfachhin für sich als Objekt, sondern es weist über sich selbst hinaus auf das, was es darstellt, hat also eine physische und eine konzeptuelle Seite. Letzteres macht es zu einem Medium  : Der Betrachtende kann durch das Bild hindurch zu dem hinreichen, was das Bild bedeutet, und umgekehrt.40 Das kommt in der Bilderflut der spätmittelalterlichen Laienfrömmigkeit erst richtig zum Tragen. In dem Maße, wie die Laien durch die Klerikalisierung der Liturgie und andere Entwicklungen von der aktiven Teilhabe am sakramentalen Geschehen ausgeschlossen und auf das reine Schauen verwiesen bleiben, eröffnet die Buch- und Bilderkultur – und dies noch einmal verstärkt durch die Medienrevolution – andere Wege, an der Gnade teilzuhaben.41 Insbesondere frei verfügbare gedruckte Bilder sind mobile Surrogate für monumentale Bilder im sakralen Raum und können als private Andachtsbilder genutzt werden, mit denen der eigene »Lebensraum als Andachtsraum zu gestalten« war.42 Die Bilder in den Andachtsmedien des späten Mittelalters sind als Fenster zum Himmel Zugänge zur Gnade.43 Soweit war dies auch von Luther theologisch vertretbar. Mit dem Bedürfnis nach einer auch physisch erfahrbaren Gnade ging freilich die Fetischisierung der Gnadenmedien einher. Die Gefahr der Idolatrie, die sich damit verband, war wiederum eine der von der Reformation bekämpften Entwicklungen. Wenn etwa im »Hortulus animae« für ein Gebet im Angesicht des Kreuzigungsbildes ein Ablass in Aussicht gestellt wird, kommt dem Bild mehr als ein medialer Charakter zu, weil das Bild als Objekt bereits die Gnade bewirkt oder zumindest diesen Eindruck erweckt (Abb. 16).44 39 Vgl. Rudolf Suntrup, Zeichenkonzeptionen in der Religion des lateinischen Mittelalters, in  : Roland Posner, Klaus Robering und Thomas A. Sebeok (Hg.), Semiotik. Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur 1, Berlin und New York 1997 (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft, 13,1), S. 1115–1132. 40 Vgl. Jean Wirth, Soll man Bilder anbeten  ; Theorien zum Bilderkult bis zum Konzil von Trient, in  : Cécile Dupeux, Peter Jezler und Jean Wirth (Hg.), Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille  ;, Ausstellungskatalog Bern, München 2000, S. 28–37. 41 Vgl. Thomas Lentes, Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in  : Klaus Schreiner (Hg.), Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, München 2002, S.  179–220  ; Berndt Hamm, Typen spätmittelalterlicher Gnadenmedialität, in  : Berndt Hamm, Volker Leppin und Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Media Salutis. Gnaden- und Heilsmedien in der abendländischen Religiosität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 58), S. 43–83. 42 Lenz Kriss-Rettenbeck, Bilder und Zeichen religiösen Volksglaubens, München 1963, S. 14  ; vgl. Hans Körner, Der früheste deutsche Einblattholzschnitt, Mittenwald 1979 (Studia iconologica, 3), S. 34–38. 43 Das gilt in analoger Weise auch für die Musik, die die für die betende Betrachtung adäquate Gefühlslage erzeugen sollte. Wie das Bild birgt auch die Musik die Gefahr der »Fetischisierung«  – dann nämlich, wenn sie von ihrem textuellen Gehalt ablenkt und Selbstzweck wird  ; vgl. Ulrike Hascher-Burger und Hermina Joldersma, Introduction  : Music and the Devotio Moderna, in  : Church History and Religious Culture 88, 2008, S. 313–328, hier S. 323–325. 44 Hortulus anime (Anm. 37), Bl. G iv v–v r.

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Abb. 16  : Hortulus anime, Mainz  : Johann Schöffer, 1514, Bl. G iv v–v r (Exemplar Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, S 369 Helmst. 8°).

Für den Bildcharakter einer dezidiert lutherischen Frömmigkeit ist jedoch nicht der Bruch mit körperlichen und affektiven Ausdruckformen spätmittelalterlicher Frömmigkeit ausschlaggebend. Vielmehr barg die Kultur des Glaubens, aus der Luthers Reformation hervorging, in sich bereits die zweifache Tendenz einer »zum Individuellen und Innerlichen strebenden, vergeistigten, entsinnlichten, jedenfalls nicht an gegenständliche Objekte und äußerliche Vollzüge gebundenen praxis pietatis einerseits und einem Zug zum Äußerlichen und Ritualistischen, auf Gegenständliches, die Verehrung und quantifizierbare Heilsnutzung auratischer Objekte, heiliger Orte und mirakelhafter Sachverhalte ausgerichteten Frömmigkeitspraxis andererseits«.45 In Luthers Verständnis geschieht die Heilsvermittlung ausschließlich in Wort und Sakrament. Damit ist die sinnliche Aneignung der Gnade dem evangelischen Glauben zwar grundsätzlich eingeschrieben, aber die Vielfalt der Heilsvermittlungswege deutlich reduziert und dem Hören eindeutig die Priorität über das Sehen eingeräumt. Vor diesem konzeptionellen Hintergrund lassen sich fast alle Bilder des lutherischen Gesangbuchs mit Ho45 Vgl. Thomas Kaufmann, Die Sinn- und Leiblichkeit der Heilsaneignung im späten Mittelalter und in der Reformation, in  : Haberer/Hamm 2012 (Anm. 24), S. 11–43, hier S. 15.

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berg in die Tradition der mittelalterlichen christlichen Ikonographie einordnen, denn der Bildgebrauch war allein schon aus didaktischen Zwecken gerechtfertigt, wenn auch der Bildbestand reduziert und bestimmte Bildinhalte purgiert wurden.46 Typisch spätmittelalterliche Ikonographien wie das Herz Jesu oder der Amplexus Christi kommen nicht mehr vor.47 Sind die Bilder und Texte zentral, dann sind die Seitenrahmungen peripher. Obgleich das Thema Ränder und Rahmen in den letzten Jahren mehr und mehr in den Blickpunkt kunsthistorischer, kodikologischer und buchkundlicher Forschung geraten ist, gibt es keine einheitliche und verbindliche Antwort auf die Frage, welchen Sinn die dezidiert profane und groteske Gestaltung der Seitenränder in frommen Büchern hat.48 Ihr ornamentaler Wert in der optischen Aufwertung des Buches als Objekt ist evident, erklärt aber nicht den Widerspruch zwischen Rand und Mitte. Auch hierbei erweist sich die mediengeschichtliche Perspektive als hilfreich. Für Einblattdrucke des 15.  Jahrhunderts sind einkonturige Rahmenlinien typisch, die häufig von den Bildgegenständen übergriffen werden. Hans Körner wies scharfsinnig auf die doppelte Determiniertheit dieser Rahmenlinien hin  :49 Die eigentlich gegenstandslose Rahmenlinie fällt mit der Linie zusammen, die den Bildgegenstand bezeichnet, der dadurch aus seiner distanzierenden Umrahmung heraustritt und dem Betrachter dadurch näherkommt. Anders im Gesangbuch  : Im Gegensatz zum Holzschnitt, der von einem einzigen Druckstock genommen wird, schließt der Buchsatz mit Lettern und Druckstöcken nach einem Baukastenprinzip solche entdistanzierenden Überschneidungen aus. Der Effekt ist vielmehr eine Distanzierung der Bilder  : Regelmäßig lässt sich ein ganz bestimmter Typ der Sequenzierung von Text und Bild beobachten, der nicht dem typographischen Zufall geschuldet ist. Beispielsweise steht die Überschrift über dem »Nunc dimittis« auf einer vorausgehenden Recto-Seite unten  ; es folgt auf der Verso-Seite das Bild links gegenüber dem auf der nächsten RectoSeite beginnenden Gesang mit Noten und Text (Abb. 17 und 18).50 Daraus ergibt sich 46 Vgl. Kaufmann 2012 (Anm. 45), S. 25. 47 Vgl. Hamm 2011 (Anm. 41), S. 51–58. 48 Vgl. auswahlweise Michael Camille, Image on the Edge. The Margins of Medieval Art, London 1992  ; Myra D. Orth, What Goes Around. Borders and Frames in French Manuscripts, in  : Journal of the Walters Art Gallery 54, 1996, S. 189–201  ; Anja Grebe, An den Rändern der Kunst. Drolerien in spätmittelalterlichen Stundenbüchern, in  : Anja Grebe und Nikolaus Staubach (Hg.), Komik und Sakralität. Aspekte einer ästhetischen Paradoxie in Mittelalter und früher Neuzeit, Frankfurt a.  M. 2005 (Tradition  – Reform – Innovation, 9), S. 164–178  ; dies., Heilige Schweinereien  ; Obszöne Darstellungen in den Rändern spätmittelalterlicher Gebetbücher, in  : Andrea Grafetstätter (Hg.), Nahrung, Notdurft und Obszönität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Akten der Tagung Bamberg 2011, Bamberg 2013 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien, 6), S. 155–182  ; Andrea von Hülsen-Esch, Der Rahmen im Rahmen der Buchmalerei, in  : Hans Körner und Karl Möseneder (Hg.), Format und Rahmen. Vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Berlin 2008, S. 9–40. 49 Vgl. Körner 1979 (Anm. 42), S. 65 f. 50 Das Babst’sche Gesangbuch (Anm. 16), Bl. C iii r–iv r.

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Abb. 17–18  : »Nunc dimittis« in  : Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig 1545, Bl. C iii r–iv r (nach  : Ameln 1988 [Anm. 16]).

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die paradigmatische Doppelseite mit einem sich gegenseitig ergänzenden Text-BildEnsemble, aber der Holzschnitt unterbricht zugleich das typographische Kontinuum des Letternsatzes. Das Bild behauptet nicht nur inhaltlich, sondern auch als mediale Gestalt seine Autonomie und wird dabei durch die Seitenrahmung, die Texte und Bilder ins Gleichgewicht bringen, unterstützt. Aus einer frömmigkeitsgeschichtlichen Perspektive könnte man die Funktion der Rahmen als »Einhegung« bezeichnen  : Der Raum der Buchseiten ist ein symbolischer Andachtsraum, der wie ein architektonischer Kirchenraum auch als Allegorie der Welt aufgefasst werden kann. Diese Welt besteht aus einer spirituellen Mitte und einer profanen Peripherie. Die Ränder dienen dann dazu, das Spirituelle zu zentrieren. Die Betrachtung frommer Bilder und Texte führt demnach raumsymbolisch aus der Welt in die Transzendenz. Spätestens im Babst’schen Gesangbuch hat die mittelalterliche Frömmigkeit die Reformation medial eingeholt. Ein Gesangbuch ist nicht lediglich ein buchförmiger Container für Texte und Melodien, sondern es ist eine Verkörperung des Wortes im Sinne der Inkarnation. Das erklärt seine mediale Gestalt – oder anders gesagt  : »The medium is the message.«

Beat Föllmi

Die Straßburger Gesangbücher aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Die Reformation in Straßburg weist einige Besonderheiten auf, die sie von der reformatorischen Bewegung sowohl in den übrigen deutschen Territorien als auch in der Eidgenossenschaft unterscheidet. Diese Unterschiede betreffen die Ekklesiologie, aber auch die Art und Weise, wie die Reformation durchgeführt wurde. Sie betreffen ebenso in besonderer Weise die liturgischen Formen und damit auch die musikalische Praxis. Erst nach dem Ende des Interims in der Mitte des 16. Jahrhunderts glich sich die Straßburger Kirche in theologischer und liturgischer Hinsicht den lutherischen Kirchen an – dies im Gegensatz zu den reformierten Schweizer Kirchen, welche ihre eigenen Bekenntnisschriften und ihre eigenen liturgischen Ordnungen gegenüber dem politischen Druck des Kaisers behaupten konnten. Da Straßburg also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts eigene liturgische und musikalische Praktiken kannte, ist es lohnend, die in und für Straßburg gedruckten Gesangbücher als ein eigenes Corpus genauer zu untersuchen. Dabei sollen unterschiedliche Aspekte zur Sprache kommen  : Repertoirebildung, Notation, Drucker und Drucktechniken, Herausgeber und Zielpublikum – und natürlich im Hinblick auf das Tagungsthema die Ausstattung und der Bildschmuck. Von Beginn der Reformation bis zum Interim in der Jahrhundertmitte, also in einer Zeit von rund 25 Jahren, sind aus Straßburg rund 50 Drucke mit Kirchenliedern bekannt. Dabei sind einige zweifelhafte und verschollene Ausgaben ebenso wenig berücksichtigt wie rein liturgische Ordnungen ohne Gesänge. Knapp die Hälfte dieser Ausgaben wurde in den Jahren 1524 bis 1527 veröffentlicht, dann nahm die Häufigkeit deutlich ab. Gegen Ende der 1530er Jahre bis 1541 erschienen die umfangreichen Gesangbücher mit den Psalmparaphrasen sowie als Abschluss das außergewöhnliche Kantional von 1541 (Abb. 1). In den restlichen Jahren bis zum Interim waren es gerade noch neun Ausgaben, bei denen es sich einerseits um Neuauflagen bereits publizierter Gesangbücher oder um Drucke mit auswärtigem Gesangsgut, deutsch- oder französischsprachig, handelt. 1547 erschien das letzte deutschsprachige Gesangbuch vor dem Interim, ferner zwei französischsprachige Psalterausgaben. Darauf dauerte es bis 1557, dass in Straßburg wieder ein neues Gesangbuch veröffentlicht wurde1, d. h. während 1 Alle Psalmen/ Hymni/ vnnd Geystliche Lieder, Paul und Philipp Köpfel, RISM 1547/08, HDB 50. RISM = Répertoire International des Sources Musicales, B/VIII/1  : Konrad Ameln, Markus Jenny und Walter Lipphardt, Das deutsche Kirchenlied. Kritische Gesamtausgabe der Melodien  1, Teil  1, Kassel 1975. HDB  = Hymnological Database, gemeinsames Datenbankprojekt der Johannes Gutenberg-Universität

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des rund zehn Jahre dauernden Interims druckte man in Straßburg kein einziges Gesangbuch. Die ersten Jahre der Reformation waren eine Zeit des Experimentierens. Einerseits machten die Bevölkerung und die Prediger Druck (die »Gartener« des Kirchspiels der Aurelienkirche waren hier besonders aktiv), andererseits formierte sich eine starke politische Gruppierung mit Jakob Sturm an der Spitze, welcher es schließlich gelang, sich gegen die Altgläubigen durchzusetzen. So feierte man noch bis fast Ende der 1520er Jahre die katholischen Gottesdienste, sowohl die Messe als auch das Stundengebet, weiter. Erst 1529 wurde die Messe durch einen Beschluss der Schöffen offiziell abgeschafft. Während dieser Phase erschienen zahlreiche, zumeist nur wenige Gesänge enthaltende Gesangbücher. Mit der Abschaffung der Messe begann die zweite Phase der Konsolidierung, die am Ende der 1530er Jahre zum Abschluss kam. Es wurden zahlenmäßig weniger Gesangbücher gedruckt, doch jetzt entstand das große Corpus der Psalmen und Cantica, das 1537 und 1538 in zwei sich ergänzenden Ausgaben gedruckt wurde und 1539 noch einmal in einer einzigen Ausgabe, allerdings ohne Noten, erscheint. Damit lag ein normatives Repertoire vor, das zu Beginn der 1540er Jahre noch einmal in zwei Teilen nachgedruckt wurde. Dieses Repertoire soll etwas eingehender gewürdigt werden. Die spezielle Gesangspraxis hing eng mit der liturgischen Sonderentwicklung der evangelischen Kirche Straßburgs zusammen, wo die Messe durch den Typus des Predigtgottesdienstes verdrängt wurde. Während die frühesten evangelischen liturgischen Schriften noch von »Teutscher Messe« sprechen, wurde der Begriff »Messe« nach 1525 vermieden und durch den Begriff »Kirchenamt« oder »Psalmengebet und Kirchenübung« ersetzt. Aus der Messe wurde ein Predigtgottesdienst, entweder mit Eucharistie oder in Form von Gottesdiensten, die sich an die Tradition des Stundengebets anlehnten. Die Straßburger Kirche schaffte nicht nur die Messe, sondern ebenso sämtliche Feste des Kirchenjahres ab, sogar Weihnachten wurde zwischen 1524 bis 1536 nicht mehr begangen. Mit der Zurückdrängung des Proprium de tempore veränderte sich auch das Liedgut. Neben Liedern des Ordinariums wie Bußgesängen, Glaubensliedern etc. trat in Straßburg eine Gruppe von Liedern in den Vordergrund, die nicht direkt mit der Thematik eines bestimmten Festes im Kirchenjahr verbunden waren  : die Psalmen und biblischen Cantica. Bei der Konstituierung ihres Repertoires gingen die Straßburger pragmatisch vor. Einige lokale Dichter und Musiker steuerten einen Grundstock bei, wie der Linsenschleifer Ludwig Oeler, der nur die ersten acht biblischen Psalmen bereimte, und die beiden bekannten Autoren Matthias Greiter (mit den Psalmen 51 und 119) sowie WolfMainz und der Université de Strasbourg, Projektleitung  : Beat Föllmi und Ansgar Franz (https://hdb. univoak.eu [letzter Zugriff  : 14.04.2020]).

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Abb. 1  : Gesangbuch, darinn begriffen sind, Straßburg, 1541  ; HDB 46 (Exemplar Isny im Allgäu, Evangelische Kirche Sankt Nikolaus, nach  : Faksimile, Stuttgart 1953).

gang Dachstein (»An Wasserflüssen Babylon«, Ps 137), von deren Schöpfungen einige bis in die Gegenwart überlebt haben. Im Weiteren wurden in den Gesangbüchern Lieder aus allen Gebieten Deutschlands und von den unterschiedlichsten theologischen Richtungen aufgenommen  : An erster Stelle waren dies natürlich Luthers Bereimungen, die bereits in den ersten Straßburger Gesangbüchern vorkommen, dann finden sich Dichtungen von Luthers Weggefährten der ersten Stunde, wie beispielsweise Paul Speratus, ferner des Nürnbergers Hans Sachs, der Augsburger Täufer Sigmund Salminger, Jakob Dachser und Joachim Aberlin, der Konstanzer Johannes Zwick, Ambrosius und Thomas Blaurer, der Schweizer Leo Jud, Wolfgang Musculus und Erhard Hegenwald und sogar des Reformators von Riga, Andreas Knopken. Auch von so genannten Dissidenten wurden Psalmen aufgenommen, beispielsweise von Thomas Müntzer und Hans Hut. Wenn auch die poetische und theologische Spannweite der Psalmdichtungen in Straßburger Gesangbüchern sehr groß war, bildete sich doch eine eigene biblische Hermeneutik heraus, die wirkungsgeschichtlich bedeutsam werden sollte  : die vollständige und systematische, manchmal fast stereotyp bibeltreue Paraphrase. Das lässt sich bereits bei den acht Psalmbereimungen von Ludwig Oeler aus dem Jahr 1525 aufzeigen. Hier entsprechen in der Regel zwei Bibelverse einer Strophe  ; die wenigen Abweichungen betreffen vor allem Psalmen mit ungerader Anzahl Verse. Oeler verwendete zudem für alle seine Psalmen dasselbe Vers- und Reimschema  : die siebenzeilige Barform. Damit lassen sich alle seine Psalmen auf ein und dieselbe Melodie singen, nämlich auf die Melodie zu Luthers Psalmlied »Ach Gott, vom Himmel sieh darein«.2 Matthias Greiter erlaubte sich etwas mehr Freiheiten  : Ein Bibelvers kann zuweilen auch auf zwei Strophen aufgeteilt werden. Greiter experimentierte schon sehr früh mit neuen Vers2 Erstmals erschienen in  : RISM 1524/16, HDB 6.

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schemata. So weist seine Paraphrase des Bußpsalms 51 eine äußerst originelle Form auf  : eine 13-zeilige Barform, für die er vermutlich selbst die Melodie geschaffen hat.3 Auch in Wolfgang Dachsteins drei Psalmen, alle aus dem Jahr 1525, ist der Bibeltext schematisch in singbare Poesie übertragen. Dachstein hat für seinen bekannten Ps 137 (»An Wasserflüssen Babylon«) eine eigene, originelle Form gefunden  : eine zehnzeilige Barform mit zweizeiligem Stollen und sechszeiligem Abgesang. Die Besonderheit der Straßburger Psalmbereimungen besteht darin, dass sie alle einer streng biblischen Hermeneutik folgen. Es werden weder christologische, ekklesiologische noch zeitgeschichtliche Elemente hineingetragen, so wie das beispielsweise Luther in seinen doch sehr freien Psalmdichtungen getan hat  : Dessen »Umdichtung« von Ps 46, »Ein feste Burg ist unser Gott«, nimmt sich große Freiheiten gegenüber dem Bibeltext, so dass es sich strenggenommen nur noch um ein durch den Bibeltext angeregtes Kirchenlied handelt. Straßburger Psalmen hingegen sind wirklich schriftgetreu, gemäß dem reformatorischen Prinzip »sola scriptura«. Die Straßburger Psalmen hatten ihren liturgischen Platz hauptsächlich im Vespergottesdienst  : Ein Psalm wurde als Eingang gesungen, dann drei weitere Psalmen während des Gottesdienstes und einer nach der Predigt. Auch im Hauptgottesdienst waren an mehreren Stellen Psalmen vorgesehen  : als Eingang, nach der Evangelienlesung und nach der Predigt. Die Psalmen der Straßburger Autoren schließen zumeist mit einer Doxologie (»Ehre sei Gott, dem Vater, dem Sohn und heiligen Geist […]«), die als eine eigene Strophe auf dieselbe Melodie zu singen war.4 In den Straßburger Gesangbüchern konnten mehrere Bereimungen desselben Psalms nebeneinander stehen. So gab es von Ps 9 drei verschiedene Dichtungen (von Hans Sachs, Leo Jud und einem anonymen Autor). Deshalb umfasst der »Straßburger Psalter« nicht nur 150 Psalmlieder, sondern fast 200, ferner 33 biblische Cantica. Während dieses Repertoire am Ende der 1530er Jahre abgeschlossen war, zeichnete sich in einer weiteren Phase, die bis zum Interim dauerte (ab etwa 1549), ein Repertoirewechsel ab. Die Gesangbücher der 1540er Jahre5 enthalten nun mehrheitlich Lieder der Wittenberger Reformation, vor allem solche von Luther selbst, während die Zahl der Psalmlieder stark reduziert wurde. Auch trat zum ersten Mal eine neue Form des Gesangbuches auf  : das Kantional von 1541 (Abb. 1), ein Druck von bisher unbekannten Dimensionen (48,5 x 33 cm), der in ungewöhnlich prächtiger Ausstattung (Noten im Doppeldruckverfahren, aufwändige Holzschnitte) hergestellt wurde. Ein solches Buch 3 Die Zuschreibung aus stilistischen Gründen nach Markus Jenny, Geschichte des deutschschweizerischen evangelischen Gesangbuches im 16. Jahrhundert, Basel 1962. 4 Die Doxologie wurde zunächst direkt am Ende des betreffenden Psalms angehängt. In späteren Straßburger Gesangbüchern wurden die verschiedenen Doxologien in einer eigenen Rubrik zusammengefasst. 5 Das Kantional von 1541 und die beiden Ausgaben des »New Auserlesen Gesangbüchlein« von 1545 und 1547.

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wurde auf ein Pult gelegt und diente für den Unterricht des aus Knaben bestehenden Vorsängerchors. Dieser »Kurswechsel« hing mit den politischen Entwicklungen im deutschen Reich und deren Einflüssen auf Straßburg zusammen. 1533 wurde in Straßburg eine Synode abgehalten, auf der Disziplinarmaßnahmen gegen Dissidenten (Täufer, Schwärmer und Schwenckfeldianer) ergriffen wurden. Auf dieser Synode stieß der Reformator Martin Bucer erstmals auf Widerstand aus den eigenen Reihen.6 Für die Entwicklung des Kirchengesangs hatte diese Synode durchaus Konsequenzen, brachte sie doch auf längere Sicht die textliche und musikalische Vielfalt der Gesänge zum Stillstand. Genau in diesen Jahren ließ Katharina Zell, die Ehefrau des Straßburger Reformators Matthäus Zell, ein umfangreiches Gesangbuch in vier Teilen drucken, das die Gesänge der böhmischen Brüder enthielt. Die vier Büchlein waren nicht für den gottesdienstlichen Gebrauch, sondern für die private Frömmigkeit bestimmt. Die Herausgeberin richtete sich im Vorwort an Laien, im Besonderen an Hausfrauen. Für das Alltagsleben, für bestimmte Tage im christlichen Festkalender sowie für verschiedene schwierige Lebenssituationen bot sie Lieder an, welche die alten, abgelehnten Heiligenlieder ersetzen sollten. Ein weiteres Repertoire entstand 1539, als Johannes Calvin die Leitung der k­ leinen französischsprachigen Flüchtlingsgemeinde in Straßburg übernahm. Calvin ließ bei Johannes Knobloch dem Jüngeren ein unscheinbares, aber sorgfältig hergestelltes Büchlein ohne Vorwort und ohne liturgische Ordnung drucken  : »Aulcuns P ­ seaulmes et cantiques mys en chant« (»Einige Psalmen und Cantica in Gesangweise übertragen«).7 Es enthält 22 Gesangsnummern – 19 Psalmen, den Lobgesang des Simeon, den Dekalog und das Credo –, alle mit Noten versehen. Calvin übernahm hier das Modell des deutschen Psalmensingens  : Die französischen Bereimungen sind ebenfalls schriftgetreue und vollständige Übertragungen des Bibeltextes ohne jede weitere Hinzufügung. Auch einige Melodien aus dem deutschsprachigen Straßburger Repertoire hatten Eingang in den französischen Psalter gefunden (darunter Greiters berühmte Melodie von Ps 119). Es sollte etwas mehr als zwanzig Jahre dauern, bis aus diesem unscheinbaren Heft der vollständige Genfer Psalter mit seiner eindrucksvollen Wirkungsgeschichte wurde. In Straßburg erschienen nach dem Weggang Calvins bis zum Interim vier erweiterte Nachdrucke dieses französischen Psalmrepertoires.8 Die Nichtanerkennung der »Confessio Tetrapolitana« auf dem Augsburger Reichstag brachte Straßburg in politische Bedrängnis. Nach der Niederlage der Protestanten in der Schlacht bei Mühlberg 1547 gegen Kaiser Karl V. war die Stadt gezwungen, das 6 Siehe dazu Marc Lienhard, Glaube und Skepsis im 16. Jahrhundert, in  : Peter Blickle (Hg.), Bauer, Reich und Reformation, Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag am 23. Mai 1982, Stuttgart 1982, S. 160−181. 7 Eine Faksimileausgabe mit Kommentar und Übertragung der Melodien von Richard R. Terry, Calvin’s First Psalter, 1539, in  : Proceedings of the Musical Association, 57th Session, 1930−1931, S. 1−21. 8 1542, 1545, 1548, 1553.

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Interim, einen konfessionellen Schwebezustand, zu akzeptieren  : Die Exponenten der Reformation, Bucer und Fagius, wurden ins Exil gezwungen, und der katholische Gottesdienst musste im Münster wieder zugelassen werden. Von diesem Jahr an wurden in Straßburg keine deutschsprachigen Gesangbücher mehr gedruckt. Erst nach dem Ende des Interims (Augsburger Religionsfrieden 1555, Abdankung Karls V. 1556) setzte die Gesangbuchproduktion in Straßburg wieder ein, und es erschienen allein bis zum Ende des 16. Jahrhunderts 45 neue Ausgaben. Die Titel zeigen die neue konfessionelle Ausrichtung unter Johannes Marbach  : Der Name Luthers wird häufig explizit genannt.

I Die Drucker Die Straßburger Gesangbücher wurden nicht von den Kirchen oder den Predigern herausgegeben, sondern auf Initiative der Drucker. Die Stadt war sehr früh zu einem bedeutenden Zentrum des Buchdrucks geworden (nicht zuletzt hatte hier Johannes Gutenberg gewirkt)  ; Musik wurde in Straßburg seit etwa 1477 gedruckt. Im untersuchten Zeitraum, zwischen 1524 und 1555, waren in der Stadt 25 Drucker tätig, die musikalische Werke druckten. Doch nur wenige davon waren im Bereich des Kirchenliedes tätig. Der eigentliche Gesangbuchdrucker Straßburgs der ersten Hälfte des 16.  Jahrhunderts war Wolfgang Köpfel. Er wurde in Hagenau geboren und kam 1522 von Basel nach Straßburg, wo er bis zu seinem Tod 1554 tätig war. Als Neffe des Straßburger Reformators Wolfgang Capito (die latinisierte Form von Köpfel) profitierte er von dessen Unterstützung, auch in finanzieller Hinsicht.9 Damit wurde Köpfel zum wichtigsten Drucker der Straßburger Reformationsbewegung, der die Schriften von Luther, Bucer, Capito und Zell herausgab.10 Bis zum Interim stammten fast sämtliche liturgischen Drucke und Gesangbücher für die deutschsprachige Kirche Straßburgs aus seiner Offizin. Köpfel arbeitete zudem mit anderen Druckern zusammen. Für Köpfel druckte Johannes Prüss der Jüngere die erste Ausgabe des ersten Psalterteils von 1537, und Georg Messerschmid11 realisierte davon 1541 eine weitere Ausgabe. Messerschmid veröffentlichte zudem den prachtvollsten aller Straßburger Musikdrucke des 16. Jahrhunderts, das große Kantional von 1541.12 Der Name des Druckers ist erstaunlicherweise auf dem Titelblatt der Erstausgabe nicht angegeben. Er erschien erst in der folgenden Ausgabe von 1560.13 Doch Martin Bucer erwähnt ihn in seinem Vorwort  : Es habe »der   9 Jean Rott, Note sur l’imprimerie alsacienne aux XVe et XVIe siècles, in  : Revue d’Alsace 95, 1956, S. 71. 10 Siehe dazu Miriam U. Chrisman, L’édition protestante à Strasbourg 1519−1560, in  : Jean-François Gilmont (Hg.), La Réforme et le livre – l’Europe de l’imprimé (1517− v. 1570), Paris 1990, S. 221. 11 Zu Georg Messerschmidt siehe François Ritter, Histoire de l’imprimerie alsacienne aux XVe et XVIe siècles, Strasbourg/Paris 1955 (Publications de l’Institut des Hautes Études alsaciennes, XIV), S. 213−215. 12 RISM 1541/06, HDB 46. 13 Johannes Ficker vermutete, dass wegen der hohen Kosten nicht der gesamte geplante Umfang an Liedern

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Ersam buchtrucker Joͤ rg Waldmuͤ ller, genant Messerschmid, zů gůt den lieben Kirchen, vnd das gotselig gesang inn den Christlichen Versamlungen, Schůlen vnd Lerheusern zů fuͤ rderen, nicht mit geringem kosten vnd muͤ h sich lassen erbetten vnd bestellen, ein Gesangbůch zůtrucken, auch allen fleis an zů wenden, wie es das werck selb zeuget, das die Psalmen vnd geistliche Lieder, so hierin begriffen, auffs seuberlichest, vnd zům besten corrigieret ausgiengen«.14 Messerschmid druckte von 1541 bis 1560 in der Offizin von Knobloch dem Jüngeren, bei dessen Vater er vermutlich sein Handwerk erlernt hatte. Die Offizin Knobloch scheint später, zu einem unbekannten Zeitpunkt, in Messerschmids Besitz übergegangen zu sein.15 Es ist erstaunlich, dass dieses Prachtwerk der evangelischen Kirche Straßburgs nicht dem »Hausdrucker« Köpfel anvertraut wurde. Entweder verfügte Köpfel nicht über das nötige Know-how zur Realisierung eines Mehrfachtypendrucks oder er wollte das verlegerische Risiko bei den zu erwartenden hohen Kosten nicht eingehen. Bucers Formulierung im Vorwort (»nicht mit geringem kosten vnd muͤ h«) deutet in diese Richtung. Die Psalmparaphrasen für die französischsprachige Exilgemeinde in Straßburg wurden zuerst von den einheimischen Druckern herausgegeben  : Beim jüngeren Johannes Knobloch, der die Offizin seines Vaters nach dessen Tod 1538 weiterführte, erschienen 1539 Calvins »Aulcuns Pseaulmes et cantiques mys en chant« und 1542 Pierre Brullys so genannter »Pseudo-Romanus« (wegen des fingierten Druckortes »Rom«). Den leider verschollenen Nachfolger des Pseudo-Romanus, »La forme des prieres et chantz ecclesiastiques«, gab 1545 vermutlich Messerschmid in der Offizin Knobloch heraus. Doch auch aus Frankreich exilierte Drucker waren in Straßburg tätig, wie Rémy Guédon, der 1548 die »Pseaumes de David traduictz en rithme françoise« druckte (den Nachdruck von 1553 besorgte Köpfel).

II Das Zielpublikum Nach heutiger Vorstellung gehören Gesangbücher in die Hände der Gottesdienstteilnehmer, doch für das 16. Jahrhundert ist vielfach unklar, wer ein Gesangbuch gekauft und bei welcher Gelegenheit er es benutzt hat. Zwar sang in den Gottesdiensten der Straßburger Kirchen, wohl bereits ab Mitte der 1520er Jahre, die ganze Gemeinde  – gedruckt werden konnte und dass die so entstandene Unvollständigkeit des Druckes dazu geführt habe, dass weder Verleger noch Drucker genannt sind (Johannes Ficker, Das größte Prachtwerk des Straßburger Buchdrucks. Zur Geschichte und Gestaltung des großen Straßburger Gesangbuches 1541, in  : Archiv für Reformationsgeschichte 38, 1941, S. 217). Diese Argumentation ist angesichts des enorm repräsentativen Charakters des Gesangbuches doch recht unwahrscheinlich. 14 Vorwort, fol. A3v  ; auch abgedruckt bei  : Ficker 1941 (Anm. 13), S. 228 f. 15 Siehe dazu François Ritter, Histoire de l’imprimerie alsacienne aux XVe et XVIe siècles, Strasbourg und Paris, 1955 (Publications de l’Institut des Hautes Études alsaciennes, XIV), S. 217.

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Männer, Frauen und Kinder. Doch kann man auch annehmen, dass die Gottesdienstbesucher dabei ein Gesangbuch in der Hand hielten  ; Da Köpfel als einziger Drucker die Kirchen mit Gesangbüchern versorgte, hätte er unmöglich genügend Exemplare herstellen können, um jedes Gemeindemitglied mit einem Gesangbuch zu versehen. Die Einwohnerzahl Straßburgs betrug zu Beginn der Reformation rund 20.000  ; dazu kamen die Bewohner der direkt von der Stadt abhängigen Dörfer beidseits des Rheins. Auch wenn man davon nur die erwachsenen Personen zählte, käme man noch auf mindestens 10.000 Personen, die während des Predigtgottesdienstes singen. Dass eine solche Zahl von Gesangbüchern nicht mit dem Holzdruck herzustellen war, liegt auf der Hand. Zum Zweiten kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Lesen von Text und erst recht nicht von Musik allgemein verbreitet war. Wäre das Gesangbuch im Wesentlichen nur zum Lesen des Textes verwendet worden, weshalb hätten die Drucker sich die enorme Mühe gemacht, Holzschnitte von den Noten herzustellen, was die ­Drucke ja nur verteuert hat  ; Die Gesangbücher richteten sich also an eine kleine Schicht humanistisch gebildeter Bürger, die im Rahmen ihrer Ausbildung auch das Notenlesen erlernt hatten, in der Regel Absolventen einer Artistenfakultät. Erst an der 1538 gegründeten Schule des Johannes Sturm war regelmäßiger Musikunterricht vorgesehen – dies betraf allerdings nur eine kleine Zahl männlicher Schüler aus den höheren städtischen Milieus. Die weitaus meisten Gläubigen haben Text und Melodie durch das Hören eines Vorsängerchores erlernt, der aus den Schülern der erwähnten Schule bestand, wozu kein persönliches Exemplar eines Gesangbuches nötig war. Es ist allerdings möglich, dass angesichts des rasch anwachsenden Repertoires (am Ende der 1530er Jahre lagen weit über 200 Gesänge vor) ein Wechsel in der Gesangspraxis einsetzte. So erwähnte Köpfel im »New Auserlesen Gesangbüchlin« von 154516, dass er die Strophen nummeriert habe, »daher die leut desto bas finden, wo vnd was man singet«. Das könnte ein Hinweis sein, dass einige Gottesdienstbesucher (die Hausherren) während des Gottesdienstes aus einem Gesangbuch sangen. Im Hinblick auf die Gesangspraxis bildet auch das große Kantional von 1541 eine Ausnahme. Durch seine aufwändige Herstellung und sein ungewöhnlich großes Format war es für Pfarrgemeinden und Schulen vorgesehen, die es für den Unterricht des Vorsängerchors und während des Gottesdienstes gebrauchten. Dabei wurde das Buch auf einem Lesepult aufgelegt. Sein Preis muss enorm gewesen sein, so dass kleinere Landgemeinden das Gesangbuch lieber abschrieben als es zu erwerben. Eine solche Abschrift ist uns aus der Gemeinde Effringen (heute ein Teil von Wildberg im Schwarzwald) bekannt.17 16 RISM 1545/05, HDN 48. 17 Eine solche Abschrift für die evangelische Gemeinde Effringen wurde um 1553 hergestellt (Stuttgart, Landeskirchliche Zentralbibliothek, A13 1553/H31. Dazu  : Beat Föllmi, Musik und Gesang in der reformatorischen Bewegung, in  : Madeleine Zeller und Christian Herrmann (Hg.), Der Sturmwind der Re­formation. Luther 1517, Ausstellungskatalog Straßburg 2017, S. 140).

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Abb. 2  : Teütsch Kirchen ampt/ mit lobgesengen/ un[d] götlichen psalmen, wie es die gemein zu Straßburg, singt un[d] halt/ gantz Christlich, Straßburg  : Köpfel, 1524 (VD16 M 4901), Titel (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 1085).

III Die Drucktechnik Die gewöhnlichen Straßburger Gesangbücher der ersten Jahrzehnte waren jedoch »Gebrauchsartikel«, die eine geringe Lebensdauer hatten. Das zeigt sich an der raschen Abfolge der Ausgaben. Köpfel druckte eine Ausgabe nach der anderen mit jeweils erweitertem und verändertem Repertoire  : 1525 »Theutsch kirchen ampt« (Abb. 2) und im selben Jahr »Straßburger kirchen ampt«, 1526 »Psalmen gebett und Kirchenübung« (vier Ausgaben), davon weitere, vermehrte Ausgaben 1530, 1533, 1536 und 1537, schließlich den Psalter in zwei sich ergänzenden Teilen 1538 und 1539  ; es folgten diverse Nachdrucke mit variierendem Inhalt 1541, 1543 und 1544. Es ist davon auszugehen, dass Köpfel die gedruckten Gesangbücher, die für den Straßburger Markt bestimmt waren, auch verkaufen konnte (sonst wäre er nicht so lange Zeit im Geschäft geblieben). Die Drucke mussten also kostengünstig hergestellt und zu geringem Preis verkauft werden. Dazu wurde die Holzschnitttechnik verwendet, die befriedigende, aber nicht hervorragende Resultate liefert. Große Auflagenzahlen ließen sich damit nicht herstellen. Alle Straßburger Gesangbücher bis zum Interim  – mit Ausnahme des Kantionals von 1541 (Abb.  1) und seiner beiden Nachdrucke  – wurden im Blockdruckverfah-

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ren mittels Holzschnitt hergestellt. Die etwas klobige Hufnagelnotation kam diesem Druckprozedere entgegen. Offensichtlich hat Köpfel die Holzplatten für verschiedene Ausgaben, selbst Jahre später noch, verwendet. Dabei wurde jede Notenzeile einzeln hergestellt und konnte so an unterschiedlicher Stelle auf der Seite platziert werden. Die Holzplatten wurden beim Drucken rasch abgenützt. Der Vergleich zwischen den beiden bei Köpfel erschienenen Ausgaben von »Psalmen gebett und Kirchenübung« von 1526 bzw. 153018 zeigt, dass dünne Linien wie Gliederungsstriche in der späteren Ausgabe oft ausgebrochen sind. Einen qualitativ hochstehenden Holzschnitt, dazu für Mensuralnotation, stellte Johann Knobloch der Jüngere für den Druck von Calvins »Aulcuns Pseaulmes et cantiques mys en chant« von 1539 her. Weshalb in Calvins Gesangbuch nicht die in Straßburg übliche Hufnagelnotation verwendet wurde, kann einerseits mit dem Zielpublikum, das aus französischen und flämischen Exilanten bestand, zusammenhängen, aber andererseits auch darauf hinweisen, dass Calvin mit dem Druck dieses Gesangbuches schon über die Mauern Straßburgs hinweg auf die spätere Verbreitung in Genf und der ganzen Welt abzielte. Dass die Verwendung des Holzschnitts wirtschaftliche Gründe hatte, ergibt sich daraus, dass der Typendoppeldruck (wie ihn Ottaviano Petrucci zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Venedig perfektioniert hatte) in Straßburg durchaus bekannt war. Denn mehrstimmige Musik (weltliche oder geistliche) in weißer Mensuralnotation wurde mittels dieses aufwändigen Druckverfahrens hergestellt, das sehr schöne Resultate hervorbringt. Dabei werden zuerst die Notenlinien gedruckt, dann in einem zweiten Durchgang die Noten, die aus einzelnen beweglichen Typen zusammengesetzt wurden. Auf diese Technik hatte sich in Straßburg die Offizin von Peter Schöfer und Matthias Apiarius spezialisiert. Diese Technik wurde hier erst ab 1545 auch für den Druck von Gesangbüchern eingesetzt  ; sie ersetzte von da an den Holzschnitt. Eine Ausnahme bildet das bereits mehrfach erwähnte große Kantional von 1541 (Abb. 1), das Georg Messerschmid im Mehrfachdruck herstellte  : Die Notenlinien wurden zuerst mit roter Farbe, dann die Noten selber mit schwarzer Farbe gedruckt. Besonders zu erwähnen ist, dass hier der Typendruck für die Hufnagelnotation eingesetzt wurde. Köpfel druckte 1545 und 1547 zwei Nachdrucke des großen Kantionals mit lutherischem Gesangsrepertoire in Mensuralnotation ebenfalls mittels des Typendoppeldrucks.

IV Ausstattung und Buchschmuck Aus der Notwendigkeit, einen niedrigen Verkaufspreis zu erreichen, und aus der relativen Kurzlebigkeit des Gesangbuchs ergibt sich, dass der Ausstattung und dem Buchschmuck in der Frühzeit des Straßburger Gesangbuchdrucks bis zum Interim nur eine 18 RISM 1526/08, HDB 16 und RISM 1530/06, HDB 19.

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Abb. 3  : Ordenung vnd ynnhalt Teütscher Mess vnd Vesper, Straßburg  : Wolfgang Köpfel, 1524/1525, Titel (Exemplar Strasbourg, Médiathèque protestante, 16.87/13).

untergeordnete Rolle zukam. Die Straßburger Gesangbücher sind im Allgemeinen kleinformatig, haben also das Oktav- oder Quartformat. Außer dem Titelblatt weisen sie in der Regel keinen weiteren Schmuck auf. Die Praxis, jede Abteilung des Gesangbuches mit einer passenden Abbildung zu versehen, kam erst nach dem Ende des Interims auf. Die Titelblätter sind in der Regel mit einfachen Zierleisten an den vier Seiten dekoriert. Dieses Prinzip wurde auch bei Wittenberger Gesangbüchern angewandt. Man setzte dieselben Holzschnitte oft bei mehreren Ausgaben ein, sogar bei verschieden lautenden Titeln. So druckte Wolfgang Köpfel »Ordenung vnd ynnhalt Teütscher Mess vnd Vesper« von 1524/1525 (Abb.  3)19 und das »Enchiridion geistlicher Gesänge« (mit fingiertem Druckort  ; vgl. Abb. 4)20 mit denselben Titelleisten. Köpfel hat später dieselben Abbildungen für mindestens fünf Folgeausgaben von »Psalmengebett und Kirchenübung«21 (zwischen 1526 und 1536) verwendet und somit eine grafische Einheit durch den Wiedererkennungseffekt geschaffen. 19 HDB 2. 20 RISM 1525/10, HDB 11. 21 RISM 1526/08, HDB 16  ; RISM 1526/09, HDB 17  ; RISM 1526/10, HDB 18  ; RISM 1530/06, HDB 19. Die Ausgabe von 1536 ist verschollen (RISM 1536/03, HDB 21).

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Abb. 4  : Enchiridion geistlicher gesenge, Straßburg  : Wolfgang Köpfel, 1525 (Exemplar Strasbourg, Médiathèque protestante, 16.87/14).

Das Titelblatt des Psalters von 1538 (Abb. 5) weicht erstmals von diesem Schema ab. Statt vier umlaufender Zierleisten ist hier eine einheitliche Rahmung in Form einer manieristischen Arkade mit Segmentbogen zu sehen. Dabei ist auf religiöse Bildsprache verzichtet worden – außer allenfalls beim Eckstein in Köpfels Druckermarke (nach Ps  118,22 bzw. Mt 21,42). Überhaupt weisen die Titelblätter einiger frühen Gesangbücher eine profane Bildsprache auf  : Putti, Fabelwesen, antike Vasen, Ranken – das Titelblatt des deutschen Credo, das als Einzeldruck 1524/1525 bei Johannes Knobloch dem Älteren erschienen ist, ziert sogar eine nackte Frau.22 Köpfel fand rasch zu einer Komposition des Titelblattes, indem er, wie erwähnt, vier Leisten um die Titelei anbrachte, deren Bildsprache bereits in den frühesten Drucken programmatisch religiös ist. Das »Teütsch kirchen ampt« von 1524 (Abb. 2)23 etwa zeigt im oberen Register zwei Evangelistensymbole, links den Stier für Lukas und rechts den Löwen für Markus  ; in der Mitte streckt Gottvater mit Mitra die Hände aus. Im linken Register sehen wir Jesus in der Bergpredigt vor einer Menschenmenge (darüber steht »Gloubet dem Evangelio«), rechts Jesu Taufe im Jordan. Im unteren Register waren in 22 RISM 1525/02, HDB 4. 23 So bereits in RISM 1524/15, HDB 5.

Die Straßburger Gesangbücher aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts 

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Abb. 5  : Psalter, Das seindt alle Psalmen Davids  : mit iren Melodeie[n], sampt vil Schönen Christlichen liedern unnd Kyrche[n] übunge[n], Straßburg  : Wolfgang Köpfel, 1538 (VD16 P 5184), Titel (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, liturg. 1128).

der Vorgängerausgabe24 desselben Jahres die beiden anderen Evangelisten zu sehen  : links der Adler für Johannes, rechts der Mensch für Matthäus. In der Folgeausgabe jedoch wurde eine Abbildung mit polemischer Ausrichtung eingefügt  : In der Mitte predigt Jesus vor einer großen Menschenmenge, darunter ist zu lesen »Der gerecht uß dem Glouben lebt«, während auf der linken Seite der Papst in den Mauern Roms gefangen ist. Diese Komposition griff Köpfel in den Ausgaben von »Psalmen gebett und kirchen übung« ab 1526 variiert auf  : Wiederum Gottvater im oberen Register, jedoch sind die Evangelistensymbole entfallen. Im linken Register ist die Geburt Jesu abgebildet, im rechten der Auferstandene, der aus dem Grab aufsteigt. Im unteren Register erscheint zum ersten Mal die Abendmahlszene. Das prächtige Kantional von 1541 (Abb.  1) ist durchgehend zweifarbig (rot und schwarz) gedruckt, die Initialen sind aufwändig gestaltet und die Rubriken mit Zierleisten geschmückt. Während das Titelblatt verhältnismäßig schlicht gestaltet ist und ohne biblische Bildsprache auskommt, findet sich im Innern ein künstlerisch anspruchsvoller Holzschnitt, den sehr wahrscheinlich Hans Baldung Grien angefertigt hat. Er ist drei Mal identisch, jeweils zu Beginn jeder neuen Abteilung, abgedruckt. 24 RISM 1524/16, HDB 6 (nur als Faksimile erhalten).

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Beat Föllmi

Abb. 6  : AVLCVNS pseaulmes et cantiques mys en chant, Straßburg  : Johann Knobloch d. J., 1539 (VD16 M 1064), Titel (Exemplar München, Bayerische Staatsbibliothek, Rar. 107).

Eine prächtige himmlische Szenerie eröffnet sich hier  : im Zentrum die Trinität (Gottvater mit Mitra, Christus gekrönt, der Heilige Geist als Taube dazwischen), links ist das Erste Testament abgebildet, mit König David und Harfe, darunter der Beginn von Psalm 150 in hebräischer Schrift, rechts das Neue Testament mit Paulus und Schwert, darunter das Zitat von Epheser 5,19 – beide Bibelstellen dienen als Beleg für das gottesdienstliche Singen  ; dazu passend links und rechts Engel, die eine Notentafel halten. Der Rundgang durch die Straßburger Gesangbuchlandschaft soll mit einem Büchlein beschlossen werden, das 1539 bei Johannes Knobloch dem Jüngeren erschienen ist (Abb. 6) – und aus dem gut zwanzig Jahre später etwas Großes hervorging, nämlich der eindrucksvolle Genfer Psalter. Die »Aulcuns Pseaulmes et cantiques mys en chant«25 könnten nicht minimalistischer gestaltet sein. Calvins kleines Psalmbüchlein von 1539 ist von geradezu radikaler calvinistischer Schlichtheit. Außer dem Titel und der Angabe »A Strasburg. 1539.« findet sich als einziges Zierelement ein kleines einfaches Blatt.

25 HDB 30114. Bei Pidoux  : ST 39 (Pierre Pidoux, Le Psautier huguenot du XVIe siècle. Mélodies et documents recueillis 1−2, Basel 1962).

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Blumen, Gärten und andächtige Seelen in evangelischen Gesangbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts »Ein verschlossener Garten bist du, meine Schwester liebe Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Born. Du bist wie ein Lustgarten von Granatäpfeln mit edlen Früchten […] allerlei Weihrauchsträuchern, Myrrhe und Aloe, mit allen feinen Gewürzen. Ein Gartenbrunn bist du, ein Born lebendiger Wasser, die vom Libanon fließen.«1

Dieses Zitat aus dem Hohelied 4,12−15 weist auf die wichtigen Kennzeichen des Gartens hin  : abgrenzt von der ihn umgegebenen Natur werden Blumen, Pflanzen und Bäume in künstlich angelegten Bereichen wie zum Beispiel Beeten, Terrassen, Pergolen oder Wäldern kultiviert, die durch Wege miteinander verbunden sind. Zur Anlage gehören häufig auch gefasste Wasserquellen, Brunnen oder Becken. Der Garten ist somit ein geschütztes Refugium, das Leib und Seele Nahrung und Erholung bietet. Diese Funktionen machten den Garten in der religiösen Literatur zu einer beliebten Metapher  : Schon die Kirchenväter verwendeten ihn als Symbol für die Jungfrau Maria, die Kirche, das Kloster und das spirituelle Leben.2 Im frühen Mittelalter dominierte die Deutung des Gartens als Kirche, im 12.  Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt auf den Seelengarten. Parallel wurde die Vorstellung vom Garten der Maria ausgebildet. Das himmlische Paradies stellte man ebenfalls als Garten dar. Darüber hinaus benutzte man den Garten als Rahmenallegorie für die Betrachtung der Lebens- und Leidensgeschichte Christi. Am Ende des 16. Jahrhunderts rückte die Frage um die glaubensmäßige Gestaltung der Frömmigkeit in den Mittelpunkt der protestantischen Alltagswelt und führte zu einer Frömmigkeitsbewegung.3 Zum Kennzeichnen der privaten »praxis pietatis« wurde 1 Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung, Lutherbibel revidiert 2017 mit Apokryphen, Stuttgart 2017, S. 697. 2 Émile Bertaud, Hortus, Hortulus, Jardin spiritual, in  : Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique, Bd. 7,1, Paris 1969, Sp. 766–784  ; Dietrich Schmidtke, Studien zur dingallegorischen Erbauungsliteratur des Spätmittelalters am Beispiel der Gartenallegorie, Tübingen 1982 (Hermaea, N. F., 43)  ; zu den Marienmetaphern gehören neben dem »hortus conclusus« auch der »fons hortorum« sowie der »fons signatus«  ; Esther  P. Wipfler, Fons hortorum, in  : Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte  10 (2004), Sp.  133– 140  : in  : RDK Labor, URL  : http://www.rdklabor.de/w/?oldid=89185 (letzter Zugriff  : 09.07.2019)  ; Dies., Esther P. Wipfler, Fons signatus, in  : Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. X (2004), Sp. 158– 175  ; in  : RDK Labor, URL  : http://www.rdklabor.de/w/?oldid=88782 (letzter Zugriff  : 09.07.2019). 3 Albrecht Beutel, Erbauungsliteratur, 2. Protestantismus, in  : Religion in Geschichte und Gegenwart [RGG] 2, 4. Aufl., Tübingen 1999, Sp. 1391−1392.

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die intensive Lektüre von Andachtsliteratur, ausgiebiges Beten und Singen. Auf dem Buchmarkt erschien eine große Anzahl deutschsprachiger Erbauungsliteratur, die sich aus altkirchlichen, mystischen sowie zeitgenössischen katholischen Quellen speiste.4 Neben der Andachtsliteratur spielte die geistliche Lieddichtung des 17. Jahrhunderts, die sich in zahlreichen Liedersammlungen und Andachtsbüchern niederschlug, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Insgesamt sind die Schriften für die private Frömmigkeit durch eine Konfessionsindifferenz geprägt. Auch im Pietismus wurde die »praxis pietatis« durch entsprechende Andachtsliteratur und Gesangbücher gefördert. In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, welche Gartenmetaphern in der protestantischen Andachtsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts aufgegriffen und wie sie in einzelnen Titeln, Vorreden und Illustrationen umgesetzt wurden.

I Von Seelen- und Paradiesgärten 1. Der Seelengarten »Denn wo wir uns daselbst fleissig finden lassen, so will JEsus unser himmlischer Gärtner und Seelen=Bräutigam, dem das Bet=Kämmerlein als sein eigener Garten mehr zustehet als uns selber, zu uns von seiner Himmels=Höhe gleichsam herab kommen, daß er sich weyde unter den [sic] Garten und Rosen breche.«5

Diese Beschreibung eines Seelengartens findet sich in dem Gebetbuch »Neues Geistliches Blumen= und Würtz= Gärtlein voll auserlener Kern=Sprüch und heiliger Gebeter« des pietistischen Pfarrers Ambrosius Wirth (1656−1723)6, das erstmals 1687 in Nürnberg erschienen ist (Abb. 1). Der Verfasser des Vorwortes7 von 1725 wendet sich an den frommen Leser, der sich in seine Kammer zurückgezogen hat, betet und sich auf eine seelische Begegnung mit Jesus vorbereitet. Durch das Beten wird die Seele 4 Dazu z. B.: Sibylle Appuhn-Radtke, Spirituelle Trendsetter. Jesuitische Andachtsbücher des Barock und ihre Wirkungen außerhalb der Societas, in  : Petronilla Cemus (Hg.), Bohemia Jesuitica 1556−2006, Prag 2010, S. 1201−1215  ; Walter S. Melion, From Mystical Garden to Gospel Harmony. Willem van Brangteghem on the Soul’s Conformation to Christ, in  : Walter S. Melion, Ralph Dekoninck, Agnes GuiderdoniBruslé (Hg.), Ut pictura meditatio. The Meditative Image in Northern Art, 1500–1700, Turnhout 2012 (Proteus. Studies in Early Modern Identity Formation, 4), S. 107−155. 5 Dem Gottseligen und Christlich=gesinnter Leser, in  : Ambrosius Wirth, Neu=eingerichtetes und vermehrtes Geistliches Blumen= und Würtz=Gärtlein voll Heiliger Gebeter und Andachten für alle, die nach Gott fragen, Nürnberg 1725, Bl. [A 2]v-Bl. [B 11]v  ; VD18 15352226 (http://mdz-nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:12-bsb10270859-3). 6 Matthias Simon, Nürnbergisches Pfarrerbuch, Die evangelische Geistlichkeit der Reichsstadt Nürnberg und ihres Gebietes 1524–1806, Nürnberg 1965, Ndr. 2018 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 41), § 63, 255, Nr. 1557. 7 Da Ambrosius Wirth 1723 verstorben ist, hat er vermutlich das Vorwort zu dieser dritten Auflage nicht mehr verfasst.

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Abb. 1  : Ambrosius Wirth, Geistliches Blumen- und Würtz-Gärtlein voll auserlesener Kern-Sprüche und heiliger Gebete […], Nürnberg  : Froberger, 1687, Kupfertitel (Exemplar Nürnberg, Stadtbibliothek, Theol. 8. 1005).

zuerst zum Betkämmerlein und dann zu einem Garten, in dem der Gärtner und Seelenbräutigam Jesus einzieht. Mit der letzten Zeile spielt der Verfasser auf das Hohelied 6,2 an (»Mein Freund ist hinabgegangen in seinen Garten, daß er weide in den Gärten und Rosen pflücke«)8. Unter den biblischen Quellen für die Gartenallegorie spielt das Hohelied eine besondere Rolle.9 In der mittelalterlichen Bibelexegese deutete man den »hortus conclusus« nicht nur mariologisch und ekklesiologisch, sondern bezog ihn auch auf die menschliche Seele.10 In seinem Kommentar zum Hohelied aus dem 12. Jahrhundert legte Honorius Augustodunensis den »hortus conclusus« im vierfachen Schriftsinn aus  : 1. als irdisches Paradies der Lust, 2. als himmlisches Paradies des Lobpreises, 3. als

  8 In Luthers 1534 in Wittenberg verlegter Übersetzung heißt es  : »Mein freund ist mein/und ich bin sein/ der unter den rosen sich weidet.«  ; in der revidierten Fassung der Lutherübersetzung von 1984 steht an dieser Stelle »Lilien«, in der revidierten Ausgabe von 2017 (Anm. 1) »Lotusblüten«.   9 Einen Überblick über die geistlichen Gärten bietet  : Bertaud 1969 (Anm. 2). 10 Vgl. für den folgenden Absatz  : Eva Börsch-Supan, Garten, in  : Lexikon der Christlichen Ikonographie [LCI] 2, Rom u. a. 1970, Sp. 80 f.; Christine Lauterbach, Garten, allegorisch, in  : RDK Labor (2015), URL  : http://www.rdklabor.de/w/?oldid=96197 (letzter Zugriff  : 25.01.2019).

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kirchliches Paradies der Religion und 4. als seelisches Paradies der Tugend.11 In dieser Tradition steht das bekannteste Gebetbuch des späten Mittelalters, der »Hortulus animae« oder in der oberdeutschen Fassung das »Seelengärtlein«.12 Nachdem bereits zahlreiche handschriftliche Ausgaben existierten, wurde es durch den Buchdruck noch weiter verbreitet.13 Allein zwischen 1498 und 1523 sind 52 lateinische, 36 oberdeutsche und 11 niederdeutsche Ausgaben sowie eine tschechische Übersetzung im Druck erschienen.14 Damit war der Titel des »Seelengärtleins« allgemein bekannt und wurde auch in den folgenden Jahrhunderten immer wieder aufgegriffen. In der ersten Ausgabe ist dem »Geistlichen Blumen= und Würtz=Gärtlein« ein Kupfertitel als Frontispiz vorangestellt.15 Der Titel steht im oberen Bereich in einem Rahmen aus Engelsköpfen, Muschelwerk sowie Frucht- und Blumengehängen. Im unteren Teil ist eine Gartenszene abgebildet. Der Garten selbst ist durch einen Arkadengang abgegrenzt, der in der Mitte zu einem Pavillon führt. Geometrisch angelegte und mit Blumen bepflanzte Beete mit Betonung der Zentralität deuten den Garten an. Davor stehen zwei Personen  : eine weibliche Figur, die mit ihrer rechten Hand auf einen blühenden Rosenstock weist und ein Engel, der von rechts auf sie zukommt und ihr einen Lilienzweig überreicht. Dargestellt ist die fromme Seele im Seelengarten, während sie auf ihren Seelenbräutigam wartet. Der Fingerzeig auf den Rosenstock verweist auf den bereits erwähnen Vers im Hohelied.16 Die beiden Blumen haben darüber hinaus noch weitere symbolische Bedeutungen. Lilie und Rose, die auch zu den Mariensymbolen gehören, stehen für Reinheit sowie die Sittlichkeit oder geistliche Schönheit der frommen Seele.17 Außerdem gehören der Rosenbaum und die Lilie zu den Pflanzen, die im Paradies wachsen, und deuten somit auf das (zukünftige) himmlische Paradies hin. 11 Lauterbach 2015 (Anm. 10), I. B. 12 Kurt Küppers, Hortulus animae, in  : Lexikon des Mittelalters 5, München/Zürich 1991, Sp. 130. Es enthält einen Kalender, Gebete zu Heiligen, Bittgebete, Gebet für den Tagesablauf, Mess- und Beichtgebete sowie Sterbegebete. Mit dem »Hortulus animae evangelisch« beginnt 1520 eine Reihe evangelischer Gesangbücher, die sich inhaltlich erheblich von den katholischen Seelengärten unterscheiden. So werden in den evangelischen Fassungen die Gebete für die Heiligen und die Jungfrau Maria gestrichen und dafür eine evangelische Erklärung des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers, eine Ablehnung der Heiligenverehrung sowie Gebete von Reformatoren eingefügt  ; vgl. dazu Jeung Keun Park, Johann Arndts Paradiesgärtlein. Eine Untersuchung zu Entstehung, Quellen, Rezeption und Wirkung, Göttingen 2018 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 248), S. 118−121. 13 Franz Xaver Haimerl, Mittelalterliche Frömmigkeit im Spiegel der Gebetbuchliteratur Süddeutschlands, München 1952 (Münchner theologische Studien, 1,4), S. 119−148. 14 Gerard Achten, Gebetbücher  II, in  : Theologische Realenzyklopädie [TRE]  12, Berlin/New York 1984, S. 105−109, hier S. 108. 15 Kupfertitel in  : [Ambrosius Wirth] Geistliches Blumen= und Würtz=Gärtlein voll schöner auserlesener Kern=Sprüche und heiliger Gebete für die mit Christi Blut theuer erlöste Jugend und andere einfältige Christen, Nürnberg 1687. VD17 75:648776X, Abb. nach den Schlüsselseiten. 16 In der ersten Auflage steht der Bibelvers auf dem Titelblatt. 17 Margarete Pfister-Burkhalter, Lilie, in  : LCI (Anm. 10) 3, Rom u. a. 1971, Sp. 100−102  ; Renate Schumacher-Wolfgarten, Rose, in  : LCI (Anm. 10) 3, Rom u. a. 1971, Sp. 563−568.

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Abb. 2  : Johann Gottfried Olearius, Geistliches Seelen-Paradies und Lust-Garten Des allerheiligsten Lebens Jesu Christi […], Nürnberg  : Hoffmann, 1669, Kupfertitel (München, Bayerische Staatsbibliothek, Asc. 3555).

2. Der Heilige Garten Das Titelbild zum »Geistlichen Seelen-Paradies und Lust-Garten« (Nürnberg 1669  ; Abb.  2)18 des lutherischen Theologen Johann Gottfried Olearius19 erinnert in seiner Gestaltung an ein Emblem  ; die »inscriptio« steht im Spruchband im oberen Teil, die »pictura« befindet sich in der Mitte und die »subscriptio« im unteren Teil. Gleichzeitig handelt es sich um einen Kupfertitel, da der Titel des Buches auf der Innenseite der Gartentür geschrieben steht. Das Motto ist der Beginn des Verses Mt 11,28  : »Kompt 18 Johann Gottfried Olearius, Geisitlches Seelen=Paradies und Lust=Garten. Des allerheiligsten Lebens Jesu Christi unsers hochgelobten Herrn und Heylandes. Darinnen Die Geheinmüsse solches Lebens/ in 24. Capiteln kürtzlich und erbaulich betrachtet/ Wie auch vermittelst so viel schöner meistentheils Bib­lischer Gewächse und Blumen anmuthig fürgestellet und in schöne Kupffer abgebildet/ Und zu Erweckung schuldiger Dancksagung mit Gebeten und Gesängen andächtig angewendet werden, Nürnberg  : Johann Hofmann 1669, VD 17 12:102797T  : http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bv:12-bsb10265845-2 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). 19 Johann Gottfried Olearius (1635−1711) war evangelischer Theologe und Kirchenlieddichter. Walter Troxler, Olearius, Johann Gottfried, in  : Traugott Bautz (Hg.), Biographisch-Bibliographisches Kirchen­ lexikon [BBKL] 6, Hamm 1993, Sp. 1189−1190.

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her zu mir alle«. Darunter ist der Sprecher Jesus halbfigurig mit Segensgestus dargestellt. Der »salvator mundi«, der in seiner linken Hand die Weltkugel hält und auf dem Haupt eine Dornenkrone trägt, ist von einem Kranz aus Blumen und Engelsköpfen umgeben. Darunter in der Mitte ist eine Szene mit einer weiblichen Figur vor einem prächtigen Portal zu sehen, dessen Tür geöffnet ist und den Blick auf einen Garten freigibt. In diesem Garten steht ein Springbrunnen mit zwei Schalen, das Wasser ergießt sich im hohen Bogen von der oberen Schale in die untere. Im Hintergrund wird der Garten durch zwei Beete und Baumreihen angedeutet. Rechts vor dem Portal sitzt eine Frau, neben sich einen Korb mit Rosen, und hält einen Bilderrahmen in ihren Händen. Neben ihren Füßen steht ein Vers aus Hohelied 2,3 »Ich sitze unter dem Schatten, des ich begehre«. Die weibliche Gestalt wird – durch den Bibelspruch – zur Liebenden im Hohelied, die das Bild des Geliebten anblickt. Die drei Elemente, die den Gartenbereich bestimmen – die Tür, der Brunnen und der im Hintergrund angedeutete Garten  – verweisen auf den »hortus sacer« oder »Heilig Garten«.20 Diese mystische Schrift des Alphonso de Orosco beschreibt die Pilgerfahrt einer Seele, die durch Lektüre, Meditation und Gebet in den heiligen Garten gelangt.21 Über das »Paradies-Gärtlein« des Johann Arndt wurde diese mystische Vorstellung in die lutherische Frömmigkeit vermittelt. Danach verkörpert die Frau die fromme Seele [des Lesers], die sich in die Leidensgeschichte Jesu versenkt hat, wie die Rosenblüten im Korb zeigen.22 Auch das Epigramm betont, dass die Andacht auf Jesus ausgerichtet werden soll. Jesus ist es, der das Herz erfreut, der Seele Ruhe gibt und die Seele schließlich in einer Gottesbegegnung ins Paradies führt. Dabei kommt dem Andachtsbuch selbst, wie die Titelformulierung auf der Innenseite der Tür belegt, die Bedeutung eines Schlüssels zu. In beiden vorgestellten Kupfertiteln wird die auf ihren Seelen-Bräutigam wartende Seele dargestellt. Dieses Motiv, mit dem sich der Leser identifizieren kann, ist auch in katholischen Andachtsbüchern zu finden  ; so zum Beispiel als bildliche Darstellung auf dem Frontispiz des »Himmlischen Palm Gärtleins« von Wilhelm Nakatemus (1. Aufl., Köln  : Johann Wilhelm Huisch, 1736)23 oder in der Titelformulierung »Neu- angelegter- geistlicher Blumen=Garten, in welchem die Geistliche Braut ihren Geliebten ladet […] allen christ=catholischen Hertzen« (Prag 1720)24.

20 Park 2018 (Anm. 12), S. 176−177. 21 Ebd. 22 Die Rosen verweisen mit den Dornen auf die Passion Christi, vgl. dazu den folgenden Abschnitt 2. Rosengärten und Rosen. 23 Unverändert in die 7. Auflage übernommen  : Nakatenus Himmlisch Palm-Gärtlein, Zur beständigen Andacht, und geistlichen Ubungen […], Köln/Frankfurt a.  M.: Franz Wilhelm Joseph Metternich, 1770  ; VD18 11325356  : RN urn:nbn:de:gbv:3:1-701021 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). 24 VD 18 90632966  : https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN898730783 (letzter Zugriff  : 26.04.2020).

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3. Paradiesgarten In der mittelalterlichen Bibelexegese war die Deutung des Paradieses weitaus komplexer als die des Gartens.25 So konnte das Paradies als Sigle für den Zustand der Menschen vor dem Sündenfall, für die Spekulationen über das von Jesus aufgeschlossene Paradies (der Kirche) und das eschatologische Paradies gelesen werden. Durch den Bericht der Vision des Apostels Paulus (2. Kor 12,2−4) war das Paradies von Anfang an mit dem Mystischen und der Gottesschau verbunden. In der Vorrede zum »Geistlichen Blum= und Rosen=Garten der Andachts=flam­ menden und Himmels=begierigen Seelen / Gott gefälligs und Kirchen=Paradiß« stellt der unbekannte Verfasser den Weg des Menschen ins himmlische Paradies als Gang durch eine Folge von Gärten vor.26 Vom Erdengarten tritt der Mensch in das kirchliche Paradies ein, gelangt über Gebet und Andacht in den Seelengarten und wird schließlich – nach seinem Tod – in das himmlische Paradies eingelassen. Auf diesem Gang durch die Gärten wird der sündige Mensch geläutert und kommt der Anwesenheit Gottes immer näher. Den Erdengarten, der für die reale Welt steht, prägt das Nebeneinander von Giftpflanzen (wie das Unkraut falscher Lehren Mt 13,25), wirksamen Arzneipflanzen (wie der bittere Wermut des Allgemeinen Jer 23,15) und – als Vorboten des himmlischen Paradieses  – Zierblumen (wie die Kaiser- oder Himmelskrone Ps 8,6).27 Im Zentrum des Kirchenparadieses steht der »Evangelische Trost= und (Tauff=) Brunnen/ lauter lebendigen Wassers«, um ihn herum wachsen »Glaubens=Rosen«, »Andachts=Nelcken« und andere »Christ=Blumen«.28 In diesem Garten soll der Christ nicht nur gestärkt und getröstet werden, sondern auch lernen, ein gottesfürchtiges Leben zu führen. Das Zentrum bildet der »Evangelische Trost= und (Tauff=)Brunnen/ lauter lebendiges Wassers«, der den frommen Christen stärken und erquicken soll. Darüber hinaus steht ihm mit der »Hacke« der zehn Gebote auch ein Werkzeug zur Verfügung, um die »Sünden=Schollen« wegräumen und den »Weinberg [seiner] Seelen recht« pflegen zu können. Das »Bet=Paradies« oder der »Seelen Lust=Garte[n] liegt innerhalb des Kirchenparadieses.29 Hier findet die andächtige Seele vor allem die Bibel als Baum des Lebens, 25 Vgl. zum folgenden Absatz die Ausführungen zu Garten und Paradies bei  : Schmidtke 1982 (Anm. 2)  ; S. 402–404. 26 E. Chr. S. von Wolgast, Geistlicher Blum= und Rosen=Garten der Andacht=flammenden und Himmels= begierigen Seelen, Gott gefälligs Kirchen=Paradies, das ist: Bet=Beicht=Communion=Creutz & Sterbe= Büchlein […], Nürnberg: Johann Hofmann 1686, Bl.  [3]r–Bl.  [9]v: http://mdz-nbn-resolving.de/urn: nbn:de:bvb:12-bsb11292340-2 (letzter Zugriff: 14.04.2020). 27 Als Erläuterung zur Bedeutung der Pflanzen gibt der Vorredner die angegebenen Bibelstellen an (ebd., Bl. [4]r–[4]v). 28 Beschreibung des Kirchenparadieses  : ebd., Bl. [5]r–[7]r. 29 Beschreibung des Betparadieses  : ebd., Bl. [7]r–[7]v.

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die Psalmen Davids als herrlichen »Rosmarin=Wald« oder das »Vaterunser« als kleines »Würtz=Gärtlein« und kann sich durch Gebet sowie Andacht Gott nähern. Außerdem steht hier eine »Wolverwahrte Engel=Burg«, in die sich die Seele bei Anfechtung und Verfolgung retten kann, da das Kirchenparadies immer durch den Satan bedroht wird, der »Unkraut« einstreut sowie Anfechtung der Gläubigen, Mord und Krieg bringt. Im himmlischen Paradies steht ebenfalls ein »Gnaden=Brunn«, aus dem das Wasser des Lebens fließt.30 Hier wachsen die Bäume der christlichen Tugenden, aus deren Samen Blumen und Bäume wachsen, die in den Garten des Herzens versetzt werden können.31 Das Beispiel dieser Vorrede zeigt, dass die Vielgestaltigkeit der Paradies-Metapher im 17. Jahrhundert präsent war und auch verwendet wurde. Über die mittelalterlichen Deutungen hinaus benutzte der Verfasser die Metapher des »Bet-Paradieses«, die er als Synonym für den Seelengarten verwendete. So wird der Garten sowohl zum Sinnbild der Seele für das Herz als auch für den Tugendgarten im Herzen.32 Die gesamte Vorrede zeichnet sich durch die Aufnahme einer Vielzahl von Pflanzenund Gartenbildern aus. Neben Pflanzen mit metaphorischen Namen wie der »PfingstRose«, der »Himmels-Cron« oder Teuffels-Milch« werden einzelne Pflanzen mit bestimmten Eigenschaften verknüpft, wie z. B. die Distel mit der Wollust und Weltsorgen, das Katzenkraut mit Neid und Hader oder die Kletten mit der Verleumdung. Auch Teile der Bibel und Gebete werden als Wälder, Bäume und Gärten beschrieben, so wird ein Wald aus Rosmarin oder Palmen als Metapher für die Psalmen Davids verwendet, ein kleines »Würtzgärtlein« voll »Seuffzer-Blumen« als Bild für das Vaterunser benutzt oder verschiedene Aspekte des Evangeliums anhand der Teile eines Baumes beschrieben.

II Rosengärten und Rosen Innerhalb der Gartenmetaphorik kommt bestimmten Pflanzen wie der Rose oder der Passionsblume besondere symbolische Bedeutung zu.33 So ist die Rose traditionell ein Symbol für Maria, den Paradiesgarten und die Passion Christi.34 Mit seinem »Hortulus Rosarum« verfasste Thomas von Kempen ein Erbauungsbuch, das in vielen Ausgaben auch

30 Ebd., Bl. [8]r. 31 Diese Bilder des Wachsens, aber auch der Gartenpflege als Allegorie zur Erziehung zu einem tugendhaften Menschen waren seit der Renaissance verbreitet  ; vgl. dazu Lauterbach 2015 (Anm. 10), II. C. 3. 32 Zur Deutung des Gartens als Tugendgarten vgl. ebd. 33 Die Passionsblume steht im Titel des Andachtsbuchs von Ahasver Fritsch »Acht schöne Passions-Blumen/ oder Tractätlein«, 1680. Auf die doppelte Bedeutung der Passionsblume wird in dem Titel »Paßions- und Catechismus-Blumen« des 1733 erschienenen Predigtbands von Johann Siegmund Suschke angespielt. 34 Schumacher-Wolfgarten 1994 (Anm.  17). Die Dornen der Rose verweisen auf den Dornenkranz, die fünfblättrige Rose auf die Wunden Christi am Kreuz (Jürgen Krüger, Rose, in  : Lexikon für Theologie und Kirche [LThK] 8, 3. Aufl., Freiburg i. B. u. a. 1999, Sp. 1300−1301).

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auf Deutsch im Druck erschien.35 Seit dem Mittelalter gab es eine Reihe von katholischen und dann auch evangelischen Andachtsbüchern, die beginnend mit dem »Hortulus Rosarum« den »Rosengarten« im Titel tragen. Als Beispiele seien die »Rosae D. Mariae. Das ist Christliches und Geistliches Rosengärtlein« von Conrad Rosbach (Frankfurt 1587), »Innerliches Paradeys, Oder Geistlicher Rosengarten« von Paolo Manassei (Wien 1643), »Geistliches Rosengaertlein, oder Catholisch Bettbüchlein« (Sulzbach ca. 1690) und von Wolgasts »Geistlicher Blum- und Rosen-Garten« (Nürnberg 1686) genannt. Anhand eines Andachtsbuches und eines Gesangbuches soll im Folgenden gezeigt werden, in welchen Sinnzusammenhängen das Symbol des Rosengartens und der Rose verwendet wurde. 1. Metaphorik in der Buchgraphik Die Gestaltung des Titelblatts von Johannes Fabricius’ Werk zeigt das Bild eines gut gepflegten Rosengartens (Abb. 3).36 Das Blatt ist von einer blühenden, rankenden Rose bedeckt. Auf diesem Rosenfeld sind im oberen Teil zwei Putten mit Blumenkörben zu sehen, die auf der Kartusche mit dem Titel sitzen. Darunter ist in einer zweiten Kartusche eine Gartenszene abgebildet, die die Funktion des Buches erläutert. Der Garten besteht aus drei Beeten, zwischen denen frisch angelegte Wege verlaufen, am linken Rand ist ein Gärtner gerade dabei, mit dem Spaten ein Stück Erde abzustechen und den Weg zu verlängern. Ein zweiter kniet auf dem Beet in der Mitte und arbeitet. Wie seit dem Mittelalter üblich, sind die Beete deutlich höher als der Weg und durch Bretter eingefasst, also Hochbeete.37 In dem Garten sind verschiedene Pflanzen zu sehen  : rechts im vorderen Beet ein Weinstock, auf einem zweiten Beet rankt sich eine Pflanze um ein Spalier und links ist eine Rose zu sehen. Außerdem windet sich um den Querbalken des Spaliers eine Schlange. Der Weinstock, die Rose und die Schlange weisen auf einzelne Metaphern oder biblische Erzählungen hin.38 Das vorliegende »Rosengärtlein« soll mit den neu angelegten Wegen Zugang zu biblischem Trost bieten. Dementsprechend ist der Text als Gang zu den sechs Beeten des Gartens angelegt.

35 Nicolaus C. Heutger, Thomas von Kempen, in  : BBKL (Anm. 19) 11, Herzberg 1996, Sp. 1396–1398. 36 Johannes Fabricius, Christlicher Rosengart. Darauß ein jeder Christ in allerley Creutz/ Trübsal/ Angst und Not/ Kräuterlein/ Blümblein unnd mancherley schöne Rößlein/ zur Labung und Erquickung/ abbrechen mag, Nürnberg 1612, VD17 23:672175R  : http://diglib.hab.de/drucke/ts-316-2s/start.htm (letzter Zugriff  : 14.04.2020). Die erste Ausgabe erschien in Frankfurt an der Oder 1584, eine zweite in Nürnberg 1602. 37 Vgl. dazu Ulrich Willerding, Gärten und Pflanzen des Mittelalters, in  : Maureen Carroll-Spillecke (Hg.), Der Garten von der Antike bis zum Mittelalter, 3.  Aufl., Mainz 1998 (Kulturgeschichte der antiken Welt, 57), S. 249−284. 38 Z. B. erinnert der Weinstock an Joh 15,5 und die Arbeiter im Weinberg Mt 20,1−16  ; die Rose verweist auf Hld 2,1−2  ; die Schlange verweist auf den Sündenfall (Gen 3,1−5) und die Berufung des Mose (Ex 3,2−4).

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Abb. 3  : Johannes Fabricius, Christlicher Rosengart […], Nürnberg  : Endter 1612, Kupfertitel, HAB Wolfenbüttel M  : Ts 316 (2).

Die Gliederung des Gesamttextes als Gang durch einen Garten oder das Betrachten einzelner Blumen bot sich besonders für Andachtsliteratur und Gebetbücher an.39 Im Spätmittelalter benutzten vorrangig die Verfasser von Traktaten über das Leben und die Passion Christi die Rosengartenmetapher als Rahmenallegorie.40 Dabei ist der Ort das Herz oder die Seele des andächtigen Lesers, in dem sich der Passionsgarten öffnet. Ein Beispiel für diese Textgruppe ist der mittelalterliche »Rosengarten des Leidens Christi«.41 Dem Haupttext geht ein Abschnitt voraus, in dem Empfehlungen für die Lektüre gegeben werden. Um zur rechten Andacht zu kommen und die Gegenwart Jesu empfinden zu können, soll der Leser regelmäßig in den Rosengarten gehen, das heißt lesen und meditieren. Dann werden anhand einer Reihe von verschiedenen Rosenstöcken die Stationen von Christi Lebensweg vergegenwärtigt. Fabricius greift diese Anlage auf, allerdings wählt er mit der christlichen Bewältigung von Krisen ein neues Thema. Zuerst beschreibt er die vier »Schlüssel«, die für 39 Die Lieder in Gesangbüchern und Liedersammlungen sind dagegen üblicherweise nach Rubriken der De-tempore-Ordnung oder einzelnen Anlässen angeordnet. 40 Lauterbach 2015 (Anm. 10), II. B. 1. 41 Zur Anlage des »Rosengartens des Leidens Christi« vgl. Schmidtke 1982 (Anm. 2), S. 405−412.

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eine Lektüre nötig sind  : ein bußfertiges Herz, der Glaube, die Gnade des Heiligen Geistes und das Gebet. Im Anschluss folgt der Haupttext zum christlichen Umgang mit Not und Unglück. Dabei stehen Rosen (und andere Blumen) symbolisch für die Themen der Andachten, z. B. die Rose mit roten und weißen Blättern für die Anfechtung des Menschen als Prüfung Gottes. Die Rose mit den blutroten Blättern erinnert daran, dass die Nachfolge Christi durch Leiden geprägt ist. 2. Der Rosengarten als Symbol der Kirche In einer zweiten Bedeutung benutzt Fabricius die Metapher im Vorwort seines Werkes  :42 Hier steht der Rosengarten für die christliche Kirche bzw. die Kirchengeschichte. Damit steht das Werk in der Tradition der Erbauungsliteratur des 16. Jahrhunderts.43 In seiner Darstellung symbolisieren das Wachsen und Blühen der Rose die positive Entwicklung der Kirche, der Verfall zeigt sich im Wuchern des Unkrauts. Fabricius vergleicht  : Wie in einem Garten die Rosen ständig von Dornen und Disteln umgeben sind, die sie zu überwuchern und zu erdrücken drohen, so wird auch die christliche Kirche durch den Teufel und seinen Anhang bedroht. Als Bundesgenossen des Teufels zählt er auf  : »öffentliche Feinde der göttlichen Waarheit/ mit Rotten und Secten/ Tyrannen und Frefel/ Gewalt und List/ Heucheley/ Betrug und Sophisterey/ mit mancherley Sünd«. Die biblischen Geschichten insbesondere der Erzväter zeigen, dass der »Rosengarten« seit Beginn der Zeit ständig bedroht war. »Und hat er [der Teufel] nicht den wilden Zweig und stacheligen Dornstrauch Cain dahin gebracht/ daß er die hübsche/ feine Rosen/ seinen frommen Bruder Abel jämmerlich und unschuldig zu tod schlug  ;«44

Es sind Gottvater und Jesus, die den Garten pflegen.45 Nach Erfüllung der Zeit ist Jesus Mensch geworden, um seine Kirche zu retten. Der »Himlische Gärtner/ Jesus Christus selbst […] [ist] zu uns auf Erden kommen vnnd hat sich seinen Zweygen/ der wahren Rosen/ das ist der christlichen Kirche […] angenommen«.46 Im dritten Abschnitt behandelt Fabricius die neuere Kirchengeschichte. Dabei interpretiert er die Reformation als Kampf des – von Gott eingesetzten – Gärtners Martin Luther gegen den »Distelkopff/ des Höllischen Bapstes«.47 Damit knüpft Fabricius an die Bildwelt der protestantischen Flugblätter der Reformationszeit an, in der der ver42 Fabricius 1612 (Anm. 36), Bl. [Aii]v−[B iiii]r. 43 Schmidtke 1982 (Anm. 2), S. 398. 44 Fabricius 1612 (Anm. 36), [A iii]v. 45 »Denn Christus der rechte Gärtner hat Abraham […] beruffen/ zu einem herzlichen und schönen Zweyge der Rosen« (ebd., [A iiii]v). 46 Ebd. [A v]v−[A vi]r. 47 Ebd. [A vii]r.

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wilderte oder verwüstete Weingarten für den Verfall der katholischen Kirche steht.48 Somit zeigt sich das erstmals 1584 erschienene Werk als typischer Vertreter einer polemischen Konfessionspropaganda im 16. Jahrhundert.49 3. Die Rosenblüte als vielgestaltige Metapher Die Rosenblüte hat der evangelische Theologe und Dichter Johann Balthasar Beyschlag50 für den Titel seiner Liedersammlung gewählt. Dabei repräsentiert der Blütenkopf mit seinen hundert Blättern die Sammlung der 100 Lieder. »Centifolia Melica.51 Das ist Hunderblättrige Lieder-Rose oder Hundert Geistliche Gesänge zu Gottes Lob und Frommer Seelen Erbauung in dem Sionistischen Blumen-Garten« (1. Auflage 1716 in Schwäbisch Hall).52 Auf das Titelblatt folgt ein Vorwort, dann werden die Lieder, in Rubriken angeordnet, abgedruckt. Den Band beschließt ein alphabetisches Register der Liedanfänge. Ein Kupfertitel oder andere Illustrationen sind nicht enthalten. Allerdings erläutert der Verfasser den Titel des Gesangbuchs in seinem Vorwort. Mit der Rose bezieht sich Beyschlag auf die Psalmen Davids, insbesondere das »Brautlied« (45. Psalm) sowie den 69. Psalm, die beide nach der »Weise der Rosen« zu singen seien.53 Sie ge48 Alois Thomas, Weinberg, in  : LCI (Anm. 10) 4, Rom u. a. 1972, Sp. 486−488. 49 Auch am Ende 17. Jahrhunderts wird der Rosengarten als Metapher für die christliche Kirche verwendet, allerdings ohne die katholische Kirche zu verunglimpfen, vgl. dazu die Vorrede des »Geistlichen Blum= und Rosen=Garten«  : So erwarten den Christen nicht nur Trost und Erbauung durch die Schrift und die Glaubenslehren, sondern auch die vom Satan stammenden »feurigen Gifft-Pfeile der Anfechtungen« sowie »Unkraut der Ärgernisse«  : »So hetzet er [der Satan] auch seine Braut die Welt an/die dem Garten allen Jammer und Hertzleid anleget/mit Krieg und Ungemach/mit Schmach und Verfolgung/mit Mord und Verdammung.« (Wolgast 1686 [Anm. 26], Bl. [6]v-[7]r). 50 Johann Balthasar Beyschlag (1669−1717) war evangelischer Pfarrer, Autor von Andachtsliteratur und Kirchenlieddichter. Seine Lieder »Es lebt ja noch der alte Gott«, »Im Himmel ist gut wohnen«, »Mein liebster Heiland, Jesus Christ« und »Nur Flügel, ja dem Himmel zu« sind in andere Kirchengesangbücher aufgenommen worden  ; Beyschlag, Johann Balthasar, in  : BBKL (Anm. 19) 1, Hamm 1975, Sp. 571. 51 Johann Balthasar Beyschlag, Centifolia Melica. Das ist  : Hundert-blätterige Lieder-Rose Oder  : Hundert Geistliche Gesänge, Zu Gottes Lob und frommer Seelen Erbauung in dem Sionitischen Blumen-Garten, 3.  Aufl., Nürnberg  : Endter, 1721, VD 18 10099093  : https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN637841735 (letzter Zugriff  : 26.04.2020). Der Titel der »Hundertblättrigen Rose« wurde auch für andere Sammlungen benutzt, z. B. für ein katholisches Erbauungsbuch oder die Geschichte der Akademie der Jesuiten in Klagenfurt. Franz Mayr (Hg.), Centifolia Oder Gefüllte Rosen mit hundert Blätern, Das ist  : Hundert Historien von dem heiligsten Namen Maria. Auß Underschiedlichen approbirt-gelehrt- vnd bewehrten Autoribus heraußgenommen, vnd in drey Psalter […] abgetheilet, München 1723  ; Karl Pfeiffersberg und Johannes Friedrich Wolfgang Löber, Rosa Centifolia, Sive Primum Saeculum Archi-Ducalis & Academici S. J. Gymnasij Clagentfurtensis, Klagenfurt 1705  ; vgl. auch Jan David S. J., Pancarpium marianum, Antwerpen 1618. 52 Johann Balthasar Beyschlag, Werthester Leser  !, in  : Ders. 1723 (Anm. 51), S. 3−4. 53 In der Luther-Übersetzung von 1534 heißt es vom 45. Psalm »Ein Braut lied und unterweisung der kinder korah/von den Rosen / vor zu singen« und vom 69. Psalm entsprechend »Ein Psalm Davids von den Rosen vor zu singen«, in der revidierten Ausgabe von 2017 (Anm. 1) wird nicht Rosen, sondern »Lilien« übersetzt wie schon in der revidierten Ausgabe von 1984.

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hören  – als Teil der Bibel  – zu dem »Schrifft=Paradiß, dem lieblichen Lust=Garten GOttes«.54 Im weiteren Verlauf benutzt er weitere Rosenmetaphern  : »Von Grund des Hertzens wünschend, daß die Blume zu Saron, die Rose im Thal, JEsus, die Sonne der Gerechtigkeit, mit den Strahlen seiner Güte ihn [den Leser] und alle frommen Seelen beleuchten, und mit dem Thau des Geistes also befeuchten und stärken wolle, daß sie wachsen wie die Rosen an den Bächlein gepflanzet und geben süßen Geruch, ja, daß sie seyn mögen Centifolien mit hundertfältigem geist= und lieblichen Segen von GOtt geschmückt bis sie in dem Himmels-Paradiß Rosen ohne Dornen brechen, mit Liebes=Blumen von dem himmlischen Bräutigam erquickt, mit allen Auserwählten das Braut=Lied von den Rosen vor dem Stuhl des Lammes samt seinem ewigen Halleluja singen werden.«55

Der Verfasser vergleicht den Leser und mit ihm alle frommen Seelen mit Rosen, die durch Lektüre und Andacht geistlich wachsen, blühen und duften sollen. Dabei sei es Jesus, der durch Sonnenstrahlen und Tau dieses Wachstum erst ermögliche. Die »Rose ohne Dornen«  – anknüpfend an die Rosensymbolik für Maria seit Caelius Sedulius (5. Jahrhundert) – steht für die geistliche Reinheit bzw. Sündenlosigkeit, die die Gläubigen im Paradies erlangt haben werden. Schließlich greift der Autor den Psalm Davids wieder auf und setzt ihn in einen eschatologischen Kontext. Nach Offenbarung 14,1 f. singen die Auserwählten vor dem Stuhl des Lammes ein neues Lied, nach Meinung des Autors ist es der erwähnte Psalm Davids auf die Melodie der Rose. Beyschlag benutzt die Rose als vielgestaltige Metapher. Bemerkenswert ist, dass er die Rose – über die traditionellen Deutungen hinaus – als Sinnbild für die Psalmen (als Rosen im Schriftparadies), die Leser (die durch ihre Andachten geistlich wachsen und blühen sollen) sowie den eschatologischen Gesang in der Offenbarung verwendet und somit neue Bedeutungen geprägt hat.

III Jesus im Garten: Seelenbräutigam und Gärtner 1. Der Seelenbräutigam Bereits mit dem Titel »Himmlische Garten-Gesellschaft«56 weist Johann Q ­ uirsfeld57 auf das Thema des Kupfertitels hin, die Begegnung der Seele mit ihrem Bräutigam (Abb. 4). Bei dem Frontispiz zur Ausgabe von 1678 wird der Blick des Betrachters durch ein Tor 54 Beyschlag 1723 (Anm. 51), S. 3. 55 Ebd., S. 4. 56 Johann Quirsfeld, Neuvermehrte him[m]lische Garten-Gesellschafft bestehend in Funffzig Geistlichen Gesprächen zwischen Christo und einer gläubigen Seele, Leipzig  : Kaspar Lunitz und Christoph Günther, 1678, VD 17 3:311716M  : http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-545967 (letzter Zugriff  : 14.04.2020). 57 Johann Quirsfeld (1642−1686) war sowohl Theologe als auch Kantor und veröffentlichte neben Er-

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Abb. 4  : M. Johann Quirsfeldes neuvermehrte him[m]lische Garten=Gesellschafft […], Leipzig  : Lunitz und Günther 1678, S. [7] (Exemplar Halle a. d. Saale, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, AB 49340).

auf einen dahinterliegenden Garten mit einem Paar gelenkt. Bei diesem handelt es sich um Christus, der seine Arme um eine weibliche Person gelegt hat. Sie stehen im hinteren Teil eines Gartens und werden von einem überirdischen Licht bestrahlt. Vor ihnen sind acht geometrisch angelegte und mit Blumen bepflanzte Beete zu sehen.58 Das prächtige Tor im Vordergrund erinnert an einen Triumphbogen. Rechts und links steht jeweils auf einem Postament eine korinthische Säule und trägt ein verkröpftes Gebälk. Auf dem Gebälk stehen zwei gefüllte Blumenvasen, dazwischen ist ein Blumenkranz mit dem Titel des Buches »Neu-vermehrte Him[m]lische Garten-Gesellschaft« abgebildet. An den korinthischen Säulen lehnen zwei Engel, die den Vorhang zur Seite gezogen haben und somit den Blick auf den dahinterliegenden Garten freigeben. Der Bildraum ist in mehrere Räume gestaffelt. Auf der ersten Ebene befindet sich das Tuch mit den Verlegerangaben, dahinter das Tor und schließlich der Garten. In bauungsliteratur Choralbücher, ein Gesangbuch sowie ein musikalisches Lehrbuch (Moritz Fürstenau, Quirsfeld, Johann D., in  : Allgemeine Deutsche Biographie 27, Leipzig 1888, S. 48). 58 Der Garten ist ein barocker Garten, das zeigt sich darin, dass er durch eine Balustrade abgegrenzt, mit deutlichen Zentralitätsbezug, aber ohne Bezug auf ein ihn umgebenes Bauwerk angelegt ist  ; vgl. dazu Willerding 1998 (Anm. 37), S. 261.

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Abb. 5  : Garten= Gesellschafft […], Leipzig  : Lunitz und Günther 1678, S. [7] (Exemplar Halle a. d. Saale, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, AB 49340).

den Garten führen mehrere Stufen. Der Zugang zu dieser Treppe wird durch das Tuch verdeckt. Im Protestantismus gehörten mystische Vorstellungen spätestens mit dem Erfolg der »Vier Büchern vom wahren Christentum« des Johann Arndt zur Frömmigkeit. In diesem Erbauungsbuch reihte der Verfasser die Andachten nach dem Dreischritt der Stufenmystik (purgatio, illuminatio, unio) aneinander, damit der Leser die Gnade Gottes für ein heiliges Leben recht gebrauchen könne.59 Vor diesem Hintergrund ist der Kupferstich als Darstellung einer »unio mystica«60 zu verstehen  : Der fromme Leser gelangt durch das Aufschlagen des Buches zu dem (durch das Tuch verdeckten) Zugang zur Treppe. Die Lektüre und Andacht ermöglichen es ihm bzw. seiner Seele, die Treppe hinaufzusteigen, ins Paradies zu treten und Christus zu begegnen. Dabei deuten die Sonnenstrahlung auf die Erleuchtung (»illuminatio«) der frommen Seele und die Umarmung auf die Vereinigung mit Christus (»unio«) hin.

59 Albrecht Beutel, Erbauungsliteratur, 2. Protestantismus, in  : Religion in Geschichte und Gegenwart [RGG] 2, 4. Aufl., Tübingen 1999, Sp. 1386−1392. 60 Friederike Nüssel, Unio mystica, II, in  : RGG 8, 4. Aufl., Tübingen 2005, Sp. 746−747.

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2. Jesus als Gärtner In der Schöpfungsgeschichte ist es Gottvater, der als Gärtner beschrieben wird  : »Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte« (Gen 2,8). Im Gleichnis vom Weinstock bezeichnet Jesus seinen Vater als Weingärtner (Joh 15,1). Die Metapher von Jesus als Seelengärtner geht auf mystische Schriften z. B. der Theresa von Avila zurück.61 Während der gut gepflegte Seelengarten für den gottesfürchtigen Menschen steht, ist der verwilderte oder verwüstete Garten oder Weinberg ein Sinnbild für den sündigen, vom rechten Glauben abgefallenen Menschen. In der Ikonographie wird der Gärtner mit den Attributen von Spaten und Kappe ausgezeichnet  – auf dem Frontispiz zum »Geistlichen Wurtz=Gärtlein Gottseliger Betandachten« sind es die Attribute Spaten und ein Hut mit breiter Krempe (Abb. 5).62 Bildbestimmend für das Doppelblatt ist ein gotischer Kirchenbau  – gemeint ist das Ulmer Münster (Ulm 1739) – , um das ein barocker Ziergarten angelegt ist. Der Garten, der durch eine niedrige Steinbalustrade sowie eine dahinterliegende Baumreihe begrenzt wird, besteht aus acht Beeten mit geometrischer und rankenförmiger Bepflanzung. Allerdings sind die beiden gegenüberliegenden Beete in der Mitte unterschiedlich groß und in unterschiedlichen Mustern gestaltet. Auf den Wegen zwischen den Beeten und kegelförmig geschnittenen Bäumen spazieren mehrere Personen. Am Eingang des Gartens steht Jesus als Gärtner und gibt einem Adligen seine rechte Hand. Unterhalb des Bildes steht der Vers »Gott lob  ! daß Gottlieb findt und preist den Gärtner der Rabbini heist«. Im Vorwort wird die Darstellung des Gärtners auf die Bibelstelle Joh 20,15–16 bezogen, in der Maria Magdalena den auferstandenen Jesus für einen Gärtner hält. Erst als er Maria Magdalena mit ihrem Namen anspricht, erkennt sie ihn und nennt ihn »Rabbuni« (hebräisch »Meister«). Jesus verbietet ihr dann, ihn zu berühren, da er noch nicht aufgefahren sei. Da Jesus auf dem Frontispiz dem als »Gottlieb« bezeichneten Herren die Hand gibt, ist hier der aufgefahrene Jesus dargestellt. Die Personen im Garten sind andächtige Seelen, die durch ihre Andacht, frommes Singen und Beten in den »Seelen-Garten« eingetreten sind, dort Jesus treffen, der sie tröstet, stärkt und erhält. Mit dem Ulmer Münster  – als Bauwerk im Garten oder prächtiger Gartenpavillon  – weist der ungenannte Vorredner ausdrücklich darauf hin, dass Jesu Gegenwart auch im offiziellen Gottesdienst erfahren werden kann. Zum Schluss weitet er die Metapher von Jesus als Gärtner auf das Jenseits aus. »Ja/ Er versetze Euch dereinsten als Baeume 61 Lauterbach 2015 (Anm. 10), II.C.1.; Bertraud 1969 (Anm. 2), Sp. 767. 62 Geistliches Wurtz-Gärtlein Gottseeliger Bet-Andachten. Auß dem Biblischen Paradiß. Nach ­Anleitung deß seel. Herrn Lutheri, Johann Arnds, Christian Scrivers, und anderer rein-Evangelischen Lehrer Schrifften, neu-angelegt, Ulm  : Elias Daniel Süß, 1739. VD 18 10080511  : urn:nbn:de:gbv:3  :1-118131 (letzter Zugriff  : 14.04.2020)  ; Peter Diemer, Gärtner, in  : LCI (Anm. 10) 2, Rom u. a. 1970, Sp. 81−82.

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Abb. 6  : E. Chr. S. von Wolgast, Geistlicher Blum- und RosenGarten der Andachts-flammenden und Himmelsbegierigen Seelen, Gott gefälligs Kirchen-Paradis […], Nürnberg  : Hofmann, 1686, Frontispiz (Exemplar Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, Th Pr 2867).

der Gerechtigkeit/ und liebliche Pflantzen […] in den himmlischen Garten Eden […] und lasse Euch grünen in alle Ewigkeit.«63 Zu den Aufgaben eines Gärtners gehört neben der Pflege des Gartens auch das Veredeln von Bäumen. Dieses Motiv wird im Frontispiz zum »Geistlichen Blum- und Rosengarten« (Nürnberg 1686) in eine bildliche Darstellung umgesetzt (Abb. 6). Im Vordergrund steht Jesus als Gärtner und pfropft auf einen alten Stamm ein frisches, grünes Reis auf. Daneben steht eine weibliche Person, vermutlich die Personifikation des Glaubens, die den Zweig mit einer Schnur am Stamm befestigt. Im Vordergrund des Paares steht ein Engel, der eine Hacke hält, auf deren Hackenblatt der Hinweis auf Gen 3,19 zu lesen ist (»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist«). Über der Szene sind im Himmel eine Sonne mit Davidstern, die ihr Licht auf eine Blume gießt und daneben eine Taube in einem Herz, die mit ihren Strahlen das grüne Reis erleuchtet. Die Strahlen gehen über eine Zone mit dunklen Wolken hinweg und einem Schriftband mit den Worten »Geh aus [,] so geht Gott ein«. Die linke Szene steht für die im Alten Testament bezeugte enge Verbindung zwischen Jehovah (dargestellt als Sonne) und dem Volk Israel, das 63 Wolgast 1686 (Anm. 26), Bl. [8]r.

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als Blume von Saron abgebildet wird  : Die Blume wird mit zwölf Blättern dargestellt, die für die zwölf Stämme Israels stehen. Die dunklen Wolken können als zeitweilige Entfremdung Israels von Jehovah gelesen werden. Die rechte Szene geht  – auch wenn ein expliziter Hinweis fehlt  – auf Römerbrief 11,17 zurück, in der Paulus die Heidenchristen vor der Verachtung der Juden warnt. Danach ist es eine gemeinsame Wurzel, die den alten Stamm (Juden) und das aufgepfropfte Reis (Christen) ernährt. Der Apostel hofft auf eine Bekehrung der Juden und ihre Errettung durch Christus. Bemerkenswert ist, dass der Kupferstich mit der Szene im Hintergrund an das Verständnis Israels als das Volk Gottes anknüpft und sich die (christlichen) Gläubigen ebenfalls als »auserwählte« Kinder Gottes verstehen dürfen. Diese Vorstellung ist vor allem in pietistischen Kreisen verbreitet gewesen und daher für ein nicht-pietistisches Erbauungsbuch ungewöhnlich.64 Darüber hinaus ist das Pfropfen oder die Veredelung des Menschen als Allegorie der Erziehung zu verstehen  – wie sie auch in den zeitgenössischen Emblembüchern verbreitet war.65 Im religiösen Kontext bedeutete dies, wer Christus nachfolgen wollte, sollte nach den christlichen Geboten leben und tugendhaft handeln. Mithilfe der »praxis pietatis«, durch intensive Lektüre von Andachtsliteratur, ausgiebiges Beten und Singen konnte der Gläubige sein Verhalten ändern. Diese Deutung wird auch durch den Kupfertitel bestätigt, der die Arbeit in einem Tugendgarten darstellt. Unter einem Schriftband mit dem Spruch »Kennet die Tugend=Blümlein fassen und die Laster=Unkraut hassen« arbeiten sieben Personen in den verschiedenen Teilen eines Gartens  : Sie pflücken Blumen, ziehen Unkraut, ernten Früchte oder gießen Bäume in Töpfen. Im Vordergrund prüft ein Pfarrer den Ertrag der Bemühungen zweier Christen, indem er ihre mit Blumen gefüllten Körbe durchsieht.66

IV Arznei- und Würzgärten Zu einer mittelalterlichen Klosteranlage gehörte traditionell ein Arznei- oder Kräutergarten  ; die hier kultivierten Pflanzen lieferten einerseits die Rohstoffe für Medikamente, wirkten andererseits durch Duft und Gestalt der Blüten positiv auf einen Kran-

64 Da sich weder in dem Vorwort noch in den Texten Hinweise auf pietistische Vorstellungen (wie z. B. den Bußkampf oder die Wiedergeburt) finden und auch der Herausgeber nicht zum pietistischen Netzwerk gehört, ist dieses Erbauungsbuch nicht dem Pietismus zuzurechnen. Zum Verhältnis der Pietisten zu den Juden  : Johannes Wallmann, Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden, in  : Ders. (Hg.), Glaubenswelt und Lebenswelten, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, 4), S. 143−165. 65 Lauterbach 2015 (Anm. 10), II. C. 3. Durch den Schriftzug »Geh aus, dann geht Gott ein« kann die Szene zusätzlich als Darstellung einer »unio mystica« gelesen werden. 66 Wolgast 1686 (Anm. 26), Kupfertitel.

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Abb. 7  : Gerhard Tersteegen, Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen Oder kurtze SchlußReimen, Betrachtungen und Lieder […], 5. und vermehrte Edition Solingen  : Schmitz, 1751, Titel und Frontispiz (Exemplar Hildesheim, Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik, Bibliothek, Gesangbuch-Archiv).

ken.67 Auch in dem um 900 entstandenen Idealplan für das Kloster St. Gallen hatte der Zeichner einen Arzneigarten eingeplant.68 In einem Viereck sind 16 Beete eingezeichnet, die für die Kultivierung von Rosen, Lilien, Salbei, Gladiolen, Rosmarin und weiteren Pflanzen vorgesehen waren. Diese Anlage blieb das ganze Mittelalter hindurch für Arzneigärten bestimmend. Ebenfalls bis in die karolingische Zeit geht die Tradition des »literarischen Arzneigartens« zurück.69 Mit dem Gedicht »De cultura hortorum« stellte Walahfried Strabo 23 Arzneipflanzen vor und beschrieb nicht nur ihre Heilwirkung, sondern auch ihre geistlich-allegorische Bedeutung.70 Seit dem 16. Jahrhundert 67 Christian Patzl, Die Gärten des Stiftes Gurk. Renaissance eines Renaissancegarten, Hamburg 2005, S. 38. 68 Ebd.; Marie Luise Gothein, Geschichte der Gartenkunst 1, Jena 1926, S. 182−184. 69 Gothein weist darauf hin, dass Strabo in dem Gedicht »Hortulus« über die Pflanzen in seinem eigenen Abtgarten schreibt und dabei besonders die Rose und Lilie wegen ihrer symbolischen Bedeutung für die Kirche heraushebt (ebd., S. 189). 70 Hans-Jürgen Schrader, Hortulus mystico-poeticus. Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Ters-

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erschienen dann eine Reihe von »Leib- und Seelenapotheken«, die nicht nur Kräuterrezepte für die Behandlung körperlicher Beschwerden, sondern auch geistlichen Trost für die Seele boten.71 Da der ursprünglich aus dem Griechischen stammende Begriff »apotheca« das Arzneilager bezeichnete, können Seelen-Apotheke und Kräutergarten als synonyme Bezeichnungen angesehen werden.72 Zu dieser Gruppe gehören z. B. die »Geistliche Krancken-Chur aus der Himmlischen Seelen-Apotheck« von Jacob Meyer (Franckfurt a.  M. 1737), das »Würtzgärtlein für die kranken Seelen« von Michael Bock (Nürnberg 1607) oder »Geistliches Gewürz-Gärtlein Heilsuchender Seelen« von Jacob Stoll (Ephrata, Pennsylvania 1806). Beide Gartenbilder, die des Zier- und des Arzneigartens vereint Christoph Schütz in seinem »Geistlichen Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten« (Homburg vor der Höhe 1738−1744). Das einflussreichste radikalpietistische Gesangbuch ist das »Innige Blumengärtlein« von Gerhard Tersteegen (Abb. 7).73 Das Frontispiz, das dem Gesangbuch ab der 5. Auflage von 1751 beigegeben wurde, zeigt den Blick in einen durch eine Mauer abgegrenzten Arzneigarten. Im Vordergrund sitzt die Seele als liebeskranke Freundin, deren Oberkörper von einer weiteren Person (Caritas  ;) von hinten gehalten wird. Mit ihrer linken Hand berührt die Kranke die Hand des neben ihr knienden Christus. Er hält ihr zu Stärkung einige Kräuter hin. Die Szene wird mit dem Vers »Er erquicket mich mit Blumen, denn ich bin krank vor Liebe« aus dem Hohelied erläutert. Im Mittelgrund ist ein Arzneigarten mit zwölf eingefassten Beeten zu sehen, in denen jeweils eine Blume steht. Zwischen den Beeten steht Christus mit zwei Kindern. Das eine Kind hat bereits eine Blume erhalten, die es betrachtet, dem jüngeren Kind reicht Jesus eine Pflanze. Hinter ihnen befindet sich eine gefasste Quelle, mit deren Wasser ein Gärtner die Blumen gießt. Im Himmel sind Christus und die Seele dargestellt, die sich an der rechten Hand halten und mit der linken gegenseitig einen Blumenkranz aufsetzen. Dieses Motiv wird durch den Vers »O Anmuthsvoller Blumen-Krantz  ! Vom Freund geschenket, des Freundes gantz« umrahmt. Die Darstellung des Gartens vereint mehrere Metaphern, die des Seelengartens, in dem die Seele auf ihren Bräutigam wartet  ; dieses Warten wird auch durch die Blumen »Patientia, Vergissmeinnicht« und »Jelängerjelieber« symbolisiert. Auf Christus verweisen zudem »Jesus Blümelein«, »Thausendschön«, »Hertz Freud« oder »Heyl aller teegens »Blumengärtlein«, in  : Manfred Kock (Hg.), Gerhard Tersteegen – evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 126), Fußnote 47. 71 Ebd., Fußnote 48. 72 Fritz Krafft, Christus als Apotheker. Ursprung, Aussage und Geschichte eines christlichen Sinnbildes, Marburg 2001 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg, 104), S. 175. 73 Christian Bunners, Gerhard Tersteegens Lieder im Gesangbuch. Ein rezeptionsgeschichtlicher Beitrag, in  : Manfred Kock (Hg.), Gerhard Tersteegen – evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 126), S. 77−100.

Blumen, Gärten und andächtige Seelen 

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Welt«. Mit dem Garten ist auch der Arzneigarten gemeint, was sich in der Gestaltung des Gartens zeigt, aber auch darin, dass Jesus der Kranken eine Pflanze als Medizin anbietet.74 Damit steht der Kupferstich in der Tradition des Bildthemas »Christus als Arzt« oder »Christus als Apotheker«, das im 16. Jahrhundert in der Frömmigkeitsliteratur ausgeprägt wurde und an die Arzt-Salvator-Vorstellung der frühen Kirchenväter anknüpfte.75 Darüber hinaus weist der Kupferstich auf pietistische Vorstellungen hin. So werden in den Hauptszenen die zwei Elemente pietistischer Lebensführung einander gegenübergestellt  : im Garten und der himmlischen Brautszene die verinnerlichte Frömmigkeit und in der Krankenpflege das durch die Nächstenliebe motivierte soziale Engagement.76 Der Leser soll sich einerseits mit der Braut im Himmel, andererseits mit der dritten dargestellten Person, die Jesus bei der Versorgung der Kranken unterstützt, identifizieren. Die vorgestellten Beispiele haben gezeigt, dass die Garten-, Paradies- und Blumenmetaphern in protestantischen Erbauungs- und Gesangbüchern weit verbreitet waren und sowohl literarisch in Titelformulierungen oder Vorworten aufgegriffen, aber auch bildlich in Frontispize oder Kupfertitel umgesetzt wurden. Dabei haben die Autoren und Künstler keine völlig neuen Motive erfunden, sondern – vermittelt durch Gebetbücher, mystische Schriften und Emblembücher  – auf die bereits im Mittelalter entwickelte Gartenmetaphorik zurückgegriffen und entsprechend ihrer konfessionellen Situation oder Frömmigkeit bearbeitet. In der Darstellung der Gärten werden keine konkreten Gartenanlagen abgebildet, sondern vielmehr typische Elemente (wie die Einfassung durch Balustraden, Anlage der Beete, Wegführung oder Gartenpavillons) der Gartenarchitektur des 17. Jahrhunderts ausgewählt und idealtypisch in eine Bildkomposition umgesetzt.

74 Gerhard Tersteegen, Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen Oder kurtze Schluß-Reimen, Betrachtungen und Lieder, Über allerhand Wahrheiten des Inwendigen Christenthums  ; Zur Erweckung, Stärckung und Erquickung in dem Verborgenen Leben Mit Christo in Gott  : Nebst der Frommen Lotterie, 5. und vermehrte Edition Solingen 1751  ; VD18 1331064X-001  : http://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn. de/content/titleinfo/1703801 (letzter Zugriff  : 26.04.2020). 75 Wolfgang J. Müller, Christus als Apotheker, in  : Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte 3, S­ tuttgart 1953, Sp.  636–639  ; in  : RDK Labor, URL  : http://www.rdklabor.de/w/?oldid=92619 (letzter Zugriff  : 03. 02.2020)  ; Christa Habrich, Heilkunde im Dienst der Seelsorge bei Gerhard Tersteegen, in  : Manfred Kock (Hg.), Gerhard Tersteegen  – evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 126), S. 161−180, hier S. 177−180  ; Wolfgang-Hagen Hein, Christus als Apotheker, Stuttgart 1974 (Monographien zur pharmazeutischen Kulturgeschichte 3)  ; Bunners 1997 (Anm. 73), S. 77−100  ; Krafft 2001 (Anm. 72), S. 175. 76 Hans-Georg Kemper, Vielsinnige »Blumen«-Lese. Zum literarhistorischen Standort Gerhard Tersteegens, in  : Pietismus und Neuzeit 19, 1993, S. 117−142.

Ansgar Franz und Christiane Schäfer

Vom Augenschmaus zum Gedankenstrich Das Gesangbuch Johann Leisentrits (1567) und das »Gotteslob« (2013) der Deutschen Bischofskonferenz

I Das Gesangbuch von Johann Leisentrit (1567) Das 1567 erschienene, vom Bautzener Domdekan Johann Leisentrit (1527–1586) erarbeitete Gesangbuch ist das erste und das bis heute am reichsten illustrierte Gesangbuch innerhalb der katholischen Tradition.1 Es erschien dreißig Jahre nach dem ersten – noch völlig unbebilderten – katholischen Gesangbuch von Michael Vehe (Leipzig 1537).2 Beide Gesangbücher sind als Reaktion auf die Reformation und auf den enormen Erfolg der ab 1524 sich rasant verbreitenden evangelischen Gesangbücher zu verstehen, die für die Ausbreitung und den Erfolg der reformatorischen Lehre von außerordentlicher Bedeutung waren. Diese Gesangbücher ermöglichten es den Gläubigen, die religiöse Feier durch das Singen deutschsprachiger Lieder aktiv mitzutragen. »Der Gesang war Ausdruck dafür, daß die Laien das Amt des Priesters an sich gezogen hatten. So entspricht es einer inneren Logik, daß sich die Reformation in ihren Anfangsjahren als singende Kirche formierte und das deutsche Kirchenlied ihr den größten Zulauf brachte.«3

Wie groß dieser Zulauf war und wie bedrohlich er aus Sicht der Katholiken empfunden wurde, setzt eine Illustration aus dem Leisentrit’schen Gesangbuch ins Bild (Abb. 1)  : Man sieht hier die Innenansicht des Bautzener Domes St.  Peter, der seit der Reformation als Simultankirche genutzt wird. Auf der linken Bildseite ist eine katholische Messfeier dargestellt. Hinter dem am Altar zelebrierenden Priester kniet ein gut gekleidetes Paar. Das Kanonbild »Maria und Johannes unter dem Kreuz« ist sowohl auf dem Altar als auch auf dem Lettner zu sehen. Die rechte Bildhälfte zeigt einen evangelischen Prediger in Talar und Barett, der von der Kanzel herab zu einer großen Gemeinde 1 Geistliche Lieder vnd Psalmen / der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen  : auffs fleissigste und christlichste zusamenbracht/ durch Johann Leisentrit von Olmutz, Bautzen  : Hans Wolrab, 1567. 2 Ein New Gesangbüchlin Geystlicher Lieder / vor alle gutthe Christen nach ordenung Christlicher kirchen. Ordenung vnd Gebrauch der Geystlichen Lieder/ so in diesem büchlin begriffen synt / findest du am ende diß Büchlins. Gedruckt zu Leiptzig durch Nickel Wolrab, 1537. 3 Andreas Scheidgen, Katholische Gesangbücher im Reformationsjahrhundert, in  : Andreas Scheidgen und Dominik Fugger (Hg.), Geschichte des katholischen Gesangbuchs, Tübingen 2008 (Mainzer Hymnologische Studien, 21), S. 3.

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spricht, die sich ihm aufmerksam zuwendet. Lediglich zwei Personen in der Bildmitte wenden sich ab und blicken in Richtung der katholischen Messe.4 Leisentrit, der als kaiserlicher Generalkommissar und bischöflicher Administrator dafür zuständig war, die stark geschwächte katholische Position in der Lausitz zu behaupten, investierte viel Kraft und Geld in sein Gesangbuch, das ihm als geeignetes Medium erschien, den »alten und rechten« Glauben zu stärken und vor den ­Angriffen der Zeit zu schützen. Dieses Anliegen formuliert er in einem lateinischen Brief an Hecyrus (Christoph Schweher, 1520–1593), dem Pfarrer und Stadtschreiber von Budweis.5 Das Schreiben ist in Leisentrits Gesangbuch vor den Unterweisungen und den Liedern des zweiten Teils abgedruckt. Ausdrücklich vermerkt er zu den Gründen für die Herausgabe seines Gesangbuchs  : »Ich habe es getan, um den katholischen Glauben zu erhalten und die wirklich christliche Frömmigkeit zu fördern und zurückzugewinnen. Aus diesen Gründen habe ich das jetzt vorliegende Gesangbuch zusammengestellt […]  ; und das alles habe ich mit der notwendigen und größtmöglichen Sorgfalt in das vorliegende Buch, das unter allen Umständen, allerdings auch mit großem finanziellen Aufwand, fertiggestellt werden mußte, eingebracht, damit um so leichter die allzu bekannten Lieder der Sektierer den Händen der katholischen Gläubigen entrissen werden.«6

Um dieses Ziel zu erreichen, hat Leisentrit ein umfangreiches, inhaltlich gut durchdachtes und typographisch enorm aufwändig gestaltetes Gesangbuch herausgegeben.

4 In schriftlicher Form schildert Leisentrit die prekäre Situation der Katholiken in einem in deutscher Sprache verfassten Entwurf eines (dann lateinischen) Bittschreibens an Papst Pius V. vom 19. Juli 1567. Dort heißt es  : »Die Catholischen Pastores auff den Eygen in Ober Lausnitz werden gar sehr geengstigt, überfallen und geplündert. Ich kann und vermag dem Ubel nit steuern, und obwohl (die warheit zu melden) der Landvogt viel bey mir getan, solchs aber als die Redelfhürer gemercket, haben sie einen bundt gemacht, schriftlich und mündtlich an den herren Graffen, Item an den Herren Landeshauptmann, ja an das gantze Landt suppelieret, wollen kurtzhand haben die Augsburgische Confession, derer auch der Landvogt, Hauptmann und der Landtsassen vorwandt sindt, welchen so lieb ist und dienstlich sein soll zu forderung der seelen seligkeit. Bitten derhalben umb Gottes- und umb des heyligen Christi leiden willen, der Herr Graff, Hauptmann und Landsassen, wollen sie zu erkentnuß des Evangelii auch befordern, Sie hetten alle ordentliche mittel und wege vorgenhomen (sprechen sie) konthen und vermochten bey dem Techant zu Bautzen gar nicht erhalten und außrichten, wer yhnen nicht worden rath geschaffen, so wer zu besorgen, man were an den eygen pfarherrn sich vergreifen, sie todtschlagen.« (nach Josef Gülden, Johann Leisentrits Bautzener Messritus und Messgesänge, Münster 1964, S. 47  ; ebenfalls abgedruckt in  : Ders., Johann Leisentrits pastoralliturgische Schriften, Leipzig 1963 [Studien zur katholischen Bistumsund Klostergeschichte, 4], S. 114 f.). 5 Schweher verfasste auch deutschsprachige Lieder, die Leisentrit in sein Gesangbuch übernommen hat. 6 Die Übersetzung des lateinischen Originals bei Erika Heitmeyer, Das Gesangbuch von Johann Leisentrit 1567. Adaption als Merkmal von Struktur und Genese früher deutscher Gesangbuchlieder, St. Ottilien 1988 (Pietas Liturgica. Studia, 5), S. 88.

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Abb. 1  : Katholische Messe und reformatorischer Predigtgottesdienst  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 189v (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

Die Gesangbuchtitel des ersten und zweiten Teils lassen die Programmatik erkennen, die Leisentrit mit seiner Publikation verbunden hat. Sie lauten  : »Geistliche Lieder und Psalmen/ der alten Apostolischer recht und wargläubiger Kirchen/ so vor und nach der Predigt/ auch bei der heiligen Communion/ und sonst in dem haus Gottes/ zum theil in und vor den Heusern/ doch zu gewöhnlichen zeitten/ durch das gantze Jar/ ordentlicher weiß mögen gesungen werden/ Aus klarem Göttlichen Wort/ und Heiliger geschrift Lehrern (Mit vorhergehenden gar schönen unterweisungen) Gott zu lob und ehre/ Auch zu erbaeung und erhaltung seiner allgemeinen Christlicher Kirchen […] Das ander Theil/ Geistlicher Lieder von der allerheiligsten Jungfrawen Maria der außerwelten Mutter Gottes/ Auch von den Aposteln/ Martyrern/ und anderen lieben Heiligen/ mit vorgehenden gar schön/ und jetziger zeit zu wissen nottwendigen unterweisungen/ Aus heiliger Geschrifft und derselben Lehren/ Gott zu Lob und seiner lieben Mutter/ auch allen heiligen Gottes zu ehren/ mit schuldigstem catholischem fleis zusamen bracht […]«

In beiden Titeln wird betont, dass die im Gesangbuch dargebotenen Lieder in ihren Inhalten aus der »Heiligen Schrift« und aus der »Heiligen Schrift Lehrern« gezogen und damit legitimiert sind. Zum anderen wird angegeben, wann und zu welchem Zweck die Lieder

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jeweils gesungen werden sollen. Der erste Teil bezieht dabei die Messe ausdrücklich mit ein (vor der Predigt, Kommunion etc.), der zweite Teil konzentriert sich auf die Verehrung Mariens und der Heiligen. Außerdem enthalten beide Teile »Unterweisungen«, die jeweils einer größeren Gruppe von Liedern vorangestellt sind. In den Texten des ersten Teils werden gottesdienstliche Zeremonien, Feste und Riten der Kirche erklärt und versucht, vergessene Gebräuche wiedereinzuführen. Im zweiten Teil sind dann hauptsächlich Ausführungen zur Marien- und Heiligenverehrung zu finden. Leisentrits Gesangbuch dient also sowohl der Erklärung von Liturgie, Glaubensinhalten und Gebräuchen als auch der Sammlung und Bereitstellung angemessener deutschsprachiger Gesänge.

II Das Gebet- und Gesangbuch »Gotteslob« (2013) Das bislang jüngste katholische Gesangbuch dient ebenfalls sowohl der Erklärung von Liturgie, Glaubensinhalten und Gebräuchen als auch der Sammlung und Bereitstellung angemessener deutschsprachiger Gesänge. Es ist das 2013 erschienene »Gotteslob«, das in Abgrenzung zu seinem 1975 erschienenen gleichnamigen Vorgänger im Folgenden »Gotteslob 2« genannt werden soll. Was »Gotteslob 2« für ein Buch ist, was es will und auf welche Entwicklungen es reagiert, lässt sich am besten am Inhaltsverzeichnis illustrieren  :7 Die Grundstruktur des neuen Gotteslob präsentiert sich erfreulich übersichtlich in drei Hauptkapiteln. Das erste Hauptkapitel sind »Geistliche Impulse für das tägliche Leben« (Nr.  1–29  ; S.  19–120). Hier wird deutlich, dass sich »Gotteslob 2« nicht nur als Liturgiedienstbuch, sondern ausdrücklich als Hausbuch versteht. Absichtsvoll ist der erste Abschnitt dem »Wort Gottes« gewidmet, auf das menschliches Tun und Beten eben »Antwort« sein soll  : »Gottes Wort hören – Umgang mit der Heiligen Schrift«. Es folgen die Abschnitte »Im Gebet antworten«, »In der Familie feiern« (hier z. B. Modelle für Familienfeiern im Advent und am Heiligabend oder ein Hausgebet für Verstorbene) und »Den Glauben leben«, eine hilfreiche Zusammenstellung traditioneller biblischer und kirchlicher Tugendkataloge (z. B. Dekalog, Seligpreisungen, Werke der Barmherzigkeit, Kardinaltugenden). – Der zweite Hauptteil »Psalmen, Gesänge und Litaneien« ist der umfangreichste (Nr. 30–569  ; S. 121–615). Immerhin fast 70 Psalmen sind aufgenommen worden – ein deutliches und wichtiges Signal zur Stärkung der Feier der Tagzeitenliturgie in der Gemeinschaft. Der zweite Abschnitt »Gesänge« enthält neben Kanons und Akklamationen etwa 300 Strophenlieder, der dritte Abschnitt »Litaneien« präsen7 Vgl. hier und im Folgenden Ansgar Franz, »Gute Fische aller Art«. Das neue katholische Gebet- und Gesangbuch Gotteslob, in  : Liturgie und Kultur. Zeitschrift der Liturgischen Konferenz für Gottesdienst, Musik und Kunst 5, 2014, 3, S. 57–66  ; ders., Das Evangelische Gesangbuch (1993) und das neue Gotteslob (2013). Ein Vergleich, in  : Lebendige Seelsorge. Zeitschrift für praktisch-theologisches Handeln 64, 2013, S. 282–287  ; ders., Altes und Neues aus dem reichen Vorrat. Der Liedteil des neuen Gotteslobs, in  : Der Prediger und Katechet 4, 2014, S. 570–579.

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tiert mit 14 Stücken ein reiches Angebot dieser wichtigen Gebetsform.  – Der dritte Hauptteil umfasst »Gottesdienstliche Feiern« (Nr. 570–683  ; S. 618–956), beginnend mit der traditionellen, liturgisch aber wenig sinnvollen Unterscheidung in »Die Feier der Sakramente« und »Die Feier der Sakramentalien«. Nach erschließenden Hinführungen werden der Aufbau der jeweiligen Feier und der Kernbestand der liturgischen Texte geboten. Der dritte und umfangreichste Teil dieses Kapitels ist »Die Tagzeitenliturgie«. Hier ist deutlich die Absicht erkennbar, diese Gebetsform in den Gemeinden zu beleben. Neben den normierten, aber nur von wenigen geübten Formen des offiziellen Stundenbuchs (Vesper, Laudes, Komplet) werden auch andere an der Tradition orientierte und in der gemeindlichen Praxis schon erprobte Weisen vorgeschlagen (Morgenund Abendlob, Nachtgebet). Ein kurzer vierter Abschnitt bildet die Struktur und einige Texte der »Wort-Gottes-Feier« ab, eine Gottesdienstform für die sonntägliche Gemeindeversammlung, wenn kein Priester als Vorsteher zur Verfügung steht und deshalb eine »Messe« nicht möglich ist. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels sind die »Andachten«, die neben dem traditionellen Kreuzweg nicht weniger als 32 Vorlagen bieten. Überblickt man die Inhalte des »Gotteslob 2« und ihre Gewichtung, so sind drei Aspekte unverkennbar. Erstens  : Deutlich ist das Bemühen, das »Gotteslob« auch als Hausbuch zu etablieren, um das geistliche Leben des Einzelnen und der Familien zu stärken. Für Vollzüge, die bis vor einigen Generationen noch selbstverständlich waren, etwa die familiären Adventsfeiern, das Rosenkranz- und Totengebet oder das Wissen darum, wie man den Heiligen Abend begeht (neben Essen und Geschenkeauspacken), werden hier beispielhafte Modelle vorgeschlagen. Man will dem offensichtlichen Traditionsabbruch innerhalb der katholischen Familien etwas entgegenstellen, wenigstens in Form eines Buches. Zweitens  : Hinsichtlich der Feier der Sakramente und Sakramentalien ist die Absicht erkennbar, auch ungeübten Gläubigen durch die Möglichkeit einer Vor- und Nachbereitung anhand des Buches die »Tätige Teilnahme« an diesen Feiern zu erleichtern. Und drittens  : Die deutliche Stärkung der Tagzeitenliturgie, der Wort-Gottes-Feier und der Andachten kann als Versuch gesehen werden, den typisch katholischen, fatalen Tunnelblick zu weiten, »Gottesdienst« sei immer nur »Messe«  ; vielmehr sollen die Gemeinden in Stand gesetzt werden, sich auch in priesterlosen Zeiten in ihren Kirchen zu versammeln und betend und singend, Bibel hörend und meditierend Gottesdienst zu feiern. Die Erarbeitung des »Gotteslob 2« dauerte über zwölf Jahre und involvierte alles in allem über 1000 Personen. Einer leitenden Kommission, bestehend aus fünf Bischöfen und sieben Beratern, waren zehn Arbeitsgruppen zugeordnet, die mit der Erstellung der konkreten Inhalte des »Gotteslob 2« und notwendiger Begleitpublikationen (Orgelund Klavierbuch u. a.) beauftragt waren.8 Jede Arbeitsgruppe bestand aus sechs bis zehn 8 AG 1  : Lieder  ; AG 2  : nichtliedgemäße Gesänge  ; AG 3  : Psalmodie  ; AG 4  : Begleitpublikationen  ; AG 5  : Gebete  ; AG 6  : Katechetische Texte  ; AG 7  : Bilder  ; AG 8  : Eucharistie  ; AG 9  : Gottesdienstliche Feiern  ; AG  10  : Sakramentliche Feiern  ; vgl. Winfried  H. Vogel, Aufgabe und Tätigkeit der Unterkommission

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Mitgliedern aus unterschiedlichen Wissenschafts- und Praxisfeldern, die vom Vorsitzenden der Liturgiekommission der Bischofskonferenz berufen wurden. ­Lediglich die Arbeitsgruppe 7 »Bilder« bestand offiziell aus nur einer einzigen Person, nämlich dem Vorsitzenden der Gotteslob-Kommission selbst,9 dem Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann, der von 2004 bis 2017 die Diözese leitete. Hofmann, Jahrgang 1942, hat neben Theologie auch Philosophie und Kunstgeschichte studiert und war 1979 mit einer Arbeit über zeitgenössische Darstellungen von Apokalypse-Motiven im Kirchenbau promoviert worden.10 Dadurch verfügte er über gute persönliche Beziehungen zur zeitgenössischen Kunstszene.11

III Die Illustrationen im Gesangbuch Leisentrits (1567) Auch Johann Leisentrit muss die Kunstszene seiner Zeit gekannt haben, hat er doch allein in Zusammenarbeit mit dem Drucker Hans Wolrab innerhalb kürzester Zeit ein umfangreiches und reich bebildertes Gesangbuch auf den Markt gebracht. Dies tat er, wie aus dem Brief an Hecyrus zu ersehen war, sogar auf eigene Kosten. Die Umstände der Entstehung, die Bedeutung und Konzeption des Gesangbuchs von Johann Leisentrit sowie sein Umgang mit den Texten, die er zu großen Teilen aus der zeitgenössischen protestantischen Tradition geschöpft und für seine Zwecke adaptiert hat, sind von Walther Lipphardt12 und vor allem von Erika Heitmeyer13 ausführlich untersucht worden. Beide warfen in ihren Monographien auch einen Blick auf die auffallend reichhaltige und prächtige Ausstattung des Buches  – jeweils mit Verweis auf die kunstgeschichtliche Untersuchung von Martin Hoberg, der in seiner Arbeit »Die Gesangbuchillustration des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Problem Reformation und Kunst« ausführlich auf das Gesangbuch von Leisentrit einging und dabei zu einem wenig schmeichelhaften Urteil kam  : »Steigerung der Bildzahl und damit beabsichtigte Steigerung der äußeren Pracht, Auflösung der alten originalen Illustrationszyklen, Polemik, Allegorie und die von seiner gehobenen Stellung zeugenden Bilder des Herausgebers kennzeichnen inhaltlich den Schmuck dieses Gemeinsames Gebet- und Gesangbuch zur Erstellung des »Gotteslob«-Stammteils 2013. Darstellung und Kritik (Dissertation, als Manuskript gedruckt), Mainz 2017, S. 23.   9 Vogel 2017 (Anm. 8), S. 109. 10 Friedhelm Hofmann, Zeitgenössische Darstellungen der Apokalypse-Motive im Kirchenbau seit 1945, München, Zürich 1982. 11 Vgl. z. B. Friedhelm Hofmann, Grenzüberschreitungen. Begegnungen mit Künstlern, Köln 2004. 12 Walther Lipphardt, Johann Leisentrits Gesangbuch von 1567, Leipzig 1963  ; (Geistliche Lieder vnd Psalmen / der alten apostolischer recht und warglaubiger christlicher Kirchen) Gesangbuch von 1567. Faksimileausgabe mit einem Nachwort von Walther Lipphardt, Kassel usw. 1966. 13 Heitmeyer 1988 (Anm. 6).

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Abb. 2  : »Ein Kind ist uns geborn« mit Verweis auf Jes 9 (9,5) und das Lied »Christum wir sollen loben schon« in  : Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig  : Valentin Babst, 1545, Lied Nr. 2 (nach  : Ameln 1988 [Anm. 15]).

katholischen Gesangbuchs, der in der Form nicht viel Interessantes bietet. Außer den beiden oben erwähnten […] sind die Holzschnitte steif und plump, zum größten Teil wie gesagt Nachschnitte.«14

Aber ist die im Gesangbuch zweimal enthaltene Abbildung des Leisentrit’schen Wappens (am Beginn des ersten und vor dem Register des zweiten Teils) sowie die dreimalige Abbildung seiner selbst (vor dem Kreuz kniend) tatsächlich Ausdruck einer übersteigerten Selbstdarstellung  ; Oder diente sie nicht vielmehr dazu, dem Buch einen offiziellen Charakter zu verleihen, der sich aus den Ämtern und der offiziell ihm übertragenen Aufgabe ableitete, den Bestand der Katholiken in der Lausitz zu wahren und zu schützen  ; Fest steht, dass diese Form der Selbstdarstellung des Herausgebers innerhalb der Gesangbuchgeschichte eine Besonderheit ist. Und es spricht viel dafür, dass sie aus der besonderen Situation heraus zu erklären ist, die zur Herausgabe dieses Gesangbuchs ge14 Martin Hoberg, Die Gesangbuchillustration des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Problem Reformation und Kunst, Straßburg, Baden-Baden 1933, Neudruck 1973, S. 70 f.

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Abb. 3  : »Ein Kind geborn zu Bethleem« – »Der Hymnus von der Geburt« und Lied »Christum wir sollen loben schon« in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 24v–25r (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

führt hat. Vor diesem Hintergrund kann auch das gesamte Illustrationskonzept Leisentrits betrachtet werden. Er orientiert sich sowohl in Bezug auf die inhaltliche als auch im Hinblick auf die typographische Gestaltung seines Gesangbuchs an den protestantischen Vorbildern – allen voran an den 1545 bei Valentin Babst in Leipzig gedruckten »Geistlichen Liedern«.15 Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Büchern fallen sofort ins Auge. Beide Bücher sind durchgängig mit Randleisten versehen, beide weisen jeweils zu den einzelnen Liedrubriken Illustrationen auf (Abb. 2 und 3). Dass die Ausstattung schon im Babst’schen Gesangbuch als wichtiges Medium der Inhaltsvermittlung gesehen wurde, kann man der von Martin Luther selbst verfassten Vorrede entnehmen  : »Darumb thun die drucker sehr wol dran / das sie gute lieder vleissig drucken / und mit allerley zierde / den leuten angeneme machen / damit sie zu solcher freude des glaubens gereitzt werden / und gerne singen. Wie denn dieser druck Valtin Babsts / sehr lustig zugericht ist / 15 Das Babstsche Gesangbuch von 1545. Faksimiledruck mit einem Geleitwort hg. von Konrad Ameln, 3. Aufl., Kassel usw. 1988 (Documenta musicologica, 1. Reihe, Druckschriften-Faksimiles, 38).

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Abb. 4  : Die Auferstehung Christi in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 118v (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

Gott gebe / das damit dem Römischen Bapst der nichts denn heulen / trawren und leid in aller welt hat angericht / durch seine verdampte / untregliche und leidige gesetze / grosser abbruch und schaden geschehe / Amen.«

Leisentrit versucht nun, diesen »grossen Abbruch und Schaden« gewissermaßen umzukehren, in dem er seinerseits mit Hilfe des Druckers Hans Wolrab »gute Lieder den Leuten angenehm macht«, und zwar indem er das Babst’sche Gesangbuch nachahmt und es zugleich an Umfang und in der Anzahl der Illustrationen deutlich überbietet. Während der Babst insgesamt 27 Illustrationen enthält, von denen sich eine dreimal und fünf je zweimal wiederholen (insgesamt gibt es also 20 verschiedene A ­ bbildungen), sind im Leisentrit von 1567 insgesamt 68 Illustrationen zu finden, von denen neun Holzschnitte je zweimal und zwei Holzschnitte je dreimal verwendet worden sind, so dass das Buch insgesamt 44 verschiedene Darstellungen aufweist.16 Die von Hoberg kritisierte »Steigerung der Bildanzahl« und »Steigerung der äußeren Pracht« wird ge16 Beschneidung zweimal, Darstellung im Tempel zweimal, Einzug in Jerusalem zweimal, Jesus stürzt unter dem Kreuz zweimal, Auferstehung zweimal, Ketzer dreimal, Bittprozession zweimal, Wappen Leisentrit zweimal, Leisentrit vor Kreuz dreimal.

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Abb. 5  : Der barmherzige Samariter in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 84v–85r (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

rade durch diese wiederholte Verwendung gleicher Holzstöcke erreicht – ein Verfahren, das im Babst’schen Gesangbuch auch angewandt wurde und in der Zeit insgesamt üblich war. Außerdem bedienen sich Leisentrit und Wolrab aus einer Art Fundus bereits vorhandener Holzstöcke, wobei die genaue Herkunft der einzelnen Druckstöcke nur ganz rudimentär nachvollzogen werden kann. Einzelne Holzschnitte sind signiert. Ihre Zuordnung ist bei Hoberg nachzulesen. Die im Gesangbuch verwendeten Bildformate lassen sich in klein-, mittel- und großformatige Darstellungen einteilen. Dadurch entsteht beim Durchblättern des B ­ uches der Eindruck, man habe es mit einer Vielzahl verschiedener, eher zufällig zusammengewürfelter Bilder zu tun. Schaut man genauer hin, fällt auf, dass die Abbildungen jeweils bewusst an ihren Platz gesetzt worden sind und jede für sich durchaus eine Funktion im Gesamtkonzept zu erfüllen vermag. Eher kleinformartig sind die dem Verlauf des Kirchenjahres zugeordneten Perikopenbilder (Abb.  4), die überwiegend aus einem schon vorhandenen Bildzyklus stammen dürften. Sie zeigen verschiedene biblische Szenen, häufig mit Jesus, der auf jedem Bild anhand der ähnlichen Gestaltung seines Nimbus leicht identifiziert werden kann. Hier folgt Leisentrit seinen Vorlagen und nutzt die Illustrationen dazu, den Liedern eine optische Hilfe mitzugeben, die

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Abb. 6  : Himmelskönigin in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, Teil 2, S. 23r (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

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Abb. 7  : Die sieben Sakramente in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 305v (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

den zentralen Inhalt mehr oder weniger offensichtlich ins Bild setzt. Manchmal ist der Bezug evident, manchmal eher locker, so im Beispiel Abb. 5 durch die Stichwortverbindung »Barmherzigkeit« – Samariter und Passion. Neben diesen aus der protestantischen Tradition geschöpften Darstellungen, finden sich – vermehrt im zweiten Teil des Gesangbuchs – Illustrationen, die das katholische Profil schärfen. Dazu gehören zum Beispiel Marienbilder (Abb. 6) oder Aposteldarstel­ lungen. Auch hier wird auf Bilder aus der Tradition zurückgegriffen  : Die Himmelskönigin in ihrem Zierrahmen ist jedenfalls ein vielfältig verwendeter und vielfach bekannter Bildtyp. Solche Darstellungen lassen sich später auch auf den Flugschriften des 17. und auch noch des 18. Jahrhunderts finden. Der Verdeutlichung katholischer Lehre dient auch eine ganzseitige Abbildung (Abb.  7), die zeigt, dass es sieben Sakramente sind, die aus der Seitenwunde Christi gespeist werden – und eben nicht nur zwei, wie die Reformatoren behaupten.

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Abb. 8  : Bittprozession in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 151r–152r (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

Auffällig, aber in gewisser Weise konsequent ist, dass hier der auferstandene, nicht der gekreuzigte Christus gezeigt wird. Denn der Gedanke, dass die beiden (von den Reformatoren als die einzigen anerkannten) Grundsakramente Taufe und Eucharistie aus der Seitenwunde des Gekreuzigten hervorgehen (Wasser und Blut), beruht auf der altkirchlichen Deutung von Joh 19. Diese Vorstellung wird nun frei weiterentwickelt, indem die Siebenzahl mit der Seitenwunde des Auferstandenen in Verbindung gebracht wird. Eine weitere Gruppe von Bildern im Gesangbuch von Leisentrit bezieht sich ganz konkret auf die Liturgie. So findet sich gleich an zwei Stellen im Buch die großformatige Darstellung einer Bittprozession, die zeigt, wie eine Schar Gläubiger aus der Kirche hinauszieht. Die Illustration setzt das ins Bild (Abb. 8), was der vorangegangene Text (fol. 147r) angibt (»Wann man mit der Procession aus der Kirche gehet«) und macht damit den Verwendungskontext des Liedes anschaulich. In der Rubrik Abendmahl findet sich die aus der christlichen Ikonographie bekannte Illustration der »Gregorsmesse« (Abb. 9)  : Gezeigt wird Papst Gregor I., dem

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Abb. 9  : Gregorsmesse in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 206v (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

bei der Feier der heiligen Messe Christus als Schmerzensmann erscheint, umgeben von den Arma Christi (Marterwerkzeugen). Es handelt sich um einen seit dem Mittelalter weitverbreiteten Bildtypus. Die Christuserscheinung, die sich in der römischen Kirche Santa Croce in Gerusalemme ereignet haben soll, wurde im Zuge der Überlieferung als ein Wunder zur Bestätigung der Transsubstantiationslehre – der Wandlung der eucharistischen Gestalten von Brot und Wein in Leib und Blut Christi – gedeutet. Man kann davon ausgehen, dass Leisentrit den bekannten Bildtypus bewusst ausgewählt hat, um an dieser Stelle das katholische Profil zu schärfen. Während diese Abbildung in einem evangelischen Gesangbuch kaum vorstellbar gewesen wäre, sieht das mit den folgenden Beispielen ganz anders aus (Abb. 10 und 11). Beide Darstellungen stellen die Austeilung der Kommunion dar – und zwar in beiderlei Gestalt. Das war jedoch in der katholischen Kirche nicht üblich. Auch kann man erkennen, dass Leisentrit hier sogar die Einsetzungsworte in deutscher Sprache wiedergibt – nicht, weil er wünschte, dass sie das lateinische Hochgebet ersetzen sollten, aber sie sollten doch lesend nachvollzogen und gegebenenfalls vor der Kommunionausteilung an die Gläubigen durch den Priester in Landessprache proklamiert werden können. Auch hier wird sichtbar, dass in dieser Zeit, in der sich die Konfessionen auseinanderentwickeln und aufeinanderstoßen, der Druck auf Seiten der Katholiken groß war. Von der

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Abb. 10  : Kommunionempfang unter beiderlei Gestalten in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 218r (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

Reformation ging eine große Anziehungskraft aus, der man durch eine Art Entgegenkommen entgegenwirken wollte.17 Dass das Verhältnis der beiden Lager angespannt war, wird auch in Abb. 12 deutlich  : Das Bild ist zweigeteilt. Die linke Bildseite wird durch die Taube in der oberen linken Ecke als die gute Seite charakterisiert, die Seite des »heiligen Geistes« sozusagen. In der rechten oberen Bildecke wird dieser wei17 Vgl. den schon oben zitierten deutschsprachigen Entwurf Leisentrits eines Bittschreibens an Pius V.: »Ich were bedacht, weil sie so hoch auffs deutzsche dringen, yhnen die Tauff in deutzscher sprach zu zulassen, Item die Epistel und Evangelia […]. Die verba consecrationis mitt klarer stimm in deutzscher sprachen außzuschreien ist mir hochbekommerlich, ungeachtet das ich wahrhafftigen grundt habe, das die key. Majestät solchs hatt zugelassen, darauff sich der gemeine pofel thutt beruffen, weyß ich mich solchs nitt zu mechtigen, dan ich, (Got lob) woll weyß, quod ista mystica verba non sint communicanda aut publicanda auriobus prophanorum. – Da man aber dies nit zulassen wird, so ist es mitt den anderen so concedieret worden vorgeblich, und worden doch die Catholischen pastores verjaget. Lasset es man zu, so confirmiret man sie in yhrem yrthumb, sollen das auch neben den Redelfhurern so vil unschuldige arme frome Christen verterben, so ist es auch zu erbarmen. – Ich habe auch wol gedacht, das der priester more catholico consecrieret, und wan es dartzu kweme, das die Communicanten wolden communicieren, ehe der priester eine kleyne exhortacion permittieret, und darnach sich widder umbkehret, und die Verba historica quae sunt apud Paulum offentlich singe […].« (nach Gülden 1964 [Anm. 4], S. 48 f.; ebenfalls abgedruckt bei Gülden 1963 [Anm. 4], S. 115 f.).

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Abb. 11  : Kommunionempfang unter beiderlei Gestalten in  : Geystliche Lieder (Babst’sches Gesangbuch), Leipzig  : Valentin Babst, 1545, Lied Nr. 21 (nach  : Ameln 1988 [Anm. 15]).

ßen Taube ein schwarzer fliegender Dämon gegenübergestellt. In der Mitte des Bildes ist eine große Rose zu erkennen, die, wie das Spruchband angibt, die Heilige Schrift symbolisiert. Ein Hirte mit einer Keule verteidigt die Rose gegen den Angriff des Ziegenbocks, der vielleicht den »falschen Lehrer«, in jedem Fall aber den »Verworfenen« repräsentiert.18 Rechts sind Eber zu sehen, die schon in Ps 80 als »Weinbergsverwüster« genannt werden19 und auch hier als Verwüster der Kirche gedeutet werden dürfen, ebenso wie die Wölfe, die am unteren Bildrand die guten Schafe angreifen (vgl. Joh 10,12). Die Spinne auf der rechten Seite steht für die Häretiker, ihr Netz für deren Lehre. In ihm werden Glaubensschwache gefangen wie die Fliegen, während Glaubensstarke sich nicht beeindrucken lassen und das Netz zerreißen wie Sperlinge oder Tauben.20 Die Biene, die auf der linken Seite den Nektar der Rose in ihren Bienenstock 18 Vgl. in Mt 25,32 die Scheidung am Tag des Gerichts der Schafe von den Böcken, die in der Vulgata-Ver­ sion eindeutig Ziegenböcke sind (»sicut pastor segregat oves ab hedis«). 19 Vgl. Ps 80(79),14 in der Vulgata-Version  : »exterminavit eam aper de silva et singularis ferus depastus est eam«. 20 So schon Ambrosius von Mailand in einer seiner Predigten über das Siebentagewerk (Hexameron 4,4,17  : Karl Schenkl [Hg.], Ambrosisus Hexameron, De paradiso, De Cain, De Noe, De Abraham, De Isaac, De bono mortis, Wien 1897, Nachdr. 2013 [Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 32, 1], S. 124)  ;

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Abb. 12  : Verteidigung gegen Ketzer in  : Johann Leisentrit, Geistliche Lieder vnd Psalmen/der alten Apostolischer recht vnd warglaubiger Christlicher Kirchen […], Budissin  : Hans Wolrab, 1567, S. 302v (nach  : Lipphardt 1966 [Anm. 12]).

sammelt (ebenfalls auf der linken Seite dargestellt) ist diejenige, die es versteht, die Botschaft der heiligen Schrift nahrhaft werden zu lassen für das Leben. Ob die große Biene auf der rechten Seite positiv oder negativ zu deuten ist, bleibt offen. Insgesamt wird in dieser Darstellung protestantische Lehre als Angriff auf die Heilige Schrift gedeutet, die verteidigt werden muss. Diese Beispiele zeigen, zwischen welchen Polen sich Leisentrit mit seinem Gesangbuch bewegt. Da ist zum einen eine deutliche Adaption dessen, was der Reformation zu ihrem Erfolg verhilft (deutschsprachige Lieder und Gesangbücher samt ihren Gestaltungselementen), und die zum Teil sehr deutliche Abgrenzung und Abwehr. Nevgl. Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Exameron. Aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. Joh. Ev. Niederhuber, München 1914 (Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 17), S. 147  : »Diese ihre Weisheit gleicht dem Spinnengewebe. Gerät eine Mücke oder Fliege darein, kann sie sich nicht davon losmachen, sieht man hingegen ein kräftigeres Tierchen irgendwelcher Art hineingelangen, ist es auch schon darüber hinaus, hat das schwache Gewebe durchschlagen und die nichtigen Fäden zerrissen. […] Ein Spinnengewebe weben sie, keinerlei Nutzen kann es bergen, aber auch keine Schlingen, wenn du nicht, ein Opfer der eigenen Schwachheit, der Mücke oder der Fliege gleich darin dich verstrickst, sondern dem Sperlinge oder der Taube gleich das schwache Gespinst in raschem, kühnem Flug zerteilst.«

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ben der intensiven Bemühung um die Beschreibung und Darbietung dessen, was den »Wahren Glauben« ausmacht, setzt Leisentrit in seinem Gesangbuch ganz klar auch auf die äußere Gestalt des Buches. Die Reformation hatte beeindruckende Beispiele hervorgebracht, diese wollte er aufgreifen und überbieten. Der von Hoberg vermisste künstlerische Originalitätsanspruch spielte dabei für ihn keine Rolle. Ganz im Dienst der Erhaltung der »alten apostolischen recht und wahrgläubigen christlichen Kirche« wollte er ein prachtvolles und bibliophiles Buch schaffen  !

IV Die Illustrationen im »Gotteslob 2« Ein prachtvolles und bibliophiles Buch sollte »Gottteslob 2« werden. Von Anfang an war der Vorsitzende der Gotteslob-Kommission, Bischof Friedhelm Hofmann, deshalb entschlossen, entgegen den Hauptströmen der katholischen Gesangbuchtradition auch Bilder aufzunehmen. Wie zu erwarten, erwies sich die Sache aber als heikel. Hofmann selbst erinnert sich  : »In Gesprächen mit Künstlern und dem Katholischen Bibelwerk in Stuttgart wurde die Frage der Bebilderung vorgeklärt. Schon bald wurde deutlich, dass es sehr unterschiedliche Kunstauffassungen gibt, die nur schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Auf keinen Fall sollte eine zu große Ansammlung von Farbbildern den Raum für Texte und Lieder beschneiden. Aber durch die Aufnahme vieler kleiner Bilder sollte der Charakter der abgebildeten Kunstwerke auch nicht verwässert oder geschmälert werden und so zu einer Art ›Briefmarkensammlung‹ mutieren.«21

Deshalb entschied man sich, im Stammteil nur zwei Farbbilder aufzunehmen, nämlich ganz zu Beginn des Buches einen Ausschnitt aus dem Fresko Michelangelos »Die Erschaffung Adams« in der Sixtinischen Kapelle, das zwischen 1508 und 1512 entstanden ist. Der Ausschnitt der sich fast berührenden Hände Gottvaters und Adams soll die Spannung des Schöpfungsaktes illustrieren. Das zweite Farbbild ist im hinteren Bereich des Stammteils in der Abteilung »Feier der Heiligen Messe« platziert und sollte auf Christus verweisen. Nach langer Diskussion fiel die Wahl schließlich auf den romanischen Kruzifixus von 1170 aus Erp (Eifel), der im Kunstmuseum des Erzbistums Köln, Kolumba, aufbewahrt wird. Der Gekreuzigte ist nicht als leidender, blutender, seiner Kleider beraubter und leblos am Kreuz hängender Körper dargestellt, sondern als aufrechtstehender, in Purpur gekleideter König.

21 Friedhelm Hofmann, Zeichnungen als Zwiesprache. Die künstlerische Gestaltung des neuen »Gotteslob«, 2. Aufl., Würzburg 2016, S. 11.

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»Die Fotografie richtet den Blick aus der Perspektive eines unter dem Kreuz stehenden Menschen auf das Antlitz Christi, dessen Augen halb geöffnet und dessen Mund geschlossen ist, während sein Ohr ganz auf den Betrachter ausgerichtet ist.«22

Eine dritte Farbabbildung findet sich vor den Eigenteilen der einzelnen Bistümer und soll den Bezug zur jeweiligen Ortskirche herstellen. Diese wenigen Farbabbildungen blieben die einzigen Reproduktionen bekannter Kunstwerke. Die eigentliche künstlerische Gestaltung im Buch sollte durch Zeichnungen erreicht werden. Dabei war zu bedenken, so Friedhelm Hofmann, »dass Wort, Musik und Bild ihre eigenen, ja eigenständigen Wahrnehmungsqualitäten haben. So sollten kleine Zeichnungen formal und ästhetisch mit den Buchstaben und Noten – also mit Schrift- und Notenzeichen  – korrespondieren und diese ergänzen. Die Zeichnungen sollten nicht unbedingt der Bestätigung oder Illustration von Sprache oder Musik dienen. Auch sollten die erwünschten Zeichnungen nicht durchweg ganze Seiten ausfüllen noch als ›Lücken­büßer‹ fungieren. Vielmehr sollten sie als kleine graphische Kunstwerke einen weiteren, eigenständigen Zugang zum Inhalt des ›Gotteslob‹ ermöglichen.«23

Nach längerer Suche stieß man schließlich auf die in Köln lebende Zeichnerin Monika Bartholomé, die seit den 1980er Jahren durch zahlreiche Ausstellungen bekannt und mit mehreren renommierten Preisen ausgezeichnet wurde. Für das »Gotteslob« entstanden in ihrem Atelier zunächst etwa 600 Bleistift- und Pinselzeichnungen, aus denen dann in einem monatelangen Verfahren des Auswählens und Zuordnens etwa 120 ermittelt wurden und ein erneutes Auswahlverfahren durchliefen, bevor dann 19 dieser Zeichnungen in den Stammteil des »Gotteslob« aufgenommen wurden. Die Zeichnungen von Bartholomé sind allesamt ungewöhnlich, aber durchaus unterschiedlich. Die einen glaubt man auf den ersten Blick zu erkennen, wie etwa gleich zu Beginn des Buches die Graphik, die an eine geöffnete Tür denken lässt (Abb. 13), oder jene wenigen Striche, die eine Kelchform andeuten (Abb. 14), oder, um noch ein drittes Beispiel zu zeigen, jene Leiter, die irgendwie frei im Raum zu stehen scheint und dabei einen Schatten wirft (Abb.  15). Bei anderen Bildern dagegen rätselt man (Abb. 16–18)  : Ein stilisiertes Insekt mit langen Fühlern (Abb. 16), eine Liege oder ein Bett mit Antennen, die sich trichterförmig in den Raum weiten  ; Der Ausschnitt aus der Chromosomenfrequenz der Fruchtfliege (Abb.  17), liegende Vasen, angedeutete Fischleiber oder einfach wiegende Wellen  ; Die Hälse zweier Vögel (Abb. 18), etwa der lange und schlanke eines Reihers und der etwas kürzere und massivere eines Pinguins  ; Eine Brücke, die sich über einen Fluss oder eine Straße wölbt  ;

22 Hofmann 2016 (Anm. 21), S. 14. 23 Hofmann 2016 (Anm. 21), S. 21.

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Abb. 13–18  : Monika Bartholomé, Zeichnungen aus dem Gotteslob (2013), S. 23, 366, 469, 48, 535, 279 (nach  : Hofmann 2016 [Anm. 21], S. 39, 53, 59, 41, 61, 51. © VG Bild-Kunst, Bonn 2020).

Manchmal können die Kontexte, in denen die Zeichnungen im Gesangbuch stehen, eine Deutung nahelegen  : Die als Abb. 17 wiedergegebene Zeichnung folgt auf das Tauflied von Lothar Zenetti »Segne dieses Kind und hilf uns, ihm zu helfen« (GL Nr. 490). Das Lied singt von dem Lebensweg des Kindes, der umfangen sein soll von der Verheißung Gottes, die in dem Beistand der Eltern und Freunde konkret erfahrbar wird. Auch wenn im Lied nicht ausdrücklich benannt, führt das Thema »Taufe« zu Assoziationen mit den Wellen des Jordan (Taufe Jesu) oder denen des Schilfmeeres (Exodus Israels), die das Symbol des Taufwassers sind. Manchmal helfen aber auch die Kontexte nicht weiter. So stehen die »Vögel« (Abb.  18) neben unterschiedlichen Halleluja-Rufen der Messfeier (GL Nr.  175), was auf den ersten und zweiten Blick keine plausible Deutung nahelegt. Wie auch immer, es dürfte schon mit diesen wenigen Beispielen deutlich geworden sein, dass die Graphiken keine Illustrationen oder Bebilderungen im herkömmlichen Sinn sind, und dass hier auch »keine tradierten Symbole christlicher Ikonographie in

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eine neue, aber erkennbare und eindeutige Form gegossen (werden)«.24 Genau das war auch nicht die Absicht von Monika Bartholomé. Es ging ihr nicht darum, vertraute, aber schon abgegriffene Zeichen der Liturgie oder Ikonographie zu verwenden, ­sondern neuere, offenere Zeichen zu finden. Sie selbst erklärt  : »Die Zeichnungen möchten Räume schaffen, Denk- und Empfindungsräume, und sie möchten kommunizieren. Kommunizieren heißt, auf der dritten Ebene, der wortlosen Ebene der Bilder sprechen. Diese Sprache entzieht sich der Eindeutigkeit, die Zeichnungen zeigen nicht auf den Text und sagen, so möchte ich gelesen werden. Sie beziehen Positionen in einem Dazwischen, einem Bereich, der eher mit der Wirkung von Musik vergleichbar ist. Es geht um Empfindungen, Erinnerungen, nicht um Bestätigung und Verstärkung des Wortes.«25

Empfindungen, Erinnerungen, ein Dazwischen inmitten von Texten und Notenzeilen. Diese Qualitäten scheinen für Friedhelm Hofmann durchaus auch im Hinblick auf ein Gebet- und Gesangbuch geeignet  : »Gerade die Offenheit der Zeichnungen, die keine eindeutige Festlegung zulassen, ermöglichen dem Betrachter einen ganz persönlichen Einstieg in das Gebet- und Gesangbuch, der einem Abenteuer gleicht. Durch diese Offenheit wird auch dem Beter die Größe und Weite der Gottesbegegnung nicht geschmälert, sondern auf eine zusätzliche Weise anders ermöglicht. So finden die Lieder und Texte in den Zeichnungen ein antwortendes Pendant, ein ausgleichendes optisches Gegengewicht innerhalb der graphischen Gestaltung und einen eigenen künstlerischen Lobpreis.«26

Eben diese Offenheit dürfte für viele Nutzer des Gebet- und Gesangbuchs eine Herausforderung, für einige auch ein Ärgernis sein. Sucht man im World Wide Web nach Reaktionen auf die Gotteslob-Graphiken, so findet man meist interessierte und wohlwollende Kommentare und sogar den Versuch, mit den Zeichnungen Andachten zu gestalten. Aber es gibt natürlich auch kritische Stimmen. Manchmal ist diese Kritik so überzogen, dass sie schon wieder komisch wirkt. Eine solche findet sich unter der verheißungsvollen Adresse www.nachfolgejesu.com/restarmee. Hier einige Auszüge  : »Das 2014 eingeführte ›Gotteslob‹ ist eine Verhöhnung des Herrn durch heidnische (auch freimaurerische) Zeichen und Grafiken sowie eine Verwässerung des alten Liedgutes. […] 24 Stefan Kraus, »Man sieht mehr als man weiß«. Anmerkungen zu den Zeichnungen von Monika Bartholomé in der Neuausgabe des kath. Gebet- und Gesangbuchs, in  : Thomas Sternberg (Hg.), Monika Bartholomé, Die Fülle des Lebens. Katalog zu den Zeichnungen des neuen Gotteslob anlässlich der Ausstellung »Alles auf Papier« in der Akademie des Franz Hitze Hauses, Münster i. W. 2013, S. 12. 25 Monika Bartholomé nach Friedhelm Hofmann, Zeichnungen im neuen Gotteslob, in  : Sternberg 2013 (Anm. 24), S. 8. 26 Hofmann 2016 (Anm. 21), S. 31.

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Auf dem Umschlag und auf dem Rückenband prangt nun nicht mehr das Kreuz als Zeichen Christi, sondern das Zeichen seines Widersachers. Dieses Zeichen wird nun schöngeredet als angebliches Zeichen für die Hl. Dreifaltigkeit bzw. als Tau-Zeichen des Hl. Franziskus. Warum nun dieses Zeichen  ; Der Teufel glaubt damit ein Recht zu haben, die Gebete der Gläubigen für sich abgreifen zu können. […] Im ganzen Buch ist kein Kreuz zu finden  ! Auch keines der überlieferten Symbole für Christus oder für die Gottesmutter  ! […] Bei notgedrungener Verwendung sollte man zu Beginn jeder Hl. Messe beten  : ›Hl. Erzengel Michael neutralisiere bitte dieses schreckliche Zeichen auf meinem Gesangbuch und auf allen Gesangbüchern hier in dieser Kirche und in allen Kirchen meines Bistums, damit es seine Wirkung nicht entfalten kann. Schütze alle Gläubigen, o heiliger starker Schutzpatron Deutschlands, der du zum Schutzengel der Christenheit im Heiligen Römischen Reich vom Seligen Kaiser Karl dem Großen ernannt worden bist. Heiliger Kaiser Heinrich  II und Heilige Kaiserin Kunigunde bittet für uns mit allen Heiligen und Seligen Deutschlands  !‹ Man sollte seine Bistumsheiligen zusätzlich besonders hervorheben und anrufen  !«27

Unabhängig davon, wie man persönlich zu den Zeichnungen von Monika Bartholomé steht, kann man den Verantwortlichen einen gewissen Respekt nicht versagen, dass sie den Mut hatten, diesen Typ von Graphiken in das neue Gotteslob aufzunehmen. Bei manchen Gebets- und Liedtexten haben sie diesen Mut nicht aufgebracht.28 Vergleicht man das Gesangbuch Leisentrits mit dem »Gotteslob«, so fallen durchaus Gemeinsamkeiten auf. Beide entstehen in einer mehr oder weniger deutlichen Krisensituation  : Die katholische Kirche des 16.  Jahrhunderts sieht sich von dem massiven Erfolg der Reformation bedroht, die des beginnenden 21.  Jahrhunderts durch einen massiven Traditionsabbruch und eine ebenso massive Vertrauenskrise. Beide Gesangbücher wollen auf diese Krisenerfahrung reagieren, u. a. auch durch ein Bildprogramm. Hier zeigen sich dann aber deutliche Unterschiede. Die Bilder bei Leisentrit wollen illustrieren und belehren, ihre schiere Überfülle soll den überbordenden Reichtum und die Überlegenheit der katholischen Tradition zum Ausdruck bringen. Die gerade einmal 19 Graphiken des »Gotteslob« dagegen sind formal bis auf das Äußerste reduziert. Sie wollen nichts illustrieren oder erklären, sie verstehen sich nicht als das Ergebnis eines Denkprozesses, sondern das Denken findet gewissermaßen in den Zeichnungen selbst statt, es sind »Gedankenstriche«, die dem Betrachter eine große Freiheit zutrauen. Vielleicht wird sich einmal zeigen, dass ein Plädoyer für Freiheit der angemessenere Weg hinaus aus einer Krisensituation ist. 27 www.nachfolgejesu.com/restarmee/PDF/Das%20neue%20Gotteslob%20-%20schlechte%20Symbole%20 und%20Texte.pdf (letzter Zugriff  : 15.08.2018). 28 Als Beispiel sei auf das zensierte Lutherlied »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« (GL 2, Nr. 277) verwiesen, dessen ursprüngliche zweite Strophe mit dem berühmten Diktum »es ist doch unser Tun umsonst, auch in dem besten Leben« immer noch nicht in einem katholischen Gesangbuch stehen darf  ; vgl. Hermann Kurzke, Aus tiefer Not schrei ich zu dir, in  : Ansgar Franz, Hermann Kurzke und Christiane Schäfer (Hg.), Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, Stuttgart 2017, S. 40–45.

Michael Fischer

Bilder – Objekte – Texte Plurimedialität von Kirchenlied-Illustrationen im 19. und 20. Jahrhundert

Das Thema des vorliegenden Bandes soll an dieser Stelle etwas ausgeweitet werden, indem die Plurimedialität von Kirchenlied-Illustrationen im 19. und 20. Jahrhundert untersucht wird. Verschiedenartige Quellen werden hierfür herangezogen, der Beitrag beschränkt sich also nicht nur auf die Gattung »Gesangbuch«. Im ersten Teil wird die Ausgangsposition mithilfe einer medienwissenschaftlichen Begrifflichkeit geklärt. Als Beispiel für die Plurimedialität von Kirchenlied-Illustrationen soll das Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott« vorgestellt werden.1 In diesem Teil wird zwischen monumentalen Bildwerken (Architektur, Skulptur) und solchen Bildern, die in Druckwerken (Liederbücher, Liedblätter, Bildpostkarten) enthalten sind, unterschieden. Abschließend soll im dritten Teil anhand der im Hauptteil vorgestellten Bilder eine Typologie entworfen werden. Zugleich wird auf die wissenschaftliche Stärke einer kulturwissenschaftlichen Verschränkung von Hymnologie (oder besser  : Forschung zu religiösen Liedkulturen) und Bildwissenschaft hingewiesen.

I Pluri- und Intermedialität 1. Plurimedialität Unter dem Begriff »Plurimedialität« soll ein schlichter, aber oftmals wenig beleuchteter Sachverhalt verstanden werden  : Die Illustration von Kirchenliedern beschränkt(e) sich nicht nur auf den Medientyp »Gesangbuch«.2 Unter diesem unscharfen Begriff werden zumeist Druckwerke verstanden, die von kirchlichen oder weltlichen Obrigkeiten für den liturgischen Gebrauch vorgeschrieben oder zumindest empfohlen sind (Kirchengesangbücher).3 Aber auch privat zusammengestellte religiöse Liederbücher 1 Dabei wird auf die literaturwissenschaftliche Dissertation des Verfassers zurückgegriffen (Michael Fischer, Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral »Ein feste Burg ist unser Gott« zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg, Münster 2014 [Populäre Kultur und Musik, 11]). Für den vorliegenden Beitrag werden aber neue Akzente gesetzt. 2 Vgl. hierzu  : Ulrike Süß und Hermann Kurzke (Hg.), Gesangbuchillustration. Beiträge zu ihrer ­Geschichte, Tübingen 2005 (Mainzer Hymnologische Studien,  11)  ; Maria Kapp, Die Gesangbuchillustration des 19. Jahrhunderts, in  : Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 15, 1990, S. 137–151  ; Esther Wipfler, Gesangbuch, evangelisch, in  : RDK Labor (2017), http://www.rdklabor.de/w/?oldid=99554 (letzter Zugriff  : 02.11.2018). 3 Vgl. Alexander Völker, Gesangbuch, in  : Theologische Realenzyklopädie 12, Berlin 1984, S. 547–565.

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Abb. 1  : »Ein feste Burg ist unser Gott«. CDCover aus dem Jahr 2017 (Gerth Medien) mit der Wartburg (Eisenach) im Hintergrund (Quelle  : https://www.fontis-shop. de/Ein-feste-Burg-istunser-Gott-CD  ; letzter Zugriff  : 24.04.2020).

oder Anthologien werden manchmal als »Gesangbuch« bezeichnet. Daneben fallen unter den Begriff »Gesangbuch« solche Publikationen, die sich an umgrenzte Personengruppen wenden, etwa Liederbücher für religiöse Vereine, für Soldaten oder für bestimmte nichtchristliche Gemeinschaften wie die Juden oder die Freimaurer. Andere mediale Gattungen, die gleichfalls religiöse Lieder und zuweilen Bilder enthalten, ergänzen das Gesangbuch  : Hierzu zählen Musikalien, die als Begleitmaterialien zu einem bestimmten Liederbuch erscheinen (wie die seit dem 18.  Jahrhundert verlegten Orgelbücher) oder auch als selbstständige Werke auf dem Markt angeboten werden (instrumentale bzw. vokale Kirchenliedbearbeitungen). Eine mittlere Stellung zwischen den Mediengattungen »Gesangbuch« und »Musikalien« nehmen die musikalischen Andachtsbücher der Frühen Neuzeit ein, die einem gebildeten Publikum religiöse Gedichte – in der Mehrzahl der Fälle mit Melodiestimme und Generalbassbegleitung – darboten.4 Von Aufmachung und Inhalt zielten sie auf einen gebildeten, exklusiven Abnehmerkreis, der nicht nur schrift- und musikkundig sein musste, sondern zugleich über soziale und ökonomische Ressourcen, also Zeit und Geld, verfügte, um diese musikalischen Andachtsformen adäquat realisieren zu können. Ephemere Druckwerke bieten ebenfalls Bild-Text-Kombinationen, etwa Flugschriften, aber genauso Liedblätter, Bildpostkarten und Kalender, die oft in ho4 Etwa  : Angelus Silesius, Heilige Seelen-Lust. Reprint der fünfteiligen Ausgabe Breslau 1668, hg. und eingeleitet von Michael Fischer und Dominik Fugger, Kassel 2004.

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Abb. 2  : Burg Hohenzollern (Zollernalbkreis) als »Feste Burg«. CD aus dem Jahr 2017, Warner Music Group Germany (Quelle  : https://www.amazon. de/Feste-Burg-UnserGott-Bach-Kantaten/dp/ B01N6G85Z0  ; letzter Zugriff  : 24.04.2020).

hen Auflagen gedruckt wurden und sich an ein Massenpublikum wandten. Die CoverGestaltung von Tonträgern (Schallplatten, Compact Disc) im 20. und 21. Jahrhundert verdiente eine eigenständige Betrachtung, weil hier (in einer Medienkombination) die Hülle zugleich einen informierenden und werbenden Charakter hat und die Gestaltung sich an die Anforderungen des Warendesigns anlehnt (Abb. 1 und 2).5 Neben Druckwerken sind historisch betrachtet Sachquellen (bzw. medienwissenschaftlich ausgedrückt  : gegenständliche Medien) für die Illustration von Kirchenliedern bedeutsam, die in der Hymnologie m. E. bisher kaum eine Rolle gespielt haben. Hierzu gehören zum einen die Werke der »Kunst« in einem emphatischen Verständnis (Werke der Architektur, Plastik und Malerei) sowie die Objekte des Alltags, die als Schmuck dienen, als Andachtsgegenstände oder Erinnerungsstücke (Memorabilia). Auch bei diesen Objekten werden vielfach Kirchenliedtexte bzw. -zitate mit Bildern kombiniert. 2. Intermedialität Von dieser (hier additiv verstandenen) Plurimedialität sind die theoretisch anspruchsvolleren Konzepte der Intermedialität zu unterscheiden. Hier geht es zum einen um 5 Vgl. einführend  : Roland Seim, Plattencover und Konzertplakate, in  : Holger Schramm (Hg.), Handbuch Musik und Medien, Konstanz 2009, S. 397–438.

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Medienkombinationen bzw. um Multimedialität, zum anderen um Medienwechsel.6 Eine Medienkombination liegt beispielsweise dann vor, wenn zu einem bestimmten Gesangbuch eine Musikalie, etwa ein Choralbuch, angeboten oder einem wissenschaftlichen Buch eine CD beigelegt wird – wie bei dem 2001 herausgegebenen »Geistlichen Wunderhorn«.7 Die übliche Darbietung eines Schrifttextes zusammen mit dem Notentext in einem Druckwerk – zuweilen ergänzt durch ein Bild8 – ist gleichfalls eine Medienkombination, freilich in einem erweiterten Sinn  : Die Kommunikationssysteme bzw. künstlerischen Gestaltungsbereiche »Literatur« und »Musik« zählen in der Medienwissenschaft zu den sog. »informellen Medien«, während Bücher, Flugschriften oder auch Tonträger als »gesellschaftlich institutionalisierte Kommunikationseinrichtungen« »formelle Medien« darstellen.9 Medienwechsel gibt es selbstverständlich auch bei Kirchenliedern. Das Lied »Nun danket alle Gott« von Martin Rinckart (1636 als Text publiziert, 1647 erstmals als Lied mit Generalbassbegleitung im musikalischen Andachtsbuch »Praxis Pietatis Melica« veröffentlicht10) wurde beispielsweise von Johann Sebastian Bach oder Georg Philipp Telemann in Choralkantaten verarbeitet, im frühen 19.  Jahrhundert integrierte Felix Mendelssohn-Bartholdy den Choral in seine Symphonie Nr. 2 »Lobgesang«.11 Damit wurde »Nun danket alle Gott« von spezifischen Liedmedien (Gesangbücher, musikalische Andachtsbücher) in andere skripto- bzw. typografische Medien (nämlich Musikalien) überführt. Später stellte der sogenannte »Choral von Leuthen« das Leitthema eines Ölgemäldes (Wilhelm Camphausen, 1864)12 wie eines Kinofilms (Carl Froelich, Deutschland 1933)13 dar, das heißt, das Lied erscheint dadurch in einem visuellen bzw. audiovisuellen Medium. Mit diesen Medienwechseln verschob sich zugleich die Semantik  : Das Rinckart-Lied wurde in der Rezeption zunehmend nationalisiert und entwickelte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert zu einem »Denkmal« protestantischpreußischer Geschichte. In der Tendenz gleichgerichtet sind die Uminterpretationen   6 Der Begriff der »Intermedialität« wird in unterschiedlichen Kontexten mit einer Vielzahl von Bedeutungen gebraucht, vgl. hierzu  : Irina O. Rajewsky, Intermedialität, Tübingen 2002, S. 11–18.  7 Hansjakob Becker u. a., Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder. Mit einer CD des Windsbacher Knabenchors, München 2001.   8 Zu solchen multimedialen Betrachtungseinheiten bzw. Bild-Text-Musik-Kombinationen in einem katholischen Andachtsbuch vgl. beispielsweise Michael Fischer, Gekreuzigte Liebe. Das Grüssauer Kreuzwegbuch von 1682, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 41, 2002, S. 161–186.   9 Knut Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft, Stuttgart 2. Aufl., 2010, S. 20. 10 Zur »Praxis Pietatis Melica« vgl. Völker 1984 (Anm. 3), S. 552 f. 11 Vgl. Michael Fischer, Religion, Politik und Bürgergesellschaft. Das Lied »Nun danket alle Gott« in Mendelssohns Symphonie Nr. 2 »Lobgesang« [2017], https://freidok.uni-freiburg.de/data/13944 (letzter Zugriff  : 10.10.2018). 12 Vgl.  https://artsandculture.google.com/asset/dankchoral-von-leuthen/RAH20ACbv3AVYw (letzter ­Zu­­griff   : 13.11.2018). 13 Vgl. https://www.filmportal.de/film/der-choral-von-leuthen_e53addd0221041d799d976c126cef27e (letzter Zugriff  : 13.11.2018).

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beim Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott«, das nun in den Fokus der Untersuchung rücken soll.

II Plurimedialtiät bei dem Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott« im 19. und 20. Jahrhundert Das Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott« hat eine vielschichtige Wirkungsgeschichte. Über die Jahrhunderte hinweg gab es produktive Textveränderungen, aber rezeptionshistorisch entscheidend war das sich wandelnde Verständnis des ursprünglichen Textes von Luther.14 Für das 19. und 20.  Jahrhundert ist auffallend, dass das Lied von einem ekklesiologischen und konfessionellen Textverständnis in ein nationales überführt wurde. Die Vertikale wurde sozusagen in die Horizontale umgebogen  : Ging es – in der Frühen Neuzeit – in erster Linie um das metaphysisch verstandene Verhältnis zwischen Gott, Mensch und Teufel, wurde seit den Befreiungskriegen mithilfe der Burg- und Feindmetaphorik eine nationale Lesart etabliert, die vor allem gegen Frankreich in Stellung gebracht wurde.15 Die konfessionalistische, anti-katholische Stoßrichtung führten die Liedinterpreten dabei fort, verstärkt einerseits durch den damals verbreiteten National- und Reichsprotestantismus seit 1870, andererseits durch die Luther- bzw. Reformationsjubiläen der Jahre 1883 und 1917.16 1. Monumentale Medien 1.1 Inschriften Das Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« (bzw. Liedbestandteile, vor allem das Initium) wurde vielfach als Inschrift an Kirchen angebracht und damit Teil eines dauerhaften Monuments bzw. Teil von Architektur. Das bekannteste Beispiel stellt ohne Zweifel der Turm der Wittenberger Schlosskirche dar, dessen heutige Form von der neugotischen Umgestaltung in den Jahren 1883 bis 1892 herrührt. Dieser Umbau steht im Zusammenhang mit der Etablierung nationaler Reformationsgedenkstätten.17 Es war der preußische Kronprinz Friedrich Wilhelm (der spätere deutsche Kaiser Friedrich III.), der im Jahr 1880 ausdrücklich verlangte, »dass der beste Platz am Baue vorbehalten werde dem grossen Schlachtgesange des Protestantismus  : ›Ein’ veste Burg ist unser Gott, ein’ gute Wehr und Waffen‹«.18 Der Turm sollte nicht nur ein Denkmal der Re14 Zum »Schock der Wirkungsgeschichte« bei Kirchenliedern vgl. Hermann Kurzke, Hymnen und Lieder der Deutschen, Mainz 1990, S. 210–231  ; vgl. zu »Ein feste Burg«  : ebd., S. 185–209. 15 Fischer 2014 (Anm. 1), S. 10. 16 Vgl. ebd., S. 60–67  ; S. 124–147. 17 Vgl. hierzu ausführlich Martin Steffens, Luthergedenkstätten im 19. Jahrhundert. Memoria – Repräsentation – Denkmalpflege, Regensburg 2008, S. 237–324. 18 Friedrich Adler, Die Schlosskirche in Wittenberg, ihre Baugeschichte und Wiederherstellung, Berlin

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formation darstellen, sondern ebenso ein Denkmal des Nationalprotestantismus  ; zugleich wurden damit das zweite Kaiserreich und das deutsche Kaisertum mit seinem evangelischen Herrscherhaus historisch und theologisch legitimiert.19 Über Inschriften hinaus sollen für diesen Beitrag als prominente Beispiele monumentaler Medien zunächst das Lutherdenkmal in Worms (1868 vollendet),20 dann das Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig (1913 eingeweiht) herangezogen werden. Das Wormser Beispiel gehört dem Bereich der Bronzeskulptur (bzw. der Skulpturengruppen) an, das Leipziger Beispiel der monumentalen Denkmalarchitektur. 1.2 Lutherdenkmal in Worms An die erfolgreiche Durchsetzung der Reformation – verbunden mit nationalen Anliegen – erinnert das im Jahr 1868 enthüllte Lutherdenkmal in Worms. Bei den zeitgenössischen Deutungen dieses Denkmals spielte das Kirchenlied »Ein feste Burg ist unser Gott« eine bedeutende Rolle, wie Text- und Sachquellen belegen.21 Ein unbekannter Interpret hörte bereits im Jahr 1863 (also noch vor Vollendung des Denkmals) »Orgelklang daherbrausen und die gesammte Gemeinde ›Ein feste Burg ist unser Gott‹ anstimmen«.22 Der Weimarer Theologe Carl Alfred Hase schrieb 1867, dieses »hehre Denkmal des Protestantismus« mache einen ähnlichen Eindruck »Wie das Lied, welches der Gottesstreiter mitten in Kampf und Noth siegesbewußt gesungen hat  : Ein feste Burg ist unser Gott, Ein gute Wehr und Waffen«.23 Diese Deutungen waren nicht singulär, besonders während der Enthüllungsfeierlichkeiten wurden durch Ansprachen, die Prägung einer Gedenkmedaille, den Vortrag von Festgedichten sowie durch das Absingen des Liedes ähnliche Assoziationen hergestellt (Abb. 3).24 Das Denkmal selbst  – von dem Dresdner Bildhauer Ernst Rietschel geschaffen  – verweist allerdings nicht direkt auf das Lied, es sei denn, man sieht in den niedrigen Umfassungsmauern mit Sockeln und Zinnen eine Andeutung der Burgmetaphorik.25 Spätere Miniaturisierungen des Denkmals – in Form von metallenen Statuetten für das 1895, S. 7. Das 1880/1881 fixierte Bauprogramm lautete übereinstimmend mit den Wünschen des Kronprinzen (ebd.)  : »Ausbau des runden Nordwestthurms als Glockenthurm mit einer Kuppelspitze, einer Umgangsgalerie für die Choralbläser und einem Mosaikfriese darunter, der die ersten Verse des Lutherliedes [Ein feste Burg] trägt.« – Zu der architektonischen Gestaltung vgl. Steffens 2008 (Anm. 17), S. 283. 19 Vgl. Steffens 2008 (Anm. 17), S. 89. 20 Auf den ideellen Zusammenhang zwischen der Wittenberger Schlosskirche und dem Wormser Denkmal geht Steffens ein (Steffens 2008 [Anm. 17], S. 315). 21 Fischer 2014 (Anm. 1), S. 42–45. 22 Zit. nach ebd., S. 43. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 46–52  ; zur Erinnerungsmedaille, die auf der Vorderseite das Wormser Denkmal zeigt, auf der Rückseite den Liedanfang, vgl. https://nat.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=223802 (letzter Zugriff  : 07.01.2018) sowie Fischer 2014 (Anm. 1), S. 337 (Abb. 5). 25 Vgl. Fischer 2014 (Anm. 1), S. 336 (Abb. 3 und 4). Ob Rietschel selbst seinem Denkmal diese Konzeption zugrunde gelegt hat, ist unbekannt.

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Abb. 3  : Lutherdenkmal in Worms. Gedenkblätter zur Erinnerung an die Enthüllungsfeier des Lutherdenkmals, hg. von Friedrich Eich, Worms 1868, Frontispiz (Sammlung des Autors).

Haus – beziehen sich allerdings eindeutig auf den Choral  : Eine integrierte mechanische Spieluhr lässt »Ein feste Burg« ertönen.26 1.3 Völkerschlachtdenkmal in Leipzig Dass an den Sieg über Napoleon bei Leipzig durch ein Denkmal erinnert werden sollte, war schon eine Idee der Zeitgenossen.27 Bereits 1813/14 gab es Stimmen, die dies forderten und erste Entwürfe vorlegten, u. a. der Karlsruher Klassizist Friedrich Weinbren-

26 Vgl. https://www.zentralarchiv-speyer.de/fileadmin/user_upload/1900Lutherspieluhr.pdf (letzter Zugriff  : 18.10.2018). 27 Vgl. Thomas Topfstedt, Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal  : Eine kurze Ideen- und Baugeschichte [2016]. https://www.vr-elibrary.de/doi/pdf/10.7788/9783412504670-009 (letzter Zugriff  : 15.10.2018)  ; Peter Hutter, Zur Baugeschichte des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig, in  : Katrin Keller und HansDieter Schmid (Hg.), Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als Gegenstand der Geschichtskultur, Leipzig 1995, S.  42–61.  – Es kann hier nur kurz darauf hingewiesen werden, dass der Begriff »Völkerschlacht« (ähnlich wie die Bezeichnung »Befreiungskriege«) ideologisch überformt ist und eine bestimmte Sicht deutscher Nationalgeschichtsschreibung widerspiegelt.

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Abb. 4  : Wettbewerbsentwurf für das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig von Paul Pfann, 1897 in  : Völkerschlacht-Denkmal bei Leipzig, Sonderdruck, Leipzig 1897, S. 29 (Exemplar Leipzig, Universitätsbibliothek, 67-8-7186).

ner, der einen »Teutschen Nationaltempel« errichten wollte.28 Allerdings kam es erst zur 50-Jahr-Feier 1863 zu einer Grundsteinlegung, ohne dass in der Folge eine konkrete Bauidee umgesetzt worden wäre. Kurz vor der Jahrhundertwende griff der Leipziger Architekt Clemens Thieme das Projekt auf, indem er den »Deutschen Patriotenbund zur Errichtung eines Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig« gründete.29 1896 erfolgte die Ausschreibung einer »Hauptkonkurrenz«, ein Wettbewerb, bei dem 71 Entwürfe eingingen.30 Nicht mit einem Preis ausgezeichnet, aber für die weitere bauliche Entwicklung wegweisend, war die Einreichung des Münchener Architekten und Professors an der dortigen Technischen Hochschule Paul Pfann mit dem Motto »Ein feste Burg« (Abb. 4)  :31 Sein geometrisch-strenger Entwurf zeigt einen quadratischen Unterbau mit vier Ecktürmen auf einer bewaldeten Anhöhe.32 Zwischen dem Zentralturm – gleichfalls

28 Topfstedt 2016 (Anm. 27), S. 138 ff. 29 Ebd., S. 140 f. 30 Ebd., S. 141. 31 Ebd. – Das Motto steht am unteren rechten Rand der Entwurfszeichnung. 32 Der Entwurf ist wiedergegeben in  : Völkerschlacht-Denkmal bei Leipzig. Sonderdruck. Leipzig 1897, S.  29. Online  : https://histbest.ub.uni-leipzig.de/receive/UBLHistBestCBU_cbu_00001794 (letzter Zugriff  : 15.10.2018). Damals meinte man u. a., der Entwurf erinnere »an den Aufbau des Denkmals des

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quadratisch mit einem runden Aufsatz (Tambourkuppel33) – und dem Unterbau vermittelt ein pyramidenartiges Zwischengeschoss. Der Zentralturm wird durch eine steil aufsteigende Treppe auf der Gebäudevorderseite erschlossen  ; ein Ehrenhof sollte das Denkmal ergänzen.34 Sieht man von dem Motto und der burgartigen Gesamtanlage ab, sind keine weiteren Reminiszenzen an das Kirchenlied erkennbar, allerdings passt der über dem Rundportal gegebene Drachenkampf durchaus in das Motivrepertoire des Liedes.35 2. Druckmedien Die Zahl und die Art der Druckmedien, welche das Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« illustrieren oder das Incipit bzw. einzelne Verse grafisch gestaltet wiedergeben, ist Legion. Zu unterscheiden sind Liedmedien, die als Bücher oder Hefte erschienen sind, von solchen, die als einseitig bedruckte Grafiken (mit und ohne Liedtext) angeboten wurden. Zur zweiten Gruppe zählen auch die Bildpostkarten. 2.1 Bücher und Hefte Bei Büchern und Heften ist zunächst auf die Gestaltung des Einbandes (des Umschlages bzw. bei gehefteten Medien, der Titelseite) zu verweisen. Buchschmuck wurde zuweilen von bekannten Illustratoren geschaffen, so hat im Jahr 1916 Franz Stassen das Andachtsbuch »Ein feste Burg ist unser Gott« nicht nur mit einhundert Federzeichnungen ausgestattet, sondern ebenso den Einband mit einer Lutherrose, einer stilisierten Burg und dem Schriftzug »Ein feste Burg ist unser Gott« gestaltet.36 Auch bei evangelischen Kirchengesangbüchern des 20. Jahrhunderts prangte zuweilen der Schriftzug »Ein feste Burg« auf dem Einband37 – allerdings ohne dass ein konkreter inhaltlicher Bezug zum jeweiligen Gesangbuch erkennbar war. Der Einband konnte vom Käufer gewählt werden,38 Kaisers Hadrian« (Deutsche Bauzeitung 31, 1897, Nr. 7, S. 37). Gemeint ist dessen Mausoleum in Rom, die heutige Engelsburg. 33 Hutter sprach von einem »Tambourartigen Zylinder«, der von einem »kegelförmigen Helm« abgeschlossen wird (Hutter 1995 [Anm. 27], S. 50). 34 Der Entwurf wirkt genauso monumental wie modern, insbesondere im Vergleich zu anderen Denkmälern der Zeit, vgl. etwa das neobarock gestaltete Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal in Berlin (ebd., S. 46). 35 1914, im beginnenden Ersten Weltkrieg, wurde das Drachenmotiv auf Bildpostkarten direkt mit dem Choral »Ein feste Burg« verknüpft  ; vgl. Fischer 2014 (Anm. 1), S. 347 (Abb. 25 f.). 36 Ein feste Burg ist unser Gott. Andachtsbuch für das deutsche Haus. Mit einem Geleitwort von Hans von Wolzogen. Mit 100 Federzeichnungen von Franz Stassen, Berlin 1916. 37 Vgl. Roland Bialek, Das Gesangbuch und sein Einband, in  : Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 39, 2000, S. 191–211. Sprüche (vor allem Liedverse, Bibelverse) treten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf »und begleiten das Gesangbuch fast ein Jahrhundert« (ebd., S. 205). 38 Bis Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Einband ohnehin unabhängig vom Inhalt gestaltet, »der Käufer ließ beim Buchbinder das Buch in den gewünschten Einband binden« (Bialek 2000 [Anm. 37], S. 203). Der (vorgefertigte) Verlegereinband wurde in verschiedenen Qualitäten und Dekorationen angeboten, ein Brauch, der sich bis heute für Gesangbücher erhalten hat.

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so dass sich der Innentitel bzw. das Titelbild nicht selten auf andere Lieder, Bibelverse oder Bildmotive als der Einband bezog.39 Selbstverständlich gab es auch Liedillustrationen, die direkt dem Liedtext (und ggf. der Melodie) beigegeben waren. Prominent sind die Randzeichnungen, die Gustav König für eine Ausgabe der Lutherlieder des Germanisten und Hymnologen Philipp Wackernagel geschaffen hat.40 Dort wird »Ein feste Burg ist unser Gott« in einen eschatologischen Kontext gerückt.41 Im Folgenden soll jedoch ein anderes Beispiel näher erläutert werden, nämlich das Titelblatt für das »Evangelische Gesangbuch für ElsaßLothringen«, 1899 zuerst in Straßburg erschienen (Abb. 5).42 Dieses holzschnittartige Bild wurde von dem elsässischen Künstler Carl Spindler geschaffen. Im oberen Register43 sind zwei einander zugewandte Posaunenengel zu sehen, dazwischen gestellt ist ein rechteckiges Schild mit dem Titel des Buches. Das untere Register zeigt die irdische Sphäre, die dargestellten Objekte der Natur und der Baukunst sind symbolisch zu verstehen  : In der Bildmitte, vor einer aufgehenden Sonne, ist ein Fels gegeben, umtost von Wellen. Auf dem Felsen thront eine Burg, die leicht als ein konkretes Gebäude, nämlich die Wartburg bei Eisenach, zu identifizieren ist.44 Am Fuß des Felsens befindet sich ein zweites Gebäude, das den lokalen Bezug herstellt, aber optisch wie ideell deutlich untergeordnet ist  : Es handelt sich um die Kirche Saint-Thomas, die nicht nur für die Straßburger Reformationsgeschichte bedeutend ist, sondern auch für die protestantische liturgische Bewegung um Friedrich Spitta45 und Julius Smend. Die Fels-Burg-Metaphorik mit dem tosenden Meer ist direkt dem Psalm 39 Als Beispiel sei auf ein Exemplar des »Gesangbuches für die evangelische Landeskirche in Hessen« (Darmstadt 1923) hingewiesen  : Auf dem schwarzen Lederumschlag ist in goldener Schmuckschrift eingeprägt »Ein’ feste Burg ist unser Gott  !« (mit kleiner Ziervignette), auf dem Vorsatz ist (ebenfalls in goldener Schmuckschrift) zu lesen »Baue fest auf Gottes Güte« (Sammlung des Autors). 40 Martin Luthers geistliche Lieder mit den zu seinen Lebzeiten gebräuchlichen Singweisen. Mit Randzeichnungen von Gustav König, hg. von Philipp Wackernagel, Stuttgart 1848, neue Ausgabe ebd. 1856. Eine weitere Ausgabe mit den Zeichnungen Königs gab Albert Fischer heraus (Stuttgart 1883). 41 Wackernagel 1848 (Anm. 40), S. 55 f. u. 192 (Erläuterung des Bildes). 42 Eingesehen wurde die Ausgabe  : Evangelisches Gesangbuch für Elsaß-Lothringen, Straßburg 1908. Vgl. Johannes Ficker, Neuer Druck und Schmuck des evangelischen Gesangbuchs für Elsaß-Lothringen, Leipzig 1910  ; zur Geschichte der Gesangbuchausstattung im Allgemeinen  : Johannes Ficker  ; Wilhelm Janasch, Gesangbuch II. Gesangbuchausstattung, in  : Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Dritte, völlig neu bearbeitete Auflage, Bd. 2, Tübingen 1958, S. 1464–1470. 43 Die Zweiteilung der Frontispize ist seit dem 18. Jahrhundert verbreitet, dabei wird eine himmlische von einer irdischen Sphäre geschieden  ; vgl. Hans Seidel, Gesangbuchillustrationen des 18. Jahrhunderts als theologische und kulturgeschichtliche Quelle, in  : Süß/Kurzke 2005 (Anm. 2), S. 13–48. 44 Die Kombination der Wartburg mit dem Lutherchoral »Ein feste Burg ist unser Gott« war im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert öfters auf Titelbildern von Gesangbüchern gegeben  ; vgl. Otto Lerche, Druck und Schmuck des deutschen evangelischen Gesangbuchs im 20. Jahrhundert, Berlin 1936 (Abb. 3, 60, 83 und 92). 45 Friedrich Spitta war als Theologieprofessor in Straßburg tätig. Zugleich beschäftigte er sich intensiv mit Liturgik und Hymnologie, er gilt als der »maßgebliche Redakteur« des Gesangbuches (Konrad Klek,

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Abb. 5  : Evangelisches Gesangbuch für Elsaß-Lothringen, Neuauflage Straßburg 1908, Frontispiz entworfen von Carl Spindler (Exemplar Universität Freiburg, Zentrum für Populäre Kultur und Musik, V2/L1908Stra).

entnommen, welcher dem Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« (ebenfalls im unteren Register im Schriftband zitiert) zugrunde liegt  : »Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen« (Ps 46,2 ff.).46 Die bildliche Zweiteilung folgt einer bestimmten Form der Theologie, die zwischen Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit, Erwartung und Vollendung bzw. »ecclesia militans« und »ecclesia triumphans« unterscheidet.47 Die biblischen, symbolischen und im engeren Sinn ikonographischen Bezüge zu dem Psalm sind zahlreich, angefangen von der Berg- und Felsmetaphorik der Heiligen Schrift48 über die protestantische AusSpitta, Friedrich, in  : Neue Deutsche Biographie 24, Berlin 2010, S. 712 f.; https://www.deutsche-biographie.de/pnd119424568.html#ndbcontent (letzter Zugriff  : 16.10.2018). 46 Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testament nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Stuttgart 1936, S. 570. 47 Vgl. hierzu Klaus Berger und Wilfried Härle, Kirche  II. Kirche  VII, in  : Theologische Realenzyklopädie 18, Berlin 1989, S. 213 (Kirche und Reich Gottes)  ; S. 286 (kämpfende und verherrlichte Kirche). 48 Vgl. den Artikel »Fels« von Julius Steinberg im Online-Lexikon der Deutschen Bibelgesellschaft (2018)  : https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/18257/ (letzter Zugriff  : 16.10.2018).

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legung der Petrus-Fels-Analogie in Mt 16,1849 bis hin zur weltlichen und geistlichen Emblematik der Frühen Neuzeit.50 Der Bildtypus mit dem meerumtosten Burgfelsen blieb auch im beginnenden 20.  Jahrhundert nicht analogielos  : Eine entsprechende Darstellung findet sich beispielsweise in der Sammlung von Kriegspredigten, die Bruno Doehring 1914 unter dem Titel »Ein feste Burg« herausgab (Abb.  6)  ; bezeichnenderweise wird dort eine Predigt über den Ps 46 illustriert.51 2.2 Liedblätter und Liedpostkarten Neben Liederbüchern gab es als weitere Form der Druckmedien großformatige Liedblätter (Einblattdrucke) und Liedpostkarten. Ein Kunstwerk im emphatischen Sinn stellt die Sammelmappe »Das Luther-Lied Ein’ feste Burg ist unser Gott bildlich dargestellt von Alfred Rethel« aus dem Jahr 1861 dar (Abb. 7).52 Andere Liedillustrationen folgten, so hat Joseph Sattler 1896 ein Blatt gestaltet,53 das als Rahmung für den vollständigen Liedtext einen steil aufragenden, von Meeresungeheuern bedrohten Felsen zeigt, der von Engeln und einer auf einem Buch (Heilige Schrift) aufliegenden Dornenkrone bekrönt wird.54 Im frühen 20. Jahrhundert – während des Ersten Weltkrieges – 49 Vgl. Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8–17), Zürich 1990 (Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament I/2), bes. S. 462 f.; S. 472–480. – Es ist ein Irrtum, der Vers hätte nur in der katholischen Papstideologie (monumentalisiert als Inschrift im Kuppeltambour des Petersdoms in Rom, Vatikan) eine Rolle gespielt. 50 Vgl. etwa das Emblem aus Georg Philipp Harsdoerffers »Frauenzimmer Gesprechspiele« (Zweiter Teil Nürnberg 1657) mit der Inscriptio »Herr mein Fels und meine Burg«  ; http://diglib.hab.de/drucke/lo2623/start.htm?image=00184 (letzter Zugriff  : 16.10.2018) oder ein Emblem aus Johann Michael Dilherrs »Augen- und Hertzens-Lust« (Nürnberg 1661)  ; https://embleme.digitale-sammlungen.de/loadframe. html?toc_name=dilhe_augenu.html&img_id=img_dilhe_augenu00260 (letzter Zugriff  : 18.10.2018). 51 Bruno Doehring, Ein feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit. Zum Besten der Nationalstiftung für die Hinterbliebenen der im Kriege Gefallenen  1, Berlin 1914, S.  41 (abgedruckt in  : Fischer 2014 [Anm. 1], S. 377 [Abb. 18]). – Das »Gesangbuch für die Evangelisch-reformirte Kirche der deutschen Schweiz« (1891 erstmals erschienen) verknüpft das Lutherlied mit einer anderen Ikonographie  : Über dem Schrift- und Notentext der ersten Strophe werden quasi als Triptychon die Tafeln der Zehn Gebote gezeigt, die Arche Noah mit der Taube (Gen 8,11) sowie ein Kreuz (ebd., S. 182, Nr. 157). Typologisch verweist die Arche auf die christliche Kirche und die Sintflut auf die Taufe. 52 Das Lutherlied Ein’ feste Burg ist unser Gott bildlich dargestellt von Alfred Rethel (Des Künstler’s letzte Arbeit). In Holz geschnitten von A. Gabler, Dresden [1861], drei Blatt, 36 × 47 cm. Vgl. die kurze Beschreibung bei  : Wolfgang Müller von Königswinter, Alfred Rethel. Blätter der Erinnerung, Leipzig 1861, S. 165 f. 53 2014 wurde das Blatt von mir noch als Ausdruck »nationalreligiöser Propaganda« in das Umfeld des Ersten Weltkrieges eingeordnet (Fischer 2014 [Anm. 1], S. 339 [Abb. 9]). Neuere Nachforschungen haben aber gezeigt, dass das undatierte Blatt bereits 1896 entstanden ist. 54 Einblattdruck der Verlags Breitkopf & Härtel Leipzig, ohne Jahr, 34 × 27 cm. Zeichnung von Joseph Sattler. Das Blatt gehörte zu einer Serie mit dem Titel »Neue Flugblätter. Volkstümliche Lieder mit Zeichnungen deutscher Künstler« (Verzeichnis des Bücher-Verlages von Breitkopf & Härtel in Leipzig 1828–1898, Leipzig 1898, S. 37). Vgl. Zeitschrift für Bildende Kunst N. F. 7, 1896, S. 190 ff.

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Abb. 6  : Illustration zu einer Predigt über Psalm 46, die dem Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott« zugrunde liegt, in  : Bruno Doehring, Ein feste Burg. Predigten und Reden aus eherner Zeit, Berlin 1914, S. 41 (Sammlung des Autors).

publizierte Ernst Barlach ein großformatiges »Künstlerflugblatt« mit dem Motto »Und wenn die Welt voll Teufel wär«.55 Liedpostkarten sind Druckmedien, deren Vorderseite auf ein konkretes Lied Bezug nimmt.56 Dies geschieht durch die Wiedergabe von Titel, Incipit, einzelner Liedverse oder des gesamten Textes. In der Regel sind Illustrationen oder Fotografien beigegeben, auf den Liedinhalt bezogene Symbole oder andere schmückende Elemente. Zuweilen findet sich auch musikalische Notation.57 Entstanden sind diese Medien im frühen 20. Jahrhundert  ; damals entwickelte sich eine Industrie, welche Lied- und allgemein Bildpostkarten massenhaft herstellte.58 Bebildert wurden ganz verschiedene Gattungen 55 Kriegszeit. Künstlerflugblätter, Nr. 46, 1. Juli 1915, Rückseite, 48 × 32 cm  ; vgl. http://www.ernst-barlach. com/gr-020-welt-voll-teufel-waer.html (letzter Zugriff  : 23.10.2018). – Zum Reformationsjubiläum 1917 erschien ein farbiger Druck, der dezidiert als »prächtiger und würdiger Wandschmuck für jedes evangelische Haus« dienen sollte. Dieses Bild zeigt ein Lutherportrait und darunter das Motto  : »Ein’ feste Burg ist unser Gott / Ein’ gute Wehr und Waffen«  ; Format  : 58 × 44 cm  ; vgl. die zugehörige Reklame-Postkarte  : http://www-old.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage.php?pos=-15286 (letzter Zugriff  : 23.10.2018). 56 Rolf Wilhelm Brednich, Die Liedpostkarte, in  : Jahrbuch für Volksliedforschung 16, 1971, S. 164 f.; Sabine Giesbrecht, Deutsche Liedpostkarten als Propagandamedium im Ersten Weltkrieg, in  : Lied und populäre Kultur. Song and Popular Culture. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs 50/51, 2005/2006, S. 55–97. 57 »Die Attraktivität von Liedpostkarten resultiert aus dem Unterhaltungs- und Wiederkennungswert der zitierten Melodien« (Giesbrecht 2005/2006 [Anm. 56], S. 57). 58 Zur Herstellung und zum Vertrieb von Ansichtskarten  : Otto May, Deutsch sein heisst treu sein. Ansichtskarten als Spiegel von Mentalität und Untertanenerziehung in der Wilhelminischen Ära (1888– 1918), Hildesheim 1998, S. 59–75.

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Abb. 7  : Christologische und apokalyptische Motive in einem Einblattdruck von Joseph Sattler aus dem Jahr 1896 (Universität Freiburg, Zentrum für Populäre Kultur und Musik, Or fol 188).

und Genres der Musik  : vom Operettenschlager über Volkslieder hin zu patriotischen und religiösen Gesängen. Liedpostkarten zu »Ein feste Burg ist unser Gott« wurden im Ersten Weltkrieg vertrieben59, aber auch anlässlich des Reformationsjubiläums 1921 (Abb. 8)  : Die von Elisabeth Bonin gestaltete Karte erinnert an den 400. Jahrestag des Wormser Reichstags, der in der Domstadt 1921 feierlich begangen wurde.60 Im oberen Register zeigt die Bildpostkarte Martin Luther in der Gestalt, wie sie Ernst Rietschel für das Wormser Lutherdenkmal geschaffen hatte. Im Hintergrund sind links der romanische Wormser Dom und rechts das sog. »Lutherpförtchen«61 zu sehen. Die Jahreszahlen 1521 und 1921 am oberen Bildrand werden durch eine stilisierte eiserne Kette verbunden.62 Im unteren Register, etwa ein Drittel der Karte ausfüllend, ist links eine 59 Dazu Fischer 2014 (Anm. 1), S. 166–177. Etwa 40 verschiedene Motive aus der Zeit zwischen 1914 und 1918 konnten vom Verfasser antiquarisch erworben werden. 60 Vgl. Bericht über die Wormser Lutherfeier am 17. bis 19. April 1921. Zum Gedächtnis der 400jährigen Wiederkehr des Tages, an dem Luther in Worms vor dem Reichstag stand, Worms 1921. 61 Zu dieser vermeintlichen Lutherstätte vgl.: https://www.worms.de/de/web/luther/Tourismus/LutherRundgang/weitere_Lutherstaetten.php (letzter Zugriff  : 30.10.2018). 62 Die Künstlerin Elisabeth Bonin (1893–1945) hat das Motiv der Kette auch in einem anderen religiösen Kontext gebraucht (Entwurf für ein Exlibris mit dem Motto »Die Wahrheit wird euch frei machen«)  ;

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Abb. 8  : Erinnerung an die Erinnerung  : Bildpostkarte zur 400-Jahr-Feier des Reichstages zu Worms von Elisabeth Bonin [1921] (Sammlung des Autors).

Glocke in ihrem hölzernen Stuhl gegeben, rechts sind die ersten vier Verse des Liedes abgedruckt  : »Ein feste Burg ist unser Gott, / Ein gute Wehr und Waffen. / Er hilft uns frei aus aller Not, / Die uns jetzt hat betroffen.« Die Verse sind mehrdeutig zu verstehen  : Einerseits nehmen sie auf das historische Reformationsereignis in Worms (1521) Bezug, andererseits auf die Not der Nachkriegszeit (1921) – die Kette »schweißt« die Ereignisse visuell zusammen. Aus den Berichten zur Wormser Lutherfeier wissen wir, dass das Lied mehrmals gesungen und dabei in einen nationalprotestantischen Kontext gerückt wurde  : Bei der Schlussfeier wurden beispielsweise die »deutsch-evangelischen Männer und Frauen« wie die »deutsch-evangelische Jugend« dazu aufgerufen, sich für »Evangelium und Deutschtum« einzusetzen.63 Als eine Art Gelöbnisgesang wurde dann »Ein feste Burg« angestimmt.64 freundliche Mitteilung von Diplom-Archivarin Margit Rinker-Olbrich, Stadtarchiv Worms (E-Mail vom 31.10.2018). 63 Bericht über die Wormser Lutherfeier 1921 (Anm. 60), S. 95. In der gleichen Erinnerungsschrift wird das Lied auf den Seiten 30, 32 und 69 zitiert. 64 Vgl. ebenso Hermann Petrich, Vom Tage zu Worms und was er uns bei seiner vierhundertjährigen Gedächtnisfeier am 18. April 1921 zu sagen hat, Berlin 1921, S. 14 f. Petrich schließt seine Schrift mit dem

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III Schluss Die zum Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott« vorgestellten Bilder aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die den Gesang einerseits monumental und raumgreifend »verkörpern«, andererseits illustrieren, d. h. bildlich präsentieren, erläutern oder interpretieren, bringen ganz unterschiedliche Sinnpotentiale des Textes zum Ausdruck. Im Anschluss an Hans Robert Jauß und Hermann Kurzke soll die Produktivität solcher Neuinterpretationen herausgestellt werden,65 auch wenn der politische (nationalistische und militaristische) Missbrauch beim Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« offenkundig ist.66 1. Bildthemen und Darstellungsformen Zumindest idealtypisch lassen sich verschiedene Bildthemen mit Bezug auf das sogenannte »Lutherlied« voneinander abgrenzen  : Einerseits gibt es Darstellungen, die ekklesiologische bzw. konfessionelle Bezüge herstellen, andererseits solche, die national oder nationalistisch aufzufassen sind. Bemerkenswert ist, dass christologische Interpretationen – wie sie die zweite Liedstrophe von Martin Luther nahelegt – eher selten vorkommen (König 1848 und Rethel 1861 mit eschatologischer Ausrichtung, Sattler 1896 verwies mit der Darstellung einer Dornenkrone auf die Passion Christi). Häufiger wurde der Liedautor und Reformator Martin Luther selbst gezeigt, wobei die historische Person zugleich für sein überzeitliches Werk steht (Wormser Lutherdenkmal). Bei den Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg gibt es zuweilen szenische Darstellungen, etwa wenn ein Feldprediger mit Soldaten unter dem Motto »Ein feste Burg« gegeben wird.67 Bei diesem Bildtypus ist kein historisches, sondern ein aktuelles Geschehen zu sehen und mit dem Lied assoziativ verwoben. In den Bildern zum Lied »Ein feste Burg ist unser Gott« zeigen sich gleichsam anamnetische, präsentische und proleptische Aspekte  ; sie referieren auf die Geschichte, wollen Gegenwart gestalten oder zumindest deuten und eröffnen eine Zukunft – entweder als positive Verheißung oder als apokalyptische Vision. Ganz ins Abstrakte erhoben wurde das Lied beim Entwurf zum Völkerschlachtdenkmal. Dort fungiert das Initium als assoziatives Motto, ohne Lutherlied und zitiert den ersten und letzten Vers  : »Ein feste Burg ist unser Gott  ! / Das Reich muß uns doch bleiben  !« (ebd., S. 15). 65 »Die Rezeptionsästhetik hat uns gelehrt, die Wirkungsgeschichte eines Textes nicht nur als Folge von unzureichenden und falschen Interpretationen des Urtexts zu sehen, sondern, so Hans Robert Jaus (Literaturgeschichte als Provokation 1970), als sukzessive Entfaltung seines Sinnpotentials« (Kurzke 1990 [Anm. 14], S. 229). 66 »Daß die [Lied-]Texte nicht integer sind, daß sie ihren Charakter so leicht aufgeben, daß ihr Widerstand so gering ist, daß sie so anpassungsbereit und korruptibel sind und daß ihre Grenzen so schlecht befestigt sind, in dieser Erkenntnis besteht der Schock der Wirkungsgeschichte« (Kurzke 1990 [Anm. 14], S. 211). 67 Vgl. Fischer 2014 (Anm. 1), S. 173 f. u. 348 (Abb. 30 f.).

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dass dadurch ein konkretes Architektur- oder Bildprogramm folgt – sieht man von der burgartigen Gesamtanlage ab. Im Bereich des Gegenständlichen sind bei den Liedillustrationen zunächst dezidiert christliche Symbole wie das Kreuz oder die Heilige Schrift hervorzuheben. Mehrdeutig, quasi zwischen »geistlichem« und »weltlichem« Bereich changierend, sind die wehrhaften Symbole wie Burg, Schild oder Schwert zu verstehen. Bei den Bildpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg interpretieren eindeutig militärische Gegenstände wie Kanonen, Wappen oder Fahnen den Liedtext.68 Im Kontext der Postkarten – aber auch über dieses Medium hinausgehend – ist die Skriptographie und Kalligraphie, also die künstlerisch gestaltete Form der Schrift (Liedtitel, -initium, -verse), ein weiteres wichtiges Gestaltungsmittel. Die Gesangbuchillustrationen betonen thematisch in erster Linie den ekklesiologisch-konfessionellen Aspekt und stellen damit einen Konnex zum intendierten Verwendungszweck des Gesangbuches her, nämlich die Verwendung beim evangelischen Gottesdienst. Allerdings sind historische und nationale Anspielungen auch in Kirchengesangbüchern zu finden.69 So ist im Bild von Carl Spindler aus dem »Evangelischen Gesangbuch für Elsaß-Lothringen« (1899) die Wartburg als protestantisch-deutsches Erinnerungsmal zu lesen,70 der optische Zusammenklang mit der Straßburger Thomaskirche zeigt zugleich an, dass Elsass-Lothringen als Teil des Deutschen Reiches verstanden werden soll – freilich in einer inferioren Stellung.71 2. Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Bild- und Liedforschung Abschließend ist zu fragen, was die Berücksichtigung der Plurimedialität für die Erforschung von illustrierten Gesangbüchern erbringt. Abgesehen davon, dass mit dem Begriff »Gesangbuch« ohnehin ganz unterschiedliche Publikations- und Medientypen gemeint sind, weitet die Berücksichtigung anderer Mediengattungen den Blick  : Abbildungen in Liedmedien können genauer interpretiert werden, wenn die textuellen und bildlichen – nicht nur im engeren Sinn ikonographischen – Kontexte deutlicher herausgearbeitet werden. In anderen Medien können mitunter abweichende, alternative Lesarten zu den vorherrschenden hinzutreten. Umgekehrt können die Bildwelten im Medium »Gesangbuch« besser an die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und 68 Vgl. ebd., S. 170 f. – Zur formalen Typisierung von Postkarten vgl. May 1998 (Anm. 58), S. 115. 69 Im »Schlesischen Provinzial-Gesangbuch« (Breslau 1914) ist zusammen mit dem Lied ein Bild abgedruckt, das Luther neben dem knienden und auf ein Schwert gestützten König Gustav Adolf zeigt (Fischer 2014 [Anm. 1], S. 338, Abb. 8  ; ebenso  : Lerche 1936 [Anm. 44], Abb. 32). Der schwedische König galt als (militärischer) Bewahrer des Protestantismus in Deutschland. 70 Vgl. Etienne François, Die Wartburg, in  : Etienne François und Hagen Schulz (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte 2, München 2009, S. 154–170. 71 Elsass-Lothringen galt lediglich als »Reichsland« (nicht als eigener Bundesstaat) und war bis 1911 kaiserlicher Verwaltung unterstellt.

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künstlerischen Diskurse der Zeit rückgebunden werden. Überhaupt ist die stärkere Berücksichtigung der Medialität von Bildern bzw. der Bildträger (inklusive der Berücksichtigung von Paratexten und Metatexten wie Abbildungslegenden und Bildbeschreibungen) zentral für eine kulturwissenschaftlich verstandene Bildwissenschaft.72 Die Einbeziehung von Bildwelten des Alltags bis hin zum Warendesign legt darüber hinaus die Verbreitung und den Umgang mit »Kirchenlied-Bildern« besser offen als die bloße Berücksichtigung von Werken der (Druck-)Kunst, zumal wenn diese Artefakte bzw. Bildmedien faktisch lediglich von einer Elite rezipiert wurden. Schließlich geht es darum, die Hymnologie kulturwissenschaftlich zu öffnen  :73 Einerseits sollten Materialität und Medialität der untersuchten Gegenstände stärker berücksichtigt werden, andererseits die damit verbundenen sozialen Praxen der Vielen. Die Hymnologie darf sich dabei nicht nur auf das »Gesangbuch« als Untersuchungsgegenstand beschränken, sondern muss das gesamte Spektrum von textuellen, visuellen und auditiven Objekten, die religiöse Lieder darbieten, inszenieren und kommentieren, in den Blick nehmen.

72 Vgl. Gustav Frank und Barbara Lange, Einführung in die Bildwissenschaft, Darmstadt 2010, S. 11–17. 73 Vgl. Michael Fischer, Hymnologie als Kulturwissenschaft. Eine rezeptions- und diskursgeschichtliche Studie zum Lutherlied »Ein feste Burg ist unser Gott«, in  : IAH-Bulletin [Internationale Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie] 45, 2017, S. 97–113.

Abstracts and Curricula Vitae The Hymnbook and its Images: Premises – Design – Impact The Birth of the Hymnbook out of a Gospel Spirit The Reformation was an era during which the Gospel was rediscovered. Since 1517, the message of the free grace of God in Jesus Christ for all people had resonated broadly, and for years it shaped more than the religious interests of the people. An increasingly broad movement enveloping all areas of personal and public life grew out of the theological breakthrough. In 1523/24, the Gospel began to be spread by means of “evangelical” songs in hymnbooks. Indeed, it was Luther’s goal that the message of the Gospel should also be accessible to people through song. A letter written to Georg Spalatin around the turn of the year 1523/24 evinces Luther’s programmatic intent. Immediately, the first printed materials disseminating “evangelical” songs appeared as both single-sheets and booklets. The first hymnbook arrived in 1524. In the following decades, hymnals became a new medium for evangelical piety. Songs by other Protestant writers were added to Luther’s, and many traditional church texts were put to music. Thus, the newly Protestant churches demonstrated through singing that they were participants in a continuous Church history and that they wished to see themselves as such. The present article traces this development and situates the songs and hymnals in their historical contexts. Prof. Dr. theol. Dr. phil. Dr. theol. h. c. Johannes Schilling (Kiel) studied m ­ usicology, German philology, medieval Latin philology and Protestant theology at the Universities of Göttingen, Zurich, Vienna and Munich. He earned his doctorate and postdoctoral qualification in Göttingen. From 1993–2016, he was Professor of Church History in the Faculty of Theology of the Christian-Albrechts-University in Kiel. He is a member of the Akademie der Wissenschaften in Hamburg and has been President of the Luther-Gesellschaft since 1999. In 2017 he was awarded an honorary doctorate from the Faculty of Theology of the University of Copenhagen. His work focuses especially on Luther, Melanchthon and the Reformation, the church history of Hesse and Schles­ wig-Holstein, the history of piety, as well as the topic of Reformation and music.

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Latin Hymns in the Protestant Hymnbook Catholic Latin versus Protestant German  : this opposition is one of the persistent prejudices with regard to how the devotional cultures of the two denominations are perceived. Yet, Luther himself stated in his preface to the “Deutsche Messe” of 1526 that students should sing “ettliche psalmen latinisch”, because “wyr wollen die jugent bey latinischen sprachen […] behalten und uben”. For this reason, the Reformers adopted Latin psalms and hymns for the feasts of the liturgical year. Some altered them to have reformed meanings, for example, Christocentric parodies of Marian songs. However, there were also new verses, like those by Melanchthon and Paul Eber, and new editions, such as the “Psalmodia” by Lucas Lossius. Dr. phil. Stefan Rhein has been the president and the director of the Luther Memorials Foundation in Saxony-Anhalt since 1998. The foundation manages several Reformation history museums  : Luther’s and Melanchthon’s houses in Wittenberg, Luther’s birthplace and the house where he died in Eisleben, and Luther’s parents’ home in Mansfeld. Since 2000, Rhein has also chaired the cultural tourism initiative “Wege zu Luther”, a registered association through which the most important Lutheran sites in the new federal states collaborate. In 2007, he founded the agency “Luther 2017” to coordinate nationwide activities celebrating the anniversary of the Reformation. He is trained as a classical philologist and wrote his dissertation on “Melanchthon’s Greek poetry”. His scholarly contributions focus on the leading figures of the Wittenberg Reformation  : Philipp Melanchthon, Martin Luther, Paul Eber and Johannes Stigel. Frontispiece and Title Pages in Protestant Hymnals and Prayer Books: Types, Developments, Functions and Artists – Attempt at an Overview This article presents approaches to typology and to the motifs found in the title page and frontispiece illustrations of Protestant hymnals in the German-speaking world since the Reformation. In doing so, continuities with and breaks from earlier pictorial traditions are analysed along with creative factors relating to the parties involved in particular centres of production for the hymnbook. Dr. phil. Esther Wipfler studied medieval and modern history, European art history, Romance languages and literature and Auxiliary sciences of history in Heidelberg and Göttingen. She was awarded a doctorate in art history in 1997 in Heidelberg. After completing her traineeship at the Bavarian State Museums in Munich, she has been a member of the editorial team of the “Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte” since 2001 (transformed into the department for research on Realia in 2012) at the Zentralinstitut für Kunstgeschichte in Munich. Her research is devoted to the art and cultural history of the Middle Ages and the early modern period with a focus on  : Christian

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iconography  ; form and function of church furnishings since the Gothic period  ; the representation of history in film  ; and art-making techniques and technologies. For her publications see  : https://www.zikg.eu/personen/ewipfler (letzter Zugriff  : 23.04.2020). The Illustrated Hymnbook of the Lutheran Reformation: A Media History of Continuity, Innovation and Conventionalisation The hymnbook of the Lutheran Reformation, which in its basic form is purely textual, developed in individual cases into a multimedia publication, wherein graphic elements were used to expand and supplement the textual and musical characters  ; the Babst Hymnal of 1545 is an example, where script and notation is enhanced by ornament and pictures. Texts and melodies serve the hymnbook directly in its role as a medium of ritual action, namely as a divine script for the community to follow after the transformations to the liturgy that occurred during the Reformation. Fundamentally, however, the question of the meaning of the images in hymnbooks remains. In addition to their ritual function, hymnbooks should also be considered as media of religious socialisation and pastoral care as well as instruments for private practices of piety. The illustrated hymnbook continues the visual conventions of late medieval piety, especially as found in illustrated religious literature. On the other hand, it has no connection with the use of images in early Reformation propaganda, where image and song are printed together on single sheets. Using both traditional set pieces and contemporary typographic innovations the hymnbook defines a new denominational standard. Dr. phil. Sven Limbeck is the Deputy Head of the Department of Manuscripts and Special Collections of the Herzog August Bibliothek (HAB) in Wolfenbüttel. He studied German philology, Romance languages and Latin philology of the Middle Ages in Heidelberg and Freiburg. His doctoral work focused on the theory and practice of translation in German Humanism (2000). He was a research associate for the DFG project cluster “Identität und Alterität” at the University of Freiburg, and then in the cataloguing projects of the Württembergische Landesbibliothek (Donaueschingen Manuscripts, Codices biblici) and the Hauptstaatsarchiv in Stuttgart (Piccard-Online). He has been at the HAB since 2008. His current research interests focus on the codicology of modern manuscripts, images as instruments of knowledge, and devout practices and liturgy. His most recent publication (together with Rainer Falk) is »Casta Diva. Der schwule Opernführer“ (2019). The Strasbourg Hymnbooks from the First Half of the 16th Century In the first three decades of the Reformation, between 1524 and the middle of the century, around 70 different hymnbooks were published in Strasbourg, most of them for local and regional churches. These could be anything from humble pamphlets

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to complete rhyming Psalters in German. In addition, there were also independent repertoires, such as the songs of the Bohemian brothers or the first Psalms for the French-speaking exile community. This paper provides an overview of the historical, theological and hymnological developments reflected in these hymnbooks. Various aspects that are discussed include  : repertoire formation, notation, prefaces, features, pictorial decoration, printers and printing techniques, publisher and audience. By examining the hymnbooks, the unique theological and liturgical profile of the Strasbourg Reformation before the middle of the century emerges, which largely disappears after 1555 under the influence of Lutheran orthodoxy. It differs in several respects from the Wittenberg Reformation. Among other things, it placed greater importance on the Psalms and on strict scriptural hermeneutics. These characteristics also have a clear influence on the Geneva Psalter, which was begun in 1539 in Strasbourg. Prof. Dr. Beat Föllmi studied musicology and Protestant theology in Zurich and Strasbourg. Since 2012, he has been Full Professor of Church Music and Hymnology in the Protestant Theology Department at the University of Strasbourg. He has been a visiting professor at the University of Laval in Quebec (Canada) several times, and in 2018 he was a guest researcher at Kyoto University (Japan). His research focuses on 16th-century hymnology (especially the Huguenot Psalter) and the reception of biblical themes in musical works. He is a co-founder of the research group “Avedemeter”, which deals with the reception of biblical themes in the fine arts, theatre, film and music. Together with Prof. Ansgar Franz of the Johannes-Gutenberg-University in Mainz he leads the Hymnological Database project, the largest database of its kind. On Flowers, Gardens and Devout Souls in the Protestant Hymnals of the 17th and 18th Centuries Metaphors of “Blumen-” (flowers), “Paradies-” (paradise), “Arznei-” (medicines) and “See­lengärten” (soul gardens) were used in the wording of titles, seized on in the prefaces, and translated into images in the frontispieces of the edifying books. Based on evangelical hymn books from the 17th and 18th centuries, selected metaphors are presented, their origin and use are outlined, and their meaning is discussed. The contribution is divided into four parts  : The first deals with “garden of souls”, “sacred garden” or “garden of paradise”, the ornamental gardens that lead beyond themselves to paradise or to the encounter with God. The metaphors of the “rose garden” and the “rose petals” are explained in a second, separate section. The third part discusses “Jesus as gardener”. The last, the “Medicinal and Spice Gardens”, is dedicated to the topic healing and strengthening through (herbal) medicines. The contribution shows how widespread the garden and flower metaphors were also in the Protestant church and explains their particular importance in the piety practices of the 17th and 18th centuries.

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Dr. Konstanze Grutschnig-Kieser, a historian and librarian for scientific libraries, first worked at the Eutiner Landesbibliothek after completing her training as a librarian. She then studied book science, art history and medieval and modern history at the University of Mainz and was a fellow in the DFG Research Group “Spiritual Song and Interdisciplinary Hymn”. She earned her doctorate in 2004 with a dissertation on a radical pietistic hymnbook, the “Geistliches Würtz-Kräuter- und Blumen-Garten” (2006). She subsequently worked on the hymnal bibliography for the hymnal archives in Mainz and wrote entries for the “Lexicon of Complete Bibliology”. Since 2009 she has been working at the Landeskirchliche Zentralbibliothek in Stuttgart, where she is responsible for the areas of old prints and conservation. From Eye Candy to Food for Thought: Johann Leisentrit’s Hymnbook (1567) and the “Gotteslob” (2013) of the German Bishops’ Conference Leisentrit’s “Geistliche Lieder” is not only the first, but also the most richly illustrated hymnbook of the Catholic tradition. It very consciously set out to imitate and surpass the Bapst Hymnal (1545), its Protestant model and rival. The first edition contains over 50 magnificent and detailed woodcuts from various workshops, while the third edition of 1587 has over 80. In contrast, the most recent German-language Catholic hymnal is quite different. Illustration relying on opulent images is largely and intentionally avoided. Instead, they opted for barely two dozen brush and pencil drawings, which do not follow any illustrative program but open up a broad range of interpretations by means of their formal reduction. This paper presents both graphic conceptions of a hymnbook and attempts to relate them to each other. Prof. Dr. theol. Ansgar Franz is Professor of Liturgical Studies and Homiletics in the Catholic Theology Department at Johannes-Gutenberg-University in Mainz. He is the head of the research centre “Hymn and Hymnal” and the “Hymnbook Archive” in Mainz. Dr. phil. Christiane Schäfer holds a doctorate in contemporary German literary history and is a research associate at the Johannes-Gutenberg-University in Mainz. She is the deputy head of the research centre “Hymn and Hymnal” and the “Hymnbook Archive” in Mainz. Images – Objects – Texts: The Plurimediality of Hymns in the 19th and 20th Centuries Hymns do not merely consist of text and melody. Rather, they are artefacts that are performatively designed and presented, as they find expression in various media.

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The “hymnbook” genre is central here, but hymns are also mediated and popularized through images, objects, and texts. The example of the hymn, “A Mighty Fortress is Our God”, demonstrates how certain hymns in the 19th and 20th centuries were plurimedially presented to a religiously-, culturally- and politically-minded audience. Dr. Dr. Michael Fischer was born in 1968 in Heidelberg and studied in Freiburg and in Mainz. He earned a doctorate in theology (Freiburg) in 2003 and a doctorate in literature (Bielefeld) in 2013. Since 2004 he has been a researcher at the Deutsche Volks­ liedarchiv in Freiburg, and, since 2014, the director of the newly founded Zentrum für Populäre Kultur und Musik at Albert-Ludwigs-University. He teaches in the Media Culture and Cultural Anthropology Department.

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Rolf Bothe widmet sich in seinem Buch nicht nur der Architektur und Ausstattung von Kirchenbauten, sondern führt auch in Fragen der evangelischen Theologie, vor allem der Liturgie, ein und erläutert deren gesellschaftspolitische Auswirkungen. Eindrücklich illustriert der Kunsthistoriker, dass evangelische Kirchen keineswegs karg und schmucklos sind, die Umwidmung katholischer Kirchen und Kunstwerke kuriose Züge annehmen kann oder Kanzel und Emporen keine rein protestantischen Erfindungen sind. Er schildert Luthers Begeisterung für Musik, die dem Kirchenlied, aber auch der Orgel und der Instrumentalmusik zu wahren Höhenflügen verhalf. Das reich bebilderte Buch lädt zu einer Reise durch die Jahrhunderte und Regionen ein. Es gilt, einige der schönsten evangelischen Kunstwerke zu entdecken!

METHODEN UND ERKENNTNISSE DER UNTERSUCHUNGEN DER BUCHMALEREI DES MITTELALTERS UND DER FRÜHEN NEUZEIT Christine Beier | Evelyn Theresia Kubina (Hg.) Wege zum illuminierten Buch Herstellungsbedingungen für Buchmalerei in Mittelalter und früher Neuzeit 2014. 297 Seiten mit 194 farb. Abb., gebunden € 65,00 D | € 67,00 A ISBN 978-3-205-79491-2 Das Buch ist auch in einer Open Access Version verfügbar

Preisstand 1.1.2020

Bilder in mittelalterlichen Büchern sind Teil eines komplexen Mediums, das nur auf den ersten Blick vertraut erscheint. Bei genauerer Betrachtung ergeben sich Fragen, die uns die Distanz zu diesen vor mehreren Jahrhunderten entstandenen Werken wahrnehmen lassen. Faktoren wie individuelle Interessen von Auftraggebern, ökonomische Überlegungen oder die Organisation der Zusammenarbeit von Schreibern, Illuminatoren und Buchbindern haben das Aussehen der Bücher in einer Weise bestimmt, die heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar ist. In den Beiträgen des vorliegenden Bandes nähern sich die Autoren diesem Thema von kunsthistorischer Seite, wobei es sowohl darum geht, Methoden zur Untersuchung der Herstellungsbedingungen von Handschriften und frühen Drucken vorzustellen, als auch nach Erkenntnissen zu fragen, die sich daraus für das Verständnis der Illustrationen gewinnen lassen.