Das Fremdwerden der eigenen Stadt. Eine Studie zu Biografie und Raum in Istanbul [1. ed.] 9783837657746, 9783839457740

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt. Eine Studie zu Biografie und Raum in Istanbul [1. ed.]
 9783837657746, 9783839457740

Table of contents :
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Inhalt
1. Einleitung
2. Forschungsstand und Kontext
2.1 Urbanisierung in der Türkischen Republik – Ein chronologischer Überblick
2.2 Exkurs: Staatliche Wohnungsbaufinanzierung und die türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ
2.3 Von der Informalität des Gecekondus zur geplanten Wohnanlage (Site)
2.4 Kulturelle Hierarchisierungen und gesellschaftliche Pluralität
3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage
3.1 Methodologische Verortung
3.2 Entwicklung der Forschungsfrage im Forschungsprozess
3.3 Methoden der Biografieforschung
3.3.1 Das Narrative Interview
3.3.2 Narrationsanalyse, Fallrekonstruktion und Typenbildung
3.4 Sample der Studie
3.5 Beobachtungen, Interviewkritik und Mehrsprachigkeit
4. Einzelfallrekonstruktionen
4.1 Emine – Eine ganz normale Frau?
4.1.1 Strukturelle Beschreibung des Go-Alongs
4.1.2 Strukturelle Beschreibung des narrativen Interviews
4.1.3 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Emine«
4.2 Süleyman – Abstieg eines Etablierten
4.2.1 Kollektiverfahrungen im Mahalle
4.2.2 Isolationserfahrungen in einer antagonistischen Nachbarschaft
4.2.3 Soziale Resignation und Rückzug ins Private
4.2.4 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Süleyman«
4.3 Leyla – Zur Entfaltung eines Stigmas
4.3.1 Urbaner Dorfalltag
4.3.2 Kapitalgesteuerte Siedlungstransformation und Verlusterfahrungen
4.3.3 Leben in der Großstadt
4.3.4 Phylogenetisches Stigma
4.3.5 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Leyla«
4.4 Nuran – Ein flüchtiges Leben
4.4.1 Die Kernfamilie als primäre Bezugseinheit
4.4.2 »It is never enough« – Dem Wachstum nicht entkommen können
4.4.3 Körperliche Anforderungen des Großstadtlebens
4.4.4 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Nuran«
4.5 Tolga – Von Expertenwissen und Selbstverwirklichung
4.5.1 Bedeutung von handlungsleitendem Expertenwissen
4.5.2 Selbstverwirklichung und Vermeidung von Abhängigkeitsstrukturen
4.5.3 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Tolga«
5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?
5.1 Biografische Erfahrungen sozialräumlicher Integration
5.2 Gegenwärtige sozialräumliche Interaktionen
5.3 Ablaufmodell zum Umgang mit rapider Raumtransformation
6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf
6.1 Der verlorene Raum »Nachbarschaft«? – Mahalle und Site
6.2 Substitutions- und Emanzipationsräume der Großstadt
6.3 Eine veränderte Zeitlichkeit für Räume?
7. Zusammenfassung und Ausblick
Transkriptionszeichen
Literatur- und Quellenverzeichnis
Literatur
Weitere Quellen
Danksagung

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Lisanne Riedel Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Urban Studies

Lisanne Riedel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Orient- und Asienwissenschaften sowie am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Sie lehrt mit den Schwerpunkten qualitative Methoden und interdisziplinäre Stadt- und Raumforschung und hat Soziologie in Bielefeld, Istanbul und Bonn studiert.

Lisanne Riedel

Das Fremdwerden der eigenen Stadt Eine Studie zu Biografie und Raum in Istanbul

Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn unter dem Titel »Istanbul: Ein zivilisiertes Leben? Eine Studie zu Biografie, Raum und Gesellschaft zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Lisanne Riedel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5774-6 PDF-ISBN 978-3-8394-5774-0 https://doi.org/10.14361/9783839457740 Buchreihen-ISSN: 2747-3619 Buchreihen-eISSN: 2747-3635 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

1.

Einleitung........................................................................... 7

2. Forschungsstand und Kontext ...................................................... 15 2.1 Urbanisierung in der Türkischen Republik – Ein chronologischer Überblick ........... 20 2.2 Exkurs: Staatliche Wohnungsbaufinanzierung und die türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ............................................. 31 2.3 Von der Informalität des Gecekondus zur geplanten Wohnanlage (Site)................ 34 2.4 Kulturelle Hierarchisierungen und gesellschaftliche Pluralität ........................ 43 Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage ........................... 53 Methodologische Verortung ......................................................... 54 Entwicklung der Forschungsfrage im Forschungsprozess ............................ 57 Methoden der Biografieforschung ................................................... 63 3.3.1 Das Narrative Interview ...................................................... 63 3.3.2 Narrationsanalyse, Fallrekonstruktion und Typenbildung ...................... 67 3.4 Sample der Studie .................................................................. 73 3.5 Beobachtungen, Interviewkritik und Mehrsprachigkeit ............................... 78

3. 3.1 3.2 3.3

4.

Einzelfallrekonstruktionen Fünf Portraits zur Darstellung der theoretischen Varianz ............................ 89 4.1 Emine – Eine ganz normale Frau? .................................................... 91 4.1.1 Strukturelle Beschreibung des Go-Alongs..................................... 93 4.1.2 Strukturelle Beschreibung des narrativen Interviews ......................... 97 4.1.3 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Emine« ............. 117 4.2 Süleyman – Abstieg eines Etablierten ............................................... 121 4.2.1 Kollektiverfahrungen im Mahalle .............................................127 4.2.2 Isolationserfahrungen in einer antagonistischen Nachbarschaft ............. 133 4.2.3 Soziale Resignation und Rückzug ins Private ................................ 138 4.2.4 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Süleyman«......... 144 4.3 Leyla – Zur Entfaltung eines Stigmas ................................................147 4.3.1 Urbaner Dorfalltag ........................................................... 151

4.3.2 Kapitalgesteuerte Siedlungstransformation und Verlusterfahrungen ......... 155 4.3.3 Leben in der Großstadt ..................................................... 159 4.3.4 Phylogenetisches Stigma ................................................... 162 4.3.5 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Leyla« ............. 169 4.4 Nuran – Ein flüchtiges Leben........................................................ 171 4.4.1 Die Kernfamilie als primäre Bezugseinheit................................... 173 4.4.2 »It is never enough« – Dem Wachstum nicht entkommen können ............ 177 4.4.3 Körperliche Anforderungen des Großstadtlebens ............................. 181 4.4.4 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Nuran« ............ 184 4.5 Tolga – Von Expertenwissen und Selbstverwirklichung .............................. 186 4.5.1 Bedeutung von handlungsleitendem Expertenwissen......................... 188 4.5.2 Selbstverwirklichung und Vermeidung von Abhängigkeitsstrukturen ......... 193 4.5.3 Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Tolga« ..............197 5. 5.1 5.2 5.3

Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve? 199 Biografische Erfahrungen sozialräumlicher Integration ............................. 203 Gegenwärtige sozialräumliche Interaktionen ........................................212 Ablaufmodell zum Umgang mit rapider Raumtransformation ........................ 220

6. 6.1 6.2 6.3

Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf ............... 231 Der verlorene Raum »Nachbarschaft«? – Mahalle und Site .......................... 233 Substitutions- und Emanzipationsräume der Großstadt ..............................241 Eine veränderte Zeitlichkeit für Räume? ............................................ 251

7.

Zusammenfassung und Ausblick .................................................. 257

Transkriptionszeichen ................................................................. 267 Literatur- und Quellenverzeichnis ...................................................... 269 Literatur ................................................................................ 269 Weitere Quellen ......................................................................... 282 Danksagung ............................................................................ 285

1. Einleitung

In seinem Roman »Diese Fremdheit in mir1 « beschreibt Orhan Pamuk (2017) eine Lebensgeschichte, die beispielhaft für viele heutige Istanbulerinnen und Istanbuler steht: Der Protagonist Mevlut zieht mit seinem Vater in den 1960er Jahren von einem Dorf in Anatolien nach Istanbul, um dort mit ihm zusammen Boza2 zu verkaufen. Der Roman begleitet Mevluts Leben von den Jahren 1969 bis 2012 und zeichnet im gleichen Zuge die Entwicklung der Stadt sowie die Entwicklung der Lebenssituation der urbanen Migrantinnen und Migranten nach. Mevlut wird in Pamuks Roman als eine gutmütige, schlichte Person dargestellt, welcher viele Dinge einfach so passieren. Während andere Nebendarstellerinnen und -darsteller im Zuge der Stadtentwicklung zu finanziellem Reichtum gelangen, führt Mevlut stets ein bescheidenes, aber recht zufriedenes Leben. Er beobachtet, wie sich die Stadt um ihn herum transformiert, und Pamuk beschreibt diese Veränderungen aus Mevluts Augen mit den folgenden Worten: »Seit 20 Jahren war Mevlut nun in Istanbul. Zum einen mochte er bedauern, dass durch die neuen Straßen, Gebäude, Läden und die vielen Unter- und Überführungen das alte, ihm vertraute Gesicht Istanbuls sich veränderte, mehr noch aber freute er sich, dass in der Stadt etwas für ihn getan wurde. Er sah die Stadt nicht als etwas vor seiner Ankunft Entstandenes, wohin er nur kam und seinen Platz einnahm, sondern stellte sich Istanbul gerne als einen Ort vor, der sich weiterentwickelte, während er dort lebte, und immer schöner, sauberer und moderner wurde. (Pamuk 2017: 320)« In dieser Beschreibung wird die empfundene Ambivalenz gegenüber städtischer Erneuerung sichtbar: Bedauert Mevlut den Verlust von Altem und Vertrautem, so weiß er doch die Vorzüge einer sauberen und modernen Umwelt zu schätzen. 1 2

Originalausgabe erschienen im Jahr 2014 unter dem Titel »Kafamda Bir Tuhaflık« bei Yapı Kredi Yayınları in Istanbul. Boza ist ein leicht alkoholhaltiges, dickflüssiges Getränk. Klaus Kreiser beschreibt es folgendermaßen: »Traditionelles türk. Erfrischungsgetränk aus vergorener Hirse, mit Zimt und Ingwer bestreut wird es in große Gläser abgefüllt. Der b.-Verbrauch geht ständig zurück, doch gibt es auch in den Großstädten noch einige gelobte Wirte (bozacıs).« (Kreiser 1992: 38)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Gleichzeitig findet sich in den Worten Pamuks das eingeschriebene, transformative Element von Städten wieder – sie stehen nun mal nie still, genauso wenig wie die Menschen, die in ihnen leben. Wie bei vielen anderen Millionen Menschen, die vom Land nach Istanbul oder in andere türkische Städte migrierten, beginnt Mevluts Geschichte in einer informellen Siedlung und endet in einer Apartmentwohnung. Das urbane Dorf der Ankunftszeit hat sich in den modernen Siedlungsstrukturen der Großstadt aufgelöst. Im Rahmen dieser rapiden Raumtransformation, wie ich sie in dieser Arbeit nenne, hat sich die Bevölkerung der Stadt Istanbul seit den 1950er Jahren in etwa verfünfzehnfacht – von circa einer Million auf heute schätzungsweise mindestens 15 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner (World Population Review 2020). Darüber hinaus hat sich die Flächenausdehnung allein in den letzten 30 Jahren in etwa verdreifacht (Atlas of Urban Expansion 2016). Seit den 1990er Jahren hat sich in kürzester Zeit die fast flächendeckende Verbreitung von Apartmenthäusern und Wohnblocks durchgesetzt – sei es durch kleinteilige Modernisierungsmaßnahmen oder durch großflächige, geplante Wohnanlagen. Begleitet wurde die neue Siedlungsstruktur durch neue Infrastrukturen wie Autobahnen, Brücken und Tunnel, große Dienstleistungs- und Wirtschaftszentren, Shoppingmalls oder neuem Land entlang der Ufer. Eine häufig getroffene Aussage meiner Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer war: »Zur Zeit meiner Kindheit stand hier noch nichts«. Die Veränderung des städtischen Raums verlief so rasant, dass er kaum innerhalb einer einzelnen Biografie verarbeitbar war. Das Fremdwerden der eigenen Stadt und ihrer alltagsrelevanten Räume, wie der der Nachbarschaft, ist eine Folge dieser Umwälzung. Neben dieser Erkenntnis, die ich im weiteren Verlauf eingehender vorstellen werde, rekurriert der Titel meiner Publikation selbstverständlich auf eine bekannte Studie der Biografieforschung, nämlich auf »Das Fremdwerden der eigenen Biographie. Narrative Interviews mit psychiatrischen Patienten« von Gerhard Riemann (1987). Riemann argumentiert, dass es im Rahmen der Lebenserfahrungen, die die von ihm interviewten psychiatrischen Patientinnen und Patienten sammeln, immer wieder zu Erfahrungen des »Sich-selbst-gegenüber-fremd-Werdens« (Riemann 1987: 402) kommt. Sie bemerken im Umgang mit Interaktionspartnerinnen und -partnern ihre Andersartigkeit und verstärken sie zum Teil sogar noch, indem sie sich in Interaktionen fortwährend als Problemfall darstellen (ebd.: 405). Sie betrachten ihren eigenen Körper als fremd und andersartig, beispielsweise infolge der Einnahme von Medikamenten, bemerken, dass sich Gedanken und Gefühle der eigenen Kontrolle entziehen und erschrecken sich über sich selbst: »Man erkennt sich in dem, was man anderen oder sich selbst antut, nicht wieder und wird zu einer dramatischen Reevaluation seines Verhaltens und seiner Person gezwungen.« (ebd.: 407). Diese Erfahrungen kulminieren, so ein zentrales Argument der Studie,

1. Einleitung

in einem Fremdwerden der eigenen Biografie. Dieses Fremdwerden drückt sich darüber hinaus unmittelbar in der Interaktionssituation des Interviews aus: »Der Bezug zur eigenen Biographie geht verloren, zu viel ist problematisch und undurchsichtig geworden, und es ist ihm [dem Interviewten, L.R.] nicht mehr möglich, seine Lebensgeschichte narrativ darzustellen.« (Ebd.: 411) Die räumlichen Veränderungen in der Großstadt Istanbul können einen ganz ähnlichen Effekt auf Personen haben, die in ihr aufgewachsen sind. Sie erkennen ihre Stadt nicht wieder, alltägliche Interaktionsroutinen gelten nicht mehr und identitätsstiftende, soziale Zusammenhänge, wie die gemeinschaftlich orientierte Nachbarschaft, lösen sich auf. Mit den Siedlungsstrukturen transformiert sich ebenfalls die soziale Ordnung. Das städtisch-moderne Leben, im Gegensatz zum vermeintlich dörflich-primitiven Leben, wird nicht nur in Istanbul ständig neu verhandelt (siehe Kap. 2.4). Es findet vor allem in den alltäglichen Handlungsroutinen seinen Ausdruck. Was ein zivilisiertes Leben ist, ist umkämpft und nicht vollends festgeschrieben, denn der Prozess der Zivilisation ist nie abgeschlossen (Kuzmics/Mörth 1991: 19; Rehberg 1991: 78). Norbert Elias, der diesen Begriff wie wohl keine andere Soziologin und kein anderer Soziologe geprägt hat, beschreibt den Prozess der Zivilisation als einen Prozess der »Veränderung des menschlichen Verhaltens und Empfindens in einer ganz bestimmten Richtung« (Elias 1997 [1976]: 312), der zwar unbeabsichtigt und unbewusst, aber keineswegs ohne Ordnung geschieht. Er sieht diese »eigentümliche Ordnung« (ebd.: 313) beispielsweise darin, wie »etwa von den verschiedensten Seiten her Fremdzwänge sich in Selbstzwänge verwandeln, wie in immer differenzierterer Form menschliche Verrichtungen hinter die Kulisse des gesellschaftlichen Lebens verdrängt und mit Schamgefühl belegt werden, wie die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle immer allseitiger, gleichmäßiger und stabiler wird« (ebd.: 313). Als Grundvoraussetzung für diese Entwicklung sieht Elias menschliche Verflechtungszusammenhänge, anders gesagt die Interdependenzen menschlicher Pläne und Handlungen, die sich freundlich und feindlich gegenüberstehen (ebd.: 313f.). »Das Verhalten von immer mehr Menschen muß aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt. Der Einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren.« (Ebd.: 317) Karl-Siegbert Rehberg sieht die maßgeblichen Entwicklungen der Moderne, die einen Einfluss auf menschliche Verflechtungszusammenhänge haben, in der Industrialisierung, dem Anwachsen der städtischen Ballungsräume, dem Abnehmen des Agrarsektors, der Auflösung der ständischen Gesellschaft sowie in der recht-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

lichen und ökonomischen Freisetzung (und der damit einhergehenden Isolierung) einzelner aus traditionellen Gemeinschaften zunehmend herausgelöster Individuen (Rehberg 1991: 62). Er resümiert dazu: »Moderne heißt auch das Zerbrechen einheitlicher Ordnungssynthesen und sinnstiftender Zentralinstitutionen (obwohl der Nationalstaat solche Funktionen teilweise übernommen hat), ist also identisch mit einem ›Polytheismus der Werte‹.« (Ebd.) Meine Studie zeigt, dass diese Entwicklungen und Verflechtungszusammenhänge ebenfalls für die urbane türkische Gesellschaft gelten – wenn auch längst nicht vollends von ihren einzelnen Mitgliedern anerkannt (siehe Kap. 4.). Die Türkei ist ebenfalls von einem Polytheismus der Werte geprägt, was jedoch durch Identitätspolitik und Minderheitenunterdrückung oftmals verschleiert wird. Zentrale Räume, in denen Individuen mit unterschiedlichen Wertorientierungen aufeinandertreffen, sind insbesondere die Städte. Im dichten Zusammenleben manifestieren sich die menschlichen Verflechtungen und tragen zu der alltäglichen Aushandlung sozialer Ordnung bei. Die normgebende, traditionelle Nachbarschaft3 – das Mahalle (Kap. 6.1) – verschwindet und an ihre Stelle tritt die komplexe Aufgabe, sich mit unterschiedlichen Praktiken, Lebensentwürfen und Normvorstellungen auseinanderzusetzen. In diesem Sinne möchte ich Städte in der vorliegenden Arbeit als »auf Dauer angelegte Projekte verdichteten Zusammenlebens« (Mieg 2013: 1) begreifen. Stadt als Projekt meint hier die »Ansammlung von singulären Vorhaben, von Menschen, Einzelschicksalen und organisierten Interessen, die sich wechselseitig abstimmen müssen« (ebd.). Den Stadtprojekten wohnen »Idealmodelle, Sehnsüchte und geträumte Zukünfte inne, sie geben mehr oder weniger ausgesprochen eine Vorstellung davon, wie Menschen zusammenleben wollen und können. Von daher kommt die große Vielfalt an Städten« (ebd.). Auch aus raumtheoretischer Sicht betrachtet existieren Städte nicht einfach, sondern sie werden im sozialen Handeln geschaffen (Löw/Steets/Stoetzer 2008: 63). So beinhaltet die Raumproduktion von Städten nicht nur das physische Entstehen von Räumen und den Dingen, die ihn zusammensetzen, sondern ebenfalls eine soziale Komponente. Städte werden zwar im sozialen Handeln geschaffen, sie strukturieren aber gleichermaßen auch das Handeln (Löw 2001: 53). Raum ist eben keinesfalls einfach eine Oberfläche, wie sie auf Landkarten dargestellt wird, sondern er wird ständig hergestellt und ist niemals vollendet (Massey 2005: 107).

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Ich argumentiere in dieser Studie, dass es sich bei der traditionellen Nachbarschaft in erster Linie um ein soziales Konstrukt der Interviewpersonen handelt und stelle gleichzeitig in Frage, ob es sie tatsächlich gegeben hat.

1. Einleitung

In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit der Frage nach dem Einfluss, den eine Raumproduktion, die durch ständige Erweiterung und Erneuerung geprägt ist, auf die biografischen Handlungsverläufe und Lebensentwürfe von Individuen hat – und was diese Einflüsse im Umkehrschluss wiederum für die Konstitution von Räumen in der Stadt bedeuten. Dieses Forschungsvorhaben folgt den Anforderungen einer relationalen Raumsoziologie, die das Räumliche nicht gegen das Gesellschaftliche abgrenzt, sondern als Aspekt des Gesellschaftlichen versteht. Als Analysekontext dient dabei die Stadt Istanbul, die im Zuge einer rapiden Urbanisierung eine Raumtransformation durchlaufen hat und zum Teil immer noch durchläuft, die im Rest von Europa beispiellos ist4 . Wie bereits gesagt begreife ich städtische Transformation per se nicht als einen Ausnahmeprozess. Die Republik Türkei hat sich aber in einem so rasanten Tempo urbanisiert und modernisiert, dass selbst Urbanisierungsgewinnerinnen und -gewinner sich ihrer eigenen Umwelt entfremdet haben. Für meine Arbeit spielt dabei insbesondere die Auflösung alter Siedlungsstrukturen eine große Rolle oder anders formuliert: die rapide Transformation des Nachbarschaftsraums. Der soziale Aufstieg von urbanen Migrantinnen und Migranten in Istanbul durch Immobilienbesitz wurde in den letzten Jahren vielfach thematisiert und diskutiert (Öncü/Keyder 1994; Esen/Lanz 2007; Güvenç 2010; Kuyucu 2014; The World Bank 2015) und ist gleichzeitig Teil eines internationalen Phänomens (Roy/AlSayyad 2004; Saunders 2011; WBGU 2016): Viele der weltweiten Megastädte müssen sich den Herausforderungen massenhafter urbaner Migration stellen. Dabei ist die Ansiedlung der Migrantinnen und Migranten in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern zunächst meist von informeller Natur. So auch in der Türkei: lange Zeit geschah die Ansiedlung in Form von informellen Siedlungen, so genannten Gecekondus (siehe Kap. 2.3). Mittlerweile wurde der Großteil der Siedlungen von Apartmenthäusern abgelöst und die Stadt hat sich in ihrem Gesamterscheinungsbild von Grund auf transformiert – mit nur wenigen Ausnahmen. Land wird entlang der Ufer buchstäblich neu erschaffen und insbesondere die vielfältigen Megaprojekte5 , wie der neue Flughafen, die dritte

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Katharina Sucker (2011) beschäftigt sich in ihrem Aufsatz »Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt« mit der Frage, wie sich Istanbul im wissenschaftlichen Diskurs zum Konzept der Europäischen Stadt (Siebel 2010) verhält – weicht sie doch »vom Bilde gründerzeitlicher Blockrandbebauung, sozialer Durchmischung und dem Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Räumen eindeutig ab« (Sucker 2011: 343). Laut Sucker lassen sich die von Walter Siebel herausgearbeiteten Merkmale einer europäischen Stadt zwar auch an Istanbul nachvollziehen, jedoch liegen ihnen eine gänzlich unterschiedliche Entwicklungsgeschichte zugrunde. Dogan und Stupar (2017) diskutieren in ihrem Artikel drei Mega-Projekte, die maßgeblich von der Regierung im Rahmen der »Vision 2023« vorangetrieben wurden: die dritte Bosporusbrücke, den neuen Flughafen sowie den Kanal İstanbul, der das Schwarze mit dem Mar-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Bosporusbrücke oder der Kanal İstanbul, werden heiß diskutiert (Dogan/Stupar 2017). Dabei ist ein Begriff maßgeblich und bezeichnend für diese Entwicklungen: kentsel dönüşüm6 – Stadterneuerung. Auch wenn der türkische Begriff kentsel dönüşüm in der Regel mit staatlichen Aktivitäten verknüpft ist (Şenol Balaban 2019: 247), möchte ich für diese Arbeit einen weiter gefassten Begriff der Stadterneuerung nutzen. Damit konzentriere ich mich nicht nur auf Transformationsprojekte von informellen Siedlungen, Legislationen zum Erdbebenschutz oder kleinteilige Strategien zur Stadtverschönerung, sondern ziehe darüber hinaus Aktivitäten der eigenmächtigen, privat-initiierten Stadterneuerung hinzu – wie beispielsweise den Apartmenthausbau. Denn der Stadtraum wird von vielen unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren geprägt, die in einer komplizierten Dynamik zur Raumproduktion beitragen. Stadterneuerung ist ein schillernder Begriff. Bernd Streich spricht von einer »wechselseitigen Beziehung zwischen Altem und Neuem […], zwischen Erhalten auf der einen und Erneuern auf der anderen Seite« (Streich 2011: 460) und folglich habe Stadterneuerung auch immer etwas mit den Menschen zu tun, die vor Ort leben und arbeiten. Zweck und Nutzen von Stadterneuerungsprojekten sind oftmals umstritten – nicht nur in der Türkei. So schreibt Steffen Lehmann: »Urban regeneration, also called urban redevelopment, is an elastic term that has been widely used for urban renewal projects that transform a large part of a city or area of properties (e.g. privately or publicly owned neglected land) within a designated renewal area by developing and changing the use of the land (Bianchini and Parkinson 1993; Smyth 1994; Landry et al. 1996; Leary 2013). Frequently, the redevelopment of the area is controversial and the mix of future uses, amount of green space and types of social amenities is hotly debated.« (Lehmann 2019: 3) Im Falle Istanbuls handelt es sich jedoch in der Regel nicht um vernachlässigtes oder ungenutztes Gelände, sondern ganz im Gegenteil oftmals um bewohntes Land, das aufgewertet, effektiver nutzbar und sicherer gemacht werden soll. Diejenigen, die davon profitieren, sind in der Regel die Landbesitzerinnen und -besitzer

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marameer verbinden soll. Bis auf den Kanal İstanbul sind die Projekte bis dato verwirklicht worden. Oftmals werden zu diesen Megaprojekten auch die Çamlıca Moschee und der Avrasya Tunnel gezählt. Einen Überblick über vielfältige weitere Großprojekte findet sich bei İstanbulSMD (2020). Streng genommen bedeutet dönüşüm auf Deutsch Umgestaltung, Transformation, kentsel bedeutet städtisch. Trotzdem wird kentsel dönüşüm in der Regel als Synonym für den englischen Begriff urban regeneration, zu deutsch: Stadterneuerung, genutzt (siehe Kuyucu 2018). Seltener wird er mit urban transformation übersetzt (siehe Kuyucu/Ünsal 2010). Mittlerweile wird häufiger der Begriff kentsel yenileme (von yenileme = Neuerung) insbesondere von offizieller Seite verwendet (siehe TOKİ 2021a).

1. Einleitung

sowie die Immobilienfirmen. Die prekäre Lage urbaner Minderheiten wird durch Stadterneuerungsprojekte oftmals verschlechtert (siehe Kap. 2.3). Da Stadterneuerung gewissermaßen eine Änderung im laufenden Betrieb bedeutet, müssten lokale Interessen eigentlich eine wichtige Rolle spielen. In den meisten Fällen orientieren sich Stadterneuerungsprojekte in Istanbul und anderen türkischen Städten jedoch an finanziellen Interessen. Lange Jahre galt die Türkei als am schnellsten wachsender und besonders vielversprechender Immobilienmarkt, mit jährlichen Wertsteigerungen für Immobilien von bis zu 30 Prozent (Kaufmann Bossart 2017). Diese Tatsache ließ nicht nur die Türkinnen und Türken vermehrt in Wohnraum investieren, sondern sie zog darüber hinaus ausländische Käuferinnen und Käufer an – die in der heutigen Türkei eine besonders große Bedeutung haben (ebd.). Der Startschuss zur Ausweitung der landesweiten Bautätigkeiten wird oftmals in Zusammenhang mit der Regierungsübernahme durch die Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP) betrachtet. Sie trieb insbesondere den Wohnungsbau massiv voran und stattete die türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ (Toplu Konut İdaresi) mit umfassenden Befugnissen aus (siehe Kap. 2.2). Auf ihrer eigenen Homepage wirbt TOKİ damit, seit dem Start ihres Wohnungsprogramms im Jahr 2002 landesweit knapp 750.000 Wohnungen gebaut zu haben, mit einem Anteil an Sozialwohnungen, der bei über 80 Prozent liege (TOKİ 2019). Auf Seiten der Opposition überwiegt jedoch der bittere Beigeschmack des von der AKP angetriebenen Baubooms. Im Februar des Jahres 2019 veröffentlichte die oppositionelle Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP) eine Abrechnung mit der Baupolitik der AKP im wahrsten Sinne des Wortes: Seit ihres Wahlerfolgs im Jahr 2002 habe die AKP die Türkei mit 2.350 Quadratkilometern Beton übergossen (CHP 2019) – eine Fläche, die fast der Fläche des Saarlandes entspricht. Wie auch meine Forschungsergebnisse zeigen, stellt sich bei der urbanen Bevölkerung zunehmend eine Baumüdigkeit sowie eine Ablehnung und Überforderung in Bezug auf die Stadterneuerung ein. Denn die Auswirkungen von den vielfältigen Stadterneuerungsprozessen und der rapiden Raumtransformation fordert die biografische Arbeit, also die theoretische »Be- bzw. Verarbeitung von Erfahrungen, Situationen, Lebenslagen oder -abschnitten« (Griese 2009: 344) der in ihr lebenden Individuen zutiefst heraus. Aus heuristischen Zwecken begreife ich deshalb Stadterneuerung als soziale Krise und untersuche ihre Auswirkungen auf biografische Handlungsverläufe und Lebensentwürfe. Grundlage der analytischen Auseinandersetzung sind narrative Interviews und Beobachtungsprotokolle von sogenannten Go-Alongs. In der Auswertung habe ich mich dabei schwerpunktmäßig an den Verfahren von Fritz Schütze und Gabriele Rosenthal orientiert (siehe Kap. 3.3). Diese spezielle Betrachtung von rapider Raumtransformation und ihr Einfluss auf die Erlebnis- und Handlungsebene der Betroffenen im Rahmen einer biografisch orientierten, interpretativen Sozialforschung erscheint mir in der bis-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

herigen Forschungslandschaft einzigartig zu sein. Das ist verwunderlich, da nur so die vollständigen Mechanismen, die durch räumliche Transformationsprozesse auf Individuen wirken, untersucht werden können. Gleichzeitig widme ich mich damit der großen Herausforderung, den Zusammenhang zwischen Raum, Biografie und Gesellschaft zu verstehen und zu erklären, der gemäß dem hier verfolgten methodischen Ansatz die Vergangenheit, Gegenwart und die antizipierten Zukünfte miteinschließt. Zum Aufbau meiner Arbeit: Zunächst werde ich in Kapitel 2. einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Türkei und Istanbul bezogener Stadtforschung geben und umfassend in den Untersuchungskontext einführen. Dabei werde ich Ablaufprozesse und Dynamiken in der Urbanisierungsgeschichte der türkischen Republik, zentrale Institutionen, Pfadabhängigkeiten sowie kulturelle Aushandlungsprozesse in der modernen türkischen Stadt beschreiben. In Kapitel 3. befindet sich die Darstellung der verwendeten Methoden und ihre Methodologie, die Entwicklung der Forschungsfrage im Laufe des Forschungsprozesses, eine Übersicht über das verwendete Sample meiner Studie sowie einige Ausführungen zur allgemeinen Kritik der von mir geführten Interviews und der Herausforderung der Mehrsprachigkeit. Anschließend folgt Kapitel 4. mit fünf detaillierten Einzelfallrekonstruktionen, die ich im Rahmen des theoretischen Samplings als die wichtigsten Eckfälle identifiziert habe. Sie liefern einen differenzierten Einblick in die Vielfalt des Samples und die Methode der biografischen Fallrekonstruktion. In Kapitel 5. und 6. folgen dann die Analyseergebnisse, die im Fallvergleich entstanden sind. Die für Kapitel 5. titelgebende Frage »Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?« bezieht sich dabei nicht nur auf die subjektive Deutung der Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer, sondern darüber hinaus auf einen paradoxen Zusammenhang: Stadterneuerung kann sowohl als soziale Aufstiegsmöglichkeit als auch als Verlaufskurve rekonstruiert werden. Normativ gesprochen kann sie das Leben verbessern und gleichzeitig verschlechtern. Dieser Zusammenhang lässt sich ebenfalls besonders gut anhand der dargestellten Einzelfallrekonstruktionen nachvollziehen. Kapitel 5. dient insbesondere dazu, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Fälle des Samples zu analysieren sowie die sie verbindende Struktur, beziehungsweise das Typische, das dem untersuchten sozialen Phänomen zugrunde liegt, im Rahmen eines biografisch-bedingten Ablaufmodells im Umgang mit rapider Raumtransformation darzustellen. In Kapitel 6. komme ich auf Räume in der Stadt und Raumkonstitution im biografischen Verlauf zu sprechen. Denn das in Kapitel 5. entwickelte Ablaufmodell hat Auswirkungen auf die Auflösung und Ausdifferenzierung urbaner Räume sowie auf ihre Zeitlichkeit. In Kapitel 7. liefere ich abschließend eine Zusammenfassung der Arbeit sowie einen Ausblick.

2. Forschungsstand und Kontext

Im Jahr 2019 veröffentlichte das türkische Meinungsforschungsinstitut Konda (2018) ein webbasiertes, interaktives Glossar, das der Frage nachging, was sich in der Türkei innerhalb von zehn Jahren gesellschaftlich verändert habe. Die Daten zog das Institut aus repräsentativen Umfragen zu Lebensstilen, die es jeweils im Jahr 2008 und im Jahr 2018 durchführte. Trotz dieser vergleichsweise kurzen Zeit lassen sich bedeutende Veränderungen ablesen und der Survey bietet insgesamt einen guten Eindruck über die Bandbreite an Lebensrealitäten der türkischen Gesellschaft in der heutigen Zeit. Einige Lebenspraktiken blieben dabei relativ unverändert: Der Großteil der Bevölkerung tätigt seine Lebensmitteleinkäufe weiterhin auf dem Wochenmarkt (2008: 56 %, 2018: 57 %), verbringt den Urlaub im Heimatland (2008: 58 %, 2018: 61 %), lebt mit drei bis vier Personen in einem Haushalt, und auch der Anteil der kopftuchtragenden Frauen ist stabil geblieben (2008: 52 %, 2018: 53 %). Gleichzeitig stieg der Anteil der urbanen und metropolen Bevölkerung weiter an und betrug laut Konda im Jahr 2018 knapp 85 Prozent. In diesem Rahmen ist eine weitere Beobachtung auffällig: Die Apartmentwohnung gewinnt weiter an Verbreitung – lebten im Jahr 2008 noch 33 Prozent der türkischen Bevölkerung in einem Apartment, waren es im Jahr 2018 schon 59 Prozent. Und das, obwohl sich die Haushaltsgrößen nach Personen nicht nennenswert verändert haben. Einzig die Ein- bis Zweipersonenhaushalte stiegen von 15 Prozent auf 21 Prozent. Begleitet wurden diese Veränderungen von weiteren typischen Urbanisierungserscheinungen: So stiegen beispielsweise der durchschnittliche formale Bildungsabschluss und das Heiratsalter. Trotzdem bezeichneten sich im Jahr 2018 mehr Personen als »traditionell konservativ« (2008: 37 %, 2018: 45 %), wohingegen diejenigen, die sich als »modern« bezeichneten, bereits 2008 in der Unterzahl waren (31 %), und ihr Anteil bis 2018 ist sogar noch weiter gesunken (29 %). Diese Studienergebnisse zeigen: moderne, urbane Lebensstile verbreiten sich in der türkischen Gesellschaft weiter, obwohl sich ein größer werdender Teil als traditionell-konservativ bezeichnet. Es gibt folglich keinen klassischen Divide zwischen modern und traditionell mehr. Auch sich selbst als wertkonservativ bezeichnende Personengruppen pflegen zunehmend einen typisch städtischen Lebensstil (Konda 2018).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

In der vorliegenden Studie beschäftige ich mich mit der Frage nach dem Einfluss rapider Raumtransformation auf Handlungsspielräume und Lebensentwürfe von Individuen. Um dieses Erkenntnisinteresse an die soziale Wirklichkeit rückzubinden, konzentriere ich mich dabei auf die Erfahrungen, die Angehörige der Istanbuler Mittelschicht im Rahmen ihrer Biografie und im Zuge der Urbanisierung ihrer Stadt und ihres Nationalstaats gemacht haben. Um dies im vollen Umfang nachvollziehbar zu machen, möchte ich in diesem Kapitel nicht nur den aktuellen Forschungsstand dazu darlegen, sondern auch in den regionalspezifischen Kontext einführen. Die Urbanisierung der Republik Türkei hat eine mindestens 70-jährige Geschichte, die ich auf den nächsten Seiten überblicksartig darstellen werde. In Folge eines großen Bevölkerungsüberschusses in den ländlichen Gebieten in der Nachkriegszeit und einer einsetzenden rapiden Urbanisierung (Danielson/Keleş 1985) kam es zu einer gesellschaftlichen Transformation, die in diesem Zeitraum in Europa beispiellos ist. Die Stadt Istanbul ist in diesem Rahmen ein besonders interessanter Untersuchungskontext, da die Stadt nicht nur quantitativ in besonderer Weise betroffen ist, sondern auch Einwanderung aus der gesamten türkischen Republik erfahren hat. Damit ist sie einerseits Paradebeispiel für die türkische Urbanisierungserfahrung und andererseits ein Ausnahmefall in Größe, Ausmaß und Pluralität. Die folgenden Ausführungen sollen dazu dienen, diese Dynamiken etwas genauer zu beleuchten, um die entstandenen Raumstrukturen verständlicher zu machen. Als erstes möchte ich den Forschungsstand zum gerade eingeführten Thema in seinen groben Charakterzügen wiedergeben. Viele der Forschungsergebnisse werde ich in den folgenden Unterkapiteln weiter vertiefen. Eines ist jedoch auffällig: So vielfältig die wissenschaftliche Auseinandersetzung rund um Urbanisierung und Stadterneuerung in der Türkei ist, so mangelt es ihr doch bisher an biografieanalytischen, fallrekonstruktiven Herangehensweisen. Das könnte unter anderem daran liegen, dass sich die zeitgenössischen Sozialwissenschaften erst seit vergleichsweise kurzer Zeit mit der modernen Stadt Istanbul auseinandersetzen. Çağlar Keyder und Ayşe Öncü schreiben dazu: »In the vast international literature of the 1960’s and 1970’s [sic!] on Third World cities, Istanbul merited little attention. Scholarly focus concentrated on issues of explosive population growth, increasing polarization of social classes, and proliferating informal activities in Third World cities: the Istanbul case was simply not dramatic enough […] International scholarship by-passed Istanbul, because it was not ›pathological‹ or ›distorted‹ enough.« (Keyder/Öncü 1994: 383) Die Istanbul bezogene Forschung konzentrierte sich entweder auf das große historische Erbe der Stadt (Esen 2007: 33) oder vordringlichere Fragen wie die ökonomische Integration der urbanen Migrantinnen und Migranten (Keyder 2005: 125). Ein

2. Forschungsstand und Kontext

vermehrter Zuwachs an Publikationen lässt sich seit den 1980er und 1990er Jahren verzeichnen. In der Regel beschäftigen sich die Publikationen mit der Türkei im Ganzen, viele jedoch mit Ankara oder Istanbul im Speziellen. Eine klassische Studie aus dem politikwissenschaftlichen Spektrum ist »The Politics of Rapid Urbanization – Government and Growth in Modern Turkey« von Michael Danielson und Ruşen Keleş aus dem Jahr 1985. Die beiden Autoren zeigen auf, wie die zentralistische Regierung die Handlungsmöglichkeiten der kommunalen Entscheidungsorgane lähmt und selbst nicht in der Lage ist, das urbane Wachstum zu kontrollieren und zu steuern. Keleş ist einer der meist zitierten türkischen Politikwissenschaftler, der zu urbanen Problemen forscht. İlhan Tekeli legte mit seinem Werk »The Development of the Istanbul Metropolitan Area – Urban Administration and Planning« im Jahr 1994 eine umfassende historische Analyse der Stadtplanung mit vornehmlichem Bezug auf die Metropolregion Istanbuls seit der Tanzimat-Reformzeit vor – also seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Er schildert darin die vielfach schlicht reaktiven Maßnahmen, die vor dem Hintergrund drängender Probleme getroffen wurden. Tekeli prägt bis heute die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Stadtplanung in der Türkei, insbesondere mit der in Istanbul, und betont dabei stets die Ansicht, dass die Stadt sich zu einem großen Teil selbst organisiert und sich nicht den administrativen Planungsbemühungen fügen will. Auch in der Soziologie rückten urbane Themen in den 1990er Jahren zunehmend auf die Forschungsagenda. Dabei setzten diese sich oftmals mit der wirtschaftlichen Öffnung und zunehmenden Globalisierung türkischer Städte in den 1980er Jahren auseinander. Keyder und Öncu bearbeiten dabei klassische Fragen nach sozialen Ungleichheiten (siehe beispielsweise Keyder/Öncü 1994). Tahire Erman beschäftigt sich insbesondere mit den Identitäts- und Integrationsfragen der neuen urbanen Bevölkerung (Erman 1998) und ihrer Darstellung im akademischen Diskurs (Erman 2001). Seit den 2000er Jahren häufen sich die Publikationen, die sich mit Stadtforschung in der Türkei beschäftigen, weshalb ich mich im Weiteren auf diejenigen mit Istanbul-Bezug beschränke. Um die Jahrtausendwende treten verstärkt eher kulturwissenschaftlich orientierte Publikationen auf, die sich mit den Lebensstilen und Identitätsfragen der alten und neuen Mittelschichten beschäftigen (Saktanber 1997; Öncü 1997; Öncü 1999; Ayata 2002). Daneben entstehen die ersten, mittlerweile schon als klassisch geltenden Fallstudien zu einzelnen Vierteln. Sema Erder legt im Jahr 2001 ihre Studie zu Ümraniye vor und Şükrü Aslan im Jahr 2004 seine Studie zum 1.-Mai-Viertel, die beide den Existenzkampf und sozialen Aufstieg der lokalen Bewohnerschaft detailliert nachzeichnen. Nachfolgende Fallstudien der letzten 15 Jahre beschäftigen sich vor allem mit Stadterneuerungsprojekten und Fundamentalkritiken an der Rolle der von der AKP gestellten Regierung. Sie sind in der

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Regel von marxistischen Raumtheorien1 geprägt. Der Ausdruck »neoliberale Urbanisierung« steht hier für ein kapitalismuskritisches Forschungsprogramm, das von vielen renommierten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern geprägt ist (vor allem Bartu Candan/Kolluoğlu 2008; Bezmez 2008; Kuyucu/Ünsal 2010; Karaman 2013; Kuyucu 2014; Pérouse 2015). Kritik an der die Gesellschaft immer tiefer durchdringenden Wirtschafts- und Finanzlogik läuft zusammen mit Vorwürfen des ungerechten Wettbewerbs und der Vetternwirtschaft seitens der Regierenden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Fallstudien, die Gentrifizierungsprozesse näher beleuchten (Ünlü Yücesoy 2008; İslam 2010) oder die Rolle von urbanen Minderheiten in den Blick nehmen (Aksoy/Robins 2011; Şahin-Malkoç 2014). Neben diesen zum Teil sehr stark theoriegeleiteten Studien gibt es auch stärker quantitativ-empirisch angelegte Forschungen zur Istanbuler Stadtentwicklung. Eine umfangreiche sozialgeographische Analyse Istanbuls findet sich bei Martin Seger und Friedrich Palencsar (2006). Einer der gegenwärtig führenden Stadtgeographen ist Murat Güvenç, der insbesondere durch seine »social maps« bekannt ist, die er mit Hilfe der multiplen Korrespondenzanalyse erstellt. Eine Auswahl dieser Karten, die die sozio-demographischen und sozio-ökonomischen Verteilungen in Istanbul besonders anschaulich darstellen, findet sich bei Bürge Elvan Erginli (2018). Auch die Architekturwissenschaft findet im akademischen Stadtdiskurs Beachtung. In der zentralen Publikation von Sibel Bozdoğan und Esra Akcan (2012) »Turkey. Modern Architectures in History« und dem Sammelband von Meltem Ö. Gürel (2016) »Mid-Century Modernism in Turkey – Architecture Across Cultures in the 1950s and 1960s« werden die durch Architektur geprägten Entwürfe und Vorstellungen von Modernität nachempfunden. Darüber hinaus gibt es vielfältige interdisziplinäre Projekte, die in Publikationen mündeten, wie beispielsweise die Publikation »Self Service City: Istanbul«, herausgegeben von Orhan Esen und Stephan Lanz (2007), der Sammelband »Public Istanbul. Spaces and Spheres of the Urban«, herausgegeben von Frank Eckhardt und Kathrin Wildner (2008), das Sammelwerk »Mapping Istanbul«, herausgegeben von Pelin Derviş und Meriç Öner (2009) im Rahmen eines Projekts in Zusammenarbeit mit dem Kulturinstitut SALT und der Garanti Bank, oder auch der Report zur Urban Age Konferenz in Istanbul (2009). Neueste Studien zur Istanbuler Stadtforschung, an der viele der hier genannten prominenten Autorinnen und Autoren 1

Unter marxistischen Raumtheorien fassen Martina Löw, Silke Steets und Sergej Stoetzer solche Forschungsansätze zusammen, die auf die Raumtheorie von Henri Lefèbvre zurückgehen, die er ab Ende der 1960er Jahre entwickelte. Laut Lefèbvre bringt jede Gesellschaft, beziehungsweise jede Produktionsweise, ihren jeweils spezifischen Raum hervor – und das gilt eben auch für das kapitalistische System. Besonders prominent sind die daran anknüpfenden Arbeiten von David Harvey, der die von Lefèbvre entwickelte Theorie unter den Bedingungen der Globalisierung weiterdenkt (vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2008: 52ff.).

2. Forschungsstand und Kontext

beteiligt sind, finden sich im Sammelband von Ayfer Bartu Candan und Cenk Özbay (2014). Die hier vorgestellten Publikationen beschäftigen sich aus vielen unterschiedlichen Perspektiven mit der Stadtentwicklung Istanbuls. Es werden große gesellschaftliche, politische und räumliche Dynamiken beschrieben und auf lokaler Ebene Fallstudien zu Vierteln oder bestimmten Sozialgruppen durchgeführt. Was aber bis dato unbeleuchtet zu sein scheint, ist die Frage, inwiefern sich die Prozesse der Raumtransformation durch ständige Stadterneuerung biografisch betrachtet auswirken. Stadterneuerungserfahrungen werden im Populärdiskurs oftmals mit einer krisenartigen Erfahrung seitens der Bewohnerschaft in Verbindung gebracht. Ziel meiner Studie ist es, die Auswirkungen dieser Krisenerfahrung auf die Betroffenen zu untersuchen. Dabei ist die Untersuchung von Beginn an von einer Paradoxie geprägt: Die meisten Untersuchungspersonen haben durch diese Krise ihren eigenen sozialen Aufstieg erlebt, blicken aber oftmals verlustorientiert in die Vergangenheit zurück. Es bedarf daher einer fallrekonstruktiven Herangehensweise, um dieses Phänomen beleuchten zu können, die es meiner Kenntnis nach im Forschungsfeld bisher noch nicht gibt. Die folgenden Unterkapitel liefern nun einen Orientierungsrahmen für den kontextuellen Hintergrund, vor dem diese Studie steht. Dabei gehe ich vor allem auf diejenigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen ein, die für die Biografien der Interviewpersonen eine bedeutende Rolle spielen. Dies bedeutet, dass ich in meiner Kontextaufarbeitung den Schwerpunkt auf die Darstellung ab den 1950er Jahren setze. An Stellen, an denen es nötig ist, werde ich weiter zurückgreifen. In Kapitel 2.1 werde ich einen ersten chronologischen Überblick über zentrale gesellschaftspolitische Prozesse, wichtige Akteure und grundlegende Pfadabhängigkeiten liefern, die sich im Zuge der Verstädterung entwickelt haben. Dabei werde ich nicht nur auf Migrationsbewegungen eingehen, sondern auch auf die politischen Parteien, die die Stadtentwicklung mitgeprägt haben. In Kapitel 2.2 folgt ein kurzer Exkurs über staatliche Wohnungsbaufinanzierung und die türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ. Aufbauend auf diesen Kontextgrundlagen werde ich im Kapitel 2.3 näher auf die Logiken der Raumproduktion eingehen – von dem großen Einfluss informeller Siedlungsstrukturen über einen langen Zeitraum ab den 1950er Jahren bis hin zur heutigen, stärker standardisierten Wohnraumproduktion, die sich an sozioökonomischen Zielgruppen ausrichtet. In Kapitel 2.4 werde ich abschließend die Aushandlungsprozesse um Stadt- und Gesellschaftskultur beleuchten, da sie ebenfalls zentral für meine Studie sind.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

2.1

Urbanisierung in der Türkischen Republik – Ein chronologischer Überblick

Die meisten Beschreibungen der türkischen Verstädterung setzen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges an, genauer ab den 1950er Jahren, da ab diesem Zeitpunkt ein starkes städtisches Bevölkerungswachstum einsetzte (Bilgin 2007; Erman 2012; The World Bank 2015). Die ersten Urbanisierungstendenzen attestiert İlhan Tekeli der Türkei allerdings bereits Mitte des 19. Jahrhundert, als im damaligen Osmanischen Reich eine Phase der »shy modernization« (Tekeli 2014: 5) einsetzte. Im Rahmen der umfassenden Tanzimat-Reformen2 sollte neben einem Prozess der Modernisierung auch die Adressierung drängender städtischer Problemlagen angestoßen werden3 . Tekeli sieht im Anschluss an diese »shy modernization« nach dem Zerfall des osmanischen Reiches und der Republikgründung eine Phase der »radical modernity« eintreten (Tekeli 2009: 16). Tarık Şengül bezeichnet die Phase zwischen der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 und dem Jahr 1950 auch als »Territorialisierung und Urbanisierung des (National-)Staates« (Şengül 2007: 79). Wirkliche Urbanisierungsprogramme standen in dieser Zeitspanne noch nicht auf der politischen Agenda, jedoch wurde strategisch in den Ausbau der zentralanatolischen Städte und Gebiete, allen voran in der Stadt Ankara, investiert. Bis zur Republikgründung war Istanbul die bedeutendste Stadt des Reiches. Doch der Ausbau Ankaras und Anatoliens als das mythische Heimatland der Türken zum Zentrum der neuen Republik rang Istanbul diesen bevorzugten Status ab (Şengül 2007: 80f.). Die neue Hauptstadt Ankara sollte für die junge Republik in Abgrenzung zum Osmanischen Reich einen Gegenpol zu Istanbul darstellen. Tekeli schreibt dazu: »The first was the proclamation of Ankara as the capital city of a republic founded on the belief that a sense of national unity could not be developed within the cosmopolitan atmosphere of large port cities. It was hoped that an emerging middle class could establish new standards and values which would serve as an exam-

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Tanzimat, aus dem Osmanischen, bedeutet übersetzt »Reform/Neuordnung« und bezeichnet die Periode zwischen den Jahren 1839 und 1871 (manchmal auch bis 1876). Die Reformen sollten dazu dienen, die Macht aus dem Palast heraus in bürokratische Strukturen zu überführen (vgl. Zürcher 2004: 50ff.). Die Reformen sollten folgende Funktionen erfüllen: »they were used to gain foreign support or to avert foreign intervention, but they were also the result of a genuine belief that the only way to save the empire was to introduce Europeanstyle reforms« (ebd.: 56). Tekeli beschreibt für Istanbul folgende zentrale Handlungsbereiche: Die Entwicklung eines zentralen Wirtschaftszentrums, die Ausdifferenzierung und Erweiterung des Wohnungsangebots, die Verbesserung der Infrastruktur sowie die Prävention von bis dato regelmäßigen Bränden in den Wohngebieten (vgl. Tekeli 1994: 5).

2. Forschungsstand und Kontext

ple for the whole country. In doing so, the success of Ankara as a modern capital became linked to the fate of a new political regime.« (Tekeli 2009: 16) Deshalb begann die türkische Regierung in Ankara mit ihren Siedlungsplanungen, die eine wichtige Grundlage für die Zukunft der türkischen Städte bildeten (siehe Bozdoğan/Akcan 2012: Kapitel 3 – The modern house). Nach deren Vorbild sollten in der Folge auch in anderen anatolischen Städten Siedlungen geplant werden. Die Stadt Istanbul hingegen wurde in dieser Zeit eher vernachlässigt und erst nach dem zweiten Weltkrieg als wirtschaftlicher Wachstumsstandort wiederentdeckt (Keyder/Öncü 1994: 394). Bis in die 1950er Jahre hinein galt die Türkei als eine noch vornehmlich agrarwirtschaftlich geprägte Republik mit einem städtischen Bevölkerungsanteil von 25 Prozent (The World Bank 2015: 1), der vor allem im Vergleich zu heute (75 % nach The World Bank 2015, 85 % nach Konda 2018) sehr gering erscheint. Wie in anderen Schwellenländern setzte auch in der türkischen Moderne der intensive Zuzug vom Land in die Stadt erst später ein, als das in den meisten anderen europäischen Ländern der Fall war. So war Istanbul bis in die Nachkriegszeit hinein noch nicht wirklich mit den typischen Großstadtproblemen konfrontiert, die durch starkes Bevölkerungswachstum verursacht werden (Bilgin 2007: 93). Der massive Umzug vom Land in die Stadt setzte ab den 1950er Jahren ein und wurde ausgelöst von agrarwirtschaftlichen Interventionen und Strukturanpassungsprogrammen, beispielsweise im Rahmen des US-amerikanischen Marshall-Plans (Öztürk et al. 2018: 515f.; Erman 2012: 295; Şengül 2007). Die Landwirtschaft wurde reformiert, ihre Produktivität gesteigert und Absatzmärkte in den Städten wurden durch Infrastrukturmaßnahmen erfolgreich erschlossen. Es ging der türkischen Regierung zu diesem Zeitpunkt darum, die nationale Entwicklung voranzutreiben, indem sie sich von der bisherigen agrarwirtschaftlichen Prägung abwandte und versuchte, die Bevölkerung stärker in die Produktions- und Erwerbsarbeit mit einzubeziehen: »The parameters of Turkey’s post-1945 economic development were based upon a model of national development implemented through state-protected importsubstituting industrialization. The success of this model was closely bound with the continuous expansion of the internal consumer market. Hence at the level of public policy, it was accompanied by redistributive measures and a populist discourse, aiming to mobilize and incorporate a larger proportion of the population into product and labor markets.« (Keyder/Öncü 1994: 394) Dieser Faktor führte dazu, dass die obsolet gewordene Landbevölkerung sich auf den Weg in die Städte machte, um sich eine neue Existenzgrundlage zu erarbeiten. Die Istanbuler Immigrierenden dieser ersten großen Welle entstammten zunächst meist der Schwarzmeerregion, etwas später dann auch dem anatolischen

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Inland (Keyder 2005). Die Menschen wurden von der wachsenden Attraktivität der Städte in Bezug auf Beschäftigung und Lebensbedingungen angezogen. Diese pullFaktoren stehen im Kontrast zu den vorwiegenden push-Faktoren der später folgenden Migrationswellen, insbesondere ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, in denen die meisten Personen vor bewaffneten Auseinandersetzungen flüchteten. Der Zuzug verlief allerdings in großem Maße unstrukturiert und die Stadtverwaltungen verblieben zunächst weitgehend tatenlos. Wie Danielson und Keleş (1985) beschreiben, reagierten die Stadtverwaltungen maximal reaktiv auf die neu geschaffenen sozialen Realitäten. Oftmals hieß dies, lediglich in den Ausbau der Straßeninfrastruktur zu investieren (Bilgin 2007). Und trotz der politischen Motivation fehlte es den Städten an Arbeitsplätzen und produzierendem Gewerbe. Erman beschreibt diesen Vorgang als »urbanization without industrialization« (Erman 2012: 295), da es in den Städten trotz der wirtschaftlichen Neuausrichtung zu wenig entwickelte Industrie gab, die die Arbeitskräfte vom Land in Empfang nehmen konnte. Nichtsdestotrotz entwickelte sich Istanbul in der Folge zwischen 1950 und 1970 zu einem wichtigen Zentrum der Industrie. Insbesondere private, große Fertigungsbetriebe bildeten die neue Generation der Industrialisierung in der Stadt. Im Jahr 1973 waren 44 Prozent aller privaten Fertigungsbetriebe mit über zehn Angestellten in Istanbul ansässig, was zum damaligen Zeitpunkt 51 Prozent der Belegschaft der türkischen Privatindustrie entsprach (Özmucur 1976 zitiert nach Keyder/Öncü 1994: 395). Das Wachstum Istanbuls als Einwandererstadt Nummer eins in der Türkei zeigt sich besonders eindrücklich anhand der Bevölkerungsentwicklung zwischen den Jahren 1950 und 2019. Dabei ist tatsächlich der Großteil des Wachstums auf urbane Migration, also dem Zuzug vom Land in die Stadt, zurückzuführen. Natürliches Wachstum sowie Eingemeindungen spielten dabei eine eher untergeordnete Rolle. Zwischen den Jahren 1950 und 2019 verfünfzehnfachte sich die Bevölkerung und stieg von etwa einer Million auf etwa 15 Millionen an (World Population Review 2020). Die höchsten Wachstumsraten lassen sich dabei in den 1960er und 1970er Jahren verzeichnen. Auch der Flächenanspruch der Großstadt explodierte (Atlas of Urban Expansion 2016). Ein Nebenprodukt der Wanderungen in die Städte war im Gegensatz zur europäisch-industriellen Urbanisierung jedoch nicht die Zunahme an explizit für diese Bevölkerungsgruppe gebauten Arbeitervierteln, sondern die Zunahme informeller Siedlungen, der sogenannten Gecekondu (»über Nacht gebaut«) und die mit ihnen einhergehende inoffizielle Landnahme von unbesiedeltem, zumeist staatlichem Boden. Diese Landnahme breitete sich immens aus und um das Jahr 1980 lag der Gecekondu-Anteil an urbanen Siedlungen insbesondere in Istanbul, Izmir und Ankara bei 30 bis 60 Prozent (The World Bank 2015: 21). Besiedelt wurden dabei in der Regel Agrarflächen oder einfache Freiflächen, die in kommunaler, zentralstaatlicher oder Stiftungshand lagen. Diese eigenmächtige Besiedelung war der

2. Forschungsstand und Kontext

deutliche Ausdruck eines vorherrschenden Selbsthilfe- beziehungsweise Selbstbedienungscharakters der städtischen Zuwanderung (Esen 2007). Während ein großer Teil der Gecekondu-Siedlungen in Istanbul um industrielle Produktionsstellen im Außenbereich der Stadt herum entstand, erhöhte sich ebenso die Personendichte in den innerstädtischen Bereichen, die mehr von kleineren Handelsgewerben, Lagerhäusern und kleineren Produktionsstätten geprägt waren. Freie und ungenutzte Flächen wurden besetzt und mit einfachen und schnellen Mitteln irgendwie nutz- und bewohnbar gemacht. Die Eliten zogen sich dagegen aus der Altstadt zurück, siedelten sich weiter im Norden der Stadt an, und so kam es in einigen Istanbuler Innenstadtbereichen immer weiter zum Verfall der vormaligen Siedlungsstruktur (Keyder/Öncü 1994: 395f.). Politisch prägte die 1950er Jahre in der Türkei eine Phase der Demokratisierung. Das Mehrparteiensystem wurde etabliert, auch wenn es insbesondere im Hinblick auf die Gecekondu-Bewohnerinnen und Bewohner hauptsächlich einen verbreiteten Klientelismus mit sich brachte (Erman 2012: 295). Das GecekonduProblem wurde seither gerne als politische Verhandlungsgrundlage genutzt und bot den unterschiedlichen Parteien Wahlstimmen im Austausch für eine bessere Versorgung oder gar für die Legalisierung informeller Siedlungen. Dies bedeutete im Folgeschluss die Herausbildung eines zweiseitigen, opportunistischen Wahlsystems: »It also shaped the contours of an electoral system where party support became rooted in the downward flow of patronage from the central bureaucracy and the upward flow of peasant votes through clientelistic networks.« (Keyder/Öncü 1994: 395) Es ging bei diesem Handel nicht nur um die Verbesserung des Zugangs zu Ressourcen und Infrastrukturen, sondern auch um die Unterlassung legaler Kontrollen und Verbote, beispielsweise in Bezug auf Zonierungen, Bauverordnungen und Baugenehmigungen (ebd.: 396). Insbesondere seitens der Regierung wurde hiermit eine Doppelstrategie verfolgt, welche Şengül wie folgt beschreibt: »Die Politik des Staates, Besitzurkunden zu vergeben, grundlegende Versorgungsleistungen bereit zu stellen und selbst Häuser zu registrieren und damit die Siedlungen anzuerkennen, waren auch Versuche, seine Autorität wiederherzustellen, Kontrolle über die Siedlungen zu erlangen und ihre Bewohner in die Logik des kapitalistischen Bodenmarktes zu reintegrieren. Mit der Umsetzung der Pläne empfingen sie nicht nur Anerkennung und Dienstleistungen. Die Legalisierung ihrer Grundstücke und Häuser und deren Registrierung in städtischen Unterlagen machten sie vielmehr auch zu Steuerzahlern. Fortan konnten die Siedler die Grundstücke und Häuser, die sie einst besetzt hatten, auf dem Immobilienmarkt legal kaufen und verkaufen.« (Şengül 2007: 84f.)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

In der Retrospektive wird der liberalisierende und legalisierende Umgang mit den informellen Siedlungen als sinnvolle Strategie zur Förderung des sozialen Aufstiegs – eben insbesondere durch Hausbesitz – hervorgehoben (The World Bank 2015). Zusätzlich schwingt hier das Ideal der menschlichen Sesshaftigkeit mit. Jean-François Pérouse (2015) betont dagegen die marktwirtschaftliche und indirekte Logik dieser Regierungsstrategie, mit der die Regierung die Verantwortung für die urbanen Siedler de facto wieder von sich wegschob. In jedem Fall lässt sich bei den Parteien, die sich der informellen Siedlungsproblematik mit dieser Strategie annahmen, ein beeindruckender politischer Erfolg attestieren (siehe beispielsweise Şengül 2007: 84f. zum Erfolg der CHP in den 1970ern). Neben dem opportunistischen Laissez-faire-Umgang mit der urbanen Siedlungs- und Wohnungsfrage konzentrierte sich die Regierung auf den nationalen Ausbau der Industrie (Erman 2012: 295). Erschüttert von einer weltweiten Rezession und finanziellen Querlagen kamen die großen Schwierigkeiten des bisherigen Systems dann Ende der 1970er Jahre zum Vorschein. Klientelistische Netzwerke zerbrachen, der Land- und Immobilienmarkt stagnierte, Investitionen zur Schaffung sozialer Gleichberechtigung fehlten. So kam es zu einer Ausbreitung politischen Protests, sozialer Konflikte und schließlich zum Militärputsch im Jahr 1980. Keyder und Öncü schreiben dazu: »The social and economic cleavages generated in three decades of uneven growth had erupted, only to be silenced by the military coup of 1980« (Keyder/Öncü 1994: 397). Zu Beginn der 1980er Jahre hatten die Städte der Türkei, allen voran Istanbul, mit den Folgen der unterlassenen Stadtentwicklung seitens der Regierung zu kämpfen. Zwar konnten sich einige informelle Siedlungsbewohnerinnen und -bewohner durch geschicktes Eigeninvestment eine einigermaßen gesicherte Existenz aufbauen, trotzdem gab es in Bereichen wie Verkehrsplanung, Gesundheitsund Wohnungsversorgung Missstände, die Teile der Bevölkerung ausschlossen (Bilgin 2007). Dringend notwendige Infrastrukturinvestitionen, die von der konservativ-liberal ausgerichteten Anavatan Partisi (Mutterlandspartei) unter Turgut Özal vorangetrieben wurden, wurden eher punktuell getätigt und deshalb, so argumentiert İhsan Bilgin, habe sich eine Doppelstruktur in der Stadt ausgebildet: auf der einen Seite Stadtteile, die nach wie vor sich selbst überlassen blieben, und auf der anderen Seite Stadtteile, die im Rahmen von Großprojekten einfach auf die alten Stadtteile »darauf geklebt« (Bilgin 2007: 96) wurden. Diese Teile der Stadt, die sich insbesondere durch Bürotürme, Shoppingmalls und Hotels auszeichneten, wurden zwar durch Stadtautobahnen an die Verkehrsinfrastruktur so gut wie möglich angeschlossen, waren ansonsten aber vom restlichen Teil der Stadt isoliert. Gleichzeitig siedelten sich internationale Banken in der Türkei an und veränderten durch prestigeträchtige Geschäftssitze ebenfalls das Stadtbild. Die städtebaulichen Veränderungen, gerade in Istanbul, waren eklatant: Gab es in den 1970ern gerade einmal vier Gebäude mit über 20 Stockwerken, waren es in den

2. Forschungsstand und Kontext

1980ern bereits 20 Gebäude (Keyder/Öncü 1994: 408). Um solche großflächigen Projekte realisieren zu können, setzte sich zunehmend eine »Zero-Gecekondu-Politic« (Erman 2012: 298) durch. Das zunehmende feindliche Verhalten gegenüber informellen Siedlungen entsprach der politischen Ausrichtung dieser Zeit. Erman (2012) beschreibt die 1980er Jahre als geprägt von einer neoliberalen Restrukturierung der türkischen Wirtschaft, die mit einer auf Export orientierten Marktwirtschaft einherging. Es war insbesondere in diesem Jahrzehnt, dass die Globalisierung der Moderne Einzug in die Türkei hielt. Der Militärputsch von 1980 öffnete die Tür für eine soziale, wirtschaftliche und politische Transformation der Gesellschaft und stärkte den Einfluss des Internationalen Währungsfonds auf die türkische Wirtschaftspolitik (Keyder/Öncü 1994: 397). Trotzdem, so argumentieren Keyder und Öncü, kam es in den 1980er Jahren zum ersten Mal seit der Republikgründung zu erheblichen Investitionen in die marode Stadtstruktur Istanbuls. Generell trat die regierende Anavatan Partisi aber für einen sehr liberalen Kurs mit verhaltenen staatlichen Eingriffen in die Marktwirtschaft ein (ebd.: 399). Auch viele der großstädtischen Bürgermeisterposten gingen nach der Kommunalwahl von 1984 an die liberalen Kandidaten der Anavatan Partisi (Şengül 2007: 87). Dies setzte wichtige Grundsteine für die starke Ausrichtung der Stadtverwaltung auf marktwirtschaftliche Prinzipien und eine Privatisierung der Grundversorgung: »So sollten städtische Dienstleistungen kostenneutral sein, Subventionen und Beihilfen wurden abgeschafft und Preise an realen Kosten orientiert. Ein weiteres Element bestand darin, die Zahl städtischer Angestellter allmählich zu reduzieren.« (Ebd.) Der Immobilienmarkt gewann in dieser Zeit an Bedeutung und zog zunehmend das Interesse der Privatwirtschaft auf sich. Somit wurde eine neue Strategie im Umgang mit den informell besiedelten Landstücken nötig, die nun ein Hindernis waren. Zwischen den Jahren 1983 und 1987 wurden deshalb mehrere Gesetze für den Umgang mit Gecekondus erlassen, was unter anderem dazu führte, dass einige Gebiete mit Masterplänen ausgestattet und auch von kleineren Baufirmen entwickelt werden konnten. Die Möglichkeit ihrer eigenen Immobilienaufwertung bescherte diesen ausgewählten Gecekondu-Bewohnerinnen und Bewohnern wirtschaftliche Vorteile, von denen sie bis dahin ausgegrenzt gewesen waren (Erman 2012: 297). Zusätzlich gewährte die Anavatan Partisi den Hausbesitzenden die Erlaubnis, Mieten zu erheben. So konnten sie durch den Ausbau ihrer Häuser größere Mieteinnahmen erzielen (Keyder/Öncü 1994: 399). Diese Mechanismen waren es, die in erster Linie zum sozialen Aufstieg dieser Bevölkerungsgruppe beitrugen – trotz den zu dieser Zeit fallenden Arbeitslöhnen. Als besonderer Wendepunkt in den 1980er Jahren wird daneben die Einführung der Metropolverwaltungen (Büyükşehir Belediyesi) für die drei größten Städte der

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Türkei – Istanbul, Izmir und Ankara – im Jahr 1984 gesehen (The World Bank 2015: 17f.; Şengül 2007: 87; Keyder/Öncü 1994: 404f.). Das entsprechende Gesetz sollte vor allem die fragmentierte Verwaltung der Großstädte vereinfachen und befähigte die Stadtverwaltungen dazu, eigene strategische und infrastrukturelle Planungen umzusetzen. Für Istanbul bedeutete die Einführung der Großstadtverwaltung darüber hinaus die Eingemeindung von etwa 40 kleineren Randbezirken (Keyder/Öncü 1994: 405). Die Einführung der Metropolverwaltungen führte zu einer besser koordinierten Verwaltung der Städte. Außerdem konnten die Stadtverwaltungen höhere Steuereinnahmen verzeichnen und längst fällige Infrastrukturmaßnahmen angehen (Keyder/Öncü 1994: 400). Als Paradebeispiele dieser Maßnahmen für Istanbul gelten der Ausbau der Wasser- und Sanitärversorgung und die Anschaffung einer Flotte von Bussen und Schiffen für den öffentlichen Nahverkehr (The World Bank 2015: 18). Oftmals wurden Infrastrukturprojekte auch von ausländischen Investitionen angeregt, wie die Erneuerung der Uferpromenade des goldenen Horns, die durch einen Weltbankkredit getragen wurde. Die ursprüngliche Bebauung musste hierbei einer zweispurigen Straße sowie einem neu aufgeschütteten grünen Ufer weichen. Zunehmend veränderten nun auch neue Straßen, Brücken und Unterführungen das Stadtbild Istanbuls, die in fast schon autoritär vorangetriebenen Projekten des damaligen Bürgermeisters Bedrettin Dalan der Anavatan Partisi realisiert wurden (Keyder/Öncü 1994: 400f.). Dikmen Bezmez führt dies für die Erneuerung der Uferpromenade des goldenen Horns Mitte der 1980er Jahre aus und beschreibt den Prozess als »top-down initiative, begun by the ambitions of a determined mayor with newly acquired power in his hand« (Bezmez 2008: 817). Darüber hinaus regte die Neustrukturierung der Großstadtverwaltungen wirtschaftliches Wachstum in den Metropolstädten an. So konzentrieren sich bis heute die meisten Firmen in den drei Metropolstädten Istanbul, Ankara und Izmir (The World Bank 2015). Charlotte Joppien beschreibt für diese Zeit nicht nur die neoliberale Neuausrichtung der kommunalen Verwaltung und die zunehmende Attraktivität für privatwirtschaftliche Investitionen, sondern auch die Neustrukturierung kommunaler Hegemonien, indem das Bürgermeisteramt massiv aufgewertet wurde: »Eine besondere Rolle kam dabei dem Bürgermeisteramt zu, dessen Aufgabenbereich sich von einem ›Verwalter‹ zu einem ›Manager‹ wandelte. Neben dieser wirtschaftlichen Macht wurden seine Befugnisse auch intern, d.h. gegenüber dem Stadtrat, gestärkt. Als Fazit lässt sich sagen, dass das Gesetz 3030 [zur Einführung der Großstadtverwaltung, L.R.] nicht zu einer Stärkung kommunaler Einheiten geführt, sondern vielmehr zur Schaffung neuer hegemonialer Zentren in Gestalt des Bürgermeisters beigetragen hat.« (Joppien 2012: 56f.)

2. Forschungsstand und Kontext

Dies erklärt, warum das Bürgermeisteramt Istanbuls bis heute so stark umkämpft ist und eine wichtige Machtposition darstellt.4 In den 1990er Jahren kam es zu einer erneuten Migrationswelle aus dem Osten der Türkei in die Städte, insbesondere in die Metropolregionen des Westens. Große Teile der kurdischen Bevölkerung flohen dabei aus dem Osten des Landes vor den politischen und mittlerweile gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen kurdischen Rebellen und dem türkischen Militär (Erman 2012: 298). Einige Hunderttausende von ihnen strandeten in Istanbul (Keyder 2005: 131). Sie erreichten die Städte jedoch in einer für sie sehr ungünstigen Zeit und fanden bei weitem nicht mehr die gleichen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung, zu sozialem Aufstieg und Integration vor wie die Immigrierten der früheren Urbanisierungswellen. Keyder (2005) sieht hierin eine der eklatantesten sozialen Ungleichheiten dieser Zeit, die durch diverse Pfadabhängigkeiten auch heute noch in Erscheinung treten. Bereits in den 1990er Jahren befürchteten Forscherinnen und Forscher, dass durch diese ungleichberechtigten Migrationsgruppen neue Herausforderungen und Gefahren nicht nur für die Migrierten, sondern auch für die betroffenen Städte entstehen: »It is, of course, the increasing numbers of this marginal population which makes metropoles of the South increasingly ungovernable. And, it is also the case that the more ungovernable the city the less are its chances of supplying the security which is a prerequisite for foreign investment and the location of foreign personnel. These dilemmas are very much present in Istanbul.« (Keyder/Öncü 1994: 418) Die Regierung reagierte auf die Problemlagen der Neumigrierten nur sehr nachlässig, da sich die politische Ausrichtung bereits in den 1980er Jahren eindrucksvoll geändert hatte und seitdem einen stark marktwirtschaftlich-liberal geprägten Kurs eingeschlagen hatte. Da die Stadtpolitik nun auch auf globale, finanzgesteuerte Interessen eingehen musste, kam der Patronagepolitik und dem Klientelismus nur noch eine marginale beziehungsweise lokale Rolle zu (Keyder/Öncü 1994: 417). Die Großstadtverwaltung musste stattdessen selbst Unternehmertum beweisen und ihren Fokus von den kleinen Leuten auf die Forderungen neuer Interessensgruppen richten: einflussreiche wirtschaftliche Akteure, Fachkräfte und die sich zunehmend Gehör verschaffende Mittelschicht. Zu den Verliererinnen und Verlierern gehörten die neu Immigrierten, die letztlich außen vor blieben.

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Recep Tayip Erdoğan ist beispielsweise mit diesem Amt im Jahr 1994 das erste Mal an politische Macht gelangt (vgl. Akyol 2016: 102ff.). Nach Einführung des Präsidialsystems nominierte Erdoğan den letzten und ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım, wohl als besondere Gefälligkeit, im Jahr 2019 als Kandidaten für den Posten, der jedoch die Wahl gegen Ekrem İmamoğlu von der CHP verlor. Der wird mittlerweile wiederum als der größte potentielle Herausforderer Erdoğans betrachtet.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Dies äußerte sich insbesondere in der erstmals auftretenden Kommodifizierung des Grunds und Bodens in eine Ware (Keyder 2005: 130). Der Druck auf städtischen Boden und sein Wert stiegen immens an, was unter anderem zur zunehmenden Abneigung von der Neuetablierung informeller Siedlungen beitrug: »The consequences are evident: there is no longer the possibility of land occupation and informal housing construction. The new immigrants have to come in as tenants, and often into the least desirable, the cheapest and the meanest dwelling units.« (Ebd.) Die neuen sozialen Ungleichheiten, die sich in den beiden Dekaden zwischen 1980 und 2000 manifestierten, sind in vielen sozialwissenschaftlichen Studien der Zeit zentrales Thema. So etablierte sich neben den migrantischen Gruppen eine »thin social layer constituting a new bourgeois and professional class, able to operate in global markets and renumerate at world scale« (Keyder 2005: 124). Insbesondere Istanbul verlor in dieser Zeit seinen mittelständischen Charakter und es traten verstärkt gesellschaftliche Spaltungen entlang Einkommen, Vermögen und Macht in den Vordergrund. Eine politische Wende in der Kommunalverwaltung fand nach dem Wahlerfolg der islamistischen Refah Partisi (RP) bei den Kommunalwahlen des Jahres 1994 statt. Ugur Akinci (1999) beschreibt, wie deren Bürgermeister – unter ihnen auch Recep Tayip Erdoğan – den Städten zunehmend einen konservativen Stempel aufdrückten. Ihr Wahlerfolg stützt sich zu einem großen Teil auf die Instrumentalisierung der zunehmenden sozialen Spaltungen und der Problembearbeitung in den vernachlässigten Stadtteilen. Dies zeigt sich in den pragmatischen bis klientelistischen Strategien, die Akinci näher beschreibt: »Muzaffer Dogan [sic!], the RP [Refah Partisi; LR] mayor of Bahcelievler [sic!], a suburb of the greater-city municipality of Istanbul, for example, distributed 1,500 tons of coal in winter, free of charge, as well as 250-kilogram grocery packages during the holy month of Ramadan to 3,500 families, clothing for 100 college students, and paid for the circumcision ceremonies of 1,000 children. […] Various commentators claimed that anyone who can handle the ›three C’s‹ will also win the elections: cop, cukur and camur [sic!], in Turkish. They translate as ›garbage,‹ ›potholes,‹ and ›mud.‹ In RP-controlled municipalities ›buses run, the garbage is collected, and social services in general have improved,‹ said one observer in January 1997.« (Akinci 1999: 77) Mit Verbot und Auflösung der Partei im Jahr 1998 kam es aber nicht zum Ende des Erfolgs eines politischen Islams. Denn schon nach dem Wahlerfolg der AKP bei den Parlamentswahlen von 2002 schloss sich wieder eine Phase der massiven Transformation und Umverteilung an: Der Name der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) stand dabei Programm und eine umfassende wirtschaftliche wie soziale

2. Forschungsstand und Kontext

Entwicklung wurde angekurbelt, die auch in den Städten ihre Spuren hinterließ: Megaprojekte, insbesondere in Istanbul und Ankara, im Rahmen von Infrastrukturmaßnahmen wie beim Industriestandort Kartal oder beim Galataport, von touristischen Orten wie Küçükçekmece und vom großflächigen, zum Teil hoch luxuriösen Wohnungsbau wie in Maslak fallen zusammen mit steigenden Mietpreisen, der teilweisen Verdrängung und Umsiedlung von ganzen Bevölkerungsgruppen im Zuge von Gecekondu-Transformationsprojekten und mit Gentrifizierungsprozessen der angesagten Innen- und Altstadtviertel (siehe beispielsweise Ünlü Yücesoy 2008; Kadıoğlu Polat 2016). Binnenmigration fand nun eher zwischen den großen und beliebten türkischen Städten als zwischen Land und Stadt statt (The World Bank 2015). Obwohl das von den Vorgängerregierungen forcierte Projekt fortgesetzt wurde, Istanbul für internationale Investitionen attraktiv zu machen, wird die Wahl der AKP-Regierung im Jahr 2002 von Ayfer Bartu Candan und Biray Kolluoğlu (2008) als wichtiger Wendepunkt in der Liberalisierung der Stadtpolitik gesehen. Die AKP erleichterte sich die Umsetzung von lokalen urbanen Projekten und die Zusammenarbeit mit privaten Investoren seit Mitte der 2000er Jahre insbesondere mit dem weiteren Ausbau der Verfügungsgewalt des Bürgermeisteramtes, einigen weiteren neuerlassenen Gesetzen5 sowie der von nun an mit umfassenderen Befugnissen ausgestatteten Wohnungsbaubehörde TOKİ (Bartu Candan/Kolluoğlu 2008: 13f.). Zunehmend wurde auch die Erdbebenvorsorge für die Durchsetzung von Stadterneuerungsprojekten als Vorgabe herangezogen – insbesondere in Istanbul. Die stets drohende Erdbebengefahr fügte dem Diskurs um den Wohnungsbau eine Dringlichkeit hinzu, die insbesondere in der kompromisslosen Ausführung unterschiedlicher Stadterneuerungsprojekte ihren Ausdruck fand (ebd.:17). Oftmals wurde den agierenden Behörden schlicht eine unter dem Deckmantel der Erbebenvorsorge, in Wahrheit aber an Gewinnmaximierung interessierte städtische Wohnungsbaupolitik vorgeworfen (Bartu Candan/Kolluoğlu 2008; Kuyucu/Ünsal 2010). Der Kampf gegen den Terrorismus stellte einen ähnlichen Dringlichkeitsfaktor dar, der die entsprechenden Organe zum harten Durchgreifen befähigte. Informelle Siedlungen, als Brutstätten für Terrorismus, sollten demnach durch sortierten, organisierten Wohnungsbau im Sinne der staatlichen Wohnungsbaubehörde TOKİ ersetzt werden.6 Pérouse beschreibt die starke Verbundenheit von TOKİ, der Zentralregierung sowie der Privatwirtschaft als gleichzeitig eine »privatisation of the state« und als eine »expansion of the state into the private sector« 5

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»These laws include Law no. 5366 (Law for the Protection of Dilapidated Historical and Cultural Real Estate Through Protection by Renewal) passed in 2005, the 2010 European Cultural Capital Law approved in 2007 and the pending law on Urban Transformation.« (Bartu Candan/Kolluoğlu 2008: 13) Siehe hierzu beispielsweise die Publikation »Şehirlerin Dönüşümü« des AKP-Politkers und mehrjährigen Präsidenten von TOKİ Erdoğan Bayraktar (Bayraktar 2013).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

(Pérouse 2015: 190). Es bildet sich in dieser Zusammenarbeit also ein Zivilisationsprogramm ab, das sich bis heute im Rahmen der von der AKP entworfenen »Neuen Türkei« (Seufert 2014) fortsetzt. Auch die zunehmende soziale Segregation durch die vielzähligen Stadterneuerungsprozesse schlägt sich heute im Stadtbild nieder – insbesondere in den typischen Ausprägungen von luxuriösen Gated Communities (im Türkischen: Site7 ) für die oberen und Großwohnsiedlungen für die unteren Einkommensschichten. Eng geknüpft an die großflächige Stadterneuerung sind außerdem die zahlenmäßig immens steigenden Neubauten von Einkaufszentren. Existierten in Istanbul im Jahr 1990 lediglich zehn größere Shoppingmalls, waren es im Jahr 2008 bereits 57 (Bartu Candan/Kolluoğlu 2008: 16) und im Jahre 2016 Zeitungsberichten zufolge etwa 100 (Sabah 2016). Damit steht die Stadt unangefochten auf Platz eins auf der Rangliste mit den meisten Shoppingmalls in der Türkei. Dass ich bis hierhin hauptsächlich die Verstädterung der westlichen Gebiete der Türkei sowie Ankaras thematisiert habe, liegt daran, dass die Urbanisierung der letzten 60 Jahre in der Türkei tatsächlich nicht flächendeckend gleich stark gewesen ist. So gehört insbesondere die Marmara-Region zu den am stärksten urbanisierten Gebieten. Sie wird teilweise sogar als »over-urbanized« (Erman 2012: 294) bezeichnet. Die Schwarzmeer-Region und Ostanatolien zählen hingegen zu den eher schwächer urbanisierten Gebieten – teilweise »under-urbanized« (ebd.). Auch die Weltbank (2015) betont die ungleiche Verstädterung und den wesentlich kompetitiveren Westen des Landes. Doch in jüngerer Zeit ist die Herausbildung der sogenannten »Anatolian Tigers«, neuer Metropolstädte auch in vormals periphereren Gebieten, eine wirtschaftlich und sozial positiv konnotierte Entwicklung gewesen (The World Bank 2015: 5). Wie in anderen Schwellenländern wird die Urbanisierung der Türkei heute oft als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte angesehen, da sie laut der Weltbank stark mit einer verbesserten Wirtschaftsleistung, einer Armutsreduktion und der Beseitigung von sozialen Ungleichheiten einherging (The World Bank 2015; Keyder/Öncü 1994). Trotz der neuen sozialen Ungleichheiten, die seitens der kritischen Sozialwissenschaft oft bemängelt werden, hält die Weltbank in Zahlen fest: »During the country’s most rapid period of urbanization, from 1960-2013, Turkey’s industrial share of the economy increased from 17.6 percent to 27 percent, and the service sector dramatically rose from 26.4 to nearly 64 percent. Per Capita GDP rose from US$5,986 in 1980 to US$13,737 in 2012. Some 92 percent of Turkey’s gross value added is produced in cities today, and the last decade has witnessed dramatic and consistent declines in poverty in parallel with a rise across most human development indicators.« (The World Bank 2015: 14)

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Vom Französischen »cité« (Kreiser 1992: 134).

2. Forschungsstand und Kontext

Die Türkei hat sich seit den 1950er Jahren folglich einem starken Wandel unterzogen. Der Umzug in die Stadt ist ein von großen Bevölkerungsteilen geteiltes biografisches Familienerlebnis. Und auch wenn es in seinen Ausprägungen Unterschiede aufweist, so besteht gerade Istanbul heute zum Großteil aus urbanen Migrantinnen und Migranten, deren Biografien unmittelbar mit der Entwicklung der Stadt verwoben sind. Gleichzeitig sind die Lebensentwürfe und Schicksale dieser urbanen Migrantinnen und Migranten eng an die Pfadabhängigkeiten geknüpft, die ich bereits eingangs des Kapitels erwähnte – insbesondere den Zeitpunkt der Ankunft und die Form der Ansiedlung. Staatlicher Wohnungsbau und von der Regierung geförderte Initiativen spielten dabei lange Zeit keine bis kaum eine Rolle. Aber aus der staatlichen Wohnungsbaufinanzierung der 1980er und 1990er Jahre entwickelte sich ein Akteur, der im Rahmen unterschiedlichster Stadtentwicklungsprojekte mittlerweile omnipräsent und dabei höchst umstritten ist: die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKİ. Dieser Genese, den dahinterliegenden politischen Mechanismen und der öffentlichen Wahrnehmung der Behörde widmet sich der nun folgende kurze Exkurs.

2.2

Exkurs: Staatliche Wohnungsbaufinanzierung und die türkische Wohnungsbaubehörde TOKİ

Um aufbauend auf den Erfahrungen mit den informellen Siedlungen und den Herausforderungen, die sie darstellten, offizielle private Initiativen des Wohnungsbaus anzuregen, wurde im Jahr 1984 ein Fonds zur Finanzierung von Massenwohnungen (Toplu Konut Fonu) gegründet. Dieser Fonds sollte dazu dienen, Wohnraum für die unteren und mittleren Einkommensschichten zu schaffen. Er gilt als erstes, wenn auch indirektes Instrument zur Wohnungsbauplanung (Keyder/Öncü 1994: 403), als »one of the first formal state interventions in the housing policy arena to that point« (The World Bank 2015: 23). Laut Keyder und Öncü (1994) erhielt Istanbul den größten Zuschlag im Rahmen dieses Fonds und somit entwickelte er sich zügig zu einem der meist genutzten Kreditmöglichkeiten in der Zeit nach 1983. Bis zur Bereitstellung des Fonds wurden die meisten Immobilienkonstruktionen entweder direkt von privat Erspartem finanziert oder von Kleinkrediten. Am stärksten profitierten von diesem Fonds jedoch, anders als ursprünglich vorgesehen, abgesicherte Bevölkerungsgruppen, insbesondere Angestellte und Ruheständler aus diversen Beamtenapparaten und staatlichen Firmen, die sich in Kooperativen zusammenschlossen. Mit Hilfe des Fonds entstanden ab den 1980er Jahren die ersten für Istanbul typischen Hochhaussiedlungen entlang der städtischen Autobahnen. Von diesen Massenprojekten profitierten wiederum große Bau-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

firmen, die von der Kombination aus staatlichen Subventionen und den günstigen Landpreisen angezogen wurden (Keyder/Öncü 1994: 404). Neben dem Fonds für Massenwohnungen wurde im Jahr 1983 zusätzlich eine zentrale Behörde gegründet, die sich um Wohnungsbau und öffentliche Teilhabe kümmern sollte (Pérouse 2015: 167). Diese spaltete sich jedoch bereits im Jahr 1990 in zwei Einheiten, woraus ein mittlerweile zentraler Akteur im Rahmen des Massenwohnungsbaus hervorgegangen ist: die bereits erwähnte staatliche Wohnungsbaubehörde TOKİ. Diese Behörde hatte zunächst die zentrale Aufgabe, sich um die Wohnungsbeschaffung für untere bis mittlere Einkommensgruppen zu kümmern. In der Anfangszeit konzentrierte sich TOKİ hauptsächlich auf die Finanzierung von Wohnungsbau durch Wohnungsbaukooperativen (ebd.: 172). Die Weltbank führt die zentrale Rolle TOKİs in den 1990ern aus, welche eine »one-stop-shop« (The World Bank 2015: 23) Lösung für günstigen Wohnraum bot. Zwischen den Jahren 1992 und 1997 war TOKİ durch ihren Vorsitzenden, Yiğit Gölüksüz, eng mit der sozialdemokratischen Bewegung verknüpft. Nach seiner Absetzung aufgrund seiner »zu sozialdemokratischen Einstellungen« (Pérouse 2015: 173) wurde die Behörde auf einen liberalen, marktwirtschaftlichen Kurs ausgerichtet. Dies manifestierte sich auch in der Auflösung des seit 1984 aktiven Fonds für Massenwohnungen im Jahr 2001. In den 2000er Jahren wurde TOKİ dann durch verschiedene Gesetze nicht nur im Bereich der gängigen Wohnungsbaupolitik, sondern auch in Hinblick auf die Restaurierung historischer Gebäude und die Vermeidung von informellen Siedlungen mit immer weiteren Befugnissen ausgestattet: »These powers include forming partnerships with private construction companies and involvement in the construction and selling of houses for profit; being able to take over state urban land at no cost with the approval of the prime ministry and the president’s office; expropriating of urban land to construct housing projects; and developing and implementing gecekondu transformation projects.« (Bartu Candan/Kolluoğlu 2008: 17) Wichtigster Mechanismus war und ist bis heute, dass TOKİ über die Bereitstellung öffentlichen Lands den Wohnungsbau an private Investor- und Immobilienfirmen überträgt. So nutzte sie nun verstärkt den Vorteil ihrer verwalteten Grundstücke, verstärkte die Zusammenarbeit im Rahmen von public-private-partnerships und wurde im Jahr 2004 letztlich direkt dem Ministerpräsidentenamt unterstellt (Pérouse 2015: 173). Mittlerweile hat die Behörde auch die Befugnis, selber Stadterneuerungszonen zu deklarieren (ebd.: 175). Durch diese weitreichenden Befugnisse und die Möglichkeit, zentrale Entscheidungen im Alleingang zu fällen, blieb der Einbezug lokaler Stakeholder bei von TOKİ realisierten Projekten weitestgehend aus. Trotzdem setzte sich TOKİ in ihrer Außendarstellung für eine soziale Gerechtigkeit in Wohnungsfragen ein:

2. Forschungsstand und Kontext

»If one were to resume what TOKI’s detractors see as the fundamental prerogatives of the Public, it would include acting as the guarantor of equality (social redistribution and proper social distribution or equilibrium), of diversity, and of the sustainability of public assets, and the possibility of transmitting them to future generations.« (Ebd.: 170) Diese vermeintliche Allgemeinnützigkeit macht sich auch in dem benutzten Vokabular bemerkbar, in dem die Wohnungsbaubehörde immer wieder herausstellt, dass sie »gemeinschaftlichen Wohnungsbau« (»collective housing«, ebd.: 175) betreibt. Besonders kritisch werden die Befugnisse der Behörde im Rahmen von großflächigen Stadterneuerungsprojekten zur Bereitstellung von neuem Wohnraum für sozial benachteiligte Gruppen betrachtet (wie auch bei Bartu Candan/Kolluoğlu 2008). So argumentieren Tuna Kuyucu und Özlem Ünsal (2010), dass es hier oftmals schlicht zu einem staatlich geleiteten Wechsel der Besitzverhältnisse kommt, ohne dass die Lebensbedingungen der Bewohnerinnen und Bewohner tatsächlich verbessert werden würden. Lovering und Türkmen (2011) prägen gar den Begriff »Bulldozer Neo-liberalism« im derartigen Umgang mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Die PR-Maschinerie von TOKİ ist jedoch repräsentativ und professionell. In Teilen zeigt sie sich als harte Hand im Kampf gegen Terror und Verslummung, fast schon kolossal setzt sie ihre hohen Wohnblöcke dagegen. In vielen weiteren Teilen zeigt sie sich aber sehr menschen- und familienfreundlich, mit bilderbuchhaften Straßenszenen aus ihren Projekten und emotional inszenierten Schlüsselübergabezeremonien8 . Pérouse schreibt dazu: »In the way it is perceived and conducts its affairs on a daily basis, TOKİ embodies the cold, rational, and modernising reason of state, plus the generous hand of the state when the social nature of its operations is being emphasised.« (Pérouse 2015: 176) In jedem Fall ist das einfache, aber einprägsame Emblem der Behörde – interessanterweise ein von mehreren Punkten umrandeter grüner Baum – aus dem Stadtbild heute nicht mehr wegzudenken und omnipräsent. Sie ist in der Regel in alle großflächig angelegten Immobilienprojekte in irgendeiner Hinsicht verwickelt. Die in diesem Exkurs dargestellten Hintergründe zu staatlicher Wohnungsbaufinanzierung und der Wohnungsbaubehörde TOKİ zeigen jedoch, dass auch dieser Zweig von Klientelismus geprägt ist und nur in den seltensten Fällen tatsächlich sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen profitieren. Insbesondere in

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Einige Eindrücke liefern dazu beispielsweise die Imagefilme der Behörde (TOKİ 2021b).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

den letzten Jahrzehnten haben von der Wohnungsbaupolitik und den Immobilienplänen hauptsächlich die neuen, in weiten Teilen recht konservativ und religiös geprägten Bevölkerungsgruppen profitiert. Im Folgenden möchte ich nun zu der bereits erwähnten wichtigsten Pfadabhängigkeit der türkischen Urbanisierung zurückkehren, die ich oben bereits erwähnte: die informelle Ansiedlung der städtischen Migrantinnen und Migranten.

2.3

Von der Informalität des Gecekondus zur geplanten Wohnanlage (Site)

Die Chicagoer Schule der Stadtforschung um ihre Gründungsväter Robert E. Park und Ernest W. Burgess beschäftigte sich in erster Linie mit den kleinen sozialen Welten, die die vielfältige amerikanische Großstadt hervorbrachte. Im Sinne ihres sozialökologischen Ansatzes untersuchten sie sogenannte »natural areas« (Park 1974 [1925]: 6f.), zu denen beispielsweise ethnisch dominierte Nachbarschaften zählten, wie die sizilianische Kolonie Chicagos, der sich Harvey Warren Zorbaugh (1983 [1929]) in der Studie »The Gold Coast and the Slum« widmet. Rolf Lindner schreibt zu solchen Dörfern in der Stadt: »Zuweilen ist es zur Transplantation von ganzen Dörfern aus der Alten Welt in die Neue Welt gekommen, die vollständig, einschließlich der lokalen Machtstrukturen, ins ›Herz der amerikanischen Großstadt‹ verpflanzt worden waren.« (Lindner 2004: 147) Zu besonderen Berühmtheiten sind auch die Studien um die italienischen Nachbarschaften im West End von Boston avanciert: die »Street Corner Society« von William Foote Whyte (1981 [1943]) und die »Urban Villagers« von Herbert J. Gans (1982 [1965]), die ganz in der Tradition der ethnografisch orientierten Chicagoer Stadtforschung standen. Die Studie von Gans ist in dem vorliegenden Zusammenhang besonders interessant. Denn zum einem argumentierte er, dass durch die Bostoner Stadterneuerung die sozialen, gemeinschaftlichen Gefüge einzelner Nachbarschaften zerstört werden. Und zum anderen prägte er vergleichsweise früh einen Begriff, der aus der heutigen internationalen Stadtforschung nicht mehr wegzudenken ist: das urbane Dorf. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit den sich rasant urbanisierenden Schwellenländern – allen voran China – spielt das Konzept des urbanen Dorfes eine große Rolle. Und obwohl die internationalen Diskurse an die Chicagoer Schule anknüpfen, so will sich die heutige interdisziplinäre Stadtforschung doch wieder von ihr lösen. Ein Charakteristikum, welches im Rahmen dieser Forschungen oftmals eine besondere Relevanz besitzt, ist das der Informalität.

2. Forschungsstand und Kontext

»Despite the origins of this preexisting discourse, the phenomenal growth of cities around the Third World in the last four decades indicates that the urban future does not lie in Chicago or L.A., and that it will not be shaped according to the schools of thought named after them. Rather, the future lies in cities like Cairo, Rio de Janeiro, Istanbul, and Bombay, and can best be investigated by looking at them. One important and common characteristic of these places is that older modes of urbanism are replaced by ›new‹ forms of urban informality that challenge the relevance of previous thinking about ›blasé‹ urbanites.« (AlSayyad 2004: 9) Dieses Zitat aus einem der konstitutiven Texte zur Studie von urbanen Informalitäten zeigt die große Bedeutung auf, die diesem Phänomen in den Sozialwissenschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts zugesprochen wurde. Ananya Roy und Nezar AlSayyad legten im Jahr 2004 mit »Urban Informality« ein zukunftsweisendes Werk vor, das vor allem die Urbanisierung in Entwicklungs- und Schwellenländern in den Blick nimmt. Sie beschreiben darin nicht nur die Entstehung der klassischen Urbanisierungsschulen, wie die der Sozialökologie der Chicagoer Schule ausgehend von Robert E. Park, sondern beschreiben auch die Entwicklung neuerer Perspektiven auf die städtischen Veränderungen im Zuge einer massenhaften Migration vom Land in die Städte. Sie stellen die urbanen Migrantinnen und Migranten nicht als gesellschaftlich Außenstehende per se dar, sondern untersuchen ihre Integration in die städtische Gesellschaft und die spezifischen Umstände, unter denen sie ihr Leben in der Stadt gestalten mussten (AlSayyad 2004: 9). Jedoch haben diese zum Teil theoretisierenden Ansätze kaum Eingang in die Auseinandersetzung mit den türkischen Phänomenen der informellen Urbanisierung gefunden. Sie sollen in diesem Zusammenhang aber nicht unerwähnt bleiben, da die entwickelten Historiographien und Typologien auch in der Auseinandersetzung mit urbaner Informalität in der Türkei hilfreich sein können. Im ersten Kapitel des Sammelwerks von Roy und AlSayyad zeichnet letztgenannter die Begriffsgeschichte nach. Mit der Beschreibung der Migrationsbewegungen der Arbeitskräfte vom Land in die Stadt in den 1950ern und 1960ern wurde laut AlSayyad in den frühen 1970er Jahren der Begriff des informellen Sektors geprägt (ebd.: 10). In der Auseinandersetzung mit dem informellen Sektor setzte sich zunächst eine dualistische Perspektive durch, die ihn getrennt zum formalen Sektor sah. Diese Perspektive wurde in der Folge auch von der International Labour Organization (ILO) eingenommen. Mittlerweile wird diese Sichtweise aber zunehmend aufgelöst und der informelle Sektor zusammen mit dem formellen Sektor als Teil einer modernen Marktwirtschaft betrachtet (ebd.: 10f.). AlSayyad stellt weiterhin insbesondere den liberalen Ansatz von Hernando De Soto heraus, welcher die informellen Ökonomien als Sicherheitsnetze und ihre Akteurinnen und Akteure als wirtschaftliche Heldinnen und Helden mit Einfallsreichtum und Geschäftssinn darstellte (ebd.: 13). Dies deckt sich größtenteils mit den Beobachtungen, die türki-

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sche Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler in Bezug auf informelle Bereiche gemacht haben und die heute von der Weltbank lobend herausgestellt werden (The World Bank 2015). Die Beiträge im Band von Roy und AlSayyad zeigen weitere Gemeinsamkeiten auf, die auch auf die Türkei zutreffen, wenn sie zum Beispiel die Kommerzialisierung des ehemals staatlichen Bodens und den Einfluss auf informelle Siedlungen in Pakistan darstellen oder auf die Auseinandersetzung mit informellen Siedlungen in den Favelas von Rio de Janeiro eingehen, die als »cancerous sores on the beautiful body of the city« (AlSayyad 2004: 18f.) bezeichnet werden. Besonders populär setzte sich in den letzten Jahren auch der Journalist Doug Saunders in seinem Buch »Arrival City« (2011) mit diesem Thema auseinander. Hierin beschreibt er, wie urbane Migrantinnen und Migranten in informellen Ankunftsstädten neue Lebenschancen, sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg, die Chance auf Land- und Immobilienbesitz und somit eine gesicherte Zukunft in der Stadt finden können. Als besonderes Positivbeispiel beschreibt er den Aufstieg der Bewohnerinnen und Bewohner des Istanbuler 1.-Mai-Viertel in die kleinbürgerliche Mittelschicht (Saunders 2011)9 . Auch seinem Verständnis liegt eine stark liberal geprägte Perspektive zugrunde, welche im türkischen Kontext eher selten zum Tragen kommt. Der anfängliche Selbsthilfe- oder gar Selbstbedienungscharakter ist in dem Sammelwerk »Self Service City: İstanbul« zentral, das von Esen und Lanz (2007) herausgegeben wurde. Hier wird in verschiedenen Beiträgen die selfservice-Urbanisierung durch viele kleine Akteurinnen und Akteure beschrieben – bei der es nicht nur, aber vor allem um urbane Informalitäten geht: »Seit 1945/50 entstand ein Urbanisierungsmodell mit außerordentlich vielen, vor allem kleinen Akteuren auf dem Boden Istanbuls. Deren relativ früh legitimierte Integration in den Prozess der Stadtproduktion schuf innerhalb weniger Jahrzehnte so etwas wie eine ›Urbanisierung mit Gewinnbeteiligung‹ für vergleichsweise viele, insbesondere für die Frühankömmlinge.« (Esen 2007: 36) Die Gecekondus wurden oftmals auf Land, das in der öffentlichen Hand lag, gebaut. Davon gab es relativ viel, was dem osmanischen Erbe der jungen Republik zuzuschreiben war. Im osmanischen Reich wurde jegliches Land, das nicht anderweitig in Anspruch genommen wurde, als Besitz des Staates angesehen (Keyder 2005: 126). Die Legitimität, die die Siedlerinnen und Siedler in ihrem Handeln sahen, lässt sich laut Esen auch hieraus ableiten: »Wer über Nacht vier Pfosten und ein Dach darüber errichten kann, so hieß es, habe auch das Recht es zu behalten. In diesem Mythos ist ein Relikt sultanischen Rechts im bäuerlichen Bewusstsein zu erkennen, ein Relikt,[sic!] aus den Zeiten, in

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Siehe hierzu auch Aslan 2004.

2. Forschungsstand und Kontext

denen alles Land Staats-, also Sultanseigentum war und Individuen lediglich ein erbbares Nutzungsrecht gegen Arbeitsleistungen und Steuern zustand. In diesem Kontext war es nur verständlich, dass der Bauer sich neben dem ihm zur Verfügung stehendem [sic!] Feld auch ein Haus errichten durfte.« (Esen 2007: 37) Laut Pérouse ist der Begriff Gecekondu öffentlich das erste Mal im Jahr 1947 zunächst in der Presse und dann auch bei der großen Nationalversammlung aufgetaucht. Ein Abgeordneter zeigte sich anhand der Gecekondu-Situation Ankaras besorgt (Pérouse 2004: 8). Im Jahr 1948 wurden daraufhin die ersten Gesetze zum Umgang mit den Siedlungen erlassen. An erster Stelle stand das Gesetz Nr. 5218, das die Amnestie für einige Siedlungen in Ankara erließ (ebd.: 9). Das erste Gesetz, das den Begriff Gecekondu allerdings selbst im Titel trug und das auch wesentlich öfters zitiert wird, wurde 1966 erlassen10 . Bis in die 1970er Jahre hinein hatten alle Parteien ein Interesse an der liberalen Umgangsweise mit den informellen Siedlungen. So konnten sich auch Mechanismen entfalten, die der Entwicklung einen mehr oder weniger organisierten Charakter verliehen. Früh bildeten sich beispielsweise wichtige informelle Netzwerke aus, die die Einnahme von Land und das Bauen von Wohnungen und Häusern regelten (Keyder 2005: 125). In den 1970er Jahren kam es sogar zu einem florierenden Handel mit möglichen Gecekondu-Parzellen, getrieben von Spekulierenden sowie Maklerinnen und Maklern. Ein großer informeller Markt entstand, der seinen eigenen Regeln folgte (Erman 2012: 297). So entstanden ebenfalls mafiöse Strukturen in den Gebieten, die zum Teil sogar mit öffentlichen Behörden in Verhandlungen traten, um die Interessen der Gemeinschaft zu vertreten. Generell wurden zunächst die innerstädtischen Flächen und solche in der Nähe von Industrie- und Arbeitsplätzen besetzt. Als diese für die Anzahl der Migrierenden zu knapp wurden, wurden auch peripherere Flächen in Gebrauch genommen. Bei der Etablierung solcher Siedlungen, und dies war größtenteils der Kettenmigration geschuldet, war die Herkunft der Migrantinnen und Migranten von großer Bedeutung: Man ließ sich dort nieder, wo man sich kannte. Dies wiederum stellte nicht nur lebensnotwendiges soziales Kapital bereit, sondern begünstigte auch das Entstehen von klientelistischen Netzwerken, die wiederum Zukunftsperspektiven für die Siedlungen eröffneten. Sobald ein Mindestmaß an Infrastruktur vorhanden war, wurden die Siedlerinnen und Siedler zu Investitionen und Um- beziehungsweise Anbauten ihrer Häuser motiviert (Keyder 2005: 126). Und sobald ein Haus erstmal bewohnt war, war die Gefahr eines Abrisses seitens öffentlicher Stellen sehr gering. Darüber hinaus setzten die Bewohnerinnen und Bewohner auf praktische Überlebensstrategien und auch auf Symbolpolitik: Sie hissten auf ihren Dächern

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Für eine Übersicht über entsprechende Gesetze siehe Şenol Balaban (2019: 243).

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türkische Flaggen, um ihre Angehörigkeit zur türkischen Nation zu demonstrieren oder tauften ihre Siedlungen nach Schutzpatronen aus der Politik (Esen 2007: 39). Sie versuchten, ihre ländliche Herkunft zum Teil abzulegen, um sich einem modernen, städtischen Lebensstil anzupassen (Erman 1998). Es gab auch den Versuch, staatlich reglementierte Lösungen für den Graubereich der Gecekondus zu finden. So sah das im Jahr 1966 erlassene Gecekondu-Gesetz eine dreigeteilte Lösung vor: Gecekondus in schlechtem Zustand und auf ungeeignetem Land sollten abgerissen werden, solche in gutem Zustand sollten verbessert und neue Gecekondus sollten verboten werden. Während jedoch die zweite Maßnahme weitgehend umgesetzt wurde, wurden die anderen beiden vernachlässigt (Erman 2012: 296). Informelle Siedlungen wurden somit zu einer immer weiter verbreiteten Lebensrealität. Der Anteil der urbanen Gecekondu-Bevölkerung stieg kontinuierlich von 4,7 Prozent im Jahr 1955 über 16,4 Prozent im Jahr 1960, 23,6 Prozent im Jahr 1970 und 26,1 Prozent im Jahr 1980 auf 35 Prozent im Jahr 1990 (Keleş 2008, zitiert nach Erman 2012: 296). Die frühen Migrierten der Gecekondu-Siedlungen gehörten zu den besonderen Gewinnerinnen und Gewinnern dieser Entwicklung. Dadurch, dass sie die vorteilhafteren Lagen besetzen konnten und von nachlässigeren Politiken profitierten, stiegen ihre Möglichkeiten, Profit aus ihren besetzten Ländereien zu ziehen, während die Stadt sich weiter ausbreitete. Früheren Migrantinnen und Migranten kamen dabei höhere Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie zu. Sie hatten besseren Zugang zu Wohnraum und etablierte Netzwerke (Keyder 2005: 126). Eine detaillierte Beschreibung dieser Mechanismen liefert Sema Erder (2001) in einer Studie über Ümraniye, die mittlerweile zu den Klassikern zählt. In gewisser Weise waren die urbanen Migrantinnen und Migranten der ersten Generationen sogar gegenüber den etablierten Eliten im Vorteil. Tekeli schreibt treffend dazu: »Let’s say in the 1965’s [sic!], a middle class man from the modern section could buy a flat, that flat is still a flat. If he had built a squatter house in Yıldız (Ankara) back then, however, he could have had 6 flats now. So the question may seriously be raised: Who took advantage of the opportunities of the city better?« (Tekeli 2014: 13) Der Ausbau und selbst die Vermietung der Immobilien sowie die vorhandenen sozialen Netzwerke bedeuteten für die Siedlerinnen und Siedler lebensnotwendige Sicherheiten, die ihnen der Staat nicht geben konnte. Die implizite Erlaubnis, Land zu besetzen und zu bebauen, wurde somit zur effektivsten Maßnahme während dieser Zeit. Diejenigen, die nicht mehr rechtzeitig gekommen waren, also gerade die Angehörigen der Migrationswellen der 1980ern und 1990ern, mussten sich mit dem zufrieden geben, was noch nicht besetzt war. Unter Umständen wurden sie in der Folge ausgegrenzt, besitz- oder sogar wohnungslos (Keyder 2005: 131).

2. Forschungsstand und Kontext

Die Gecekondus früherer Migrierter entwickelten sich infrastrukturell und baulich oftmals so weit, dass sie heute von formalen Wohngegenden kaum noch zu unterscheiden sind. Durch die schrittweise Legalisierung vieler Siedlungen, die oftmals mit öffentlichkeitswirksamen, feierlichen Zeremonien zur Aushändigung von Urkunden begleitet wurden (Esen 2007: 39), wurden Investitionen und Baumaßnahmen angeregt. Dies bedeutete aber auch, dass der dörfliche Charakter der Gecekondus mit ihren Selbstversorger-Gärten und dergleichen verloren ging. Durch die stetig vorhandene Nachfrage nach Wohnraum kam es zu einer rigorosen Nachverdichtung: »The lifecycle of a squatter neighborhood was such that after a few elections it could become an area of multiple-storey apartment buildings.« (Keyder 2005: 126) Esen bezeichnet diese Viertel als Post-Gecekondus (Esen 2009: 49). Doch anhand ihrer baulichen Realität lässt sich auch heute noch einwandfrei nachverfolgen, wie die Siedlerinnen und Siedler zum Wohlstand kamen. Der Begriff Gecekondu in seiner heutigen Nutzung ist sehr vielfältig. Deshalb plädiert Pérouse auch für eine differenziertere Betrachtung. Er beobachtet einen zunehmenden Wandel des Begriffs, der seine grundlegende, juristische Bedeutung verwässert. Laut Pérouse existieren noch mindestens zwei weitere Definitionen des Gecekondus: Zum einen kann der Begriff einen Architekturstil bezeichnen, der zwar in Kontrast zur modernen Großstadt steht, aber durch seinen »charme rétro« (Pérouse 2004: 17) eine gewisse Romantisierung erfährt, zum anderen kann er eine vielfältige Metapher für das Irreguläre11 , Illegale oder sogar das Stigmatisierte bezeichnen – was ich im nächsten Unterkapitel noch weiter ausführen werde. In Bezug auf die Entwicklung der Siedlungsstrukturen Istanbuls ist auch das von den beiden Geographen Ilhan Tekeli (1994; 2014) und Murat Güvenç (2010) entworfene Phasenmodell der Wohnungsversorgung interessant. Ihr historischer und sozialräumlicher Ansatz führt die drastische Veränderung der Stadt seit den 1950er Jahren vor Augen, die zu einer »formation of a city entirely different from the former« (Tekeli 2014) geführt hat. Nachdem die informellen Siedlungen ab den 1950er Jahren Einzug gehalten haben, ermöglicht ein neues Gesetz aus dem Jahr 1965 den Besitz von Apartmentwohnungen. Die einzelnen Häuser der Siedlerinnen und Siedler werden also entweder durch die Zusammenarbeit mit Kooperativen oder dem sogenannten »Yap-sat«-Modell (Bauen-Verkaufen) in Zusammenarbeit mit kleineren Baufirmen durch Apartmenthäuser ersetzt. Nach der Einigung darüber, wie viele der neu entstehenden Apartments an die alten Eigentümerinnen und Eigentümer gehen, bekamen die Firmen die Baugenehmigung. Die restlichen Apartments wurden zugunsten der Baufirmen im Prozess des Baus verkauft. 11

So entsteht im Zuge der mehr oder weniger illegalen Apartmentisierung der Stadt eben auch die begriffliche Neuschöpfung des »apartkondu« (Pérouse 2004: 28).

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Hier fand die erste Erneuerung der Siedlungsstruktur statt – von einzelnen, freistehenden Häusern mit umgebendem Land zu mehrstöckigen Apartmenthäusern. Es war die Transformation der kleinen Unternehmerinnen und Unternehmer. Die Stadt wuchs sukzessive, Haus um Haus, entlang der immer weniger ausreichenden Infrastruktur. In den 1980er Jahren startete dann das Zeitalter des genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Die Stadt wuchs nun nicht mehr kleinteilig, wie ein »Ölfleck« (ebd.: 8), sondern blockweise. Die großen Flächen, die hierfür benötigt wurden, speisten sich aus den Yap-sat-Gemeinschaften sowie allem voran aus den Gecekondu-Siedlungen. Eine der wichtigsten Entwicklungen für Istanbul: Die Stadt hat sich von einem hegemonialen Zentrum verabschiedet und eine Struktur mit multiplen Zentren entwickelt (ebd.: 12). Es entwickelten sich neue Geschäftszentren, großflächiger Einzelhandel im Rahmen von Shoppingmalls bis hin zu Sites und Großsiedlungen. Laut Tekeli zeigen diese Entwicklungen, dass die Stadt ein selbstorganisierendes System ist (ebd.: 13). Die Geschichte der Apartmentwohnung in Istanbul reicht weiter zurück als hier beschrieben. Ayşe Derin Öncel (2010) zeichnet die Entwicklung der Apartmentwohnung in Galata seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in ihrer Monographie »Apartman – Galata’da Yeni Bir Konut Tipi« nach. Diese frühen Apartmentwohnungen verfügten in der Regel noch über gemeinsame Sanitär- und Versorgungseinrichtungen. Weitere großbürgerliche Apartmenthäuser nach europäischem Vorbild entstanden etwas später im heutigen Beyoğlu – damals Pera (»jenseits« der historischen Halbinsel). Traditionell waren diese Viertel von den nicht-muslimischen Handelseliten bewohnt (Misselwitz/Strutz 2012: 244). Nach den 1950er Jahren und dem zunehmenden Verfall der Altstadtteile kam es zu einem Zuzug der türkischen Eliten von der historischen Halbinsel nach Pera (Esen 2007: 34). Esen sieht hier bereits die charakteristische Nord-Süd-Dichotomie entstehen, die später die Stadt sozialstrukturell lange Zeit prägte (ebd.). Die historische Halbinsel und auch Beyoğlu blieben nicht von diversen infraund siedlungsstrukturellen Stadterneuerungsentwicklungen verschont. Doch heute dominieren hier oftmals Gentrifizierungsprozesse, die sich der Nostalgie der Viertel bedienen. Es gibt unter anderem Studien zu Tophane (Kadıoğlu Polat 2016), Cihangir (Ünlü Yücesoy 2008; Yetiskul/Demirel 2018) und Fener/Balat (Gur 2015) – auch wenn sich Gentrifizierungsprozesse nicht nur auf Stadtteile der europäischen Seite beschränken. Besondere Fälle, die auch international für großes Aufsehen sorgten, waren die Stadterneuerungsprojekte in den Vierteln Tarlabaşı und Sulukule (siehe u.a. Islam 2010; Aksoy/Robins 2011; Uysal 2012). Die gegenwärtige Form der Wohnungsversorgung – in erster Linie mit Apartmentwohnungen – zeigt, dass mittlerweile mit der pragmatischen Selbstbedienungslogik gebrochen wurde. Keyder sieht die in den 1990er Jahren thematisierte informelle Urbanisierung heute als »grounded on solid institutional foundation« (Keyder 2010: 27f.). Heute scheint ein Wunsch nach Planbarkeit, Vorhersehbarkeit

2. Forschungsstand und Kontext

Abbildung 1 – Altstadt und altes Zentrum Istanbul

Karte: © OpenStreetMap, eigene Bearbeitung

und Sicherheit ausschlaggebend für die Wohnungsproduktion zu sein. Jedoch kann dieses Kapitel keine Vollständigkeit beanspruchen, solange es nicht den Aufstieg der Lebensform Site betrachtet. Der Begriff Site bezeichnet im türkischen Kontext eine geschlossene Wohnanlage oder ein geschlossenes Gewerbegelände. Oftmals wird er auch synonym zum Begriff Gated Community (Blakely/Snyder 1997) verwendet, in Anlehnung an eine Diskussion über die neue Attraktivität des Lebens in einer umzäunten, gesicherten Enklave und der Entstehung neuer sozialräumlicher Segregationsprozesse (siehe hierzu auch den Band von Harlander/Kuhn 2012). Viele Sites in der Türkei entsprechen den Mindestanforderungen an eine Gated Community: Sie sind Wohnanlagen, die von Mauern oder Zäunen umgeben und nur durch ein bewachtes Tor zugänglich sind. In der Regel sind sie auch mit Sicherheitstechniken wie Eingangskontrollen, Überwachungskameras und Alarmsystemen ausgestattet. Die erste Site in Istanbul, Ataköy, damals noch zehn Kilometer außerhalb der Stadt auf der europäischen Seite gelegen und für die säkulare Elite konzipiert, ging 1955 in Planung und sollte 60 000 Menschen beherbergen (Misselwitz/Strutz 2012: 245). Das Projekt wurde nie in der geplanten Gesamtheit fertig gestellt und heute verbindet sich ein ambivalentes Verhältnis mit dem Stadtteil: »In den 1950er Jahren als neue Kemalistische [sic!] Stadt geplant, die alle Bedürfnisse des Bürgers erfüllen sollte, entwickelte sich Ataköy zunehmend zu einer monofunktionalen Wohnsiedlung mit monotonen und abgeschotteten Wohnsi-

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los. Bis heute gilt Ataköy allerdings dennoch als prestigeträchtiges und modernes Wohnumfeld.« (Ebd.: 246) Das liegt vermutlich an der geordneten Struktur des Stadtteils, der guten infrastrukturellen Anbindung, der Nähe zum Meer sowie dem großen Anteil an Grünflächen, der im Vergleich zu den benachbarten Stadtteilen heraussticht. Denn mittlerweile hat sich das Angebot an Sites stark ausdifferenziert: von einigen hundert bis einigen tausend Wohnungen, von freistehenden Villen bis wolkenkratzenden Wohntürmen, von spärlicher bis hin zur luxuriösesten Ausstattung mit Restaurants, Fitness- und Golfclubs, Supermärkten und Cafés. Sie befinden sich im innerstädtischen Bereich, in der unbegehrten oder auch in der begehrten Peripherie (Esen/Rieniets 2008). Dabei gehört ein geeignetes Marketing zu den meisten Wohnanlagen dazu (Serin 2016). Das wird dann zielgruppengerecht auf geeignete Themen (»Mahalle12 «/»Nachbarschaft«, »Köy13 «/»Dorf«), auf die Replikation besonderer, lokaler Architektur (»Bosphorus City14 «) oder internationaler Vorbilder (»Mashattan15 «) zugeschnitten und verkauft damit ein Lebensgefühl. Es gibt sie im heutigen Istanbul »für jede Präferenz und […] auch für unterschiedlichste Einkommensgruppen« (Misselwitz/Strutz 2012: 244). Inwiefern diese Produktion jedoch tatsächlich von der Nachfrage gesteuert wird oder reines Investment ist, ist schwierig zu beurteilen. In jedem Fall nimmt die Nachfrage nach dem Lebensmodell Site zu – insbesondere bei den sozial Aufgestiegenen der letzten Dekaden. Privatsphäre, Sicherheit und Gesundheit sind dabei einige der wichtigsten Faktoren für die Attraktivität. Gleichzeitig trägt die zunehmende Etablierung von großflächigen, geplanten Wohnanlagen auch zu einer weiteren sozialräumlichen Segregation bei. Bartu Candan und Kolluoğlu führen dies in ihrer viel rezipierten Studie »Emerging Spaces of Neoliberalism: A Gated Town and a Public Housing Project in Istanbul« von 2008 aus. Anhand von zwei exemplarischen Fallbeispielen – der Gated Town Göktürk und der Großsiedlung Bezirganbahçe – zeigen sie, wie nicht nur neue, segregierte Orte des Neoliberalismus in der Stadt entstehen, sondern auch, wie es in

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Die Wohnanlage »Mahalle İstanbul« in Sancaktepe wirbt mit Gemeinschaftlichkeit und Familienfreundlichkeit für ein modernes, nachbarschaftliches Zusammenleben (vgl. Mahalle İstanbul Yönetim Kurulu 2013). In der Site »Köy« in Zekeriyaköy weit im Norden der Stadt soll ein naturnahes, gesundes und gleichzeitig urbanes Leben ermöglicht werden – die Vorzüge des Lands und der Stadt sollen miteinander kombiniert werden (vgl. Köy Sitesi 2016). Die »Bosphorus City« ist eine luxuriöse Site in Küçükçekmece, die an einem künstlich angelegten Kanal gebaut ist und in deren Herz Miniatur-Nachbauten von bekannten Bauwerken entlang des Bosporusses das Wasser säumen. Die Wolkenkratzer-Wohntürme der Site »Mashattan« im Business-District Maslak sollen an das Manhattan New Yorks erinnern.

2. Forschungsstand und Kontext

beiden Fällen zu freiwilliger (Göktürk) und unfreiwilliger (Bezirganbahçe) Isolation der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen kommt (Bartu Candan/Kolluoğlu 2008). Auch die verschiedenen Formen der Kontrolle und Organisation werden hier beschrieben. So kommt es im Fall der Gated Communities insbesondere zu einer Überrepräsentanz von privaten Sicherheits- und Dienstleistungsfirmen, während in den öffentlichen Wohnungsprojekten eine starke Kontrolle und Reglementierung zur Nutzung des Raums seitens der Stadtverwaltung vorherrscht (ebd.: 11). Die beiden Autorinnen gehen sogar so weit, Bezirganbahçe als »urban captivity, characterized by the emergence of new forms of poverty, social exclusion, immobility in space, and ethnic tension« (ebd.: 22) zu beschreiben. Diese neue Form der Ausgrenzung und Benachteiligung, so die Autorinnen, ist insbesondere als neue Herausforderung für umgesiedelte, formale Bewohnerinnen und Bewohner der Großsiedlungen zu betrachten, die zuvor in Gecekondus angesiedelt waren. Informelle Mechanismen zur sozialen Sicherung, wie das Anschreibenlassen (veresiye) und andere Formen der Reziprozität, fallen weg, genauso wie die Versorgung mit eigens angebautem Obst und Gemüse, da die Nutzung der neuen Grünflächen dies nicht mehr erlaubt (ebd.: 23). Ich möchte diesen Abschnitt mit dem Hinweis abschließen, dass auch im urbanen Kontext der Türkei nicht mehr von einem abgeschlossenen, informellen Sektor – sei es des Wohnens oder Arbeitens – gesprochen werden kann. Insofern deckt sich diese Entwicklung mit den Ausführungen von Roy und AlSayyad. Ich habe mich hier insbesondere auf die Mechanismen, die sich durch die informelle Ansiedlung der meisten Zugezogenen entfaltet haben, konzentriert. Dabei wurde deutlich: die informelle Siedlung war nur erfolgreich, indem sie formelle Anerkennung bekommen hat – sei es durch Patronage, Klientelismus oder reine nachbarschaftliche Solidaritätsnetzwerke. Die Produktion der Siedlungsstruktur ist also nicht nur durch die beschriebene Mischung aus Informalität und Marktwirtschaft beeinflusst, sondern ebenso durch lokale, gesellschaftliche und kulturelle Aushandlungsprozesse. Diese möchte ich im Folgenden näher darstellen.

2.4

Kulturelle Hierarchisierungen und gesellschaftliche Pluralität

Das kulturelle Erbe Istanbuls und die Vielfältigkeit seiner Bewohnerinnen und Bewohner in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bieten genügend Material, um ganze Bände damit zu füllen. Der Blick auf eine rund 2600 Jahre alte Geschichte mit wechselnder Zugehörigkeit zu verschiedenen, miteinander konkurrierenden Großreichen und der immer wiederkehrenden Umwälzung ihrer Bewohnerschaft macht es schier unmöglich, die Frage nach den Gesellschaftskulturen der Stadt allumfassend zu beantworten. Teilweise bedienen sich heutige Bevölkerungsteile mehr oder weniger symbolisch der kulturellen Vergangenheit der Stadt – wie sä-

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kulare Mittelschichtsangehörige, die den traditionellen Kosmopolitismus im Sinne der vielen unterschiedlichen residierenden Ethnien und Kulturen der Stadt betonen, oder religiös-konservative Aufsteigerinnen und Aufsteiger, die sich gerne an die Stärke und Macht des osmanischen Reiches erinnern. Das bedeutet, dass Rückbezüge auf das kulturelle Erbe der Stadt durchaus einen wichtigen Faktor in dieser Untersuchung darstellen. Sie werden in diesem Sinne aber als ein modernes Phänomen im untersuchten Kontext behandelt. So geht es mir nicht darum, die Geschichte der Stadt in ihrer Faktizität abzubilden, soweit das überhaupt möglich ist, sondern zu untersuchen, inwiefern diese kulturellen Rückbezüge im Alltag überhaupt eine Rolle spielen – wie beispielsweise im Sinne eines kommunikativen Gedächtnisses (Assmann 1988: 10). Die heutige Istanbuler Bevölkerung setzt sich hauptsächlich aus internen Migrantinnen und Migranten unterschiedlicher Generationen zusammen. Deshalb sind auch anderweitige kulturelle Rückbezüge, Traditionen, Werte und Normen, die unabhängig von der Geschichte der Stadt bestehen, von großer Bedeutung für ihre Bewohnerschaft. Öncü schreibt zu dieser Pluralität: »A plurality of social groups and cultures coexist in Istanbul, often separated from one another as the hard-edged pieces of a mosaic. It is a city of immigrants, with three-quarters of its population born elsewhere. In this sense, the question of who is an Istanbulite is a rhetorical question. A true Istanbulite is a ›myth.‹« (Öncü 1999: 95). Dabei wurden kulturelle Unterschiede nach der großen Bevölkerungszunahme seit den 1950er Jahren zunächst sehr sozial-stratifikatorisch diskutiert und kulturelle Hierarchien, wie sie sich im Alltag darstellten, beschrieben. In neuerer Zeit wurden differenziertere Ansätze erarbeitet, die auf die veränderten gesellschaftlichen Realitäten eingehen, die nur sehr schwerlich die Einteilung in ein stratifikatorisches Schema zulassen. Zusätzlich ist die Komponente des Raumes hinzugetreten, da immer deutlicher wird, dass Gesellschaftsstrukturen und Raumstrukturen sich bedingen. Auch wenn die Arbeiten Martina Löws im türkischen Kontext bisher nicht rezipiert werden, fassen sie dieses Phänomen doch gut zusammen: Löw argumentiert, dass das Räumliche nicht gegen das Gesellschaftliche abgegrenzt werden kann, sondern dass das Räumliche eine spezifische Form des Gesellschaftlichen ist: »Räumliche Strukturen sind, wie zeitliche Strukturen auch, Formen gesellschaftlicher Strukturen« (Löw 2001: 167, Herv. i.O.). Die wohl bekannteste alltagskulturelle Unterscheidung, insbesondere der urbanen türkischen Gesellschaft, ist die zwischen schwarzen Türken und weißen Türken. Die beachtliche Vereinfachung der Unterteilung in dieses binäre Schema ist frappierend, hat sich aber über einen langen Zeitraum etabliert und wird heute noch im informellen und politischen Kontext genutzt. Auch wenn sich die rassistische Vorstellung des Weißseins laut Ergin (2008) bis in die frühe türkische Republik

2. Forschungsstand und Kontext

zurückverfolgen lässt, entstanden die Populärbegriffe schwarzer beziehungsweise weißer Türke erst in den 1980er (Ergin 2008) beziehungsweise 1990er (Ramm 2016) Jahren im Rahmen der Distinktionsbemühungen von urbanen, säkularen Eliten des Landes, die sich von den ländlichen Lebensweisen abzugrenzen suchten, die in die Stadt Einzug gehalten hatten. »The term ›white Turks‹, usually to be contrasted with ›dark‹ or ›black Turks‹, corresponds to categories of civilizational superiority and inferiority as well as their attendant physical manifestations, reveals the immersion of chromatism in concrete issues of daily life. The language of chromatic distinctions range from a fear of ›invasion‹ of urban centres by uncultured masses to markers of otherness, such as moustache, body odour, and dark complexion.« (Ergin 2008: 844) Die weißen Türken setzten sich in der Regel aus den gebildeten, elitären Kreisen des Militärs, der Medien, der Verwaltung und des Bürgertums zusammen. Sie waren in der Regel Istanbullu, also mindestens Istanbulerinnen oder Istanbuler der zweiten oder dritten Generation, und prägten mit ihrer westlichen, kosmopolitischen Ausrichtung die Vorstellung eines zivilisierten Lebensstils (Demiralp 2012: 514). Die schwarzen Türken hingegen entstammten typischerweise den anatolischen Provinzen und erhielten oftmals als informelle Siedlerinnen und Siedler Einzug in die Stadt. Sie hatten, bis zu ihrem Aufstieg in den 1990er Jahren, einen eher niedrigen sozio-ökonomischen Status und waren geprägt von traditionellen, religiösen Werten und Normen (ebd.: 515). Heute werden die beiden Begriffe hauptsächlich nur noch informell genutzt oder von den neuen Eliten des Landes instrumentalisiert, um die diskriminierenden Mechanismen der alten weißen Eliten offenzulegen und sich von ihnen zu emanzipieren. So gehört Recep Tayyip Erdoğan mit zu den häufigsten Nutzern dieser Konzepte, wenn er sich selbst als »siyah/zenci Türk«16 bezeichnet, um seinen Machtanspruch – sowie den seiner Partei – zu behaupten und die Notwendigkeit zu betonen, sich von der Vorherrschaft und Arroganz der »beyaz Türkler«17 frei zu machen (Ramm 2016: 1356). Mit anderen Worten, das »othering« (Demiralp 2012) wird mittlerweile nicht mehr ausschließlich von den alten, weißen, säkularen Eliten betrieben, sondern auch von den ehemaligen untergeordneten sozialen Gruppen der schwarzen Türken selbst. Für Christoph Ramm ist der Begriff der Zivilisation zentral in der Debatte um weiße und schwarze Türken. Er beobachtet einen fortwährenden Prozess verschiedener türkischer Eliten, die türkische Gesellschaft zu zivilisieren. Ging es mit der Bezeichnung der weißen Türken zunächst um eine exklusive Klassenidentität einer

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schwarzer Türke/Negertürke weiße Türken

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alten, etablierten urbanen Elite, kam es nach der politischen Ablösung dieser alten Eliten aus (vermeintlichen) schwarz-türkischen Kreisen trotzdem zu einer Fortführung des Zivilisationsprogramms (Ramm 2016: 1377ff.). Ramm beschreibt nicht nur die Zivilisationsmissionen der Eliten des osmanischen Reiches, der Kemalisten und im Mehrparteiensystem, sondern auch die der AKP. Er attestiert allen Zivilisationsbemühungen dabei die gleiche Dynamik: Die herrschenden Eliten gründen ihren fragilen Status auf der Abgrenzung ihrer Ideale zur Rückständigkeit anderer Bevölkerungsteile. Damit tragen sie zu einer Spaltung in der Bevölkerung, zu Widerstand und Ablehnung bei statt zu einem inklusiven Modernisierungsprojekt. Angesichts dieser ablehnenden Haltung des Widerstands fanden sich die Eliten wiederum bestärkt in ihrer Mission, Zivilisation um jeden Preis voranzutreiben, was in vielen Fällen von Unterdrückung und Gewalt begleitet wurde. Diese Dynamik gelte auch für das Regierungsprogramm der AKP, wie Ramm ausführt: »The civilization concept of the Justice and Development Party shows this dynamic in an exemplary way. Once themselves being excluded as ›black Turks‹ from social participation, the party leaders legitimized their claim on the state resources (and on Turkey’s regional sphere of influence) with a rhetoric of modernization and democratization that was couched in the Kemalist civilization ideal. When the aspiration for EU membership began to flag and the ›Islamic Kemalism‹ of the AKP government met with growing criticism and resistance, its civilizing mission started to show the same aggressive features as the mission of its predecessors, targeting the ›looters‹ and ›bandits‹ who dared to protest against the party’s vision of a modern, civilized Turkey.« (Ramm 2016: 1382) Deutungskämpfe um den richtigen Prozess der Zivilisierung werden aber nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene ausgetragen. Besonders deutlich wird das anhand der Gecekondu-Transformationsprozesse, die insbesondere in den 2010er Jahren eine große aktivistische wie akademische Aufmerksamkeit fanden. Im Fokus stehen noch die letzten Gecekondu-Viertel sowie – und hier bedingt sich beides in der Regel – marginalisierte Gruppen der Gesellschaft, die an das Leben im Apartmenthaus herangeführt werden sollen. Cihan Uzunçarşılı Baysal führt dies anhand der kurdischen Bewohnerschaft eines TOKİWohnprojektes in Istanbul (Bezirganbahçe) aus. Die Bewohnerinnen und Bewohner wurden aus ihrem ehemaligen Gecekondu in die Apartmentwohnanlage umgesiedelt, nachdem ihre ehemalige Nachbarschaft (Ayazma) Teil eines Stadterneuerungsprojektes wurde. Neben den bereits erwähnten sozialräumlichen Veränderungen, die das Sozialgefüge der Nachbarschaft durcheinanderbringen und das solidarische Kollektiv in den Zellen des Apartmenthauses quasi unmöglich machen, und neben den häufigen ökonomischen Verschlechterungen für die Bewohnerinnen und Bewohnern durch steigende Kosten, die mit den Apartmentwohnungen einhergehen, sehen sie sich zusätzlich mit einer direkten Abwertung ihrer tradier-

2. Forschungsstand und Kontext

ten Lebensweise konfrontiert (Uzunçarşılı Baysal 2013: 89). So ist es in der neuen Wohnanlage nicht mehr erlaubt, auf dem Rasen zu sitzen und Tee zu trinken, der Jugend ist es verboten, draußen zu tanzen, die Teppiche sollen nicht mehr im Freien gewaschen und sichtbar auf dem Balkon zum Trocknen aufgehängt werden, um nur einige der Beispiele zu nennen (ebd.: 90). Das soziale Leben soll letzten Endes möglichst auf die Apartmentwohnung beschränkt bleiben. Diese Umerziehungsmaßnahmen sind dabei keineswegs implizit, sondern Teil einer von der örtlichen Verwaltung öffentlich verfolgten Kampagne, die den neuen Apartmentbewohnerinnen und -bewohnern das richtige Leben in einer Apartmentwohnung beibringen soll (ebd.: 91). Auf einer eher impliziten Basis stellt sich dagegen der Zivilisationskampf in der modernen Stadt als Begegnungsort verschiedener kultureller Eigenheiten und Lebensstile dar. Erman beschreibt die »kulturellen Hierarchien« (Erman 2012: 299) in Bezug auf die städtischen Lebensstile als umkämpfte soziokulturelle Konstruktionen, die insbesondere von etablierten Stadtbewohnerinnen und -bewohnern im Gegensatz zu der erst kürzlich vom Land migrierten Bewohnerschaft geprägt werden. Erman arbeitet die besondere Rolle der Stadt im Modernisierungsprojekt der Türkei seit den 1950er Jahren heraus. Die Stadt und ihre modernen Eliten sollten als Sozialisationsinstanzen für die Bevölkerung dienen, mit Ankara als der Krippe der Modernisierung (ebd.). Mit dem vermehrten Zuzug der Landbevölkerung in die Städte fand eine alsbaldige Abwertung der importierten Lebensstile statt. Die Ausbreitung von Gecekondu-Siedlungen missfiel den wahren Städterinnen und Städtern und kompromittierte die Idealvorstellung der geplanten Städte als Leuchtfeuer der Moderne. Die vielfältigen Verstöße gegen die Regeln einer vermeintlich modernen Gesellschaft, wie beispielsweise gegen die Institution des Privatbesitzes durch illegales Besiedeln, und die traditionelle, konservative Lebensweise der urbanen Migrantinnen und Migranten veranlassten die restliche Stadtbevölkerung, sie als Bäuerinnen und Bauern der Stadt zu diskreditieren, denen es nicht möglich sei, einen modernen Lebensstil zu übernehmen (ebd.: 299). Erman beschreibt diese abwertende Sicht auf die Gecekondu-Bevölkerung vor allem für die ersten Jahre nach dem großen Zuzug. Zum Teil wurde sie in den 1960er und 1970er Jahren unter Einfluss marxistischen Gedankenguts revidiert und Gecekondu-Bewohnerinnen und Bewohner wurden als demütige, unschuldige, vom System ausgenutzte Personengruppe wahrgenommen (ebd.: 300). Trotzdem blieb das Bild der zurückgebliebenen Bauernschaft in der Stadt vorherrschend. Gleichzeitig wurde dieses Bild den Menschen in dem Sinne gerecht, als dass sie tatsächlich eigene Werte und Praktiken beibehielten, insbesondere in Kultur- und Essgewohnheiten. Sie machten sich die gebotenen Möglichkeiten des städtischen Lebens und seinen Markt nutzbar und erarbeiteten sich lokale politische Macht, indem sie ihre Wählerstimmen kapitalisierten (ebd.). Sie wurden letzlich zu einem kulturellen Teil der Stadt:

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

»[…] they became major actors in shaping cities, their spaces, and their culture, without openly challenging the discursive rule of the urban elite and the cultural hierarchy built upon the rural-urban axis.« (Ebd.) Dies änderte sich jedoch mit der Zeit, als die Gecekondu-Bewohnerinnen und Bewohner durch ihren Immobilienausbau an finanziellem Kapital gewannen und nun überwiegend als »undeserving rich Other« (ebd.) wahrgenommen wurden. Ein geflügeltes Zitat in diesem Zusammenhang ist: »they had built their gecekondus in a night, and now they were becoming millionaires in a day« (ebd.). Aus dieser Sicht stellten Gecekondus vielfältige Sicherheitsgefahren dar: zum einen für das zivile Leben schlechthin als Nährboden für reaktionären Islamismus auf der einen oder revolutionären Marxismus auf der anderen Seite (Aslan 2004), zum anderen als Gefahr für das von den urbanen Eliten als legitim erachtete kulturelle Leben in der Stadt. In diesem Sinne löste in den 1990er Jahre das Lehnwort varoş (aus dem Ungarischen für Städtchen) zum Teil den Begriff Gecekondu ab. Varoş wird in der türkischen Sprache als eine Art Armenvorstadt verstanden (Erman 2001: 996) und transportiert eine kulturelle Abwertung im Sinne eines verwahrlosten Orts, einer no-go-Area, einer »Inkarnation der blockierten Urbanisierung« (Esen 2007: 50). Öncü (1999) zeichnet die Auseinandersetzung um Konsum- und Lebensweise in Istanbul anhand von populären Karikaturen nach, die sich insbesondere seit den 1940er Jahren in diesem Sinne etabliert haben. Von dem Stereotyp des Haciağa18 der 1940er Jahre, über die Auseinandersetzung mit der Arabesk-Kultur 19 der 1980er Jahre hin zur Etablierung des personifizierten Anderen des Maganda20 seit den 1990er Jahren zeigt sie, wie die Istanbuler Bevölkerung versucht, sich in diesem Prozess selbst zu finden und zu bestimmen:

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»The stereotype of the haciaga is important, because it powerfully combines a series of existing motifs – money/taste, false piety/true morality, provincialism/cosmopolitanism, Anatolia/Istanbul – and condenses them into a single, negative ›other‹.« (Öncü 1999: 103) »Arabesk songs, singers, and films not only failed to conform to artistically established, pure categories of classification but also contaminated them. Similarly, those who belong to arabesk culture – the low-income immigrant population swirling on the fringes of Istanbul – have lost the innocence, purity, and authenticity of their traditional peasant-folk heritage (but remained ignorant), without acquiring the urbanity of cosmopolitan life (but embraced its crass commercialism), and hence belong in neither of the two world.« (Öncü 1999: 105) »As initially formulated through the nonverbal codes of satirical magazines, the maganda is a figure of brute strength, hairy body, and unbridled sexual appetites, who infects and pollutes the cultural atmosphere of the social setting he appears in. Rather than representing a sociocultural type in the conventional sense of the term, the maganda articulates, in the graphic language of his creators, a cultural phenomenon that is experienced in the fabric of social existence but remains unarticulated.« (Öncü 1999: 111)

2. Forschungsstand und Kontext

»The analytical centerpiece of my argument was that the meaning of Istanbulite is never sealed or finalized but is always in the process of making through political enunciations of ›the immigrant,‹ whose unjustified presence is condensed and mediated through the metaphors of invasion, siege, and assault. In each of the typifications I focused on, the haciaga, the arabesk, the maganda, the original (i.e., the Istanbulite) is recovered and recaptured.« (Öncü 1999: 116) Am Ende muss das Unternehmen um die Klärung, wer eine richtige Stadtbewohnerin oder ein richtiger Stadtbewohner ist, also erfolglos bleiben. Im Angesicht der urbanen Pluralität lassen sich keine einheitlichen Klassen und festgeschriebenen Lebensstile ausmachen. Die einzige fortwährende Dynamik scheint in der ständigen Abgrenzung zu liegen, auch wenn sie mit dem steigenden sozio-ökonomischen Status der konservativen urbanen Bevölkerungskreise immer schwieriger wird. Auch räumlich rücken die gespaltenen Fraktionen einander näher und müssen sich zunehmend einen gemeinsamen öffentlichen Raum teilen, der Austragungsort für ihren Kampf um legitime Lebensweisen ist. Esen schreibt dazu: »Das öffentliche Erscheinungsbild des Anderen, dessen Auftritt, Verhalten, Image, Sichtbarkeitsmodus, kulturelle und materielle Konsummuster etc., erscheinen aus der Sicht des jeweiligen sozio-ideologischen Kontrahenten nahezu unerträglich.« (Esen 2010: 172) Katharina Sucker führt diese abweichenden Lebensweisen näher aus. So verschmäht die alte, säkulare Elite des Landes die platte Demonstration von Reichtum und legt einen »feinen materiellen Puritanismus« (Sucker 2015: 145) an den Tag, während die sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteiger ihre Erfolgsgeschichte stolz zur Schau stellen. Sucker beschreibt dabei, wie die alten und neuen Eliten sich wie zwei gleich geladene Magneten stets voneinander abstoßen. Räumlich manifestiert sich das beispielsweise im vorläufigen Rückzug der alten Istanbuler Eliten aus den innerstädtischen Bereichen an den nördlichen Stadtrand, wo in den 1990er Jahren luxuriöse, umzäunte Siedlungsprojekte entstanden. Mit der Zunahme an Gated Communities (oder Sites) für die Neureichen, die in unmittelbare Nachbarschaft der alten Gated Communities zogen, verhärtete sich jedoch eine zunehmende Aversion gegen diese Siedlungsform als »Sinnbild der Gier und Prahlerei« (Sucker 2015: 149). So kam es zu einer Neuorientierung der bürgerlichen Urbanität und zum Rückzug der alten Eliten in das Stadtzentrum – die Dauer dieses erneuten innerstädtischen Aufenthalts bleibt abzuwarten. Dabei geht es nicht nur um die räumliche Abgrenzung zu neureichen Bevölkerungsgruppen, sondern es handelt sich hier um eine Distinktionspraktik schlechthin, die Gated Community wird zur »Antithese des zivilisierten Lebens« (Sucker 2015: 146): »Die Rückkehr in die Innenstadt markiert daher nicht nur geographisch eine Wendung um 180 Grad. Sie verinnerlicht die doppelte Umkehrung der Utopie

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

– die scheinbare Rückkehr zum Ausgangspunkt. Sie verkörpert jedoch keine wahre Rückkehr, sondern markiert eine immer feiner werdende gesellschaftliche Spaltung entlang antagonistischer Grenzen durch eine innovative Veränderung der Raumsymboliken.« (Sucker 2015: 150) Trotz des sozio-ökonomischen Angleichens großer Bevölkerungsteile bleibt eine gesellschaftliche Spaltung und Polarisierung aufgrund von gesellschaftspolitischen Ansichten und Grundüberzeugungen bestehen. Paradoxerweise scheint der Zustand der gesellschaftlichen Polarisierung selbst zur Disposition zu stehen. So führen Senem Aydın-Düzgit und Evren Balta aus, dass sich die unterschiedlichen Eliten des Landes selbst über die Frage der gesellschaftlichen Polarisierung polarisieren (Aydın-Düzgit/Balta 2019): Die eine Seite ist davon überzeugt, dass es gar keine gesellschaftliche Polarisierung im Lande gibt. In jedem Fall wird die soziale Abgrenzung im Rahmen der immer dichter besiedelten Stadt immer schwieriger. Das Leben in einer Site nimmt auch für die neue religiöse Mittelschicht an Attraktivität zu, wie unter anderem Ayşe Çavdar in ihren Arbeiten beschreibt (Çavdar 2015; 2016). Durch den veränderten sozio-ökonomischen Status, veränderte Konsumformen und höhere Bildungsaspirationen als der Rest ihrer Nachbarschaft entwachsen diese Personen den alten, traditionell-konservativen Kreisen. Hinzu kommen neu zugezogene Unternehmerinnen und Unternehmer aus Anatolien, deren Lebensweise Esen als »asketisch-akkumulationsbewusst« charakterisiert (Esen 2010: 174). Um ihren neuen, fast schon hybriden Lebensstil angemessen ausleben zu können, machen sie sich auf die Suche nach einem geeigneten Siedlungskontext. Çavdar beschreibt dabei die Schwierigkeiten, die dabei entstehen: Die veränderten Konsumformen – wie beispielsweise ein großes Auto zu fahren – führen zur Diskriminierung in den alten, religiös-konservativen Nachbarschaften. Gleichzeitig erfahren sie aufgrund ihrer religiösen Lebensausrichtung – wie das Tragen eines Kopftuchs – Diskriminierungen in den Nachbarschaften der eher säkular ausgerichteten Mittelschichten. Aufgrund dieser doppelten Ablehnung sieht Çavdar die steigende Popularität neuer religiöser Enklaven, die gleichzeitig auf einen konsumorientierten Lebensstil ausgerichtet sind – wie in dem von ihr untersuchten Bezirk Başakşehir, einem religiös geprägten Stadtteil weit nordwestlich der alten Istanbuler City, der in fast schon organischer Manier mit der Etablierung des politischen Islams entstanden ist21 (siehe Çavdar 2016: 514f.). Başakşehir ist siedlungsstrukturell dabei insbesondere von gehobenen Sites geprägt, die gewisse ökonomische Ressourcen voraussetzen. Dabei findet eine erneute Abgrenzung zu den verbliebenen Gecekondu-Nachbarschaften wie das nahegelegene Şahintepe statt, die schein21

Dabei nahm die Refah Partisi eine große Rolle bei der Gründung und Entwicklung Başakşehirs ein. Eingeschrieben bleibt ihr Einfluss auch im Namen des Bezirks: ›Başak‹ bedeutet ›Ähre‹ und eine Ähre findet sich auch im Parteilogo wieder. Darüber hinaus sind die Straßen nach wichtigen religiösen Persönlichkeiten benannt (siehe Çavdar 2015: 109ff.),

2. Forschungsstand und Kontext

bar nur auf sozio-ökonomischen Faktoren beruht, da sich beide Bewohnerschaften als konservativ beschreiben (Çavdar 2016: 520). Çavdar zitiert dazu aus einem ihrer Interviews mit einem Gecekondu-Bewohner: »We had two primary schools; their situation was miserable. After the flood [in 2009, L.R.], one of them collapsed. The remaining one was too small for all the children. We wanted to send our children to the public schools in Basaksehir [sic!], but their children humiliated ours. They pushed them out and the families forced the school administration not to accept the children of Sahintepe [sic!]. The inhabitants of Basaksehir [sic!] did that. Later they launched a charity campaign to raise funding in order to build a school in Sahintepe [sic!]. It was to keep our children away from theirs. This was wrong. My neighbours are honourable people. If they [die Bewohnerinnen und Bewohner Başakşehirs, L.R.] are Muslim, we are more Muslim.« (Ebd.) Der Kontakt zu bedürftigen Bevölkerungsgruppen findet nur noch über wohltätige Aktionen statt und nicht mehr über direkten, alltäglichen Austausch. Çavdar beschreibt in diesem Sinne auch die veränderten Gepflogenheiten zum Opferfest, die eine Professionalisierung und gewissermaßen auch Modernisierung durchlaufen haben (Çavdar 2015: 177ff.). In Reaktion auf alljährliche Schreckensmeldungen über entlaufene Tiere, Blutbäder auf den Straßen und sonstige Unfälle im Rahmen der festlichen Schlachtungen etablierte die Kommunalverwaltung Başakşehirs im Jahr 2010 den »modernsten Schlachtplatz der Türkei« (ebd.: 182). Dabei werden die Schlachtungen in professionelle Hände übertragen. Die Familien können sich zwar eines der Tiere selbst aussuchen, die Schlachtung wird aber nicht mehr von ihnen selbst vorgenommen, sondern von den anwesenden Schlachtern. Auch die Verteilung des Fleisches für karitative Zwecke wird nicht mehr von den Familien selbst übernommen, sondern von den anwesenden gemeinnützigen Vereinen organisiert. In diesem Rahmen wird das Opferfest zwar sauberer und sicherer, jedoch entfallen gleichzeitig vielfältige nachbarschaftliche soziale Interaktionen, die traditionell mit ihm verknüpft sind. Çavdar attestiert der Bewohnerschaft von Başakşehir insgesamt einen sehr introvertierten Lebensstil, der sich in der Regel auf die Apartmentwohnung der Kernfamilie konzentriert (Çavdar 2016: 519). Die Garantie für Privatsphäre scheint einer der wichtigsten Gründe für einen Umzug nach Başakşehir zu sein (siehe beispielsweise Çavdar 2015: 142ff.). Folglich kommt es auch innerhalb der Sites zu wenig Austausch zwischen den einzelnen Familien. Insgesamt lässt sich im Rahmen der Başakşehir-Studie eine Selbstzivilisierung der Bewohnerschaft beobachten, die sich von der empfundenen Rückwärtsgerichtetheit ihrer konservativen Wurzeln abwendet. In diesem Sinne spiegelt sich das Modernisierungsprogramm der Refah Partisi und später der AKP-Regierung auf lokaler Ebene in besonders einprägsamer

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Weise wider. Diese Vorstellung materialisierte sich bereits in den 1990er Jahren unter der Refah Partisi und erhielt den Namen IslamKent 22 : »Our cities are neither Islamic nor Western, they are hybrid. Now we try to develop an urbanization model based on Islamic principles, it will be the IslamKent Model.« (Refah-Parteifunktionär Arif Ersoy im Zeitungsinterview, zitiert nach Çavdar 2016: 514). In übergeordneter Betrachtung stellt Başakşehir jedoch eine Ausnahme dar. Insgesamt kommt es räumlich eher zu sozio-ökonomischen als zu kulturellen Ausdifferenzierungen. Dabei ist auch die Attraktivität für Gated Communities in Istanbul und anderen türkischen Städten nicht auf eine abgrenzbare Personengruppe beschränkt. Die Bewohnerinnen und Bewohner entstammen verschiedenen Einkommensschichten und sozial-kulturellen Gruppen und die Site kann »weder mit einer bestimmten Lage, noch mit einer bestimmten Architektur in Verbindung gebracht werden« (Sucker 2015: 146). Trotz eines gezielten »brandings« (Serin 2016) vieler Sites, welches die Umwerbung bestimmter Bevölkerungsgruppen miteinbezieht, kann bei der Etablierung einer Site keine kulturelle Homogenität garantiert werden. In Anlehnung an die oben zitierten Studien kann also eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen beobachtet werden, die sich nicht nur an Grundüberzeugungen scheidet, sondern insbesondere auch an Konsumformen (siehe Rankin at al.: 2014). Dabei handelt es sich um eine Gesellschaft, die nicht nur schwarz und weiß, sondern bunt ist – auch wenn bei weitem nicht alle Bevölkerungsgruppen eine öffentliche Repräsentation haben. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass die Frage nach städtischen Lebensstilen zunehmend multipolar diskutiert wird und auch in Zukunft so diskutiert werden muss.

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Übersetzt: islamische Stadt.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Wie das vorausgehende Kapitel eindrücklich gezeigt hat, haben sich Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Disziplinen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln der Urbanisierung und Stadterneuerung Istanbuls gewidmet. Ein bedeutender Grund für diese vielfältigen Auseinandersetzungen ist mit Sicherheit die existenzielle Erfahrung jeder Stadtbewohnerin und jedes Stadtbewohners mit diesen Phänomenen. Die Rahmenbedingungen der rapiden Urbanisierung, der Pfadabhängigkeit informeller Siedlungsprozesse, der ständigen Raumtransformationen, beispielsweise im Rahmen einer zunehmenden Apartmentisierung, sowie der herrschenden kulturellen Aushandlungsprozesse zeigen die enormen Anforderungen, die an die ansässigen Individuen gestellt werden. Asu Aksoy bezeichnet diese Erfahrung mit dem Ausdruck »violence of change« (Aksoy 2011): »Istanbul’s pull into the force field of globalization is affecting deeply rooted ways of thinking and acting. With its new spaces and cultures of consumerism, its expanding and deepening financial flows in the real estate and service industries, and its new mechanisms for the global integration of local cultures through commodification, globalization is making irreversible entries into the daily life of the city, forcing change in urban spaces and on public culture.« (Ebd.: 232) Was der wissenschaftlichen Auseinandersetzung jedoch bislang fehlt ist eine Herangehensweise, die genauer in den Blick nimmt, wie sich die Besonderheiten der Raumproduktion auf das individuelle, biografische Erleben auswirken und welche gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen hieraus abgeleitet werden können – gewissermaßen also das soziale Zusammenspiel von Biografie und Raum. Die von mir erwähnten, stärker empirisch angelegten Studien konzentrieren sich in der Regel auf Fallbeispiele wie einzelne Gruppen oder Viertel. Keine der mir bekannten (qualitativen) Studien arbeitet mit einem theoretischen Sample oder einer fallrekonstruktiven Herangehensweise, was eine große Erkenntnislücke bedeutet1 . 1

Dieser Umstand mag von gewissen nationalen, methodischen Vorlieben geprägt sein, jedoch argumentiert beispielsweise Lena Inowlocki, dass die Biografieforschung keineswegs

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Dieses Alleinstellungsmerkmal meiner Arbeit wurde mir im Laufe des Prozesses immer deutlicher und ihre Relevanz vor allem in der fachlichen Diskussion mit lokalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hervorgehoben. Dabei entwickelte sich die große Bedeutung einer biografietheoretischen und raumsoziologischen Perspektive sukzessive im Rahmen des Forschungsprozesses. Ich startete den Forschungsprozess mit einem offenen Forschungsinteresse an den vielfältigen sozialen Herausforderungen, die die rapide Urbanisierung in der Türkei mit sich bringt. Durch wiederholte Feldaufenthalte konnte ich dieses Erkenntnisinteresse schärfen, Gegenstandsrelevanzen erarbeiten und im ständigen Rückbezug auf die erhobenen Daten die Forschungsfragen weiterentwickeln und die Untersuchungsgruppe eingrenzen. Da die Fragestellung im Laufe des Forschungsprozesses ausgearbeitet und verfeinert wurde, kann nur beides zusammen sinnvoll erklärt und abgehandelt werden. Im Sinne eines zirkulären Forschungsmodells (Flick 2014: 141), wie es für die qualitative Sozialforschung typisch ist, wechselt sich Fallauswahl, Erhebung und Interpretation immer wieder ab. Die verschiedenen Elemente des Forschungsprozesses werden stets aufs Neue miteinander kombiniert, bis sie zu einer gesättigten Theorie führen. Die Entwicklung der Forschungsfrage(n) läuft also parallel mit der Methoden- und Fallauswahl. Das folgende Kapitel liefert den nötigen Überblick und macht den Forschungsprozess intersubjektiv nachvollziehbar.

3.1

Methodologische Verortung

Meine Studie widmet sich einem qualitativen Forschungsdesign, das sich vor allem an den narrationsanalytischen und biografietheoretischen Arbeiten um Fritz Schütze orientiert. Somit binde ich mich in meiner Studie an methodologische Vorannahmen sowie die Anforderungen, die mit der »elaborierten« qualitativen Sozialforschung (Reichertz 2016: 28ff.) verbunden sind. Es geht in der vorliegenden Arbeit darum, die soziale Wirklichkeit und das Handeln verschiedener Individuen verstehend zu interpretieren und eine Deutung ihrer Sinnstrukturen anzubieten. Im Fokus steht der Alltag menschlicher Subjekte. Im Sinne eines interpretativen Paradigmas geht es mir in erster Linie nicht darum, die jeweilige soziale Welt objektiv zu beschreiben, sondern die subjektiven Sichtweisen, Deutungsmuster und Handlungsorientierungen zu rekonstruieren.

eine »German Method« sei. Ganz im Gegenteil sei sie im Rahmen der Wiederentdeckung verschiedener Studien aus dem Spektrum der Chicago School der 1920er und 1930er Jahre entstanden und würde auch heute wieder in einem internationalen Forschungsumfeld stattfinden (Inowlocki 2018).

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Ich nutze an dieser Stelle bewusst nicht nur den Begriff der qualitativen, sondern auch den Begriff der interpretativen Sozialforschung, da umstritten ist, was genau eigentlich eine qualitative Sozialforschung ausmacht (siehe Rosenthal 2015: Kap. 1 und 2; Reichertz 2016; Schütze 2016; Flick/Kardoff/Steinke 2017). Auch in aktuellen Debatten und Ausdifferenzierungen scheint sie nicht abschließend definiert werden zu können (Reichertz 2019) und entzündet sich oftmals an Fragen der Gütekriterien für qualitative Sozialforschung (vgl. Eisewicht/Grenz 2018; Strübing et al. 2018). In diesem Sinne möchte ich einige zentrale Aspekte für die vorliegende Forschungsarbeit darstellen, um sie in diesem Feld positionieren zu können. Dabei orientiere ich mich hauptsächlich an den grundlegenden Gemeinsamkeiten und Vorannahmen, die qualitative und interpretative Ansätze miteinander vereinen. Insbesondere im Sinne des interpretativen Paradigmas wird betont, dass das, was im Erkenntnisinteresse der Forschung liegt, in der Regel nicht explizit bei den beforschten Personen abgefragt werden kann. So stehen soziale Sinnstrukturen zwar jedem Individuum zur Verfügung, sind im Normalfall von ihm jedoch nicht explizit formulierbar. Aus diesem Grund zielt eine interpretative Sozialforschung darauf ab, Daten zu produzieren, aus denen solche Sinnzusammenhänge abgeleitet werden können. Diese Vorannahme ist zentral für narrative Interviews (besonders anschaulich in Küsters 2009) oder für ethnografische Ansätze. Um diese Sinnstrukturen nicht nur offenzulegen, sondern wirklich verstehen zu können, zielen qualitative und interpretative Forschungsansätze meist auf eine Rekonstruktion der untersuchten Lebenswelten2 ab (beispielsweise bei Honer 2017). Die Fokussierung zielt also auf »die einzelnen Menschen im Alltag und deren subjektive Wirklichkeit und damit die Abkehr von den Steuerungsperspektiven der Herrschenden« (Reichertz 2016: 10). Diese methodischen Implikationen stehen in der Tradition theoretischer Erkenntnisse aus der phänomenologischen Soziologie um Alfred Schütz (1974) und dem Sozialkonstruktivismus vor allem nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1977). Jo Reichertz formuliert weitere »unstrittige Gemeinsamkeiten« (Reichertz 2019: 18-23) innerhalb der qualitativen beziehungsweise interpretativen Sozialforschung. Zusammengefasst sind das die Folgenden:

2

Ich fasse den Begriff Lebenswelt ganz im Sinne von Alfred Schütz und Thomas Luckmann: Nämlich als die Lebenswelt des Alltags, die »vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen« (Schütz/Luckmann 2017: 29), in die er hineingeboren wird und die er unbefragt annimmt. Diese Lebenswelt ist dabei intersubjektiv, das heißt, dass sie mit anderen Menschen geteilt wird, die alle ein (ähnliches) Bewusstsein von ihr haben. Darüber hinaus schließt die alltägliche Wirklichkeit der Lebenswelt »nicht nur die von mir erfahrene ›Natur‹, sondern auch die Sozial- bzw. Kulturwelt, in der ich mich befinde, ein« (ebd.: 31). Sie ist der Rahmen sozialer Handlungen.

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Es existiert ein grundsätzliches Verständnis von Empirie bei dem man davon ausgeht, dass es dort draußen eine »wirkliche Wirklichkeit« (ebd.: 19) gibt, die man nicht beliebig rekonstruieren kann. Forscherinnen und Forscher versuchen, diese Wirklichkeit aktiv zu erkennen, beziehungsweise zu begreifen, und greifen somit auch in sie ein. Reichertz spricht hier von wissenschaftlichem Forschen als eine »besondere Form der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit« (ebd.: 20). Es geht darum, Verhaltensmuster und Regeln zu identifizieren, die das Handeln von Menschen und Institutionen leiten, sie theoretisch zu beschreiben und verstehbar zu machen. Dies passiert allerdings unter der Vorannahme, dass die Regeln und Verhaltensmuster nicht als universell gelten, sondern Handlungsoptionen eröffnen oder verschließen, und immer wieder neu zur Disposition stehen.

Diese aufgeführten Punkte legen das methodologische Forschungsprogramm der vorliegenden Arbeit zugrunde. Gleichzeitig liegt es in der Natur der Sache, dass Forschungen, die sich vor allem mit Biografien und Fallrekonstruktionen auf der »Mikroebene des einzelnen Menschen« (Marotzki 2011: 23) beschäftigen, einen starken Subjektbezug aufweisen. Dabei soll es jedoch keineswegs darum gehen, gesellschaftliche und kulturelle Kontexte zu vernachlässigen – aus diesem Grund befindet sich am Anfang meiner Arbeit auch ein ausführliches Kontextkapitel, ohne welches diese Arbeit kaum nachvollziehbar sein könnte. Winfried Marotzki schreibt dazu: »Unabhängig von dem Diktum der Vorrangstellung des Subjektes in der Biografieforschung gilt natürlich auch für diese Art der Forschung, dass die jeweiligen sozialen und kulturellen Räume verstanden und empirisch exploriert werden müssen. […] Obwohl dieses Wissen um die jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen und Kontexte da sein muss, erfährt es doch hinsichtlich des Analysefokus eine Respezifikation: Es geht darum, welche Bedeutung einzelne interessierende soziale Phänomene für einzelne Menschen haben. Die interessierenden sozialen Phänomene werden insofern aus dem Blickwinkel einzelner Menschen analysiert.« (Ebd.: 23f.) Ich stelle auf den folgenden Seiten nun das Forschungsvorgehen detailliert dar, um die theoretischen Annahmen und die forschungspraktischen Vorgehensweisen einer qualitativen, interpretativen Studie weiter zu vertiefen und zu veranschaulichen.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

3.2

Entwicklung der Forschungsfrage im Forschungsprozess

Ein qualitatives, sozialwissenschaftliches Forschungsdesign steht in einem engen Wechselverhältnis zu seinem Forschungsgegenstand und zu den entstehenden Forschungsfragen (vgl. Rosenthal 2015; Reichertz 2016; Flick 2014; 2017). Gleichzeitig wird es von persönlichen, personellen und finanziellen Ressourcen und einer ans Feld angepassten Forschungspraxis bestimmt (vgl. »Forschung als Arbeit« bei Strauss 1994: 34f.). Dementsprechend unterliegt die vorliegende Arbeit einer ständigen Adaption und Ausrichtung der Forschungsfragen und Forschungsmethoden an den entsprechenden Gegebenheiten und Anforderungen. So habe ich die Forschungsfragen ganz im Sinne einer interpretativen Sozialforschung im Laufe des Prozesses immer weiter angepasst und geschärft. Am Anfang stand ein zunächst noch grob umrandetes Forschungsinteresse, das sich an einem im Sinne der Siedlungssoziologie (Hamm 1982) klassischen Erkenntnisinteresse orientierte: Welchen Einfluss haben Siedlungsstrukturen und -formen auf soziale Ordnung (im Sinne von sozialen Normen und Institutionen) und Lebenswelten (siehe Kap. 3.1) und umgekehrt? Für die vorliegende Arbeit formuliert: Wie hat die Stadterneuerung und der massive Neubau von Wohnungen in Form von Großsiedlungen und Apartmenthäusern die Lebensweise der türkischen Stadtgesellschaft insbesondere in Istanbul beeinflusst? Die Offenheit qualitativer Verfahren (siehe beispielsweise Rosenthal 2015: 50ff.) wurde in der Feldforschung bewahrt, die dieser Untersuchung zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang bedeutet Offenheit jedoch erfahrungsgemäß Fluch und Segen zugleich. Wie vorausgehend beschrieben, unterliegt eine Feldforschung nicht nur persönlichen und finanziellen Ressourcen, sondern muss sich auch den politischen und sozialen Gegebenheiten des Untersuchungskontextes anpassen. Offenheit im positiven Sinne bedeutet hier der opportunistische Zugang zum Feld (vgl. hierzu Hitzler 2018), im negativen Sinne bedeutet sie aber auch zeitweilige Desorientierung und Unsicherheit. Qualitative Forschung ist in der Regel auf die freiwillige Teilnahme ihrer Untersuchungspersonen sowie Informantinnen und Informanten angewiesen. In politisch brisanten Zeiten kann die Rekrutierung von Studienteilnehmenden jedoch besonders schwierig sein. Meiner Forschung gingen zivilgesellschaftliche Proteste, wie die Gezi-Proteste, ein gescheiterter Putschversuch, wieder aufkeimende Konflikte im Osten des Landes und die politische Verfolgung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich für die Befriedung dieser Konflikte einsetzten, unmittelbar voraus – um nur einige Faktoren zu nennen, die das politische Klima anheizten. Darüber hinaus führte ich die meisten Interviews in den Wochen kurz vor dem Referendum zur Einführung des Präsidialsystems im Jahr 2017, was viele formelle und informelle Gespräche politisierte und auch insgesamt zu einer aufgeladenen Stimmung beitrug. Ich fragte mich, ob ich meine Forschung unter diesen Umständen abbrechen

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sollte. Ich habe mich allerdings für den opportunistischen Weg entschieden, auch wenn dies gewisse Einschränkungen bedeutete. So hatte ich zwischenzeitlich die Befürchtung, dass sich das erhobene Material nicht dicht genug oder gar defizitär darstellt – eine unberechtigte Befürchtung, wie sich am Ende herausstellte. Ermutigt hat mich unter anderem ein Argument von Reichertz, der dies in Antwort auf die Frage anführt, ob qualitative Forschung überhaupt sinnvoll sei, wenn man sich doch nie vollständig in ein untersuchtes Individuum einfühlen könne: »Was bleibt dem Sozialwissenschaftler bzw. der Sozialwissenschaftlerin dann zu tun? Soll sie ihr Geschäft weiter betreiben, also auch weiterhin der Frage nachgehen, weshalb andere das tun, was sie tun, und mit der Gewissheit weiterleben, dass sie nie in der Lage sein wird, zu dieser Frage hinreichend genaue oder gute Antworten zu liefern? Oder soll er, weil er nicht hinreichend genaue Antworten finden kann, das Kind mit dem Bade ausschütten und den Beruf wechseln? Oder soll er gar schweigen? Aus meiner Sicht macht es sehr viel Sinn, dennoch weiter zu arbeiten – nicht nur weil Wissenschaft das Wissen um die Welt verbessert und ausdifferenziert, sondern weil die Einsicht in die Begrenztheit bescheidener macht und ein gutes Gegengift gegen zu viel Selbstgewissheit und Borniertheit ist.« (Reichertz 2016: 49) Mein Forschungsdesign unterliegt also methodologischer Offenheit, forschungspraktischem Opportunismus und analytischen Einschränkungen zugleich. Dabei orientierte ich mich immer da, wo es möglich war, an den zentralen Voraussetzungen einer Forschung nach den Grundprämissen der Grounded Theory um die Feldforschung anzuleiten und einen möglichst sensiblen Umgang mit den Daten zu finden. Anselms Strauss schreibt dazu: »[Einen] verstehenden Zugang zu komplexen Daten finden heißt dreierlei. Erstens, daß sowohl die vielschichtigen Interpretationen als auch die Datenerhebung geleitet werden von den sukzessiv sich entfaltenden Interpretationen, die im Verlauf der Studie entstehen. […] Zweitens, daß eine Theorie, wenn man eine vereinfachende Darstellung der untersuchten Phänomene vermeiden will, konzeptuell dicht sein muß – also müssen viele Konzepte mit ihren Querverbindungen erarbeitet werden. […] Drittens, daß es notwendig ist, eine detaillierte, intensive, sehr genaue Untersuchung der Daten vorzunehmen, um die erstaunliche Komplexität aufzudecken, die in, hinter und jenseits der Daten vorhanden ist.« (Strauss 1994: 36) Die methodologische Stärke der Grounded Theory liegt also darin, dass während des Forschungsprozesses ständig zwischen Datenerhebung, Datenauswertung und Memoschreiben hin und hergependelt wird. So achtete ich stets darauf, dass sich Überlegungen und Arbeitshypothesen aus dem Feld ergaben und nicht im Vorhinein festgelegt wurden. Die unabdingbare Gegenstandsverankerung wurde mir

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

konkret vor allem an einer Stelle im Feld wiedergespiegelt, als mir ein wissenschaftlicher Interviewpartner mitteilte, dass die europäischen Theorien in der Türkei nicht funktionieren würden, da sie die gesellschaftliche und historische Komplexität nicht angemessen bearbeiten könnten. Der Forschungsprozess gliederte sich in folgende, aufeinander aufbauende Schritte, die ich nun näher beschreiben werde: 1) Umfassende Literaturrecherche und Erarbeitung eines Forschungsstandes; Kontaktaufnahme zu diversen Informantinnen und Informanten (Oktober 2015 bis Januar 2016) 2) Erster Feldaufenthalt für Gespräche mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Journalistinnen und Journalisten und anderen Expertinnen und Experten; Organisation institutioneller Anbindung; erste Begehungen und Beobachtungen (Februar bis März 2016) 3) Erneute Bearbeitung und Eingrenzung der Fragestellung, Entwurf eines vorläufigen Forschungsdesigns, weitere Recherchen (April 2016 bis Februar 2017) 4) Zweiter, zentraler Feldaufenthalt im Rahmen eines »Residence Fellowships«; Erhebung von narrativen Interviews und Go-Alongs; weitere Begehungen und Beobachtungen; wissenschaftlicher Austausch (Februar bis April 2017) 5) Erste Analyseschritte der erhobenen Daten, Eingrenzung des Kontextes, Finalisierung der Methodologie (April 2017 bis April 2019) 6) Dritter Feldaufenthalt zur Präsentation erster Analyseergebnisse und kommunikative Validierung mit Expertinnen und Experten vor Ort (Mai 2019) 7) Finale Auswertung und Abfassung des Berichts (Mai 2019 bis September 2020)

Obwohl die oben genannten Schritte in chronologischer Reihenfolge so stattgefunden haben, sind sie untereinander natürlich nicht in aller Gänze zu trennen. Literaturrecherchen, Fallauswahl, Analyseeinheiten und Rückbezüge auf die Fragestellungen haben den gesamten Prozess stets begleitet. Dies ist nicht nur im Sinne eines qualitativen Forschungsdesigns, sondern dient auch der Güte der Forschung (vgl. Steinke 2017; Flick 2014: Kapitel 7.). So wurde beim Einsatz jedes Erhebungsverfahrens und der Auswahl der Analyseinstrumente stets die Gegenstandsangemessenheit geprüft und die empirische Verankerung sichergestellt. Um dies möglichst intersubjektiv nachvollziehbar zu rekonstruieren und einem weiteren Gütekriterium gerecht zu werden, folgt nun die detaillierte Darstellung des Forschungsprozesses. Nach ausgiebigen Literaturrecherchen absolvierte ich einen ersten Forschungsaufenthalt im Februar und März des Jahres 2016, um mir einen Feldzugang zu erschließen. In meinem Fokus standen die Kontaktaufnahme zu anderen Forscherinnen und Forschern sowie die mögliche Auswahl von Forschungsgebieten. In Anschluss an die vorgelagerten Recherchen kontaktierte ich als relevant identi-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

fizierte Personen – wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Journalistinnen und Journalisten und Aktivistinnen und Aktivisten – und bat um persönliche Gespräche. Auf diese Weise kamen sechs Treffen zustande. Ziel war es, nicht nur durch die neu gewonnenen Erkenntnisse die Forschungsfragen weiter auszuformulieren und potenzielle Erhebungsorte ausfindig zu machen, sondern auch institutionelle Kontakte für einen ausführlicheren Forschungsaufenthalt zu knüpfen. Insbesondere die fachlichen Gespräche waren im Rahmen einer Einbettung der Forschungsfragen sehr hilfreich. Darüber hinaus wurden mehrere Ortsbegehungen, beziehungsweise »Flaneurethnographien« in Anlehnung an Aldo Legnaro (2010), in unterschiedlichen Vierteln Istanbuls durchgeführt und Beobachtungsprotokolle angefertigt. Ein Interview mit einer damals verhinderten Journalistin und Publizistin konnte ich wenige Monate später in Deutschland nachholen. Besonders erfreulich verlief auch die institutionelle Kontaktaufnahme, so dass ein knappes Jahr später ein erneuter Feldaufenthalt im Rahmen eines Residence Fellowships an dem renommierten Istanbul Studies Center möglich wurde, das unter der Leitung des Stadtgeographen Murat Güvenç an der Istanbuler Kadir Has Universität eingerichtet ist. Im Rahmen des Fellowships konnte ich intensiv mit lokal führenden Sozialforscherinnen und Sozialforschern zusammenarbeiten, was die Feldforschung sehr angeregt und bereichert hat. Aufbauend auf meiner bisherigen Lektüre und der fachlichen Zusammenarbeit wurden einige Parameter entworfen, die ich für ein erstes Sample heranzog3 . Das erste Sample wurde im Laufe der Feldforschung in Anlehnung an ein theoretisches Sampling (Glaser/Strauss 2010 [1998]) weiter ausgeweitet, wenn auch bisweilen eine Datenerhebung auf Vorrat erfolgte. Die Zusammenarbeit mit dem Istanbul Studies Center erwies sich in vielerlei Hinsicht als äußerst fruchtbar. Kernstücke der Arbeit des Istanbul Studies Center unter Murat Güvenç sind sogenannte »social maps« (Elvan Erginli 2018), die mit dem Verfahren der Korrespondenzanalyse hergestellt werden. Diese Karten bieten einen fundierten und einmaligen Einblick in die vielfältigen sozialstrukturellen und sozioökonomischen Merkmale aller Istanbuler Stadtteile und Nachbarschaften – teilweise sogar auf Häuserebene. Darüber hinaus wurde mir vor Augen geführt, dass es noch keine soziologische Studie gab, die sich aus biografietheoretischer und raumsoziologischer Perspektive mit der Stadtentwicklung beschäftigt. Somit konnte ich sichergehen, dass meine Arbeit nicht nur einen inhaltlich relevanten Beitrag leisten kann, sondern auch ein Alleinstellungsmerkmal enthält. Im Rahmen des Fellowships und der Feldforschung entwickelte ich auch die Fragestellung sukzessive weiter. Wie bereits dargestellt, ging ich zunächst von einer sehr offen angelegten Fragestellung aus: »Welchen Einfluss haben Siedlungs3

Die verfolgten Sampling-Strategien und das finale Sample beschreibe ich eingehender im Abschnitt 3.4.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

strukturen und -formen auf soziale Ordnung und Lebenswelten?« Diese verknüpfte ich dann mit dem vorliegenden Untersuchungskontext: »Wie hat die Stadterneuerung und der massive Neubau von Wohnungen in Form von Großsiedlungen und Apartmenthäusern die Lebensweise der türkischen Stadtgesellschaft insbesondere in Istanbul beeinflusst?« Dabei ging ich hier nicht von einem Kausalzusammenhang aus. Es ging mir vielmehr um das komplexe Verhältnis und die Dialektik zwischen Raum, Biografie und Gesellschaft. Das gegenstandssensible, offene bis explorative Vorgehen war dabei nicht nur von methodologischer Bedeutung, sondern wurde mir auch von Expertinnen und Experten empfohlen. Ich hatte Vermutungen und erste Hypothesen entwickelt, die sich schnell als fälschlich herausstellten. So verbrachte ich einige Zeit mit der Überlegung, ob sich einzelne Nachbarschaften durch gewisse kulturelle Aspekte charakterisieren lassen und ich eventuell eine »cultural map« erstellen könnte. Dies erwies sich jedoch als unmöglich, da dies nicht nur eine ganz andere Form der Erhebung voraussetzen würde, sondern ich auch keine Anhaltspunkte dafür fand, dass die kulturelle Homogenität tatsächlich gegeben war. Vielmehr stellte sich heraus, dass es zwar sozioökonomische Ähnlichkeiten innerhalb der Bewohnerschaft einzelner Siedlungsgebiete geben musste, die Frage nach kulturellen Zugehörigkeiten damit aber in keinem Falle zufriedenstellend beantwortbar ist. Mit anderen Worten: Ökonomische Ressourcen bilden keine hinreichenden Merkmale für die Unterscheidung sozialer Gruppen oder Milieus, beziehungsweise sie bilden sie nicht mehr (Bourdieu 1987). Stattdessen müssen andere Distinktionsmerkmale herangezogen werden. Kulturelle Gemeinsamkeiten in Nachbarschaften, wie beispielsweise die Herkunft, verwischen im Zuge der Urbanisierung und Stadterneuerung, so dass die nachbarschaftlichen Verhältnisse anderweitig ausgehandelt werden müssen. Eine weitere Arbeitshypothese, die sich im Zuge der Feldforschung nicht bestätigt hatte, war jene, dass Art und Größe der Siedlungsstruktur, also auch die konkrete Bebauung und Bauweise, ausschlaggebender Faktor für die zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Nachbarschaft sind. Ich ging davon aus, dass große Wohnanlagen auch mit größerer Anonymität unter ihren Bewohnerinnen und Bewohnern einhergehen. In Einzelfällen entspricht dies der Realität, es kann aber nicht von einer Kausalbeziehung oder einem Kontinuum ausgegangen werden. Bessere, wenn auch nicht hinreichende, Ansatzpunkte hätten die Aufenthaltsdauer der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner sowie die Kontinuität der gesamten Bewohnerschaft sein können. Aber selbst hierfür hätte ich ein anderes Erhebungsformat und vor allem eine höhere Fallzahl gebraucht. Ich konzentrierte mich also auf die Fallrekonstruktionen und die Erarbeitung der theoretischen Varianz, die mir mein erhobenes Sample lieferte.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Die im Jahr 2017 erhobenen narrativen Interviews4 und die Beobachtungsprotokolle der begleitenden Go-Alongs5 bilden also das zentrale Material für diese Studie. Das vielfältig erhobene sonstige Material fand vor allem Eingang in den kontextualen Bezug der vorliegenden Studie. Bei der Auswahl und Kontaktierung der Interviewpersonen entschied ich mich für einen breitgefächerten und vorrangig persönlich ausgerichteten Zugang. Praktisch bedeutete dies, dass ich vor allem über persönliche Bekannte sowie meine Kolleginnen und Kollegen am Istanbul Studies Center Kontakt zu potenziellen Interviewpartnerinnen und -partnern suchte. Die für die Auswahl zentralen Merkmalsausprägungen beschreibe ich im nächsten Kapitel genauer. Insgesamt wurden Interviews und Go-Alongs in 16 Fällen erhoben. Für die Analyse wurde das Sample auf 11 Fälle reduziert, um eine Vergleichbarkeit der Fälle zu gewährleisten. Diese Eingrenzung ist für die Güte und Reichweite der Forschungsergebnisse von großer Bedeutung gewesen. Die Auswertung und Analyse insbesondere der Interviewdaten und Beobachtungsprotokolle der Go-Alongs geschah nach der Rückkehr aus der Türkei. Der Analyseprozess zeichnete sich zunächst durch die Erprobungen unterschiedlicher Analyseinstrumente aus: Dokumentarische Methode (Bohnsack 2014), Kodiersystem der Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1996), Narrationsanalyse nach Fritz Schütze (1983). Im Mai 2019 konnten dann erste Analyseergebnisse am Istanbul Studies Center zur kommunikativen Validierung (siehe Steinke 2017) vorgestellt werden. Im Rahmen der daran angeschlossenen Diskussion wurde deutlich, dass der Fokus der Arbeit auf den Fallrekonstruktionen und -vergleichen liegen sollte. Ich konzentriere mich deshalb in dieser Publikation auf die Ergebnisse, die ich durch die Narrationsanalyse gewonnen habe und orientiere mich auch in meiner Darstellung an den Standards narrationsanalytischer Studien (vgl. Riemann 1987; Nittel 2017; Kahle 20176 ). Bevor ich auf das zentrale Sample der vorliegenden Studie zu sprechen komme, möchte ich daher zunächst die verwendeten Methoden der Biografieforschung näher beleuchten.

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Zur detaillierten Beschreibung des narrativen Interviews siehe Kapitel 3.3.1. Zum Go-Along siehe Kapitel 3.5. Um nur einige Beispiele zu nennen. Die hier dargestellte Variante mit ausführlichen Fallportraits ist natürlich nicht die einzige, dafür aber eine der etabliertesten Varianten im Kontext der Narrationsanalyse. Eine Alternative ist die Darstellung, wie sie beispielsweise Christa Hoffmann-Riem in ihrer Studie über »Das adoptierte Kind« wählt (Hoffmann-Riem 1989), die den Prozess der Adoption und Familienbildung direkt fallübergreifend aufbereitet.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

3.3 3.3.1

Methoden der Biografieforschung Das Narrative Interview

Als in den 1970er Jahren in der empirischen Sozialforschung der Bundesrepublik Deutschland verstärkt eine »Rückbesinnung auf die methodologischen Implikationen einer verstehenden oder interpretativen Soziologie« (Rosenthal 2015: 151) einsetzte, prägte insbesondere Fritz Schütze die Entwicklung des narrativen Interviews (Rosenthal 2015; Küsters 2009). Seine Arbeit basierte auf soziologischen Ansätzen wie der Phänomenologie, dem symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, der Konversationsanalyse und der Grounded Theory. Denn allen diesen Ansätzen war eines gemeinsam, was für Schütze essenziell schien: Sie gingen von der Annahme aus, dass soziale Wirklichkeit nicht einfach existiert, sondern dass sie im Rahmen kommunikativer Interaktion hergestellt, also aktualisiert und ausgehandelt werden muss (Küsters 2009). Und um dies zu untersuchen, müssen die kommunikativen Interaktionen sinnverstehend analysiert werden. Schütze entwickelte in Anlehnung an diese Annahmen das narrative Interview als geeignetes Instrument, um die Akteurinnen und Akteure im Feld selbst zum Sprechen zu bringen (Schütze 1983). Allgemein formuliert, stellt das narrative Interview eine Interviewform dar, die »dem Befragten die Ausgestaltung der vereinbarten Interviewthematik weitgehend überlässt, ihm zugleich aber auch heikle Informationen zu entlocken vermag« (Küsters 2009: 21). Das erste Mal beschrieb Schütze diese Strategie in einem Aufsatz über sein Projekt zur Erforschung kommunaler Machtstrukturen im Kontext der Gebietsreformen der 1960er und 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Der Titel ist hier bereits bezeichnend: »Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung: dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen« (Schütze 1976). In den dafür geführten Interviews mit Lokalpolitikern bat Schütze seine Interviewpartner, den komplexen Ablauf der Auswahl und Festlegung des Ortsnamens bei Gemeindezusammenlegungen zu schildern. Anhand dieses »epiphänomenalen Themas« (ebd.: 163) und des spontanen Erzählens eigenerlebter Geschichten, sogenannter Stegreiferzählungen, versprachen sich die Forscher des Teams, dass sich ihr Gegenüber in Erzählzwängen verwickelt und so »auch über Vorgänge und Handlungsmotivationen [berichtet] […], über die er in der normalen Interviewkommunikation schweigen würde« (ebd.). Diese »Zugzwänge des Erzählens« (Kallmeyer/Schütze 1977) formulierte Schütze zusammen mit dem Linguisten Werner Kallmeyer aufbauend auf der linguistischen Erzählforschung aus. Das Besondere an den entlockten Stegreiferzählungen ist, dass sie durch Rückgriffe auf sogenannte kognitive Figuren des Geschehens funktionieren (Küsters 2009: 26). Diese kognitiven Figuren setzen sich zusammen

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aus der Erzählträgerin oder dem Erzählträger, die oder der in der Regel identisch mit der Hauptperson des erzählten Prozesses ist; der Ereigniskette, die das gesamte Prozessgeschehen umfasst und in seine einzelnen Phasen zergliedert; der Situationen, die besonders verdichtete Kernpunkte des Prozesses und Höhepunkte in der Erzählung darstellen; sowie der thematischen Gesamtgestalt, die die zentrale Problematik eines Geschehens und ihre Entwicklung in der Sicht der beteiligten Erzählperson repräsentiert und oft als Moral wiedergegeben wird. Diese kognitiven Figuren erzeugen Strukturierungszwänge für die Erzählperson, damit die Erzählungen nicht inkonsistent oder unverständlich werden. Diese Zugzwänge des Erzählens setzen sich aus dem Detaillierungszwang, dem Gestaltschließungszwang und dem Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang zusammen (Kallmeyer/Schütze 1977: 188). Der Detaillierungszwang verlangt von der Erzählperson, dass sie so weit ins Detail geht, dass ihre Geschichte nachvollziehbar wird. Dies beinhaltet die Einhaltung der tatsächlichen Abfolge der Ereignisse, die Verknüpfung zwischen Ereignissen und die Bereitstellung von Hintergrunderzählungen. Der Gestaltschließungszwang fordert von der Erzählperson, »die in der Erzählung darstellungsmäßig begonnenen kognitiven Strukturen abzuschließen« (ebd.). Eine angefangene Geschichte muss also zu Ende erzählt werden. Der Kondensierungsund der Relevanzfestlegungszwang bewirkt, dass andererseits nicht alle Details einer Geschichte erzählt werden können, beziehungsweise nur das erzählt wird, »was an Ereignissen als ›Ereignisknoten‹ innerhalb der zu erzählenden Geschichte relevant ist« (ebd.). Diese vier Zugzwänge des Erzählens bilden die Voraussetzungen für eine Stegreiferzählung, die spontan und somit auch nicht rekonstruierbar ist und aus einer speziellen sozialen Situation heraus entsteht. Die spezifische soziale Situation des Interviews, als mehr oder minder natürliche Kommunikation, und das einmalige Aufeinandertreffen von Interviewtem und Interviewenden bewirkt laut Küsters das besondere Material, das nur ein narratives Interview zu schaffen vermag: »Das vollständige Wirksamwerden aller drei Zugzwänge in Stegreiferzählungen resultiert daraus, dass es sich um eine direkte Interaktion handelt; nur dadurch, dass einem Zuhörer ein Prozessgeschehen nachvollziehbar gemacht werden soll, verstrickt sich der Erzähler vollständig in die Zugzwänge.« (Küsters 2009: 29) Mit der zunehmenden Etablierung des narrativen Interviews seit den 1970er Jahren wurde dieses Erhebungsverfahren insbesondere in der Biografieforschung7 immer beliebter (vgl. ebd.: 187f.), so dass es hier mittlerweile zum Standard gehört. Aus diesem Grund trägt wohl auch der methodologisch zentrale Aufsatz von Fritz

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Für einen umfassenden Einblick in die vielfältigen Forschungsfelder der Biografieforschung siehe Lutz/Schiebel/Tuider (2018).

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Schütze aus dem Jahr 1983 den Titel »Biographieforschung und narratives Interview«. Hier führt er in knapper Weise seine grundlegenden Verfahren des narrativen Interviews und der Narrationsanalyse aus. Als zentrale Aufgabe formuliert er dabei die Suche nach den sogenannten Prozessstrukturen des Lebenslaufs: »Ich möchte die These vertreten, daß es sinnvoll ist, die Frage nach Prozeßstrukturen des individuellen Lebenslaufs zu stellen und davon auszugehen, daß es elementare Formen dieser Prozeßstrukturen gibt, die im Prinzip (wenn auch z.T. nur spurenweise) in allen Lebensläufen anzutreffen sind. Darüber hinaus nehme ich an, daß es systematische Kombinationen derartiger elementarer Prozeßstrukturen gibt, die als Typen von Lebensschicksalen gesellschaftliche Relevanz besitzen.« (Schütze 1983: 284) Um solche übergeordneten Feststellungen treffen zu können, muss zunächst die sequenzielle Struktur der Lebensgeschichte der Biografieträgerin oder des Biografieträgers erarbeitet werden. Und dies benötigt den empirischen Zugriff auf Stegreiferzählungen. Schütze beschreibt drei zentrale Teile eines autobiografischnarrativen Interviews: »Auf eine autobiographisch orientierte Erzählaufforderung (entweder der gesamten Lebensgeschichte, oder der sozialwissenschaftlich besonders interessierenden Phasen der Lebensgeschichte […]) folgt als erster Hauptteil die autobiographische Anfangserzählung, die […] vom Interviewer nicht unterbrochen wird. Erst nachdem eine Erzählkoda (z.B.: »So, das war’s: nicht viel, aber immerhin …«) erfolgt ist, beginnt der interviewende Forscher mit seinen Nachfragen.« (Ebd.: 285) Die Nachfragephase teilt sich klassischerweise in zwei Teile: Zunächst stellt der Interviewende sogenannte »immanente Nachfragen« (Küsters 2009: 61), mit denen er versucht, Wissenslücken zu schließen, Erzählstümpfe zu vervollständigen und Unklarheiten zu beseitigen. Hier gilt jedoch in der Regel, dass auf Fragen, die Argumentationen hervorrufen, verzichtet wird und stattdessen weitere erzählgenerierende Fragen anzuschließen sind. Der zweite Teil der Nachfragephase speist sich aus sogenannten »exmanenten Nachfragen« (ebd.: 63): »Der Interviewer kann nun auch selber Themen ins Interview einbringen und den Erzähler auch zu Beschreibungen und Argumentationen auffordern« (ebd.). Aus dem heutigen Methodenspektrum sind narrative und biografische Verfahren nicht wegzudenken. In starker Anlehnung an Fritz Schütze, jedoch mit der zentralen Unterscheidung zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte, prägt Gabriele Rosenthal die heutige soziologische Biografieforschung. Sie vertritt weiterhin das Credo: »Je niedriger der Grad der Standardisierung, […] umso mehr werden die Befragten ihre Perspektive entfalten können« (Rosenthal 2015: 152). Zentral für Gabriele Rosenthal ist auch das dialektische Verhältnis zwischen Erlebtem, Er-

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innerten und Erzähltem (ebd.: 195ff.)8 . Rosenthal betont, dass sich narrative Interviewverfahren nicht nur für Fragestellungen der Biografieforschung eignen, sondern in vielfältigen Einsatzbereichen die Möglichkeit bieten, »handlungsorientierende Wissensbestände und Einstellungen sowie deren Genese rekonstruieren zu können« (ebd.: 162) – auch bei Interviews mit Expertinnen und Experten. Insbesondere in der Entstehungsphase des narrativen Interviews verfolgte Schütze noch eine Fragestellung, die nicht primär auf die Biografien der Interviewpersonen abzielte. In Rückbezug auf Schützes Studie zu kommunalen Machtstrukturen möchte ich folgend darstellen, warum sich das Vorgehen für meinen Untersuchungsgegenstand eignet und erklären, wie sich daran anpassend der Fokus der Forschungsfragen geschärft hat. In seiner Gebietsreformstudie entwickelte Schütze ein Forschungsprogramm, das viele Überschneidungen mit meiner Studie hat: Es geht bei Schütze um eine Krise, nämlich der Zusammenlegung von Gemeinden, als makrostruktureller Faktor und um die Frage, wie sich »eine derartige Krise auf der Erlebnis- und Handlungsebene der von ihr betroffenen Menschen abbildet« (Schütze 1976: 162). Schütze geht von der damals nicht unumstrittenen Annahme aus, dass makrostrukturelle Faktoren »gerade auf der Interaktionsebene empirisch angehbar« sind (ebd.: 171). Man kann die in Kapitel zwei beschriebene Stadterneuerung Istanbuls entsprechend als soziale Krise ansehen, da sie bestehende Lebensrealitäten herausfordert, gefährdet und potenziell sogar zerstört. Fritz Schütze legt zwei Hauptbedingungen für eine soziale Krise fest: »Erzählungen eigenerlebter Geschichten können im Rahmen von Krisenforschungen dann in einem auch anspruchsvolleren Sinne inhaltlich analysiert werden, wenn die thematisierte Krise eine soziale Krise im strengeren Sinne des Wortes darstellt. Eine Krise im strengen Sinne des Wortes muß zwei Hauptbedingungen erfüllen: (a)Sie muß ein akuter, sich in sozialen Ereignissen niederschlagender Gefahrenzustand sein, der den Bestand bzw. die Identität der gesellschaftlichen Einheit, die von der Krise befallen ist, bedroht. […] (b) Krisen dürfen nicht ausschließlich als punktuelle Vorgänge betrachtet werden, welche die Identität sozialer Einheiten gefährden. Krisen sind systematische Zustände von wir- bzw. ich-konstituierten sozialen Einheiten.« (Ebd.: 204ff.) Es stellt sich also für Schütze die Frage, wie die Krise und die durch sie geschaffenen Bedingungen die Handlungskapazität der von ihr Betroffenen determinieren (siehe auch Heiser 2018). An diesem Punkt möchte ich betonen, dass im empirischen Material Stadterneuerung und Raumtransformation nicht immer als Krise

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Ich komme in Kapitel 5.2 noch einmal darauf zurück.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

angesehen wird. Wir werden sehen, dass es durchaus auch opportunistische Haltungen gibt. Nichtsdestotrotz kann Stadterneuerung als etwas definiert werden, das die Identität der gesellschaftlichen Einheit bedroht und sich als systematischer Zustand konstituiert. Wenn man nicht den Begriff der Krise bemühen möchte, könnte man auch von kollektiven Rahmenbedingungen und ihrer Interrelation mit dem individuellen Erleben im Sinne der Biografieforschung sprechen (Rosenthal 2016: 15). Es wird in diesem Sinne danach gefragt, wie sich der »kollektiv- und lebensgeschichtliche Verlauf, der zu einer bestimmten lebensgeschichtlichen Konstellation, zu einer bestimmten Aktivität oder einer bestimmten Einstellung oder zu spezifischen Deutungsmustern führte« (ebd.: 17) gestaltet hat. Ferner geht es darum, »Lebensgeschichten ›als einen Mikroprozess‹ zu erkennen, der in einem ›Makroprozess‹ des gesellschaftlichen Wandels eingebettet ist« (ebd.).

3.3.2

Narrationsanalyse, Fallrekonstruktion und Typenbildung

Die Vorgehensweise einer Narrationsanalyse verlangt, dass zunächst der gesamte Fall9 rekonstruiert wird und nicht nur ausschnitthaft als interessant anmutende Textpassagen ausgewählt werden (Küsters 2009: 76). Schütze schlägt für dieses Vorgehen vier Arbeitsschritte vor: 1. formale Textanalyse, 2. strukturelle inhaltliche Beschreibung, 3. analytische Abstraktion und 4. Wissensanalyse (Schütze 1983). Erst wenn die Fälle vollständig rekonstruiert wurden, folgt ein kontrastiver Vergleich (5.) und die Konstruktion des theoretischen Modells (6.). Ich stelle nun im Folgenden zunächst die klassischen Schritte der Narrationsanalyse vor, um anschließend auf die Logik der Fallrekonstruktion und ihre möglichen Erkenntnisgewinne einzugehen. Der erste Schritt ist eine formale Textanalyse, die darin besteht, »zunächst einmal alle nicht-narrativen Textpassagen zu eliminieren und sodann den ›bereinigten‹ Erzähltext auf seine formalen Abschnitte hin zu segmentieren« (Schütze 1983: 286). Auf den vielgeäußerten Vorwurf er würde »die Bedeutung von argumentativen oder abstrakt beschreibenden Textstücken in autobiographisch-narrativen Interviews für die analytische Rekonstruktion von biographischer Entfaltung und biographischer Arbeit für unwichtig halten« (Schütze 2016: 66), reagierte Schütze in der Neuauflage seines Aufsatzes »Biographieforschung und narratives Interview« in 2016 mit einer ausführlichen Erklärung. Im Endeffekt, so betont er, diene die formale Textanalyse dazu, die dominanten Textsorten, wie Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen, im Interviewtext zu identifizieren, um dem Forschenden direkt vor Augen zu führen »wo das Erzählschema vom Interviewten zeitweilig unterbrochen wurde« (ebd.: 68): 9

In der vorliegenden Arbeit behandelt ein Fall eine konkrete Biografie.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

»An all diesen Unterbrechungsstellen seiner Darstellung und des gleichzeitigen Erinnerungsvorgangs bedarf es für den Informanten bzw. die Informantin eines ganz besonderen Darstellungsaufwandes, weil es in der nachträglichen Erinnerung – und z.T. auch im entsprechenden damaligen lebensgeschichtlichen Abschnitt selbst – um zeitweilige dominante Distanzhaltungen (als Hierarch, Institutionenvertreter oder Experte) und um entsprechende Versuche des Einklammerns der eigenen Lebensgeschichte oder aber um schwierige Erfahrungen, Fehlleistungen und biographische Verarbeitungsprozesse als persönlich involvierte Biographieträger geht.« (Ebd.) Worum es Schütze jedoch nicht geht, ist die unabhängige Analyse der beschreibenden und argumentativen Passagen von den Erzählpassagen. Darüber hinaus stellt er heraus, dass die missverständliche Darstellung sich auch in seiner Forschungspraxis nie so widerspiegelte: »Ich habe schon sehr früh Argumentationen im Vollzuge des Arbeitsgangs der strukturellen Beschreibung durchlaufend gleich mit-analysiert und das auch immer wieder in unserer Forschungswerkstatt aufgezeigt« (Schütze 2016: 72). Die Bestätigung der großen Bedeutung von argumentativen Darstellungsstücken ist für die Auseinandersetzung mit meinen eigenen geführten Interviews besonders wichtig, da das hier ausgewertete Material oftmals von Argumentationen und Beschreibungen dominiert wird. Der zweite Schritt der Narrationsanalyse beinhaltet die Durchführung einer »strukturellen Beschreibung des gesamten Erzähltextes (einschließlich seiner deskriptiven und argumentativen Passagen im ersten vorläufigen Durchgangsmodus)« (Schütze 2016: 70). An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass nicht unterschätzt werden darf, welche inhaltsanalytische Funktion dieses erste Beschreiben und Aufbrechen des Materials hat. Die Sinnhaftigkeit dieses Schrittes wird in den später folgenden Portraitkapiteln deutlich werden. In jedem Fall lohnt es sich, diese vermeintlich stupide und mühselige Arbeit zu leisten. Genauso wie es sich lohnt, einige Textpassagen einer Feinanalyse zu unterziehen, sollte man diesen Analyseschritt nutzen, um sich das Interview in seiner Ganzheit und sukzessiven Aufschichtung zugänglich zu machen. Bei der strukturellen Beschreibung geht es außerdem darum, bereits die »einzelnen zeitlich begrenzten Prozeßstrukturen des Lebensablaufs« (Schütze 1983: 286) herauszuarbeiten. Schütze beschreibt vier Prozessstrukturen: die Verlaufskurve, das biografische Handlungsschema, das institutionelle Ablaufmuster und den biografischen Wandlungsprozess. Die Verlaufskurve ist wohl die bekannteste Prozessstruktur, mit der Schütze sich befasst. Im Prinzip kehrt er mit seinen Arbeiten zur Verlaufskurve auf seine leitende Forschungsfrage aus der Gebietsreformstudie zurück: Verlaufskurven stehen »für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz« (ebd.: 288). Auch wenn Schütze von »Prozessen des Erleidens«

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

(ebd.) spricht, so darf die Verlaufskurve nicht als rein negativ zu interpretierender Erlebensprozess verstanden werden. Schütze unterscheidet nämlich zwischen Fallkurven, welche den Möglichkeitsspielraum der Erzählperson einschränken, und Steigkurven, welche »neue Möglichkeitsräume für Handlungsaktivitäten und Identitätsentfaltungen« (ebd.) eröffnen. Neben den Verlaufskurven hat Schütze das biografische Handlungsschema herausgearbeitet, welches für das »intentionale Prinzip des Lebensablaufs« (Schütze 1983: 288) oder anders formuliert für die »Entwicklung und Verfolgung von Handlungsplänen« (Küsters 2009: 242) steht. Biografische Handlungsmuster spielen insbesondere in den Lebensabläufen von sich selbstverwirklichenden Personen eine Rolle, die sich abseits von institutionalisierten Vorgaben und Erwartungen orientieren und somit eigenmächtig auf ein gesetztes Ziel hinsteuern (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013: 70ff.). Darüber hinaus beschreibt Schütze das institutionelle Erwartungs- beziehungsweise Ablaufmuster als normativ-versachlichtes Prinzip des Lebensablaufs, das im Rahmen einer »den Lebensabschnitt strukturierenden Institution« (ebd.: 69) stattfindet. Das Individuum muss sich dabei nicht nur der Institution überantworten, sondern es muss sich auch an die herrschenden Normen beziehungsweise an die Normalabläufe anpassen. Würde es damit brechen, um andere Ziele zu verfolgen, so würde man wiederum von einem biografischen Handlungsmuster sprechen. Eine letzte Prozessstruktur des Lebensablaufs, die Schütze beschreibt, ist der biografische Wandlungsprozess, welcher sich oft an eine negative Verlaufskurve anschließt. Ein Wandlungsprozess kann sich ganz überraschend für das Individuum einstellen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 242) und stellt eine Art Übergangsphase dar, »in der das Subjekt aufgrund von Veränderungen der Handlungsmöglichkeiten bzw. der eigenen Wahrnehmungen und Orientierungen biografische Handlungsfähigkeit wiedergewinnt« (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013: 73). Ich komme nun zu den einzelnen Schritten der Narrationsanalyse zurück. Nachdem im Rahmen der strukturellen Beschreibung bereits zeitlich begrenzte Prozessstrukturen erarbeitet werden, folgt im dritten Schritt die analytische Abstraktion. Das heißt, dass die Erstellung einer biografischen Gesamtformung angestrebt wird, »welche die Abfolge und Koexistenz (Konkurrenz, Komplementarität bzw. Dominanz oder auch Unterordnung) der Prozessstrukturen des Lebenslaufs festhält« (Schütze 2016: 70). Die bearbeiteten Segmente werden also gewissermaßen miteinander verknüpft und in Beziehung gesetzt. Außerdem bemüht sich der Forschende nun, sich von den Details der ursprünglichen Erzählung zu lösen, um zu einer abstrakten Gesamtformung zu kommen – im besten Fall kann er eine dominante Prozessstruktur des gesamten biografischen Verlaufs ausfindig machen (Küsters 2009: 82). Dies ist aber nicht zwingend. Frank

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Kleemann, Uwe Krähnke und Ingo Matuschek argumentieren sogar, dass die vier Prozessstrukturen als Idealtypen und damit als heuristisches Instrument betrachtet werden sollten (Kleemann/Krähnke/Matuschek 2013: 72) und dass das Ziel sei, auf ihnen aufbauend die »spezifische Qualität und Verlaufslogik einzelner biographischer Sequenzen inhaltlich möglichst genau zu bestimmen« (ebd.). Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr heben darüber hinaus hervor, dass es nach Schützes Verständnis bei den Prozessstrukturen nicht nur um äußere Verläufe ginge, sondern auch »immer um die Art der Haltung gegenüber lebensgeschichtlichen Erlebnissen« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 243). Der vierte und letzte Schritt im Rahmen der Fallrekonstruktion ist die Wissensanalyse. Schütze argumentiert ursprünglich, dass erst zu diesem Zeitpunkt die »eigentheoretischen, argumentativen Einlassungen des Informanten zu seiner Lebensgeschichte und zu seiner Identität« (Schütze 1983: 286) interpretiert werden können. Küsters fügt allerdings an, dass dieser Analyseschritt nicht in allen Forschungen, die sich an Schützes Ausarbeitungen orientieren, vollzogen wird (Küsters 2009: 82). Für meine Arbeit muss ich an diesem Punkt anmerken, dass die nicht-narrativen Passagen eine so große Rolle spielen, dass sie bereits bei der strukturellen Beschreibung mit Beachtung finden und nicht erst, wie von Schütze gefordert, zum Schluss herangezogen werden. Stattdessen habe ich mich dafür entschieden, in der Fallrekonstruktion jeweils in den einleitenden Abschnitten die narrativen Passagen, beziehungsweise die sonstigen Kenntnisse zum Lebensablauf, selbst auszuformulieren und sie gewissermaßen als Zusammenfassung des Lebensablaufs zu präsentieren. Darüber hinaus habe ich mich aus Gründen der besseren Les- und Nachvollziehbarkeit dazu entschieden, nur einen der Fälle detailliert in der sequenziellen Rekonstruktion darzustellen. Die anderen Fälle des Samples wurden zwar genauso bearbeitet, jedoch konzentriere ich mich in der finalen Darstellung auf die thematischen Felder, die sich im Rahmen der Rekonstruktion ergeben haben. Die thematische Feldanalyse geht auf Rosenthal zurück, die sie im Zuge der Auseinandersetzung mit Aron Gurwitschs Gestalttheorie für die Biografieforschung entwickelte (vgl. Rosenthal 2015: 195ff.). Rosenthal versucht damit, dem dialektischen Verhältnis zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen auf den Grund zu gehen. So sind erinnerte Erlebnisse immer in ein thematisches Feld eingebettet, was sich über den Lebensverlauf ändern kann. Rosenthal zieht hier das Beispiel einer MultiplenSklerose-Diagnose heran und wie diese die Einbettung bestimmter Erlebnisse verändert: »Plötzlich sehe ich zurückliegende Alltagssituationen, in denen mir etwas aus der Hand fiel, nicht mehr als kleine Ungeschicklichkeit an, sondern als erstes Anzeichen meiner Krankheit. Ich bette diese Erlebnisse in einen anderen Sinnzusammenhang ein und damit sind andere Erlebnisse als zuvor kopräsent. Das Thema

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

des Erlebens hat sich verändert und damit – wie Gurwitsch es formuliert – auch das thematische Feld. Das Erlebnis ist nicht mehr eingebettet in das thematische Feld ›Ungeschicklichkeiten‹, sondern in das Feld ›Symptome meiner Krankheit‹.« (Ebd.: 195, Herv. i.O.) Die thematische Feldanalyse zielt darauf ab, die Beziehungszusammenhänge der einzelnen Teile herauszustellen. Dabei werden die Themen vor allem davon beeinflusst, was gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit der Interviewperson steht und das thematische Feld ergibt sich aus den entsprechenden kopräsenten Gegebenheiten. Rosenthal schreibt dazu: »Das thematische Feld ist nun keine beliebige Anhäufung von Beständen, sondern diese sind in einer bestimmten Anordnung gegeben und stehen in einer sachlichen Beziehung zum Thema. Die Verbindung der Themen ist eine Gestaltverbindung. Diese bedeutet: Das Feld bestimmt das Thema und das Thema das Feld.« (Ebd.: 214) In den jeweiligen Portraitkapiteln habe ich mich jedoch nicht für die Bezeichnung thematisches Feld, sondern für die Bezeichnung biografischer Erfahrungsraum entschieden, da er die räumlichen Bezüge, die für diese Untersuchung so zentral sind, besser begreifen kann. In diesem Sinne zeigen die Portraitkapitel in illustrativer Weise, welche räumlichen Bedingungen und Erfahrungen im Umgang mit Raumtransformationsprozessen bedeutsam sind. Die Analysearbeit ist freilich nicht mit der Arbeit am Einzelfall abgeschlossen, auch wenn die Arbeit am Einzelfall die unabdingbare Voraussetzung für die daran anschließende Theorieentwicklung darstellt. Schütze schlägt in einem fünften Analyseschritt vor zunächst kontrastive Vergleiche unterschiedlicher Fälle vorzunehmen. Die Auswahl der hinzugezogenen Fälle ist dabei vom Untersuchungsgegenstand abhängig und erfolgt in der Regel nach einem theoretischen Sampling (Rosenthal 2015: 99ff.) sowie den Strategien des minimalen und des maximalen Vergleichs. Ein minimaler Vergleich bedeutet, Interviewtexte auszuwählen »die hinsichtlich des interessierenden Phänomens gegenüber dem Ursprungstext Ähnlichkeiten aufweisen« (Schütze 1983: 287f.). Im Rahmen eines maximalen Vergleichs zieht die Forscherin oder der Forscher Interviewtexte maximaler Verschiedenheit zum Ausgangstext heran (ebd.). Hier zeigt sich auch wieder der große Einfluss, den die Grounded Theory auf das Verfahren genommen hat. Denn Barney Glaser und Anselm Strauss arbeiteten bereits in ihrer ersten Studie »Awareness of Dying«, in welcher sie die Grounded Theory als Forschungsprogramm entdeckten, die Vorteile von minimalen und maximalen Vergleichen heraus (Glaser/Strauss 2009 [1965]). Die durch die kontrastiven Vergleiche erarbeiteten »Kategorien von Interesse« (Schütze 1983: 288) werden in einem abschließenden Analyseschritt systematisch aufeinander bezogen. Auf diese Weise gelangt man zum theoretischen Modell. Was

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

dieses Modell in Bezug zur Biografieforschung ausmachen kann, beschreibt Schütze wie folgt: »Am Ende der theoretischen Auswertung stehen Prozeßmodelle spezifischer Arten von Lebensabläufen, ihrer Phasen, Bedingungen und Problembereiche, wenn besondere Betroffenengruppen (wie Heimjugendliche, Karrierefrauen, Spitzenmanager oder Obdachlose) auf ihre lebensgeschichtlichen Chancen und Konditionen hin erforscht werden sollen, oder auch Prozeßmodelle einzelner grundlegender Phasen und Bausteine von Lebensabläufen generell oder der Konstitutionsbedingungen und des Aufbaus der biographischen Gesamtformung insgesamt.« (Ebd.) Neben diesen sehr stark an biografischen Verläufen, ihren Formen und Ausprägungen orientierten Ergebnissen einer fallvergleichenden Analyse kann ebenso die Erarbeitung von verschiedenen Typen als Ziel angestrebt werden. Die Bildung von Typen ist besonders sinnvoll, wenn es um die Fragestellung nach dem Einfluss eines makrostrukturellen Faktors beziehungsweise einer übergeordneten Krise auf die Erlebnis- und Handlungsebene der von ihr betroffenen Menschen geht. Denn durch die Erarbeitung von Typen kann die theoretische Varianz des Erlebens aufgezeigt werden. Dabei löst sich der Typus vom einzelnen Fall. Ein Typus umfasst alle gleichartigen Fälle – unabhängig von der tatsächlichen Anzahl ihres Auftretens. Es handelt sich also um ein heuristisches Modell, das durch die theoretische Verallgemeinerung an Einzelfällen entsteht (Rosenthal 2015: 198). Rosenthal schreibt an anderer Stelle dazu: »Mit der Rekonstruktion von einzelnen Fällen und den daraus folgenden theoretischen Verallgemeinerungen und Typenbildungen sind keine Aussagen über Verteilung oder über Häufigkeit des gemeinsamen Auftretens von sozialen Phänomenen möglich. Was wir allerdings können, ist […] etwas über die Wirkmächtigkeit von bestimmten Phänomenen, wie z.B. von herrschenden Diskursen (etwa über Migrationsgründe) sagen.« (Rosenthal 2016: 7) Fallrekonstruktionen sind nicht auf ihre fallimmanenten Besonderheiten reduziert, sondern zeigen auch »Gesellschaftliches in seiner Entstehung und Veränderung im Handlungsvollzug« (ebd.: 14, Herv. i.O.) auf. Das liegt insbesondere an dem Material, das für die Analyse verwendet wird: Narrative (biografische) Interviews. Die im Interview hervorgebrachte Erlebnisaufschichtung, der Rückblick auf die eigene Vergangenheit, entsteht immer aus der »Dialektik zwischen dem individuellen und dem kollektiven Sozialen« (ebd., Herv. i.O.), die sich beide gegenseitig konstituieren und bedingen. In der theoretischen Auswertung meiner erhobenen Daten kommt sowohl die Erarbeitung eines Prozessmodells sowie die Typenbildung zum Tragen. Aufbauend auf den Fallrekonstruktionen und kontrastiven Vergleichen leite ich in Kapitel

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

5. ein Ablaufmodell zum Umgang mit rapider Raumtransformation her. Anschließend beschreibe ich in Kapitel 6. verschiedene Raumtypen, die im biografischen Verlauf konstituiert werden. Im Kontext dieser theoretischen Erkenntnisse zeigt sich nicht nur die gerade beschriebene Dialektik zwischen dem individuellen und dem kollektiven Sozialen, sondern auch zwischen dem biografischen Erleben und der Konstitution von Räumen. Um die Reichweite dieser theoretischen Verallgemeinerungen zu vermitteln, stelle ich im Folgenden das Sample der Studie ausführlich vor.

3.4

Sample der Studie

Das in dieser Studie verwendete Sample wurde im Frühjahr 2017 erhoben. Im Rahmen der Feldforschung versuchte ich zwar den Anforderungen eines theoretischen Samplings10 gerecht zu werden, kam aber nicht umher insbesondere in der Anfangsphase auch selektiv in der Samplingstrategie vorzugehen. In meiner zeitlich begrenzten Feldforschung war es mir nicht möglich, die Erhebung gänzlich vom Theoriebildungsprozess bestimmen zu lassen, also erhob ich gewissermaßen »Daten auf Vorrat« (Strübing 2014: 30). Laut Jörg Strübing steht diese Einschränkung aber dem theoretischen Sampling nicht entgegen und die Daten können in der Auswertung je nach Theoriefortschritt in geeigneter Weise einbezogen werden (ebd). Bezüglich der Fallauswahl möchte ich an dieser Stelle noch ein paar weitere Dinge anmerken, um den Gütekriterien der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit und der persönlichen Reflexion (Steinke 2017) gerecht zu werden. Der Zeitpunkt der Feldforschung (Februar bis April 2017) war durch politische Unruhen und Unsicherheiten geprägt. Die Türkei befand sich seit dem Putschversuch vom Juli 2016 noch im Ausnahmezustand. Das Referendum über die Einführung des Präsidialsystems stand kurz bevor. Seit dem Aufruf und der Petition der »Akademiker*innen für den Frieden« im Januar 2016 geriet das akademische System der Türkei immer mehr unter Beschuss: »498 Personen verloren ihre Arbeitsplätze, viele wurden Disziplinarverfahren ihrer Universitäten ausgesetzt, 70 wurden in Untersuchungshaft genommen. Vier Friedensakademiker*innen, die die Petition öffentlich vorgelesen hatten, wurden

10

Ein theoretisches Sampling antwortet auf die Anforderung, dass die ausgewählte Stichprobe ein Abbild der theoretisch relevanten Kategorien darstellt (vgl. Rosenthal 2015: 89ff.). Natürlich besteht hier die Schwierigkeit vorab zu definieren, welche Fälle sich im Laufe der Forschung als theoretisch relevant erweisen werden. Dies kann außerhalb des vorab formulierten Wissens der Forscherin oder des Forschers liegen. Gleichzeitig geht es darum, bereits gewonnene Erkenntnisse wieder in die Forschungspraxis zurück fließen zu lassen und die Fälle sukzessive auszuwählen, um eben eine theoriegeleitete Auswahl zu gewährleisten.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

exemplarisch für 44 Tage verhaftet, ins Gefängnis geschickt sowie auf schwarze Listen gesetzt […] Mit Gesetzesdekreten (KHK) im Ausnahmezustand nach dem Putsch wurden 5882 Akademiker*innen entlassen, davon 389 Friedensakademiker*innen. Wer per Gesetzesdekret entlassen wurde, dessen Pass wurde auch beschlagnahmt.« (Odman 2018: 97) Ich konnte für mich persönlich keine dieser Gefahren identifizieren, jedoch hinterließ diese forschungsfeindliche Stimmung große Vorbehalte in meiner Forschungsplanung. Deshalb verzichtete ich auf öffentliche Ausschreibungen, um ein mangelndes Vertrauensverhältnis bereits im Voraus zu umgehen. Ich verließ mich stattdessen auf meine persönlichen und fachlichen Kontakte und stellte über diese Kanäle das im Folgenden dargestellte Sample zusammen. Bei jeder Kontaktaufnahme stand eine Mittlerperson im Zentrum, die mich und die Interviewperson kannte. Bei manchen Interviews war diese Mittlerperson auch anwesend. Im Kontext der politischen Situation wertete ich dies allerdings nicht als Schwäche, sondern als Stärke. Denn die persönlichen Beziehungen und der mit ihnen verbundene Vertrauensvorschuss seitens der Interviewpersonen bedeuteten für mich vertrauensvolle Gespräche. Dass dies nicht nur eine Vorannahme war, bestätigte sich in den jeweiligen Situationen. Ines Steinke spricht in diesem Zusammenhang von einem »Arbeitsbündnis zwischen Forscher und untersuchter Person« (Steinke 2017: 320), welches von »Offenheit, Vertrauen, Arbeitsbereitschaft und einem möglichst geringen Machtgefälle zwischen Forscher und Informant gekennzeichnet sein [soll]« (ebd.). Trotz der schwierigen Lage kann ich aus heutiger Perspektive überzeugt sagen, dass mir das in den hier herangezogenen Fällen gelungen ist. Das Sample erfolgte in seiner Initialphase vor allem selektiv. Die in 2017 erhobenen Interviews wurden nach relativ manifesten Parametern ausgewählt. Um auf dieser Basis kontrastive Vergleiche auf minimaler sowie maximaler Ebene ziehen zu können, achtete ich bei der Personenauswahl auf folgende Gemeinsamkeiten, die ich weiter unten noch weiter ausführen werde: Bildung, Berufsgruppe, Alterskohorte, Einkommen, urbaner Migrationshintergrund. Außerdem achtete ich auf folgende Unterschiede: Nachbarschaft, Siedlungsstruktur, Familienstatus, Glaubenssystem, Herkunft und Ankunftszeitpunkt. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten stellten ein universitärer Bildungsabschluss, ein geregeltes mittleres bis mittelhohes Einkommen und ein ähnlicher urbaner (interner) Migrationshintergrund (erste bis dritte Generation) dar. Aufgrund dieser Auswahl, verteilte sich das Sample rein geographisch betrachtet über fast die gesamte Stadt, wie Abbildung 2 zeigt. Zu diesem Zeitpunkt der Erhebung konnte ich nicht vorhersagen, ob sich diese manifesten Parameter auch theoretisch bestätigen würden. Insbesondere in Bezug auf die gezogenen Unterschiede (wie beispielsweise die Siedlungsstruktur) ist dies auch nicht der Fall gewesen. Im Endeffekt zeigte sich jedoch im Zuge der Aus-

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Abbildung 2 – Forschungsorte, Karte

© OpenStreetMap, eigene Bearbeitung

wertung, bei der ein theoretisches Sampling stärker zum Tragen kam, dass es mir durchaus gelungen war, große theoretische Varianz innerhalb einer definierbaren sozialen Einheit zu erlangen. Die folgende Tabelle bietet zur besseren Orientierung einen Überblick des zentralen Samples. Bestimmte Daten wurden darin aufgrund des Personenschutzes maskiert. So habe ich die Herkunft (der Familie) nur bezüglich ihrer Regionen angegeben und die Personennamen komplett geändert. Um eine angenehme Lesbarkeit zu gewährleisten, habe ich Pseudonyme an ihre Stelle gesetzt. Die derzeitigen Wohnorte habe ich gänzlich anonymisiert (beispielsweise mit »A-Köy«, »B-Köy« und so weiter), teilweise ist nur zu erkennen, auf welcher Seite des Bosporus die jeweiligen Personen wohnen. Einen kurzen Überblick über die verschiedenen Fälle bietet die Tabelle auf der folgenden Seite. Sie kann darüber hinaus als Gedächtnisstütze dienen, um die weiter hinten zitierten Passagen der einzelnen Interviews besser zuordnen zu können. Ich möchte an dieser Stelle auf die wichtigsten Parameter näher eingehen, um ihre theoretische Relevanz besser zu beleuchten. Die Auswahl der Alterskohorte der Mittdreißiger bis Mittvierziger war von Bedeutung, da sie zum einen Istanbul aus ihrer Kindheit kannten und sie zum anderen von den (infrastrukturellen) Vorzüge des heutigen Istanbuls profitieren – sei es bewusst oder unbewusst. Ihre Familien haben im Zuge der Urbanisierung und Stadterneuerung in der Regel an sozialem, kulturellem und finanziellem Status dazugewonnen, auch wenn dieser Gewinn mit einer Diffusion der alltäglichen Solidaritätsstrukturen einherging. Man könnte sie als Urbanisierungsgewinnerinnen und -gewinner bezeichnen, ohne dass sie sich

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Beruf

Praktizierender Zahnmediziner

Bankangestellte

Universitätsprofessorin

Autorin

Angestellte (Privatwirtschaft)

Universitätslehrer

Leitender Angestellter (Privatwirtschaft)

Selbstständiger (Tourismussektor)

Angestellte (Bildungsbereich)

Jurist

Leitende Angestellte (Privatwirtschaft)

Name / Geschlecht  / Alter

Çağrı / m / 40

Çiğdem / w / 36

Emine / w / 45

Leyla / w / 38

Nuran / w / 35

Serdar / m / 45

Süleyman / m / 44

Tolga / m / 40

Vildan / w / 38

Yunus / m / 38

Zehra / w / 45

Tabelle 1 – Untersuchungssample

geschieden, 1 Tochter

Single

verheiratet

Single, alleinlebend

Verheiratet, 2 Kinder

verheiratet

Single, lebt mit Eltern

Single, lebt mit Mutter

verheiratet, 1 Kind

verheiratet, schwanger

Single

Familienstand

Ostanatolien

Zypern

Marmara-Region

Südostanatolien

Schwarzmeerregion

Ostanatolien

Ostanatolien

Zentralanatolien

Zentralanatolien

Ostanatolien

-

Familienherkunft

1960er

1996

1980er

1997

1950er

1950er

1980er

1960er

1960er

1980er

-

Ankunft Istanbul

Apartmenthaus, 10 Stockwerke, freistehend, ca. 35 Parteien, BJ. 2010er

Apartmenthaus, 5 Stockwerke, in Reihe, ca. 10 Parteien, BJ 1970er Jahre

Apartmenthaus, 6 Stockwerke, in Reihe, ca. 12 Parteien, BJ. 1980er

Apartmenthaus, 6 Stockwerke, freistehend, 12 Parteien, BJ. 1990er

Apartmenthaus, 4 Stockwerke, freistehend, ca. 6 Parteien, BJ. 2000er

Apartmenthaus, 6 Stockwerke, in Reihe, ca. 12 Parteien, BJ. 1980er

Mittelschichts-Site, Wohnblöcke bis zu 16 Stockwerke, ca. 4.000 Wohnungen, BJ. 1990er

kleines, historisches Haus (2 Stockwerke) in Reihe, BJ. unbekannt

gehobene Site, Wohnblöcke bis zu 12 Stockwerke, ca. 1.000 Wohnungen, BJ. 2012

Apartmenthaus, 5 Stockwerke, in Reihe, wenig Parteien, yap-sat, BJ. 2000er

Gehobene Site mit Shoppingmall, Wohnblöcke bis zu 25 Stockwerke, ca. 2.000 Wohnungen, BJ. 2015

Siedlungsstruktur

76 Das Fremdwerden der eigenen Stadt

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

selbst als solche sehen müssen. In diesem Sinne finde ich die Frage nach dem Erleben der Krise der Stadterneuerung besonders interessant. Die Interviewpartnerinnen und -partner unterschieden in der Regel oft zwischen dem alten und dem neuen Istanbul – mit gemischten Bewertungen. Auch wenn sich ein davor und ein danach nicht trennscharf abgrenzen lassen, so scheinen sie alle dieses Erleben zu teilen. Dies wird besonders manifest, wenn sie die Vor- und Nachteile des neuen sowie des alten Istanbuls in Bezug auf ihre eigenen Kinder beurteilen. So war es für das Sample nicht nur wichtig, Interviewpersonen mit und ohne Kinder, sondern auch Mütter und Väter zu befragen. Darüber hinaus wurden vergleichsweise viele Singles interviewt, deren Anzahl als Teil eines urbanen Phänomens gestiegen ist11 (Konda 2018). Gleichzeitig ist aber auch das durchschnittliche Heiratsalter gestiegen, weshalb die hier interviewten Alleinstehende durchaus noch die Perspektive einer möglichen Heirat vor Augen haben (ebd.). Um den Ortsbezug der Interviewten näher analysieren zu können, war es für die Vielfalt des Samples wichtig Personen aufzunehmen, die erst im Erwachsenenalter hinzugezogen sind. Diese legen zwar wenig Vergangenheitsbezug zur Stadt an den Tag, zeigen aber durch ihre geschilderten Erfahrungen und Zukunftserwartungen was sie sich von einem Umzug in die Großstadt versprachen. Neben dem Alter war auch die Bildung sowie die finanzielle und berufliche Absicherung der Interviewten ein Selektionskriterium. Dies bedeutete zum einen, dass sie in der Lage waren eine eigenständige Erzählung aufzubauen und zum anderen, dass man es ihnen gewissermaßen auch zumuten konnte ein narratives Interview zu geben. Damit meine ich, dass sie genügend Zeit und auch die Ressourcen hatten, um sich mit mir zu treffen und mir einen beachtlichen Teil ihrer Tageszeit zu widmen. Gleichzeitig deutet diese Tatsache darauf hin, dass sie zu dem mittlerweile privilegierten und etablierten Teil der Istanbuler Bevölkerung zählten und somit für eine bestimmte soziale Gruppe sprachen. Von großer Bedeutung war dabei, dass es sich um eine heterogene Gruppe handelte, die sich zwar sozialstrukturell durch bestimmte Merkmale auszeichnete, in sich aber sehr unterschiedlich war. Wie bereits formuliert bedeutet das Kriterium des Einkommens keine automatische Distinktion mehr. Kulturelle Gemeinsamkeiten und eine geteilte Herkunft stellen heute keine hinreichende Bedingung für eine soziale Nachbarschaft mehr dar, wie es noch in der Anfangszeit für viele urbane Siedlerinnen und Siedler der Fall gewesen ist. Besonders bezeichnend hierfür finde ich die Aussage von Emine, eine meiner Interviewpartnerinnen: »Only because they have money to live here, doesn’t mean they are also good people« (Beobachtungsprotokoll Emine). Zwar lebt man ökonomisch betrachtet unter seinesgleichen, jedoch scheinen soziale und kulturelle Unterschiede dabei stärker zum Tragen zu kommen. Nachbarschaftskonflikte entscheiden sich nicht an Ressourcenfragen, son11

von 15 % im Jahr 2008 auf 21 % im Jahr 2018 (Konda 2018)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

dern an (alltags-)kulturellen Problemen, wie dem des gegenseitigen Umgangs oder der geeigneten Kindererziehung. Es handelt sich hier also um eine Statusgruppe die intern sehr gespalten und divers ist. Es geht mir in der vorliegenden Arbeit also auch darum, diese – mehr oder weniger feinen – Unterschiede herauszustellen.

3.5

Beobachtungen, Interviewkritik und Mehrsprachigkeit

Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr konstatieren in ihrem umfangreichen Arbeitsbuch über Qualitative Sozialforschung: »Qualitative Forschung ist Feldforschung!« (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 39). Somit sind auch die von mir geführten Interviews in eine Feldforschung eingebettet, in deren Rahmen ich unterschiedlichstes Datenmaterial erhoben habe – auch wenn den geführten Interviews eine besonders wichtige Rolle zuteilwird. In Kapitel 3.2 habe ich deshalb die unterschiedlichen Schritte, die ich im Rahmen meiner Feldforschung absolviert habe, dargestellt. Ich schrieb während des gesamten Zeitraums Forschungstagebuch, sammelte Beobachtungen, Anekdoten und Memos. Diese dienten vor allem dazu, mein Forschungsvorhaben weiter voranzutreiben und zu konkretisieren. An dieser Stelle möchte ich etwas genauer auf die Beobachtungen eingehen, die ich vor, während und nach den Interviews im Rahmen meiner Besuche bei den Interviewpersonen machte. An einigen Stellen dieser Arbeit zitiere ich aus den angefertigten Beobachtungsprotokollen, da sie eine wichtige Bereicherung des Interviewmaterials darstellen. Die Beobachtungsprotokolle dienten nicht nur dazu, die Interviewatmosphäre, die personalen Beziehung zwischen Interviewerin und der Erzählperson und Besonderheiten im Ablauf des Interviews (Helfferich 2011: 194) festzuhalten, sondern auch dazu, die sozialräumlichen Interaktionen der Untersuchungspersonen niederzuschreiben. Es liegt auf der Hand, dass meine Beobachtungen nicht im Sinne einer klassischen ethnografischen, teilnehmenden Beobachtung betrachtet werden können. Die vielen Beobachtungsnotizen, die ich mir machte, dienten aber in jedem Fall als Substitut und Ergänzung zur Aufzeichnung der Interviews: »Notizen sind daher in den meisten Ethnografien immer wieder Substitute für die technische Aufzeichnung, da wo diese keinen Zugang findet oder die Situation zerstören würde. Zweitens bieten Notizen notwendige Ergänzungen von Aufzeichnungen: Akustische Aufzeichnungen werden durch Beschreibungen nonverbaler Ereignisse ergänzt, der auf einen Fokus fixierte Blick der Kamera durch Kontextbeobachtungen im Raum.« (Breidenstein et al. 2015: 86, Herv. i.O.) Die geführten Interviews in den oben aufgelisteten elf Fällen wurden alle im Rahmen eines längeren Aufenthaltes, größtenteils über mehrere Stunden, bei den entsprechenden Personen zu Hause geführt. Ergänzend gehörte ein gemeinsamer

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Rundgang im Rahmen eines Go-Alongs mit dazu. Bezüglich der Dramaturgie des Besuches gab es unterschiedliche Konstellationen. In einigen Fällen wurde ich mit einem gemeinsamen Essen (beispielsweise ein Frühstück mit der ganzen Familie) empfangen, führte anschließend das Interview und beging dann mit den Interviewpersonen das Go-Along. In den meisten anderen Fällen führten wir erst das Go-Along durch und anschließend das Interview – was vorher oder nachher auch meist mit einer Essenseinladung von den Interviewpersonen gerahmt wurde. Die Reihenfolge hing stark davon ab, ob wir uns am Wochenende morgens direkt bei der Interviewperson zu Hause trafen oder ich sie wochentags von der Arbeit abholte. Bis auf ein Interview, das am Arbeitsplatz geführt wurde, fanden alle Interviews bei den Personen zu Hause statt. In einem Fall (Çağrı) ist kein formales Interview zustande gekommen, so dass nur ein Beobachtungsprotokoll des mehrstündigen Treffens vorliegt. Ein Großteil der Inhalte der Beobachtungsprotokolle entfällt auf die durchgeführten Go-Alongs. Darüber hinaus war es für mich aber unverzichtbar, auch über die gemeinsamen Mahlzeiten sowie das Vor- und Nachgeplänkel Gedächtnisprotokolle anzufertigen. Ein Aufnahmegerät, wie ich es beim Interview benutzte, hätte die Situation massiv gestört. Auch während der Go-Alongs habe ich keine guten Erfahrungen mit Audioaufzeichnungen gemacht, weshalb ich sie hauptsächlich fotografisch festhielt und anschließend mit Hilfe der Fotografien als Gedächtnisstütze protokollierte. Die Erhebungsmethode des Go-Alongs wurde in den 2000ern von Margarethe Kusenbach (2003) in die Debatte um innovative ethnografische Methoden eingebracht. Sie betrachtet das Go-Along als Kombination aus den Stärken der ethnografischen Beobachtung und des qualitativen Interviews (Kusenbach 2003: 458ff.): »When conducting go-alongs, fieldworkers accompany individual informants on their ›natural‹ outings, and – through asking questions, listening and observing – actively explore their subjects’ stream of experiences and practices as they move through, and interact with, their physical and social environment.« (Ebd.: 463) Kusenbach betont insbesondere den Vorteil, dass das Go-Along dem Forschenden die Möglichkeit eröffnet, die räumlichen Praktiken der Untersuchten in situ zu beobachten. Auch wenn sie von »›natural‹ outings« spricht räumt sie ein, dass die Anwesenheit einer Forscherin oder eines Forschers immer etwas Verfälschendes hat (ebd.: 464). Sie schlägt aber vor, dass man der Untersuchungsperson auf ihren natürlichen Wegen in ihrer gewohnten Umwelt folgen soll und sie so bei Aktivitäten und Routinen begleitet, die sie normalerweise auch absolvieren würde. In diesem Rahmen könne das Go-Along gelebte Erfahrungen aufdecken, die beispielsweise im Interview verdeckt bleiben würden (ebd.). Ein weiterer Vorteil dieses Erhebungsverfahrens ist, dass es die Interpretation der Umwelt ganz bei der Untersuchungsperson lässt:

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

»Being able to witness in situ the filtering and shaping of their subjects’ perceptions de-emphasizes the researchers’ own perceptual presuppositions and biases, which are in the end irrelevant, and of which they might not be completely aware.« (Ebd.: 469, Herv. i.O.) Dies gilt ebenso für widersprüchliche Interpretationen der gleichen Umwelt von unterschiedlichen Untersuchungspersonen. Kusenbach wählt hier ein sehr illustratives Beispiel aus: Zwei ihrer Untersuchungspersonen beschreiben denselben Vorgarten eines Hauses innerhalb ihres Forschungsgebietes als »jungle«, jedoch meinen sie es ganz unterschiedlich. Der eine findet es despektierlich – »This used to be a nice house!« (ebd.: 468) – und die andere findet es bewundernswert und interessant – »Look at all these different plants in the backyard and the trees and everything in the front« (ebd.). Das Go-Along kann also Geschmäcker aufdecken, die sonst nicht zur Sprache gekommen wären. Neben den vielfältigen Einblicken in die Lebenswelten der Untersuchungspersonen, die die Methode des Go-Alongs laut Kusenbach liefert, betont sie auch die Möglichkeit, Biografien dadurch zugänglich machen zu können. »Ideally, go-alongs bring to the foreground the stream of associations that occupy informants while moving through physical and social space, including their memories and anticipations. Whether we appreciate it or not, the environment we dwell in on a daily basis becomes a sort of personal biographer as it preserves parts of our life history. Navigating familiar environments full of personal landmarks in many ways resembles going through the pages of a personal photo album or diary.« (Ebd.: 472) Erst lange nach Ende meiner Feldforschung bin ich auf das just erschienene Buch von Maggie O’Neill und Brian Roberts (2020) gestoßen, in dem sie eine ganz ähnliche Methode entwerfen – nämlich das »Walking Interview as a Biographical Method« (ebd.). Durch meine Erfahrung eignet sich das Go-Along (oder ein Walking Interview) nur in bestimmten Fällen zur Erhebung von Lebensabläufen und ihren Interpretationen – nämlich dort, wo tatsächlich noch Teile der eigenen Lebensgeschichte in die Umwelt eingeschrieben sind. Selbstverständlich kann man argumentieren, dass auch eine transformierte Umwelt noch persönliche Orientierungspunkte liefern kann (»Hier standen mal Bäume.«), jedoch scheint mir an dieser Stelle die vorschnelle Annahme der Normalität von Sesshaftigkeit vordergründig zu sein. Wie meine Interviews zeigen, verfügen nur noch die wenigsten Individuen über eine fortdauernde Sesshaftigkeit. Die Go-Alongs sollten mir die Möglichkeit geben, ein besseres phänomenologisches Verständnis darüber zu bekommen, wie Individuen ihre physische und soziale Umwelt verstehen und mit ihr im alltäglichen Leben interagieren (Kusenbach 2003: 546). Ich teilte den Untersuchungspersonen mit, dass ich sie gerne auf ihren

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

alltäglichen, selbstverständlichen Wegen in ihrer Nachbarschaft begleiten würde, um zu lernen welche Orte für sie von Bedeutung sind. In vielen Fällen löste dies zunächst Irritationen aus, da viele nicht eingehender mit ihrer Wohngegend interagieren oder sich gar mit ihr identifizieren. Nichtsdestotrotz wurden die Informantinnen und Informanten in der Regel recht schnell einfallsreich. Manche begleitete ich beispielsweise von ihrer Arbeitsstelle nach Hause und/oder zum Einkaufen. Diese Wege machen einen großen Teil der alltäglichen Routinen aus. Manche holten mich auch von der U-Bahnstation oder dem Schiffsanleger ab und führten mich, teils über Umwege, zu sich nach Hause. Andere veranstalteten regelrechte touristische Touren für mich, die selbstverständlich nicht im Sinne der Methode standen, die aber trotzdem für spannende Einblicke und Gespräche sorgten.12 Da sie selbst schwanger und immobil war, übertrug Çiğdem die Tour durchs Viertel ihrem Bruder, einem Politikwissenschaftler, der eine richtige Wissenschaft daraus machte. Tolga nahm mich mit auf Wohnungssuche, Zehra fuhr mich in ihrem Auto durch die Stadt und Leyla brachte mich an einen Ort, an dem sie Inspirationen sammelte. Allem in allem ist dabei kein einheitliches, systematisch organisierbares Material entstanden, das stets dem Natürlichkeitsanspruch von Kusenbach folgt, und dennoch wäre meine Forschung ohne diese besonderen Einblicke nicht denkbar. Auch wenn sie nicht immer den direkten Aufschluss über die tatsächlichen alltäglichen Praktiken und sozialräumlichen Interaktionen lieferten, so bedeuteten sie trotzdem detaillierte Einblicke in die Persönlichkeiten und Empfindungen der Interviewpersonen. Zusätzlich lieferten sie weiteres Gesprächspotential über ihre Lebenszusammenhänge, so dass es nie Gefahr lief auszugehen. Die narrativ-angelegten Interviews dauerten in der Regel etwa eine bis zwei Stunden. Wenige waren kürzer. Die Interviews stehen aber nie für sich allein, da sie in einem längeren Zusammenkommen von Forscherin und Untersuchungsperson eingebettet waren. Trotzdem lieferten sie das dichteste und für die Analyse zentralste Material. Im Ablauf ähnelten sich die Interviews in der Regel sehr stark: Zum Einstieg fragte ich nach der Ankunfts- und Umzugsgeschichte der Familie in der Stadt Istanbul. Folgend findet sich ein Beispiel des gewählten Erzählstimulus: »I: Okay, so, maybe we can start with your background. Like, I mean you already told me a little bit on the way, ehm, but like when your family moved to Istanbul and ehm, which places in Istanbul did you stay or which other places you went.« (Transkript Nuran) Hiervon versprach ich mir, dass viele Aspekte des Erlebens von unterschiedlichen Orten und Räumen quasi nebenbei thematisiert werden würden. Insbesondere

12

Wie beispielsweise der Rundgang mit Süleyman, der eine wahre Reise in die Vergangenheit darstellte, im Rahmen derer wir die Orte seiner Kindheit aufsuchten (siehe Kap. 4.2).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

ging es mir auch darum, die Bedeutung unterschiedlicher Orte festzustellen, ohne sie bereits im Vorfeld zu antizipieren. So wollte ich nicht von vornherein davon ausgehen, dass der Wohnort einen großen persönlichen Wert für die Interviewteilnehmerinnen und -teilnehmer hat – auch wenn ich dies vermutete. Im Endeffekt hat sich dies als die richtige Fahrlinie herausgestellt, da die Ortsverbundenheit der Untersuchungspersonen sehr stark variiert. Ich rahmte den Erzählstimulus stets mit einigen »Regieanmerkungen« (Rosenthal 2015: 170f.) und erklärte den Interviewten, dass sie so viel erzählen könnten, wie sie möchten, und dass es dabei kein Richtig oder Falsch gäbe. Ich versuchte ihnen klar zu machen, dass alles, was für sie relevant ist, auch für mich von Interesse sei. Die Einstiegserzählung gestaltete sich in allen Fällen recht autonom. In manchen Interviews hatte ich das Problem, dass sich mein Forschungsassistent anfangs in die Erzählungen einmischte (siehe beispielsweise Portrait Leyla). Die Interviewpersonen waren aber trotzdem in der Lage ihre eigene Relevanzlegung vorzunehmen und fanden, teils nach Umwegen, wieder zu ihren Erzählungen zurück. Außerdem bewiesen alle Interviewte eine gewisse orale Tradition. Das bedeutet, dass sie flächendeckend in der Lage waren, ihre Herkunft auf zwei bis drei Generationen zurückzuverfolgen. Gleichzeitig waren sie in der Lage, ihre Erzählungen auch mit Details zu vervollständigen, wie hier im Interview mit Zehra abzulesen ist: »Okay. I was born and grew up in Istanbul. That is, I was born in Istanbul, but my family is eastern. They came from the east. Both my mother and father are from the same area. They came to Istanbul at different times, though. My mother came to Istanbul when she began primary school. Her Turkish is smoother, she is even like a teacher when she speaks. My father came to Istanbul when he was going to high school, so his accent is a bit more eastern. But they came together/They met through their families, and then/Not arranged marriage, but families were involved, obviously. Our first times, or rather/this is how they came to Istanbul: My grandfather, my paternal grandfather came here on his own, he would put a bundle of sweaters on his back/he was running a stall in Fatih, selling them on the street. The year I was born/And he had brought over his family before that/They had progressed to a certain point, they bought a house in Fatih. The year I was born, in 1972, they bought a store in Fatih. My father still works there. They are selling sweaters. Then my/My mother gets married and in the beginning we still live in Fatih. That is, on the European side. We lived there till I was 13. I went to primary school and the first year of secondary school on the European side.« (Transkript Zehra) Dieses Segment ist ein typisches Beispiel für die Gestaltung der Eingangserzählung und zeigt sehr schön auf,wie sich von Anfang an Zugzwänge des Erzählens entfalten. Es soll hier stellvertretend für die vielen Anfänge der Stegreiferzählungen stehen, um aufzuzeigen, dass der Erzählstimulus sinnvoll gewählt worden ist.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Darüber hinaus sind die erhobenen Interviews freilich entfernt von jedweder Perfektion – sollte es sie in der qualitativen Sozialforschung überhaupt geben (müssen). Im Rahmen der hier gewählten Analysemethode haben sie aber zu einem großen Erkenntnisgewinn beigetragen. Natürlich müssen in Bezug auf die Tiefe und Reichweite der weiter hinten vorgestellten Theorie Einschränkungen vorgenommen werden – was jedoch für die Güte der Forschung steht. Folgend möchte ich noch einen weiteren zentralen methodischen Punkt der Feldforschung näher betrachten, nämlich den der Mehrsprachigkeit. Meiner Ansicht nach findet qualitative Forschung immer in einem Kontext der Mehrsprachigkeit statt. Bei Interviewforschung, sowie bei ethnografischer Forschung, wird immer wieder gefordert, sich die Sprache des Feldes anzueignen. Dies ist ein Kriterium, das sich bereits in den frühen Phasen der Professionalisierung der qualitativen Sozialforschung zeigt. So möchte ich an dieser Stelle einen relativ alten Methodenstreit heranziehen: In ihrem 1957 publizierten Aufsatz »Participant Observation and Interviewing: A Comparison« stellen die Autoren Howard S. Becker und Blanche Geer die Vorteile der teilnehmenden Beobachtung in Gegenüberstellung zum Interview heraus, da sie unter anderem den Vorteil bietet, die »native language« (Becker/Geer 1957: 29) des Untersuchungsfeldes zu lernen: »Any social group, to the extent that it is a distinctive unit, will have to some degree a culture differing from that of other groups, a somewhat different set of common understandings around which action is organized, and these differences will find expression in a language whose nuances are peculiar to that group and fully understood only by its members.« (Ebd.) Im Fall von Becker und Geer handelt es sich dabei um eine Gruppe von amerikanischen Medizinstudierenden, die ihre ersten praktischen Erfahrungen in Krankenhäusern sammeln. Die Autoren schildern, dass sie zunächst nicht verstanden hätten, was der Begriff »crock« bedeute und nur durch die wiederholte Teilnahme am Arbeitsalltag der Studierenden zu einem echten Verständnis gekommen seien.13 Der abwertenden Haltung gegenüber dem Interview begegnet Martin Trow (1957) mit seinem Aufsatz »Comment on ›Participant Observation and Interviewing: A Comparison‹«, in dem er schreibt, Interviews und teilnehmende Beobachtungen anhand des gleichen Untersuchungsgegenstands zu vergleichen, wäre ein genauso

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Erst nach Wochen der Feldforschung kam man zu der Erkenntnis, dass ein »crock« Folgendes bedeutet: »it referred to a patient who complained of many symptoms but had no discoverable organic pathology. […] Several students eventually explained their dislike in ways of which the following example is typical: ›The true crock is a person who you do a great big workup for and who has all of these vague symptoms, and you really can’t find anything the matter with them.‹« (Becker/Geer 1957: 29, Herv. i.O.)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

unpassender Vergleich wie der des Skalpells und der Zange als besserem Instrument zum Schneiden. Er schlägt vor, man solle sich lieber damit auseinandersetzen, welches Instrument (Methode) sich besser für welche Aufgabe (Problem/Untersuchungsgegenstand) eignet. Nun hat sich die Interviewforschung seit den 1950er Jahren in hohem Maße professionalisiert und an der Ausfeilung ihrer Instrumente gearbeitet, allen voran sei hier wieder Fritz Schütze und das narrative Interview genannt. Und somit zeichnen sich die heutigen Interviewformen mit narrativem Charakter auch durch eine hohe Sprachsensitivität aus. Dabei sei dahingestellt, ob es sich um fremdsprachliche oder milieuspezifische Kontexte handelt. Ein Forschungszusammenhang jenseits eines methodologischen Nationalismus’ stellt eine gewisse Herausforderung dar. Gleichzeitig bedeutet Internationalität in Forschungszusammenhängen aber auch eine große Chance. Lena Inowlocki schreibt in diesem Bezug Folgendes über die Biografieforschung: »Das methodische Prinzip der Perspektivenvielfalt wird durch Infragestellung und Befremden der eigenen Wahrnehmung hergestellt und in internationalen Forschungskontexten und -werkstätten verstärkt, die immer wieder Fremdverstehen, Vermittlung, Übersetzung und Mehrsprachigkeit fordern. Wenn es also durch gesellschaftliche und politische Veränderungen eine Tendenz zu Internationalisierung gibt, muss diese doch kontinuierlich ermutigt und immer wieder institutionell gefördert werden, gegenüber monolingualen, administrativen, nationalen Gegenströmungen.« (Inowlocki 2018: 709) Im Rahmen meiner Feldforschung habe ich mich mit diversen Sprach- beziehungsweise Übersetzungsherausforderungen konfrontiert gesehen. Zum einen wurde die Mehrzahl der Interviews auf Englisch geführt, was für beide Seiten eine Fremdsprache darstellte und somit eine Übersetzungsleistung während des Interviews bedeutete. Ich habe den Interviewpartnerinnen und -partnern die Entscheidung überlassen, ob sie es sich zutrauten, auf Englisch zu sprechen, oder ob sie das Interview lieber auf Türkisch führen wollten. Zum anderen habe ich mit meinem Forschungsassistenten zusammen Interviews auf Türkisch geführt, die er im Anschluss ins Englische übersetzte. Somit hatte ich zwar ein in sprachlicher Hinsicht einheitliches Rohmaterial, die Analyse und Publikation der Ergebnisse geschieht aber wiederum auf Deutsch, sodass hier erneut eine Übersetzungsleistung gefordert wird. Es gibt einige Stimmen, die den Informationsverlust beklagen, der durch die mehrfache Transformation des Materials entsteht (nachzulesen bei Küsters 2009: 188ff.). Besonders kritisch sieht auch Ewa Palenga-Möllenbeck die Verwendung einer Fremdsprache in biographisch-narrativen Interviews (PalengaMöllenbeck 2018: 675). Den Protagonisten des narrativen Verfahrens wird dagegen nachgesagt, dass sie ganz unbeeindruckt mit (Mehrfach)-Übersetzungen arbeiteten: »Sie bewerten in ganz pragmatischer Weise das Zugänglichmachen besonderer

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Erzählungen für andere Forscher und den internationalen Austausch darüber weit höher als den Informationsverlust, der damit zwangsläufig einhergeht« (Küsters 2009: 189f.). Ich möchte dem hinzufügen, dass es in einer mehrsprachigen Forschung durchaus zu Synergieeffekten, und nicht nur zu Informationsverlust, kommen kann. Ich möchte dieses Argument an einem Auszug aus dem Interview mit Süleyman (B1) verdeutlichen, dessen detailliertes Portrait in Kapitel 4.2 zu finden ist. »B1: so all my childhood, all my youth, passed in [G-Köy], that’s why I say to my friends: ›I was born in [G-Köy], most probably I will die in [G-Köy]‹. Because there is a big transformation in Istanbul going on and people are moving to new areas, new flats, new resident- residential areas. But I prefer to stay here in [G-Köy] because, ehm, for me touching the people, you know, and, ehm, and living with the past, those items are very important. I think that when you move to a residential area, you’ll start a new life from scratch and you have to create new bonds. But it’s not that much easy because, as we discuss in the, in the breakfast/You asked a question to my son saying do you have friends like your father and he said no//I: yes//because this residen-, this is not a residential area, this is a classical, eh, how can I say, a street life right now, because/Yes, there’s a security maybe, there’s a gate but it’s not like big residential areas. It’s still Istanbul, I mean, not a private/ B2: Mahalle (unv.) B1: Mahalle, yes, mahalle culture. Right now, we have it. Eh, I will tell you in details. But unfortunately [Hakan] doesn’t have any friends, that’s why for me moving to a residential area or new area meaning that I have to create such kind of bonds but I (hate?) to start some- some issues from scratch, that’s why I stayed here. For ex-, I remember when I was child and my mother was going to a BAzaar, eh, because e-, every Thursday here in [G-Köy] there’s a bazaar and you can buy fresh vegetables, fruits or whatsoever/(select?) mahalle culture, eh, product, this bazaar item. And my mother was used to go there and my father was, you know, working, eh survive us, and I was alone in the home. And I remember there was no lock and she was shouting in the neighbourhood, (unv.) ›Nevin‹ or ›(unv.)‹ I’m going to bazaar and [Süleyman] is alone and most probably he’s gonna sleep, so please take care of him.‹ And the door was open – everything was open. And I was alone and there was no theft, nothing I mean cos the neighbourhood was, you know, observing you.« (Transkript Süleyman) Der zentrale Begriff, um den es in diesem Auszug geht, ist der des Mahalles14 , den man oberflächlich mit dem Wort Nachbarschaft (oder, in Bezug auf die Interview14

In der schlichten Übersetzung bedeutet Mahalle Nachbarschaft. Mir scheint diese Übersetzung allerdings nicht gänzlich treffend. Ich greife den Begriff Mahalle in Kapitel 4.2.1 im Rah-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

sprache: neighbourhood) übersetzen könnte. In der Einleitung versucht Süleyman auf etwas hinzuarbeiten, was ihm zunächst nicht in konkrete Worte fassbar zu sein scheint. Er spricht von einem Wandel, der derzeit passiert, von »new areas, new flats, new resident- residential areas« die im Entstehen sind und von denen er sich abgrenzt. Er will etwas anderes beschreiben. Etwas das »touching the people« und »living with the past« beinhaltet. Auf der Suche nach den richtigen Worten tastet er einige ab, die nicht gänzlich zu passen scheinen, wie »classical […] street life«. Die anwesende Kontaktperson eilt ihm zur Hilfe und wirft den Begriff Mahalle ein, den Süleyman dankend annimmt und weiter ausführt, um ihn mir gänzlich zu erklären. Mahalle habe etwas mit »bonds15 « zu tun, also mit einer bestimmten Art der zwischenmenschlichen Beziehung. Gleichzeitig beschreibt der Begriff alltagskulturelle Praktiken, die diese Beziehungen charakterisieren – wie das Kind unter Aufsicht der Nachbarinnen alleine zu Hause zu lassen. Süleyman führt außerdem eine charakteristische Infrastruktur an, nämlich den Bazar, der für ihn auch zum Konzept Mahalle dazugehört. In der Unübersetzbarkeit des Wortes muss der Interviewpartner also kreativ werden und versuchen, es zu be- und umschreiben. Das kann darin ausgehen, dass er Synonyme sucht, oder, dass er Abgrenzungen zieht, Gegenteile erarbeitet und Charakteristika herausstellt. Somit wird ein viel detaillierterer Einblick in seine Begriffswelt möglich. Hätte er sich direkt des Wortes Mahalle bedienen können, wären der Forscherin diese Einblicke wohl nicht eröffnet worden. Neben den Herausforderungen, Informationsverlusten und Übersetzungsschwierigkeiten können sich in mehrsprachiger Forschung also auch Synergieeffekte ergeben, die die Forschung weiter anregen. Die Nutzung der englischen Sprache ist in meiner Forschung in erster Linie forschungspraktischer Natur gewesen. Im Rahmen der Analyse zeigte sich, dass es sich dabei aber in der Tat um belastbares Datenmaterial handelt. In Bezug auf die wenigen Interviews, die in der Muttersprache der Interviewpartnerinnen geführt wurden (dies war bei Leyla und Zehra der Fall) habe ich die Übersetzung von meinem Forschungsassistenten anfertigen lassen, der auch bei den Interviews anwesend war. Dieser ist beruflicher Übersetzer, studierter Sozialwissenschaftler und mit dem nötigen kulturellen Wissen für den Übersetzungsprozess vertraut (Kruse et al. 2012: 10). Somit kann ich gewissenhaft von einer sinnadäquaten Übersetzung ausgehen. Meine eigenen Sprachkompetenzen liefern aber weiterhin die

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men von Süleymans Fallrekonstruktion sowie in Kapitel 6.1 im Rahmen der fallübergreifenden Analyse erneut auf, da er konstitutiv für verschiedene Nachbarschaftsvorstellungen ist. »bonds« könnte auch mit »Fesseln« übersetzt werden, was aber wahrscheinlich nicht im Sinne des Sprechers liegt. Gemeint sind hier wohl eher enge, feste zwischenmenschliche Beziehungen, die zum einen von einer gewissen Solidarität, zum anderen aber auch von einer Verbindlichkeit geprägt sind. Diese Einschätzung bezieht sich auf die plausibelste Lesart, die sich in der Analyse des Interviews herausgebildet hat.

3. Methodologie, Forschungsprozess und Forschungsfrage

Möglichkeit, bei unklaren Sachverhalten in den Originaltext zurückzugehen, um Semantiken und Übersetzungen zu überprüfen. Zuletzt bleibt noch die Kulturabhängigkeit des Verfahrens zu beleuchten. Küsters betont, dass es für den jeweiligen Einsatz zu prüfen bleibt, ob sich das narrative Verfahren eignet (Küsters 2009: 190). Wie eingangs des Kapitels geschildert, wiesen die Interviewten eine solide orale Tradition und genügend Sprach- und Erzählkompetenzen auf, um eine autonome Stegreiferzählung zu produzieren. Inwiefern diese Kompetenz tatsächlich kulturell verankert ist, oder ob der Bildungsstatus dabei eine größere Rolle spielt, vermag ich an dieser Stelle nicht zu sagen. In jedem Fall hat sich das Verfahren in der Forschungspraxis bewiesen. Ich hatte bereits geschildert, dass qualitative Forschung selten ohne Übersetzungen auskommt – ob sie jetzt im ein- oder mehrsprachigen Kontext stattfindet. Jan Kruse, Stephanie Bethmann, Debora Niermann und Christian Schneider schreiben dazu: »Verstehen kommt also niemals ohne einen Übersetzungsprozess aus und die Methoden der Sozialforschung bieten einen vielseitigen und heterogenen ›Werkzeugkoffer‹, um fremden Sinn zu rekonstruieren.« (Kruse et al. 2012: 11) Deshalb ist es im vorliegenden Fall besonders wichtig, sich dieses Werkzeugkoffers im Sinne der nominierten Methoden gewissenhaft zu bedienen und einen möglichst transparenten und verständlichen Einblick in den Forschungszusammenhang zu liefern, der geprägt war von »produktiven Mittelwegen« (ebd.: 13) und einer opportunistisch angelegten Feldforschung. Im Weiteren möchte ich zeigen, warum trotz der Gesamtheit der hier eingeführten Einschränkungen das Forschungsprojekt durchaus einen Mehrwert für die derzeitige Forschungslandschaft liefert. Im Zuge der hier vorgestellten methodischen Herangehensweise beginne ich im folgenden Kapitel mit den Darstellungen einer Auswahl der zentralsten, empirischen Fallrekonstruktionen.

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4. Einzelfallrekonstruktionen Fünf Portraits zur Darstellung der theoretischen Varianz

»Beobachtete Übereinstimmungen und Differenzen sind es, mit denen wir unseren Alltag ordnen und uns verfügbar machen: Unterschiedlich lange Kassen im Supermarkt, wahrgenommene Kleidungsstile als Indikatoren für Milieus oder Körperhaltungen als Kriterien dafür, ob wir uns trauen jemanden anzusprechen. Wie im Alltag so gilt auch in wissenschaftlichen Vergleichsoperationen, dass das Unterscheidungsvermögen in der handelnden Person angelegt ist. Die zu vergleichenden Objekte sind nicht ›an sich‹ unterschiedlich oder ähnlich (sie sind ›an sich‹ nicht einmal Objekt), sondern es Bedarf eines Akteurs, der diesen Vergleich auf Basis seiner Erfahrungen und seines Wissens vornimmt und anhand seiner Relevanzstrukturen die Vergleichskriterien bestimmt.« (Strübing 2019: 532) Mit diesen treffenden Worten beschreibt Strübing die Alltagsheuristik, die dem theoretischen Sampling als Methode des ständigen Vergleichens zugrunde liegt. Gleichzeitig wird durch seine Ausführung deutlich, wie schwierig es sein kann die im Rahmen des Forschungsprozesses vorgenommenen Vergleiche intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Die Akteurin oder der Akteur, die oder der da auf Basis von Erfahrungen und Vorwissen die Vergleichskriterien bestimmt, ist in erster Linie die Forscherin oder der Forscher. Im Besten Fall kann sie oder er diese Kriterien mit fachkundigen Personen diskutieren, gleichzeitig gehört ein gewisses Bauchgefühl dazu. Im Rahmen meiner Forschung habe ich mich während der ersten Analyseversuche und Fallrekonstruktionen dazu entschlossen, mich zuerst den beiden Fällen von Emine und Süleyman zuzuwenden. Beide Fälle erschienen mir in einem ambivalenten Licht: Zum einen handelt es sich in beiden Fällen um erfolgreiche Personen, die von außen betrachtet von modernen Siedlungsstrukturen profitieren, zum anderen lehnen sie jedoch gleichzeitig die aktuelle Stadtentwicklung ab. In meinen Memos nannte ich dieses Phänomen »Ablehnung bei gleichzeitigem Genuss«. Neben der geteilten Ambivalenz werden zwischen den beiden Fällen aber frappierende Unterschiede deutlich: Obwohl beide eine gewisse Vergangenheitsorientierung an

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

den Tag legen, gewinnt Emine als gebildete und erfolgreiche Frau an Handlungsspielraum durch das Leben in der modernen Großstadt. Süleyman hingegen verliert durch die Auflösung des nachbarschaftlichen Patriarchats an Handlungsspielraum – seine Meinung ist nicht mehr gefragt. Nach der intensiven Auseinandersetzung mit diesen beiden Fällen zog ich sukzessive weitere Fälle hinzu: erst Leyla, dann Nuran und schließlich Tolga. Leylas Fall schien sich dadurch auszuzeichnen, dass sie niemals wirklichen Handlungsspielraum besessen hatte. Der Verlust ihres urbanen Dorfes kommt wie ein Trauma daher, doch kann sie diese Erfahrungen in Kreativität umwandeln. Nuran hat biografisch betrachtet ebenfalls kaum freie Entfaltungsmöglichkeiten, hat aber auch nie das alte Istanbul kennengelernt, dem die anderen drei Fälle hinterhertrauern. Das hat Tolga zwar auch nicht, aber als gut ausgebildeter, alleinstehender Mann scheint er in der Stadt alle Entfaltungsmöglichkeiten, die er sich wünscht, vorzufinden. Diese theoretisch orientierten Vergleichskriterien komplementierten dabei die eher äußerlich orientierten wie Wohnort, Siedlungsstruktur, Ankunftszeitraum, Glaubenssystem, Familienstand und Geschlecht. Darüber hinaus kann ich mich selbst aber auch nicht von einem gewissen Bauchgefühl bei der Auswahl der Vergleichsfälle freisprechen. Die Kategorien, die ich durch diese kontrastiven Vergleiche entwickeln konnte, prüfte und vervollständigte ich im Anschluss mit den übrigen sechs Fällen (siehe Kap. 3.4). Die Ergebnisse dazu finden sich in den Kapiteln 4. und 5. Bevor ich mit den Portraitkapiteln beginne, vorab einige Bemerkungen zur Darstellungsweise: Wie bereits erwähnt wurden alle Untersuchungspersonen und ihre Angehörigen mit Pseudonymen ausgestattet. Auch die früheren und gegenwärtigen Wohnorte der Personen habe ich mit Pseudonymen versehen (A-Köy, BKöy und so weiter). Zur Visualisierung der Siedlungsstrukturen der verschiedenen Nachbarschaften habe ich jeweils ein paar verfremdete Fotografien, die ich während der Feldforschung dort aufgenommen habe, eingefügt. Am Anfang jedes Portraits findet sich eine Zusammenfassung des Lebensablaufs, die je nach Umfang der generierten Informationen unterschiedlich lang ausfällt. Darüber hinaus habe ich jeweils Vorbemerkungen zur Kontaktaufnahme, Interviewkritik und weiteren Besonderheiten eingefügt. Die erste Fallrekonstruktion von Emine habe ich zur besseren Nachvollziehbarkeit meiner Arbeitsweise in aller Ausführlichkeit, inklusive struktureller Beschreibung des Go-Alongs und des gesamten Interviews, dargestellt. Die anderen vier Fallrekonstruktionen habe ich zur besseren Lesbarkeit auf die zentralen biografischen Erfahrungsräume komprimiert, die die thematischen Feldanalysen ergeben haben. Der besseren Lesbarkeit halber sind die Portraits darüber hinaus größtenteils im historischen Präsens geschrieben.

4. Einzelfallrekonstruktionen

4.1

Emine – Eine ganz normale Frau? Zusammenfassung des Lebensablaufs Emines Eltern stammen aus einer Stadt in Zentralanatolien. Hier bekommen sie Ende der 1960er Jahre ihre erste Tochter und ziehen anschließend mit ihr nach Istanbul. Emines zweitälteste Schwester wird kurze Zeit später und Emine selbst Anfang der 1970er Jahre geboren. Die Familie lebt zunächst in einer alten armenischen Nachbarschaft auf der europäischen Seite der Stadt (A-Köy). Nach einigen Jahren versucht die Familie ein größeres Haus auf der asiatischen Seite zu erwerben, wird jedoch beim Hauskauf betrogen und verliert das Objekt sowie einen Großteil ihres Vermögens. Sie ist gezwungen, in ein Mietshaus in einem anderen Stadtteil (B-Köy) zu ziehen. B-Köy liegt abgeschieden aber idyllisch am Wasser auf der asiatischen Seite der Stadt. Emine ist bei diesem Umzug etwa acht Jahre alt. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr lebt die Familie in B-Köy, dann zieht sie in ein kleines Haus in C-Köy, ebenfalls auf der asiatischen Seite. Als Emine 18 Jahre alt ist schaffen ihre Eltern es endlich ein ausreichend großes Haus in C-Köy für die fünfköpfige Familie zu erwerben. In diesem wohnen ihre Eltern auch zum Zeitpunkt des Interviews noch. Emine besucht die weiterführende Schule und studiert anschließend Medizin an einer Universität auf der europäischen Seite der Stadt, wofür sie einen langen Pendelweg in Kauf nimmt. Nach ihrem Studium bleibt Emine an ihrer Fakultät und wird Professorin. Im Jahr 1998 heiratet sie ihren heutigen Ehemann Murat, ebenfalls Arzt, und zieht mit ihm auf die europäische Seite zu seiner Mutter nach DKöy. Sie leben anschließend zwölf Jahre bei Emines Schwiegermutter. In dieser Zeit, Mitte der 2000er, wird auch ihr gemeinsamer Sohn Turan geboren. Erst im Jahr 2012 bezieht Emine dann gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn ihre eigene Wohnung in einer neugebauten Site in E-Köy, auf die sie gespart haben.

Der Kontakt zu Emine ist über einen gemeinsamen Freund zustande gekommen. An dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal begegnen, befinden wir uns bei einem weiteren Freund zum Abendessen. Sie ist mit ihrem Ehemann Murat und ihrem zwölf Jahre altem Sohn Turan dort. Wir sind die einzigen Frauen an diesem Abend und unterhalten uns zwischenzeitlich ausgiebig über ihren Sohn. Sie erzählt voller Stolz von seinen Interessen und seinen schulischen Erfolgen. So berichtet sie vom hohen Standard der Schule und einem Stipendium, das Turan für die Schule bekomme. Außerdem erzählt sie von ihren weiteren Bildungsaspirationen für Turan. Sie möchte ihn für das Studium gerne ins Ausland schicken. Die hohe Relevanz, die ihr Sohn für ihre Lebensführung hat, wird auch bei unserem zweiten Treffen bestätigt. Da Emine sehr gutes Englisch spricht, läuft fast unsere gesamte Kommunikation auf Englisch ab. Auch das Interview wird auf Englisch geführt.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Wenige Tage später verabrede ich mich mit Emine zum Go-Along und zum Interview. Ich hole sie von ihrer Fakultät ab. Auf dem Weg zu den Taxis fällt mir auf, dass sie immer wieder von kleineren Grüppchen Studierender freundlich und herzlich verabschiedet wird. Dies nimmt Emine zum Anlass, um mir gegenüber ihre Zuneigung und ihren Stolz über die Studierenden auszudrücken. Da Emine an der gleichen Fakultät studiert hat, an der sie nun unterrichtet, erzählt sie von ihrer emotionalen Verbundenheit mit diesem Ort und den positiven Erinnerungen, die er für sie bedeute. Wir fahren mit dem Taxi zu ihrer Wohnung, die in einer circa 30 Autofahrminuten entfernten Site liegt. Bereits im Auto schildert sie mir einige Charakteristika der Wohnanlage: Es seien insgesamt etwa 1.000 Wohnungen im Komplex, die Anwohnerschaft bestünde unter anderem aus einigen Arztfamilien, aber dafür kaum aus Studierenden, da die Wohnungen für diese zu hochpreisig seien. Sie betont den Standortvorteil für sich und ihren Mann, bedauert aber die lange Pendelzeit, die ihr Sohn zu seiner Schule in Kauf nehmen müsse. Wir beginnen direkt nach der Ankunft an ihrer Site mit dem Go-Along und beenden ihn in ihrer Wohnung, wo wir zunächst gemeinsam zu Abend essen. Anschließend führe ich mit Emine das Interview in Turans Kinderzimmer. Während des Interviews sind wir zwar ungestört, im Hintergrund hört man jedoch den Rest der Familie, der sich im Wohnzimmer einen Film anschaut. Das Interview geht insgesamt 38 Minuten. Emine scheint im ernsten Modus der zuverlässigen Forschungsteilnehmerin zu sein, nachdem sie während des Abendessens ausgelassen und gut gelaunt wirkte. Emines Interview ist von einem geringen Anteil von Erzählungen geprägt. Lediglich am Anfang des Interviews folgt nach dem Erzählstimulus eine kurze Passage, in der sie die einzelnen Stationen ihrer Familie nachzeichnet. Leider führt sie die Stationen jedoch nicht näher aus. Erst nach direktem Erfragen der Gründe für die Umzüge geht sie etwas näher auf einzelne Erfahrungen ein. Die Nachfrage nach dem Warum, was streng genommen nicht im Sinne eines narrativen Interviews ist, weil es eher Argumentationen als Erzählungen provoziert, könnte auch der Grund sein, warum das Interview im Anschluss insbesondere vom regelmäßigen Wechsel zwischen Beschreibungen und Argumentationen geprägt ist. Der Erzählanteil nimmt jedenfalls drastisch ab. Da Emines Antworten stets kurz und präzise ausfallen, kommt es zu häufigen Nachfragen von mir als Interviewerin. Ich habe das Gefühl, dass Emine sehr gewillt ist ein möglichst gutes Interview zu liefern um meinen Forschungsbesuch erfolgreich abzuschließen, sie aber auch müde ist und zum Ende kommen möchte. Für zukünftige Feldforschung wäre es nicht nur aus dieser Erfahrung heraus also sinnvoll, direkt von Anfang an zwei Termine auszumachen. Wie bereits nach der ersten Reaktion auf den Erzählstimulus deutlich wird, fällt es Emine schwer, in einen tatsächlichen Erzählmodus zu kommen und das Detail-

4. Einzelfallrekonstruktionen

lierungsniveau bleibt in der Folge recht gering. Nach einigen erfolglosen immanenten Nachfragen führt das auf meiner Seite dazu, dass ich stärker am Leitfaden orientierte Nachfragen stelle. Dies führt dazu, dass das Interview sehr stark von den Fragen dominiert wird, statt der Interviewten die Relevanzsetzung zu überlassen. Es ist jedoch auffällig, dass die Interviewte relativ resistent gegenüber meinen Nachfragen ist. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass sie oftmals Dinge erwähnt, nach denen gar nicht gefragt wurde – beispielsweise um ihre hedonistischen Züge zu betonen oder die Verinselung ihrer Lebenswelt zu thematisieren. Insgesamt handelt es sich bei diesem Interview nicht um eines, das den Idealanforderungen an die Gesprächsführung eines narrativen Interviews entspricht: Die Interviewerin greift stark durch zielgerichtetes Nachfragen ein, teilweise werden dadurch thematische Brüche und Sprünge herbeigeführt und die Nachfragen beziehen sich insbesondere auf die aktuelle Lebenssituation und nicht auf den Lebensverlauf. Gleichzeitig ist es aber trotzdem für eine narrative Analyse äußerst fruchtbar, wie die folgenden Seiten zeigen werden. Ich möchte hier außerdem veranschaulichen, dass auch vermeintlich nicht ideal verlaufene Interviews zu einem großen Erkenntnisgewinn führen können.

4.1.1

Strukturelle Beschreibung des Go-Alongs

Wir starten unseren Rundgang direkt nachdem wir aus dem Taxi ausgestiegen sind. Das Wetter ist unfreundlich, der Himmel ist grau, es nieselt und ist kalt. Ich habe das Gefühl, dass Emine den Rundgang angesichts des Wetters gerne hinter sich bringen möchte. Die Tour wirkt etwas gekünstelt. Trotzdem ist der Rundgang retrospektiv betrachtet überaus wichtig und erkenntnisbereichernd für die Analyse, da sich bereits hier wichtige Kriterien für Emines Relevanzsystem ankündigen und wir einige Dinge ansprechen, auf die wir im Interview näher eingehen. Als erstes beschreibt mir Emine die verschiedenen Grundrisse der vorhandenen Wohnungstypen, die sich in der Site befinden: kleinere Apartments für Einzelpersonen bis hin zu größeren Duplex-Wohnungen für Familien. Die Größe der Wohnungen reflektiert sich in der Größe der Wohnblöcke. Es gibt Wohnblöcke mit etwa sieben Stockwerken und welche mit zwölf Stockwerken. Zwischen den Häusern befinden sich Straßen mit Bürgersteigen auf jeder Seite und kleine Gärten, Parks und Kinderspielplätze. Auf mich wirkt die Anlage trotz des Wetters freundlich, aufgeräumt und angenehm grün. Die Grünanlagen sind gepflegt und abwechslungsreich bepflanzt, auch wenn die Bäume aufgrund ihres jungen Alters noch recht klein sind. Emine erklärt, dass lediglich ein Wohnblock schon vor dem Bau der Site, deren Fertigstellung 2012 erfolgte, auf dem Areal gestanden hätte. Dessen Fassade sei im Anschluss an das Außendesign der anderen Bauten angepasst worden. So ergibt sich ein homogenes Bild des Komplexes, auch wenn die einzelnen Blöcke unterschiedlich gestaltet sind.

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Die Site ist durch Mauern und Zäune nach außen hin gesichert. Es gibt mehrere Tore. Wir treten durch das Haupttor ein, an dem das Emblem der Immobilienfirma, die das Projekt gebaut hat und betreut, prominent platziert ist. Es parken nur wenige Autos auf den Straßen und an einigen Stellen sind sogar Kinderfahrräder abgestellt – ein seltener Blickfang in dieser Stadt. Generell ist auf den Straßen in der Site wenig los. Der einzige bedeutsame Verkehr ist durch Shuttlebusse geprägt, die die Einwohnerinnen und Einwohner bringen und abholen. Emine nimmt den Regelverstoß der parkenden Autos direkt als Anlass, um eine Einschätzung ihrer Nachbarinnen und Nachbarn zu liefern. Sie beschwert sich, dass manche Anwohnende, wie Familien mit kleinen Kindern, ihre Autos vor den Häusern statt in der Tiefgarage parkten. Ihr scheint viel an der Ordnung in der Site gelegen zu sein. Ihr Unverständnis für diese Handlung deutet auf eine wichtige Einstellung hin, die sich später bestätigt: die Überzeugung von einem meritokratischen Leistungsprinzip innerhalb gesetzter Regeln.

Abbildung 3 – Siedlungsstruktur Nachbarschaft Emine

Fotos: © LR

Wir besichtigen zusammen den Swimmingpool, der zur Einrichtung der Site gehört und der gegen einen Aufpreis mitgenutzt werden kann. Emine berichtet, dass ihre Familie den Pool im Sommer auch benutze und insbesondere ihr Sohn daran sehr viel Spaß habe. Sie selbst finde es dort im Sommer aber zu voll. Auf die Nachfrage, ob Turan den benachbarten Bolzplatz nutze, verneint Emine und erzählt, dass er noch nie gerne Fußball gespielt habe und auch sonst kein »nor-

4. Einzelfallrekonstruktionen

maler« oder »typischer« Junge sei. Um diese Aussage zu illustrieren führt sie eine Anekdote über Turan an: »Sie erzählt mir darauf hin, dass ihr Sohn bereits mit sieben Jahren lesen lernen wollte, bevor es in der Schule soweit war, weil sein Freund damit angegeben hatte, dass er lesen könne. Also wollte er es auch lernen und tat dies innerhalb von drei Tagen. Später stellte sich heraus, dass der Freund es doch gar nicht konnte. Aber dies sei eine typische Geschichte über Turan. Auch wenn sie mir später erzählt, dass er Wettbewerbe überhaupt nicht leiden kann.« (Beobachtungsprotokoll Emine) Sie bringt mit dieser Anekdote nicht nur ihre Bewunderung für ihren Sohn zum Ausdruck, sondern auch ihre Überzeugung davon, dass sich harte Arbeit lohnt und sie Täuschungsversuche und Betrug ablehnt. Außerdem wird hier wieder deutlich, welch hohe Position Bildung, insbesondere formale Bildung, im Relevanzsystem der Familie einnimmt. Während unseres Rundgangs durch die Site bemüht sich Emine oftmals um eine Distanzierung zwischen ihr und den anderen Anwohnerinnen und Anwohnern, sowie den Einrichtungen der Anlage: Der Pool sei ihr zu voll, mit den Sporteinrichtungen könne sie nicht viel anfangen, die Nachbarskinder seien unerzogen und die öffentliche Ordnung werde missachtet. In einem Gespräch während des GoAlongs sagt sie: »Only because they have money to live here, doesn’t mean they are also good people«. Mit diesen Worten verstärkt sie die Differenz der verschiedenen ortsansässigen Dispositionen, lässt aber offen, wie die Charakteristika dieser aussehen. Emine beschreibt während des Rundgangs ihre eigene Kindheit als Kontrastfolie zu der Kindheit ihres Sohnes. Sie habe stets mit ihren Freunden auf der Straße gespielt und wäre erst am Abend nach Hause gegangen. Solch eine freiheitliche Raumnutzung negiert sie aber für ihren Sohn. Obwohl die Familie in einer überwachten, abgeschirmten Site wohnt, möchte Emine nicht, dass ihr Sohn mit den Nachbarskindern spielt. Die Abgrenzung nach außen scheint für sie in diesem Fall nicht zu genügen, da auch der Innenraum genug Gefahrenpotential für ihren Sohn darzustellen scheint. Die Kontrollfunktion der Site scheint ihr unzureichend. Im Rahmen des Rundgangs durch die Site lassen wir auch das zentrale Parkdeck nicht aus. Der ursprüngliche Plan, unter jedem der Häuser eine Tiefgarage zu bauen, sei im Laufe der Bauphase verworfen worden, erzählt Emine. Nun sei die Tiefgarage nicht von allen Häusern aus direkt zugänglich. Dies trägt wohl auch zur von Emine bemängelten Tatsache bei, dass einige Bewohnerinnen und Bewohner ihre Autos vor ihren Häusern parken. In einer so dicht besiedelten Stadt, in der physischer Raum – eben auch der für das Parken – Mangelware ist, sind das natürlich Luxusprobleme. Die Auseinandersetzung mit dem Parkdeck mag zunächst banal erscheinen. Aber sie illustriert doch sehr gut, wie eine Tiefgarage einerseits die

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alltägliche Lebenspraxis vereinfacht – man kann sich auf einen Parkplatz verlassen – und andererseits neue Alltagsrealitäten schafft – wie die Logistik des Parkdecks. So berichtet Emine von einer Freundin, die jedes Mal, wenn sie ihren Wagen abstelle, ein Foto mache, um ihn beim nächsten Mal schneller wiederzufinden. Emines Mann Murat würde sich dagegen stets das Parkdeck merken, um dann durch Betätigung des Funkschlüssels das Auto wiederzufinden. Das Parkdeck kann zusätzlichen Komfort in verschiedentlicher Hinsicht für seine Nutzerinnen und Nutzer bedeuten. So parke Murat das Auto im Winter in den untersten Etagen, damit es warm bleibe. Die Tiefgarage ist demnach zu einem neuen Nutzungsraum avanciert, der im Alltag vieler Großstädterinnen und -städter eine bedeutende Rolle einnimmt. Wir nehmen das hintere Tor der Site um unseren Rundgang in der angrenzenden Nachbarschaft fortzusetzen. Ich hatte Emine gebeten mir Orte zu zeigen, die für ihr alltägliches Leben von Bedeutung sind. Deshalb will sie mir nun die Einkaufsläden zeigen, die sie und ihre Familie in der Nachbarschaft regelmäßig aufsuchen würden. Auf dem Weg nach draußen bringt sie ihre Abneigung gegenüber hohen Gebäuden zum Ausdruck. Der Ausgang, den wir nutzen, liegt etwas oberhalb der Site, so dass man über ihre Dächer hinweg schauen kann. Emine betont, dass sie dieses Tor so oft benutze, weil sie diesen Ort so schön fände, da man den Himmel sehen könne. Sie zeigt mir ihren Lieblingsweg zum nahegelegenen Einkaufszentrum und zu den Metrobussen. Er führt entlang einer Grünanlage und Emine erzählt, dass sie gerne die älteren Damen beobachte, die hier die Fitnessgeräte benutzten. Emine zeigt mir, wo ihre Familie oftmals alltägliche Einkäufe mache und berichtet davon, dass sie frisches Obst und Gemüse in der Regel vom Wochenmarkt kauften, der jeden Donnerstag entlang der Straße hinter der Site stattfände. Gleichzeitig gesteht sie aber auch, dass in der Regel ihre Mutter die Einkäufe erledigen würde. Sie erzählt, dass ihre Mutter ihr viel im Haushalt und bei der Betreuung ihres Sohnes helfe. Darüber hinaus habe sie noch eine Haushaltshilfe, die auch koche. Sie schlägt dabei einen entschuldigenden Ton an, der mir zeigt, dass sie selbst zwiegespalten in ihrer Situation als arbeitende Mutter ist. Zum einen ist ihr beruflicher Erfolg hart erarbeitet und sie vertritt dieses Leistungsprinzip. Zum anderen weicht sie aber von den internalisierten Rollenvorstellungen ab. In Folge des Unterlassens von vermeintlich geschlechtsspezifischen Aufgaben wie Haushalt, Kinderbetreuung und Kochen sieht sie sich von der Norm abweichen. Gerade auch im Vergleich zu ihrer Mutter, die stellvertretend für sie diese Aufgaben übernimmt, wird ihr die unterschiedliche Lebenspraxis und ihre Andersartigkeit bewusst. Im Zuge ihrer Selbsttypisierung betont sie auch, dass sie nicht gerne Kleidung einkaufen gehe und folgert daraus: »I am not a standard/regular woman«. Sie lässt dabei offen, an welchen Standards sie sich hier orientiert, aber aus der Situations-

4. Einzelfallrekonstruktionen

spezifik lässt sich das Bild einer fürsorglichen, attraktiven und modebewussten Frau und Mutter ableiten. Auf dem Weg zum Bäcker, wo wir noch Brot für das Abendessen kaufen wollen, kommen wir an einer Reihe Restaurants vorbei, die die Straße säumen. Ich frage Emine, ob ihre Familie auch zum Essen hierherkomme, aber sie verneint. Wie sie auch im Interview betont, würden sie Restaurants in Shoppingmalls bevorzugen. Ihre Distanz zu den ansässigen Geschäften wird dabei noch deutlicher. Zwar verbindet sie positive Gefühle mit einzelnen Orten in ihrer Nachbarschaft, nutzt den Raum insgesamt aber eher funktional. Unser Rundgang kommt zu einem abrupten Ende als Emine einen Anruf bekommt: Ihr Sohn sei bereits am Haupttor der Site angekommen. Zu Beginn unseres Rundgangs erzählte sie mir, dass sie ihren Sohn jeden Tag vom Haupttor abhole, an dem ihn der Shuttleservice der Schule absetze, um ihn dann zur gemeinsamen Wohnung zu begleiten. Ich fragte mich zu dem Zeitpunkt insgeheim, warum ein zwölfjähriger Junge noch durch eine sicherheitsgeschützte Wohnanlage begleitet werden müsse, und Emine tat es zeitgleich mit einem »He likes to be loved« ab. Der Ernst dieser Situation für Emine wird mir aber plötzlich bewusst, als sie leicht in Panik ausbricht und hektisch zur Rückkehr drängt. Wir eilen zurück zu dem Tor, durch das wir die Site kurze Zeit vorher verlassen haben, und als Emine ihren Sohn schon kurz vor ihrem Haus sieht, vor dem bereits die Haushaltshilfe steht und wartet, um Turan in Empfang zu nehmen, rennt sie auf ihn zu. Ob dies auch ohne meine Anwesenheit so abgelaufen wäre, kann ich nicht beurteilen. Es besteht die Möglichkeit, dass Emine mein Bild von ihr als fürsorgliche Mutter nicht noch weiter beschädigen wollte. Gleichzeitig bestätigt diese Situation das protektive Verhalten Emines gegenüber ihrem Sohn, von dem sie vorher berichtet hatte und was sie in Gesprächen immer wieder an den Tag legt. In der Wohnung angekommen, gibt Turan mir zunächst eine kleine Führung durch die warmen und gemütlich gestalteten Räume. Er scheint froh zu sein, mich zu sehen und auch etwas aufgeregt. Wir essen mit der ganzen Familie und einem gemeinsamen Freund zu Abend. Im Anschluss gehe ich mit Emine in das Kinderzimmer, um das Interview zu führen.

4.1.2

Strukturelle Beschreibung des narrativen Interviews

Im Folgenden werde ich eine strukturelle Beschreibung des Interviews vornehmen. Dabei orientiere ich mich weitgehend an der gängigen Vorgehensweise in anderen narrationsanalytischen Publikationen. So wird der Großteil der einzelnen Interviewsegmente in ihrer Originalform wiedergegeben. Wo die Analyse es zulässt, wird jedoch auf die wortwörtliche Wiedergabe der Segmente verzichtet und sie resümierend dargestellt.

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Erzählstimulus »I: Okay. Ehm, maybe we can start with your background, like when your families moved to İstanbul, ehm, and eh, which places you stayed. You’d already told me you stayed in different places in İstanbul throughout your life and/« Der Erzählstimulus nimmt augenscheinlich Bezug auf etwas, das schon vorher Gesprächsinhalt gewesen ist. Er ist möglichst offen formuliert und regt die Informantin zum einen dazu an, etwas über ihren Background und ihre Familie zu berichten, und gleichzeitig die einzelnen Aufenthaltsstationen in der Stadt nachzuzeichnen. Als Erzählstimulus hat sich diese Formulierung in meinen unterschiedlichen Interviews bewährt, da sie zum einen eine gewisse Offenheit zulässt und gleichzeitig die Erzählung entlang der geographischen Bezugspunkte ausrichtet. Außerdem eignet sich dieser Stimulus im Rahmen eines narrativen Interviews, da er nach der Darstellung eines längeren Verlaufes fragt – nicht aber nach der Darstellung einer Kausalität. Im Kern geht es hier um die Darstellung der Wohn- und Umzugsbiografie der Befragten. Segment 1 »B: Okay, ehm, now I’m 45 years old, and my elder sister was born here, he’s/we can say that fifty years ago they have emigrated from [A-Şehir, Zentralanatolien] to İstanbul, eh, both of them were from [A-Şehir], they were married there, and eh then, ehm, my first elder sister was born in [A-Şehir]and then they eh came to İstanbul, 50 years ago. Eh, and when they first came to İstanbul, eh, they were at, eh, [A-Köy]. The older name. This was an Armenian name, [A-Köy], and it’s now name is [A-Köy], both them are both of them are still used. Eh, first they moved there and until I was eight years old, we lived there, eh, at [A-Köy], or [A-Köy] – the same place. And afterwards we eh moved to [B-Köy]. Ehm, we moved to [B-Köy] at the Bosphorus, at the Asian Bosphorus side. Ehm, and we spent se/at least six years there, six years, after six years I was ehm, thirteen years I mean, we moved to [C-Köy]. These are the/this location is also at the Anatolian side of İstanbul. Eh, and we lived at a house five years, I think, and then the last house we had get, ehm, (an aunt?) they are living in that house. So, I lived in/But afterwards when I married of course I came to the European side. Eh, before moving into this house, ehm, when when we were married at 1998, eh, we moved to [D-Köy]. [Murat’s] family’s house and we lived here, ehm, we lived there (.) at least twelve years, at least twelve years. Now I counted. And afterwards at two thousand (.) twelve I think, we moved to this house. And since we have been living here, at [E-Köy]. Also at the European side. Hmh.« Emine beginnt ihre Erzählung mit der Nennung ihres Alters (45 Jahre) und orientiert sich anschließend an den Geburtsdaten ihrer zwei älteren Schwestern: Die

4. Einzelfallrekonstruktionen

eine wird noch in der Herkunftsstadt ihrer Eltern geboren, die zweite bereits in Istanbul. Sie zeichnet die einzelnen Stationen in kurzer Ausführung nach: Vor etwa 50 Jahren erreichen ihre Eltern mit ihrer ersten Tochter Istanbul und lassen sich in A-Köy nieder. Als Emine acht Jahre alt ist, zieht die Familie nach B-Köy in der Nähe des Bosporus’ auf der asiatischen Seite der Stadt. Nach etwa sechs Jahren1 , Emine ist 13 Jahre alt, zieht die Familie nach C-Köy, ebenfalls ein Stadtteil auf der asiatischen Seite, wo sie fünf Jahre leben. Anschließend lässt Emine eine kurze Erzähllücke und setzt erst mit ihrer Heirat im Jahr 1998 wieder ein. Emine muss zu diesem Zeitpunkt etwa 26 Jahre alt sein. Sie zieht mit ihrem Ehemann für über zwölf Jahre zu seiner Mutter, wieder auf der europäischen Seite der Stadt. Erst im Jahr 2012 bezieht sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn ihre jetzige Wohnung in E-Köy. Emine gibt in diesem Segment wenige Details preis. Sie reichert die Erzählung lediglich mit einigen Kontextinformationen an, beispielsweise zur historischen Bezeichnung ihres ersten Wohnortes oder der geographischen Verortung (europäische vs. asiatische Seite der Stadt). Diese Informationen sind für mich als Interviewerin zum einen überflüssig, da ich mich mit den unterschiedlichen Stadtteilen auskenne, andererseits zeigen diese Ausführungen mir die Fremdzuschreibung seitens Emine. Sie scheint in mir eine unwissende Ausländerin zu sehen, die sich mit den örtlichen Gegebenheiten nicht auskennt. Dies bedeutet für ihre Erlebnisaufschichtung zum einen, dass sie unter Umständen bestimmte Dinge nicht thematisiert, da sie glaubt von meiner Seite kein Verständnis dafür zu bekommen, zum anderen bedeutet es aber auch, dass sie sich in den angesprochenen Bereichen zur Kontextualisierung gezwungen fühlt – auch wenn diese auf keiner ausführlichen Detaillierung beruht. Segment 2 »I: And you remember why you moved with your/when you were still young with your parents? Why you moved there? B: Hah, of course. When we were ehm at [A-Köy] we were the owner of the house. Ehm ehm, they had, yes, this was our house, but afterwards my family planned to get a larger house at the Anatolian side of İstanbul. Ehm, they planned to buy a house, eh, near the [A-Bulvarı]. Eh, so, they sold their house there and eh, get their (own/all?) money to buy a new house, at [A-Bulvarı]. Eh, we tried to, but unfortunately we, ehm, later on we understood that the same house was sold to two person at the same time. I: Oh. B: And afterwards we spent years at the law courts and we could only get a few 1

An dieser Stelle geht Emines Zeitrechnung nicht ganz auf. In diesem Rahmen sollen uns jedoch die groben Zeitangaben ausreichen.

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money back. That’s why we had to move to [B-Köy]. This time, the house at [B-Köy] wasn’t ours one. We rented it. Because our money has come to a little amount really. And we were three sisters then having education eh and my mother doesn’t work, she is an housewife, eh, so it was hard to buy a new house then ehm, so that’s why we spent our six or seven years in a rental house.« Erst auf Nachfrage führt Emine die Hintergründe zu den Umzügen aus. Im Zuge des Anwachsens der Familie versuchen sie ein größeres Haus (oder Wohnung) zu erwerben, scheitern jedoch daran, da sie getäuscht werden. Sie verlieren einen Großteil ihres Vermögens und die Familie ist gezwungen, in ein Mietshaus zu ziehen. Emine schildert diesen Vorfall recht neutral und ohne große Detaillierung. Es wird nicht ganz klar, was eigentlich passiert ist oder warum die Wahl gerade auf B-Köy fällt. Emines große Schwester muss zu diesem Zeitpunkt fast volljährig sein. Alle drei Schwestern befinden sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Ausbildung. Doch statt die Ausbildung der Töchter abzubrechen, geht die ganze Familie einen Kompromiss ein. Vermutlich wird schon hier die hohe Bildungsaffinität gesetzt, die Emine später in ihre eigene Familie überträgt – auch wenn ihre Mutter noch die traditionelle Rolle der Hausfrau auszufüllen scheint. Segment 3 »B: And afterwards eh, we again bought a house in [C-Köy], but it was a smaller one, it was a tiny, it was sweet, but it, eh, as we lived five people in the same house it was small for us, so that’s why we, again, we lived there at least for five or six years, I can’t remember exactly, but then we bought, after selling it we bought a larger house, the house now family lives in. It is suitable for five people to live in. That’s why we made such things. (B lacht)« Nachdem die Familie sich also von dem Rückschlag erholt hat, erwirbt sie erneut ein Haus, welches Emine liebevoll umschreibt. Jedoch scheint auch dieses Haus nur eine Übergangslösung zu sein. Emine bewertet es als immer noch zu klein für die fünfköpfige Familie. Erst weitere fünf oder sechs Jahre später schafft die Familie es endlich, ein geeignetes Haus zu erwerben. Dieser Erfolg muss vor allen Dingen von Emines Vater getragen worden sein, der der Alleinverdiener der Familie ist. Es wird deutlich, dass die Familie nichts geschenkt bekommt, sondern ihr Lebensstandard hart erarbeitet worden ist. Dieses Handlungsschema setzt auch Emine in ihrer Biografie fort. Segment 4 »I: Okay, interesting. And ehm, so you were saying, after you got married you lived together in [D-Köy]? B: In [D-Köy].

4. Einzelfallrekonstruktionen

I: In a house with [Murat’s] parents. B: [Murat’s] mother only. I: Ah, okay. And ehm, and then you decided to do/to move to [E-Köy]. B: Yah, at that period, for twelve years or so on, eh, we got some money. Because as we lived at [Murat’s] we didn’t pay for rent so we could keep our money. Eh, and after keeping enough money to buy a, eh, beautiful house, we bought here and then come back/come here. Ehm, when we bought this house, nothing was built in. Only at the project time we bought it. And afterwards, in two or three years the buildings were finished and then we moved here.« Auch in diesem Segment wird wieder deutlich, wie lang der Weg zum Erwerb einer geeigneten Immobilie – nun für Emines eigene kleine Familie – ist. Sie lebt circa zwölf Jahre lang mit ihrem Mann und später auch mit ihrem Sohn bei ihrer Schwiegermutter. Beide Ehepartner sind berufstätig und trotzdem dauert es über zwölf Jahre, bis sie sich ein eigenes Heim leisten können. Emine stellt diesen Prozess nicht erleidend dar, sondern als notwendiges Mittel, um zu ihrem eigenen Heim (»a beautiful home«) zu gelangen. Insbesondere im Vergleich zum Prozess, den Emine mit ihren Eltern und Geschwistern erdulden musste, um zu einem geeigneten Zuhause zu gelangen, scheint dies für sie die Normalität abzubilden. Die Wahl des neuen Heimes wird vor allen Dingen durch funktionelle, pragmatische Gesichtspunkte geleitet, wie das folgende Segment zeigt. Segment 5 »I: And why did you decide this place? B: Eh, it was near my eh job. The most important thing is that. Eh, because all of my student life, I got a long way. Eh, when I was at the medical school for six years, everyday at least I spent four to five hours on the road, unfortunately. Two hours going, two hours back, so, eh, I was really tired of ehm, the traffic and roads so on. The/eh our house at the [D-Köy] also it took one hour to ehm, to get to my job from there. So, the most important thing is, eh, it is a central place, we can reach everywhere easily, especially my job. Eh, that’s why we bought it from here. And also, ehm, we bought it as it is a new house ehm, especially in/the most important thing is eh, it is at the center of İstanbul. We can reach anywhere easily from here. That’s why we got that house from here.« Das neue Heim bedeutet nun endlich Erleichterung in Emines Lebenspraxis. Ihr Pendelweg wird drastisch reduziert im Vergleich zu ihren bisherigen Lebensstationen. Der Umzug stellt eine wichtige Selbstermächtigung für Emine dar. Zum ersten Mal kann sie sich bewusst für einen Ort entscheiden. Sie wählt jedoch nicht einen Ort, der für sie emotional bedeutsam ist, sondern einen, der ihr logistische Vorteile verschafft. Außerdem lebt sie nun zum ersten Mal in ihrem eigenen Haus-

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halt, getrennt von ihren eigenen Eltern und den Schwiegereltern. Gleichzeitig geht damit allerdings einher, dass sie sich nun selbst um Haushalt und Kindererziehung bemühen muss. Da sie als berufstätige Person diese Anforderungen nicht leisten kann, stellt sie hierfür Personal ein und bekommt Unterstützung von ihrer Mutter. Trotz des eigenen Heims bleibt folglich weiter eine enge familiäre Bindung bestehen. Segment 6 (1. Subsegment) »I: And did you know in advance what kind of people are going to life here? How your neighbors will be like? B: We weren’t quite sure. Even I’m not quite sure but ehm, but of course in the site, ehm, a high level of econom/eh the people who have a, ehm, more than average we, let’s say. Not so many rich, so much rich people, people like us. People like us, graduated from universities who have a social level. (Of course?) it has a socialideal social level and ideal economical position. Not too much rich, not too much poor, ehm, and it is safe. It seems safe, at least. We have a safety guard at the site door. So, that’s why. But I’m not quite sure about the people, eh, we live together, are eh, convenient for us. I’m not quite sure still at. (leicht lachend) I: Yeah, you were telling me a little bit when you were saying that that you don’t like [Turan] playing with the other kids for instance. B: Yah, some of the children I don’t like their ehm behaviors, really. Because, I’m always telling [Turan] to, eh, keep in touch well with his friends, eh, not using bad words, eh, not kicking anyone, not hitting anyone. But eh, the scene I see at the garden of the, ehm, site, is something different. For example at summers, even at twelve o’clock I can see even children of (eight?) seven age, age seven, playing outside. This is not something safe. This is something, I cannot understand this position. So, I knew that there are some people I can’t get in touch with, in this site, really. Eh, because of course children, eh, can be free, but under the control of their parents. Sometimes I feel that the parents do not control them. And, this is embarrassing for me. I don’t like this position. So I really don’t want [Turan] to eh, (.) I want [Turan], I don’t want him to get in touch with them too- too frequently. I: Yah, yah. B: Mhm. So in fact that that’s (mays?)/eh, that this is a clou for/the parents of them of course eh for the environment eh, that’s perhaps that’s why eh we can’t get in touch with the other ones living in the same building. We only say ›Oh, good morning, good evening‹ we’re okay. We say this, but I don’t know what their name is and what their jobs are. Only the ones eh I know is at the same flat (was) eh, I know what they are. But limited with only the flat.« Dieses längere Segment folgt in seiner Ganzheit einem stringenten Ablauf. Um die Argumentation zur Entscheidung für ihren derzeitigen Wohnort zu detaillieren,

4. Einzelfallrekonstruktionen

frage ich danach, ob Emine bereits vorher bekannt war, wer dort einziehen würde. Daraufhin gibt sie ihr Unwissen darüber preis und betont, dass sie selbst jetzt, nach mehreren Jahren Aufenthalt in der Site, unschlüssig darüber sei, wie ihre Nachbarinnen und Nachbarn wirklich seien. Sie vermutet zwar, dass sie ein gewisses »soziales Level« (beispielsweise Universitätsausbildung) und eine »ideale ökonomische Position« (also genügend finanzielle Mittel, um sich das Leben dort leisten zu können) haben, aber eben auch keinen Überschuss an Ressourcen. Von außen betrachtet scheint sie nichts von ihren Nachbarinnen und Nachbarn zu trennen (»people like us«). Diese Reduzierung auf sozialstrukturelle Merkmale scheint ihr aber nicht auszureichen, um sie vollends einschätzen zu können. Sie führt an, dass es sicher sei, relativiert aber im unmittelbaren Anschluss, dass es nur sicher wirke. Emine geht dann direkt dazu über, dass es ein vom Sicherheitsdienst bewachtes Tor gebe. Es ist diskussionswürdig, warum sie hier ihre unmittelbaren Nachbarinnen und Nachbarn in Zusammenhang mit dem Sicherheitsdienst nennt, der die Site ja eigentlich nach außen hin schützen soll. Eine sich aufdrängende Lesart ist, dass sie sich auf das »it seems safe« bezieht. Sie sieht in dem Sicherheitsdienst eine Fassadeninstitution, die die Bewohnerschaft im Glauben lassen soll, dass sie sich an einem sicheren Ort befände. Für Emine scheint dies jedoch nicht hinreichend zu sein und sie führt an, dass sie nicht sicher sei, ob ihre Nachbarinnen und Nachbarn »geeignet« für ihre Familie seien. Sie attestiert ihnen so die Abwesenheit von gewissen Merkmalen oder Charakterzügen, die sie für einen Umgang mit ihrer Familie qualifizieren würden. Um ihre Argumentation fortzuführen, frage ich nach einer Diskrepanzerfahrung, von der sie bereits zu einem vorherigen Zeitpunkt berichtet hatte – die Tatsache, dass sie es nicht gerne hat, wenn ihr Sohn mit den Nachbarskindern spielt. Sie stellt ihre eigenen pädagogischen Anforderungen an ihren Sohn dar, die nicht sonderlich erklärungsbedürftig scheinen: Er solle sich gut um seine Freunde kümmern, er solle keine schlimmen Wörter benutzen und nicht treten und schlagen. Diese Basisanforderungen sieht sie aber von den anderen Kindern der Nachbarschaft verletzt. Dafür zeichnet sie vor allem deren Eltern verantwortlich, die laut ihrer Beschreibung ihre Kinder viel zu spät und dazu noch unbeaufsichtigt draußen spielen ließen. Die Unterlassung der, ihrer Meinung nach, absoluten Aufsichtspflicht stellt einen groben Normenverstoß dar, der sie strikt von den anderen Eltern trennt (»people I can’t get in touch with«) und sie sogar in ihrem eigenen Selbstbild trifft (»this is embarrassing for me«). Interessanterweise relativiert sie ihre eigene Aussage damit, dass Kinder zwar frei sein sollten, aber eben unter der Kontrolle ihrer Eltern. Ein Kontrollverlust ist für sie schlichtes Versagen der festgeschriebenen Rolle als Eltern. Dabei benutzt sie den Begriff »Kontrolle«, was die Omnipräsenz der Eltern voraussetzen müsste, statt den der Grenze. Dies zeigt sich in der dargestellten regelrechten Überwachung ihres Sohnes. Statt ihm Grenzen zu setzen, innerhalb derer er sich frei bewegen kann – und dies könnten auch

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physische Grenzen wie die Mauern der Site sein – fordert sie, dass sein ganzes Verhalten unter ständiger Kontrolle liegt. Unter diesem Gesichtspunkt möchte sie den Kontakt zwischen ihrem Sohn und den Nachbarskindern möglichst gering halten. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss, dass sie auch keinen Kontakt zu den Eltern haben kann. Denn nicht nur könnte ihr Sohn negativ vom Umgang mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn beeinflusst werden, auch die institutionalisierte, nachbarschaftliche Anonymität wäre bei erhöhtem Austausch in Gefahr. Die Kommunikation beschränke sich, wie von Emine dargestellt, auf höfliche Floskeln wie das Grüßen. Sie betont, dass ihre Beziehung innerhalb der Bewohnerschaft »okay« sei und, dass die nötige Anonymität gewahrt werde (»I don’t know what their name is and what their jobs are«). Streitigkeiten auf der Grundlage differenter Vorstellungen von Kindererziehung und dergleichen würden diese Umgangsweisen beeinträchtigen. Um einen derartigen Hausfrieden nicht zu gefährden, scheint es für Emine die bessere Entscheidung zu sein, ihren Sohn dem nachbarschaftlichen Umfeld gar nicht erst auszusetzen. Emine führt zum Schluss dieser Sequenz noch an, dass sie lediglich mit einer benachbarten Familie nähere Beziehungen unterhielten. Leider verfehle ich an dieser Stelle, stärker darauf einzugehen, sondern schließe stattdessen mit einer weiteren Frage an, die die abwesenden Kontakte thematisiert. Segment 6 (2. Subsegment) »I: But, eh, would that be something that you would be interested in? In getting to know them a bit better? Or do you say ›No, I don’t like how they raise their kids, I don’t really want to get involved‹ B: Perhaps if I had enough time, perhaps I would plan. But I really don’t have enough time to get in touch with them because I even sometimes can’t find time to be with my friends. So, ehm, no I’m 45 years old and eh, knowing new people, ehm, is not, meeting new people is- doesn’t seem an advantage to me, because the other ones who know- who I knew up to now, seems more safe. I trust them more. Eh, it’s really, eh, difficult to know a people’s character, a person’s character. It’s really, it takes time. So I want to spend my time with the ones which I had spent up to now. That’s why perhaps I can’t/But if I was a housewife, probably I would be with them. I would know them. Because the housewives in the apartment, eh, get in touch with, eh, I know that for example they sometimes come together and drink tea and so on. But we don’t. I can’t, of course. Hmh.« Die gestellte Frage verfolgt an dieser Stelle die Strategie, dass die Erzählerin beim Thema bleibt – um den Preis, keine weiteren Erzählungen anzuregen. Denn die Frage hat insbesondere den folgenden Einfluss auf die Erzählerin: Sie zwingt sie dazu, die Beziehungen mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn im Verhältnis zu ihrer Lebenspraxis zu betrachten. Und da ist der Zeitmangel vordergründig. Für

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Emine ist es vermutlich insbesondere der alltägliche Zeitmangel, der ihr die nähere Kontaktaufnahme verbietet. Allerdings indiziert die Tatsache, dass sie ebenso ihr Alter anführt, eine diachrone Zeitperspektive: Sie ist nun 45 Jahre alt – lebensgeschichtlich betrachtet liegen somit die prägendsten und besonders identitätsstiftenden Lebensabschnitte wohl hinter ihr. Die sozialen Kontakte, die sie heute pflegt, sind aus früheren Lebensabschnitten erwachsen und erhalten dadurch ihre Legitimität und Emines Vertrauen. In der Site wohnt sie, in Relation betrachtet, erst eine kurze Zeit. Und Zeit scheint für sie eine grundlegende Bedingung zu sein, um persönliche Beziehungen aufzubauen. Als berufstätige Frau fehlt ihr sogar die Zeit, um ihre bereits bestehenden Kontakte zu pflegen. Wäre sie eine Hausfrau, so ein mir oftmals begegnetes Vorurteil das auch Emine zu teilen scheint, wäre das vermutlich anders. Dass der hausfrauliche Kaffeeklatsch ihr verwehrt bleibt, sieht sie in Anbetracht ihres beruflichen Engagements als natürliche Gegebenheit an (»I can’t, of course«). Segment 7 In diesem Segment, das hier nur zusammenfassend erwähnt werden soll, erzählt Emine davon, wie sie ihre Freizeit gemeinsam mit ihren Freundinnen und Freunden gestaltet. Sie erwähnt, dass sie sich, wenn die Kinder dabei seien, am liebsten bei jemandem zu Hause träfen, da es hier sicherer sei und somit für die Erwachsenen auch komfortabler. Ansonsten würden sie es vorziehen, auszugehen. An dieser Stelle manifestiert sich wieder die große Bedeutung des Sicherheitsund Kontrollaspekts in Bezug auf ihr Kind, das sich nur im Rahmen ausgewählter Gesellschaft aufhalten soll. Darüber hinaus schildert Emine, dass sie mit einem befreundeten Pärchen, dann allerdings ohne Kinder, auch gerne Auslandsreisen und Kurztrips unternehmen würden. Ich verstehe in dem Moment nicht ganz, warum Emine darauf zu sprechen kommt. In der Retrospektive lässt sich aber erkennen, dass es für sie von Bedeutung war, dies anzufügen. So wird in einem späteren Segment ebenfalls wieder auffällig, dass es ihr wichtig ist auch über das zu sprechen, was sie in ihrer Freizeit tut. Vermutlich ist dies für ihre biografische Selbstdarstellung relevant, um ebenso ihre hedonistischen Züge vorzustellen. Segment 8 »I: So how do you like the neighborhood here, or how how would you describe the neighborhood. What would you say is [E-Köy] like. What do you know about it. B: The places advantage is, it’s a central place, for me. Eh, but the thing I/the pefor the people who live here, I can’t say the same thing as this (unv.) I’ve done/I can’t ehm, know how just their characters are. But, it seems safe. It seems safe. For example, if I come late here/I come home late in the evening, ehm, I haven’t got a

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problem, since now. But especially I get a taxi when I/I get a taxi when I come here at nights. But, eh, it seems safe. No problem. Ehm, (…) no, I feel free, I feel good. (…) Ehm, what else (…) it has some green places, as you have seen, so, I like this place. If my job wasn’t this much near, perhaps I would prefer to live in Bosphorus. I love Bosphorus the most, as we have talked before, I want/I have to be next to my eh, job, so that’s why we are here. The most important advantage is really this one. But, I can’t say that I love too many properties of it, these are the summary. But if I had, if I would talk about [B-Köy], I would say the sea is wonderful, the trees are wonderful, the people are also wonderful. I can say it, because I KNEW that place, I had been/I have lived there for long years. Eh, but now also I’m trying to understand how a place is this, eh, because I’ve been living here for four years, or fif- we are in the fifth year now. Eh, but we had no problem. It’s okay. Hmh.« In diesem Segment wird Emine noch mal dazu aufgefordert, etwas näher auf ihre Nachbarschaft im weiteren Sinne einzugehen, da ihre bisherigen Erzählungen sehr vage geblieben sind. Jedoch zeigt sich auch hier wieder das zweckrationale Muster, das Emine angesichts ihrer Nachbarschaft an den Tag legt. Sie betont die zentrale Lage als besonderen Vorteil und wiederholt ihre Bedenken bezüglich ihrer Nachbarinnen und Nachbarn, die sie nicht genug kenne. Sie beschreibt nochmals, dass es sicher wirke und dass sie keine Angst haben müsse, im Dunkeln allein nach Hause zu kommen. Die betreffende Passage ist geprägt von vielen Redepausen, was darauf hindeutet, dass Emine nicht mehr weiß, was sie noch erzählen soll. Sie resümiert mit »I feel free, I feel good«, hebt die Grünanlagen positiv hervor, sagt aber, dass sie nicht allzu viele Eigenschaften liebe. Als Kontrastfolie führt sie ihre affektive Haltung zum Bosporus und ihrem ehemaligen Wohnort B-Köy an. Hier sei alles »wundervoll« und sie könne das auch beurteilen, weil sie den Ort wirklich gekannt habe, da sie viele Jahre dort gelebt habe. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass Emine E-Köy nicht richtig kennt, ihr der Ort also immer noch fremd geblieben ist. In Relation betrachtet stechen die sechs Jahre, die Emine in B-Köy gelebt hat, nicht sonderlich hervor. Allerdings lebte sie hier während eines besonders bedeutsamen und identitätsstiftenden Lebensabschnitts – von circa acht bis 13 Jahren. Dass sie den Ort also »kennt« bezieht sich nicht allein auf die Dauer des Aufenthalts, sondern auch auf die biografische Bedeutung des Ortes. Später wird sie noch ein weiteres Mal auf diesen Ort zu sprechen kommen. In jedem Fall wird der affektive Bezug zum Wasser durch ihre emotionale Verbundenheit zum Ort am Wasser verstärkt. Segment 9 »I: And ehm, which, like which facilities are you using in around the site. You said you would go to the swimming pool in the summers (unv.) B: Yah, we use the swimming pool. Ehm, we go for a walk in the evenings in the

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garden of the site. Ehm, the site has a sports club outside the, eh, the site, but you have to pay for it. I: The one you showed me? Or different one? B: No no, this is the swimming pool, the one, you see a white building out there, this is a/it is a sports club but you can’t pass from the site to it. First you should leave the site and then it has a special entrance at the street. Eh, when we moved here, we first ehm, attended that sports club with [Murat]. But I’m lazy about sports, so I (unv.) We pay too much and I saw that I couldn’t go so much so now I don’t go. But at the first year we moved here, we went to that sports club. But I think that sports club is not something suitable for me. Walking around, freely, is something more convenient to me. I like it more.« In diesem Segment wird nochmals darauf eingegangen, welche Einrichtungen Emine in der Site oder der unmittelbaren Nähe nutzt, wie sie also mit der gebauten Umwelt interagiert. In der Anlage gibt es Sport- und Kinderspielplätze, einen Swimmingpool samt umsäumendem Café, diverse Grün- und Aufenthaltsflächen sowie das von Emine hier angesprochene angrenzende Fitnessstudio. Diese Einrichtungen können neben ihrer zweckgerichteten Nutzung auch Begegnungsflächen für nachbarschaftlichen Austausch darstellen. Emine nutzt sie aber nur zweckorientiert: den Swimmingpool zum Abkühlen im Sommer, die Außenanlage für Spaziergänge, das Fitnessstudio zum Sporttreiben. In ihrem ersten Jahr habe sie zwar das Fitnessstudio genutzt, aber dann im Laufe der Zeit eine Aversion dagegen entwickelt und mittlerweile unterlasse sie den Besuch. Sie betont, dass das freie Umherlaufen ihr besser gefalle. Sie merkt dazu entschuldigend an, dass sie »faul« in Bezug auf Sport sei. Sie betont an dieser Stelle wieder das Verlangen nach Freiheit und Freiraum. Wie es schon in ihrer Aussage Platz fand, dass sie hohe Gebäude ablehnt, weil sie ihre Sicht einschränkten und sie sich dann gefangen fühle. Gleichzeitig pflegt sie eine Abneigung gegenüber dem Fitnessstudio – vielleicht aus dem Grund, weil sie sich hier beobachtet und kontrolliert fühlt. Das freie Umherwandern könnte im nostalgischen Bezug zum freien Spiel in den Straßen ihrer Kindheit stehen. Es könnte aber auch ein Gegenentwurf zum sehen und gesehen werden im Fitnessstudio sein – dieses bietet wie gesagt aufgrund der örtlichen Anbindung zum Wohnkomplex nur wenig Möglichkeiten zur Anonymität. Dass Emine aber gerade die Anonymität in Bezug auf ihre Freizeitgestaltung schätzt, zeigt das folgende Segment. Segment 10 In Anlehnung an die letzte Frage führt Emine in diesem Segment weiter aus, wie sie ihre Freizeit gestaltet. Sie beschreibt ein nahegelegenes Shoppingcenter, das vielerlei Optionen böte. Hier befände sich nicht nur ein Restaurant, das die Fami-

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lie gerne aufsuche, sondern auch ein Escape Room2 , den sie kürzlich besuchten, ein Kino und ein Theater. Emine betont, dass sie insbesondere das Theater liebe. Sie müsse ihren Mann zwar stets überreden, mitzukommen, aber am Ende würde es ihm auch gefallen. Dass Emine diesen Ort hier anführt, obwohl eigentlich nach der Nachbarschaft gefragt wurde, deutet auf seine große Bedeutung hin. Emine nutzt hauptsächlich ein anonymes Shoppingcenter, um sich in ihrer Freizeit zu erholen und mit Freunden und Familie Spaß zu haben – und eben nicht die dafür vorgesehenen Einrichtungen an ihrem Wohnort. Sie ist nicht auf ihre Nachbarschaft beschränkt, sondern kann aus unterschiedlichen Angeboten selektieren. Sie zieht dabei ein professionalisiertes, dienstleistungsorientiertes Freizeitangebot vor, dass die Stadt ihr bietet. Dies stellt einen wichtigen Gegenpol zu ihrer Arbeit dar. Segment 11 »I: Okay. Ehm, do you have the impression that there is a lot of change going on in the, in the neighborhood? People moving out, people moving in and stuff like that? Is it happening? B: Ehm, yes, sometimes. Sometimes I see, eh, I understand it from the trucks, coming in and going out. Ehm, the rentals seems to be expensive in this area, in the site. So I think that perhaps sometimes, eh, people find it too much for their economical position and change. I don’t know the exact reason. I can’t/I couldn’t have ch- I don’t have a chance to ask them, but really I see people ehm, moving to another place or coming in. It is frequent really, but I don’t know the reason, really. Yah. I: Do you mind, the change? Or, do you care about it? B: Not much. Because the ones who moved also I don’t know and the ones coming also I don’t know. (beide lachen) So it doesn’t make a difference. Hmh.« In Anbetracht des Kontextes der rapiden Urbanisierung zielt die von mir gestellte Frage darauf ab, mit diesem Prozess einhergehende Problemlagen zu thematisieren – wie den ständigen Zuzug von Menschen. Es wird hier deutlich, dass Emine diesen zwar bemerkt, er sie aber nicht wirklich stört. Sie kennt nicht die Gründe für Zu- und Wegzug der Personen, vermutet aber einen ökonomischen Druck. Sie führt an, dass es sie nicht störe, da sie ohnehin in einem anonymen Verhältnis mit ihren Nachbarinnen und Nachbarn lebe. Darüber hinaus ist ein häufiger Wohnortswechsel biografisch betrachtet auch nichts Besonderes für sie. Ihr geringes Interesse an der Fluktuation der Bewohnerschaft signalisiert auch einfach die Normalität, die dieses Phänomen für sie hat. 2

Escape Rooms oder auch Live Escape Games sind eine Form der Freizeitbeschäftigung, in der eine Personengruppe in einen Raum ›eingesperrt‹ wird, welchem sie durch Lösen verschiedener Rätsel versucht zu entkommen. In ihrer Dramaturgie bauen diese Spiele auf Computerspielen auf, die nach dem gleichen Prinzip funktionieren.

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Segment 12 »I: And from the building structure, do you have the, ehm, the impression that there is lot of change from the building structure? Like building/buildings are getting demolished and rebuilt or stuff like that? Is that happening around here? B: TOO much. TOO much. In every side of İstanbul. And we are in fact TIRED of it. Because there are always trucks everywhere, ehm, you don’t feel safe if there are trucks in the traffic. Eh, and also, ehm, too many buildings have been made in İstanbul for the last twelve or fifteen years. When we were children, İstanbul was a better city. It was more beautiful. Ehm, because of the earthquake, the, ehm, that happened in 1999, eh, people are trying to have new houses. I understand/I can understand this, but, eh, unfortunately the sweet houses will, ehm, will vanish in a few time, I think. Eh, you can see building constructions everywhere. We are tired of seeing building constructions especially at the sea shore. At eh, for example, Bakırköy, Ataköy, there are re/new places to us, ehm, and they have made buildings all along the seashore. This is something (nonsense?). In fact the people have the right to walk around the shore and/shore’s equal to, eh, public, but unfortunately, in İstanbul, this is not, ehm, this doesn’t happen, this doesn’t happen, so, eh, I’m not happy about the building constructions in İstanbul unfortunately. But we can do nothing. I: Mhm. (.) B: But, it happened in last 15 years. Last 15 years. For the last five years, everywhere building constructions. Everywhere. Before our sit- eh, our site also was, is a new, eh, site, eh, there was nothing in this place. It was an area for (ways?) or something, or, perhaps the owners, eh, have different ideas, for years nothing was built in this area. Yeah. Ehm, also we live at a new house (lacht etwas). Perhaps, opposing this is nonesense, perhaps, but, ehm, it shouldn’t be this much. The number shouldn’t be this much. The problem of Turkey is, people can find jobs, ehm, more easily at İstanbul only. If (.) ehm, job chances are given to people at the eastern side, I’m sure that they wouldn’t co- try to come here. Eh, so our mistake/our country’s mistake is this, I think. Ehm, (.) in order to, ehm, if people to/eh wi- continue to come to İstanbul, then these constructions will continue. So, first we should, eh, stop the emigration, perhaps. But stop the emigration, ehm, in a good manner. Not preventing people. First you should provide them the good conditions, THEN you should want them not to come here. I’m sure that, ehm, it’s not, ehm, (.), it’s not an easy life in İstanbul. They also know that. But they have it they come here because they have no other chance to earn money. So, ehm, İstan-/if it goes on like this, İstanbul will continue on building constructions, I think. (At the moment?). I: Yah. B: Hmh. (.) (lacht) I: So this is like one problem, maybe. From İstanbul. That’s too crowded.

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B: Too crowded. Yah, yah. I: Too many people, too many constructions. B: Too many buildings. Too many co-, constructions, yah. I: Do you see any other problems? B: In İstanbul? I: Yah. What, what would be mo/more problems? B: Traffic? (lacht) Can we count it as a, yah? It’s really our problem. Because it, ehm, it has an effect on your life quality. If you spend one and a half hour before coming home at the traffic, eh, at the way you can go/come at twenty minutes but at, eh, inspite of twenty minutes is you come here one and a half hour you come here angry. Yah, it’s, it directly affects your mood. So the traffic is also important, and, what else? (…)« An dieser Stelle gibt Emine eine Argumentationsabfolge wieder, die mir oft in den erhobenen Interviews begegnet. Deshalb habe ich dieses Segment auch nicht weiter unterteilt. Das Ansprechen der baulichen Veränderungen Istanbuls triggert in vielen Fällen eine Problemdarstellung, die wiederkehrenden Mustern folgt. Sie löst sich von den örtlichen Gegebenheiten und nimmt die gesamte Stadt in den Fokus. So auch im vorliegenden Fall. Die typische Darstellungsart ist die folgende: Es wird das Grundproblem konstatiert – aufgrund von Arbeitsmangel auf dem Land kommt es zum Zuzug in die Städte. Dies bringt wiederum weitere Probleme mit sich – die Stadt stößt an die Grenzen ihrer zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die Problemlage wird darüber hinaus von intervenierenden Bedingungen heimgesucht – die Stadt muss erdbebensicher sein. Daraufhin wird mit vermeintlichen Lösungen reagiert – es werden neue Gebäude gebaut und neues Land aufgeschüttet. Allerdings werden diese Lösungen nicht als die richtigen wahrgenommen, da sie erneute Probleme mit sich bringen – überlastete Straßennetze, überbaute Stadtteile, das romantische Bild der Stadt wird zerstört. Die einzig vertretbare Lösung wäre dann, den weiteren Zuzug zu unterbinden, indem man die Lebensbedingungen in den ländlichen Gebieten verbessert. Da es in meiner Analyse in erster Linie um das subjektive Darstellen und das subjektive Empfinden der jeweiligen Lebensrealität geht, ist die sachliche Richtigkeit der vorliegenden Aussagen für meine Arbeit weitestgehend uninteressant. Es wird jedoch deutlich, dass das Problem sowie die Lösungsfindung außerhalb des eigenen Handlungsbereiches gesehen werden. Emine sieht sich nicht in einer handlungsfähigen Lage (»we can do nothing«). Im gleichen Zuge fällt ihr auf, wie widersprüchlich diese Haltung ist. Denn ihre Familie zählt ja ebenfalls zu den urbanen Migrantinnen und Migranten, die im Streben nach besseren Lebensbedingungen in die Stadt zogen – auch wenn sie selbst zur zweiten Generation gehört. Heute bewohnt sie ein modernes, erdbebensicheres Haus in einer Großsiedlung und ist somit selbst Trägerin des Wandels,

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den sie beklagt. Allerdings konzentriert sie ihre Kritik auf den Zuzug der letzten 15 Jahre, was sie selbst und ihre kleine Familie freispricht. Als nächste Problemerfahrung schildert Emine den Verkehr: Es mache sie wütend, dass sie anstatt der üblichen 20 Minuten anderthalb Stunden für ihren Heimweg brauche, wenn die Straßen mal wieder überlastet seien. Sie sieht sich hier erneut in einer Situation ohne Handlungsoptionen. Zwar hat sie ihren Wohnort gewechselt, um Zeit auf ihrem Pendelweg zu sparen, doch nichtsdestotrotz kommt es für sie wiederholt zu langen Verzögerungen. In diesem Segment wird offensichtlich, dass Emine die Problemlagen einerseits weit entfernt von sich sieht – draußen auf dem Land, wo die Arbeitsbedingungen schlecht sind – sie aber trotzdem in ihrem alltäglichen Leben davon beeinflusst wird. Sie selbst fühlt sich nicht in der Lage, etwas dagegen zu tun. Gleichzeitig führt sie aber ein abstraktes »wir« an, das die Migration stoppen soll. Sie ist hinund hergerissen zwischen den Lebenseinschränkungen, die der Zuzug und die Nachverdichtung für sie mit sich führen, und dem Verständnis für das, wonach die Menschen streben, sowie ihrer grundlegenden humanistischen Einstellung. Es handelt sich nämlich genau um das, wonach Emine in ihrem gesamten Leben gestrebt hat: ein sicheres, schönes und erfülltes Leben. Segment 13 »B: As I love this city, I can’t find a problem. (lacht) In fact the people from, eh, outside İstanbul find too many, eh, bad things about İstanbul but I can’t, because I love İstanbul. Really. I love living/I have tried to live in another countries, but I couldn’t. People are different outside İstanbul. I think that, eh, in İstanbul people are, ehm, more like the European ones. But at the eastern side, they are like the eastern ones, (unv.) countries. So, ehm, (.)« Nach einer kurzen Pause des Überlegens fühlt Emine sich in der Aufgabe, ihre dargestellten Problemdefinitionen zu relativieren und das präsentierte Bild der Stadt zu reparieren. Denn eigentlich liebe sie ja die Stadt. Sie fühlt sich ihr zugehörig und grenzt Personen von »außerhalb« ab. Gleichzeitig betont sie die kulturelle Besonderheit der Istanbuler, die eher wie Europäer seien – im Gegensatz zu der Bevölkerung der östlichen Landesteile der Türkei. Sie selbst fühlt sich europäisch und sieht sich selbst nicht in der Lage, im Osten des Landes zu leben. Dies ist augenscheinlich definitorisch für ihr Selbstbild. Segment 14 »I: So what is it that you like, or that you love about İstanbul? The people? B: Perhaps it’s something personal. Because I have all memory/my memories in. Every year, every s- place I pass, I see something about my childhood, my youth, and so on. Perhaps this is the most important. And the other one, ehm, you can

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feel free in İstanbul. If you live in Anatolia, as a woman, you cannot, ehm, behave as freely as you do in İstanbul. For example if you come here, home at twelve o’clock, your neighborhoods, your neighbor will say, ›Mh, you co- she come/she came here at twelve o’clock‹ and so on. Ehm, but in İstanbul there is not something like (that?). And, ehm, you have a low chance of meeting the people you know, in İstanbul. I love this. Because you can behave freely. If I had lived in a small place, then this would be different. Even going to a restaurant with your family if you’re a doctor, for example, or in/if you are a (unv.) everybody would know you. I don’t like this one. Some people like this, eh, property, eh, because people show respect, eh, you’re a doctor, they show you respect they all know you. They all say ›Oh, come doctor, welcome.‹ I don’t like this. I want to be free, nobody should know me, I can treat, eh, freely with my family. Nobody should talk about me. Eh, that’s why I love İstanbul. Because in other states it’s like this. Even the academicians, their brains eh work different, really. Eh, they think different. For example in İstanbul, eh, in my department I work with five men. I’m the only woman. Ehm, and this is an advantage for me. This is not a disadvantage for me. Eh, we always spend time together. But at one year, I eh, lived in another space of Turkey, [B-Şehir], eh, for example I ehm, if you go to, for example, for a meal with your male colleague even they can say something about this. This was nonsense. I was so much angry hearing about this. So you can’t feel free as a woman there. But, eh, in İstanbul, yes, you can free/you are free. So, the best thing of İstanbul is, ehm, after memories I think this property. It’s so much important. For a woman, to live. (.) Yes, this is the most important thing. (.)« Im Anschluss an die Nachfrage, was Emine an Istanbul so liebe, führt sie eine Reihe wichtiger Eigenschaften auf. Als erstes wird ihr biografischer, persönlicher Raumbezug und ihr emotionaler Ortsbezug deutlich. Für sie ist die Stadt ein großes Tagebuch, in der sie an vielen Orten mit Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend in Berührung kommen kann. Hier drückt sich wieder einmal Emines positiver Bezug zu früheren Lebensphasen aus. Sie geht unbeschwert mit ihren Erinnerungen um, obwohl die Familie es, gemäß ihren vorherigen Erzählungen, alles andere als einfach gehabt hat. Weiter führt sie die freiheitlichen Eigenschaften aus, die sie mit der Stadt verbindet. Dabei geht es nicht mehr so stark um ihre Lebenspraxis und wie sie sich hier funktionelle Vorteile verschaffen kann, sondern um ein Lebensgefühl, das ihr die Stadt vermittelt. Für Emine ist die gegebene Anonymität von großer Bedeutung und liefert ihr erst die nötige Entfaltungsfreiheit. Hier hat sie das Gefühl, sich als Frau frei bewegen zu können. Dies betrifft auch ihre berufliche Karriere. Als Frau in einer männerdominierten Branche – wie sich in ihren Beschreibungen zeigt – will sie nichts Besonderes sein, sondern eine ganz normale Kollegin. Sie betont, dass ihr das in Istanbul mög-

4. Einzelfallrekonstruktionen

lich sei, aber an einem anderen Ort, zumindest innerhalb der Türkei, nicht. Sie illustriert dies mit einer kurzen Passage, in der sie von einem beruflichen Aufenthalt außerhalb Istanbuls berichtet. Dort habe sie sich dem Klatsch ausgesetzt gefühlt, allein wenn sie mit ihren männlichen Kollegen essen ging. In dieser Schilderung tritt die hohe Relevanz eines Normalitätsanspruchs hervor. Emine will als nichts Besonderes gelten – obwohl sie ja etwas Besonderes darzustellen scheint, insbesondere in Hinblick auf ihre berufliche Karriere. Sie will als normale Kollegin betrachtet werden, dabei versucht sie sich aus ihrer Marginalitätsstellung heraus zu heben und betont, dass es für sie kein Nachteil sei, die einzige Frau am Departement zu sein. Außerhalb ihres beruflichen Kontextes ist es Emine ebenfalls ein Anliegen, nicht erkannt zu werden. Sie verzichtet gerne auf die üblichen Respektbekundungen, die ihr und ihrem Mann als Ärztin und Arzt entgegengebracht werden würden, und möchte lieber nicht auffallen, wenn sie mit ihrer Familie unterwegs ist. Ihre Normalitätsbekundung kann zum einen als Bescheidenheit gelesen werden, zum anderen als eigentliche Voraussetzung für ihren freiheitlichen Lebenswandel. Erst durch die Anonymität, die sich allein schon aus der numerischen Größe der Stadt im Gegensatz zum kleinen, anatolischen Dorf ergibt, gepaart mit der von Emine dargestellten liberalen Einstellung der Stadtbevölkerung, wird ihr ihr derzeitiger Lebensstil ermöglicht. In ihrer Abschlusskoda scheint sich Emine nicht ganz schlüssig, was nun auf oberster Relevanzstufe steht: ihre Erinnerungen an frühere Lebensphasen oder die Möglichkeit der freien Lebensführung als Frau. Segment 15 »I: So, maybe, we can look at it a bit in the future. Like, ehm, you plan to stay in [E-Köy], do you have any plans moving to another place, or? B: Eh, perhaps for retirement. Until retirement, if my faculty/because my faculty is an old one and eh, there are some plans of it to moving it to another place. Even is/If it moves to another place, ehm, distant to home, then I would perhaps think eh, of planning to a new home. But of course it should also fit [Murat] and [Turan] also. I don’t know, ehm, but I would prefer living in Bosphorus. (Let’s?)/at least living at a place near Bosphorus. Perhaps in the future, I don’t know. Especially [B-Köy]. Because I lived my happy days, very happy days there and I think that I would be very happy again if I can live there. But now, perhaps we could buy a house from there, eh, but it would be, ehm, too much difficult to arrive at home. To arrive at job, arrive my job, so eh, but perhaps in the future. I don’t know (lacht etwas). Time will make the changes, I don’t know. You can’t guess. I: But you can’t/you couldn’t imagine leaving İstanbul. B: No no, I still imagine living in İstanbul. I think that, yah yah, no going nowhere. For example some of my friends said that, eh, we should go to the Aegean side, sea

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shore, I don’t think like this. I still want to live in İstanbul. Yeah. (You know?) my family is here, my sisters are here and my mother and father. In the future, who knows who will be alive. I don’t know. But, ehm, as my f- as the people I love are here, I think that I will continue/Even [Turan] will be an adult in the future. If he lives here, this will be something predictory for me. Eh, but perhaps he will choose to leave abroad, I don’t know. So it will/it may differ according the conditions. I don’t know. Hmh. (.) We’ll see. I: Okay. (lacht)« Zunächst zeigt dieses Segment Emines Zukunftspläne, die es jedoch in einer konkreten Ausführung nicht zu geben scheint. Es wird offensichtlich, dass sich ihre Zukunftspläne an den signifikanten Anderen orientieren, die für sie in ihrem Leben oberste Priorität haben. Die Loyalitäten zu ihrer Arbeitsstelle und ihrer Familie stehen damit an erster Stelle. Von den Plänen ihrer Freunde, die davon träumen, sich irgendwann an der Küste niederlassen zu können, distanziert sie sich. Sie sehnt sich zwar nach einem Wohnort am Bosporus, stellt ihre Wünsche aber hinter die von ihrem Mann und ihrem Kind. Ihr Blick in die Zukunft bleibt ungewiss (»I don’t know […] We’ll see«). Segment 16 »B: I think that making plans, plans, making plans, is something unnecessary. Because nobody knows tomorrow. Perhaps because we are doctors we think like this, I don’t know. Because tomorrow nobody knows that you will be alive tomorrow. So, making plans for future/some people are like this. They make plans for five years, for ten years – we never make plans. Because I know that they are (in vain?). You don’t know what will be on tomorrow. As a doctor we have lived this many times. Because not only the old patients die. You see the/No(w?) I’m not a (clichen?) but we/everyday I’m at the hospital. Sometimes you see people crying, losing a young person, losing a child and so on. So I think that’s life is not just a serious thing. You should live that/you should live today, you should thank god today, to the things you have given, and you shouldn’t make plans for/too many plans for the future. This is my life style, really. But when my/when I were young I didn’t think like this. But now at 45 age, I have seen that my experience has shown me that, for example you are with your friends, last year one of our class mates died because of rectum, rectus, eh cancer, rectus, as, who knows. We can’t know that we would also have – so. No plans, calm down, live a good life, try to be happy as much as you can, of course. If there is no problem on health then you should be happy. I think like this. My lifestyle is this. Really. But if you have health problems you can’t do nothing, I can understand it, but if you are/don’t have any health problems, you are the luckiest person. I believe. (lacht)  

4. Einzelfallrekonstruktionen

I: That was a good sentence. Yah. (…) So, I think I’m good for now with my questions. B: Okay.« In diesem Segment führt Emine ihre ungewissen Zukunftspläne weiter aus. Ihrer Meinung nach sei es unnötig, Pläne zu machen, da niemand wisse, was die Zukunft bringe. Sie erklärt dies unter anderem mit den Erfahrungen, die sie und ihr Mann als Ärztin und Arzt alltäglich machten: die Fragilität des Lebens und die Gesundheit als ausschlaggebendes Diktat. Aus ihrer Lebensperspektive heraus gälte nichts als gesetzt und man solle Gott für jeden Tag dankbar sein. Im Rahmen ihrer Erwartungsperspektiven wird nun das erste Mal im gesamten Interview ihr Glaubenssystem manifest, sie führt es jedoch nicht weiter aus. Für ihre Einstellung scheinen ihre persönlichen Erfahrungen jedoch bedeutender als die Handhabe Gottes – beispielsweise als sie einen Freund im Zuge einer Krebserkrankung verliert. Sie stellt sich wiederholt in einer machtlosen Position dar, in der sie nur auf die Anforderungen, die an sie gestellt werden, reagieren kann. Vermutlich spielen auch weitere biografische Erfahrungen hier eine Rolle. Der Betrugsfall ihrer Familie muss ihr auch gezeigt haben, dass nichts gesichert ist. Wenn die grundlegenden Voraussetzungen stimmen – also eine gute gesundheitliche Verfassung – solle man sich glücklich schätzen. An dieser Stelle wird erneut deutlich, wie wichtig es für Emine ist, sich nicht nur als fleißige Arbeiterin darzustellen, sondern eben auch als eine Person, die die Vorzüge des Lebens genießen kann. Segment 17 »I: Do you have anything to add or? Is there anything of importance to you about your environment or anything that that maybe I didn’t ask for? B: For example I would prefer to live fifty years ago in İstanbul. Yah, it was beautiful. Eh, in fact I’m unhappy that we are ruining such a valuable city. It is really, I believe that ehm, the things which makes a city valuable is it’s history and natural beauties. And really, İstanbul has, eh, natural beauties, eh, (.) I I would want to show you all of them. Because you have probably seen the limited ones. And, also the historical places, really. Also that’s why I love Rome. Eh, but Rome doesn’t have sea, unfortunately (lacht etwas). It is also//I: That’s true (unv.) (lacht)//Yah yah. It is unlucky about that. Eh, s/I’m unhappy about the changes going on, unfortunately. Eh, but we can do nothing. People who should plan the environment/Because I’m a doctor, I can’t do nothing about it. But even I think that, ehm, nobody asks the architects or the other ones to plan. Or the, eh, site planners, eh their ideas. If they have asked, I think that it wouldn’t be like this. Ehm, I’m unhappy about this cause/condition, but nothing to do, unfortunately.«

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An dieser Stelle bekommt Emine die Möglichkeit, Dinge anzumerken, die wir bis dato nicht thematisiert haben. Sie verfällt direkt in einen romantisierenden Diskurs, in dem sie sich auf die Schönheit der Stadt bezieht, die vor 50 Jahren noch unberührt gewesen zu sein scheint. Die Vorstellung des damaligen Istanbuls könnte aus den Erzählungen ihrer Eltern her rekurrieren, die ebendann in die Stadt kamen. Diese fanden vermutlich ein Istanbul vor, welches noch nicht von urbanen Migrantinnen und Migranten, Schnellstraßen und Gebäudekomplexen überflutet wurde. Die Geschichte und »natürliche« Schönheit der Stadt sind für Emine identitätsstiftende Merkmale. Außerdem wird hier Emines Bezug zum Wasser wieder augenscheinlich, mit dem sie affektiv verbunden ist. Das Wasser stellt für sie einen besonderen Wert der Stadt dar, der Istanbul von anderen Städten unterscheidet und sie von ihnen abhebt. Der Vergangenheitsbezug ist für sie ein wichtiges, sinnstiftendes Merkmal. Im Rahmen der aktuellen Stadtentwicklung sieht sie diesen jedoch schwinden und findet sich nicht in der Lage, etwas dagegen tun zu können. Segment 18 »I: Yeah. (.) What do you think should be done differently? Or how/do you have/do you have an idea? B: Too many buildings. Buildings, they shouldn’t let too/so many buildings to be built. Even in this/at the sea shore you should, you have ehm, if I could show you at the Ataköy, perhaps you have, have you seen them (I bejaht). All of the sea shore new buildings. They are, ehm, they were sea in the past. They made, they put earth to it and afterwards they made these buildings. But if an earthquake comes what will be? Too many buildings they/Nature takes it back, it’s properties back. We have lived this thing at Gölcük, at the earthquake. Buildings were drawn into the sea. (.) So, how can they so, for example İstanbul has, has to make some plans for earthquake but nobody does. There are buildings but they are still old buildings. They should be, ehm, rebuilt or but not rebuilt, for example if you are/it is four flat builded ten flats. No, you shouldn’t let this. Because tall buildings, ehm, I’ve told you, I didn’t like the also in New York. You can’t feel free in New York. (.) They come to you. They come to you. You can’t see the sky, this is not something good. So, eh, I think that making tall buildings should not be accepted as civilization. It is not civilization. Civilization is having (one?) unit floors, unit flats eh with gardens and so on. So, ehm I: You don’t like the tall buildings. B: No, no no no. Not at all. [Turan] doesn’t also. (beide lachen) He hates. He hates. I: He also hates them? B: Hmh. Hmh. (…) That’s all, I’m sorry, but if you have, if you want to ask another question I can I: No I think, I think I’m good for now.«

4. Einzelfallrekonstruktionen

In diesem letzten Segment bringt Emine nochmals ihre Abneigung gegenüber der aktuellen Stadtentwicklung zum Ausdruck und paart sie mit hieran anschließenden Zukunftsängsten. In ihrer Vorstellung hat der aktuelle Städtebau die Natur durch das aufgeschüttete Land und seine Bebauung herausgefordert. Emine sieht diese Bebauung in direkter Gefahr im Falle eines Erdbebens. Sie vertritt hier eine Logik der allmächtigen Natur (»nature takes […] it’s properties back«). Sie rekurriert hier auf das Erdbeben von Gölcük aus dem Jahre 1999. Dabei sieht sie die städtebaulichen Reaktionen auf die Erdbebengefahr als äußerst diffizil an: Zum einen sollten alte Häuser restauriert oder abgerissen werden, zum anderen sollten aber auch keine allzu hohen Gebäudekomplexe errichtet werden. In diesem Rahmen treten ihre eher vormodernen Vorstellungen von Siedlungsstrukturen zu Tage. Sie vertritt die Ansicht, dass die »natürliche«, »zivilisierte« Siedlungsform klein, niedriggeschossig und mit Garten ist. Eine Vorstellung, die sich in der modernen Großstadt mit Platzmangel kaum verwirklichen lässt. Dies ist besonders interessant, da diese dörflichen Lebensweltvorstellungen in unmittelbarem Widerspruch zu ihrer sonst so liberalen Weltanschauung stehen, in der sie ihre Freiheiten insbesondere der sozial differenzierten, anonymen Großstadt zu verdanken hat. Ihre gesamte Existenz steht im Widerspruch zu ihren Idealvorstellungen. Hier vertritt sie allerdings die Argumentation, dass hohe Gebäude sie in ihrem Freiheitsgefühl einschränken würden, da sie sie einengen und die Sicht zum Himmel verhinderten. Sie zieht den Vergleich zu New York und meint: »You can’t feel free in New York«. Dies erscheint höchst widersprüchlich, in der sonst etablierten Sichtweise auf die Großstadt als Inbegriff des amerikanischen Freiheitstraums. Hier zeigt sich erneut die Widersprüchlichkeit zwischen Emines Wunschvorstellungen und ihrer Lebensrealität.

4.1.3

Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Emine«

Für Emines Fall ist es schwer, eine einzige dominante Prozessstruktur herauszuarbeiten, da ihre Narration von großen Lücken und einem geringen Detaillierungsniveau geprägt ist. Emine scheint in ihrem Lebensablauf keine Besonderheiten zu sehen – obwohl sie in beruflicher Hinsicht durchaus eine besondere Position einnimmt. In ihren Normalitätsansprüchen die sie präsentiert wird deutlich, dass sie als ganz normale Person gelten möchte. Sie durchläuft die einzelnen Lebensphasen, ohne auf außerordentliche Geschehnisse einzugehen. Selbst den Rückschlag im Zuge des Betrugs beim Immobilienkauf ihrer Eltern bearbeitet sie nicht eingehender. In diesem Sinne lassen sich Ablaufmuster erkennen, die in die institutionellen Ablaufmuster eingeordnet werden können. Ich werde mich nun auf einzelne Stellen der Narration konzentrieren, an denen sich Prozessstrukturen ablesen lassen. Darüber hinaus sollen in dieser Analyse die forschungsleitenden Phänomene Raum und Nachbarschaft eingehender behandelt werden. An diesen Stellen wird

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sich die analytische Abstraktion also ein Stück weit von klassischen Narrationsanalysen abheben. Im Verlauf der Erlebnisaufschichtung von Emine, die in großen Teilen von Argumentationen und Beschreibungen geprägt ist, wird eines besonders deutlich: Emine orientiert sich an einem meritokratischen Leistungsprinzip, das bereits durch die Familie sozialisiert wurde. Ob dieses Prinzip auch religiös bedingt ist, lässt sich aus den vorhandenen Daten nicht ableiten. In jedem Fall sind Regeln und Kontrolle für sie ausschlaggebende Mechanismen, die dieses Handlungsprinzip erst ermöglichen. Sich durch Regelverstöße Vorteile zu verschaffen lehnt sie ab, wie in ihrer Auseinandersetzung mit den Verhaltensweisen ihrer Nachbarinnen und Nachbarn deutlich wird. Auch wenn sie den Betrug ihrer Familie im Zuge eines Immobilienkaufs noch relativ nüchtern beschreibt, wird ihre große Abneigung gegenüber subjektiv als Fehlverhalten gedeuteten Handlungen offensichtlich. Diese Abneigung geht sogar so weit, dass sie versucht, sich weitestgehend aus der Interaktion innerhalb der Bewohnerschaft zurückzuziehen, um das freundlich-anonyme Verhältnis nicht zu gefährden. Das Leistungsprinzip als soziale Institution kann als institutionelles Ablaufmuster betrachtet werden. Das normativ-versachlichte Prinzip des institutionellen Ablaufmusters kommt hier besonders zu tragen: Regeln sind für Emine ungemein wichtig. Sie nähren gleichzeitig ihr Pflichtbewusstsein und die soziale Erwünschtheit, die sie mit bestimmten Dingen verbindet. So ist auch ihr Modus als Untersuchungsteilnehmerin mit besonderem Pflichtbewusstsein aufgezeichnet. Interessanterweise macht Emine bei näherer Auseinandersetzung mit ihrer Narration den Eindruck, dass sie ihre Legitimität innerhalb dieses Musters gefährdet sieht, da sie eine Frau ist. Sie will für sich aber keine Sonderposition im sozialen Gefüge innehaben. Sie will als ganz normale Frau, als normale Kollegin und als normale Ärztin angesehen werden. Sie will durch ihr Geschlecht oder ihren besonderen Status als Ärztin weder Vor- noch Nachteile erfahren. Dies ist vermutlich der Grund, warum sie stets an der Reparation ihres Handlungsprinzips arbeitet. Und dies wäre in Schützes Sinne wohl ein biografisches Handlungsmuster, in dessen Rahmen sie selbst steuert und Entwicklungen initiiert. Diese selbstermächtigte Steuerung manifestiert sich in der stetigen Kontrolle ihres sozialen Umfelds. Sie selektiert nicht nur Personen sehr strikt, was insbesondere im Umgang mit ihrem Sohn auffällt, sondern auch Räume und die Funktionen, die sie mit diesen Räumen verbindet. Die Nachbarschaft stellt für sie keinen organischen Raum dar. Sie möchte hier lieber wenig Interaktion haben, lehnt bestimmte Verhaltensweisen ab und betont sogar, dass sie nicht näher in Kontakt mit ihr treten kann. Private Räume, ihre eigenen, die ihrer Familie und von Freunden, sieht sie als sicher an. Hier kann sie sich entspannen, insbesondere da sie keine Angst um ihren Sohn haben muss. In ihrer Freizeit zieht sie ein professionalisiertes Angebot vor, was ihr zum einen Unterhaltung bietet – Kino, Theater, Escape

4. Einzelfallrekonstruktionen

Room – und zum anderen keine Gefahr für Rollenkonflikte darstellt, da sie in ihrer Funktion als berufstätige Mutter und Medizinerin unerkannt bleibt. Diese besondere Sozialökologie (Park 1974 [1925]) findet sie allerdings nur in der Großstadt. Sie führt differenzierende Erfahrungen an, beispielsweise aus einer anderen Stadt an der Schwarzmeerküste, und stellt hypothetische Vergleiche an: »If I had lived in a small place, then this would be different«. Interessanterweise verstrickt sie sich hier in einem thematischen Bruch. Auch wenn ihr dieser nicht aufzufallen scheint, so ist er doch eklatant. Sie spricht mit besonders positiven Emotionen und Erinnerungen über ihre Kindheit und romantisiert die Stadt von »vor 50 Jahren«. Sie spricht modernen Hochhäusern die Zivilisationsangemessenheit ab und betont, die richtige Siedlungsstruktur sei geprägt durch kleine Häuser mit Gärten – ein Rekurs auf dörfliche Lebensweisen. Der soziale Aufstieg, der für ihren aktuellen Lebensstil jedoch ausschlaggebend ist, ist eben erst durch die Urbanisierung zustande gekommen. Diesen Widerspruch aufzulösen ist nicht ganz einfach. Er könnte durch ihre innere Ambivalenz zwischen einer grundlegenden humanistischen Einstellung – wie sie sich in der Auseinandersetzung mit dem Migrationsthema zeigt – und einem genauso grundlegenden Misstrauen gegenüber fremden Personen zustande kommen. Andererseits könnte er auch aus einem mangelnden Verständnis für den sozialen Wandel herrühren, der ihre Lebenswelt massiv beeinflusst. Was Emine retrospektiv an ihrer Kindheit besonders schätzt ist die Tatsache, dass sie mit den anderen Kindern frei auf den Straßen ihrer Nachbarschaft spielen konnte. Diese Freiheit war aber nur unter der sozialen Kontrolle der Bewohnerschaft möglich: Jeder hat auf den anderen aufgepasst. Dieses Phänomen begegnet mir auch in anderen Fällen (vgl. Süleyman). Intuitiv weiß Emine, dass dieses Prinzip abhandengekommen ist. Das legt insbesondere ihr über-protektives Verhalten gegenüber ihrem Sohn an den Tag. Sie scheint dies auch zu bedauern. Die soziale Gemeinschaft und die Nachbarschaft als soziale Institution nicht nur der Reziprozität, sondern eben auch der gegenseitigen Kontrolle, existiert in ihrem aktuellen Leben nicht mehr. Jedoch haben Rollenausdifferenzierungen und die Auflösung der klassischen Vorstellung der Frau als Hausfrau und Mutter ihr neue Möglichkeiten eröffnet, ihr Leben in der Art und Weise zu leben, in der sie es derzeit tut. Die Freiheit ihrer Kindheit war geprägt durch soziale Kontrolle, die Freiheit ihres Erwachsenenalters ist geprägt durch die soziale Differenzierung, die die Großstadt bietet (Simmel 1984 [1903]). Dabei ist ihr bewusst, dass sie nicht die Norm in ihrer Lebensführung darstellt. Dies zeigt sich unter anderem an ihrer wiederholten selbstevaluativen Reflexion. Sie bezeichnet sich als »faul« im Kontext des Sportreibens, als »nicht normal/gewöhnlich« in Bezug auf Shopping und entschuldigt sich dafür, dass sie ihren Haushalt nicht selber führt. Diese Selbstpositionierung und entschuldigende Haltung fand ich besonders mir gegenüber interessant. Denn eigentlich müsste sie in

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

mir als bildungsaffiner, karriereorientierter Frau doch eine Gleichgesinnte sehen. Vermutlich reagiert sie hier auf die immer noch existierende Idealvorstellung der türkischen Frau, welche sie einerseits internalisiert hat, andererseits ablehnt und darüber hinaus als Normalitätsvorlage für Außenstehende annimmt. Und insbesondere im Vergleich zu ihrer Mutter sieht sie die generationalen Unterschiede zu Tage treten. Die Generation ihrer Eltern muss einen wichtigen Einfluss auf Emines Biografie und ihre biografische Arbeit haben, denn erst als gestandene Frau und Mutter löst sie sich von ihrem (Schwieger-)Elternhaus und bezieht ihren eigenen Haushalt. Darüber hinaus ist Emines Narration geprägt von der ständigen Diskrepanzerfahrung einerseits alles organisieren und kontrollieren zu wollen – wie Turans Tagesablauf und soziales Umfeld – und andererseits sich in einer handlungs- und planungsunfähigen Lage zu befinden. Die Einhaltung der täglichen Routinen, wie Turan vom Bus abholen, sind wichtige Kontrollhandlungsschemata für sie. Sie wird wütend, wenn dieser Ablauf kompromittiert wird, wenn sie beispielsweise im Verkehr stecken bleibt. Und an vielen Stellen in ihrer Narration wird deutlich, dass sie ihre Handlungsfähigkeiten in Bezug auf gesellschaftliche und städtebauliche Entwicklungen als sehr gering betrachtet. Dies findet sich auch in ihren Zukunftsausblicken wieder. Sie traut sich nicht, Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Sie weiß zwar, dass ihr derzeitiger Lebenswandel eng gebunden an die Großstadt ist, weshalb sie diese auch zukünftig nicht zu verlassen plant. Jedoch liegt ihre Loyalität ganz bei ihrer Familie – insbesondere bei ihrem Sohn – und sie ist bereit, für ihn ihren Lebensmittelpunkt zu verlagern. Am Ende ist sie also doch mit einem potentiellen Kontrollverlust konfrontiert und muss einsehen, dass nicht alles planbar ist. Für Emine haben bestimmte Orte eine besondere Bedeutung. Insbesondere ihr zweiter Wohnort, an dem Emine im Alter von circa acht bis 13 Jahren lebt, stellt für sie einen hohen emotionalen Bezugspunkt dar. Nicht nur liegt dieser am Wasser, was ihre Affektivität zu diesem womöglich noch gesteigert hat, sondern hier verlebt sie eine bedeutende Phase der Identitätsentwicklung. Hier lernt sie das Gefühl der Freiheit kennen, was sich durch ihre Biografie hindurch zieht – auch wenn sich dieses Gefühl zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich konstituiert. Auffällig ist, dass sie sich in ihrer Ortsbezogenheit retrospektiv orientiert. Nicht die alltäglichen Orte, wie beispielsweise ihre Nachbarschaft, sind bedeutend, sondern Orte, die sie an ihre Vergangenheit erinnern. Diese sind aufgrund der Umzugsund Pendelbiografie über die ganze Stadt verteilt. Deshalb ist Istanbul so wichtig für ihr Selbstbild, da es sich aus einem Mosaik an Erinnerungen ihrer Kindheit und Jugend zusammensetzt. Somit bildet die Stadt nicht nur einen voraussetzungsvollen Lebensraum für Emine, sondern ist gleichsam identitätsstiftend. In Hinblick auf die hier verfolgte Forschungsfrage ergibt sich die zusammengefasste Deutung, dass Emines Handlungsschema von großen Ambivalenzen geprägt

4. Einzelfallrekonstruktionen

ist. Offiziell lehnt sie die umfassenden Stadterneuerungsprozesse ab, gleichzeitig profitiert sie von ihren Vorzügen. Einerseits sieht sie die dörfliche Lebensweise als das »zivilisierte Leben« schlechthin an, andererseits möchte sie keinen Kontakt und keine Kontrollausübung seitens ihrer Nachbarinnen und Nachbarn. Sie präsentiert sich selbst als Etablierte der Großstadt und lehnt neue Migrantinnen und Migranten als Außenseiterinnen und Außenseiter ab, gleichzeitig ist sie sich der schlechten Lage dieser bewusst. Sie weist einen Vergangenheitsbezug auf – zu ihrer Universität und dem alten Istanbul – und orientiert sich doch an modernen Trends der Freizeitgestaltung. Trotz dieser vielen Widersprüche ist die Großstadt, sowie das Aufwachsen und Leben in ihr, konstitutiv für Emines Lebensverlauf und ihre aktuelle Lebenspraxis.

4.2

Süleyman – Abstieg eines Etablierten Zusammenfassung des Lebensablaufs Süleymans Familie väterlicherseits stammt ursprünglich aus Bulgarien. Sein Vater migriert in den 1950er Jahren aus einer Stadt an der Schwarzmeerküste nach Istanbul. Er ist eines von neun Geschwisterkindern. Als Grund für dessen Migration führt Süleyman sozio-ökonomische Ursachen an. Über den Hintergrund seiner Mutter oder den Zeitpunkt der Heirat liegen keine Informationen vor. Süleymans Eltern leben nach ihrer Eheschließung eine traditionelle Rollenaufteilung: Sein Vater ist erwerbstätig, seine Mutter ist Hausfrau. Die Familie lebt in einem Stadtteil auf der asiatischen Seite (F-Köy), als im Jahr 1973 Süleyman geboren wird. Er hat einen älteren Bruder und eine Schwester. Nach Süleymans Geburt zieht die Familie in ein etwas weiter außerhalb gelegenes Viertel (G-Köy) auf der asiatischen Seite, wo der Vater ein Stück Land erworben hat, auf dem er eigenhändig ein Cottage errichtet und einen Gemüse- und Obstgarten anlegt. Sie treffen hier auf viele Migrantinnen und Migranten von der Schwarzmeerküste. Seine Kindheit ist durch die dörflichen Strukturen des Viertels geprägt. Er geht in seinem Viertel zur Schule und hat auch seine Freunde hier. Spielorte sind vor allem die unasphaltierten Straßen, die Obst- und Gemüsegärten, das Ufer und ein kleiner archäologischer Park. Während Süleymans Kindheit beginnt die Familie nebenberuflich mit dem Bau eines Apartmenthauses auf dem Grundstücksbereich vor dem Cottage. Bis zur Fertigstellung vergehen laut Süleyman etwa 20 Jahre. Die Familienmitglieder, unter ihnen auch Süleyman selbst, helfen mit und er lernt viele praktische Fertigkeiten. Eine Baufirma wird nicht mit einbezogen und somit kann die Familie die gesamten Wohnungen für sich in Anspruch nehmen. Süleymans Familie ist mit dieser Lösung eine Ausnahme. Die restlichen Familien der Nachbarschaft arbeiten mit Bauunternehmen zusammen. In den 1990er Jahren studiert Süleyman an einer staatlichen Universität in Istan-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

bul internationale Beziehungen. Nach dem Studium nimmt er an der Aufnahmeprüfung für den diplomatischen Dienst teil und besteht die Prüfung. Er entscheidet sich jedoch gegen diese Karriere und promoviert stattdessen in seinem Studienfach. Er gründet eine Familie und im Jahr 2002 wird sein Sohn geboren. Um das Jahr 2007 ziehen sie in ihre jetzige Duplex-Wohnung, die in einem anderen Teil von G-Köy liegt. Zeitweise lebt seine Schwägerin mit ihnen zusammen in der neuen Duplex-Wohnung, da Süleyman für einen Zeitraum von sechs Jahren beruflich im Ausland ist. In dieser Zeit, im Jahr 2011, wird auch seine Tochter geboren. Nach seiner Rückkehr nimmt Süleyman wieder seine berufliche Tätigkeit in der Türkei auf. Zur Zeit des Interviews arbeitet er als Führungskraft im Personalbereich bei einem der führenden türkischen Großunternehmen. Süleyman, etwa 45 Jahre alt, ist ein alter Studienfreund eines gemeinsamen Freundes. Ich kenne ihn vor unserer ersten Begegnung nicht. Die Terminvereinbarung und Vorabinformationen laufen komplett über unseren Freund Mesut (B2 im Interviewtranskript), der auch während des Interviews anwesend ist. Das Treffen findet an einem Sonntagvormittag statt. Süleyman holt Mesut und mich von der U-Bahnhaltestelle mit seinem Stadtgeländewagen ab. Er ist sehr freundlich und seine Kleidung sportlich-modern. Süleyman möchte uns direkt etwas zeigen: In unmittelbarer Nähe zum UBahnausgang ist ein großes, umzäuntes Projektareal, auf dem eine luxuriöse Site geplant ist und teilweise schon gebaut wird. Süleyman kommt im Interview darauf zurück. Ich habe dieses Areal mit »Modern Kent« pseudonymisiert. Er erzählt uns, dass hier früher eine offene, grüne Fläche gewesen sei, auf der sie im Zuge des großen Erdbebens von Gölcük im Jahr 1999 während der Nachbebengefahr gemeinsam mit allen Bewohnerinnen und Bewohnern der Nachbarschaft ausgeharrt hätten. Er nimmt diese Erzählung auch später im Interview wieder auf und stellt sie als ein positives Erlebnis mit Festivalcharakter dar: Jeder hätte etwas zu essen dabeigehabt, es wäre Musik gespielt worden und man hätte sich unterhalten. Während der gesamten Zeit hätten die Wohnungen alle offen und verlassen gestanden – und nichts sei passiert. Süleyman hält offensichtlich nichts von dem Wohnprojekt, welches »das moderne Leben« darstellen soll. Während der Fahrt zu ihm nach Hause führt er bereits zahlreiche Anekdoten aus seiner Kindheit an, die er komplett in G-Köy verbracht hat. Seine enge Verwurzelung wird dadurch unverzüglich sichtbar. Nach einer kurzen Fahrt von circa 15 Minuten erreichen wir seine Wohnung, die in einem vom Meeresufer und der Hauptstraße eingekesselten Bereich liegt. Dadurch ist der Verkehr auf den Nebenstraßen sehr ruhig. Die Nachbarschaft ist geprägt von kleineren, freistehenden und modernen Mehrfamilienhäusern mit maximal drei Stockwerken im Villenstil. Da die Häuser aber keine Tiefgaragen haben, parken die Autos auf der Straße. Spä-

4. Einzelfallrekonstruktionen

ter erzählt Süleyman, dass der mangelnde Parkraum teilweise für Aggressionen zwischen den Anwohnenden sorge. Als wir an Süleymans Wohnung ankommen, bin ich von dem warmen und herzlichen Empfang sehr überrascht – seine Frau Nihal begrüßt mich, als wäre ich schon lange eine Freundin der Familie. An jenem Tag sind Süleyman und seine Frau sowie ihr 15-jähriger Sohn zu Hause. Die sechsjährige Tochter ist bei Verwandten zu Besuch und deshalb nicht anwesend. Nach der Begrüßung werden wir direkt in den Salon gelotst. Dort treffe ich auf ihren Sohn, Hakan, der mich schlagartig beeindruckt: »Kaum sitze ich, kommt Süleymans Sohn, Hakan, zusammen mit seinen Eltern und begrüßt mich auf Deutsch (hat er in der Schule gelernt). Ich bin ganz erstaunt. Er ist wie eine kleine Kopie von Süleyman. Ich glaube, ich habe noch nie einen so höflichen, gut erzogenen und erwachsenen 15-jährigen getroffen. Sein Englisch ist ziemlich gut. Auch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist sehr liebe- und respektvoll. Die beiden haben eine ganz ähnliche Art zu reden.« (Beobachtungsprotokoll Süleyman) Abbildung 4 – Siedlungsstruktur Nachbarschaft Süleyman

Fotos: © LR

Anschließend wird gemeinsam und in Ruhe gefrühstückt. Ich unterhalte mich dabei hauptsächlich mit Hakan, der den Ehrenplatz am Ende des Tisches innehat und neben mir sitzt. Er erzählt begeistert aus der Schule und von seinen zukünftigen Berufsplänen. Nach dem Frühstück setzen wir uns auf die Sofas und Nihal serviert türkischen Kaffee. Der gesamte Ablauf wirkt perfekt inszeniert und durchgeplant. Im Beobachtungsprotokoll spiegelt sich das ebenfalls wieder: »Ich fühle mich wie in einem wunderbar eingeübten Theaterstück, die Familie ist einfach unglaublich gut eingespielt und ich fühle mich sehr willkommen und wohl.« (Beobachtungsprotokoll Süleyman)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Kurze Zeit später beginnen wir, noch in gesammelter Runde auf den Sofas sitzend, das Interview. Der Anfang des Interviews ist noch etwas von den Hintergrundinteraktionen gestört: Nihal und Hakan bereiten sich langsam vor, um zum Schwimmunterricht aufzubrechen und verabschieden sich, nachdem das Interview schon etwa 15 Minuten läuft. Es dauert dann aber trotzdem noch eine Weile, bis sie tatsächlich aus der Tür sind. Der besseren Lesbarkeit halber werden diese Hintergrundinteraktionen ausgelassen, solange sie den Redefluss nicht unterbrechen. Darüber hinaus ist der Start etwas holprig, da ich versuche, nahtlos aus unserer Konversation in das Interview überzuleiten, um die reichlichen Erzählungen nicht abbrechen zu lassen. Süleyman ist jedoch von dieser Überleitung überrascht und übernimmt direkt selbst die Reparation der Situation, indem er mit einer kurzen, allgemeinen Vorstellung seiner Person beginnt. Süleyman ist ein sehr selbstbewusster Interviewpartner und trotz zwischenzeitlicher Formulierungsschwierigkeiten gestaltet er seine Redeanteile eigenständig und umfassend. Im Nachhinein drängt sich der Verdacht auf, dass Süleyman das Interview dafür nutzt, eine im Vorfeld entwickelte Eigentheorie darzustellen, die von all seinen Argumentationen, Beschreibungen und Erzählungen gestützt wird. Das Ziel seiner Eigentheorie ist es, den gesellschaftlichen Wandel von der Nachbarschaft ausgehend zu beschreiben und die tiefgreifende Problematik, die er der heutigen Gesellschaft attestiert, herauszustellen3 . Dabei ist auch das vorausgegangene Frühstück mit all seinen dazugehörigen Interaktionen Teil dieser Darstellung gewesen. Süleyman spricht immer wieder von Werten und Bindungen, die er, so scheint mir, während des Frühstücks praktisch darstellt und im Zusammenspiel mit seiner Familie verkörpert. Die hohe Relevanz der Eigentheorie wird insbesondere anhand Süleymans Erzählpräambel deutlich, die er direkt nach seiner persönlichen Vorstellung liefert. Eine Erzählpräambel zeichnet sich beispielsweise durch die vorgreifende Darstellung von »Grundprinzipien und Grundprobleme des eigenen Lebensgangs in Form von Argumentationen oder abstrakten Beschreibungen oder […] [durch] eine argumentativ-legitimatorische Auseinandersetzung mit möglichen oder faktischen zentralen Einwänden gegen bestimmte Haltungen und Entscheidungen im eigenen Leben« aus (Schütze 2016: 68). Bei Süleyman gestaltet sich die Einleitung samt Erzählpräambel folgendermaßen:

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Getragen wird diese Eigentheorie insbesondere von der Gegenüberstellung der einfachen, aber schönen und gemeinschaftlichen Vergangenheit und der individualistischen, egoistischen Gegenwart. Dies bildet sich auch begrifflich ab. So nutzt er im Interview besonders häufig Formulierungen wie »in the old days« (17-mal), »in/during my childhood« (8-mal) und die antagonistischen Formulierungen wie »right now«, »now«, »nowadays« (insgesamt 39mal), um nur einige Auffälligkeiten hervorzuheben.

4. Einzelfallrekonstruktionen

»B1: What’s changed, okay, so let me tell you about myself. I’m 44 years old and married with two kids, 15 years old and 6 years old, and, eh, I live in [G-Köy] and I USED to live in [G-Köy]/I was born, as a matter of fact, in Istanbul, in [F-Köy], eh, because there was only one hospital in Anatolian side of Istanbul which is [Sağlık]hospital, that’s why I was born there, but my family used to live in [F-Köy]. But when I was born they moved to [G-Köy], so all my childhood, all my youth, passed in [G-Köy], that’s why I say to my friends: ›I was born in [G-Köy], most probably I will die in [G-Köy]‹. Because there is a big transformation in Istanbul going on and people are moving to new areas, new flats, new resident- residential areas. But I prefer to stay here in [G-Köy] because, ehm, for me touching the people, you know, and, ehm, and living with the past, those items are very important. I think that when you move to a residential area, you’ll start a new life from scratch and you have to create new bonds. But it’s not that much easy because, as we discuss in the, in the breakfast/You asked a question to my son saying do you have friends like your father and he said no//I: yes//because this residen-, this is not a residential area, this is a classical, eh, how can I say, a street life right now, because/Yes, there’s a security maybe, there’s a gate but it’s not like big residential areas. It’s still Istanbul, I mean, not a private/ B2: Mahalle (unv.) B1: Mahalle, yes, mahalle culture. Right now, we have it. Eh, I will tell you in details.« Süleyman startet mit der kurzen Darstellung der für ihn wichtigen Personendaten, nämlich Alter und Familienstand. Dann fährt er fort und will eigentlich sagen, dass er bereits sein ganzes Leben in G-Köy verbracht habe – muss dies aber leider einschränken mit dem Hinweis darauf, dass seine Familie vor seiner Geburt in einem anderen Stadtteil gewohnt habe, in dem er auch geboren sei. Nach seiner Geburt zieht die Familie nach G-Köy, wo er seine gesamte Kindheit und Jugend verbringt. Das scheint für ihn die wichtigste Voraussetzung zu sein, um über dieses Viertel berichten zu können. Er sieht sein Viertel im Gegensatz zu der »großen Transformation« die in Istanbul im Gange ist. Diese Transformation sei geprägt von Personen, die in neue Wohnanlagen zögen – gemeint sind wohl geplante Sites. Er möchte aber in »Verbindung mit der Vergangenheit« bleiben, weshalb er nicht aus G-Köy wegzieht. Einen Ausdruck, den er während unseres Treffens wie ein Mantra immer wieder wiederholt, ist dabei: »I was born in [G-Köy], most probably I will die in [G-Köy].4 « Dabei wird bereits an dieser Stelle deutlich: Auch G-Köy ist nicht unbeschadet durch diesen Wandel gekommen. Obwohl er dem Viertel immer noch ein klassisches Nachbarschaftsverhältnis attestiert, fände sein Sohn kei4

Obwohl diese Aussage nicht der Wahrheit entspricht – Süleyman ist nicht in G-Köy geboren. Es handelt sich hier viel mehr um einen starken emotionalen Bezug zu G-Köy und der gefühlten lebenslangen Verbundenheit, die er mit dieser Aussage transportieren möchte.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

ne Freunde mehr in G-Köy. Süleyman sucht nach Schlüsseldefinitionen für seine Narration. Dabei ringt er zunächst mit der richtigen Bezeichnung für seine derzeitige Nachbarschaft. Er sagt, es sei ein klassisches »street life«, es sei immer noch »Istanbul« und nicht privatisiert. Mesut schlägt ihm dann den Begriff Mahalle vor, den Süleyman dankend annimmt. Es wird deutlich, welche Qualitäten Süleyman der Mahalle-Kultur zuschreibt: Es gibt eine nahe Beziehung zwischen den Personen (»touching the people«, »bonds«) und eine historische Verflochtenheit (»living with the past«). Süleyman kündigt daraufhin an: »I will tell you in details«. Neben der Darstellung seiner Eigentheorie erfährt man im Interview nur wenig über Süleymans Lebenswelt. Nur in der Darstellung seiner alltäglichen Routine oder den Schilderungen von Problemen, die er mit seinen Nachbarinnen und Nachbarn hat, erfährt man etwas mehr. Die Darstellungsform seines Interviews rekurriert sehr stark auf die Darstellung seiner Kindheit und setzt diese Erfahrungen in Kontrast zur heutigen Lebensweise. So setzt sich seine Eigentheorie Stück für Stück aus Anekdoten, Vergleichen und Argumentationen zusammen. Die Textstruktur wird dominiert von Argumentationen und Beschreibungen sowie der Erzählung mehrerer kurzer Episoden. Das gehäufte Auftauchen von Argumentationen steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Präsentation von Süleymans Eigentheorie und deutet erzähltheoretisch auf die Aushandlung von »Aspekte[n] der Moral oder Normalität, Fragen der Schuld und Verantwortung« (Griese 2009: 347) hin. Der Entwurf seiner Eigentheorie scheint Süleyman in ihrer Komplexität zuweilen zu überfordern. Er ist sich dabei der Diskrepanz zwischen seinen Ansprüchen und der Wirklichkeit bewusst, verstrickt sich aber immer wieder in ihnen, so dass es häufig zu pragmatischen Brechungen kommt und er sich den Zugzwängen der Argumentation ausgesetzt sieht. Darüber hinaus ist sein Redefluss sehr gestört – beispielsweise durch Wiederholungen von Silben und leichtes Stottern. Besondere Schwierigkeiten im Rahmen der Auseinandersetzung mit Süleymans Erlebnisaufschichtung stellen jedoch die häufigen Unterbrechungen des Sprechablaufs mit häufig wiederholten Formulierungen wie »whatsoever«, »let’s say« und »you know« dar. Hinzu kommt, dass es ihm sehr schwerfällt, einen begonnenen Satz korrekt zu beenden. Ich kann an dieser Stelle nicht einschätzen, ob es dem Umstand geschuldet ist, dass wir das Interview in einer Fremdsprache führen oder ob es sich um eine andere Ursache handelt. In jedem Fall habe ich mich dazu entschlossen, das Interview in der folgenden Darstellung rigoroser zu glätten, als ich es normalerweise tun würde. Im Rahmen einer besseren Lesbarkeit und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit ist dies äußerst sinnvoll. Wie bereits im Vorwort zu diesem Kapitel angekündigt werde ich mich in dieser und den folgenden Fallrekonstruktionen auf die Darstellung der zentralen biografischen Erfahrungsräume konzentrieren, die die thematische Feldanalyse ergeben hat. Dabei bin ich zu drei zentralen Erfahrungsräumen gelangt: Die Kollektiverfah-

4. Einzelfallrekonstruktionen

rungen im Mahalle, die Isolationserfahrungen in einer antagonistischen Nachbarschaft sowie die soziale Resignation und der Rückzug ins Private. Auch wenn diese Erfahrungsräume in der Narrationsabfolge des Interviews nicht immer so trennscharf abgearbeitet werden, ist es für die Analyse doch sinnvoll, sie getrennt zu beschreiben. So wird der Leserin oder dem Leser Süleymans Eigentheorie im Rahmen seiner biografischen Erfahrungen erst wirklich verständlich.

4.2.1

Kollektiverfahrungen im Mahalle

Der Vergangenheitsbezug zu den Kollektiverfahrungen im Mahalle stellt für Süleymans Erlebnisaufschichtung ein zentrales Motiv dar. G-Köy zeichnet sich größtenteils durch Migrantinnen und Migranten der Schwarzmeerküste aus, die somit von Beginn an einen gemeinsamen Referenzpunkt haben. So beginnt er die Detaillierung seiner Erzählpräambel mit der Argumentation, dass sein Sohn in der Nachbarschaft zwar keine Freunde habe – im Gegenteil zu ihm selbst in der Kindheit, wie wir später noch sehen werden – er aber trotzdem nicht aus G-Köy wegziehen möchte. Er möchte sich die Kontakte, die er im Viertel noch hat, erhalten: »But unfortunately [Hakan] doesn’t have any friends, that’s why for me moving to a residential area or new area meaning that I have to create such kind of bonds but I (hate?) to start some- some issues from scratch, that’s why I stayed here.« Gleichzeitig impliziert diese Aussage, dass Süleyman theoretisch die Wahl gehabt hätte, wegzuziehen – auch wenn er hier keine weiteren Hintergrundinformationen anführt. Die dargestellte lebenslange Verbundenheit mit G-Köy ist also selbstgewählt. Im Laufe des Interviews führt Süleyman immer wieder Beispiele für die gemeinschaftlichen Erfahrungen an, die er in G-Köy insbesondere während seiner Kindheit gemacht hat. Es wird deutlich, dass er nicht nur auf das enge Gefüge der Familie reduziert ist, sondern Teil eines größeren Kollektivs ist. Dabei kommt stets das fürsorglich und gleichzeitig kontrollierende Konzept von Nachbarschaft zum Tragen. Die gegenseitige Reziprozität beinhaltet auch eine soziale Pflicht – sie funktioniert nur, wenn alle Mitglieder mitspielen. Süleyman liefert in diesem Rahmen viele Beispiele im Umgang mit den Kindern der Nachbarschaft. Eines seiner ersten Beispiele findet sich in der folgenden Beschreibung wieder: »I remember when I was child and my mother was going to a BAZAAR, eh, because e-, every Thursday here in [G-Köy] there’s a bazaar and you can buy fresh vegetables, fruits or whatsoever/(select?) mahalle culture, eh, product, this bazaar item. And my mother was used to go there and my father was, you know, working, eh survive us, and I was alone in the home. And I remember there was no lock and she was shouting in the neighbourhood, (unv.) ›Nevin‹ or ›(unv.)‹ I’m going to bazaar

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

and [Süleyman] is alone and most probably he’s gonna sleep, so please take care of him.‹ And the door was open – everything was open. And I was alone and there was no theft, nothing I mean cos the neighbourhood was, you know, observing you.« Diese Erinnerung zeichnet ein dörfliches Bild der Nachbarschaft – es scheint ausreichend, wenn seine Mutter ruft, ihre Nachbarinnen oder Nachbarn würden sie dann hören. Darüber hinaus stellt Süleyman die geteilte Aufsichtspflicht für die Kinder als etwas Selbstverständliches dar – seine Mutter ruft nur, sie fragt nicht. Außerdem geht er hier bereits auf die Offenheit der Nachbarschaft ein, insbesondere die offene Tür ist ein Bildnis, das auch später wieder auftaucht. Alles ist offen und es gibt keine Diebstähle oder dergleichen – die Nachbarschaft passt auf. Es wird deutlich, dass er die Nachbarschaft als primäre Kontrollinstanz ansieht. Diese Kontrollinstanz hat ihm laut einer Anekdote sogar einmal das Leben gerettet. Süleyman erzählt, wie er als Sechsjähriger beim Spielen in ein Wasserloch auf einer Baustelle fällt. Er droht zu ertrinken, doch die Mutter seines Freundes eilt sofort zur Hilfe und rettet ihn. An einer Stelle während unseres Go-Alongs erinnert er sich an einen weiteren Unfall aus seiner Kindheit: Beim Klettern im Park mit seinen Freunden stürzt er und verletzt sich den Kopf. Er läuft direkt zur nahegelegenen Apothekerin, die ihn verarztet. Süleymans Erinnerung an die Nachbarschaft zeichnet sich also dadurch aus, dass man sich immer auf deren Hilfsbereitschaft verlassen kann. Für Süleyman sind diese Kindheitserfahrungen, insbesondere die mit seinen Freunden, so wichtig, da sie ihr soziales Verhältnis bis heute beeinflussen. Er schätzt die nostalgischen Rückbezüge, die sie zusammen auch in der Jetztzeit noch vornehmen können: »And we do remember our, you know, childhoods, and then we come together, we make some jokes, saying that ›Oh, you were eating tomatoes very much, do you remember when we were fastening?‹. Yes, we were fastening because of this Ramadan issue. And I remember it was very late to eat something and instead of staying this, you know, prayer, eh, from the mosque/not in the homes but in the gardens, because there were some fruits areas, fruit trees and we were waiting for the prayer to pray and to open our fastening accordingly. Not in the house but in our, for example, friends, eh, gardens.« An dieser Stelle wird die Rolle der gemeinsamen Religion und praktisch ausgelebten Religiosität deutlich, die ebenfalls konstitutiv für das Gemeinschaftsgefühl ist. Süleyman beschreibt, wie er die Fastenzeit zusammen mit seinen Freunden verbringt. Dabei halten sie sich nicht in der Moschee auf, sondern warten in den Gärten der Nachbarschaft so lange, bis es Zeit für das Fastenbrechen ist. Sie scheinen sich alle daran zu halten, es scheint keine Ausnahmen zu geben. Die Werte,

4. Einzelfallrekonstruktionen

die Süleyman verkörpert, sind auch religiös verankert. Er geht sogar so weit, die Nachbarschaft als eine Familie zu bezeichnen. Hier kommt wieder das Motiv der offenen Tür zu tragen, die jederzeit einen unerwarteten Besuch ermöglicht: »And I remember for example, eh, it’s not issue for us to have a dinner. So I may have dinner in my home with my families or I may go to my friends house. So, there is a concept in Turkish culture ›Tanrı Misafiri''5 . So we’re part of this mahalle culture and I go to Haydars house, or Hüseyins house, my friends, and I may have lunch or dinner with them and no one says (that?) why you are here, because they’re part of my family and I’m part of their family.« Süleyman interpretiert diese spontanen Besuche als etwas, das zur Kultur des Mahalles dazugehört. Solche Besuche können jedoch nicht nur der Geselligkeit dienen, sondern ebenso zur Kontrolle. In Süleymans Fall ist die Kontrollfunktion jedoch nicht negativ konnotiert, sieht er die Nachbarschaft doch als große Familie an, die alles miteinander teilt und sich gegenseitig hilft. Die gegenseitigen Besuche sind für ihn ausschlaggebend für die Aufrechterhaltung dieses Solidaritätscharakters. Dabei bewundert er in der Retrospektive die Einfachheit, durch die sich diese Besuche auszeichnen. Es ist nichts Besonderes und es gibt auch nicht viel Ablenkung. Selbst das Fernsehen läuft nur nebenbei und liefert höchstens Stoff für nachbarschaftlichen Tratsch und Gespräche: »In my childhood for example, ah, the son or the daughter of my neighbourhood was sending, was coming and saying that, ›Ismet Bey‹, or ›Ismet Amca‹, my father, ›my father and mother would like to come if you are available, would like to come to have a drink, to have a tea‹. Okay? And we were ›yes please‹ and they were coming and it was like (unv.)/People were sitting and there was no television. Yes, there was television but only one channel, black and white. (unv.) But people were, you know, skipping it and people were discussing, about politics, football or whatsoever. But at least they discuss and they/I mean children were playing. You share and you know his pains, you know. I mean the other neighbourhoods issues, problems, whatsoever and you would like to be part of it and you would like to be part of the solution as well.« Im Rahmen der nachbarschaftlichen Problemlösungsstrategien thematisiert er auch die besondere Position, die sein Vater in der Familie und Nachbarschaft innehat. Dabei bringt er seine Bewunderung für seinen Vater zum Ausdruck, den er als den »weisesten Mann« der erweiterten Familie bezeichnet, der jedem, der es braucht, mit Rat und Tat zur Seite steht. Später wird deutlich, dass Süleyman in der Gegenwart diese Position nicht mehr ausfüllen kann.

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Übersetzt: unerwarteter Gast.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

»For example, my father, eh, was, eh, how can I say, (.) the wisest man in our family. Eh, the big family, I may say. And everyone was coming to my father and asking his advice. For the marriage, for some problems, because they were thinking that there there/I mean, he’s gonna help them. And it’s also applicable for our neighbourhoods as well in [G-Köy]« Im Vergleich zu seiner heutigen Lebensrealität sieht Süleyman natürlich auch die Begrenztheit der damaligen Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt schlicht und einfach kein großes Freizeitangebot jenseits der Nachbarschaft. Er wertet das aber nicht als Nachteil, sondern sieht die mangelnde Ablenkung eher als einen Vorteil an, der die Leute im direkten Austausch einander näherbringt: »In the old days, ehm/Of course, in the old days there weren’t such opportunities like, you know, swimming pools, internet, Iphone, whatsoever. And people are OBLIGED to come together. Because of, you know, eh, existing, eh, opportunities. But at least people were spending time together. Families with families, and friends with friends.« Der nachbarschaftliche Zusammenhalt setzt sich auch in Krisenzeiten fort, wie eine Anekdote zeigt, die Süleyman im Interview wiederholt. In diesem Segment schildert er erneut die Erfahrung, die er als junger Mann während des Erdbebens von Gölcük macht. Das Erdbeben von Gölcük im Jahr 1999 stellt für fast alle Interviewte ein wichtiges Referenzdatum dar. Doch für Süleyman hat dieses Ereignis noch eine ganz andere, nämlich eine positive Bedeutung. Im Zuge des Aufenthaltes während der Nachbebengefahr auf einer Freifläche mit der ganzen Nachbarschaft spürt er die Solidarität und das gegenseitige Vertrauen. Für ihn scheint dies ein Schlüsselereignis darzustellen, da in einem Moment der Krise die ganze Gemeinschaft zusammensteht und sich gegenseitig stützt. Er konstruiert das Kollektiv, auf das er sich immer wieder bezieht, benennt es als »große Familie«. Gleichzeitig zeigt er seine Verweigerungshaltung gegenüber einer vermeintlichen »Modernisierung« durch modernen Wohnungsbau, die er als fehlerhaft wahrnimmt, da sie für die Zerstörung von Bindungen und Werten verantwortlich sei, die er als fundamental für ein gemeinschaftliches Miteinander ansieht. An dieser Stelle macht er insbesondere Veränderungen der gebauten Umwelt verantwortlich: Die Bebauung der Grünfläche führt dazu, dass es keinen Ort mehr gibt, an dem man zusammenkommen kann. »Unfortunately. because, you see, I mean this [Modern Kent] area, a new residential area is gonna build soon and there were so many trees/I remember, sorry for interrupting [Hakan], in 1999 there had been a big earthquake in Istanbul and all [G-Köy] areas/I, my mother in- eh in-law, my father in-law, all our relatives, friends, whatsoever, instead of staying at home/because there was a danger of repeating earthquake moves/we went to the garden, the big (barn?) of the [Modern Kent]

4. Einzelfallrekonstruktionen

area. Now, you know//I: I see//sold to Toki and [Immobilienfirma]. And two nights we stayed there, till in the morning and it was like, you know, fun. People, because people brought fruits, köftes, meatballs, musics, whatsoever and/I mean, yes, earthquake was a big issue for us, but, we, you know, how can I say, eh, circumvented this, forget about this. And we ate there, we discussed there. I mean, you see, right now they are gonna build, eh, a big residential area, and there won’t be any kind of square, any kind of, you know, area that people came together. So these are all, you know, changing life of Istanbul as well as Turkey as well. And people call it a modernization. It’s not a modernization. (.) Yes you can modernize yourself but you have to/You shouldn’t forget about your values. I mean, you should make some issues, I mean, some items survive. But yes, we are modernizing on- at one point but at the same time we are losing some, you know, bonds or some values that made us really a big family let’s say, in this area, unfortunately.« Die ständige Gegenüberstellung von damals und heute ist omnipräsent in Süleymans Interview. In der vorliegenden Darstellung meiner Analyseergebnisse habe ich eine mehr oder weniger künstliche Trennung der ständigen Vergleiche vorgenommen, um die Essenz sowie die Kontraste der beiden erlebten sozialen Wirklichkeiten nachvollziehbar zu machen. Für Süleyman ist allein seine Kindheit prägend und identitätsstiftend. Das macht sich auch in der Tatsache bemerkbar, dass wir im Rahmen unseres Go-Alongs unmittelbar seine derzeitige Nachbarschaft verlassen und uns in die Nachbarschaft seiner Kindheit begeben, die wir durch einen Fußgängertunnel unter der Bahnlinie her erreichen. Es wird deutlich, dass er mir Orte zeigen möchte, die für ihn eine symbolische und keine alltägliche Bedeutung haben. So zeigt er Mesut und mir beispielsweise seine alte Grundschule, weist Wohnorte seiner Kindheitsfreunde aus und erzählt Anekdoten an unterschiedlichen Stellen der Tour. Süleyman erklärt uns außerdem, dass er fast jeden Geschäftsinhaber und jede -inhaberin auf der Einkaufsstraße persönlich kenne. Im Interview präsentiert er ebenfalls diese Bekanntheit und führt die Besonderheit und Vorteile dieser Beziehungen aus: »But at least here I may have a chance to have this interaction. For example, I know this grocery [Taze] Market, very well. So I feel that if [Hakan] doesn’t have any money, for example, let’s imagine, I’m out of home, my wife is not here and [Hakan] unfortunately doesn’t have any money but he needs something. And he may go to this [Taze] Market ask that I would like to buy, you know, two bottles of water but I don’t have money and most probably that guy will say ›Okay, [Hakan], please have it, please (unv.), I know for sure that your father, or soon you’re gonna bring us money.‹ So there’s a trust, so, there’s a butcher over there, so, my wife likes them and knows them very well, so, when we go there, we know for sure that when we want sliced meat for example they will give us the best one. Because we

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

are their neighbour. They know for sure and they, they declare this. They openly, you know, eh, confessed this as well.« Während des Go-Alongs nimmt Süleyman immer wieder Bezug zu der einfachen Beschaffenheit der Welt seiner Kindheit: Die ungeteerten Straßen bereiteten beim Fußballspielen zwar Probleme, da sie sich an den großen Steinen die Füße stießen, nichtsdestotrotz erinnert er sich voller Sentimentalität daran. Die Gärten waren voller Obst und Gemüse, an denen sich die Kinder bedienten. Die gesamte Nachbarschaft war ihr Spielplatz. Sie waren frei und trotzdem nie unbeobachtet. Es gab kaum Ablenkung, die Nachbarschaft stellte den primären sozialen Kosmos dar. Sie bildete den Handlungsrahmen, der ihm Orientierungssicherheit gab. Es wird erneut deutlich, wie sehr Süleyman die Werte und Lebenspraxis des Zusammenlebens aus seiner Kindheit schätzt. Er verbindet mit ihr die Ehrlichkeit und die Erfahrungen, die sein Leben geprägt haben. Am Haus seiner Eltern angekommen, resümiert er den Bauprozess, wie er bereits weiter oben dargestellt wurde. Die Familie hatte das Haus aus eigenen Kräften heraus gebaut und auch Süleyman half auf der Baustelle aus. Er merkt dazu an »It cost me my childhood«. Gleichzeitig betont er aber, wie wertvoll er diese Erfahrungen schätze und dass er auch versuche, seinem Sohn handwerkliche Fertigkeiten beizubringen. Hier wird auch sein Glaube an harte und ehrliche Arbeit deutlich, die für ihn charakterprägend ist. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass Süleymans Nachbarschaft der Kindheit nur noch in seinen Vorstellungen existiert. Die Siedlungsstruktur ist zum Großteil von mehrstöckigen, großen Apartmenthäusern geprägt (siehe Abbildung 5, linkes Bild), die mittlerweile alle dem oberen Preissegment im städtischen Vergleich zugehörig sind. Selbst Süleyman schildert bedrückt die Tatsache, dass die Mieterinnen und Mieter seines eigenen Elternhauses ihn nicht kennen würden und ihn misstrauisch ansprächen, wenn sie ihn dort träfen. Von den ehemaligen Cottages ist nichts mehr zu sehen. Nur ein Haus, auf das Süleyman uns hinweist, ist im alten Stil erhalten geblieben (siehe Abbildung 5, rechtes Bild). Süleymans Erlebnisaufschichtung ist durch einen Bruch gekennzeichnet. Um das Jahr 2007 zieht er zusammen mit seiner jungen Familie aus der Nachbarschaft, in der er aufgewachsen ist, in einen anderen Teil von G-Köy, der durch Schienen und eine Hauptstraße von der gewohnten Nachbarschaft abgetrennt ist. Diese Trennung bringt aber nicht nur einen räumlichen Aspekt mit sich. Auch das Verhältnis zu seinen neuen Nachbarinnen und Nachbarn ändert sich schlagartig. Es scheint eine soziale und kulturelle Inkompatibilität zwischen ihm und der Bewohnerschaft zu geben. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den Erfahrungen, die Süleyman in diesem Zusammenhang macht.

4. Einzelfallrekonstruktionen

Abbildung 5 – Siedlungsstruktur alte Nachbarschaft Süleyman

Fotos: © LR

4.2.2

Isolationserfahrungen in einer antagonistischen Nachbarschaft

Mit dem Wegzug aus seiner alten Nachbarschaft in G-Köy in eine neue, ändert sich die soziale Zusammensetzung der Anwohnerinnen und Anwohner laut Süleymans Beschreibungen maßgeblich. In seiner neuen Nachbarschaft gelten ganz andere Verhaltensnormen als in seiner alten, mit denen er immer wieder in Konflikt kommt. Süleyman bemängelt den fehlenden sozialen Kontakt zwischen den Nachbarinnen und Nachbarn, was für ihn zu einem Werteverfall führt. »Okay, but right now, there was, there is no such kind of neighbourhood. No one is calling me and saying that/[…] For example, I’m living here almost ten years. I don’t remember that ANYone calling me and saying that ›[Süleyman], if you are available, we would like to come with our children and have a drink with you‹. And the same is (unv.) I never called anyone saying that I’m/Because of we lost our values. So there was no neighbourhood, komşuluk6 , eh, or mahalle culture.« Im Rahmen des Interviews kommt er häufig auf die Problematik der fehlenden Beziehungen innerhalb der Nachbarschaft zu sprechen. Er sieht hier jedoch keine einfache Kausalität, sondern stellt einen Teufelskreis dar: Es gäbe keine Nachbarschaft, da die Menschen keinen gemeinsamen Nenner und keine geteilten Werte hätten, und es gäbe keinen gemeinsamen Nenner und keine geteilten Werte, da die Menschen nicht in einer funktionierenden Gemeinschaft miteinander lebten. Der scheinbar unmögliche Ausweg aus diesem Teufelskreis ist auch Süleyman bewusst. Gleichzeitig befindet er sich in der neuen Nachbarschaft plötzlich in einer Konstellation, in der er den Außenseiter darstellt. Diese Außenseiterposition wird an 6

Ein weiterer Begriff für Nachbarschaft, der aus dem türkischen Wort »komşu« (angrenzend, benachbart) abgeleitet wird.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

den vielen Beispielen deutlich, die Süleyman im Interview anführt. Dabei stellt sich an mehreren Stellen heraus, dass Süleyman keine Dominanz- oder Vormachstellung im Hause hat – im Gegensatz zu einer Familie, die den Großteil der Wohnungen im Haus besitzt. Somit muss sich Süleyman auch Entscheidungen fügen, die er anders getroffen hätte. Ein Beispiel dafür ist die Anbringung eines passwortgeschützten Sicherheitstors vor dem Haus, die gegen Süleymans Willen von dem Großteil der Eigentümerschaft durchgesetzt wurde. »So you may ask what the fuck is going on, I mean, what are you doing here, I mean, everybody is open, and you make a door. Security issue. Because, the LANDlord of this building/right now in this building there are sixteen flats and out of sixteen flats nine, nine of sixteen is belonging to, eh, the family nearby us. So they have the majority, but we decide the decisions/I mean we decide all together, every year, when we all do/owners of the flats are coming together and we decide on that. And, and, last year or two years ago, when we came together/(.) […] one of them, eh, proposed the fact that because of security issues we have to put a gate here, and we have to put in a password. I said, I mean, ›Why do we need it? Whom we are gonna protect us?‹ It’s a, you know, mahalle, and everybody knows each other, I mean, to some extent. And all places are open but we put here a gate and a password. (Lachen) If a thief would like to come in, it’s very easy for him to come in. Instead of using/passing through this door, I mean he may just, you know, eh//I: Jump the fence//jump to the gates and do whatever he wants. But you see, I mean, people are not trusting each other.« Zunächst einmal scheint Süleyman im Vergleich zur restlichen Eigentümergemeinschaft unterlegen zu sein – obwohl sie alle Entscheidungen gemeinsam fällen würden, wie er betont. Er sieht keinen Nutzen in diesem Tor. Zum einen erkennt er die Notwendigkeit dahinter nicht. Sie würden schließlich in einer Nachbarschaft leben, in der man sich – zumindest bis zu einem gewissen Ausmaß – gegenseitig kenne. Für die restlichen Nachbarinnen und Nachbarn scheint die Nachbarschaft aber keine Kontrollfunktion zu haben. Süleyman attestiert ihr mangelndes Vertrauen ineinander. Zum anderen zweifelt Süleyman die Funktion des Tores an, da man es ohne größere Probleme einfach umgehen könne. Die Grundstücksbegrenzung könnte an anderen Stellen mühelos überwunden werden. Diese Widersprüchlichkeit und reine Symbolik, die hier trägt, untermalt für Süleyman die Oberflächlichkeit der Bewohnerschaft. Seiner Meinung nach würde es eher ein schlechtes Bild auf die Nachbarschaft werfen, als ein gutes. Die Etablierung des Tores schaffe eine symbolische Abgrenzung zum Rest der Nachbarschaft, die keine Sicherheitstore hat. Das Tor ist für ihn das materialisierte Misstrauen der Personen, die im Haus wohnen.

4. Einzelfallrekonstruktionen

»Could you imagine that there is a flat empty and you came here and you decided to rent, when you saw this gate, […] how come you think that you are gonna establish a, you know, close relationship the, eh, neighbourhood or neighbourhoods of this building. First thing, if I come new to this building, first thing, I, ask to myself: ›What kind of aliens live in here? What are they concerns? So that they have decided to establish this gate?‹« Süleyman fühlt sich den Einstellungen seiner Nachbarinnen und Nachbarn so fremd, dass er sich nicht in der Lage fühlt, mit ihnen eine Beziehung aufzubauen. Die Differenz scheint für ihn viel zu groß und unüberwindbar. Gleichzeitig kann er nicht von seiner eigenen Überzeugung abweichen – er ist felsenfest davon überzeugt, im Recht zu sein. »So I cannot make any relationship with them. Because my perspective is very different and their perspective is very different. They have, you know, security oriented, like U.S., like Soviet Union/And maybe we are a bit romantic. I mean, because we believe in the god, and, of course we have to knock every/we have to lock, you know, all the doors. You have to take all preventive measures for a theft issue. But if I take all, you know, preventive issues, then I leave everything to god, because that’s the destiny.« Dabei ist ein zentraler Differenzfaktor, dass Süleyman und seine Familie religiös sind und das Vertrauen in Gott für sie zentral ist. Die Familie scheint hier die Ausnahme zu sein. Die anderen Parteien seien eher »security oriented, like U.S., like Soviet Union«, sie orientierten sich also an anderen, ausländischen Mächten. Die Einstellungen seiner Nachbarinnen und Nachbarn scheinen für Süleyman nicht Teil der türkischen Kultur zu sein, sondern müssen von außen beeinflusst worden sein. Die von Süleyman empfundene Verletzung der für ihn zentralen Werte und Normen seitens der Nachbarschaft kommt auch in weiteren Anekdoten zum Ausdruck. So erzählt er von einer Nacht, in der seine damals noch sehr kleine und zu dem Zeitpunkt kranke Tochter weinte. Daraufhin habe eine Person aus der anliegenden Wohnung angefangen, an die Wand zu schlagen. Für Süleyman stellt diese Reaktion eine Verletzung des nachbarschaftlichen Kodexes dar. Er präsentiert sich und insbesondere seine Tochter in der Opferrolle. Er stellt die kindliche Unschuld gegen das unsensible Verhalten der benachbarten Person und ist enttäuscht, dass sie sich auf diese Art und Weise beschwert, anstatt ihre Hilfe anzubieten. »A baby. Two, three years old and everybody knows it. There is a little princess here, and this is/children, I mean. And they can cry whatever they want, because they are babies. They are the most innocent creatures of the world, okay? And instead of asking, ›How can I help you? What’s wrong with your baby? Do you need anything else?‹ instead of asking those questions, that lady was knocking the walls. And

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upon this, I also knocked. And, ›If, one more time, if you knock it, I will come and break your door‹, I said. I shouted. I remember. And they stopped it. And it was the son of this landlord. So, I’m the owner of this flat, I haven’t rented this, and he’s the owner of some of the flats over there. So, yes, they have the majority, but they don’t have the right to intervene your internal affairs, okay?« Gleichzeitig verstrickt er sich in seiner Reziprozitätsvorstellung von Nachbarschaft. Einerseits wünscht er sich den nachbarschaftlichen Austausch, auch und gerade bei Problemen, andererseits ist er der Meinung, dass seine Nachbarinnen und Nachbarn nicht das Recht hätten, sich in seine Angelegenheiten einzumischen. In jedem Fall lehnt er das aggressive Verhalten ab, auch wenn er mit ähnlicher Aggression kontert. Gleichzeitig stellt er sich aber als friedfertig und geduldig dar, was seine eigene Reaktion auf eine ähnliche Situation zeigt: »And two (unv.) later, their grandsons came to their home, from the U.S., okay? And he shouted in the midnight. What I did? I did nothing. (.) If I were the same person, like, like them, most probably I could have knocked the door and I could reach their door and saying that ›What the hell are you doing? You were knocking my door, it’s my turn right now.‹ Eh? You understand? I did nothing. Okay? So, this is what I am telling. I mean, okay, there is no empathy.« Süleyman begibt sich immer weiter in seine Eigentheorie hinein und unterfüttert sie mit vielen weiteren Anekdoten. Wie das oben genannte Beispiel zeigt, hatten und haben diese Schlüsselerfahrungen einen hohen emotionalen Wert für ihn. Im Laufe seiner Narration verstärkt er seine Position weiter, was auch auf seine Wortwahl Einfluss nimmt. Seine innere Betroffenheit von den Geschichten, die er erzählt, macht sich auch in der folgenden Episode deutlich, die hier in ihrer Ausführlichkeit präsentiert werden soll: »For example the flat below me. Ehm, I don’t know how had happen, there is a, eh, leakage of water, from somewhere else. And it made the wall of their toilet dirty. […] I think there was something wrong with the facility, some (unv.) leakage. But no one knows where this leakage is coming from. Either my flat or somewhere, because this ehm, building, infrastructures is such a complicated issue. For example, you think that eh, there is a leakage of water to your kitchen, first thing what you think it comes from the neighbourhood. Because it’s nearby near. But it doesn’t affect because of the lines, for example, it may come from the cross neighbourhood as well. So, and, without our information, without our notice, okay, I received a receipt from an insurance company saying that ›Dear Mister [Karadeniz], ehm, (.) because of the damage you gave to your neighbourhood, okay, you have to 200 Turkish liras. If not, we are going to take this issue to the court and we are going to send the (unv.)/‹ I don’t know, ›we are going to send, you know, we are going to inform the (necessary?) bodies so that they will come and ask this money or some

4. Einzelfallrekonstruktionen

your personal belongings instead of it‹, okay? ›The fuck‹, I said, I mean, first, 200 liras, it’s peanuts, okay? I can pay it. But the important thing is: 200 liras, what does it mean? I mean, and I called this eh, insurance company, no one answered me and I asked/I found the deputy general manager I asked ›Hey lady, what the hell is going on?‹ She said that ›we received petition from your neighbourhood, we came, we analyzed, and we assumed that it is because of your flat infrastructural issues there was a leakage of water.‹ I said ›How come?‹ Yah? ›I don’t remember, when you came. If you knock my door, most probably I would have opened and we would discuss. I don’t remember that you came here.‹ And he/she said to me ›We came but you weren’t at home.‹ ›Then how fuck you assume that if I’m not at home if you haven’t investigated anything how fuck you think that this is because of my flat.‹ ›Okay, we are a insurance company, we know what we are doing, it’s, it’s not our business because we compensated their damage and we are just reimbursing this money to you.‹ Okay? I paid. I paid and I went to, you know, grandfather of this lady, and saying that ›Is it something applicable for neighbourhood? First thing what you should have done, you should come to my home, to my wife, and saying that we have such a problem, can we have some investigation whether it is because of your flat or not.‹ Because, no one knows, maybe it’s because of me, maybe it’s because of across. Could you imagine? I shouted, I paid this one/« Süleyman sieht sich hier in mehrfacher Hinsicht als Opfer: Zum einen wird er verdächtigt, Auslöser eines Problems zu sein, was in seiner Schilderung extern verschuldet und komplex ist und auch im Verlauf ungeklärt bleibt. Darüber hinaus wird er nicht persönlich informiert – weder von Personen aus der Hausgemeinschaft, noch von der Versicherungsfirma – und bekommt lediglich die Schadensersatzforderung schriftlich zugestellt. Er attestiert seinen Nachbarinnen und Nachbarn sowie der Versicherungsfirma Fehlverhalten, da sie es unterlassen hätten, sich direkt an ihn zu wenden. Wie ernst er dieses Fehlverhalten einschätzt, wird neben seiner vulgären Ausdrucksweise auch daran deutlich, wen er kontaktiert, um es zur Anklage zu bringen. Und zwar wendet er sich seinen Schilderungen nach direkt an die Geschäftsführung des Unternehmens – die er sogar erst ausfindig machen muss – sowie an das vermeintliche Familienoberhaupt der Hausgemeinschaft. Dies zeigt Süleymans Glauben in die Bedeutung von Autoritäten. Er fühlt sich selbst in der eigenen Autorität verletzt, da er einfach umgangen wird und in die Rolle des Schadenverursachers gedrückt wird. Er selbst gibt sich aber nicht mit den Mittelsmännern oder -frauen zufrieden und verleiht seinem Unmut an der höchsten Stelle Ausdruck. Somit versucht er seine eigene Autorität zu reparieren. Es geht Süleyman also nicht um das Geld oder den finanziellen Schaden. Er betont, dass der geforderte Schadensersatz von 200 türkischen Lira für ihn »peanuts« sei. Es geht ihm um den Normen- und Vertrauensbruch, den er in dieser Geschichte sieht. Er sieht die soziale Institution der Nachbarschaft beschädigt, aber auch

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

seine eigene Position als autoritärer Familienvorsteher. Seine Außenseiterposition wird ihm hier wieder unmissverständlich vor Augen geführt. Für Süleyman resultiert aus all diesen Erfahrungen eine alltagsrelevante Tatsache, die er bereits am Anfang des Interviews erwähnt: Er kann niemanden in der Nachbarschaft mehr um Hilfe bitten. Und das gilt für die gesamte Familie: »So, could you imagine if something happens for example/I’m not here, my wife is not here and [Hakan] was in trouble. Whom she’s (gemeint ist aber: he) gonna call? No one. That’s why I say it’s very important/we should (not?) lose values. Solidarity is passing away, unfortunately. And this is/and solidarity meaning this neighbourhood issues. And, it’s all passed away.« Die Familie ist also auf sich gestellt, die Solidarität ist aufgelöst. Dabei überträgt er diese Isolationserfahrungen auch auf andere gesellschaftliche Bereiche: Beim Autofahren würden die meisten Türkinnen und Türken sich nicht mal mehr die Mühe machen, beim Richtungswechsel den Blinker zu betätigen, in alltäglichen Konversationen würden die Höflichkeitsfloskeln einfach weggelassen und in der U-Bahn seien alle mit ihren Smartphones beschäftigt. Die Nachbarschaft habe sich soweit auseinanderlebt, dass nicht mal mehr der Tod einer Nachbarin oder eines Nachbarn auffallen würde. Dies alles sei darauf zurückzuführen, dass es keine »Mahalle-Kultur« mehr gäbe und die Nachbarschaft als Sozialisationsinstanz entfallen würde, wie auch Mesut im Interview einbringt. Deshalb beschreibt Süleyman die Erosion der seiner Meinung nach wichtigsten und normgebenden Institution so dramatisch und emotional. Sie bedroht für ihn das Grundgerüst des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der sozialen Ordnung. Jedoch kann er selbst keine Lösung für dieses Problem finden und fühlt sich nicht handlungsmächtig: »If you ask me, ›[Süleyman], what are you doing to change this?‹ I don’t know. Maybe I do nothing. (atmet tief ein) I do nothing instead of talking to each other with our friends and trying to, you know, eh, find solutions to survive this country. (B2 lacht) We are a bit romantics but not actionaires, let’s say (lacht).« Letztlich bleibt ihm nur der Familien- und Bekanntenkreis. Diese Resignation und der Rückzug ins Private stellen einen weiteren zentralen Erfahrungsraum in Süleymans Biografie dar.

4.2.3

Soziale Resignation und Rückzug ins Private

In Süleymans Eigentheorie führt die Auflösung der traditionellen nachbarschaftlichen Verhältnisse und die damit einhergehenden Werteverluste zu einer Gesellschaft, die im Egoismus des Einzelnen zerfällt. Dies beobachtet er in den alltäglichen Interaktionen nicht nur auf nachbarschaftlicher Ebene. In einer längeren

4. Einzelfallrekonstruktionen

Passage attestiert er der türkischen Gesellschaft eine zunehmende Entfremdung (»alienation«), die er ablehnt (»I hate this«). Dabei argumentiert er, dass gerade der gemeinschaftliche Zusammenhalt die Besonderheit der türkischen Gesellschaft ausmache, im Gegensatz zur »western world or American type of living«. Die Referenzbezüge für die geteilten Werte lägen laut Süleyman zum einen in der gemeinsamen Geschichte und zum anderen in einem geteilten Schicksal (»destiny«). Er hält an einem holistischen Gesellschaftsbild fest und wünscht sich eine Gesellschaft, die nicht in »Blöcke« zerfällt. Die große Bedeutung einer gemeinsam geteilten Vergangenheit ist bei Süleyman auch biografisch bestimmt. Für ihn sind die erhaltenden Kontakte aus seiner Kindheit ein Zeichen für eine funktionierende Gesellschaft, da unterschiedliche sozio-ökonomische Hintergründe überbrückt werden. In der Kindheit seien alle gleich und es würde kein Unterschied zwischen Bildungsabschlüssen oder dergleichen vorgenommen. Diese kindliche Unvoreingenommenheit würde sich dann in das Erwachsenenalter fortsetzen: »Sometimes we meet with our old friends in the old street which I was born and lived there and come together. We, we’re coming from different, how can I say, educational backgrounds. We have friends like university graduated/I don’t want to say that this is good or bad in general. For example, one of them is high school graduated, right now they’re truck driver and he’s doing a kind of overseas travel. And we have different backgrounds right now. But yes, in the childhood we were all equal in all senses. Again, we are all equal but we have right now different stories and we have/we are telling us different stories and you know. And, I mean sometimes you (unv.) surprise. I mean when I tell a story for them they were saying that ›Oh Süleyman, we weren’t expecting you to do such a thing. You were such a child and you did something like that.‹ You see? And, for example, one of my close friends, right now the real estate owner in Kartal and [G-Köy] [Ahmet] for example and we know for sure that from his childhood he would be an entrepreneur and he would be a good seller. And he really become a good seller right now (he’s?) a real estate owner and ehm, he really does his business very well. Okay? So, and, ehm, when you come together for example, people ask ›Oh, how do you know each other?‹ and it’s very/how can I say, you feel yourself very pride and you know, with all sense of strong: ›We know each other from our childhood‹. That’s a very strong expression. If I say something, it makes you really strong. […] And sometimes you feel yourself very emotion. That’s very important.« In diesem Moment steht die gemeinsam geteilte Vergangenheit über den möglichen Unterschieden, sie stellt das verbindende Glied dar. Dabei ist es für Süleyman wichtig, die Egalität innerhalb der Peergroup zu betonen, in der jeder gleich viel zählt, egal, welchen Bildungstitel er trägt. Die gemeinsame Geschichte, die bis zur Kindheit zurück reicht, ist dabei ein Faktor, der ihm besonderen Stolz einflößt.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Vermutlich ist ihm bewusst, dass es in seiner aktuellen Lebensrealität eine Seltenheit geworden ist, dass sich Freundschaften über diesen langen Zeitraum und soziale Schichten hinaus aufrechterhalten. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass diese Art von Freundschaft für seinen Sohn nicht mehr möglich ist. Sein Sohn ist seit seiner Geburt Teil einer komplexen, sozial differenzierten Gesellschaft, deren Wertesystem Süleyman größtenteils ablehnt. Für ihn stellt diese gesellschaftliche Veränderung eine besondere Herausforderung in Bezug auf seine Familie dar: Seine Kinder bekommen keine entsprechende Sozialisation mehr. Er eruiert dies besonders ausführlich in Auseinandersetzung mit der Sozialisation und Bildung seines Sohns Hakan: »[Hakan], from the time where he had his consciousnessless about life, he always asked to have university eh education abroad, not in Turkey, and I was against this. […] Why I was against because still I’m of the same/I’m having the same opinion as well, I want him to have, ehm, to complete his cultural orientation in Turkey. Ehm, let me choose my words very careful, because ehm, for me, still, in terms of modernization, in terms of technological advancement, in all sorts of items, the western part of the world is much more developed. I’m not underestimating the importance of Orientalism whatsoever but, that’s very important, they are all very advanced level and the science is really there, not in, in oriental countries like Turkey. We have so many issues right now, though we have good education, eh good universities, private ones, but still (we?) have problems. But I want him to be a part of western system in university, maybe in the, eh, post-university, PhD or master of arts or whatsoever he may/What I’m afraid of the fact that eh I want him to complete his cultural orientation in Turkey. Because I want him to/I don’t want him to be part of so called ›evil western culture‹. Ehm, why I’m telling so, because maybe I’m wrong, but from/when you look at the situation from Istanbul, so, there is a big difference. But unfortunately, we are losing our difference in Turkey as well. In the western culture, these bonds, links, whatsoever, they are all absent, they are all materialistic, people are individual. But I want my son to be individual, to decide everything by himself, it’s a/but at the same time he has to know the importance of the, this social bonds, because that will make [Hakan] different then the other people in the future. That’s why I was against to have this university education because when he becomes a part of the university life in western Europe or the U.S., he’s not going to be, how can I say, ehm, how can I say, a Turkish guy, having the social bonds, he will immediately jump to this you now, materialistic, 100 percent individualistic western culture. Because he will be affected. And you cannot intervene. You cannot stop this. But, as of today/I, you know, a, skip this idea, because even in Turkey there is no such a culture that he can complete. Meaning that he has to be individual and he has to investigate. Though there is no such kind of neighbourhood or from neighbourhood we may add some other concepts

4. Einzelfallrekonstruktionen

as well, the social bonds, conservatism whatsoever. I mean, religious items, respects, you can add so many concepts, but I mean, [Hakan] cannot learn anything. He can learn from me, from my wife, and he can learn by himself.« Süleyman argumentiert, dass er zunächst abgelehnt habe, dass sein Sohn im Ausland studiert, da er nicht Teil der »so-called evil western culture« werden sollte. Zum jetzigen Zeitpunkt würde er es jedoch anders beurteilen. Ihm sei mittlerweile klar, dass die Werte und die »social bonds«, die er sich für seinen Sohn wünscht, auch in der Türkei nicht mehr existierten. Dabei scheint er im Westen einen abgeschlossenen Werteverfall zu sehen (»all materialistic«, »100 percent individualistic western culture«), den er in der Türkei gerade noch im Prozess beobachtet. Dieses Kulturvorurteil ist so stark internalisiert, dass er auch keine Probleme damit zu haben scheint, es mir gegenüber (einer westlichen Frau) vorzutragen. Süleyman stellt in dem oben genannten Segment auch einen Zivilisationsvergleich an. Er räumt dem Westen einen technologischen und bildungspolitischen Vorsprung ein. Gleichzeitig unterstreicht er die Bedeutung des »Orientalism«, welchen er höchst wahrscheinlich im Said’schen Sinne (Said 2012 [1978]) meint. Die Überlegenheit des Westens geht also auch auf eine Herabsetzung, Exotisierung und Entgegensetzung des Orients zurück. Er ist und bleibt davon überzeugt, dass die traditionelle türkische Kultur mit ihrem Fokus auf die Gemeinschaft und das Kollektiv dem westlichen Individualismus überlegen ist. Dabei wird nicht gänzlich klar, was er mit »individuell« meint. Einerseits bezeichnet er so die westlichen Gesellschaftsmitglieder, die einen egoistischen, materialistischen Lebensweg verfolgen würden. Andererseits wünscht er sich, dass sein Sohn sich individuell verhalten kann, also dass er sich auch autonom und gegebenenfalls gegen die dargestellte westliche Individualkultur entscheiden kann. Zu Beginn des Gedankenganges attestiert er seinem Sohn noch eine unabgeschlossene Identitätsentwicklung, welche dazu führen würde, dass er sich direkt von der »bösen« Kultur einnehmen lassen würde. So kann er auch seine Familie nicht vollständig von diesen unerwünschten Einflüssen schützen, insbesondere wenn sein Sohn räumlich von ihm getrennt ist. Die Familie ist der einzige sichere Hafen, der noch existiert. Allerdings scheint auch sie nicht mehr frei von Durchdringungsmöglichkeiten zu sein. Insgesamt ist diese Sequenz stark geprägt von Unsicherheit und Widersprüchlichkeit. Dies mag daran liegen, dass Süleyman sich mit einem besonders schwertut: Dem trade-off, den eine modernisierte, sozial differenzierte Gesellschaft eben bedeutet. Einerseits will er ein differenziertes Bildungssystem, was seinen Kindern die bestmöglichen Bildungschancen bietet. Dafür schickt er seinen Sohn sogar auf eine weit entfernte Privatschule7 . Andererseits bemängelt er den Verlust von Wer-

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Interessanterweise handelt es sich dabei um eine amerikanische Privatschule in Istanbul.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

ten wie Solidarität, Empathie und Gemeinschaftlichkeit. Hakan scheint von den vielen Optionen zu profitieren. Er bekommt eine ausgewählte Privatschulausbildung, hat die Möglichkeit im Ausland zu studieren und kann aus einer Bandbreite an Hobbys auswählen – er geht schwimmen und spielt leidenschaftlich gern Theater. Diese vielfältigen Möglichkeiten stehen der Begrenztheit des sozialen Lebens, wie es Süleyman für seine Kindheit schildert, entgegen. Der quasi alternativlose soziale Zusammenhalt des Mahalles hat an Bedeutung verloren. Süleyman sieht sich also mit unterschiedlichen, konkurrierenden Lebensstilen konfrontiert, die ihn immer wieder dazu herausfordern, seinen eigenen in Frage zu stellen. Die Abgrenzung zum westlichen Lebensstil fällt ihm dabei noch relativ einfach. Die Abgrenzung von anderen, sich selbst ebenfalls als konservativ oder religiös bezeichnenden Gruppen fällt ihm dabei schwerer: »Er sagt, dass er sich zwar als konservativ sieht, aber der Begriff auch von anderen Leuten besetzt ist. Er gibt wieder ein Beispiel: Die Leute, die an den Wochenenden zum Grillen vom Inland an die Uferpromenaden kommen, würden sich selbst auch als konservativ bezeichnen, trotzdem seien sie laut Süleyman keine guten Muslimen, weil sie sich nicht um die Reinhaltung ihrer Umwelt scheren. Außerdem würden sie direkt aggressiv werden, wenn man sie dazu anhält, dass sie ihren Müll mitnehmen sollen. Generell würden die Leute immer direkt aggressiv werden und wären zu egoistisch, das würde auch bei Parkplatzstreitigkeiten auffallen.« (Beobachtungsprotokoll Süleyman) Dabei hat er nicht nur Schwierigkeiten mit seiner Selbstidentifikation, sondern auch mit äußeren Identitätszuschreibungen. So schildert er eine Erfahrung, die er auf seiner Arbeit gesammelt hat: »Irgendwann während unseres Rundgangs erzählt Süleyman, dass seine Frau ihm einmal eine rote Hose gekauft hätte. Er sagt, er würde sonst nie so etwas anziehen, aber da seine Frau sie gekauft habe, hätte er sie auf der Arbeit getragen. Er sagt, dass er nicht so viel Wert darauf lege, was er anhat, aber dass er ja nicht nackt zur Arbeit gehen kann. Auf der Arbeit waren dann scheinbar alle ganz anerkennend und hätten ihn dafür gelobt, dass er so etwas Modernes anzieht, obwohl er doch so konservativ ist. Dies scheint Süleyman geärgert zu haben.« (Beobachtungsprotokoll Süleyman) Sein Behauptungskampf im Rahmen seiner Identitätsfindung wird hier offensichtlich. Er ist überfordert von der gesellschaftlichen Transformation und der zunehmend wahrgenommenen sozialen Differenzierung, die ihn in seiner Selbstbeschreibung sowie der Fremdzuschreibung vor ungewohnte Probleme stellt. Angesichts dieses sozialen Wandels sieht Süleyman nur einen begrenzten Handlungsspielraum. Hätte die Kernfamilie zu seiner Kindheitszeit noch den

4. Einzelfallrekonstruktionen

größeren Familienkreis wie Eltern, Schwiegereltern etc. mit einbezogen, sähe das in der heutigen Zeit anders aus: Die »Mikrofamilie«, wie er es nennt, bezieht sich nur noch auf das Ehepaar und seine Kinder, sofern diese überhaupt vorhanden sind. Die alltägliche Lebenspraxis lässt aber auch keinen Raum für mehr, wie seine Beschreibung der alltäglichen Routinen zeigt: Er stellt sich als »Außenminister« der Familie dar – er geht arbeiten – und seine Frau als »Innenministerin« – sie bleibt zu Hause, managt die Kinder, Schulaufgaben und den Haushalt. Die traditionelle Rollenaufteilung schreibt er also in seiner eigenen Familie fort. Die Wochenenden sind für die Hobbys der Kinder reserviert, die sie selbst organisieren, da sie vor Ort keine Spielkameradinnen und -kameraden haben. Süleyman betont, dass dies nötig sei, da sein Sohn sonst nicht die Möglichkeit habe, sich auszupowern (»to make the energy empty«). Dies sei der Kosmos, innerhalb dessen sich auch andere Familien alltäglich bewegen würden. Dies sei die Normalität: »And the new cycle starts on Monday. So, nothing is, you know, eh, how can I say, ehm, extraordinary«. In der ausführlichen Schlusssequenz reflektieren Süleyman und zum Teil auch Mesut die präsentierte Eigentheorie und bearbeiten die Frage nach möglichen Handlungsoptionen. Süleyman beginnt diese Sequenz mit den Worten: »I think it’s too late for Turkey. I don’t know what [Mesut] is thinking about it/And neighbourhood, mahalle culture or neighbourhood issues/I mean, we have to drink cold water behind it. There is saying and I literally translate it ›soğuk su içmek karkasında‹. So, we have to, you know, pray about it, you know.« Es wird also deutlich, dass er die gesamte Türkei von dem sozialen Wandel ergriffen sieht und dass es wohl kein Zurück mehr gibt. Das einzige, was man noch tun könne, wäre zu beten, alles Weitere läge in Gottes Hand. Sein Handlungsfeld ist durch die flächendeckende Transformation stark verkleinert und beschränkt sich nur noch auf seine Kernfamilie. Hier versucht er, seine konservativen, kindheitsgeprägten Werte zu bewahren. »I mean, [Hakan] knows about it, okay? My daughter will learn about it. But I’m not so sure about the, you know, the generation, new generation in Turkey right now. So I have no hope that he’s gonna learn in Turkish society because we already decide our way of life as Turks, let’s say. But micro level, I have to learn it to my son and daughter, and he has to learn about science whatsoever in abroad. (.) I know, it’s a difficult path, but (B2 lacht) I don’t know. Life is full of surprises, you cannot define it.« Er schließt folglich mit einem pessimistischen Blick auf die türkische Gegenwartskultur. Die Gemeinschaft und die kulturelle Vormachtstellung im Vergleich zur westlichen Individualkultur sieht er darin verloren. Die einzige Möglichkeit zur Subversion findet er in seiner Kernfamilie. Außerhalb dieser hat er keine Handlungs-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

möglichkeiten mehr, muss sich den neuen Gegebenheiten fügen und das Beste daraus machen. Alles Weitere sieht er in den Händen Gottes.

4.2.4

Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Süleyman«

Süleymans Fallrekonstruktion zeigt, dass er sich in einer sich eingeschlichenen Verlaufskurve befindet. Die Entwicklung scheint nicht durch ein genauer definierbares Schlüsselereignis zustande gekommen, sondern ein Ergebnis der sich sukzessive verändernden Um- und Sozialwelt zu sein. Die Urbanisierung seiner Nachbarschaft durch die Transformation der Siedlungsstruktur von kleinen Cottages hin zu mehrgeschossigen Apartmenthäusern, der Zuzug von Menschen und die Kolonialisierung seiner Lebenswelt8 werfen ihn aus seiner Bahn. Zwar opponiert er innerlich vehement gegen den sozialen Wandel, den er erlebt, sieht seinen Handlungsrahmen aber auf seine Kernfamilie beschränkt. Am Ende blickt er resigniert auf die türkische Gesellschaft. Der Wandel in seiner Nachbarschaft trifft Süleyman so immens, da er für ihn unmittelbare Auswirkungen hat. Nicht nur wird ein Sozialsystem zerstört, welches ausschlaggebend für seine Kindheitserfahrungen war, gleichzeitig wird auch sein Zugehörigkeitskonzept neu in Frage gestellt. Es fällt ihm schwer, sich innerhalb der zeitgenössischen sozialen Milieus zu positionieren und einzuordnen. Die ganzheitliche Inklusion in eine Gemeinschaftsform, wie er sie in der Kindheit erlebt hat, gibt es nicht mehr. Dies arbeitet er insbesondere in der Gegenüberstellung seiner Kindheit und der seines Sohnes heraus. Zwar war sein früheres Leben von sozialen Verpflichtungen und sozialer Kontrolle geprägt, jedoch hat er für sich hauptsächlich die positiven Aspekte aus der Tatsache gezogen, in einer Gemeinschaft aufzuwachsen, in der man sich gegenseitig umeinander sorgt. Ein wichtiger Integrationsmechanismus scheint dabei auch die gelebte Religion gewesen zu sein. Das Leben war simpler, harte Arbeit wurde entlohnt, soziale Umgangsformen waren institutionalisiert und man konnte sich aufeinander verlassen. Diese Sicherheit hat Süleyman im Laufe der Zeit schwinden sehen. Das Kollektiv, dessen Teil er war, hat sich aufgelöst. Die Welt um ihn herum ist komplex und unberechenbar geworden. Mit der Auflösung des Kollektivs fallen ebenso damit verbundene Rollen und soziale Positionen weg. Die Rolle des Oberhauptes einer erweiterten Familie, bei 8

Kolonialisierung der Lebenswelt ist hier in einem Habermasschen Sinne zu verstehen. Jürgen Habermas (1982) beschreibt in Band 2 seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« unter diesem Begriff den Vorgang, wenn eigentlich von der Lebenswelt entkoppelte gesellschaftliche Subsysteme wieder in sie eindringen und sie gefährden. Ein Modellfall sei das »Verdinglichungsphänomen spätkapitalistischer Gesellschaften« beziehungsweise die »monetäre Umdefinition von Zielen, Beziehungen und Diensten, von Lebensräumen und Lebenszeiten« (Habermas 1982: 476).

4. Einzelfallrekonstruktionen

dem die Mitglieder Rat und Orientierung ersuchen, wie die, die sein Vater noch auskleidete, gibt es nicht mehr. Sie wird obsolet, niemand scheint sich mehr für Süleymans Ratschläge zu interessieren. Auch von der eigenen Familie lebt er mittlerweile distanziert. Eine dramatische Wende hat sich dabei vermutlich durch den Auszug aus der Nachbarschaft seiner Kindheit in eine geographisch nahe, sozial aber scheinbar weit entfernte Nachbarschaft ergeben. Er wird vom Etablierten zum Außenseiter (Elias/Scotson 1990). Insbesondere seine Hausnachbarinnen und -nachbarn ordnet er mehrheitlich einer westlichen Kulturausrichtung zu, die nicht mit seinen Wertevorstellungen und Umgangsformen in Einklang stehen. Dabei scheint es eine doppelte Etablierte-Außenseiter-Figuration zu sein: Denn auch Süleyman selbst schreibt der Gruppe seiner westlich-orientierten Nachbarschaft nur die schlechtesten Eigenschaften, die er mit dieser Einstellung verbindet zu. Er bezeichnet sie als ignorant, rücksichtslos und egoistisch. Die wahrgenommene gesellschaftliche Veränderung und der verspürte eingeschränkte Handlungsrahmen, die Desintegration mit der Gesellschaft um ihn herum, führen Süleyman in einen tiefen Identitätskampf. Dieser schlägt sich nicht nur auf seine soziale Identität nieder, sondern auch auf seine personale Identität (Goffman 2015 [1963]). Soziale Identität nach Goffman meint, welches Bild man von sich selbst in sozialen Kontexten versucht zu präsentieren und aufrechtzuerhalten. Die personale Identität stellt dabei eine Art Transferleistung des Individuums nach innen dar, ein möglichst kohärentes Selbstbild herzustellen. Süleyman fällt es schwer, seine soziale Identität aufrecht zu erhalten. Immer wieder muss er feststellen, dass seine als richtig betrachteten Verhaltensweisen nicht widergespiegelt werden. Begrüßungsfloskeln werden nicht erwidert, nachbarschaftliche Probleme werden nicht mehr persönlich und gemeinsam bearbeitet, der gegenseitige Respekt auf der Straße geht verloren. Er kann seine an sich selbst erwarteten Rollenfunktionen nicht mehr erfüllen und somit seine Identität nicht mehr aufrechterhalten. So schafft er es auch nicht mehr ein kohärentes Selbstbild darzustellen. Und da er durch eine homogene, umfassende Gemeinschaftsform geprägt ist, fällt es ihm schwer, die Realität einer Patchwork-Identität (Keupp et al. 2013) zu verstehen beziehungsweise zu akzeptieren. Scheinbar wird Süleyman auch erst relativ spät in seinem Leben mit den Problemen eines Stigmas (Goffman 2015 [1963]) konfrontiert. Denn seine Identität wird erst mit der Verbreitung eines Lebenswandels, den er ablehnt, beschädigt. Seine Nachbarinnen und Nachbarn stempeln ihn vermutlich als Konservativen ab und gehen auf soziale Distanz. Das führt im Gegenzug dazu, dass Süleyman seine Familie schützend nach außen abgrenzt. Obwohl er den Wert der Empathie so sehr schätzt, kann er sie seinen eigenen Nachbarinnen und Nachbarn nicht mehr entgegenbringen.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Wenngleich er selbst immer wieder betont, dass er eine gemeinschaftliche Problemlösung vorziehen würde, argumentiert er, dass seine Probleme die Nachbarinnen und Nachbarn nichts angehen würden. Das zeigt sich in Konfliktsituationen, die er als nicht legitimierte Eingriffe in seine Privatsphäre sieht. Die Kernfamilie stellt für ihn noch den letzten Rückzugsort dar und die einzige Möglichkeit, die seiner Meinung nach verlorengegangenen Normen und Werte zu kompensieren. Erziehung bekommt einen hohen Stellenwert. Sie muss die Sozialisationsleistung der Gesellschaft ersetzten, ausgleichen beziehungsweise sogar reparieren. Interessanterweise stürzt die biografische Krise Süleyman nicht in eine Glaubenskrise, sondern vielmehr scheint sich sein Glaube in dieser Krise zu verfestigen. Denn am Ende sieht er seinen Gott als den einzigen Handlungsmächtigen. Er selbst müsse sich nun mit der Realität abfinden und einen vertretbaren Umgang mit ihr entwickeln. Dies sei nur die »first half of the game«. Alles andere betrachtet er außerhalb seines Wirkungsbereiches. Dabei ist Süleyman mit den wichtigsten sozio-ökonomischen Faktoren reichlich ausgestattet. Er macht immer wieder deutlich, dass seine Familie sich um Geld keine Sorgen machen müsse. Er selbst hat einen der höchstmöglichen Bildungsabschlüsse (Doktorgrad) einer renommierten Universität. Auch für seine Kinder – oder zumindest für seinen Sohn – hat er hohe Bildungsaspirationen. So nimmt die Familie nicht nur weite Pendelwege, sondern vermutlich auch hohe finanzielle Bürden in Kauf, um ihren Sohn auf eine ausländische Privatschule zu schicken. Seine Familie besitzt eine großzügige Duplexwohnung in einem sehr hochpreisigen Viertel der Stadt. Er selbst ist beruflich erfolgreich und in einer Führungsposition. Gewissermaßen hat er also alles Mögliche getan, um sich und seine Familie gut aufzustellen. Trotzdem lehnt er die »Modernisierung«, wie er sie beschreibt, vehement ab und macht sie für das Erkalten und Auseinanderdriften der Gesellschaft verantwortlich. In Bezug auf die Fragestellung nach der biografischen Verarbeitung von Raumtransformationsprozessen zeigt sich an Süleymans Fall, dass die Art und Weise, wie er über die Vergangenheit spricht und mit welch hohem Lob er die MahalleKultur glorifiziert, viel mehr über die Anpassungsschwierigkeiten in der modernen Gesellschaft aussagt, als über die tatsächliche Vergangenheit. Die Überschwänglichkeit zeichnet sich dadurch aus, dass er die heutige Gesellschaft in ihrer Form größtenteils ablehnt – obwohl er rein sozio-ökonomisch betrachtet zu den großen Gewinnerinnen und Gewinnern zählt. Seine Ablehnung ist also durch eine große Ambivalenz geprägt. Dabei manifestiert sich seine, von ihm selbst in Anspruch genommene, kulturelle Überlegenheit in der dargestellten Selbst- und Fremdpositionierung (LuciusHoene/Deppermann 2004: 175). In den präsentierten Anekdoten stellt er sich stets als der moralisch Überlegene dar, seine Gegenüber in der Regel als Normen- und Regelbrechende. Dies hat zuweilen autoritäre Züge. Auch mir gegenüber hat er in der Interviewsituation kein Problem damit, meine vermeintliche kulturelle Prä-

4. Einzelfallrekonstruktionen

gung zu kritisieren und abzuwerten. Im Zuge seiner Biografie scheint er zwar den Handlungsstatus eines Etablierten verloren zu haben, was die Konflikte in seiner Nachbarschaft attestieren, gleichzeitig befindet er sich aber immer noch in der vorteilhaften Position eines ökonomisch sehr gut Abgesicherten. Die mangelnde Möglichkeit, alle alltagsrelevanten Bereiche kontrollieren zu können und der Verlust des nachbarschaftlichen Patriarchats lassen ihn jedoch verärgert zurück.

4.3

Leyla – Zur Entfaltung eines Stigmas Zusammenfassung des Lebensablaufs Leylas Vater migriert als Kind in den frühen 1960er Jahren aufgrund wirtschaftlich schlechter Lage aus einem alevitischen Dorf in Zentralanatolien nach Istanbul. Seine Familie folgt einer Kettenmigration aus ihrer Heimatregion und lässt sich in der neuen Stadt mit ihren Bekannten in einem Stadtteil auf der europäischen Seite nieder, der zu dieser Zeit erst im Entstehen ist (H-Köy). Sie errichten informell ein Haus mit Garten, das sie über die Jahre weiter ausbauen, so dass die erweiterte Familie Platz darin findet. Ende der 1960er Jahre bis Anfang der 1970er Jahre zieht auch Leylas Mutter im Rahmen der arrangierten Ehe mit Leylas Vater nach Istanbul zu ihren Schwiegereltern. Nach dem Tod von Leylas Großeltern bewohnt Leyla mit ihren Eltern und ihren Geschwistern das Haus allein. Leyla ist das mittlere Kind von insgesamt drei Geschwistern und wird im Jahr 1979 geboren. Sie verbringt ihre Kindheit sowie die gesamte Schulzeit in diesem Viertel – auch wenn sich ihr Aufenthaltsradius nicht nur auf ihre Nachbarschaft beschränkt und sie mit ihren Freundinnen und Freunden ebenso die benachbarten Viertel zum Zeitvertreib aufsucht. Nach Leylas Schilderung hält zwischen den Jahren 1995 und 2000 der Apartmentboom Einzug in ihre Nachbarschaft und viele der Bewohnerinnen und Bewohner entscheiden sich für die Zusammenarbeit mit kleineren Baufirmen im Rahmen einer Yap-sat-Modernisierung9 . Einzig Leylas Familie widersetzt sich diesem Trend und beharrt auf der Erhaltung des Wohnhauses. Leyla besucht nach Abschluss der Sekundarschule die Kunsthochschule und pendelt nun das erste Mal einen weiteren Weg mit dem Bus. Es fällt in etwa in diese Zeit, also Anfang der 2000er Jahre, dass sich ihre Eltern scheiden lassen. Leyla zieht mit ihrer Mutter weiter ins Zentrum (I-Köy), wo sie eine Wohnung in einem Apartmenthaus kaufen. Ihr Vater bleibt weiter in seinem Haus in H-Köy wohnen. Er leistet noch einige Jahre Widerstand, bis das Haus schließlich doch abgerissen

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Im Rahmen solcher Modernisierungen werden die Privatpersonen von Immobilienunternehmen im Umbau ihrer Häuser unterstützt. Sie bauen (yap) das Haus und verkaufen (sat) daraufhin die für sie ausgehandelten Wohnungen an Dritte (siehe auch Kapitel 2.3).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

wird. Leyla lebt insgesamt 10 Jahre mit ihrer Mutter in der gekauften Wohnung, als die restliche Hausgemeinschaft sie dazu drängt, das Haus ebenfalls abzureißen und zu modernisieren. Sie gehen einen Vertrag mit einem Bauunternehmer ein, jedoch veruntreut dieser Gelder, so dass nach dem Abriss ein Wiederaufbau lange Jahre nicht in Gang kommt. Zur Zeit des Interviews befindet sich die Sache noch vor Gericht. Leyla und ihre Mutter leben deshalb übergangsweise alleine in einem kleinen Wohnhaus in einer historischen, zentrumsnahen Wohngegend, welches Leylas Bruder zusammen mit einem Freund gekauft und selbstständig renoviert hat. Zur Zeit des Interviews arbeitet Leyla als freischaffende Autorin. Der Kontakt zu Leyla wurde über einen gemeinsamen Freund, Ayhan (I2 im Interviewtranskript), hergestellt, der selbst auch beim Interview anwesend ist. Das komplette Treffen läuft auf Türkisch ab. Ich lerne Leyla erst im Zuge unseres Treffens kennen. Wir besuchen sie zu Hause in einem alten, zentrumsnahen und als konservativ bekannten Stadtteil Istanbuls. Sie bewohnt dort zusammen mit ihrer Mutter ein kleines, zweistöckiges Haus mit kleinem Garten. Die Siedlungsstruktur ist hauptsächlich von solchen kleinen Häusern, die dicht an dicht stehen, geprägt. Die Straßen sind eng und entsprechend wenig Verkehr fließt. Es fällt direkt auf, dass die nächste Nachbarin oder der nächste Nachbar nicht weit entfernt ist. Einige der Häuser sind liebevoll restauriert, vereinzelt lassen sich aber auch alte, verfallene Holzhäuser finden. Leyla attestiert im Interview dem Viertel noch eine »Aura vom alten Istanbul«, was ich sehr passend finde.

Abbildung 6 – Siedlungsstruktur Nachbarschaft Leyla

Fotos: © LR

4. Einzelfallrekonstruktionen

Als wir Leyla besuchen, ist sie allein. Sie wirkt sehr abgeklärt, meinungsstark und selbstbewusst. Sie lässt mich frei im Erdgeschoss herumlaufen, unterhält sich mit Ayhan und bereitet Nescafé für uns zu. Es ist im Vergleich zu meinen sonstigen Hausbesuchen, die meist von überschwänglicher Gastfreundschaft geprägt waren, eine wesentlich andere Erfahrung. Ich finde es nicht unangenehm, aber auffällig. Während Leyla Kaffee macht, unterhält sie sich mit Ayhan über das kurz bevorstehende Referendum zur Einführung des Präsidialsystems. Sie spricht über die ambivalente Bearbeitung des Themas in der Nachbarschaft. Einerseits scheint das Viertel Terrain der AKP zu sein, gleichzeitig scheint es aber auch Personen in der Bewohnerschaft zu geben, die das Präsidialsystem ablehnen, wie beispielsweise Leyla und eine Nachbarin, von der sie berichtet. Nichtsdestotrotz würde das aber niemand in der Nachbarschaft offen zugeben. So bekommen auch Leyla und ihre Mutter Geschenke der AKP ins Haus gebracht, obwohl die Nachbarschaft weiß, dass sie alevitische Kurden sind. Generell ist der Besuch bei Leyla geprägt von persönlichen Gesprächen zwischen ihr und Ayhan. Beide haben ein großes Bedürfnis sich auszutauschen. Dadurch tritt meine Forschung in diesem Rahmen etwas in den Hintergrund. Das ist einerseits schade, da das Material dadurch recht knapp ausfällt. Gleichzeitig ist es aber eine außerordentlich vertraute und entspannte Atmosphäre, so dass das Material trotzdem sehr dicht geworden ist. Wir führen das Interview in einem kleinen Wohnzimmer in Leylas Haus. Die Rollenverteilung während des Interviews hatten Ayhan und ich folgendermaßen abgemacht: Ich stelle auf Türkisch die erzählgenerierende Eingangsfrage und Ayhan leistet Hilfestellung, sobald die Erzählung stockt. Insbesondere die Anfangspassage ist allerdings von einem häufigen Nachfragen durch Ayhan geprägt, was augenscheinlich die Erzählstruktur irritiert. Die anfangs so häufig gestellten Nachfragen erschweren es, einen kontinuierlichen, ausführlichen Redefluss zuzulassen. Dies ist vermutlich auch der Grund, warum Leyla sich daran anschließend stets recht kurzfasst. Glücklicherweise werden aber im späteren Nachfrageteil wieder einige Erfahrungen lebendig und Leyla kommt in eine kürzere, dafür sehr ergiebige Erzählphase. Diese ist insbesondere in Bezug auf ihre Minderheitenerfahrung sehr aufschlussreich. Im Rahmen ihrer Antworten ist immer wieder auffällig, dass sie viel lacht und humorvoll an zeitweise schockierende Erfahrungen herantritt. Dieses Lachen deute ich aber nicht dahingehend, dass es die Erlebnisse in ihrer Radikalität mindern soll, sondern eher ihren eigenen, persönlichen Umgang damit schildert. Und zwar geht sie hiermit auf Distanz zu sich selbst, ihrer Rolle in besagten Situationen und ihrem daran anknüpfenden Verhalten. An den jeweiligen Stellen gehe ich noch genauer darauf ein. Eine weitere sprachliche Besonderheit ist, dass Leyla größtenteils in der grammatikalischen Präsensform erzählt – was recht ungewöhnlich ist. Leider kann ich nicht abschließend klären, warum das der Fall ist. In jedem

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Fall suggeriert die Präsensform eine größere Nähe zum Erzählten. Volker Hinnenkamp (2011) bemüht die verschiedenen Erzählrollen aus der Soziolinguistik, um Rollenperspektiven in alltäglichen Stegreiferzählungen bei deutsch-türkischen Jugendlichen zu erläutern. Dabei führt er die konstruktiven Ausführungen von Michèle Koven (2004) an, die drei unterschiedliche Specherrollen herausarbeitet: den »narrator«, den »interlocutor« und den »narratable and performable character«. Die interlokutorische Rolle (wie sie bei Hinnenkamp übersetzt heißt) spricht meist im Präsens und bildet eine »vermittelnde Rolle zwischen Erzähler und Zuhörer« (Hinnenkamp 2011: 66). Koven stellt dabei die besondere Bedeutung von non- und paraverbalen Ausdrücken heraus, wenn in dieser Rolle erzählt wird (Koven 2004: 482f.). Das Erzählte soll der Zuhörerin oder dem Zuhörer also möglichst lebhaft vermittelt werden. So erweckt es den Anschein, als sei Leyla bei dem Erzählten selbst dabei gewesen – wie bei der Migrationsgeschichte ihrer Eltern – auch wenn sie es tatsächlich nicht war. Dies kann auch daran liegen, dass Leyla vor ihrem beruflichen Hintergrund als Autorin weiß, wie man eine gute Geschichte erzählt. Die Dichte der Narration trotz ihrer kurzen Dauer geht außerdem darauf zurück, dass Leyla von einem hohen Reflexionsniveau geprägt ist. So fällt es ihr nicht schwer, aussagekräftige Schlüsselereignisse ihrer Biografie auszuwählen und darzustellen. Darüber hinaus verfügt sie über die Möglichkeit, abstrakte Kategorien zu verwenden, die immer wieder eine Rolle spielen. So stellen bestimmte Erlebnisse oder Erfahrungen für Leyla Beispiele größerer Phänomene dar, die sie auch benennen kann – wie die Migration ihrer Familie oder »weibliche Leidensgeschichten« von denen sie berichtet. Das für die Analyse herangezogene Interviewtranskript ist eine Übersetzung aus dem Türkischen ins Englische durch Ayhan. Dadurch ist das Transkript wesentlich glatter in seinem Erscheinungsbild als die anderen Transkripte. Jedoch wurden Pausen, parasprachliche Mittel, Satzabbrüche, Wiederholungen und dergleichen ebenfalls mit transkribiert und übersetzt. Insgesamt bietet das Interview mit Leyla, trotz der genannten Schwächen, einen interessanten Einblick in ihre Lebenswelt und stellt bezüglich der theoretischen Varianz einen unabkömmlichen Fall dar. In Leylas Narration treten vier zentrale biografische Erfahrungsräume auf, die jedoch nicht streng chronologisch aufeinander aufbauen: der Alltag des urbanen Dorfes, in dem sie aufwächst, die kapitalgesteuerte Siedlungstransformation (die sie zweimal direkt betrifft) und darauf aufbauende Verlusterfahrungen, das Leben in der Großstadt, das sie sukzessive kennenlernt, sowie die Stigmatisierung als kurdische Alevitin, mit der sie leben muss. Diese Erfahrungsräume treten häufiger in ihrem Lebensablauf auf und existieren zum Teil parallel zueinander. Die Beschreibung dieser Erfahrungsräume macht es möglich, Leylas biografische und alltägliche Lebensanforderungen deutlich zu machen, sowie ihre Verarbeitung zu analysieren.

4. Einzelfallrekonstruktionen

4.3.1

Urbaner Dorfalltag

Leyla beginnt ihre Narration mit der Migrationsgeschichte ihres Vaters, der mit seinen Eltern Anfang der 1960er Jahre im Zuge einer Kettenmigration aus einem alevitischen Dorf in Zentralanatolien nach Istanbul migriert. Aufgrund der vorherrschenden ökonomischen Problemlagen schließt sich die Familie einer kollektiven Bewegung in die Stadt an und lässt sich in Istanbul gemeinschaftlich, in dörflich-bekannten Strukturen nieder. Leyla macht in der Art und Weise, wie sie von dieser Migration erzählt, diese Fremderfahrung gewissermaßen auch zu ihrer eigenen. Sie spricht in der Präsensform und berichtet lebhaft, als sei sie selbst Teil von ihr gewesen. Dies deutet auf eine gewisse orale Tradition innerhalb ihrer Familie hin. Gleichzeitig zeigt dies auch eine hohe Identifikation Leylas mit ihrer Familie an – sie ist eben Teil und Resultat der eigenen Geschichte. »First I think they came around the early sixties, so there is a fifty year (.) background. Fifty years ago my father’s family comes first. My father was a small kid then, eh (.) […] Eh, of course, to live/for a better life/they come because of economic troubles. And also, eh, following the migration out of the village. Because in the village a gradual emigration to the city has already begun. So they, seeing that acquaintances are leaving bit by bit with a decrease in the village’s population they also decide to emigrate, and move to Istanbul, to the locality of [H-Köy, europäische Seite]. Of course, [H-Köy] is very big now. One of the biggest in Istanbul, but in those times it’s little more than a village. I mean just a step above a village. It just has tap water and electricity. Apart from that/the roads, the houses/it’s not really different from a village. A place without any roads, without any decent school. Just houses (.)/so the place they arrive is actually a gecekondu. And the reason they come there is, again because their relatives and fellow villagers are there. They don’t look for any other place in Istanbul. They come right where their fellow villagers are. So their intention is, well, ›Hey, look, there is Ali, there is Veli, LET’S go there.‹ It’s like a REUNION really/in Istanbul they rebuild their own village. In practice, they are moving their village to Istanbul.« In diesem ersten Segment wird deutlich, wie bezeichnend das Narrativ des Dorfes für Leyla ist. Im gesamten Verlauf des Interviews kommt sie immer wieder darauf zurück. Dieses Narrativ bezieht nicht nur eine soziale Struktur mit ein, sondern eben auch eine räumliche Struktur. Beides begreift Leyla einerseits als Idealzustand, gleichzeitig ist ihr aber auch das anachronistische Verhältnis von beidem bewusst. Aus diesem Grund ist wohl auch die grammatikalische Tempusform, in der Leyla erzählt, nicht kohärent. Insbesondere ihre Verlusterfahrungen werden durch die Verwendung von grammatikalischen Vergangenheitsformen geprägt, während sie die Entstehung des urbanen Dorfes und den Lebensalltag hauptsächlich in Präsensform beschreibt.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Zunächst ist die Herausarbeitung der räumlichen Strukturen konstitutiv für Leylas Darstellung des Dorfes. Dabei wird deutlich, dass das Dorf in der Stadt, nämlich H-Köy, organisch verbunden zu sein scheint mit dem Herkunftsort ihrer Eltern. Sie beschreibt, wie ihre dörflichen Vorfahren ihr Dorf aus der zentralanatolischen Provinz nach Istanbul umziehen. In Leylas Darstellung scheint es für die Dorfbewohnerinnen und -bewohner keine Frage zu sein, ob sie sich gemeinsam oder getrennt ansiedeln. Sie beschreibt es wie eine natürliche Entscheidung: »›Hey, look, there is Ali, there is Veli, LET’S go there.‹«. Sie bauen ihr Dorf in Istanbul in den gewohnten Strukturen wieder auf. Leyla zeichnet die Anfänge des Viertels nach, das zur Ankunftszeit der Familie ihres Vaters erst im Entstehen ist und ohne nennenswerte Infrastruktur auskommt. Es ist also ein Gestaltungsspielraum vorhanden, der die Neuansiedlung des Dorfes überhaupt erst zulässt. Sie führt an, dass es eine Gecekondu-Siedlung ist, die die Bewohnerinnen und Bewohner dort gründen. Die Großeltern bauen gemeinsam ein Haus in dörflicher Manier: »Two floors, well, with a very nice garden. It was a very nice house with real fruit trees in it, flowers and all.« Zu Leylas Kindheit scheint diese Siedlungsform noch dominant in ihrer Nachbarschaft zu sein. Auch der Name des Bezirks, in dem das Dorf liegt, rekurriert auf eine grüne, dörfliche Siedlungsstruktur und Leyla resümiert: »the place really deserved its name«. Der dörfliche Sozialraum ist konstitutiv für Leylas Kindheit, die sie sehr affektvoll beschreibt. Dabei dominieren in ihren Beschreibungen die Aspekte des Freiraums und Gestaltungsspielraums, die sie damit verbindet. Sie gibt an, im übertragenden Sinne, ihre ganze Kindheit in Baumwipfeln verbracht zu haben. Freiheit und Natur scheinen bei ihr in einem natürlichen Zusammenhang zu stehen: »I was grown in a house with a garden. Well, you are very free and unrestricted.« Dabei scheint für Leyla nicht nur die traditionelle Siedlungsform mit Familienhäusern und Garten sinnstiftend für das Viertel zu sein, sondern auch der Besitzanspruch, der seitens der Bewohnerinnen und Bewohner gegenüber ihrer Nachbarschaft herrscht. Dies schlägt sich in vielen Formulierungen nieder. Sie erzählt, dass ihre Vorfahren »their own village« erneut aufgebaut haben und sich eine Nachbarschaft gebildet hat, »where everyone owned their place«. Auch ihre eigenen Besitzansprüche macht sie geltend, indem sie sagt: »it [gemeint ist das Haus, L.R.] was ours«, und: »I went to secondary school, to high school in MY OWN neighbourhood, my own district.«. Die Kennzeichnung des Besitzes trägt in diesem Sinne eine Form der Zugehörigkeit mit sich. Die Zugehörigkeit zu einem Ort und einem sozialen Kollektiv.

4. Einzelfallrekonstruktionen

Der Aufbau des gemeinten Kollektivs bezieht sich dabei immer wieder auf den Heimatort von Leylas Großeltern. So beschreibt sie auch die Heirat zwischen ihren Eltern und den Nachzug ihrer Mutter als logische Schlussfolgerung: »They are from the same village. That’s also why they get married, they are from the same village.«. Auch sie selbst und ihre zwei Geschwister seien in dem Heimatdorf ihrer Großeltern registriert, obwohl sie in Istanbul geboren wurden. Zu Leylas Dorf-Narrativ gehört neben den sozialräumlichen Strukturen also genauso die Erhaltung beziehungsweise Herausbildung eines sozialen Kollektivs, das sich in der Stadt erneut findet. Sie beschreibt die Qualität der sozialen Beziehungen dabei als »more connected« – vor allem im Vergleich zu ihren späteren Nachbarschaftserfahrungen. Die Interaktionen beschränken sich nicht nur darauf, dass man sich gegenseitig grüßt, sondern man streitet auch miteinander: »People know each other, everyone says hello to each other, or there are quarrels or fights every day (lacht). (unv.) I mean, neighbours quarrel. As a kid. THAT’S how we had spent our lives (unv.).« Die Nachbarschaft beschreibt Leyla als vertrauensvoll und offen, Streitigkeiten können adressiert und Missstände offengelegt werden: »When salt was needed, we used to go and ask our neighbour. ›Do you have some salt, do you have some sugar?‹« Dabei scheint das Kollektiv, in dem sie aufwächst, nicht geschlossen zu sein. Leyla verbringt in ihrer Jugend durchaus auch Zeit in benachbarten Vierteln und genießt Bewegungsfreiheit über ihre Nachbarschaft hinaus. Sie besucht mit ihren Freundinnen und Freunden in ihrer Freizeit die angrenzenden Stadtviertel und weitet ihre Freizeitaktivitäten auf kulturelle Angebote aus, die außerhalb ihres Heimatortes liegen. Dies stellt vermutlich insbesondere während der Jugend und jungen Erwachsenenzeit einen wichtigen Abgrenzungs- und Selbstermächtigungsmechanismus von ihren Elternhäusern dar. Das soziale Gefüge, in das Leyla eingebunden ist, gibt ihr Sicherheit und Freiheit zugleich. Dies zeigt sich beispielsweise auch an ihren Reaktionen auf die ersten Diskriminierungserfahrungen, die sie in H-Köy aufgrund ihrer kulturellen Zugehörigkeit macht10 . »I mean, eh (.) as kids or when we were in [H-Köy] we didn’t hide we were Alevis. There was this thing/and even then it was hard for us, but perhaps because we 10

Zu Beginn schildert Leyla ja, dass sie ihr alevitisches Heimatdorf in Istanbul neu aufgebaut haben. Warum sie trotzdem Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, kann nur aus dem erweiterten Kontext erklärt werden: H-Köy ist ein rasant wachsender Stadtteil, der im Zuge seine Entwicklung selbstverständlich auch Migrantinnen und Migranten aus anderen Regionen anzieht.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

were kids we had more courage/ ’›well, we are Alevis, so what?‹ Or we didn’t hide we were Kurds. As kids, when they asked us why we don’t fast, I would tell them ›I’m Alevi, so I don’t fast‹ (.) and I was the same when I was a teenager. As a teenager, in high school, when they asked me why I didn’t fast, I would tell them ›I’m an Alevi, I don’t fast, what’s it to you?‹« Ihr Leben in H-Köy ist also keineswegs nur von Harmonie geprägt. Aufgrund ihrer kulturellen Zugehörigkeit scheint die Familie im sich entwickelnden H-Köy zunehmend eine Ausnahmestellung einzunehmen. Vermutlich wird dieser Status im Verlauf des vermehrten Zuzugs definitorischer als noch in der Entstehungszeit, jedoch repräsentiert Leyla ihn selbstbewusst. Die Familie muss sich nicht verstecken, sie gehört zum Kreis der etablierten Bewohnerinnen und Bewohner. Trotz ihrer Andersartigkeit fühlt Leyla sich hier nicht fremd. Darüber hinaus bewertet sie die dominierenden Nachbarschaftsstreitigkeiten in H-Köy retrospektiv und im Vergleich zu ihren späteren Erfahrungen als nicht sonderlich ernstzunehmend: »fights are just about trivial things like ›you said to me such and such‹«. Die Ortsverbundenheit wird dadurch verstärkt, dass Leyla in H-Köy auch zur Schule geht. Erst mit Beginn ihrer Universitätsausbildung muss Leyla einen weiter entfernten Weg pendeln, der sie das erste Mal in Kontakt mit typischen Großstadterscheinungen bringt. »Only for university (.) I’ve been to some distant place (lacht). It was distant for me. I got up at six o’clock to get on the bus, so I could catch the first class at half past eight every morning. Because when you get on the first bus the ride is more comfortable. You know, afterwards to work/the bus gets extremely crowded. Harassers and what not (lacht), there were a lot of them back then. (lacht) Women’s ordeal.« Zu ihrer Universität muss sie mit dem Bus pendeln. Dabei legt sie sich schnell eine Strategie zurecht, um mit diesen Routineanforderungen zurechtzukommen. Denn sie bemerkt, dass es im Bus zu Belästigungen kommen kann, wenn man ihnen nicht aus dem Weg geht und beispielsweise eine frühe Verbindung bevorzugt. Sie bezeichnet dies als »women’s ordeal« (weibliche Leidensgeschichten, im Original: kadınların çilesi), was wiederum eine abstrakte Kategorie darstellt. Dies zeigt ihr Bewusstsein darüber, zu einer diskriminierten Personengruppe zu gehören. Diese Erfahrung stellt für Leyla außerdem den Beginn einer graduellen Erkenntnis und der Entzauberung ihrer Kindheit dar. Die Universität als »distant place« für sie persönlich bezieht sich eben nicht nur auf die geographische Entfernung, die sie im Bus zurücklegen muss, sondern auch auf eine zweite Sozialisation, die sie durchlaufen muss, die sich stark von ihrer ersten, dörflich-familiären Sozialisati-

4. Einzelfallrekonstruktionen

on unterscheidet. Die Erfahrungen, die sie im Bus macht, sind ihr neu und fremd und sie versucht ihnen aus dem Weg zu gehen. Leyla erlebt den graduellen Wandel ihrer Nachbarschaft mit, welche sich vom Dorf zu einer der bevölkerungsreichsten Gegenden Istanbuls entwickelt. Diesen Hinweis gibt sie direkt am Anfang ihrer Narration: »Of course, [H-Köy] is very big now. One of the biggest in Istanbul, but in those times it’s little more than a village«. Dieser Vergleich direkt zu Beginn ihrer Erzählung macht deutlich, wie fundamental die Auflösung des Dorfes für Leylas Lebensgeschichte ist. Gleichzeitig stellt Leyla ihre eigene Expertenrolle in Bezug auf diesen Wandel heraus: »A huge part of our lives we spent in [H-Köy]. I mean, our childhood, our adolescence, until when we were young people (lacht) until we were in our thirties/I have lived in [H-Köy] into my thirties. Eh, so I have closely witnessed the change there.« Diese Expertenrolle kommt aber nicht nur durch ihren langen Aufenthalt in H-Köy zustande, sondern auch durch die antagonistischen Erfahrungen, die sie in ihrem späteren Leben sammelt: »Actually, after thirty years of a very ordinary life (lacht)/it seems that we’ve come to know Istanbul gradually, during the stages afterwards. I mean, the place we’d been living wasn’t Istanbul, we’ve come to know that.« Das einfache Leben, wie Leyla die ersten 30 Jahre ihres Lebens charakterisiert, bewertet sie aus der Jetztzeit als eine Illusion, die im Gegensatz zur großstädtischen Realität steht. Die Idealvorstellung eines Heimes als ein Haus mit Garten trägt Leyla bis in die Gegenwart mit sich und sie dient ihr auch für ihre Zukunftsvorstellungen als wichtige Vorlage. Gleichzeitig ist sie sich bewusst, dass diese Lebensform verloren gegangen ist, auch wenn ihre Familie lange Zeit versuchte, sie zu konservieren. Mit dem Umzug nach J-Köy wird Leyla wieder Teil einer urbanen Dorfstruktur – nur stellt sie hier eine Außenseiterin dar, die die sozialen Funktionen, wie beispielsweise eine strenge soziale Kontrolle zur Einhaltung religiöser Praktiken, schmerzlich zu spüren bekommt. Diese Lebenserfahrung thematisiere ich dementsprechend näher im Kapitel, das sich ihrem phylogenetischen Stigma widmet.

4.3.2

Kapitalgesteuerte Siedlungstransformation und Verlusterfahrungen

Die Transformation der dörflichen Strukturen ihrer Kindheit hin zu einer Siedlungsstruktur, die von Apartmentwohnungen und wenig natürlichen Freiräumen geprägt ist, ist für Leylas Identitätsentwicklung konstitutiv. Das wird anhand der zentralen Stellung, die diese Transformation in ihrer Erzählung einnimmt, sowie an ihrer selbst zugeschriebenen Expertenposition deutlich. Interessant ist dabei insbesondere, mit welchen Assoziationen Leyla diese Entwicklung beschreibt. Ih-

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re Wortwahl und Referenzbezüge machen deutlich, dass sie die Transformation für sich selbst ablehnt und sie als rein kapitalgesteuert wahrnimmt, da sie etwas Wertvolles im Leben des Kollektivs zerstört. »But of course, what happened? (.) Over the years the place started to change and transform. Eh, well, it was a neighbourhood where everyone owned their place. Everyone had a garden/the place really deserved its name. The locality’s name is [garden town]. But what happened? Building contractors came in and everyone started making deals with them. That is, apartment buildings were constructed. It was just us who resisted for a long time.« Leyla beginnt diese kurze aber aussagekräftige Passage mit einer rhetorischen Frage, die einen gewissen Spannungsbogen aufbaut und die sie noch ein zweites Mal wiederholt. Sie zeigt damit an, dass nun eine wichtige biografische Erfahrung folgt. Es wird deutlich, dass sie den ersten Impuls zur Transformation nicht innerhalb des Kollektivs verortet, sondern ihn als Teil einer Invasion sieht, die von außen die dörflichen Siedlungsstrukturen unterwandert: »Building contractors came in«. Mit dieser Invasion wird eine kollektive Entwicklung in Gang gesetzt, im Rahmen derer die Dorfbewohnerinnen und -bewohner sich auf Geschäfte mit Bauunternehmen einlassen. Es wird deutlich, dass Leyla keine unmittelbare Handlungsnotwendigkeit sieht – an keiner Stelle spricht sie von Sanierungsbedürfnissen oder dergleichen. Sie begreift diese Entwicklung als rein profitorientiert. An anderer Stelle macht sie das mit folgenden Worten deutlich: »And people, ehm, giving away their houses going into the business of apartments.« Die sprachliche Formulierung Leylas macht die Verlusterfahrung durch die Aufgabe der Wohnhäuser deutlich (»giving away«). Gleichzeitig ist sie sich der Versuchung bewusst, die an die Bewohnerinnen und Bewohner herangetragen wird und betont: »It was just us who resisted for a long time«. In diesem Sinne kann die Formulierung des Widerstands in doppelter Weise interpretiert werden: zum einen in Bezug auf eine Versuchung, zum anderen im Rahmen eines mehr oder weniger politischen Widerstands gegen einen Eingriff in die Autonomie der Individuen. Die Besonderheit und Einzigartigkeit dieses Widerstands der Familie illustriert Leyla wenn sie erzählt: »Our house was the last and really, we/we were left there like (lacht)/apartment buildings on our right, apartment buildings on our left, apartment buildings before us, apartment buildings behind us/we were left there like a tiny box.« An dieser Stelle löst Leyla die Ernsthaftigkeit des Erzählten auf, indem sie lachend über ihre Sonderstellung als winzige Box im Apartmenthäusermeer berichtet. Mit diesem Bildnis überträgt sie eine große Vorstellungskraft. Hier wird ein Allein-

4. Einzelfallrekonstruktionen

stellungsmerkmal der Familie in der Nachbarschaft deutlich, welches zuvor nicht ausgeprägt war – schließlich sind sie zu Beginn der Entstehung H-Köys einer Kettenmigration gefolgt. Plötzlich bleibt die Familie alleine zurück, die Gemeinsamkeiten scheinen aufgelöst. Das Festhalten der Familie an ihrem Wohnhaus zeugt von einer Latenz gegenüber materiellen Werten und von einer Überzeugung dörflicher Lebensgewohnheiten. Auch Leyla äußert im Interview und dem gesamten Treffen an keiner Stelle großes Interesse an materiellen Dingen. Auch im Rahmen der Trennung und Scheidung ihrer Eltern bleibt das Familienhaus bestehen. Leyla und ihre Mutter ziehen aus dem Familienhaus in H-Köy aus, nur der Vater bleibt zurück. Leyla gibt an, dass ihr Vater noch eine lange Zeit alleine unter Apartmenthäusern zurückbleibt, bis das Haus schlussendlich doch abgerissen und das Grundstück mit einem Apartmenthaus neu bebaut wird. Leyla knüpft das Verlassen von H-Köy unmittelbar an die Scheidung ihrer Eltern, auch wenn sie die Gründe für die Trennung nicht im Rahmen der nachbarschaftlichen Transformation verortet. »Eh, and then, we too, eh, for other reasons/mum and dad had some conflicts. They decided to divorce. That was really why we left the place. When, eh, mum and dad divorced, when they divorced we left home. My mother and I moved to [I-Köy]. My father stayed there.« Zentral ist in dieser Schilderung, dass Leyla betont, ihr Heim, ihre Heimat verlassen zu müssen. Sie korrigiert sich: »That was really why we left the place11 . […] when they divorced we left home12 «. Nach dem langen Prozess des Widerstands sind es aus Leylas Perspektive also familieninterne Gründe, warum sie das Paradies ihrer Kindheit verlassen muss. In ihrer neuen Wohngegend, I-Köy, hat Leyla extreme Anpassungsschwierigkeiten, auf die ich im nächsten Kapitel zu sprechen kommen werde. Sie zieht mit ihrer Mutter in eine gekaufte Apartmentwohnung in einem, nach eigenen Angaben, alten Wohnhaus. Nach etwa zehn Jahren stellt sich für Leyla und ihre Mutter erneut die Frage des Abrisses und Neubaus des Hauses, in dem sie in I-Köy leben. Dieses Mal stehen sie dem Prozess offener gegenüber und sehen einen Sinn dahinter. Vermutlich liegt es auch daran, dass sie hier keinen großen Verlust befürchten. Sie tendieren aber zur Vorsicht, was sie erneut zu Außenseiterinnen werden lässt: »Then what happened? We lived there we lived for more than ten years. Then, about four or five years ago, eh, the building all of it, other flat owners wanted a deal with a contractor. They said, ›Let’s take the building down. Let’s have a new one. Something resistant to earthquakes.‹ We didn’t want that urban renewal

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»oradan« im Original, bedeutet wortwörtlich übersetzt: von dort weg. »evden« im Original, bedeutet wortwörtlich übersetzt: aus dem Haus/Heim.

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thing (Lachen). Eh, it made sense for us, but we believed we had to look into the matter in more detail. But other owners didn’t care and found someone. Eh, my mother saw the contractor, the contractor they had found, and said, ›That man is a fraud.‹ (lacht). She also said it in the man’s face: ›You are a fraud,‹ she said. (Lachen) But the others didn’t believe it and the man, indeed, cheated on us afterwards (lacht). So we really agreed to the contractor despite our wishes. And the man didn’t do his work. Now the case is in court. And the building had been taken down.« Leylas Mutter fungiert in diesem Moment quasi als Kassandra, die Böses voraussagt, der aber keiner Glauben schenkt. Sie versuchen, die Hausgemeinschaft vor dem Unternehmer, der hier sogar in Person auftritt, zu warnen, können sich aber kein Gehör verschaffen. Sie haben kein Vertrauen in die Person, willigen am Ende aber trotz der bösen Vorannahmen in den Vertrag ein. Für die Hausgemeinschaft, inklusive Leyla und ihrer Mutter, endet der Prozess schlimmstmöglich: Das Haus wird abgerissen und sie werden betrogen. Sie stehen ohne Unterkunft da und können sich nicht einmal von dem Bauunternehmer frei machen: »Ehm, and the guy doesn’t let go, because he wants to make the building, but doesn’t have the money, so he can’t. And we don’t want him to do it anymore. Such are the troubles.« Für Leyla scheint dieser Prozess und ihre jetzige Situation so absurd zu sein, dass sie nur lachend darüber berichten kann. Der Prozess des Umbaus stürzt sie in eine Verlaufskurve, in der sie keinen Handlungsspielraum mehr hat. Der Betrug treibt sie und ihre Mutter aus der Wohnung, sie sind »left without choices« und verbleiben mit »no other place to go«. Gleichzeitig empfindet sie die Situation als fremdverschuldet – sie hatten ja schließlich vor dem Unternehmer gewarnt. Die Ungeduld und vermutlich auch die Profitgier der Wohnungseigentümerinnen und -eigentümer setzen Leyla und ihre Mutter aber dermaßen unter Druck, dass sie sich nicht in der Lage fühlen, schlussendlich zu widersprechen. Auch die aktuelle politische Situation verschlimmert ihren Fall. Der Sachverhalt läge zwar vor Gericht, die Anhörungen würden aber nur schleppend verlaufen. Hier schaltet sich Ayhan ein und etwas amüsiert eruieren die beiden die Lage der Gerichte, die im Zuge des Putschversuches von 2016 folgenden massenhaften Entlassungen und Neubesetzungen von Gerichtspersonal und einer hohen Arbeitsauslastung an ihre Kapazitätsgrenzen stießen. »The case is still in court. We still haven’t got rid of the contractor. Eh, I think it will go on for another three or four years, because the proceeding is very slow. There is only one hearing a year, I think (laughter)//I2: The courts are busy, of course//They’re incredibly busy.«

4. Einzelfallrekonstruktionen

Leyla bleibt also in ihrer Ohnmachtsposition verhaftet, kommt nicht vor und erst recht nicht zurück. Die gesellschaftlichen und räumlichen Transformationsprozesse holen sie immer wieder ein und führen zu einer neuen Lebensrealität, die sie zwingt, sich neu zu orientieren.

4.3.3

Leben in der Großstadt

Leyla lernt erst in einem graduellen Prozess, was es bedeutet, in einer Großstadt zu leben. Die ersten Erfahrungen sammelt sie während ihrer universitären Ausbildung – hier bezieht sie sich insbesondere auf die Erfahrungen, die sie während der langen Pendelzeiten im Bus von H-Köy zu ihrer Universität macht. Einen besonders zentralen Bruch mit ihrer bisherigen Lebenswelt erfährt sie, als sie mit ihrer Mutter nach I-Köy zieht, einem gemischten Viertel im Herzen der Stadt. Im Zuge der Trennung ihrer Eltern müssen Leyla und ihre Mutter das Elternhaus des Vaters verlassen und ziehen nun das erste Mal in eine Apartmentwohnung – ein Umstand, gegen den sie sich jahrelang gewehrt hatten. Aus diesem Grunde führt Leyla wohl auch an, dass es natürlich sehr schwer für sie zu Beginn ihres Aufenthaltes in I-Köy war. Sie spürt diese Schwierigkeit mit allen Sinnen und scheint von der Entwicklung überrumpelt: »We moved into an apartment building. Naturally, it was really hard for us in the beginning. Hard in EVERY sense. Because, the neighbourhood included/in the beginning, very/I was grown in a house with a garden. Well, you are very free and unrestricted. More like/the neighbourhood is more connected, people know each other, everyone says hello to each other, or there are quarrels or fights every day (lacht). (unv.) I mean, neighbours quarrel. As a kid. THAT’S how we had spent our lives (unv.). Suddenly we moved into a flat in a very central location in Istanbul, and the house13 is like half as big as the one we had spent our lives, we moved into a small house. Eh, and eh the neighbourhood was extremely savage for us, because everyone/nobody knows each other. We moved into place like that. Say, you need something, and you can’t knock somebody’s door and ask for it. But that’s not your background/when salt was needed, we used to go and ask our neighbour. ›Do you have some salt, do you have some sugar?‹ And suddenly, we moved to a very strange place, a neighbourhood where nobody knows each other. I, for instance, found it very hard there my first year.« In dieser Passage stellt Leyla ihre Lebenserfahrung in den Nachbarschaften von H-Köy und I-Köy direkt gegenüber. Die veränderte gebaute Umwelt schränkt sie in ihrer Freiheit ein, die sie in H-Köy noch ausleben konnte. Nachbarschaftlicher Austausch scheint in I-Köy nicht existent zu sein – niemand kennt sich. Wie diese 13

Im türkischen Original spricht sie von »ev« (Haus), gemeint ist damit aber die Wohnung.

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Passage zeigt, ist Leylas Umzug in erster Linie durch Verlusterfahrungen geprägt. Zusätzlich fühlt sie sich hier in doppelter Weise marginalisiert. Zum einen ist sie mit ihrer neuen Wohnsituation unzufrieden: Die Wohnung ist zu klein, sie fühlt sich eingeengt. Zum anderen ist die Nachbarschaft geprägt von Anonymität. Im Original benutzt sie das türkische Wort »yaban« (hier übersetzt mit »savage«), was wild, fremd, eigenartig bedeuten kann. Dies kann in doppelter Hinsicht verstanden werden: Es rekurriert auf die herrschende Anonymität und Fremdheit, was die Qualität der sozialen Interaktionen ausmacht. Gleichzeitig ist diese Form des Zusammenlebens für Leyla selbst fremd – es bezieht sich also nicht nur auf die Personen als solche, sondern auf das soziale Gefüge als Ganzes, das Leyla als wild, fremd, eigenartig vorkommt, da es eben im unmittelbaren und extremen Kontrast zu ihrem bisherigen Leben steht. Der Kontakt zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn wird unmöglich, sie kann niemanden dort um Hilfe bitten. Leyla betont, dass insbesondere der Anfang und das erste Jahr schwierig waren. Anschließend durchläuft Leyla eine innere Transformation, um mit ihrer Umwelt zu Recht zu kommen, was anhand der folgenden Episode deutlich wird. »Because/it was hard for me also/(.) eh my room window looked/well, overlooked a very busy street. Eh, but the street at nights is like TEXAS14 , let me put it that way. (.) (lacht) There were always incidents down the window. I wake up at night, hearing screams, for instance. I run up to the window, thinking, ›What the hell?‹ Another night, it happened again. I ran up to the window, but I can’t see, right? I can’t see the scene from where I am, I just listen to the sounds. Some people are beating a person very badly. Beating INCREDIBLY. You wouldn’t believe it. On the windows across, everybody’s out there and watching. They can see what’s happening. Only I can’t see. And I pick up the phone and shout at the top of my voice, something like, ›leave that man alone, I’m calling the police.‹ That’s what I’m shouting. Then, somebody from the windows across said, ›It’s the police that is beating.‹ (Lachen) And I stand there with the phone in my hand. (Lachen) I’ve witnessed so many things like that there, I was constantly on the edge, because eh/I knew I would get used to it after a while, and that/I mean, I knew I would get used to it and that disturbed me very much/the fact that I would get used to it. You turn into a numb person. Because in the mornings they beat the transvestites. A taxi pulls in front of another taxi/for instance, they once kidnapped a woman like that. And it’s all in front of me/›I’m going to put a camera here‹, I’m thinking, all day long I’m witnessing things like that and it really got on my nerves. I2: (unv.) the window across 14

Der türkische Ausdruck »teksas gibi«, also wie Texas, kann kontextuell bedingt mit Eigenschaften wie chaotisch, gesetzeslos oder durch die Macht des Stärkeren übersetzt werden. Es rekurriert wohl auf die lebensweltlichen Eigenschaften, die in Western-Cartoons transportiert werden (Ekşi Sözlük 2002).

4. Einzelfallrekonstruktionen

B: EXACTLY. It’s so horrible from a neighborhood, a very quiet neighborhood where fights are just about trivial things like ›you said to me such and such‹ you end up in a place with serious troubles, where women got beaten, men are stabbed (Lachen) I2: The birth of an author. (Lachen) B: Right, the birth of an author I2: The birth of the author. (Lachen) (auf Englisch) B: The birth of an author, but this disturbs me very much/After a while I will be like the people across. I will just watch. That/knowing that is very disturbing, because I knew I was changing. And after a while I started not getting up from bed. Something is going on outside, but you go on sleeping. (.) I had a bad period there (Lachen).« Diese Anekdote stellt eine wichtige Schlüsselsequenz in Leylas Biografie dar. Sie zeigt den Beginn eines biografischen Wandlungsprozesses an und macht deutlich, wovor Leyla sich in der biografischen Situation fürchtet: vor der eigenen Verrohung unter den gegebenen Umständen. Ihre Welt wird auf den Kopf gestellt, ihr Alltagswissen funktioniert nicht mehr. Die für sie normale Reaktion, im Notfall die Polizei zu rufen, wird ad absurdum geführt – denn diese ist Teil der für Leyla schockierenden Ereignisse. Ihr Vertrauen in Recht und Ordnung wird erschüttert und sie ist auf sich allein gestellt. Ihre vorherige Welt erscheint ihr plötzlich trivial und realitätsfern. Dabei erleidet Leyla nicht nur einen Situationsschock. Sie bemerkt im Laufe der Zeit, dass sie gegenüber den Ereignissen, die vor ihrem Fenster passieren, selbst abstumpft. Dies scheint eine schwerwiegende Erkenntnis für ihre Selbstidentität zu sein. Diese Einsicht ist aber gleichermaßen die einzige Möglichkeit, mit den Erfahrungen umzugehen. Sie muss sich von den Szenen, die vor ihrem Fenster passieren, distanzieren. Leyla weiß in diesem Moment, und das zeigt eine hohe Reflexionsgabe, dass dies ein wichtiger Mechanismus des Selbstschutzes ist, der jedoch mit ihren biografisch gewachsenen Idealen nicht vereinbar ist. Die hier dargestellte Situation deutet auf eine depressive oder depressionsähnliche Phase von Leyla hin. Die Notwendigkeit der eigenen Distanzierung zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Leyla diese und auch andere Anekdoten erzählt. Sie geht während des Erzählens selber auf Rollendistanz, indem sie sich der Sache humorvoll widmet, beziehungsweise ihre eigene Naivität in der Situation belacht. So versucht sie, die Differenz zwischen Rollenerwartung und dem tatsächlichen Rollenverhalten zu reparieren. Nicht nur versucht sie der Situation den Ernst zu entziehen, sondern sie deutet die Situation erneut aus der Jetztzeit und kann erst so über die damalige Unerfahrenheit lachen. Ayhan nimmt an der Interviewstelle eine Spontaninterpretation vor und bezeichnet die Erfahrung als die Geburt der Autorin. Vermutlich bezieht sich diese In-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

terpretation auch auf Leylas Bemerkung »›I’m going to put a camera here‹, I’m thinking«. In jedem Fall zeugt Leylas Interview von ihrer Fähigkeit, auch in kleinen Situationen Bedeutung zu finden und diese verbalisieren zu können. Sie geht sehr reflektiert mit ihren Erfahrungen um, was auch in anderen Segmenten immer wieder deutlich wird. Auch wenn die Anfangszeit in I-Köy einer Traumatisierung gleichkommt, scheint Leyla sich die neuen Erfahrungen selbst anzueignen und für sich zu verarbeiten – eben durch die Kunst. Sie lernt die Großstadt nach und nach kennen in all ihrer Komplexität – wo die Polizei kontraintuitiv handelt, andere stigmatisierte Gruppen auftreten, wie beispielsweise Transvestiten, und es zu einer ständigen Reizüberflutung kommt, wenn man sich nicht abgrenzt. Das Leben in der Großstadt wird für Leyla allmählich konstitutiv für ihre Arbeit. Ihre Kunst funktioniert nicht ohne die ständige Überforderung, die die Großstadt an sie stellt. Das wird auch an dieser Stelle deutlich: »Apart from that, Istanbul is a very fulfilling city for me. (.) It feeds my brain and my creativity. Being here, making out stories from this place is more important for me. Eh, I, for instance, was going to begin a script last year. Actually, [Ayhan], I asked him and he let me use his place in [Ort an der südlichen Ägäis] for one week, but I couldn’t write anything, for instance. In that peacefulness there I couldn’t write anything. There, all day long (Lachen) I just sat. It was too quiet (Lachen), for instance. I wrote nothing there. I came back just as empty as I went there, and started writing here. Therefore, would such peaceful places fulfil me, make me very happy? No, they wouldn’t. Sadly, I’m used to this chaos.« So unglücklich oder unzufrieden Leyla mit ihrer Lebenssituation auch sein mag, so ist sie doch ihr Lebensinhalt und zentraler Bestandteil ihrer Selbstidentität. Deshalb sind die ständige Reflexion ihres Verlusts und die Verarbeitung dessen in ihrer Kunst so wichtig. Ein friedliches Leben würde sie nicht mehr zufrieden stellen. Sie hat sich das Leiden der Großstadt zu Eigen gemacht. Aus diesem Grund blickt sie mit humorvoller Geringschätzung auf ihr altes, narratives Selbst zurück und macht sich selbst über ihre frühere Naivität lustig. Sie bezieht sich hier auf eine Person, zu der sie nie wieder werden kann.

4.3.4

Phylogenetisches Stigma

Phylogenetische Stigmata sind laut Goffman »von Rasse, Nation und Religion. Es sind dies solche Stigmata, die gewöhnlich von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben werden und alle Mitglieder einer Familie in gleicher Weise kontaminieren« (Goffman 2015 [1963]: 13). Das phylogenetische Stigma, das Leyla in ihrer Narration präsentiert, ist das der kurdischen Alevitin. Dabei liefert sie keine allgemeingültige Beschreibung für diese kulturelle Zugehörigkeit, sondern rekonstruiert die Bedeutung anhand von alltäglichen Situationen, wie der Unterlassung verbreiteter

4. Einzelfallrekonstruktionen

religiöser Praktiken, oder tradierten Werten wie die Ablehnung materieller Dinge, die Bevorzugung gemeinschaftlicher Lebensformen und die Bedeutung von Bildung und Kunst. Gleichzeitig ist Leylas Stigma auch formal in sie eingeschrieben: Sie ist in ihrem Heimatdorf nach wie vor registriert. Ihr aktueller Ortsvorsteher (Muhtar 15 ) hat den Einblick in diese Daten. Insbesondere die Unterlassung des Fastens zur Fastenzeit und des Moscheebesuches bieten die deutlichsten Abgrenzungsmechanismen zu ihrer Umwelt. Ihre kulturelle Zugehörigkeit spielt für Leyla bereits in ihrer Kindheit eine Rolle: »And of course, we have this quality, we religiously speaking we are Alevis and in that sense somewhat/eh both, looking at our upbringing – how should I say? – we are accustomed to various things. I mean, being Alevis, we also had been through hardships as kids. We lived in [H-Köy], but there were few Alevi families there. Eh, (.) and we, eh/for instance, others, as kids/other kids wouldn’t play with us, because we were Alevi.« Interessanterweise nutzt sie hier den Ausdruck der Qualität, beziehungsweise der Eigenschaft, und nicht den des Stigmas, obwohl eben jene Eigenschaft eine gesellschaftliche Ausgrenzung mit sich bringt. Sie nimmt ihre Zugehörigkeit also nicht als Fehler wahr. So wird sie auch bereits im Kindheitsalter damit konfrontiert, dass sie nicht fastet. Leyla reagiert darauf mit einem Selbstbewusstsein, das mit einer gewissen Gleichgültigkeit gepaart ist. Ihr Sonderstatus in H-Köy verunsichert sie nicht. Das Viertel, in dem sie sich aufhält, ist eben auch ihr eigenes. Außerdem gibt es noch weitere alevitische Familien, mit denen sie vermutlich die gleichen Erfahrungen teilt. Zusätzlich hat sie noch den kindlichen Schutz, der ihr Mut und wohl auch eine gewisse Naivität zu teil werden lässt. Normative Ansprüche wirken noch nicht so stark auf sie ein. Auch wenn sie Diskriminierungen erfährt, kann sie damit umgehen, denn sie werden konfrontativ ausgetragen. Diese Qualität des Umgangs ändert sich jedoch mit dem Umzug nach J-Köy, das mehrheitlich von strikten sunnitischen Muslimen dominiert wird. Der Umzug nach dem Verlust ihrer Appartementwohnung kommt, wie geschildert, plötzlich und alternativlos für Leyla und ihre Mutter. »[J-Köy] well, living in [J-Köy] was no surprise for me. The composition of this place/I already knew how conservative this neighbourhood was. Eh, but of course I never imagined I would live here. Nothing like the idea of living in [J-Köy] (.) ever crossed my mind. There wasn’t even the possibility of it. Eh, so when we

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muhtar: »Der gewählte Vorsteher einer Dorfgemeinde (köy) oder eines Stadtviertels (mahalle). Städtische m. sind v.a. für die Aufenthaltsbescheinigungen zuständig.« (Kreiser 1992: 113)

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started living here, left without choices/it is different to have a direct experience, of course. It turns out that to know is something, to actually experience is something else. That’s what we learned.« Der Ruf von J-Köy eilt ihm voraus und Leyla gibt zu, dass sie nie damit gerechnet hatte, dort zu leben. Ihr Umzug ist Teil einer Verlaufskurve, die ihr keine andere Wahl lässt. Dabei wird ihr schnell bewusst, dass sogar die reine Vorstellung des Lebens in einer konservativen Nachbarschaft die Realität nicht im Ansatz wiedergibt. Die Tatsache, dass Leyla hier landet, ist wohl reiner Zufall. Sie thematisiert nicht, wie ihr Bruder und sein Freund darauf gekommen sind, in dieser Nachbarschaft ein Haus zu kaufen und zu renovieren. Vermutlich war es eine Entscheidung, die der Nostalgie eines alten Istanbuls geschuldet war. Es handelt sich um ein historisches Häuschen mit Garten, das in einer kleinen Gasse liegt. Hier findet man ein Istanbul abseits der Betonwüsten und Wolkenkratzer. Diese oberflächlichen Eigenschaften könnten zum Kauf geführt haben, ohne die tatsächliche Konsequenz des Lebens dort mit einzubeziehen. Zu einem späteren Zeitpunkt bemerkt Leyla, dass die beiden Besitzer eigentlich planen, das Haus zu verkaufen. Es könnte also als kurzfristige Investition betrachtet worden sein. Vielleicht haben sie aber auch erst durch die Erfahrungen von Leyla und ihrer Mutter festgestellt, dass ein Leben für sie hier nur schwer möglich ist. Leyla und ihre Mutter ziehen unter dunklen Vorannahmen nach J-Köy, doch Leyla stellt überrascht fest, dass sie zunächst keine der Schwierigkeiten erfahren, mit denen sie gerechnet hatten. »B: I honestly didn’t experience any particular difficulty when we came here. A little, eh/what do you call it? What would you say in such situations? Ehm (.) I2: Be inured to? B: (.) No, I would use another idiom, but I can’t remember right now. I mean, eh (.) as kids or when we were in [H-Köy] we didn’t hide we were Alevis. There was this thing/and even then, it was hard for us, but perhaps because we were kids we had more courage/›well, we are Alevis, so what?‹ Or we didn’t hide we were Kurds. Eh, but here, strangely, (.) we don’t bring up the subject, or we don’t tell people we are Alevis.« Leyla fällt es zunächst schwer, ihre aktuelle Situation im Umgang mit ihrer kulturellen Zugehörigkeit in die richtigen Worte zu fassen. Sie stellt die selbstbewussten und trotzigen Reaktionen auf Diskriminierungserfahrungen ihres kindlichen Selbst im Kontrast zu dem zurückhaltenden Verhalten des heutigen Selbst. Gleichzeitig ist ihr bewusst, dass sie keinesfalls in Anonymität lebt. Leyla hat eine ungewisse Gewissheit, dass ihre Nachbarinnen und Nachbarn über sie Bescheid wissen. Sie führt dies insbesondere auf die Tatsache zurück, dass sie und ihre Mutter nicht am religiösen Leben der Nachbarschaft teilnehmen:

4. Einzelfallrekonstruktionen

»Oh, the mosque is very close, eh during the month of Ramadan all the neighbourhood is in the mosque, only we aren’t there and therefore they know we don’t go to the mosque. I mean, it’s known.« Die Brechung mit den religiösen Praktiken vor Ort erschwert für Leyla immer wieder die Etablierung sozialer Kontakte. Sie stellen gewissermaßen sanktionierbares, abweichendes Verhalten dar. Die soziale Kontrolle dieses Verhaltens wird ihr in unterschiedlichen, alltäglichen Situationen vor Augen geführt. So ist das religiöse Leben in J-Köy so weit institutionalisiert, dass selbst die Kinder auf seine Einhaltung drängen. Leyla schildert dazu die folgende Anekdote: »Eh, or, for instance, last year in Ramadan, the Ramadan last year/here in our street lots of children play, well, because there is no traffic in this alley, just outside the door. I bought the kids ice cream. It never occurred to me, the Ramadan thing (lacht). I bought ice cream. I went out, saying, ›Kids, I have ice cream for you.‹ They told me, ›No, sister, we are fasting.‹ I’m sweating in the meantime, and they are really small kids, I’m talking about children nine or ten years old and then, I’m like, ›Fasting, what fasting?‹ And then, the kids started criticising me for not fasting, in front of my door. ›Sister, how come you don’t fast, you’re a sinner, you’ll burn in hell, and you’re not dressed in hijab anyway‹ (lacht). I was like, ›Whoa!‹ It was a shock (lacht).« Die geschilderte Erfahrung führt Leyla ihre Außenseiterposition deutlich vor Augen. Aus einer freundlichen Geste heraus entwickelt sich ein Konflikt, der sie überfordert und in die Ecke drängt. Sie ist schockiert, dass die Kinder sie öffentlich diskreditieren. Gleichzeitig findet ein Rollentausch statt: Die Kinder zeigen Leyla deutlich, welche normative Erwartungen sie an einen Erwachsenen in ihrem Umkreis haben und Leyla beschädigt ihr Rollenideal. Gleichzeitig bleibt Leyla ohne Handlungsoptionen zurück. Sie fühlt sich nicht in der Lage, zu reagieren. Ihre Tarnung ist aufgedeckt, sie selbst persönlich degradiert, obwohl sie doch etwas Gutes tun wollte. Sie stößt immer wieder an die Grenzen ihres Handelns. Auch wenn das Wissen um Leylas Andersartigkeit in den meisten Situationen nicht offen adressiert wird, bringt es sie doch in für sie als seltsam empfundene Situationen. So schildert sie auch eine Begegnung mit einem örtlich ansässigen Kunsthandwerker: »B: For instance, one day I, eh, in the back street there is a, eh/I went to an artisan. I wanted a quilt, I wanted to have him make a quilt for my niece. He is an old man, he asked me, ›What neighborhood are you from, I haven’t really seen you around.‹ I told him we moved here recently, well to [this mahalle]/I told him the street name. He said, ›Ooh, there? You have a mosque there, I haven’t seen you in the mosque.‹ I2: You?

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B: ME (lacht) and I was dumbfounded (lacht), why would you see me? I2: But also, he is male. B: But it’s strange, I mean I: Somehow, it’s known I think.« Für Leyla sind solche Situationen Ausdruck von unterschwelligen Annahmen über ihre Person, denen sie sich in ihrer neuen Umwelt nicht mehr entziehen kann. Für sie ergibt die Frage, warum der Mann sie in der Moschee nicht gesehen, hat keinen logischen Sinn. Aufgrund der getrennten Frauen- und Männerbereiche hätte er dazu gar keine Chance, selbst wenn sie am Gebet teilnehmen würde. Für sie stellt dies einen Teil der latenten Verschwörung gegen sie dar, die mit dem Verlust der Informationskontrolle über sich selbst einhergeht. So führt sie weiter fort: »It is known, that’s what I’m trying to say. I mean, neighbours/the ones on this side know it, the ones on the other side know it, the barber across knows it/that you don’t go to the mosque, that you don’t fast. They KNOW it. Or, for instance, before you arrived, an hour before, the AKP youth branch came. For instance, I opened the door and they directly said, ›You are two people in the house, right?‹ I mean, that is also known. (.) (lacht) I said ›yes‹. They gave two packages, one for each. ›But you/how do you know we are two people here? Based on what? Where does the information come from?‹ Because they collaborate with the muhtar. The muhtar tells everything to them: ›This household is like this.‹ After all, you are registered there: your birthplace is [Provinz in Zentralanatolien], you’re born in [the district of CD]. ›They are two people‹ et cetera. Even just based on that information they could know at least what you are inclined to. He looks at it, the village of [AB]/if you google it, it’s written it is an Alevi village. I mean, it’s not that difficult now (.) technology (lacht).« Es wird deutlich, dass Leyla keine Verfügungsmacht über die Informationsverteilung in ihrer Nachbarschaft hat. Die Leute wissen über ihre Andersartigkeit, ohne, dass sie selbst ihnen davon berichtet hätte. Der offene und defensive Umgang in ihrer Kindheit wird abgelöst von Unsicherheit und Schweigen. In kritischen Situationen wählt sie, nicht über ihre religiöse Identität zu sprechen. Obwohl sie das Bewusstsein bei ihren Nachbarinnen vermutet, ignorieren diese ihre Zugehörigkeit vehement. Dies äußert sich in den neugierigen Fragen des Kunsthandwerkers und der Tatsache, dass AKP-Parteiangehörige trotzdem an ihre Tür klopfen. Diese Erkenntnisse lassen sich aus Leylas Äußerungen ableiten und spiegeln ihre Wahrnehmung dieser Situation wider. Inwiefern ihr Stigma in der Nachbarschaft tatsächlich sichtbar ist, ist eine kompliziertere Frage. Goffman schreibt, dass zunächst »die entziffernde Fähigkeit des Publikums spezifiziert werden [müsse], bevor man vom Visibilitätsgrad sprechen kann« (Goffman 2015 [1963]: 64). Für Goffman liefern gewisse Symbole soziale Informationen über die Stigmatragenden. Bei

4. Einzelfallrekonstruktionen

Leyla und ihrer Mutter könnten das die Tatsachen sein, dass sie keine Kopftücher tragen, oder dass ihre Mutter einen starken kurdischen Akzent zu haben scheint. Dies sind aber schlicht Mutmaßungen. Was jedoch in Leylas Narration deutlich wird, ist ihre tiefe Verunsicherung in Bezug auf die Beziehungen zu ihren Nachbarinnen und Nachbarn. Sie weiß nicht, was ihre Gegenüber wirklich von ihr denken (Goffman 2015 [1963]: 24), sie kann es nur vermuten. An einer Stelle des Treffens berichtet Leyla von einer Nachbarin, die ihr im Vertrauten gestand, dass sie nicht mehr für Recep Tayip Erdoğan stimmen möchte, diese Tatsache aber niemals offen in der Nachbarschaft zugeben würde. Diese Geheimhaltungsprozesse wirken vermutlich weiter verunsichernd auf Leyla ein. Sie reagiert mit einem Gefühl der Bedrängnis und der Angst. Besonders deutlich kommt dies im folgenden Segment zum Vorschein: »Or, for instance, the night of the coup attempt many incidents happened here, like shouting ›Allahuakbar‹ in front of our door. And we were concerned that (.)/if they know us as, well, as (.)/you could expect them to do anything (lacht leicht), like setting the house on fire. I don’t want to exaggerate, but I’m saying this because we’ve been through times like that. I mean, in the past a great deal of very similar incidents took place, so it could happen again, or not, but you get that feeling, you start thinking, ›Would they do us harm?‹ Not that it will happen, eh, but they make you feel that way. After all that has happened in the past, you get that uneasy feeling. You get the uneasiness that comes with being out of the ordinary. (…)« Leyla ruft sich die Nacht des Putschversuches von 2016 in Erinnerung und die Ängste, die sie und ihre Mutter in der Nacht empfinden. Sie spricht nur vage Vorfälle an, wie, dass »Allahuakbar« vor ihrer Haustür gerufen wird. Gerade in dieser Situation fragt sich Leyla, wie sichtbar ihr Stigma tatsächlich ist (»if they know us as, well as (.)«) und sie schafft es in diesem Moment nicht einmal, es konkret zu benennen. Sie ist überzeugt davon, dass wenn sie es tatsächlich wüssten, von ihren Nachbarinnen und Nachbarn alles zu erwarten wäre. In dieser Situation tritt ihr kollektives Gedächtnis hervor. Hat sie vorher mit »we« nur sich selbst in Verbindung mit ihren signifikanten Anderen bezeichnet, weitet sie es in diesem Moment auf die Gruppe der Aleviten insgesamt aus. Sie thematisiert ihre unterschwellige Angst vor Brandanschlägen und bezieht sich hier höchst wahrscheinlich auf den Brandanschlag von Sivas im Jahr 1993 auf eine alevitische Kulturveranstaltung, bei dem 37 Personen ums Leben kamen. Dieser Anschlag betrifft sie nicht nur, weil sie Alevitin ist, sondern auch, weil der Anschlag vornehmlich auf einen kulturschaffenden Personenkreis abzielte, zu dem sie ebenfalls gehört. Sie sagt »we’ve been through times like that« und sieht sich hier als Teil dieser Leidensgemeinschaft. Zum einen tritt die Verbundenheit zum eigenen Kollektiv in diesem Moment stärker hervor, zum anderen wird ihr ihre Margina-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

lisierung in extremer Weise vor Augen geführt. Sie und ihre Mutter fühlen sich allein unter Fremden. In ihrem alltäglichen Leben reagiert Leyla auf diese Tatsache, indem sie mit krasser Abneigung gegen etwaigen Kontakt mit ihrer Nachbarschaft reagiert. Dies macht sich beispielsweise an der Tatsache deutlich, wie sie auf Geräusche aus dem Umfeld reagiert. In meinen eigenen Beobachtungen empfinde ich das Viertel als sehr ruhig, bis auf die Schulglocke fällt mir keine besondere Lärmquelle auf. Es ist wenig Verkehr auf der Straße und das Viertel liefert einen Kontrast zur schnelllebigen Großstadt. Leylas Empfinden hingegen ist von einer ganz anderen Qualität: »I mean, for me this place/I don’t like noise and this place is too noisy for me. I can’t concentrate and work. Because I usually work at home, writing scripts, writing projects et cetera. So naturally, that’s what bothers me here, to be honest. I can’t concentrate. Constantly/for instance, at one stage I constantly quarrelled (lacht), because they made so much noise. (lacht) I walked around like a wildly angered woman. Eh, or, well, (unv.) they never stop making noise there by the school. It’s really unpleasant. Here it is like that too. There is too much noise.« Die erwähnten Geräusche haben vermutlich diesen Effekt auf Leyla, da sie ihr ständig vor Augen führen, wo sie sich gerade befindet – nämlich im fremden Terrain. Aus diesem Grund versuchen Leyla und ihre Mutter ihren Aufenthalt in der Nachbarschaft nur auf das Nötigste zu beschränken. So verlassen wir das Viertel auch im Rahmen des Go-Alongs ziemlich schnell. Leyla gibt an, dass sie nicht mehr bei den lokalen Läden, sondern in den nächstgelegenen Supermärkten oder bei den kurdischen Ständen auf dem Wochenmarkt einkaufen würden. Ihre Mutter würde in den lokalen Läden aufgrund ihres kurdischen Akzentes diskriminiert werden. Für Leyla und ihre Mutter ist schlicht die zentrale Lage und die Tatsache, dass sie ein Haus mit kleinem Garten bewohnen können von positiver Natur. Sie können viele Orte zu Fuß erreichen und haben sich im Garten ein paar Katzen angefüttert. Sie können ihre Nachbarschaft aber immer schnell und unkompliziert verlassen, um an Orte zu gelangen, an denen sie sich wohler fühlen. Die Ruhe zum Arbeiten findet sie in einem alten Café im Zentrum, zu dem sie uns im Rahmen des Go-Alongs führt. Das Café ist ein wichtiger Rückzugsort für sie. Hier trifft sie auf andere gebildete Menschen, hauptsächlich auf pensionierte Lehrerinnen und Lehrer, mit denen sie über aktuelle gesellschaftspolitische Themen diskutieren kann. Hier kennt und schätzt man sie. Der Kellner kommt direkt an unseren Tisch und verwickelt Leyla in ein Gespräch über das schlechte TV-Programm – sie solle doch bitte etwas daran ändern. In Anbetracht der Umstände ist es verständlich, dass Leyla ihren Aufenthalt in J-Köy nur als temporär betrachtet. Im Zuge der geschilderten Ereignisse hatte sie keine andere Wahl, als hierherzuziehen. Sie wünscht sich aber an einen anderen

4. Einzelfallrekonstruktionen

Ort, an dem sie mehr Ruhe hat, der ihr aber trotzdem die Nähe zum Chaos der Großstadt gewährleistet. »I have no preference in Istanbul. Not anymore. (.) But if it were a house with a garden, it would be beautiful.« Ihre Vorstellung von einer idealen Siedlungsstruktur bleibt also die gleiche. Auch wenn ihr vermutlich bewusst ist, dass sie diesen Traum entweder nur in der peripheren Vorstadt oder eben in den alten, konservativen Vierteln findet. Zum Zeitpunkt des Interviews ist ihre Zukunft noch ungewiss.

4.3.5

Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Leyla«

Die hier dargestellten zentralen biografischen Erfahrungsräume des urbanen Dorfalltags, der kapitalgesteuerten Siedlungstransformation und den damit einhergehenden Verlusterfahrungen, des Lebens in der Großstadt sowie Leylas phylogenetisches Stigma sind untrennbar mit Leylas Selbstidentität verbunden. Dabei ist vor allen den letzten drei Erfahrungsräumen gemein, dass sie zum einen mit Leylas gewachsenen Idealen brechen und sie zum anderen in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken. Sie kann die Transformationsprozesse in ihrem alten Viertel nicht aufhalten, sie kann den Ungerechtigkeiten, die vor ihrer Tür in I-Köy stattfinden, nicht Einhalt gebieten und sie kann die Informationsverbreitung in ihrer Nachbarschaft in J-Köy nicht kontrollieren. Es ist also eine verlaufskurvenförmige Prozessstruktur für Leyla zu erkennen. Zunächst wächst Leyla noch in einer relativ behüteten und institutionalisierten Nachbarschaft auf, die ihr Halt gibt. Obwohl sie hier bereits Diskriminierungen bezüglich ihrer kulturellen und konfessionellen Zugehörigkeit erfährt, fühlt sie sich nicht als Außenseiterin. Erst mit ihrem Studium erweitern sich ihre sozialen Kreise und die Erfahrungen, was es bedeutet, in einer Großstadt zu leben, nehmen sukzessive zu. Sie lernt zwar seit ihrer Kindheit, dass leidvolle Erfahrungen zu ihrem Leben dazu gehören, die unangenehmen Gefühle des Außenseitertums entwickeln sich aber erst mit der Zeit. Die wiederkehrenden Umzüge stürzen sie immer wieder in Verlaufskurven, die ihre Handlungsmacht einschränken. Mit dem Wegzug aus H-Köy scheint sie in ihrer Außenseiterposition gefangen zu sein. Während ihres Aufenthaltes in I-Köy wird ihr ihre frühere Verklärtheit und Naivität vor Augen geführt. Diese Zeit nimmt sie aus der heutigen Perspektive als eine Art Trauma wahr, das sie nachhaltig geprägt hat. Zwar berichtet sie von keinen diskriminierenden Handlungen auf sie persönlich, doch fühlt sie sich in einen Kontext versetzt, der von Gesetzeslosigkeit und Chaos geprägt ist. Ihre Ordnungsvorstellungen werden durch die Ereignisse, die sie im wahrsten Sinne des Wortes vor ihrem Fenster verfolgt, auf den Kopf gestellt. Schlussendlich wird durch die Betrugserfahrung im Rahmen der geplanten Hauserneuerung das Verlaufskurvenpo-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

tential vervollständigt: Sie hat nicht nur ihre gesamte soziale Stabilität durch ihren Wegzug aus H-Köy verloren, sondern nun auch noch ihre finanzielle Absicherung. Sie ist vollkommen auf die Hilfe von außen angewiesen und muss das Angebot ihres Bruders annehmen, gemeinsam mit ihrer Mutter in das von ihm und seinem Freund renovierte Haus in J-Köy zu ziehen. Hier fühlt sie sich als kompletter Fremdkörper. Sie weiß, dass sie Stigmaträgerin ist und ist verunsichert in den sozialen Interaktionen mit der Nachbarschaft, so dass sie versucht, sich hier gänzlich rar zu machen. Die Verbindung zum Dorf ihrer Großeltern, welches über einen langen Zeitraum einen vergemeinschaftenden Effekt für sie hatte, wendet sich nun gegen sie: Aufgrund ihrer Registrierung hat der Ortsvorsteher theoretisch die Möglichkeit, ihre Herkunft zu überprüfen und auf ihre Zugehörigkeit zur alevitischen Minderheit zu schließen. Sie selbst hat die Informationsverteilung nicht unter Kontrolle und weiß nicht, was die Nachbarinnen und Nachbarn wissen und über sie denken, so dass sie stets vom Schlimmsten ausgehen muss. All diese Erfahrungsräume teilt sie mit einer Person: ihrer Mutter. Dabei spricht sie oft in der ersten Person plural, was in den meisten Fällen wohl sie und ihre Mutter meint, jedoch wird ihrer Mutter ansonsten in der Narration eine nur geringe Aufmerksamkeit zu Teil. Sie bilden eine Leidensgemeinschaft und vielleicht ist die Art und Weise der Erzählung Leylas ein Ausdruck der symbiotischen Beziehung der beiden Frauen. Sie ist eine der wenigen »Wissenden« (Goffman 2015 [1963]: 85). Eine wichtige Kompensationsmöglichkeit für Leylas Erfahrungsräume ist ihre Arbeit. Die schwierigen, aufregenden, verstörenden Erfahrungen, die sie macht, kann sie dank ihrer künstlerischen Ausrichtung in Kreativität umwandeln. Dies stellte einen wichtigen Bewältigungsmechanismus für sie dar. Denn sobald ist für sie kein Ende der Verlaufskurve in Sicht. Sie steckt in ihrer Situation fest. Nicht nur ist in Bezug auf das Gerichtsverfahren im Rahmen der Erneuerung ihres ehemaligen Wohnhauses in I-Köy ein langer Prozess zu erwarten, auch bietet ihr die Stadt wenig Möglichkeiten, ihre wohnungstechnischen Vorstellungen tatsächlich in die Tat umzusetzen. Zusammenfassend zeichnet sich Leylas Fall im Rahmen der biografischen Verarbeitung von Raumtransformationsprozessen insbesondere durch die Desillusionierung ihrer Kindheit und der Entfaltung ihres Stigmas aus. Auch wenn sie, biografisch betrachtet, nie einen großen Handlungsspielraum gehabt hat, so wird es ihr erst spät bewusst. Der Verlust ihres Elternhauses und der gemeinsamen Wohnung mit ihrer Mutter ist nicht ihr verschulden, und doch kann sie nichts dagegen tun. Erst als sie in J-Köy lebt, wird ihr ihre Handlungsohnmacht bewusst. Diese Ohnmacht kompensiert sie jedoch durch ihre Kunst: Hier hat sie noch die Möglichkeit, sich auszuleben und Neues zu erschaffen.

4. Einzelfallrekonstruktionen

4.4

Nuran – Ein flüchtiges Leben Zusammenfassung des Lebensablaufs Nurans Eltern migrieren um 1980 aus Ostanatolien nach Istanbul und wohnen zunächst in einem sich rasant entwickelnden Stadtbezirk (K-Köy) auf der europäischen Seite. Ihre Mutter ist Lehrerin und ihr Vater Bankangestellter. Nuran wird im Jahr 1982 geboren und etwa sieben Jahre später ihr jüngerer Bruder. Bis zu ihrem elften Lebensjahr wohnt sie zusammen mit ihrer Familie in K-Köy, welches sich in dieser Zeit massiv transformiert. Die Familie zieht in den nächsten Jahren häufig um. Nuran selbst gibt an, fünfzehnmal umgezogen zu sein, im Interview können sieben Umzüge nachvollzogen werden. Bei ihren Wohnorten handelt es sich in den meisten Fällen um Stadtviertel, die im Entstehen sind oder großer Transformation unterliegen. Für ihr Studium Anfang der 2000er Jahre zieht Nuran zusammen mit ihrer Familie nach B-Şehir, eine mittelgroße Stadt im Nordwesten der Türkei. Im Jahr 2005 kehrt die Familie nach Istanbul zurück und Nuran wird Angestellte bei einem Vermögensverwalter. Die Familie wohnt zu diesem Zeitpunkt in M-Köy, das zwar in der Peripherie liegt und einen langen Pendelweg für Nuran bedeutet, aber den gesundheitlichen Problemen ihrer Mutter Verbesserung schafft. Anfang der 2010er Jahre, nach Kündigung wegen Eigenbedarfs, muss die Familie erneut umziehen. Die Familie zieht wieder nach L-Köy, wo sie bereits einige Jahre zuvor eine Zeit lang gelebt hatten. Dieses Mal ziehen sie in eine große Site aus den 1990er Jahren. Zur Zeit des Interviews plant Nuran ihren langjährigen Lebenspartner bald zu heiraten und von zu Hause auszuziehen.

Der Kontakt zu Nuran wird über eine Arbeitskollegin hergestellt. Die erste Kommunikation läuft über einen Messenger. Nuran zeigt sich direkt sehr freundlich und hilfsbereit – sie sei seit über 20 Jahren mit meiner Arbeitskollegin befreundet und helfe mir sehr gerne. Wir verabreden uns ein paar Tage später an einem Sonntag, da sie an den Werktagen sehr beschäftigt ist. Das passt in den strikten Zeitplan und die starren Routinen die Nurans Leben bestimmen, wie ich später erfahre. Auf der Fahrt zu Nuran, die über anderthalb Stunden vom Stadtzentrum dauert, wird mir wieder das wahnsinnige Ausmaß der Stadt vor Augen geführt. Die Fahrt führt durch die bevölkerungsreichsten Stadtbezirke, die seit den 1980er Jahren entstanden sind. Nuran holt mich von der Metrobus-Haltestelle ab, die ganz in der Nähe ihrer Wohnanlage liegt, und führt mich durch ihre Site, die in den 1990ern von einer türkischen Bank gebaut wurde und über 4.000 Wohnungen umfasst. Ich bin ganz fasziniert von der Größe der Site: Sie ist durch unterschiedlich große Wohnblöcke ausgezeichnet, die bis zu 16 Stockwerke besitzen. Die ganze Siedlungsstruktur wirkt trotz der dazwischenliegenden Grünflächen und Spielplätze sehr kolos-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

sal. Die Blöcke sind ohne Verzierungen oder Farbakzente und erinnern an eine sowjetische Bauweise. Zusätzlich befinden sich entlang der Straßen der Site viele Parkplätze, die alle gut gefüllt sind. Bei Nuran ist aber keinerlei Ablehnung gegenüber ihrer Wohnanlage auszumachen. Im Gegenteil: Sie schätze die Ordnung und Struktur, die sie hier fände. Auch die Grünflächen und der kleine Park mit den vielen Nadelbäumen gefielen ihr gut. Im Interview sagt sie dazu: »you can (believe?) that you are in a forest«. Abbildung 7 – Siedlungsstruktur Nachbarschaft Nuran

Fotos: © LR

Nuran ist sehr aufgeschlossen, freundlich und erzählbereit. Schon auf dem kurzen Weg in die Wohnung liefert sie viele Vorabinformationen: Sie und ihre Familie seien in der Vergangenheit viel umgezogen, sie lebe immer noch mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder zusammen, wird aber hoffentlich nach ihrer geplanten Hochzeit im Sommer ausziehen können, auch wenn sie generell sehr zufrieden mit ihrem Wohnort sei. Nuran ist eine sehr eifrige Interviewpartnerin. Wir führen das Interview auf Englisch. Sie spricht frei und scheint nicht durch die Tatsache verunsichert, dass das Interview in einer Fremdsprache stattfindet. Nach der erzählgenerierenden Nachfrage kommt sie in einen längeren Erzählfluss und zeichnet ihre Umzugsbio-

4. Einzelfallrekonstruktionen

grafie nach – die tatsächlich sehr umfangreich ist. Aufgrund der vielen Umzüge, von denen sie berichtet, bleibt das Detaillierungsniveau allerdings recht gering. Nichtsdestotrotz können zentrale biografische Erfahrungsräume für Nuran abgelesen werden, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Thema Wohnen stehen. Das Wohnen scheint für Nuran insbesondere ein logistisches Problem zu sein, bei dem sie unterschiedliche Interessen – von ihr und ihrer Familie – mit Standortvorteilen und infrastrukturellen Möglichkeiten abwägen und unter einen Hut bringen muss. Im Rahmen von Nurans Erlebnisaufschichtung wird deutlich, dass sie ihre Umwelt sehr stark körperlich wahrnimmt – vermutlich auch übertragen von den gesundheitlichen Problemen ihrer Mutter, von denen sie berichtet. Insbesondere das Schnelllebige der Stadt, was Nuran mentale Probleme bereitet, wirkt sich auch auf ihre Performanz während des Interviews aus: Sie macht kaum Pausen, spricht schnell und fortwährend, spornt sich in ihrem Erzählfluss selbst an, indem sie schnippst oder klatscht. Dafür nimmt sie sich aber kaum Zeit, ins Detail zu gehen. Sie führt keinerlei Anekdoten an, wie ich es in anderen Interviews erlebt habe. Zwischendurch pausieren wir das Interview auf Nurans Wunsch, um Tee zu trinken und etwas Kuchen zu essen. Anschließend kommt das Interview nicht mehr so recht in Gang, da wir nach kurzer Zeit erneut von Nurans Mutter unterbrochen werden. Nach der zweiten Unterbrechung beenden wir das Interview. Nuran betont selbst, dass sie das Interview gerne »vernünftig« (»properly«) machen möchte. Hier tritt wieder ihre Selbstanforderung zu Tage, es den Menschen in ihrem Umfeld möglichst recht zu machen. Durch ihre enge Familienbindung erscheint Nuran nicht als autonome Person die unabhängig handeln kann und auch in ihren Zukunftsentwürfen bindet sie sich an eine Zukunft, die von ihrer Heirat und ihrem zukünftigen Ehemann abhängig ist. Darüber hinaus ist sie mit den ständigen Veränderungen in der Großstadt aufgewachsen – im Gegensatz zu den anderen, bisherigen Fällen, die zumindest noch in ihrer Kindheit die dörflichen Strukturen der wachsenden Stadt kennengelernt haben. Nuran wird direkt von Anfang an mit dem Chaos der neu entstehenden Vorstädte konfrontiert und passt ihren Alltag und ihre Erwartungen dementsprechend an.

4.4.1

Die Kernfamilie als primäre Bezugseinheit

In Nurans Narration wird im Vergleich zu anderen Fällen deutlich, dass sie und ihre Familie in kein größeres Kollektiv eingebunden zu sein scheinen. Sie berichtet von keiner Kettenmigration, der sich die Familie anschließt, und führt keine bereits bestehenden sozialen Kontakte in den Vierteln, in denen sie sich ansiedeln, an. Im Zuge des Treffens erwähnt sie keine weiteren Familienmitglieder in der Stadt. Bei ihren Eltern beobachtet sie zwar nachbarschaftliche Kontakte und Freundschaften, für sie selbst ergibt sich aber ein anderes Bild. Obwohl Nuran nun schon das

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

zweite Mal in L-Köy lebt fällt es ihr schwer, eine Einschätzung ihrer Nachbarinnen und Nachbarn zu liefern – sie habe schlicht und einfach keine Zeit für nachbarschaftliche Kontaktpflege. Nuran führt die Vorgeschichte ihrer Eltern nur sehr oberflächlich aus. Sie erzählt, dass sie kurz vor ihrer Heirat aus einer Provinz in Ostanatolien nach Istanbul gezogen seien. Dann setzt sie direkt fort mit der Information »first we lived in [KKöy, Stadtteil europäische Seite], in Istanbul«. Aufbauend auf der scheinbar schnell folgenden Geburt von Nuran (1982), und den Kontextinformationen zu dem Viertel, in dem sie ansiedeln, müssen die Eltern um das Jahr 1980 nach Istanbul gezogen sein. Die Familie wechselt in den nächsten 30 Jahren häufig ihren Wohnort – teilweise im gleichen Viertel, teilweise in andere Stadtbezirke, einmal in eine andere Stadt. Die Beweggründe können nicht immer rekonstruiert werden, teilweise werden sie aber von Nurans Ausbildung und dem Gesundheitszustand ihrer Mutter bestimmt. Selbst als Nuran ihr Universitätsstudium in einer Stadt im Nordwesten der Türkei aufnimmt, zieht ihre Familie mit ihr mit. Es ist aber nicht nur ihre Familie, die für Nuran den Lebensmittelpunkt verlegt, auch Nuran muss ihre Familie stets in ihre Entscheidungen miteinbeziehen. Ein ausschlaggebender Faktor ist dabei insbesondere die Atemwegserkrankung ihrer Mutter. Als Nuran ihr Universitätsstudium abgeschlossen hat und die Familie nach Istanbul zurückzieht, suchen sie sich aus diesem Grund einen Standort mit guter Luftqualität und Erholungscharakter. Nuran beschreibt M-Köy folgendermaßen: »It was really a nice place and when I eh (.) came back from job to my home I really feel that I I can breathe because the/especially because my mother has a problem with eh health problem with breathing, you know, so we choiced, choose there to eh, because the weather is eh good and the oxygen (lacht) level is more so that’s why we lived there. And it was really nice place eh I wish that I couldn’t I could eh take you there, eh it was really good, and ehm there were more gardens between eh the buildings, more spaces and then ehm eh as I said short buildings and the eh the sea breeze, you know, eh sea air it’s just coming to the area and, eh, it was very nice.« Sie genießt die Nähe zum Meer, die Natur und den Platz, da dies alles zu ihrem Wohlbefinden beiträgt. Wenn sie von der Arbeit kommt, kann sie hier atmen. Nuran hat zu diesem Zeitpunkt einen Job bei einem Istanbuler Vermögensverwalter angenommen. Das Dienstleistungszentrum, in dem sie arbeitet, steht in einem diametralen Kontrast zu ihrem Wohnort. Das Büro liegt in einem der größten Wirtschaftszentren der Stadt, in direkter Nähe zu Flughafen und Autobahn, in einem von mehreren Büroblöcken mit Hunderten von Büros. Zusätzlich muss sie einen weiten Weg dorthin pendeln. Dieser Pendelweg stellt große Ansprüche an

4. Einzelfallrekonstruktionen

sie, doch Nuran entwickelt eine hartnäckige Resilienz gegenüber den alltäglichen Anforderungen: »There weren’t metro büs that time so eh I was using eh the other busses, like eh the small ones and eh so they’re very crowded and eh the drivers are not so sensitive to the eh passengers. There there are too many problems. Even not just, someday somebody is just shouting, other day other person is shouting you know every everyday there was a problem but eh I tried to protect my eh mind health, actually (lacht), yes and, well it was very hard period but because I have very good job, very good ehm eh company that very good bosses and good friends that I work with so I didn’t gave up and I didn’t eh resign eh from my job and I didn’t even thought to change my job so it it was my choice, of course, so I continued to my work.« Sie beschreibt es als »ihre eigene Entscheidung«, dass sie bei ihrem Arbeitgeber und gleichzeitig auch an ihrem Wohnort verbleibt. Die Vorteile, die ihre Arbeit für sie liefern, überwiegen für sie, trotz des geringen Gehalts, das sie hier bekommt – es würde nie im Leben für eine eigene Wohnung reichen. Ihre Arbeit bekommt aber einen hohen Stellenwert in Nurans Referenzsystem. Tatsächlich führt sie immer wieder aus, wie sie unter der Situation leidet und es wird deutlich, wie sehr sie mit ihrem Standort hadert. Sie zeichnet immer wiederkehrende Gedankengänge nach, in denen sie sich selbst überreden und davon überzeugen muss, dass ihre Situation gar nicht so schlimm ist, wie sie sie im Alltag empfindet. Für Nuran kommt es daher wie eine Art Erlösung, als ihrer Familie wegen Eigenbedarfs gekündigt wird. »And eh then someday eh one day eh my mother came and told me that eh our eh owner of the house eh, you know it because it was rental, and owner of the house (is just) eh were going to marry and then he were he was going to use that house so eh we HAD to move and then I said ›Okay, very nice (lacht) so it’s not a problem for us.‹ So that time it was a chance for us to ehm take decision to move another place so we moved here.« Nuran nimmt die Kündigung des Mietverhältnisses als Chance wahr, etwas an ihrer Situation zu ändern. Dabei spielen in der Entscheidungsfindung für den neuen Wohnort selbstverständlich wieder multiple Faktoren eine Rolle. Im Endeffekt entscheidet sich die Familie für einen bekannten Wohnort, in dem sie schon einige Jahre zuvor gelebt hatte. Dieses Mal scheint es eine wohlüberlegte Entscheidung zu sein und Nuran stellt die Vorteile heraus: Es sei ein »annehmbarer« Pendelweg von etwa einer Stunde zu ihrer Arbeit und die Metrobushaltestelle sei nicht weit entfernt, es handele sich um eine »alte und etablierte Site«, in der die Leute einen gewissen »kulturellen Standard« hätten, ihre Mutter habe von früher noch Freunde in der Nachbarschaft und die Site liefere durch ihre Grünanlagen auch Freiraum für

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ihre Bewohnerinnen und Bewohner. L-Köy scheint für Nuran ein besserer Kompromiss zu sein als M-Köy. Gleichzeitig bedeutet diese Entscheidung eine anhaltende Isolierung von ihren Freundinnen und Freunden, die in zentrumsnäheren Stadtteilen wohnen. Es ist also eine bewusste Entscheidung für ihre Familie und gegen ihre sonstigen sozialen Kontakte und die Chance, diese öfters zu sehen. Sie verteidigt ihren peripheren Wohnsitz aber damit, dass Istanbul heute nicht mehr nur aus »einem« Zentrum bestünde – mit dem Taksim-Platz als Mittelpunkt – sondern eben aus »mehreren«. Für Nuran stellt L-Köy eines dieser Zentren dar, womit sie ihren Lebensmittelpunkt selbst wieder in das Zentrum rückt. Sie sagt »everything is under my hand« und meint damit die Freizeitinfrastruktur, die ihr der Wohnort trotz allem bietet: Naherholung, Cafés, Einkaufsmöglichkeiten und weitere Unterhaltungsangebote sowie das Meer in unweiter Entfernung. Sie versucht mir also deutlich zu machen, dass auch sie als junge Frau in L-Köy auf ihre Kosten kommen kann – obwohl sie familienbedingt zurückstecken muss. Während meines Besuches komme ich nicht umhin, auch Nurans Familie zu treffen. Mit ihrer Mutter führe ich etwas Small Talk auf Türkisch und sie zeigt mir alte Familienfotos. Als wir uns für das Go-Along aufmachen wollen, schließt sie sich an, weil ihr so »furchtbar langweilig« sei (»Canım sıkılıyor«). Dabei fällt mir in verschiedenen Situationen das besondere Verhältnis zwischen Mutter und Tochter auf. Zunächst bittet sie um Nurans Erlaubnis, mitkommen zu dürfen. Kaum sind wir aus der Wohnung raus, äußert sie die Angst, das Gas nicht abgedreht zu haben und Nuran muss sie beruhigen. Beim Überqueren einer größeren Straße muss Nuran sie im wahrsten Sinne des Wortes an die Hand nehmen, da ihre Mutter höchst verunsichert ist. Es scheint sich um ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden zu handeln, was Nurans Trennung von ihrer Familie nicht einfacher macht. Die Bedeutung ihrer Familie ist für Nuran selbstverständlich auch gesellschaftlich bedingt. So ist es im heutigen Istanbul immer noch eine große Herausforderung für alleinstehende Frauen alleine zu wohnen – wie beispielsweise die Publikation von Ceren Lordoğlu (2018) zeigt16 . Es kann somit verschiedene Gründe haben, warum Nuran – aus westeuropäischer Sicht betrachtet – immer noch zu Hause wohnt: Das kann an ihrem finanziellen Status liegen, der ihr ein eigenständiges Leben nicht ermöglichen würde, an der gesellschaftlichen Erwartung, dass Frauen bis zur Heirat bei ihren Eltern wohnen (vgl. Kabasakal Arat 2012: 260) oder eben an Nurans eigenem Willen, lieber bei ihrer Familie zu bleiben. In jedem Fall

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Darüber hinaus stellt Lordoğlu (2018) diverse Taktiken dar, die alleinstehende Frauen in Istanbul entwickeln, um sich der Neugierde und Diskriminierung seitens der Nachbarschaft zu entziehen – wie den Lebensgefährten als Verwandten vorzustellen oder die Schuhe vom geschiedenen Ehemann auch nach seinem Auszug noch wie gehabt vor die Tür zu stellen.

4. Einzelfallrekonstruktionen

scheint es schwer für sie, sich von ihr zu lösen. Die Familie stellt Nurans wichtigste Bezugseinheit dar. Allein die erhoffte Heirat scheint für sie eine gewisse Loslösung im Rahmen eines Auszugs in Sicht zu stellen.

4.4.2

»It is never enough« – Dem Wachstum nicht entkommen können

Nurans umfangreiche Umzugsbiografie, die sie in der Eingangserzählung darstellt, ist begleitet von einem immer wiederkehrenden Motiv der ständigen Veränderung und des fortwährenden Wachstums. Sie scheint nirgendwo ankommen zu können und wirkt mitunter wie eine Getriebene. Sie ist zwischenzeitlich selbst überrascht davon, wie oft sie tatsächlich umgezogen ist und zieht ein Zwischenfazit in dem sie betont: »So I lived everywhere actually, we moved so many times, even we moved eh I can say that the fifteen times, I can say that, yes, fifteen times.« Ob die Zahl der 15 Umzüge tatsächlich stimmt oder hier von Nuran nur als verstärkendes Mittel eingesetzt wird, bleibt offen. Dass sie angibt, »überall« gewohnt zu haben, ist selbstverständlich ein Mittel der Übertreibung. Es macht aber deutlich, dass Nurans Leben von wenig Kontinuität in Bezug auf ihren Sozialraum geprägt ist und dass sie für sich auch eine umfangreiche Erfahrung in Anspruch nimmt – sie kennt sich aus und weiß, wovon sie redet. Im Vergleich zu anderen Fällen entwickelt Nuran kaum identitätsstiftende Beziehungen zu Räumen oder Orten. Das liegt vermutlich daran, dass sie an jedem Ort, an den sie zieht, das gleiche Szenario zu erleben scheint: Sie kann dem Wachstum der Großstadt nicht entkommen. Sie und ihre Familie sind auf der ständigen Suche nach Raum zum Atmen – im übertragenen wie im wörtlichen Sinne – doch werden sie immer wieder aufs Neue enttäuscht. Diese Erfahrung kommt in Nurans Erzählung einem immer wiederkehrenden Trauma gleich. Überall, wo sie hinkommen, scheint das Gleiche zu passieren. So berichtet sie über ihren ersten Wohnort in K-Köy: »And that time it means that, you know, the eh the name of this eh region means that eh there is green sides, too many greens sides. The meaning is this. But (then?), even when I lived there eh there were so many eh gardens and so many trees eh it was really a nice place but then, eh, with one time passing it just became ehm, you know, became a (with?) more buildings and there was, there were too many constructions.« Nuran erlebt, wie die Stadt wächst und den grünen, offenen Raum um sie herum zerstört. Dabei zeigt sich deutlich, dass ihre räumliche Idealvorstellung von der Natur geprägt ist. Die Farbe Grün, Gärten und Bäume bewertet sie positiv (»it was a really a nice place«). Dieser von ihr so positiv bewertete Raum wird jedoch durch die Bebauung vernichtet. Er ist in ständiger Transformation und sie kann sich nicht

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auf seine Stabilität verlassen. So erzählt sie auch von ihren ersten Erfahrungen in L-Köy, das sich gerade in der Entstehung befindet. Sie erlebt hier wieder das Chaos der Erschließung und das Wachstum von städtischem Raum: »But eh when I started to highschool, it means that it’s nineteen ninety eh six, that time we moved to [L-Köy, Stadtteil europäische Seite], here. And there were eh no eh other people bef/ehm apart from us, I can say that yes. Just I’m a little bit exaggerating but really these buildings are were eh empty and there were too many you know dogs on the streets and just there were too many constructions and it’s/Even even eh in our building, well this is, this time, eh we were living in the other side of the bridge. It’s the ehm same area with the eh shopping mall, [Plaza] shopping mall. So eh there were you know just eh buildings eh that has hadn’t been completed yet and then in in my building just eh half of it was eh full and then even eh people are just eh weren’t, they didn’t pay you know bill for to get heat and then/So eh it was really ehm chaos eh that time (schnippst). It was a really problem. (klatscht in die Hände) And eh so every year it really developed too much and then eh like progressive developing.« Das Chaos macht Nuran an der fehlenden Bewohnerschaft fest, der Missachtung von Regeln, wie dem Bezahlen der eigenen Rechnungen und den wilden Hunden auf der Straße. Einerseits berichtet sie von der Leere des Viertels, gleichzeitig ist es ihr alles zu viel – »too many […] dogs«, »too many constructions«, »developed too much«. Durch die Unfertigkeit fehlt ihr die nötige Ordnung und Sicherheit. Gleichzeitig überfordert sie die progressive Entwicklung der Nachbarschaft. Die Familie reagiert darauf und zieht innerhalb des Viertels um, nämlich in die Site, in der sie auch zur Zeit des Interviews erneut leben. Sie ziehen in die Ordnungsstrukturen einer geplanten Großsiedlung mit etwa 20.000 Bewohnerinnen und Bewohnern: »So, ehm, that time eh this side of area it was very ehm nice, nicer than the other side, because these area established ehm before eh the other ones, it’s it’s an old area, this [Site], we can say, old area (schnippst).« Interessanterweise bezeichnet Nuran die Siedlung als alt und etabliert. Tatsächlich ist die Site im Jahr 1990 fertig gestellt worden. Der Zeitpunkt des ersten Einzugs von Nurans Familie muss Ende der 1990er Jahre gewesen sein. Es ist vergleichsweise also keineswegs eine alte Siedlung. Doch Nurans Referenzsystem ist durch so rapiden sozialräumlichen Wandel geprägt, dass ihr ein Jahrzehnt bereits als eine lange Zeit vorkommt. Zusätzlich ist die Siedlung immerhin älter als die Gebäude auf der anderen Seite der Hauptstraße. Nuran und ihre Familie leben hier aber wieder nur ein paar Jahre. Anfang der 2000er Jahre beginnt Nuran ein Studium in B-Şehir, einer Stadt im Nordwesten. Ihre Familie begleitet sie. Im Jahr 2005 kommen sie zurück nach Istanbul und ziehen nach M-Köy, wo sie die Raumtransformation wieder einholt.

4. Einzelfallrekonstruktionen

»And it was really nice place eh I wish that I couldn’t I could eh take you there, eh it was really good, and ehm there were more gardens between eh the buildings, more spaces and then ehm eh as I said short buildings and the eh the sea breeze, you know, eh sea air it’s just coming to the area and, eh, it was very nice. BUT even we lived there in ten year period something, eh during this ten year period eh very fastly eh the construction eh sector is developed very fastly. Even one day when I go to job I go and then when I come back I see that there is another building, another building, everyday, even (unv.) right really, really speedly growth eh because you know the population of Istanbul is just increasing very fast.« Nuran berichtet, dass ihre Wohngegend sich in den zehn Jahren, die sie dort leben, so rasant verändert, dass sie buchstäblich das Gefühl hat, jeden Tag nach Feierabend ein neues Gebäude dort stehen zu sehen. Hier führt sie auch das erste Mal eine Erklärung dafür an: »the population of Istanbul is just increasing very fast«. Es ist also nicht nur der Raum, der sich ständig verändert und verdichtet, sondern es ist auch die Bevölkerung, die anwächst. Die mangelnde Kontinuität zieht sich weiter über ihre biografischen Erfahrungen und sie scheint sich in ihrer Geschwindigkeit noch zu steigern. So nutzt Nuran besonders häufig Adjektive wie »fast« oder »speedly« [sic!]. Als der Vermieter von Nurans Familie ihnen wegen Eigenbedarfs kündigen muss, ergreifen sie die Chance, um wieder in ihre alte Site in L-Köy zu ziehen. Nuran berichtet dabei, dass sie Glück gehabt hätten, hier überhaupt wieder eine Wohnung zur Miete gefunden zu haben – da die Beliebtheit zwischenzeitlich scheinbar immens angestiegen ist. Die Site bietet nun wieder eine geregelte Ordnung und Gewissheit über den fortwährenden Bestand – sie ist eben fertig und abgeschlossen. Zusätzlich ist sie der Familie bereits vertraut, was angesichts der von Nuran geschilderten Umstände und ständigen Veränderungen etwas Besonderes ist. Der Umzug in die Site stellt also einen wichtigen Mechanismus dar, der die mangelnde Konstanz und Vertrautheit kompensiert. Den gleichen Mechanismus scheint auch Nurans Job auszuüben. Während ihrer Zeit in M-Köy hadert Nuran, ob sie ihn wechseln soll – die Anforderungen, die der Job, die Familie und das ständige Pendeln an sie stellt, scheinen einfach zu viel für sie zu sein. Doch sie hält ehrgeizig an ihm fest, will nicht »aufgeben«. Ihr Job scheint eines der wenigen Dinge zu sein, das über die letzten zehn Jahre stabil geblieben ist, und das soll für Nuran auch so bleiben. Er stellt zusammen mit ihrer Familie die wichtigste Referenzkategorie für Nuran dar. Auch Nurans Zukunftserwartungen orientieren sich an ihren biografischen Erfahrungen. Sie erwartet keine Besserung: »Even, but, eh every year, every even everyday is just people coming and there is new new buildings that eh people coming to buy or rent you know. So, after five years I can’t imagine eh the population here. So, there will be MORE traffic

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problems, really, eh but I hope that until that time eh the eh authorized people just find a solution because metro bus is not enough. Maybe metro eh will be, will come to the here. That time it will be better because you know the eh we call it E Beş, the highway, it’s not enough you know.« Dabei sieht sie ihren Handlungsspielraum äußerst beschränkt – ähnlich, wie es auch in den vorausgehenden Fällen bei Emine, Süleyman und Leyla auffällt. Nuran lokalisiert die einzige Handlungsmacht bei übergeordneten Machteinheiten. Diese bezeichnet sie lose als die »authorized people«. Sie müssten für eine bessere Infrastruktur und durchdachte Stadtplanung sorgen. Eine der größten Bedrohungen der städtischen Ordnung sieht sie zur Zeit des Interviews in der Einwanderung von syrischen Geflüchteten und reichen Araberinnen und Arabern, die sie nicht nur für die steigenden Immobilienpreise verantwortlich macht sondern auch für den Werteverfall und die Missachtung von alltäglichen Normen. Trotz Nurans biografischem Erfahrungsraum des ständigen Wachstums und der ständigen Transformation stellen überschaubare soziale und räumliche Einheiten einen Idealzustand für sie dar. Als ich sie nach ihren Zukunftswünschen frage, betont sie, dass sie gerne eine Wohnung in einem Mahalle kaufen möchte. »So I prefer to be eh to live in a eh kind of eh not ehm, mahalle, eh, you know mahalle culture and eh, so eh not just the site that the that the people don’t know each other, I don’t prefer so much, so it’s you know, ehm, friendly area and then eh everybody knows/Neighbourhood is really important for me, neighbours are important for me because eh anytime we can eh help eh so we are not leave alone eh, and it’s really good to have at least one neighbourhood, neighbour, that eh when you need you can eh take eh help from him, her.« Dieser Abschnitt zeigt wieder deutlich das temporäre, vorübergehende Motiv in Nurans Lebenssituation an. Sie ist längst noch nicht angekommen. Für sie ist die Site in L-Köy nur ein guter Kompromiss. Sie träumt aber davon, in einer richtigen Nachbarschaft, einer sozialen Nachbarschaft beziehungsweise in einem Mahalle zu leben, in dem man viel Kontakt hat und sich gegenseitig hilft. Es ist interessant, dass sie hier die Bedeutung einer sozialen Nachbarschaft so stark betont, wo ihre derzeitige Lebenspraxis gar keinen Platz dafür ließe. Es lässt darauf schließen, dass es Nuran an Zugehörigkeit mangelt, die sie gerne in einer Nachbarschaft finden würde. Es zeigt, dass sie gerne ankommen würde. Auch wenn dieser Traum vom Mahalle wenig vielversprechend ist, ist Nurans Zukunftsvorstellung doch nicht so realitätsfern, wie die von anderen Untersuchungspersonen, die sich ein alleinstehendes Haus mit Garten aber trotzdem mit guter Anbindung an das städtische Leben wünschen. Nuran hat sich bereits realistische Gedanken gemacht, welche Art von Immobilie sie sich in welchem Stadtteil leisten könnte und wie die Lebensqualität dort wäre. Dabei spielen nach wie vor die Infrastruktur und die Er-

4. Einzelfallrekonstruktionen

schwinglichkeit die wichtigsten Rollen. Trotz ihrer romantischen Vorstellung vom Mahalle weiß sie doch relativ gut, was sie vom Leben in der Großstadt erwarten kann – da es sie nie verwöhnt hat. Sie ist den Großteil ihres Lebens in den sozialen Strukturen der rasant wachsenden Großstadt sozialisiert worden. Sie ist nicht in einem urbanen Dorf groß geworden, in dem sie mit den Nachbarskindern auf der Straße spielen konnte. Für sie bedeutet das Leben in der Großstadt Kompromiss, Anpassung und im schlimmsten Fall die Flucht.

4.4.3

Körperliche Anforderungen des Großstadtlebens

In Nurans Narration wird immer wieder deutlich, wie sie Raum körperlich wahrnimmt. Auch dem Thema Gesundheit kommt in ihrer Erzählung eine vergleichsweise große Bedeutung zu. Darüber hinaus präsentiert sie Techniken, mit denen sie ihren gesundheitlichen Zustand bearbeiten kann – in der Regel ist das die Einhaltung strikter Routinen und Reglementierungen. Nuran selbst berichtet von keinen eigenen chronischen Erkrankungen oder Vorbelastungen, jedoch schildert sie, dass ihre Mutter eine Atemwegserkrankung habe. Wichtige Faktoren für die Standortwahl und Umzüge der Familie sind deshalb auch von gesundheitlichen Gesichtspunkten bestimmt. Nuran übernimmt im Interview dabei das Krankheitsbild ihrer Mutter und thematisiert vor allem die Möglichkeit zu Atmen besonders häufig. Die Luft und das Atmen sind lebensnotwendige, existenzielle Bedingungen und nehmen eine besondere Präsenz bei Nuran ein. Nach diesem Faktor bewertet sie auch ihre Umwelt. Sie solle möglichst nicht so dicht und hoch bebaut sein, Platz für etwas Natur lassen und ein gewisses »oxygen level« bieten. Eine naturnahe Umgebung mit Bäumen und Gärten stellt für Nuran ein Leitbild für gutes Leben dar. In diesem Sinne überträgt sich die materielle Beschaffenheit direkt auf die physische und mentale Gesundheit von Nuran und ihrer Familie. Gerade Bäume und Pflanzen liefern schließlich Sauerstoff. Das Konzept von Luft und Sauerstoff taucht immer wieder auf. So sucht Nuran auch ständig die Nähe zum Meer, da diese ebenfalls Luft liefert: »There were more gardens between eh the buildings, more spaces and then ehm eh as I said short buildings and the eh the sea breeze, you know, eh sea air it’s just coming to the area and, eh, it was very nice.« Das Atmen, beziehungsweise das Atmen-können, ist folglich ein zentraler Bestandteil von Nurans räumlichem Bewertungssystem. Es stellt den Zusammenhang von der Materialität der Umwelt und ihrem eigenen Empfinden dar. Und diese Empfindungen sind keineswegs willkürlich für sie. In ihrem Bewertungshorizont existieren auch alltägliche Vergleichsmöglichkeiten, wie beispielsweise ihre Arbeitsstelle:

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

»For example, eh I can say that eh in my work area, […] it’s very crowded and there is a eh TOO much air population, air pollution, so, air pollution is too much and EVEN when I eh come out of work and then eh when I’m waiting for metro bus to take on so I can’t breathe. I sometimes I think that I can’t breathe and then when I come HERE I feel that I can breathe.« Das Atmen-können an ihrem Wohnort ist also überlebensnotwendig für Nuran, damit sie mit den restlichen Alltagsanforderungen klarkommen kann. Sie präsentiert insbesondere den Zeitraum, in dem Nuran mit ihrer Familie in M-Köy lebt, als große Herausforderung während der sie an ihre Belastungsgrenzen stößt. Sie muss durch die periphere Lage jeden Tag einen mehrstündigen Pendelweg in Kauf nehmen: »So that time EVEN you know I went, eh, I can say that I went eight years nine years from eh the very far eh (schnippst) ps- ehm way, very far eh way from the city to eh another place to work. So, eh actually it just ehm sometimes I just went into de- deprivation and then (lacht) sometimes I cried SO much sometimes I just gone CRAZY. Eh but I tried to move of course because I was eh living with my family eh time to time I eh told to eh yes to rent another home close to the house, close to job eh but ehm the conditions was not so easy and every time, so I just again eh talked to myself and ›okay, no problem just eh you live in NICE place in [M-Köy]‹, it’s very nice and then at least eh in the weekends I just was going to jocking jogging, jogging and then or eh I was, we were going to you know gardens and have rest and it just, in the weekends eh we try try to (leave/live?) that area eh but when it comes to eh week and when I start to go to job and then again same eh problems with the ehm transportation.« Nuran steht in einem Spagat zwischen ihrer Familie und ihrem Job. Sie will beidem gerecht werden und beides erhalten, die Distanz scheint sie aber fast zu zerreißen. Sie spricht davon, in Depressionen verfallen zu sein, viel geweint zu haben und »verrückt« geworden zu sein. Sie sieht also ihre psychische Gesundheit auf dem Spiel – beziehungsweise ihre »mind health«, wie sie es wenige Zeilen später selbst ausdrückt. Gleichzeitig schildert sie innere Monologe mit sich selbst, in denen sie versucht, sich immer wieder davon zu überzeugen, dass ihre Situation gar nicht so schlimm sei. Sie versucht, ihrem Wohnort die Reproduktionsfunktion zuzuschreiben, die sie benötigt, um mit ihrem Pendleralltag klarzukommen. Am Wochenende will sie sich hier ablenken und erholen. Trotzdem nimmt Nuran es als pure Erleichterung auf, als die Familie nach der Wohnungskündigung umziehen muss. An ihrem neuen Wohnort, erneut in L-Köy, ist sie mit einem kürzeren Pendelweg gesegnet und kann effektivere Fortbewegungsmittel nutzen. Der Alltag wird ihr damit etwas erleichtert, trotzdem unterzieht sie ihm nach wie vor strenger Re-

4. Einzelfallrekonstruktionen

glementierung, die zum einem dem Selbstschutz dienen, zum anderen aber auch ihre berufliche und familiäre Leistungsanforderung sichern. Sie will stets funktionieren, kann es sich nicht leisten, krank zu werden – auch wenn das für sie Abstriche bei sozialen Kontakten und Freizeitvergnügen bedeutet. »Ah, right, well ehm, (.) eh (.) now as I said, previous times eh I want to go, REALLY, I want to go to see eh city center, to see my friends by night but I think that ›Okay if I do that so next day I will eh not be in good eh manner‹ so eh I have to think the other day. So I I’m just eh making plans eh to thinking the other day. If I can be in a good condition or I, if I can work or if I will be so tired, so I don’t prefer to go. Eh, I’m trying to make plans for eh for Saturdays, for example, Sundays I spare for resting and then ehm even even in in the week I just spend, spare one day for outdoor eh actions and the other days I PLAN to come home eh not too tired not to you know eh my/Even what I do else ehm, I eh pay attention to (.) my eh (.) eh to to my foods, you know, I try to ehm feed myself in a HEALTHY way. Like eh the fruits and then the other things I’m taking cures for example, REALLY, because eh in you know to BATTLE eh the city life in Istanbul you have to take care of yourself. Otherwise, really, I don’t have luxury to be ILL.« Sie muss ihren »Zustand« also gewissermaßen planen und managen, sich im Notfall selbst Beschränkungen auflegen. Sie hat sich selbst Routinen zurechtgelegt, mit denen sie ihre gesundheitliche Verfassung aufrechterhalten kann, um niemanden enttäuschen zu müssen. Ihrem Zuhause kommt dabei eine wichtige Schlüsselfunktion zu. Sie muss hier die Möglichkeit haben, sich auszuruhen, sich zu regenerieren und ganz wichtig: Luft zu schnappen. Um diese Funktionen zu erfüllen, benötigt Nuran die entsprechende Infrastruktur, die sie in L-Köy findet: Es gibt Parks, Shoppingmalls und Cafés – und alles ist mit kurzen Wegen verbunden, die sie zu Fuß zurücklegen kann. So kann sie sich zumindest in ihrer Freizeit dem stressigen Nahverkehr entziehen. Für Nuran sind dies wichtige Mechanismen, um den Stresseffekt ihres Erwerbslebens abzumildern. Wie eingangs erwähnt, knüpft Nuran den gesundheitlichen Zustand stark an die Beschaffenheit des Raums, der ihr Platz zum Atmen geben muss. Hierzu gehört auch die Nähe zum Meer und zur Meeresluft. Dafür ist sie bereit, auf eine zentrale, angesagte Lage zu verzichten. Für sie ist die Wahl, auch eines zukünftigen Standorts, von der Abwägung verschiedener funktionaler Aspekte geprägt. Sie betont zwar, dass die »soziale Lage« oder das »soziale Level« der Bewohnerinnen und Bewohner für sie eine Rolle spielt, jedoch scheint sie keinerlei emotionale Bindung zu bestimmten Orten zu verspüren. Auch die Nähe zum Wasser beschreibt sie eher als funktional – hier kann sie spazieren gehen, sich erholen, frische Luft tanken und sich mit Freundinnen und Freunden treffen. Der »Kampf« um die eigene Gesundheit in der Großstadt nimmt also einen großen Erfahrungsraum in Nurans Biografie ein. Trotzdem scheint es für sie kei-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

ne Alternative zu geben. Sie hat den Vergleichshorizont mit B-Şehir, der Stadt in der sie studierte, die vergleichsweise klein ist – auch wenn sie zum Zeitpunkt von Nurans Studium immerhin 1,5 Millionen Einwohnende hatte. Sie führt im Interview an, wie begeistert sie von der Kompaktheit der Stadt war, die trotz ihrer geringen Größe alles böte. Sie kann sich im Rahmen ihrer Zukunftsentwürfe jedoch nicht von einem Leben in Istanbul lösen. Für sie scheint es außer Frage zu stehen, aus der Stadt wegzuziehen.

4.4.4

Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Nuran«

Nurans Handlungsspielraum ist stark von externen Faktoren und den strikten, alltäglichen Reglementierungen geprägt, die sie sich selbst auferlegt. Nur so hat sie die Möglichkeit in dem System, in dem sie lebt, zu funktionieren und zu überleben. Diese Erkenntnis zieht sich über die unterschiedlichen biografischen Phasen, die Nuran im Interview präsentiert. Es ist oftmals zwar ein Prinzip des Getriebenwerdens, jedoch lässt sich hier kaum eine Fallkurve attestieren. Es scheint schlicht und einfach die Normalität für Nuran zu sein, mit der sie sich abgefunden hat. Gestaltungsspielraum in ihrem eigenen Lebensentwurf hat sie oft nur im Kleinen. Teilweise interpretiert sie Geschehnisse als bewusste Entscheidung oder Chance, die von außen betrachtet gerade das Gegenteil zu sein scheinen – wie der Umzug der Familie nach der Wohnungskündigung in M-Köy. Nurans Lebensablauf und ihre Handlungsmöglichkeiten sind stark von zwei Institutionen dominiert: Die Institution ihrer Familie, die ihre primäre Bezugseinheit darstellt, und die Institution des Erwerbslebens, welche sie sehr ernst nimmt. Beide stellen aber hohe Anforderungen an sie, so dass kaum Platz für Weiteres in ihrem Leben zu sein scheint. Äußerliche Faktoren, die die Erfüllung von den diversen Erwartungen kompromittieren – wie lange, beschwerliche Pendelwege oder die verhinderte Möglichkeit, sich außerhalb der Arbeitszeit zu erholen – wirken höchst problematisch auf Nuran. Sie antizipiert für jeden gelebten Moment, was er für die Zukunft bedeutet – und handelt entsprechend. Nuran ist im Rahmen ihres Lebensablaufs keineswegs von der Großstadt verwöhnt worden, aber sie hat gelernt, damit zu leben. Ein ständig begleitendes Leid durch die Anforderungen der Schnelllebigkeit scheint für sie konstitutiv zu sein. So kommt sie zu einer angepassten und relativierten Einschätzung ihrer Lebenswelt. Ihr Alltag ist von Kompromissen und Einschränkungen geprägt, die sie aber so hinnimmt. Sie hat im Zuge ihrer biografischen Erfahrungen für sich internalisiert, dass man nicht alles im Leben haben kann: »BUT eh, well, eh it’s everything it’s not possible to be at the same point. You know.« »It it’s kind of utopia, you know. Eh so we have to ehm thankful.«

4. Einzelfallrekonstruktionen

Sie beansprucht für sich kein Leben in Utopie, sondern ist dankbar für das, was sie hat. Trotz der Einschränkung ihres Handlungsspielraums und des Verlaufskurvenpotentials erlebt sie für sich selbst keine negative Fallkurve. Sie kompensiert ihre biografischen Erfahrungen mit einem Pragmatismus und der Konzentration auf die alltäglichen Stellschrauben, an denen sie drehen kann. Nuran weiß, was sie in Zukunft noch von ihrem Leben in der Großstadt erwarten kann – und auch, was sie nicht erwarten kann. Die ständige Transformation und Überbauung ihres Sozialraums überfordern Nuran. Es ist wie eine Art Trauma, das sich ständig wiederholt. Jeder Ort, an den sie zieht, wird früher oder später durch städtisches Wachstum zerstört. Sie macht den ständigen Zuzug von Bewohnerinnen und Bewohnern sowie die undurchdachte Stadtplanung dafür verantwortlich. Insbesondere in neuerer Zeit sieht sie eine weitere Bedrohung für die öffentliche Ordnung auf sie zurollen: Die Einwanderung aus Syrien und den arabischen Staaten, die sie unter anderem für die steigenden Immobilienpreise verantwortlich macht. Sie fürchtet, dass auch in Zukunft keine Ruhe in der Großstadt einkehren wird, sondern dass Bevölkerungswachstum und bauliche Transformation immer weiter gehen werden. Trotz der großstädtischen Sozialisation idealisiert sie die Natur und traditionelle, gemeinschaftliche Lebensformen, wie das Mahalle. Sie sucht und wünscht sich in diesem Rahmen eine Zugehörigkeit, die ihr das flüchtige Leben bisher nicht bieten konnte. Sie möchte irgendwo ankommen. Zwar träumt sie von einer baldigen Hochzeit mit ihrem Freund, die ihr einen Auszug aus dem Elternhaus ermöglichen würde, doch die ist ebenfalls noch keineswegs konkret und absehbar. Obwohl Nuran hart arbeitet und dafür einiges in Kauf nimmt, kann sie ihre Situation nicht aus eigener Kraft ändern. Sie muss geduldig sein und warten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Nuran sich in einem System verortet, das sie selbst nicht steuern kann, das nach außen hin anfällig und gleichzeitig nach innen korrupt ist. Sie selbst muss sich an die Spielregeln halten – hat aber das Gefühl, dass andere das nicht tun – wie beispielsweise Bauunternehmen, die die Stadt durch maßlose Bauaktivitäten zerstören, oder Eingewanderte, die sich nicht an die etablierte Ordnung halten. Auch wenn sie die Schwächen des Systems kennt, so kann sie sich selbst nicht außerhalb von ihm vorstellen. Ihr bleibt nichts andere übrig, als ihre Rolle weiterzuspielen und den beschränkten Handlungsrahmen, der ihr bleibt, auszunutzen. In diesem Sinne legt sie, im Gegensatz zu den bisher dargestellten stark verlustorientierten Fällen, einen sehr pragmatischen Umgang mit Stadterneuerung und Raumtransformation an den Tag. Einer der gravierendsten Unterschiede bezüglich der biografischen Erfahrungsräume zwischen Nuran und den Fällen von Emine, Süleyman und Leyla ist, dass sie nie das alte Istanbul kennengelernt hat und, dass das Konzept Mahalle nur in ihrer Vorstellungskraft existiert.

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4.5

Tolga – Von Expertenwissen und Selbstverwirklichung Zusammenfassung des Lebensablaufs Tolga wächst in einer Stadt im Osten des Landes auf. Für sein Studium zieht er in den 1990er Jahren in eine zentralanatolische Großstadt. Er studiert Tourismus und Hotelmanagement. Während und nach dem Studium absolviert er mehrere Praktika in Istanbul, unter anderem bei einer internationalen Hotelkette. Nach Abschluss des Studiums und Ableistung des Militärdienstes zieht Tolga schlussendlich nach Istanbul. Er sammelt noch einige praktische Erfahrungen für wenige Monate in Dubai und an der türkischen Küste. Anschließend baut er zusammen mit einem Partner eine Firma in Istanbul auf. Sie organisieren luxuriöse Events und Reisen, oftmals für große Firmen sowie Kundinnen und Kunden aus dem arabischen Raum. Zunächst bewohnt er eine Wohnung, die seine Eltern gekauft haben. Als diese einige Zeit später ebenfalls nach Istanbul umsiedeln, zieht Tolga wieder aus. Er bewohnt im Laufe der nächsten Jahre mehrere Wohnungen, die allerdings alle sehr zentrumsnah liegen. Er wohnt stets zur Miete, bis er sich im Jahr 2012 seine erste eigene Wohnung in R-Köy, einem mittelständischen, zentrumsnahen Stadtteil kauft. Zur Zeit des Interviews lebt er immer noch in dieser Wohnung.

Tolga und ich kennen uns bereits vor dem Interview. Vieles seiner Lebensgeschichte ist mir aber nicht bekannt, da wir uns nur sporadisch sehen. Die Zeit des Interviews fällt in eine Phase, in der Tolga überlegt, eine weitere Wohnung als Kapitalanlage in R-Köy zu kaufen. Aus diesem Grund ist auch unser gemeinsames Go-Along von Tolgas Einschätzungen und Bewertungen einzelner Immobilien und Nachbarschaften geprägt. Wir besichtigen im Rahmen unserer Tour nicht nur R-Köy, sondern auch die angrenzenden Viertel. Unsere unterschiedlichen Geschmäcker werden dabei unmittelbar manifest: Er bevorzugt hochstöckige Gebäude, gerade Straßen und möglichst wenig Leben auf den Straßen. Ich fühle mich eher zu Nachbarschaften hingezogen, die durch niedrigere Häuser, gewundene und lebendige Straßen geprägt sind. Hier werden unsere unterschiedliche Standortgebundenheit und Positionalität deutlich. Tolga argumentiert hingegen, dass die Mehrheit der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner die gleichen Präferenzen hätte wie er. Die Siedlungsstruktur von R-Köy ist relativ dicht und sehr gemischt. Es gibt kleinere Apartmenthäuser, mit etwa 3-5 Stockwerken, in solch einem wohnt auch Tolga, bis hin zu größeren, mit bis zu 10 Stockwerken, die etwa 20-50 Wohnungen beherbergen. In den unteren Stockwerken befinden sich in der Regel gastronomische Betriebe und Geschäfte. Es gibt eine auffällig hohe Bauaktivität im Viertel. Der Großteil des Bestandes ist schätzungsweise aus den 1980er und frühen 1990er Jahren und wird zum Teil bereits wieder modernisiert. Tolga betont, das R-Köy einer der wenigen zentrumsnahen Stadtteile sei, der noch über ein großes Kontin-

4. Einzelfallrekonstruktionen

gent an großflächigen Wohnungen mit um die 150 Quadratmetern verfüge. Somit sei das Viertel insbesondere bei mittelständischen Familien sehr beliebt. Vereinzelt befinden sich noch alte Gecekondu-Häuser in der Nachbarschaft, die aber zum Teil schon verlassen sind. Abbildung 8 – Siedlungsstruktur Nachbarschaft Tolga

Fotos: © LR

Nachdem wir unseren Rundgang abgeschlossen haben, fahren wir in Tolgas Büro, um dort das Interview zu führen. Das Interview ist nach einer kompakten Eingangserzählung vor allem von Beschreibungsversuchen seiner Nachbarschaft und Argumentationen um Bewertungskonzepte von Wohngebieten geprägt. Diese leiten insbesondere seine aktuelle und vergangene Wohnungssuche an. Tolga hat sich ein breites Wissen und Meinungen über Istanbul erarbeitet, die er immer wieder generalisierend darstellt und gewissermaßen als Experteneinsichten einführt. Dabei ist er von der Mehrheitstauglichkeit seiner Meinungen überzeugt. Diese Einstellung kommt während unseres Treffens immer wieder zum Tragen. Er ist sehr zielstrebig und präsentiert sich auch im Interview dementsprechend, was mich als Interviewerin zeitweise in eine untergeordnete Position versetzt. Teilweise überraschen mich seine verallgemeinernden Feststellungen – wie beispielsweise die, dass alle Einwohnerinnen und Einwohner Istanbuls Stadterneuerung toll fänden – obwohl mir im Rahmen meiner Forschung größtenteils gegenteilige Meinungen offenbart wurden. Ich versuche, im Interview eine neutrale Position einzuhalten, auch wenn es mir mitunter schwerfällt. Außerdem macht sich im Laufe des Interviews eine Schwäche des Erzählstimulus bemerkbar, die bei den Personen, die in Istanbul aufgewachsen sind, nicht sonderlich ins Gewicht gefallen ist: Auf die Frage, wann und weshalb er nach Istanbul kam, setzt er bereits bei seiner Universitätsausbildung an, da ihn die berufliche Selbstverwirklichung nach Istanbul führt. Ich erfahre nichts über sein Aufwachsen in seiner Heimatstadt. Aus diesem Grund konnte ich in der Analyse auch nur zwei belastbare, zentrale biografische Erfahrungsräume erarbeiten. Gleichzeitig wird

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hier die theoretische Relevanz von Tolgas Fall deutlich: Er kennt kein Istanbul der Kindheit, es ist hauptsächlich das Streben nach beruflichem Erfolg, das ihn in die Stadt treibt. Die Stadt stellt für ihn einen großen Möglichkeitsraum dar, der ihm als gebildeten, alleinstehenden Mann alle gewünschten Optionen zu offenbaren scheint.

4.5.1

Bedeutung von handlungsleitendem Expertenwissen

Tolga ist eine sehr meinungsstarke Person und beansprucht für sich eine Art Expertenrolle. Das fällt nicht nur bei näherer Betrachtung des Interviews ins Auge, sondern auch bei der begleitenden Kommunikation, beispielsweise im Rahmen des Go-Alongs. Er generalisiert seine Meinungen und sein Wissen, das er – zum Teil nur vermeintlich – über Sachverhalte hat. Hubert Knoblauch schreibt zur Expertenrolle: »Experten, so können wir kurz sagen, sind Spezialisten für sozial gebilligtes (und soziale anerkanntes) Wissen« (Knoblauch 2014: 292), und weiter: »Experten besitzen also nicht nur ein Wissen zur Problemlösung, sondern zur Begründung von Problemursachen und Lösungsprinzipien. Sie sind, wenn man so will, die Träger von Legitimationen, des Sinnes von Sonderwissen und betreiben damit die ›Theoretisierung‹.« (Knoblauch 2014: 292) Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es mir nicht darum geht, Tolga als Experten zu bestimmen, sondern darauf hinzuweisen, dass er sich selbst im Interview als Experte darstellt. Die Wahrheit, Angemessenheit oder Belastbarkeit seines präsentierten Wissens soll hier nicht zur Disposition gestellt werden, sondern es geht um seine Selbstwahrnehmung. Und diese spiegelt sich in seinen Aussagen eben in der Form wider, dass er sein Wissen als allgemeingültig und anerkannt präsentiert und selbst Theoretisierung betreibt. Und, noch viel wichtiger, hieran orientiert er sich in seinen Handlungen. Die Bedeutung seines handlungsleitenden (vermeintlichen) Expertenwissens macht sich direkt in dem Anfangssegment von Tolgas Interview deutlich, in dem er anführt, wie er überhaupt nach Istanbul gekommen ist: »Ehm, I studied tourism and hotel management eh mostly I wanted to be a hotel eh manager, hotelier, and eh despite the general thought eh I knew that the Istanbul is the center of the real tourism. I mean, not in Antalya or the eh resort areas, and especially in the eh like when I was supposed to start the industry which is going to be the […] 1997 or 1998, and the real money the real tourism like eh/I mean if you’re a hotelier in resort areas, you cannot work in eh big cities, city center hotels. But if you are a city center hotelier, you can always work in the resort areas. That’s why I knew that Istanbul is going to be eh the city that I’m supposed to work and live and that’s why I came to Istanbul.«

4. Einzelfallrekonstruktionen

Tolga betont, dass entgegen des allgemeinen Glaubens, Istanbul das »wahre« touristische Zentrum der Türkei sei – beziehungsweise das Zentrum des »wahren« Tourismus, in dem das »wahre« Geld stecke. Aus diesem Grunde »wusste« er, dass er hierherkommen muss. Er folgt einer Berufung. Hier würde er Erfahrungen sammeln können, die er im ganzen Land einsetzen könne. Er sieht Istanbul in einer tourismusspezifischen Hierarchie also auf dem ersten Platz. Gegen welchen »general thought« sich seine Erkenntnis richtet, bleibt unklar. Es wird jedoch deutlich, dass er für sich ein Wissen beansprucht, welches normale Personen nicht haben. Mit dem Ziel eines beruflichen Erfolgs folgt er also seinem Expertenwissen und richtet sich bereits während seines Studiums auf das Ziel Istanbul aus, in dem er seine Praktika bei einer internationalen Hotelkette durchführt: »I eh chose [Global] Istanbul and I chose it on purpose. So, it was the member of the biggest international chain. So everything is calculated. Everything is planned, ehm back on those days.« Er sucht also die besondere Professionalität für seine Ausbildung und will von den Besten lernen. Er bewundert die Organisation des Unternehmens: Alles ist geplant und kalkuliert. Dies sind Ideale, die sich auch in seinen persönlichen Handlungsschemata immer wieder finden lassen. Er hat sich für die unterschiedlichsten Alltagsbereiche Wissen zurechtgelegt, nachdem er handelt. Er überlegt, plant und kalkuliert, und das gilt eben nicht nur für den beruflichen Kontext. Ein weiterer Kontext, auf den dieses Planen und Kalkulieren zutrifft, ist die Wohnungssuche. Knapp fünf Jahre bevor wir das Interview führen kauft Tolga sich seine erste eigene Wohnung in Istanbul. Er berichtet von dem professionalisierten Auswahlverfahren, in dem er unterschiedliche Viertel und unterschiedliche Wohnungen anhand verschiedener Parameter vergleicht, um zum besten Ergebnis zu kommen. Dabei spielt für ihn nicht nur die unmittelbare Wohnqualität eine Rolle, sondern auch das zukünftige Potential der Wohnung im Rahmen einer Kapitalanlage. Aus eben jenem Grund überlegt Tolga zum Zeitpunkt des Interviews eine weitere Wohnung zu kaufen. Nicht um darin zu leben, sondern um sie als Kapitalanlage zu nutzen, zu vermieten, oder sogar von einer Aufwertung durch Abriss und Neubau zu profitieren. Seine Bewertungsfaktoren fließen auch in unser gemeinsames Go-Along ein, während dessen ich mir über Tolgas Vergleichsparameter klar werden kann: Er bevorzugt mehr Platz zwischen den Häusern, dafür dürfen diese auch höherstöckig sein (bietet obendrein einen besseren Ausblick), des Weiteren gerade, großzügige Straßen, die eine gute Erreichbarkeit ermöglichen (beispielsweise mit dem Taxi), eine gute Anbindung an den Personennahverkehr (insbesondere die Metro), Ruhe und Ordnung auf den Straßen sowie eher die Sinne betreffende Aspekte, wie der Geruch eines Gebäudes und die Attraktivität, die damit transportiert wird. Er lehnt geschäftiges Treiben auf der Straße ab, da es

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Ablenkung von den »Details« bedeute. Seine eigene Nachbarschaft beschreibt er folgendermaßen: »But in [R-Köy], it’s fresh, open and now then you can see the details.« Er macht das unter anderem daran fest, dass man hier die Möwen hören könne. Die räumliche Anbindung an Einzelhändler brauche er nicht, da sie alle ohnehin Lieferservices hätten. Aufbauend auf diesen Parametern zur Raumbewertung, zuzüglich sozialstruktureller Eigenschaften der Bewohnerschaft, entwirft Tolga im Interview ein Ranking von Nachbarschaften um zu zeigen, dass R-Köy die beste Nachbarschaft im innerstädtischen Bereich ist – oder immerhin die Beste, die er sich leisten kann: »So I’m not saying [R-Köy] is the best. But it is the best that I can afford in the city center.« Das Ranking zeigt nicht nur die empfundene Verallgemeinerbarkeit seines Wissens, sondern darüber hinaus auch, dass Tolga selbst Theoretisierung betreibt. Er glaubt, sein Wissen sei folglich in abstrakter Weise übertragbar und seine Parameter in anderen Kontexten anwendbar. Tolga führt die große Bedeutung davon aus, sich von den von ihm entworfenen objektiven Kriterien leiten zu lassen. Manche dieser Kriterien liegen nicht gleich offen auf der Hand und müssen erst im Rahmen eigener Erfahrungen erarbeitet werden. Er macht dies anhand einer Anekdote fest, die während seiner vergangenen Wohnungssuche vor etwa fünf Jahre spielt. Sein Suchprozess ist grundsätzlich kalkuliert und ausgewählt, nur einmal lässt er sich davon abbringen: »I was checking some neighbourhoods. I mean like my old neighbourhood and then this Levent area. Actually I found an apartment which is on the sublevel, I mean entrance level, actually overlooking to the car park eh at the back of the apartment and I loved that apartment by looking at the photos. The moment/and also I had a budget. (.) So when I’m making my online search, I placed the maximum amount so I wouldn’t spend eh my time on the properties that eh is out of my budget.«   »I checked that the possibilities, I found eh this one in Levent area, it’s very very good location, and from the photos I loved the apartment. Eh I thought that this is going to be exact the almost the same that I would how decorate my eh if I (own this building?). But the time I went inside the building, it’s probably we were just walked down one or two stairs, eh because the entrance was higher than the building, and there was a smell of cat poop, in the apartment. […] And bah, that hit my in the face and just eh actually woke me up. Because I told you that I loved the apartments from the photos and I think I needed that smell eh so I will look

4. Einzelfallrekonstruktionen

objectively. And the (.) the apartment was small. […] and the back door, the living room was opening to a balcony which is kind of a shared balcony with the eh flat next door flat which the kapıcı17 was living in there AND the worst is, car park of the apartment is there. I mean you are just sitting and watching (unv.) and cars coming with their/I mean apart from the location, which is Levent, I thought it’s not worth it but let’s keep it in the side.« Tolga lässt sich von der guten Lage (Levent) und den Bildern der Wohnung verleiten (die Wohnung ist ganz nach seinem Geschmack eingerichtet), er »verliebt« sich, und tritt nicht mehr »objektiv« an die Sache heran. Erst der Geruch des Katzenkots beim Betreten der Wohnung »weckt« ihn auf. Plötzlich wird ihm bewusst: Die Wohnung ist klein, der Balkon geht zum Parkplatz raus und er müsse sich den Balkon mit dem Hausmeister, Kapıcı, teilen, was er vermutlich als das Übertreten von Standesgrenzen ansieht. Tolga argumentiert, dass er diesen Geruch »brauchte«, um die Wohnung objektiv bewerten zu können. Dabei gilt der Geruch für ihn als ein objektives Kriterium, das er zur Einschätzung heranzieht und das sein Expertenwissen abrundet. An anderer Stelle sagt er dazu im Interview: »The smell of the apartments. (.) Always it might smell (.) food. Whenever just like cooking onions or doing some stew or stuff like that the entire apartment can smell. Maybe bad or maybe good or maybe it makes you ehm mouth juicy, because it makes you feel hungry or saying ›Ouf, what’s that smell?‹. But, I’m not talking about that. I’m talking about the smell of the, the humidity smell, the airing of (there) because because in order to ha- if you are smelling something, that has to be some source. If it’s the mould (.) then the guys are not taking care of the apartment. If it’s coming from the apartments themselves than guys do not take care of their own homes. (.) Apartments do smell. Mould. Humidity. Or another source. Maybe the, from the shoes (lacht) I mean if you have like a hundred shoes out in in a ten-storey building (lacht) that’s the source of the eh smell. I mean those are the thing.« Tolga unterscheidet hier zwischen verschiedenen Gerüchen und ihrer Herkunft. Er beweist gewissermaßen einen feinen Riecher, mit dem er nicht nur den Zustand der Gebäude bewerten kann, sondern auch die Menschen, die es bewohnen. Diese Erkenntnis beruht auf Erfahrungswissen, welches Tolga sich zunächst aneignen musste. Dieser Faktor ist nur schwer messbar – im Gegensatz zu den anderen Kriterien, die Tolga zur Bewertung heranzieht. Auch wenn es eine synästhetische 17

»kapıcı: Berufsbezeichnung für ›Hausmeister‹, die in Großstädten fast in allen größeren privaten Mehrfamilienhäusern arbeiten und dort auch wohnen. Sie erledigen Reinigungsarbeiten, die Pflege der Gärten, kleine Besorgungen und schauen sonst nach dem Rechten im Haus.« (Dirim/Dirim 2005: 108), abgeleitet von kapı (Tür, Eingang) mit Suffixform –cI, die u.a. eine Berufsform anzeigt.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Wahrnehmung ist, so inkorporiert Tolga sie trotzdem in sein Expertenwissen – da sie zur besseren Einschätzung und Relativierung verhelfen kann. Tolga zieht für die Bewertung des Raums ebenso soziale Strukturen mit heran. Der Geruch ist nur eine Möglichkeit für ihn, vom Raum auf die Menschen zu schließen, die ihn bewohnen. Offensichtlich bevorzugt er Nachbarschaften, in denen sich das Soziale aus dem öffentlichen Raum zurückzieht und weitestgehend unsichtbar bleibt. Ich will damit nicht sagen, dass er kein geselliger Mensch wäre, doch scheint er die strikte Trennung von Wohnen und Geschäftigkeit zu bevorzugen. In seiner Bewertung gewinnt R-Köy gegenüber anderen Nachbarschaften, da es ruhig ist, und eben nicht »busy, always busy«. Die Nachbarinnen und Nachbarn lassen ihre Schuhe nicht vor der Tür im Treppenhaus stehen, während die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner seines vorausgehenden Wohnorts das taten: »more than half of the building were leaving their shoes in the front of [their doors], at my ol- previous apartment«. Die Abwesenheit des Sozialen im öffentlichen, beziehungsweise halböffentlichen Raum stellt für Tolga eine gewünschte Anonymität dar, die er attraktiv findet. Dabei hat er nichts zu verbergen, er trägt kein Stigma oder ähnliches, jedoch passt es zu seinem praktizierten Lebensstil, wie ich weiter unten ausführen werde. In einer groben Kategorie lässt sich Tolgas präferierter Raum wohl mit modern und geordnet zusammenfassen. Aus diesem Grund begrüßt er auch die fortschreitende Modernisierung seines Viertels. Bei unserem Go-Along wird deutlich, welcher Transformation das Viertel weiterhin unterliegt. Obwohl es bereits von modernen Apartmentwohnungen charakterisiert ist, wird an vielen Stellen gebaut und modernisiert – allerdings größtenteils auf Basis von einzelnen Immobilien. Dabei unterliegen die Neubauten durch den lokalen Bebauungsplan Restriktionen und dürfen in der Regel maximal fünf bis zehn Stockwerke hoch gebaut werden – je nach Siedlungslage. Großangelegte Siedlungen oder Sites gibt es in R-Köy nicht. Obwohl Tolga für sich selbst keine (finanziellen) Vorteile in dieser Regelung sieht, so spricht er sich doch für sie aus: »Eh so this is not good for me but I am in favour of this rule. To preserve the city. The facade of the city.« Trotz seines Modernisierungswillens setzt er also Grenzen – auch wenn diese im Gegensatz zum objektivierbaren Investitionswissen stehen. Interessanterweise attestiert er solch einen Modernisierungswillen der gesamten Stadtbevölkerung, was mich an der entsprechenden Stelle im Interview stutzig macht. »I: We were, we were discussing how people in [R-Köy] are really eager ehm and ambitious to improve their apartments, like/ B: Eh no no, not in [R-Köy], everywhere. I: Hm?

4. Einzelfallrekonstruktionen

B: Everywhere in Istanbul. I: Okay, so everywhere in Istanbul people are eager to improve, to rebuild and stuff like that. (B stimmt zu)« Im Rahmen meiner Untersuchung traf ich größtenteils auf Personen, die die fortwährende Erneuerung der Stadt ablehnten – insbesondere den rasanten Anstieg von großen Apartmentkomplexen. Die meisten Personen sahen darin eher eine Bedrohung, als eine Investitionsmöglichkeit – auch wenn sie teilweise selbst davon profitierten. Tolgas persönliche Überzeugung und der aktuelle Wunsch, den Wert seines Apartments durch einen Abriss und Neubau zu steigern, überträgt er hier wieder einmal auf die Allgemeinheit. Wer solle schon etwas gegen die finanzielle Aufwertung seiner Wohnung haben? Wie eingangs argumentiert, ist für Tolga sein Wissen handlungsleitend – und er versucht sich von subjektiven Empfindungen freizumachen. Das zeigt sich insbesondere bei beruflichen Entscheidungen, aber auch bei privaten, wie der Wohnungssuche und dem Umgang mit seinen Nachbarinnen und Nachbarn. Er legt keinen emotionalen Bezug zu seinem Wohnort oder seiner Nachbarschaft an den Tag und erzählt sogar von der Fehlleitung, die ihm passierte, als er sich einmal vorschnell in ein Apartment verliebte. Persönliche Gefühle gehören nicht in diesen Kontext und sind kontraproduktiv.

4.5.2

Selbstverwirklichung und Vermeidung von Abhängigkeitsstrukturen

In Tolgas Narration wird an unterschiedlichen Stellen deutlich, dass er Abhängigkeitsstrukturen ablehnt und seinen Alltag darauf auslegt, seinen präferierten Lebensstil ausüben zu können. Seine Darstellungen sind von einem großen Anspruch an Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung geprägt. Das trifft nicht nur auf seinen Beruf in der Tourismusbranche zu, sondern auch auf die Interaktion mit seiner Familie. So berichtet Tolga, dass er aus der familieneigenen Wohnung in Istanbul auszieht, sobald seine Eltern aus seiner Heimatstadt nach Istanbul umsiedeln. Er riskiert sogar, seine Eltern damit zu enttäuschen: »But after I moved THEN they came to Istanbul, then I told them that I’m going to move out. Which were they were not happy with. (.) But I’m not planning to live with them« Auch an anderer Stelle führt er die Unabhängigkeit von seinen Eltern aus: »I had to be centrally located because of my work and my family they are still in [N-Köy]. I don’t care, I mean, the being close to them but it’s always a plus thing.« Er müsse folglich nicht unbedingt in ihrer Nähe wohnen, aber es wäre immerhin ein »Pluspunkt«. Tolga legt nicht nur eine finanzielle Unabhängigkeit gegenüber

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

seinen Eltern an den Tag, sondern ebenfalls eine lebensweltliche: Er besucht sie zwar, aber sie spielen ansonsten in seinem Alltag keine Rolle. Sein Vater hilft ihm, seine Wohnung in R-Köy zu beziehen und einzurichten, aber es existieren keine sonstigen, regelmäßigen Hilfeleistungen seitens seiner Eltern. Auch wenn Tolga sich stark an einem handlungsleitenden Expertenwissen orientiert, so sind die Gründe für seinen innerstädtischen Wohnort, die er im Interview angibt, ganz simpel: Er fährt nicht gerne Auto, geht dafür aber gerne aus und trinkt gerne Alkohol: »No I mean I don’t own a car and I don’t like to drive, I don’t have a car, I do have a driver’s license, I never use it, and eh that’s why I need to be centrally located. So I like to go out at night and even if I have a car I cannot, because I like drinking. (klatscht in die Hände) And eh taking a car for a eh night out is terrible, you cannot drink, there is no parking space, there are too much traffic, and eh I, that’s why I have to live in central locations. And eh I use public transportation and I had to be ex- eh close to those as well.« Seine Nachtlebenaktivitäten sind an bestimmte innerstädtische Viertel gebunden und nicht beliebig – weshalb er diese Nähe sucht. Die wichtigste Bedingung, die Tolga folglich an seinen Wohnort stellt, ist die, dass er seinen Lebensstil ermöglicht. Das professionalisierte Ranking, das Tolga im Rahmen seiner Wohnungssuche einige Jahre zuvor entwirft, soll also schlicht diese Funktion gewährleisten. Denn auch die Qualität der Nachbarschaftskontakte, die Tolga pflegt, illustriert sein Unabhängigkeitsstreben. Die Bevorzugung einer Nachbarschaft mit geordnetem Straßenleben, der weitgehenden Abwesenheit von Sozialem und Persönlichem im genutzten Raum, zeugen von der Präferenz eines anonymen Sozialraums. Zwar möchte er schon einen gewissen kulturellen Standard in seiner Nachbarschaft gewahrt wissen – während des Go-Alongs beschreibt er die »natürliche Selektion«, die dafür sorgen würde, dass sich nur bestimmte Personen hier wohlfühlen und niederlassen würden – jedoch interessiert er sich sonst nicht so recht für nachbarschaftliche Kontakte. Hier attestiert er sich selbst eine Sonderposition, die untypisch für Türkinnen und Türken sei: »And, I don’t have any relationship with my neighbour, but I mean I know it’s not a common Turkish thing, they go to each other, they (do?) the coffees and everything, but that’s not me.« Er sieht sich hier außerhalb der Regel, gleichzeitig verallgemeinert er, was »typische türkische« Nachbarschaftsbeziehungen seien: Dass man sich beispielsweise auf einen gemeinsamen Kaffee treffe. Tolgas anonymes Verhältnis zu seinen Nachbarinnen und Nachbarn, wie er es im Interview präsentiert, wird dadurch gestört, dass er den Job des Gebäudemanagers aufgedrängt bekommt. Es gehöre nun zu seinen Aufgaben, Geld für laufende Rechnungen und Instandhaltungen in der Haus-

4. Einzelfallrekonstruktionen

gemeinschaft einzutreiben und sich unter anderem auch mit dem Kapıcı auseinanderzusetzen. Es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und weitere Kontakte der restlichen Hausgemeinschaft aufzunehmen, die er eigentlich vermeiden will: »B: Yah actually it requires like eh involvement. I mean not all of them. Because the kapıcı does that thing, but like the, the lady at the entrance just eh called me and invited me to her apartment which she had an complaint about the previous one, and like I don’t know. And eh that’s the first time I talked with HER. Apart from that eh I was just like saying good morning, good afternoon, when we met. Because she’s living in the zemin, entrance level. And with the other neighbours eh I just meet them when we have an apartment meeting. I: Okay. What did make you to take on this position? B: They forced me to do it. I: They forced you? B: Yah. I: So you wouldn’t have done it if if/ B: No. I mean it’s kind of like the very like unwanted job in everywhere.« Dieser kurze Auszug zeigt Tolgas ablehnende Haltung gegenüber seiner neuen Verpflichtung an. Außerdem verallgemeinert er an diesem Punkt wieder, dass der Job des Gebäudemanagers »überall« der »ungewollteste Job« sei. Zwar verhilft er Tolga zu Gehör in der Hausgemeinschaft – die er zum Beispiel dafür nutzt, um die Kündigung des Kapıcıs vorzuschlagen, um Geld zu sparen – jedoch distanziert er sich in der Art und Weise, wie er über diese Aufgabe spricht, stark von ihr. So erzählt er zwischenzeitlich auch höhnisch von seinem »supposedly« Gebäudemanagerassistenten. Er sieht sich selbst durchaus in der Lage, diese Position zu erfüllen, baut aber gleichzeitig eine Rollendistanz zu ihr auf. Die Kontakte, die Tolga tatsächlich in seiner Nachbarschaft proaktiv zu pflegen scheint, sind darüber hinaus äußerst selektiv und strategisch gewählt. Hier macht sich wieder eine theoretisierende Einschätzung über nützliche Kontakte bei ihm bemerkbar. Er erklärt, dass er sein Wasser vorzugsweise beim teureren Bakkal18 , und nicht beim Supermarkt kaufe, da es wichtig sei, solche Kontakte im Viertel zu haben. Tolga berichtet von einer Erfahrung, die er in dieser Hinsicht gemacht hat: »[T]here should be some people around the neighbourhood so they can watch for you. I will tell you a story. One day, eh I was living in [N-Köy], I was drunk. I was out and I was drunk and I was walking towards the apartment and take out my keys. 18

»bakkal. Der Gemischtwarenhändler versorgt die Viertelbewohner (mahalle) mit allen wichtigen Lebensmitteln, meist auch mit Brot (fırın) und Obst bzw. Gemüse (manav). Wohnungen werden oft durch jugendliche Helfer des b. beliefert; traditionell ist der Krämer auch Auskunfts- und Vertrauensperson. Heute ist der Einfluß des b. bei steigender Konkurrenz der Supermärkte im Sinken.« (Kreiser 1992: 31)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

And I dropped it. An apartment which is like covered with like fence but eh my key just went down. And eh there was this guy coming from the opposite side, he saw me, he said ›Hi Abi, how are you? What’s wrong?‹ ›I dropped my key.‹ He said ›Okay, I’ll take care of it.‹ and he just rang the bell to the woman who lives there, it’s like almost two or three a m and he got the key from there so I can get home without disturbing anyone. And actually I didn’t know the woman over there and I don’t know which rang I should eh push and this guy knew me from the Bakkal. […] He just saw me and said ›What’s wrong? What happened?‹ I said ›I dropped my key and I don’t know how I’m going to get it‹ I’m just, I’m drunk. […] And the guy he knew me from the Bakkal because he’s just the boy at the neighbourhood and he just hangs out at the Bakkal and we don’t talk, we didn’t, I didn’t talk with him that much but he KNEW me that, from that I’m a resident of the neighbourhood. And I eh changed my barber so (.) not that I, I’m in need of getting to know people (.) but I need someone to know me that I’m from that neighbourhood. You never know whenever you need it. (.) I’m not that (.) person of like ›Ah, I need to know my neighbours, eh I need to interact with them‹ actually quite the opposite.« Seine strategische Kontaktpflege ist also mit einem gewissen Opportunismus verbunden – man weiß nie, wann man die Leute noch gebrauchen kann. Die Nützlichkeit dieser Personen entfaltet sich in dem beschriebenen Moment. Tolga greift hier wieder auf eine Art Expertenwissen zurück – ob es durch Schlüsselerfahrungen (im wahrsten Sinne der Wortes), wie der genannten, oder aus der Sozialisation heraus entstanden ist, lässt sich dabei schwer sagen. Tolga setzt diese Mechanismen aber bewusst und zu seinem Vorteil ein. Er signalisiert nicht, selbst Interesse am Gegenüber zu haben, doch trotz seiner Unabhängigkeit möchte er der nachbarschaftlichen Hilfe im Notfall nicht entsagen. Ein weiterer wichtiger Faktor für Tolgas Selbstentfaltung ist sein Status als Wohnungseigentümer. Im Interview zieht er einen klaren Unterschied zwischen Personen, die ihre Wohnungen besitzen, und Personen, die ihre Wohnungen nur mieten. So stellt er eine Eigentheorie auf, warum sich eine Eigentümerin oder ein Eigentümer mehr erlauben kann als eine Mieterin oder ein Mieter. Dabei greift er auf ungeschriebene Nachbarschaftsregeln zurück, die er expliziert. »B: So I mean having eh the owners of the flats inside the building is always a plus. (.) Because you have to live with them. (.) But if they are rent, renters, rentees, eh then you can have problems with them and you don’t care, I mean the eh tolerance level is low (.) for those who are rent, renting the eh apartment. Like I got couple of complaints from my neighbours, because of my drum set or because of my TV set, they just came and nicely complain, asked me to (put it out?) or like eh one or two times the one upstairs he just shouted out from the window, I heard him and just put the noise (unv.) but if I wasn’t the owner of the apartment, maybe they will come and yell and maybe we would fight.

4. Einzelfallrekonstruktionen

I: Okay, yeah. (.) So the tolerance is higher when you when you’re actually the owner because people have to/ B: Live with you. I: Okay. B: And (unv.) you can always complain eh the rentee to the owner, but if you are the owner then there is only one place that you can go is the police. But eh neighbourhood does not allow you to do that. Especially, ehm one or two times you have to warn each other. You have to play play along, but if they insist on then the police. But it’s always not come to that part because you eh fight with each other, THEN the police gets involved (lacht etwas). Unfortunately.« Bei Verstößen gegen Verhaltensregeln seitens der Eigentümerinnen oder der Eigentümer bliebe der restlichen Hausgemeinschaft nur die Beschwerde bei der nächst höheren Instanz – was eben die Polizei wäre. Es gäbe keine zwischengeschaltete Instanz, wie beispielsweise die Vermieterin oder den Vermieter einer Wohnung, bei der man sich beschweren könne. Aber Tolga führt klar aus, dass die »Nachbarschaft es nicht erlaubt« direkt die Polizei zu rufen. Mit der Nachbarschaft meint er hier offenbar nicht die Personen, sondern das Regelsystem, die soziale Institution, die hinter einer Nachbarschaft steckt. Er macht wieder deutlich, dass er die vorherrschenden Strukturen durchschaut und für sich analysiert hat – und dementsprechend handelt. Tolga weiß, dass er sich gewisse Dinge erlauben kann, wie beispielsweise laut Musik- oder Schlagzeugspielen, da die institutionellen Verhaltensregeln ihn schützen. Sein Status als Wohnungseigentümer versetzt ihn in diese Position. Tolgas Streben nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung hängt selbstverständlich auch mit seinem beruflichen Status als Selbstständiger zusammen. Ob er diese Charakterzüge im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit entwickelt hat, oder ob er seine berufliche Beschäftigungsart an seinen Charakter angepasst hat, ist schwer zu sagen. In jedem Fall bietet es für Tolga eine zentrale Identitäts- und Handlungsgrundlage.

4.5.3

Analytische Abstraktion – Biografische Gesamtformung »Tolga«

In Tolgas Narration wird deutlich, dass er sich in seinen Handlungsspielräumen selten eingeschränkt sieht. Dies wird nicht nur durch sprachliche Merkmale illustriert – er spricht viel im Aktiv und nutzt aktive Verben für das, was er will, plant, tut, entscheidet – sondern auch durch die Handlungsorientierungen, die ihm sein kalkuliertes Wissen und sein Streben nach Unabhängigkeit liefern. Im Vergleich zu anderen Fällen fühlt er sich kaum Dingen ausgeliefert – außer vielleicht der Ernennung zum Gebäudemanager, was er aber sportlich nimmt. Er spricht sich klar und deutlich für Stadterneuerung und auch sonstige Modernisierungen aus.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Er sieht die Raumtransformation sogar als Investitionschance. Er trauert keinem alten Istanbul hinterher – gleichwohl er hier auch nicht aufgewachsen ist. Der große Gestaltungsspielraum, den er für sich wahrnimmt, wird auch durch seinen familiären Status beeinflusst. Er ist Single, hat keine Kinder und keine Familie, um die er sich kümmern müsste. Er habe seine Eltern zwar gerne in der Nähe, mit ihnen zusammen wohnen möchte er aber keinesfalls. Auch er selbst ist nicht auf häusliche Hilfe oder dergleichen angewiesen. In seiner Nachbarschaft versucht er die Kontakte auf das Oberflächliche zu beschränken, jedoch ohne geltende Normen zu verletzen. Gleichzeitig betreibt er strategische Kontaktpflege mit der lokalen Bevölkerung und Dienstleistenden. Auch wenn Tolga ein Befürworter von Fortschritt, Modernität und Erneuerung ist, betrachtet er doch alles in einem gewissen kulturellen und geschichtlichen Kontext. Er gibt an, lieber auf finanzielle Zugewinne verzichten zu wollen, wenn dafür das Bild beziehungsweise die »Fassade« der Stadt erhalten bleibe. Und obwohl er sich in Bezug auf seine nachbarschaftlichen Beziehungen als »untypisch« bezeichnet, so versucht er sich doch an den institutionellen Verhaltensregeln zu orientieren. Er nutzt sie jedoch stark opportunistisch, um seine eigenen Vorlieben ausüben zu können. Dafür stützt er sich gerne auf traditionelle, altbewährte Mittel wie die Kontaktpflege zum Bakkal. Interessanterweise kann sich Tolga, nach seinen Zukunftsentwürfen gefragt, auch ein einfaches Leben auf dem Land vorstellen. »The only thing that is eh I may, I may consider early retirement. And bo- buy a like a olive field or I don’t know any field and do, be become a farmer or eh just go to a small city eh do stuff over there because life is cheaper. And buy an apartment over there, buy a flat over there, paying no rent but no monthly fixed payments and live small, spend small and earn small.« Auch diesen Zukunftsentwurf scheint er finanziell durchgeplant zu haben. Gleichzeitig zeigt dieser Entwurf, dass Tolga für sich auch zukünftig Unabhängigkeit und Gestaltungsspielraum sieht. Wenn er will, kann er einfach gehen. Tolga legt also im Kontrast du den vorausgehenden Fällen einen unvergleichbaren Handlungsspielraum dar, der ihn auch in Bezug auf Stadterneuerung und Raumtransformationen kaum vulnerabel erscheinen lässt. Er hat in diesem Sinne nichts zu verlieren.

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

In Kapitel 2. habe ich gezeigt, wie in vielen türkischen Städten aus einer Urbanisierung mit Gewinnbeteiligung für Viele ein Stadterneuerungsprojekt mit großem Gewinn für Wenige wurde. War die frühe Urbanisierung noch durch soziale Aufstiegsmöglichkeiten geprägt, beispielsweise durch den Besitz von Immobilien, sind die meisten der hier Interviewten von der aktuellen Stadtentwicklung schlicht enttäuscht. Ist die gegenwärtige Stadterneuerung Istanbuls also von einer kollektiven Verlaufskurve bestimmt, statt ihren Bewohnerinnen und Bewohnern sozialen Aufstieg zu ermöglichen? Mit dieser Frage möchte ich mich nun beschäftigen. Da diese Frage eine komplexe Frage ist, kann sie nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden. Es benötigt stattdessen eine komplexe Theorie, die ich auf den folgenden Seiten beschreibe. Anhand der im letzten Kapitel dargestellten Fallportraits lässt sich nachvollziehen, wie unterschiedlich die Lebensabläufe im erhobenen Sample ausfallen und welchen Gesamtformungen sie unterliegen. Es wird deutlich, dass alle Personen von rapiden Raumtransformationsprozessen durch Stadterneuerung und Modernisierungen betroffen sind. Bei einigen gestaltet sich diese Betroffenheit sehr existenziell, bei anderen identitätsgefährdend und bei wieder anderen kaum problematisch. Wie die einzelnen Individuen mit dieser Herausforderung umgehen, die eine rapide Urbanisierung mit sich bringt, hängt dabei von diversen Faktoren ab: Es spielen biografische Erfahrungen hinein – wie die Sozialisation in der Nachbarschaft der Kindheit – und ebenso Faktoren der gegenwärtigen Lebenssituation – wie der Familienstand oder der berufliche Status. Manche dieser Faktoren verändern sich über den Zeitraum einer Biografie – Personen können von Etablierten zu Außenseitern werden – und andere Faktoren ändern sich eben nicht – wie die kulturelle Zugehörigkeit, die immer wieder zu Diskriminierungen führen kann. In diesem Kapitel stelle ich zunächst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Vergangenheit und Gegenwart der Untersuchungspersonen dar, um anschließend das Typische im Umgang mit den Herausforderungen rapider Raumtransformation, beziehungsweise die übergeordnete Struktur im Umgang mit diesem sozialen Phänomen, darzustellen. Dabei bediene ich mich im Rahmen des theoretischen

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Samplings, das den folgenden Fallvergleichen zugrunde liegt, nicht nur der bereits dargestellten Fälle, sondern des gesamten Samples der Studie (siehe Kap. 3.4). Zu heuristischen Zwecken begreife ich die rapide Raumtransformation als soziale Krise, die sich auf biografische Handlungsspielräume von Individuen in unterschiedlichem Maße auswirkt. Dementsprechend ist für meine Vorgehensweise die von Schütze entwickelte Prozessstruktur der Verlaufskurve besonders zentral und wird von mir an dieser Stelle genauer erläutert. Meistens werden unter Verlaufskurven Erleidensprozesse und der Verlust von Handlungsfähigkeit gefasst. Ausgelöst werden diese Prozesse beispielsweise durch den bevorstehenden Tod (Strauss/Glaser 1970), eine psychische Krankheit (Riemann 1987) oder eine Alkoholabhängigkeit (Schütze 2006). Schütze schreibt in seinem Aufsatz von 1983 über die Verlaufskurve in Abgrenzung zu anderen Prozessstrukturen des Lebensablaufs: »Wenn biographische Handlungsschemata das intentionale Prinzip des Lebensablaufs und institutionelle Erwartungsmuster wie das des Lebenszyklus das normativ-versachlichte Prinzip des Lebensablaufs repräsentieren, so stehen Verlaufskurven für das Prinzip des Getriebenwerdens durch sozialstrukturelle und äußerlich-schicksalhafte Bedingungen der Existenz. Etwas altmodischer kann man mit Aristoteles von Prozessen des Erleidens sprechen.« (Schütze 1983: 288) Dabei unterscheidet Schütze, und das wird in der Auseinandersetzung mit seiner Prozessstruktur meist nur am Rande thematisiert, zwischen negativen Verlaufskurven, oder Fallkurven, und positiven Verlaufskurven, oder auch Steigkurven. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie »durch die Setzung neuer sozialer Positionierungen neue Möglichkeitsräume für Handlungsaktivitäten und Identitätsentfaltungen des Biographieträgers« (ebd.) eröffnen. In seinem Beitrag »Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der Soziolgie« zeichnet Schütze (2006) die verschiedenen Stadien der Entfaltung einer Verlaufskurve nach. Diese führt ausgehend vom allmählichen Aufbau eines Verlaufskurvenpotentials, dessen Wirksamwerdens über Versuche der Alltagsbewältigung und deren Entstabilisierung (er nennt es auch »Trudeln«) hin zum »Zusammenbruch der Alltagsorganisation und der Selbstorientierung« (Schütze 2006: 215, Herv. i.O.), in der die Alltagsorganisation endgültig verloren geht. Darauf folgen Versuche der theoretischen Verarbeitung, die »den Betroffenen zu radikal neuen Definitionen der Lebenssituation« (ebd.: 216) zwingen, sowie »praktische Versuche der Bearbeitung und Kontrolle der Verlaufskurve und/oder [die] Befreiung aus ihren Fesseln« (ebd., Herv. i.O.). Schütze weist jedoch direkt im Anschluss an diese Darstellung darauf hin, dass nicht jede Verlaufskurvenentfaltung zwangsläufig nach diesem Schema, vollständig und in der angegebenen Reihenfolge verlaufen muss. Die dargestellten Stadien seien aber durch »zahlreiche empirische Untersuchungen in verschiedensten Problemfeldern des Erleidens« (ebd.: 215) erarbeitet worden. So-

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

mit ist die Beschäftigung mit negativen Verlaufskurven wesentlich ausgeprägter als die mit Steigkurven. Eine negative Verlaufskurve ist also durch Fremdbestimmtheit und Autonomieverlust geprägt. Ähnliches gilt ebenso für eine soziale Krise. Zur sozialen Krise schreibt Schütze (1976: 204ff.), dass sie die Identität der gesellschaftlichen Einheit bedrohe und dass sie einen systematischen Zustand darstelle – sie bedroht also nicht nur punktuell, sondern flächendeckend. Die Konzepte der sozialen Krise und der Verlaufskurve gehen beide davon aus, dass bereits etwas da sein muss, das durch eine Fallkurve oder eine Krise gefährdet werden kann. Eine Verlaufskurve kann sich nur dort entfalten, wo es etwas zu verlieren gibt, sei es Handlungsautonomie, eine soziale Position oder bestimmte Ressourcen. Je höher man steigt, desto tiefer kann man eben fallen. Prozesse der Stadterneuerung scheinen nachhaltig und flächendeckend. Keine Person im untersuchten Sample ist nicht in irgendeiner Weise von ihnen betroffen. Einige Personen mussten aufgrund der staatlich initiierten Stadterneuerung ihre Wohnungen verlassen (wie Zehra und Leyla), blicken mit Überforderung und Verlustgefühlen auf die rapide Raumtransformation (wie Leyla und Süleyman) oder inkorporieren sie bestmöglich in ihre Alltagsroutinen (wie Nuran). Nur vereinzelt wird Stadterneuerung als Investitionschance gesehen (wie bei Tolga). Könnte man hier folglich auch von einer kollektiven Verlaufskurve sprechen? Schütze beschreibt kollektive Verlaufskurven folgendermaßen: »Eine kollektive Verlaufskurve ist durch einen massiven Zusammenbruch der Welt- und Lebenserwartungen gekennzeichnet. Die Fähigkeit zur individuellen und kollektiven Handlungsplanung und -durchführung geht in dramatischem Ausmaß verloren; denn die Menschen reagieren sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene irritiert auf den Zusammenbruch der Ereigniserwartungen. Viele Mitglieder der sozialen ›Wir‹-Gemeinschaften haben eine dramatische Verschlechterung der sozialen Beziehungen zu gewärtigen; Interaktionsregeln brechen zusammen. Beeinträchtigt ist entsprechend auch der Diskurszusammenhang der Zuschreibung, Gestaltung und Reflexion kollektiver Identität und der damit verbundenen Identitätsgefühle.« (Schütze 2006: 222) Schütze führt hier als Beispiel die deutsche Gesellschaft zur Zeit des Nationalsozialismus und während des zweiten Weltkriegs an. Verglichen mit diesem Beispiel erscheint die Istanbuler Stadterneuerung selbstverständlich nicht als dramatisch genug, um in diese Kategorie zu fallen. Nichtsdestotrotz kann in Teilen eine kollektive Verlaufskurve attestiert werden: Für all diejenigen, die ihre Kindheit in urbandörflichen Strukturen verbracht haben, wird offensichtlich, wie durch die Transformation der Siedlungsstruktur und der Verbreitung von Apartmenthäusern alltägliche Interaktionsregeln und kollektive Identitäten, die durch Nachbarschaft formiert wurden, zusammenbrechen – besonders anschaulich lässt sich das bei

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Leyla und Süleyman beobachten. Es bedarf aber dieser essenziellen sozialisatorischen Erfahrung, um den gesellschaftlichen Prozess, der durch Stadterneuerung angestoßen wird, auch als verlaufskurvenförmig zu fassen. Darüberhinaus dominiert ein wichtiger Aspekt die Auseinandersetzung mit Raumtransformationsprozessen, der auch für Verlaufskurven maßgeblich ist: Die betroffenen Individuen besitzen im Rahmen der aktuellen Stadtentwicklung kaum Handlungsautonomie, wie wir weiter unten noch sehen werden. Da ich mich in dieser Studie vornehmlich mit der Frage nach dem Wandel der Nachbarschaft, beziehungsweise ihrer Siedlungsstruktur, und den Auswirkungen auf ihre Individuen beschäftige, konzentriere ich mich auch in der Darstellung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede, also der theoretischen Varianz des Samples, auf sozialräumliche Erfahrungen und Veränderungen. Ich bediene mich dabei eines relationalen Raumbegriffs, der für den Begriff Sozialraum entsprechende Implikationen, beziehungsweise eine besondere Perspektive, beinhaltet. Diese relationale Perspektive äußert sich laut Fabian Kessl und Christian Reutlinger durch Folgendes: »Eine Sozialraumperspektive bezieht sich nicht primär auf physisch-materielle Objekte, auf das, was wir alltagsprachlich ›Orte‹ oder ›Plätze‹ oder eben auch ›Räume‹ nennen: Gebäude, Straßen oder Stadtteile. Vielmehr gilt das Interesse einer Sozialraumperspektive den von den Menschen konstituierten Räumen der Beziehungen, der Interaktionen und der sozialen Verhältnisse. Auf eben diese sozialen Zusammenhänge weist das Präfix ›sozial‹ hin. Mit Sozialraum werden somit der gesellschaftliche Raum und der menschliche Handlungsraum bezeichnet, das heißt der von den handelnden Akteuren (Subjekten) konstituierte Raum und nicht nur der verdinglichte Ort (Objekte).« (Kessl/Reutlinger 2010: 25, Herv. i.O.) In den folgenden Analysen der biografischen Erfahrungen sozialräumlicher Integration und den gegenwärtigen sozialräumlichen Interaktionen geht es folglich um das vielschichtige Zusammenspiel emotionaler Ortsbezüge und sozialer Beziehungen im Sozialraum Nachbarschaft1 . Ich untersuche hier zunächst die individuellen Erfahrungen, um im Anschluss daran eine übergreifende Fallstruktur rekonstruieren zu können. In Kapitel 6. werde ich dann wieder darauf zurückkommen, was diese Fallstruktur generell für Räume der Großstadt und die Raumkonstitution im biografischen Verlauf bedeutet.

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Der Raum Nachbarschaft als solcher wird erneut in Kapitel 6. thematisiert.

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

5.1

Biografische Erfahrungen sozialräumlicher Integration

Zuerst gehe ich auf die wichtigsten biografischen Erfahrungen ein, die für den Aufbau eines Verlaufskurvenpotentials durch rapide Raumtransformation ausschlaggebend sind. Dabei stellt sich der Faktor der sozialräumlichen Integration als besonders essenziell heraus. Dieser setzt sich aus mindestens zwei Komponenten zusammen: zum einen aus den emotionalen Bezügen zum Ort der Nachbarschaft, der unter Umständen identitätsstiftende Merkmale für die Untersuchungsperson aufweisen kann, und zum anderen aus den sozialen Beziehungen und Interaktionen innerhalb der Nachbarschaft. Beide Komponenten stehen in einer Wechselwirkung: Oftmals vollzieht sich ein emotionaler Ortsbezug über die Integration in eine Gemeinschaft oder ein soziales Kollektiv. Ist ein Fall von diesen beiden Integrationsmechanismen geprägt, so spreche ich von Etablierten in Anlehnung an die Studie »Etablierte und Außenseiter« von Norbert Elias und John L. Scotsons (1990). Anstelle des Begriffs der sozialräumlichen Integration könnte man auch den Begriff der Verortung bemühen, der von einem ähnlichen Dualismus geprägt ist, wie beispielsweise Johannes Becker in seiner Studie zu Verortungen in der Jerusalemer Altstadt zeigt (Becker 2017). Er beschreibt Verortung als »Aufschichtung der Erfahrungen von Orten […], zu denen die Subjekte über kürzere oder längere Perioden ›gehören‹ und sie mitkonstituieren« (ebd.: 54). Becker argumentiert, dass sich der Prozess der Verortung aus den beiden Komponenten des sich verortens und des verortet werdens zusammensetzt: »Verortung ist ein prozesshafter Vorgang und bezeichnet a) das ›sich verorten‹, d.h. welche Orte auf welche Art und Weise für ein Individuum biographisch in Bezug auf Wahrnehmungen, Handlungen und Deutungen relevant geworden sind, welche Bedeutungen sie diesen zuschreiben, wie diese sich verändern und wie das Individuum aus der Gegenwart darauf (zurück-)blickt. Er bezeichnet b) das ›verortet werden‹ durch die Ortsnoemata2 , durch die Einbindung in verschiedene Figurationen3 und durch Diskurse über die mit Individuen assoziierten Orte (und damit zugeschriebene Machtpositionen) – diese fordern bestimmte Weisen der Verortung heraus oder machen sie schwer umgehbar. Beide Aspekte gehen eine Wechselwirkung ein.« (Ebd.: 55, Herv. i.O.)

2

3

Unter Ortsnoemata versteht Becker in phänomenologischer Tradition und in Anlehnung an Edmund Husserl und Aron Gurwitch die sinnbildliche Wahrnehmung von Orten, die sich aus den einzelnen Wahrnehmungen von beispielsweise Individuen, Dingen und Handlungen zusammensetzt (Becker 2017: 51). Hier greift Becker auf den Figurationsbegriff von Norbert Elias zurück und meint damit bestimmte Formen des menschlichen Miteinanderlebens (Becker 2017: 13), wie die gerade erwähnte Etablierte-und-Außenseiterfiguration (Elias/Scotson 1990).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Obwohl sich ein emotionaler Bezug zu Orten in der klassischen Vorstellung von gemeinschaftlichen Beziehungen am Ort ableitet4 , möchte ich argumentieren, dass emotionale Ortsbezüge auch ohne die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv entstehen können. Das zeigt auch Beckers Unterscheidung zwischen sich verorten und verortet werden. Ortsbezüge können mit identitätsstiftenden biografischen Passagen, wie dem Heranwachsen, in Verbindung gebracht werden. In vielen der untersuchten Fälle spielen gemeinschaftliche Strukturen kaum eine Rolle, sondern die Individuen sind vielmehr in soziale Netzwerke eingebunden, die sich über unterschiedliche Räume und Orte spannen. Gleichzeitig kann eine kollektive Integration ohne einen emotionalen Ortsbezug vorliegen, wie ich weiter unten zeigen werde. Emotionale Ortsbezüge und eine gemeinschaftliche Integration können sich gegenseitig verstärken, sie können aber ebenso unabhängig voneinander existieren. Abhängig von den biografischen Erfahrungen der sozialräumlichen Integration, oder der Verortung, lassen sich bei den Untersuchungspersonen unterschiedliche Raumvorstellungen beobachten. Diese bewegen sich meist auf einer Skala zwischen Vorstellungen, die Raum stärker als etwas Konstantes und Homogenes wahrnehmen, und Vorstellungen, die Raum eher als etwas Fluides, sich stetig Veränderndes wahrnehmen. Einige haben im Rahmen der Verinselung ihrer Lebensweisen (siehe hierzu Löw 2001: 82ff.) eine Raumvorstellung entwickelt, die, um mit Löw zu sprechen, »Raum als uneinheitlich, sich überschneidend, vielfältig, vernetzt und bewegt erscheinen lässt« (ebd.: 101). Angelehnt an die eingangs in diesem Kapitel angeführte Diskussion baut sich ein Verlaufskurvenpotential insbesondere bei den Personen auf, die viel zu verlieren haben. Im Sinne der hier vorliegenden Operationalisierung entsteht dieses Verlustpotential vor allem durch das Zusammenspiel eines starken emotionalen Ortsbezugs sowie einer gemeinschaftlichen Lebenserfahrung, also durch den Status des oder der Etablierten. Eine Etablierte oder ein Etablierter hat durch die Transformation von Siedlungsstrukturen besonders viel zu verlieren und empfindet sie somit stärker als verlaufskurvenförmig. Auffallend deutlich wird das anhand von zwei untersuchten Fällen: Nurans Lebensablauf ist keineswegs von Autonomie und Handlungsmacht geprägt. Sie kämpft mit ihren eigenen Alltagsanforderungen und den Gesundheitsproblemen ihrer Mutter und ist gleichzeitig der Stadterneuerung relativ schutzlos ausgeliefert. Trotzdem interpretiert sie für sich keine Fallkurve, da die rapide Urbanisierung der Stadt zu ihrem Alltag dazugehört. Ihr Fall steht ganz im Gegensatz zu Süleyman, der finanziell bestens aufgestellt ist, eine gesunde Familie und einen

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Beispielsweise im Begriff des »symbolischen Ortsbezugs«, der auf Vilfredo Paretos »Traité de sociologie général« zurückgeht und in der Sozialgeographie Anwendung findet (Lexikon der Geographie 2001)

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

guten Job hat. Trotzdem lässt sich die Verlaufskurvenentfaltung bei ihm besonders gut beobachten, da er stark um die sozialen Strukturen trauert, die durch die Veränderung der Siedlungsstrukturen zerstört wurden, und er seine Identität dadurch bedroht sieht. Nuran hat ihren Sozialraum nie als etwas Konstantes erlebt, sie ist mit der Normalität der ständigen Transformation aufgewachsen. Süleyman hingegen hat ein stark homogenes und stabiles Raumgefühl in seiner Kindheit entwickelt, das im Laufe seiner Biografie gestört und in Frage gestellt wurde. Räumliche Transformation wird erst dann zum Verlaufskurvenpotential, wenn man Raum als etwas Konstantes wahrnimmt, oder zumindest als etwas Identitätsstiftendes. Ein bedeutender Unterschied zwischen Süleyman und Nuran, der mit Sicherheit einen großen Einfluss auf die unterschiedlichen Erfahrungsmöglichkeiten dieser beiden Fälle hat, ist die Tatsache, dass sich beide zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Stadt ansiedelten: Süleymans Vater migrierte bereits in den 1950er Jahren von der Schwarzmeerküste in die Stadt und die Familie konnte sich in den 1970er Jahren in einem von Schwarzmeertürkinnen und -türken dominierten Viertel auf einem Stück Land frei etablieren und verwirklichen. Nurans Eltern erreichten die Stadt erst in den 1980er Jahren und lebten seitdem in den sich rasant entwickelnden Vororten zur Miete. Sie bekamen wenig Spielraum zum sozialen Aufstieg durch Immobilienerwerb und -ausbau, sondern waren und sind der Stadtentwicklung ausgeliefert. Für viele meiner Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer ist der Rückbezug auf ihre eigene Kindheit im Vergleich zur Kindheit, wie sie heute in ihrer Stadt stattfindet, einer der wichtigsten Bezugspunkte, wenn sie das gemeinschaftliche Miteinander in einer sozialen Nachbarschaft beschreiben wollen. Mit Wehmut blicken sie zurück auf das Aufwachsen in einem urbanen Dorf, in dem man sich gegenseitig half und die Kinder frei auf den Straßen spielen konnten. In der von Süleyman dargestellten Eigentheorie versucht er, diese spezifische Form sozialer Beziehungen darzustellen. Er betitelt sie mit »Mahalle culture« (Transkript Süleyman) und stellt sie in Kontrast zur heutigen großstädtischen Lebensweise, die von Individualismus geprägt sei. Interessanterweise werden hier ausschließlich die positiven Erfahrungen des Lebens in einer Gemeinschaft herausgestellt. Die gegenseitige soziale Kontrolle wird kaum thematisiert. Dies zeigt sich beispielsweise in der positiven Darstellung des Tanrı Misafiri (unerwarteter Gast) bei Süleyman: »And I remember for example, eh, it’s not issue for us to have a dinner. So I may have dinner in my home with my families or I may go to my friend’s house. So, there is a concept in Turkish culture ›Tanrı Misafiri‹. So we’re part of this mahalle culture and I go to Haydar’s house, or Hüseyin’s house, my friends, and I may have lunch or dinner with them and no one says (that?) why you are here, because they’re part of my family and I’m part of their family.« (Transkript Süleyman)

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Süleyman spricht in dieser Sequenz aus der Perspektive des Heranwachsenden. Dabei standen ihm alle Türen in der Nachbarschaft offen, er musste sich nicht anmelden, Mahlzeiten wurden selbstverständlich miteinander geteilt. Die Nahrungsaufnahme symbolisiert hier die basalste Form der gegenseitigen Fürsorglichkeit. Er begreift sich als Teil einer Gemeinschaft, als Teil einer großen Familie, die diese wichtige Funktion übernimmt. Diese Form der sozialen Integration bezeichnet er als Mahalle-Kultur und glorifiziert sie aus der heutigen Perspektive. Wie in Süleymans Fallrekonstruktion deutlich wird, machte er erst sehr spät in seinem Lebensablauf die Erfahrung, ein Außenseiter zu sein. Das Glück seiner Kindheit war von sozialer Zugehörigkeit geprägt. Über einen unerwarteten Gast freut sich aber nur, wer nichts zu verbergen hat und wer unter Gleichgesinnten lebt. Süleyman nimmt also für sich selbst die vollkommene Integration in ein gemeinschaftliches Kollektiv in Anspruch. Gleichzeitig zeigt er sich mit seinem Wohnort sehr verbunden. Er betont immer wieder seinen eigens konzipierten Leitsatz »I was born in [G-köy] most probably I will die in [G-köy]« (Transkript Süleyman). Für ihn ist ein Wegzug aus seinem Viertel nicht denkbar, da er sonst den biografischen Bezug zum Ort verlieren würde. In diesem Sinne ist Süleymans Aufwachsen vom Typus des Etablierten geprägt. Gleichzeitig zeigt sich, dass dieser Typus nicht über seinen gesamten Lebensablauf Bestand hat. Denn als Süleyman in einer Hausgemeinschaft mit mehrheitlich westlich ausgerichteten Nachbarinnen und Nachbarn lebt und selbst zum Außenseiter wird, grenzt er sich von der Nachbarschaft ab. Plötzlich wird ihm sein privater Raum viel wichtiger. Heute möchte er nicht mehr, dass sich die Nachbarinnen und Nachbarn in seine Angelegenheiten einmischen, obwohl er die gegenseitige Unterstützung bei Problemen früher als konstitutiv für eine Nachbarschaft hielt. Für Süleyman kam der Status des Etablierten zunächst ganz natürlich mit der Ansiedlung im urbanen Dorf, in dem sich die meisten einen Herkunftsort oder eine Herkunftsregion teilten. Auch Leylas Familie siedelte sich in den 1960er Jahren in einem urbanen Dorf mit gemeinsamen Bekannten an und sie begriff sich als Teil der Gemeinschaft. Im Gegensatz zu Süleyman erfuhr sie jedoch aufgrund ihrer kulturellen Zugehörigkeit als kurdische Alevitin Diskriminierungen. Trotzdem hatte sie ein Gefühl der kollektiven Zugehörigkeit in der Nachbarschaft, das ihr Selbstbewusstsein im Umgang mit diesen Diskriminierungen schenkte. So entfaltete sich ihr Stigma erst später, als sie den sicheren Hafen ihrer urbanen Dorfgemeinschaft aufgrund der Trennung ihrer Eltern längst verlassen hatte. Auch ihr Absturz ist tief. So verbindet sie und Süleyman, trotz der unterschiedlichen kulturellen Prägungen, ein ähnlicher Typus der beziehungsweise des Etablierten. Beide haben im Zuge der Modernisierung und Stadterneuerung ihren Status und ihre identitätsstiftenden Heimatviertel verloren. Tatsächlich gibt es nur wenige Interviewpersonen in meinem Sample, die sich bewusst gegen die soziale Kontrolle und Gemeinschaft des Mahalles entschieden

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

haben. Einen dieser Fälle stellt Çağrı dar. Er ist alleinstehender Kieferorthopäde mit kosmopolitischem Lebensstil, der in seiner biografischen Entwicklung den engen Strukturen seiner Nachbarschaft entwachsen ist. Zum Zeitpunkt des Interviews wohnt er in einer anonymen Wohnanlage mit über 1.500 Wohnungen und integriertem Outlet-Shoppingcenter, die er sich bewusst ausgesucht hat. Damit reagiert er auf die früheren Erfahrungen in einer Nachbarschaft, die »immer alles über ihn wusste, ihn immer sehen konnte, wo er hingeht, was er macht« (Beobachtungsprotokoll Çağrı). Das Leben in fast völliger Anonymität bietet ihm nun die Möglichkeit, sein Leben wie gewünscht und ohne Bewertung seiner Nachbarinnen und Nachbarn zu gestalten. An Emines Fall zeigt sich, wie ein emotionaler Ortsbezug auch unabhängig von der sozialen Integration in ein Kollektiv entstehen kann. Emines Lebensablauf ist von vielen Umzügen innerhalb Istanbuls geprägt. Ihre Familie musste hart arbeiten und Schicksalsschläge, wie einen Betrug beim Hauskauf, verkraften, um ein für sie angenehmes Leben zu gestalten. Die Kernfamilie, bestehend aus Emine, ihren Eltern und ihren zwei Schwestern, schien auf sich allein gestellt zu sein. Sie bekamen nichts geschenkt. Emine interpretiert ihre Zeit als Heranwachsende aber nicht als problembehaftet, vielmehr findet sie Gefallen an den verschiedenen Orten, die über die Stadt verteilt liegen und in der Gegenwart noch biografische Relevanz für sie haben. Dadurch setzt sich die Stadt für Emine aus vielen Erinnerungsstücken zu einem Mosaik zusammen, das für ihre Identität sehr bedeutend ist. Dabei trauert sie ebenfalls dem alten Istanbul hinterher. Gleichzeitig führt sie einen Lebensstil als hoch gebildete, angesehene Frau, die anonym bleiben möchte, ein Lebensstil, der unvermeidbar mit der Großstadt verbunden ist. Somit ist ein Wegzug für sie nicht vorstellbar – obwohl ihre Freundinnen und Freunde in Zukunft von einem einfachen Leben auf dem Land träumen. Wenngleich Emine von den modernen, urbanen Räumen der Großstadt in ihrem Alltag profitiert, so trauert sie trotzdem um das alte, historische Istanbul, das sie durch die flächendeckenden Bauvorhaben dem Verschwinden nahe sieht. Die »natürliche Schönheit« der Stadt, die sie insbesondere im Bosporus und Marmarameer wiederfindet, ist für sie ein großes Gut. Sie sagt dazu: »For example I would prefer to live fifty years ago in İstanbul. Yah, it was beautiful. Eh, in fact I’m unhappy that we are ruining such a valuable city. It is really, I believe that ehm, the things which makes a city valuable is its history and natural beauties.« (Transkript Emine) Es wird jedoch deutlich, dass es sich bei Emine um eine kosmopolitische Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe der Stadt handelt. Sie zieht den Vergleich zur Stadt Rom und bringt ihre Begeisterung für diese zum Ausdruck. Mit der Zerstörung der natürlichen und historischen Schönheit Istanbuls sieht Emine unter anderem die kulturelle Attraktivität der Stadt in Gefahr – eine Abwertung gegen-

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über anderen europäischen Städten. Obwohl das Leben in Istanbul vor 50 Jahren wohl wenig Vorteile für sie – vor allem als Frau – gehabt hätte, so zeigt sich hier sehr deutlich ihre Abneigung gegenüber der aktuellen Stadtentwicklung. Der Vergangenheitsbezug ist also trotz der modernen Lebensweise immer noch bedeutend für Emine, da er für sie einen wichtigen Teil des kosmopolitischen Erbes der Stadt ausmacht. Diese Vergangenheitsbezüge zum historischen und kulturellen Erbe der Stadt sind jedoch nicht selbstverständlich. Nur bei wenigen Personen scheint beispielsweise die Altstadt eine biografische Relevanz zu besitzen. Das liegt daran, dass viele Individuen gar nicht oder nur wenig in Kontakt mit den historischen Orten der Stadt treten. So ist Serdar einer der wenigen, der von solchen Erfahrungen aus der Kindheit berichtet: »My mother used to, eh, listen, let’s say, the the psalms of eh for certain kinds of preachers in mosque, so eh//I2: Ah//I was, I was going with her and I wasn’t going inside the mosque but I was just strolling around the mosque when I was waiting her, so I used to go, I mean, we used to go Sultanahmet sometimes, eh, Nuruosmaniye, for example the Nuruosmaniye I spent maybe I don’t know, we we got there ten times really, when I was really kid, she was, we were moving together, because, we, I don’t know, she, eh, she always brings//B2: Company//yeah, she needs maybe company, I don’t know, but for example Yeni- eh Yeni Camii, eh//I2: In Eminönü//Eminönü, eh, I don’t know, maybe twenty times, something like that. So when I was a really small kid, something like ten years old, so I remember, I don’t know, (unv.) around Cami, because I, I mean, you get bored sometimes, because there’s nothing/[…] but it […] as kid I I really, now I remember really, eh, having gone there with my father, eh, most with my eh with my mother. (.) When I was a small kid.« (Transkript Serdar und Vildan) Das Aufwachsen in einem religiösen Elternhaus bescherte Serdar den regelmäßigen Kontakt zu Moscheen auch in den historischen Stadtteilen. Seine Mutter ließ ihn während ihres Moscheebesuches im jeweiligen Viertel frei umherlaufen, so dass er seine Neugier auf diese unbekannten Orte entdecken konnte, die selbst die meisten Istanbulerinnen und Istanbuler am ehesten als Touristinnen und Touristen in der eigenen Stadt aufsuchen. Essenziell ist, dass er die Freiheit für das eigenständige Umherstreunen bekam – was sogar er selbst aus der aktuellen Perspektive nicht als Selbstverständlichkeit wahrnimmt. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau, Vildan, mit der ich gleichzeitig das Interview führe, werden dabei Geschlechtsunterschiede deutlich. Vildan betont die mangelnde Freiheit des Umherstreunens, die sie als junges Mädchen hatte. Für sie ist das ein grundlegender Unterschied, warum die beiden so verschiedene persönliche Bezüge zur Altstadt entwickelt haben:

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

»I remember our, ehm, my boyfriends from eh high school, we were all in Ortaköy, and I remember that the girls had to leave after classes and, eh, because it was kind of ›You have to go home to be safe‹ (lacht leicht) you, you just had the right, eh, to hang out during the day, at Ortaköy maybe, or ehm, Kuruçeşme, around Beşiktaş, just around eh the school, but after classes, after four, five o’clock, you have to go home to be safe. But I remember boys staying at school, ehm, having eh playing basketball or football and then hang out and walking, ehm, sometime to FATIH and ehm//B1: Okay, you’re right//having different relationships with the city at their very early ages. And, we star- as a girl, I started to be able to do that, ehm, after fifteen years old, maybe, going eh wherever I want and it was always a challenge, eh, and it was thanks to the location of my highschool as well, Ortaköy and Beyoğlu, which was great (lacht) eh, it could have been in [Y-Köy] (der damalige Wohnort ihrer Familie) (B1 sagt etwas unverständliches) and I will stay in [Y-Köy] forever.« (Transkript Serdar und Vildan) Vildan sieht ihre räumlichen Erfahrungsmöglichkeiten somit stark von ihrem Geschlecht abhängig. Die »Sicherheit« der Mädchen scheint für sie nur ein Vorwand gewesen zu sein, um ihnen solche Freiheiten zu verwehren. In ihrer Wortwahl wird die gefühlte Ungerechtigkeit deutlich: Mädchen hatten »nicht das Recht«, sich nach der Schule noch länger außerhalb ihres Wohnortes aufzuhalten, Jungen aber scheinbar schon. Sie betrachtet es als glücklichen Umstand, dass ihre Schule nicht in ihrer Nachbarschaft lag und sie im Jugendalter somit doch noch die Möglichkeit bekam, sich andere Orte anzueignen. Sie nimmt im Interview eine defensive Haltung gegenüber der Tatsache ein, dass sie eben keinen emotionalen Bezug zur Altstadt entwickeln konnte – als Tochter eines säkularen Mittelschichtshaushaltes war es ihr schlicht und einfach nicht gestattet, sich frei an solchen oftmals von konservativen Lebensweisen dominierten Orten zu bewegen. Im Gegensatz dazu bekam Serdar das Aufenthaltsrecht durch den Moscheebesuch seiner Mutter. Biografische Erfahrungsmöglichkeiten in der Stadt bedingen sich folglich durch zufällige, unveränderbare Merkmale, wie das des Geschlechts oder der religiösen Prägung des Elternhauses, in welches man hineingeboren wird. So kann ein emotionaler Ortsbezug dadurch gestärkt oder verhindert werden und sagt noch nicht zwangsweise etwas über die soziale Integration aus. Gleichzeitig trägt eine religiöse Lebensführung oftmals zu gemeinschaftlichen Erfahrungen bei. Das wird zum Beispiel bei Süleyman deutlich, der betont, dass die biografische Kindheitserfahrung des gemeinsamen Fastens und Fastenbrechens ein wichtiger Faktor der Gemeinschaftsbildung war. Er schildert, dass er das Fastenbrechen zusammen mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft in den Gärten zelebrierte und sie sich bis heute noch mit warmen Gefühlen an diese Zeiten erinnern. Im Gegenzug kann eine Lebensweise, die nicht von solchen religiösen Ritualen geprägt ist, zum Ausschluss aus Gemeinschaften führen, wie es bei Leyla

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des Öfteren ersichtlich wird. Zunächst musste sie sich während ihres Aufwachsens in einem gemischten Mahalle der Tatsache stellen, dass sie von anderen Kindern aufgrund ihrer kulturellen Zugehörigkeit als kurdische Alevitin und der damit einhergehenden Unterlassung des Fastens ausgegrenzt wurde. Trotzdem fühlte sie sich dem örtlichen Kollektiv zugehörig, so dass sie den Diskriminierungen selbstbewusst begegnen konnte. Erst in jüngster Zeit, seit sie in einem mehrheitlich religiös dominierten Stadtteil wohnt, wird ihr ihre Andersartigkeit viel stärker vor Augen geführt. Die Kinder auf der Straße machen ihr während der Fastenzeit Vorwürfe, dass sie nicht faste, ein Händler spricht sie auf die Tatsache an, dass sie nicht in die Moschee gehe. Leyla erklärt diese besondere Stellung, die sie und ihre Mutter im Viertel einnehmen, mit den Worten: »during the month of Ramadan all the neighbourhood is in the mosque, only we aren’t there and therefore they know we don’t go to the mosque« (Transkript Leyla). Wie die aufgeführten Beispiele um Serdar, Vildan, Süleyman und Leyla zeigen, kann eine religiöse Lebensweise sowohl verstärkt zu emotionalen Ortsbezügen und zu gemeinschaftlicher Integration führen, als auch sie eben verhindern. Sie ist aber nicht zwangsläufig eine Voraussetzung für emotionale Ortsbezüge. In einigen Fällen ist die soziale Integration in ein Kollektiv an einen spezifischen Ort, eine Nachbarschaft, gebunden, so beispielsweise bei Süleyman und Leyla. In ihren Fällen ist die soziale Nachbarschaft zusammen mit dem Viertel entstanden. Die Großstadt bietet jedoch ebenso die Möglichkeit, nachträglich ein soziales Kollektiv an einem bestimmten Ort zu etablieren. Der Ort als solcher stellt dann keine sonderlichen identitätsstiftenden Merkmale mehr dar – er ist gewissermaßen austauschbar. So ist es beispielsweise bei Zehra geschehen, einer geschiedenen Frau und alleinerziehenden Mutter. Ihre erweiterte Familie väterlicherseits siedelte sich in den 1960er Jahren zunächst in der Altstadt an, wo sie im Textilsektor tätig war. Mit der Zeit – und höchst wahrscheinlich auch mit steigendem Vermögen – siedelten die verschiedenen Familienmitglieder zwar sukzessive, aber im Endeffekt kollektiv, ab Mitte der 1980er Jahre auf die asiatische Seite in einen modernen Stadtteil über. Zehra beschreibt diesen Prozess in den folgenden Worten: »We used to live in the neighbourhood known as [A-Mahallesi]. And we have many relatives there. That is, a relative next door in the building. Another acquaintance in the building across. Over time, the whole group had gradually settled in the area. When I was 13, upon my grandfather’s proposal, my father dropped teaching in primary school and started working with grandfather, who in turn bought my father a house on the Asian side. I mean, my father’s family. 13 years. So when I was 13 years old we moved to this side. But that was the locality of [T-köy]. Not [Uköy]. [U-köy] is part of my life for two years. Apart from that, I have lived in [T-köy] since I was 13. I2: Does your father’s father buy him a house?

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

B: Yes, along with the store. Proposing him, ›Move to the store, work with me, quit teaching, and in return I’ll buy you a house on the Asian side‹/so he starts working with my dad. And on this side they buy a house, like I said. After that, they buy another house for my paternal grandmother. That is, my grandmother and grandfather move in to the same setting. Then my uncles/after my uncle gets married they also buy a house. So in the vicinity of the [Yeşil] Park our family has a number of houses. Me and my sister have lived in different places after we got married. But in the end, this is our environment.« (Transkript Zehra) Es bildete sich also im Laufe der Zeit ein Konglomerat aus Familienangehörigen in T-Köy. Die Familienmitglieder nutzten die Bereitstellung von Immobilien sogar dazu, den Fortbestand des eigenen Textilbetriebs zu sichern. So wurden die familiären Abhängigkeiten verstärkt. In Zehras Fall wird jedoch deutlich, dass sie weder mit dem Ort T-Köy im Speziellen noch mit der Stadt Istanbul insgesamt besondere Gefühle verbindet. Sie orientiert sich hauptsächlich an ihren sozialen Kontakten, die nun mal an diesem bestimmten Ort angesiedelt sind. Die Verortung der Familie, auch wenn sie nicht emotional geprägt ist, führt gleichzeitig dazu, dass sich Zehras Leben größtenteils in T-Köy abspielt, obwohl sie bereits einige Zeit nicht mehr dort wohnt. Als ihr Apartmenthaus im Zuge der Stadterneuerung abgerissen wurde und sie sich eine neue Wohnung in T-Köy nicht mehr leisten konnte, zog sie mit ihrer Tochter zusammen aus T-Köy in einen anderen Stadtteil (U-Köy), der eine etwa 20-minütige Autofahrt entfernt liegt. Insbesondere der Alltag von Aylin, Zehras Tochter, ist aber nach wie vor von T-Köy dominiert: Hier befinden sich noch ihre Schule, die Wohnung ihres Vaters und ihrer Großeltern, Tanten und Cousinen. Aus diesem Grund fahren Zehra und Aylin jeden Wochentag zu Zehras Eltern zum Frühstücken und nehmen von dort ihr Tagesgeschäft auf. Darüber hinaus beenden die beiden auch den Tag in T-Köy, indem sie sich dort in einer Gaststätte zum Abendessen treffen. Erst anschließend fahren sie in ihre Wohnung in U-Köy. Ihr ehemaliger Wohnort ist also noch fest in ihre alltäglichen Routinen integriert. Die Bedeutung des Ortes steckt in diesen alltäglichen Routinen, die sich durch die sozialen Kontakte und relevanten Institutionen ergeben haben, und nicht in einem emotionalen Vergangenheitsbezug. Diese Kollektiverfahrungen wurden jedoch den Interviewpersonen größtenteils verwehrt, die vergleichsweise später, also ab den 1980er Jahren, nach Istanbul migrierten. Im zweiten Kapitel habe ich bereits einige Gründe beschrieben: Der Druck auf städtischen Boden verstärkte sich, die Wohnungspolitik wurde restriktiver und somit wurden die Entfaltungsmöglichkeiten geringer (siehe beispielsweise Keyder 2005). Zwei Fälle, an denen das besonders manifest wird, sind die von Nuran und Çiğdem. Nurans Fall hat bereits einige Erwähnung gefunden – sie wuchs gewissermaßen in den engen Strukturen ihrer Kernfamilie und der ständigen Raumtransformation auf. Çiğdem und ihre alevitische Familie zogen Anfang

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der 1990er Jahre aus einer mehrheitlich alevitisch-zazaisch geprägten Region nach Istanbul, ebenfalls in einen sich rasant entwickelnden Stadtteil, der mittlerweile zum einen für große soziale Ungleichheiten und zum anderen für ein hartnäckiges Drogenproblem berüchtigt ist. Çiğdem wuchs inmitten von religiösen Hardlinern auf. Ihre Familie versuchte, sich auf die Ausbildung ihrer Kinder zu fokussieren und erarbeitete sich damit eine gewisse Akzeptanz unter den Nachbarinnen und Nachbarn. Trotzdem blieben die Familienmitglieder größtenteils unter sich. Çiğdem ist von ihren bisherigen repressiven Lebenserfahrungen in Istanbul so gezeichnet, dass sie möglichst bald mit ihrem Ehemann aus der Stadt fortziehen möchte. Zum Zeitpunkt des Interviews erwartet sie außerdem ihr erstes Kind, was diesen Wunsch noch verstärken mag. Ihrer Meinung nach sei Istanbul keine geeignete Stadt für eine Frau, da Frauen hier nur Unterdrückung erfahren würden. Diese Ansicht steht im krassen Kontrast zu der von Emine, die ja gerade in Istanbul ihre Entfaltungsmöglichkeiten als moderne Frau findet, jedoch stellt sie nichtsdestotrotz eine Lebensrealität dar. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass biografische Erfahrungen bestimmen, inwiefern emotionale Bezüge zu Orten und Kollektiven entstehen. Die Erfahrungsaufschichtung von Orten über einen gewissen Zeitraum konstituieren die individuelle Verortung (Becker 2017). Gleichzeitig werden biografische Erfahrungen durch bestimmte unveränderliche Faktoren beeinflusst, wie dem Ankunftszeitpunkt und -ort, dem Geschlecht oder der religiösen Prägung. Selbstverständlich können an dieser Stelle nicht alle Faktoren rekonstruiert werden, sondern nur diejenigen, die im Rahmen des Samples und der Fallrekonstruktionen augenscheinlich werden. Somit bleibt diese Liste womöglich unvollständig. Die biografischen Erfahrungen sozialräumlicher Integration sind aber für die Frage nach der Krisenhaftigkeit von Stadterneuerung zentrale Aspekte. Insbesondere bei den Fällen, bei denen eine hohe Identifikation mit Orten und gemeinschaftliche Strukturen manifest ist, ist der Aufbau eines Verlaufskurvenpotentials wahrscheinlicher. Jedoch sind neben diesen dargestellten zentralen biografischen Erfahrungen auch die gegenwärtigen Lebenssituationen ausschlaggebend für den Umgang mit Stadterneuerung. Diese werde ich im folgenden Unterkapitel näher behandeln.

5.2

Gegenwärtige sozialräumliche Interaktionen »Erzählungen über die Vergangenheit sind an die Gegenwart des Erzählers gebunden. Die gegenwärtige Lebenssituation bestimmt den Rückblick auf die Vergangenheit […]. Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen verweisen also sowohl auf das heutige Leben mit dieser Vergangenheit als auch auf das damalige Erleben. Ebenso wie sich das Vergangene aus der Gegenwart und der antizipierten Zukunft

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

konstituiert, entsteht die Gegenwart aus dem Vergangenen und dem anvisierten Zukünftigen.« (Rosenthal 2015: 195ff.) Dieses Zitat von Rosenthal macht deutlich, dass die aktuelle Situation und Lebensphase, in der sich Untersuchungspersonen befinden, für die Biografieforschung von großer Bedeutung sind. Ohne einen Blick auf die gegenwärtige Lebenssituation zu werfen, können Forscherinnen und Forscher nicht verstehen, wie die Interviewten ihre Vergangenheit wahrnehmen und was sie von ihrer Zukunft erwarten. Ein gängiges Beispiel ist die Diagnose einer chronischen Krankheit, die die betroffene Person plötzlich in veränderter Art und Weise auf ihre Vergangenheit blicken lässt – die Themen Gesundheit und Krankheit spielen auf einmal eine viel wichtigere Rolle bei der Interpretation vergangener Ereignisse (Rosenthal 2015: 195). Gleichzeitig verändern sich die Zukunftserwartungen dieser Person – vieles wird unsicherer. Somit ist die gegenwärtige Lebenssituation der Interviewpersonen auch für die Auffassung von Stadterneuerung und Modernisierungsprozessen ausschlaggebend. Befindet sich beispielsweise eine Untersuchungsperson in einer biografischen Übergangssituation, einer sogenannten biografischen Passage, wirkt sich das auf das Raumerleben und die sozialen Interaktionen in einer Nachbarschaft aus: Eine Schwangerschaft lässt das Potential einer Nachbarschaft für die betroffene Person in einem ganz anderen Licht erscheinen (siehe Glinka 2015: 207f.). Ich möchte an dieser Stelle nun den Zusammenhang zwischen den biografischen Erfahrungen und der gegenwärtigen Situation beleuchten. Zur gegenwärtigen Lebenssituation können eine Reihe von Faktoren zählen. In Kapitel 3.4 habe ich das Sample meiner Studie näher beschrieben. So handelt es sich bei den von mir Interviewten um Personen mit einer universitären Ausbildung und einem mittleren bis mittelhohen Einkommen – sozioökonomisch betrachtet also um eine relativ abgesicherte Personengruppe. Diese Einschätzung alleine reicht aber nicht aus, um die aktuelle Lebenslage der Personen zu verstehen. Außerdem muss ich in Anbetracht der erhobenen Daten eine Einschränkung vornehmen: Es wurden bei weitem nicht alle Faktoren der gegenwärtigen Lebenssituation erfragt, was schlicht nicht möglich gewesen wäre. Worüber ich aber in allen Fällen mit den Interviewten gesprochen habe, sind die sozialräumlichen Interaktionen in der bewohnten Nachbarschaft. Ich fragte beispielsweise danach, wie sie die örtlichen Angebote und Infrastrukturen nutzen, wie ihre Beziehungen zu den Nachbarinnen und Nachbarn sind und wie sie die Personen und das Zusammenleben vor Ort beschreiben würden. Diese Dinge schienen mir wegweisend für die Bearbeitung der Frage nach dem Umgang mit Stadterneuerung, da sie zeigen sollten, wie die Personen auf ei-

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ner alltäglichen Basis davon betroffen sind.5 Deshalb möchte ich an dieser Stelle insbesondere auf die sozialräumlichen Interaktionen eingehen. Meiner Auffassung nach spiegelt sich viel der gegenwärtigen Lebenssituation sowie der biografischen Erfahrungen in dieser Interaktion wider. In Bezug auf die sozialräumlichen Interaktionen ergibt sich jedoch eine methodische Schwierigkeit: Interviews sagen in der Regel wenig über die tatsächliche soziale Praxis aus. Dies war mir im Vorhinein bewusst, weshalb ich diese Schwäche mit der Durchführung von Go-Alongs zu beheben versuchte. In einigen Fällen konnte ich so tatsächlich zu einer detaillierteren Erkenntnis über die sozialräumlichen Interaktionen gelangen und stellte gleichzeitig fest, dass diese sich mit dem Erzählten im Interview deckten. Da selbstverständlich nicht alle im Interview angegebenen Alltagspraktiken überprüft werden können, lege ich im Endeffekt viel Vertrauen in den Wahrheitsgehalt der mir im Interview geschilderten sozialräumlichen Interaktionen. Darüber hinaus geht es in dieser Arbeit darum, die subjektiven, sozialen Wirklichkeiten zu rekonstruieren, zu verstehen und zu vergleichen, nicht ihren objektiven Wahrheitsgehalt zu prüfen. Die rekonstruierten sozialräumlichen Interaktionen meines Samples reichen dabei von nachbarschaftlich relativ abgeschotteten Personen über solche, die eher funktionale Kontakte in der Nachbarschaft pflegen, bis hin zu Personen, die freundschaftlich-familiär mit ihrem nachbarschaftlichen Umfeld interagieren. Außerdem werden die nachbarschaftlichen Kontakte mit unterschiedlichen Gefühlszuständen verbunden. Einige fühlen sich regelrecht wie Aussätzige und hegen teilweise starke Aversionen gegen ihre Nachbarinnen und Nachbarn. Andere pflegen nur ausgewählte Beziehungen und stehen den sonstigen Kontakten recht indifferent gegenüber. Wenige fühlen sich emotional zu ihrem Sozialraum hingezogen. Und keine Person des untersuchten Samples lebt mehr in den gemeinschaftlichen Strukturen eines klassischen Mahalles, wie es beispielsweise Süleyman zum Zeitpunkt seiner Kindheit beschreibt. Ich möchte mit den Fällen beginnen, die ich als abgeschottet und unzufrieden charakterisieren würde. Süleyman erlebte beispielsweise einen starken sozialen Abstieg als ehemaliger Etablierter in seiner Nachbarschaft hin zu einem Außenseiter. Der ursprünglich dörfliche Charakter seines Viertels wurde durch den zunehmenden Bau von Apartmenthäusern und dem vermehrten Zuzug aufgelöst. Als er innerhalb des Viertels umzog, verlor er die so geschätzte religiöse Nachbarschaft. Während des Interviews präsentiert er sich diesbezüglich als äußerst unzufrieden,

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Ich habe dabei bewusst keine geographische Einheit vorgegeben und es den Interviewten selbst überlassen, ihre Nachbarschaft abzugrenzen und zu definieren. Für viele war es gar nicht so einfach – weil die Nachbarschaft im herkömmlichen Sinne, also beispielsweise die nächststehenden Wohnhäuser, Einkaufsläden und sonstige Infrastruktur, keine alltägliche Rolle spielten. Dies wurde dann aber auch entsprechend kommuniziert. Siehe auch Kapitel 6.

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

schildert die egoistischen und streitsüchtigen Eigenschaften seiner neuen Nachbarinnen und Nachbarn. Gleichzeitig positioniert er sich selbst als höchst moralisch und von gemeinschaftlichen Werten getrieben. Doch er lebt in einem Umfeld, in dem die traditionellen Regeln und Sitten nicht mehr funktionieren. Deshalb pflegt er diese hauptsächlich in seinem privaten, häuslichen Umfeld, welches für ihn zur wichtigsten und schutzbedürftigen Einheit geworden ist. Leyla lebt in einer Nachbarschaft, die gerade von traditionellen Werten und religiösen Alltagspraktiken geprägt ist – und kann sie nicht bedienen, da ihre kulturelle Zugehörigkeit dem widerspricht. Auch sie reagiert darauf mit einem Rückzug aus der Nachbarschaft und versucht ihr andersartiges Glaubenssystem zu verdecken. Gleichzeitig weiß sie, dass sich ihr Stigma entfaltet hat und sie nun mit ihrer beschädigten Identität (Goffman 2015 [1963]) im Viertel zurechtkommen muss. Anders als Süleyman befindet sie sich jedoch in der prekären Lage, nicht abgesichert zu sein. Aufgrund eines andauernden Rechtsstreits um den Abriss und Neubau ihrer ehemaligen Apartmentwohnung im Zentrum kann sie weder vor noch zurück und steht ohne Mittel einer ungewissen Zukunft gegenüber. Auch Çiğdem ist unglücklich in ihrem sozialräumlichen Umfeld, das von schweren sozialen Ungleichheiten und einer Drogenproblematik geprägt ist. Seit ihrer Schwangerschaft scheint sie sich noch stärker in ihre private Wohnung zurückgezogen zu haben. Sie hat nicht mehr die Kraft zu kämpfen – und die braucht man, um in Istanbul nicht unterzugehen. Sie ist im wörtlichen sowie im übertragenen Sinne müde und erhofft sich in absehbarer Zeit die Erlösung von diesem alltäglichen Martyrium. Auf die Frage, was sie an ihrem Wohnort mag, antwortet sie schlicht: »Anything? Nothing.« (Transkript Çiğdem und Özgür). Sie ist vom weiteren Abwärtstrend überzeugt und zieht nur noch die Flucht in Erwägung. Eine zweite Gruppe charakterisiere ich in ihren sozialräumlichen Interaktionen als funktional, ausgewählt bis opportunistisch und emotional indifferent. Nichtsdestotrotz ist ihre Lebenspraxis eng mit dem städtischen Raum verbunden. Für sie setzt sich die Großstadt aus unterschiedlichen Möglichkeitsräumen zusammen, die kombiniert das Ökosystem ihres Lebensstils ergeben. Emines soziale Integration ist beispielsweise weniger von einer kollektiven Gemeinschaft geprägt, als von ausgewählten Netzwerken. Sie achtet stark darauf, mit wem sie Kontakt aufnimmt, wo sie sich aufhält, und sie bestimmt, mit wem ihr Sohn spielen darf. Räume nimmt sie vor allem monofunktional wahr. Das hilft ihr, strikt zwischen Privatem, Vergnügen und Beruflichem zu trennen. An ihrem Wohnort versucht sie, möglichst wenig Kontakt zu den Nachbarinnen und Nachbarn zu haben, um ihre Privatsphäre zu wahren. Sie präferiert anonyme Shoppingmalls, um sich mit ihrer Familie dort zu vergnügen. Der Campus ihrer Universität stellt ihre berufliche Welt dar. Zwischen diesen Welten pendelt sie mit dem Auto, Taxi oder Shuttlebus.

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Tolga bevorzugt innerstädtische Wohngegenden, die ihm ermöglichen, seine Arbeit mit seinem restlichen Lebenswandel zu verbinden. Er geht gerne aus, mag aber keine langen Pendelwege. Eine entsprechende Nahverkehrsanbindung ist für ihn ausschlaggebend. Gleichzeitig bevorzugt er einen ruhigen, modernen Wohnort. Auch in seinen sozialen, nachbarschaftlichen Kontakten beschränkt sich Tolga auf das nötigste. Er vermeidet Abhängigkeitsstrukturen jeglicher Art. Trotzdem betreibt er strategische Kontaktpflege mit Personen, die ihm irgendwann noch einmal nützlich sein könnten. Er hat folglich eine sehr funktionale und gleichzeitig recht opportunistische Beziehung zum Ort und zu den Menschen seiner Nachbarschaft. Dass sich der Raum für ihn als transformativ darstellt, nimmt er eher als Chance und nicht als Gefahr wahr. Für ihn bietet die Stadterneuerung sogar finanzielle Gewinnmöglichkeiten. Nuran und Tolga ähneln sich in der Hinsicht, dass ihre sozialräumlichen Interaktionen ebenfalls stark von ihrer Alltagsgestaltung geprägt sind und sie somit wenig emotionalen Ortsbezug und wenig soziale Integration in kollektive Strukturen aufweisen. Im Gegensatz zu Tolga ist dies bei Nuran jedoch die Folge einer existenziellen Auseinandersetzung mit den Lebensanforderungen der Großstadt. Die ständige Raumtransformation und Stadterneuerung beansprucht sie dabei sehr, so dass sie in ihren alltäglichen Routinen darauf reagieren und ihren Lebenswandel entsprechend anpassen muss. Somit hat sie gar nicht die Möglichkeit, eigenständig etwas an diesem Zustand zu ändern. Im Gegensatz zu Tolgas hedonistischem Lebenswandel außerhalb seines Berufs bedeutet das Stadtleben für Nuran hauptsächlich persönlichen Verzicht – auch von gemeinschaftlichen Lebenszusammenhängen, die sie sich eigentlich wünschen würde. Gleichzeitig befindet sich Nuran in einer biografischen Passage: Sie plant, eine Ehe einzugehen und ihr Elternhaus endlich zu verlassen. Aus diesem Grund entdeckt sie auch rückblickend Gestaltungsmöglichkeiten im Kleinen und knüpft daran ihre Zukunftserwartungen. Eine dritte Gruppe sehe ich als gut integriert, relativ zufrieden und emotional verbunden mit ihrem Sozialraum, in erster Linie mit den Menschen vor Ort. Sie haben sich gut in ihrem Lebensraum eingerichtet, können sich mit den Menschen vor Ort identifizieren und pflegen familiäre und freundschaftliche Kontakte im Viertel. Zehra ist hier gewissermaßen ein Zwischenfall – denn der Sozialraum, den sie eigentlich beschreibt und der für sie relevant ist, befindet sich eine 20-minütige Autofahrt entfernt. Es handelt sich eben nicht um ihre direkte Nachbarschaft, sondern um die, in der sie einen Großteil ihrer Jugend und ihres jungen Erwachsenenlebens verbracht hat und wo nach wie vor ihre Eltern und andere Familienmitglieder leben. Sie berichtet zwar eher emotionslos von dieser Nachbarschaft, ihre soziale Integration wird aber trotzdem deutlich. Für Zehra stellt der Sozialraum in jedem Fall kein festes Gefüge dar – er ist wandelbar. So scheint sie der Stadterneuerung recht indifferent gegenüberzustehen, obwohl diese der Grund war, warum sie ihr Haus in T-Köy verlassen musste. Die Konstante ist für sie ihr soziales Netzwerk,

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vor allem bestehend aus ihrer Familie. Selbst wenn sie kein Fan des Lebens in der Großstadt ist, so hat sie sich doch gut in ihm eingerichtet. Teilweise genießt sie sogar den errungenen Abstand zu ihrer Familie, um mehr Qualitätszeit mit ihrer Tochter verbringen zu können – sei es in der Abgeschiedenheit ihrer gemeinsamen Wohnung oder im Auto, das sie nutzen, um zwischen T-Köy und U-Köy hin- und herzupendeln. Für Zehra ist der Aufenthalt von ihr und ihrer Familie in Istanbul schlicht an ihre Erwerbstätigkeit und die Ausbildung ihrer Tochter geknüpft. In ihrer Zukunft möchte sie sich neu verorten und würde ländliche Regionen bevorzugen: »Moreover, I don’t have any particular love for Istanbul that eh ties me to this place. I could come and go if necessary. Eh my mother, father, they are here. Well, at some point they are also/if it weren’t for us, they wouldn’t exert themselves to live in Istanbul. I believe they are here because of us. Eh I mean, wherever your friends, your pals are, wherever you feel comfortable, you ought to be living there. In terms of figures, this place does not eh suit me. Especially not after retirement. Eh I wouldn’t be able to live here. It’s not liveable.« (Transkript Zehra) Die mangelnde Bindung an die Stadt wird darüber hinaus noch von einer Kostenrechnung verstärkt: Zehra geht davon aus, dass sie sich ein angemessenes Leben in Istanbul nach ihrer Pensionierung gar nicht mehr leisten könne. Sie wäre buchstäblich nicht mehr in der Lage, dort zu leben. Somit sieht sie ihren Aufenthalt mit einem natürlichen Ablaufdatum versehen, das sie erst recht davor bewahrt, einen emotionalen Ortsbezug aufzubauen. Besonders zufrieden mit seinem Sozialraum scheint Yunus zu sein, ein alleinstehender Jurist Ende 30. Er zieht in den 1990er Jahren zum Studium aus Zypern nach Istanbul und entscheidet sich zu bleiben. Yunus gibt an, seit 20 Jahren in der gleichen Straße zu leben, in einem alteingesessenen Viertel der Istanbuler Mittelschicht auf der asiatischen Seite. Er beschreibt die Beziehungen zu seinen Nachbarinnen und Nachbarn als höflich bis freundschaftlich und schätzt den modernen Lebensstil, den er hier ausleben kann. Er betont besonders positiv, dass seine Nachbarinnen und Nachbarn keine »Newcomers« seien. Auf Nachfrage, was er damit meine, führt er aus: »Ehm, they are not new in Istanbul, they know the traditions of the big city, traditions of the Istanbul, eh they settled many many years ago. So eh it is eh more convenient. More easy to live eh between them. And I feel eh they are more close to my eh social lifestyle. It is the main reason. In some part of eh Istanbul eh people used to live as if they live in their old village. It is not eh up to me. It is eh more comfortable for me to live in this neighbourhood. […] Eh, maybe eh you are a student and your girlfriend came to your house to see you, eh in some parts of Istanbul it is a matter for your neighbours. ›Who is she? What she’s doing in your

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house?‹ Or if you buy eh to drink alcohol they don’t think that you are a decent person because you are drinking alcohol eh or your friends came and they say eh ›You made so crowd, you should not do that.‹ Eh, these kind of things I think.« (Transkript Yunus) Für Yunus scheint sich mit dem Umzug nach Istanbul ein Lebenstraum zu erfüllen, er berichtet von der Enge der Insel in seiner Kindheit, als die Grenzen geschlossen waren. In Istanbul findet er ein Leben voller Möglichkeiten. Gleichzeitig scheint sich in seiner Straße seit seiner Ankunft nicht viel verändert zu haben. Er profitiert also von der Großstadt und ihren Entfaltungsmöglichkeiten, ohne von einer Transformation in der direkten Nachbarschaft betroffen zu sein. In dieser herrscht nach wie vor ein freundschaftliches Verhältnis und Yunus erzählt von regelmäßigen geselligen Zusammenkünften zwischen ihm und seinen Nachbarn. Auch Vildan und Serdar gehören zu den Fällen, sie sich gut in ihrem Sozialraum eingerichtet haben und sich mit ihm identifizieren. Sie leben in einem modernen, progressiven Viertel, das von einer hauptsächlich politisch links orientierten Mittelschicht dominiert wird. Zusätzlich ist ihr Viertel von vielen Kneipen und Cafés geprägt. Vildan und Serder können sich mit den jungen Menschen, die diese aufsuchen, identifizieren, da sie selbst das Viertel seit ihrer Jugendzeit frequentieren. Vildan kommentiert das mit den Worten: »Yes, sure, because you have young people who are drinking, in the street, eh it might have been annoying somewhere else, but here you feel like ›Yeah, these are good kids‹ (lachen) ›It’s great that they are drinking‹« (Transkript Serdar und Vildan) Die Begrüßung des Alkoholkonsums mag hier auch ein deutliches Zeichen für, beziehungsweise gegen, einen Lebensstil sein: Es handelt sich um modern ausgerichtete, säkulare junge Menschen, oftmals Studierende, die einen freiheitlichen Lebenswandel pflegen. Diesem Lebenswandel fühlen auch Vildan und Serdar sich zugehörig – trotz der unterschiedlichen Prägungen, die sie durch ihre Elternhäuser erfahren haben. Vildan betont sogar, dass sie sich aufgrund der Tatsache, dass auf den Straßen auch nachts noch immer etwas los ist, sicherer fühlt: »I can walk alone and eh, I don’t even realize that it’s late, or/It’s good« (Transkript Serdar und Vildan). Einen besonderen Fall, den ich hier noch ausführen möchte, ist der von Çağrı. Sein Fall stellt eine Art Inseltypus dar. Zur Erinnerung: Çağrı ist ein alleinstehender Kieferorthopäde, der seine Praxis in einem eher sozial schwachen, konservativen Stadtteil hat. Seit etwa einem Jahr lebt er in einer frisch gebauten Projektanlage mit integriertem Outlet-Shoppingcenter und etwa 1.500 Wohnungen. Der Wohnbereich setzt sich aus einem kolossalen Halbkreis und mehreren Wohntürmen mit bis zu 26 Stockwerken zusammen. In einem dieser Wohnblöcke, mit beeindrucken-

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der Aussicht auf die eher niedrig bebaute Umgebung, wohnt Çağrı. Während unseres Treffens berichtet er von früheren Wohnerfahrungen in einer richtigen Nachbarschaft. Er störte sich an der sozialen Kontrolle seiner Nachbarinnen und Nachbarn und traf so die Entscheidung, in die Anonymität der Site zu ziehen. Er macht jedoch deutlich, dass er sich mit dem Ort und dem Konzept der Site nicht identifiziert: Er bemängelt die bauliche Substanz und findet das italienische Leitmotiv lächerlich und schlecht umgesetzt (Beobachtungsprotokoll Çağrı). Trotzdem ist seine Privatwohnung ein bedeutender Ort für ihn: »Sobald wir seine Wohnung erreicht haben, legt er aber diese negative Grundeinstellung ab. Hier scheint er zu Hause zu sein, kann seine Umgebung gestalten und machen, was er will.« (Beobachtungsprotokoll Çağrı) Çağrı scheint zwei unabhängig voneinander existierende Leben zu führen. In dem Leben als Kieferorthopäde ist er in der Nachbarschaft wohl bekannt und bedient die gängigen Reziprozitätsstrukturen. Als wir ihn aus seiner Praxis abholen, wird er an jeder Ecke von Personen auf der Straße gegrüßt, und er erzählt von gegenseitigen Gefälligkeiten zwischen ihm und den Anwohnenden. Sein Privatleben hingegen verbringt er in völliger Anonymität und Abgeschiedenheit von seinen Patientinnen und Patienten – er möchte noch nicht einmal, dass sie wissen, dass er hier wohnt. Er führt einen kosmopolitischen Lebensstil, interessiert sich für die Popkultur unterschiedlicher Weltregionen, reist viel und lädt gerne Freunde zu geselligen Abenden mit Rotwein und internationaler Küche ein. Sein Lebensstil führt besonders deutlich vor Augen, dass er sich an einem Ort aufhält, ohne dort zu leben. Sein privates Leben spielt nur innerhalb seiner eigenen vier Wände. Er distanziert sich in den Gesprächen nicht nur von den sonstigen Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils, da sie einer anderen sozialen Schicht angehören, sondern auch von der Bewohnerschaft der Site, ihren Geschäften, Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern, Kundinnen und Kunden. Er wohnt losgelöst von diesen möglichen nachbarschaftlichen Kontakten auf der Insel seiner Privatwohnung über den Dächern der Stadt. Zusammenfassend betrachtet ist für die sozialräumlichen Interaktionen maßgeblich, inwiefern sich die Interviewten mit ihrer eigenen Lebensführung im Viertel angenommen fühlen und welche Reaktionen sie darauf entwickeln. Das wird insbesondere bei den Unzufriedenen und Zurückgezogenen deutlich. Diejenigen, die keine Kompensationsmechanismen entwickeln können, werden frustriert. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lebenssituation wird auch der Umgang mit der rapiden Transformation der Umwelt noch einmal deutlich: Leyla, Çiğdem und Süleyman können nichts an ihren Glaubenssystemen und ihren Wertevorstellungen ändern. Für Leyla und Çiğdem bleibt damit nur der Wegzug – aber auch der gestaltet sich aufgrund mangelnder finanzieller Mittel herausfordernd. Für Süleyman kommt ein Wegzug nicht in Frage, würde er dann auch noch das letzte Stückchen Vergangenheitsbezug verlieren. Emine, Nuran und Tol-

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ga reagieren zweckmäßig auf ihre sozialräumliche Umwelt, passen ihren Lebensstil entsprechend an oder suchen sich alternative Räume. Sie haben sich Strategien zurechtgelegt, um mit ihren persönlichen Herausforderungen sowie den großstädtischen Lebensanforderungen zurechtzukommen. Zufriedenheit schafft insbesondere die eigene Identifikation mit dem Viertel und den Menschen, die es bewohnen. Sozialräumliche Interaktionen sind hier selbstverständlicher und alltäglicher, wie auch bei Zehra, Yunus, Vildan und Serdar. Und dabei muss es sich noch nicht einmal um nennenswerte emotionale Bezüge zur Nachbarschaft handeln. Darüber hinaus spiegeln sich in den hier aufgeführten sozialräumlichen Interaktionen selbstverständlich auch die biografischen Erfahrungen der Individuen wider. Yunus fühlt sich beispielsweise in der Großstadt so wohl, weil er die Enge, Abgeschiedenheit und Spannung seiner Heimatinsel Zypern als Kontrastfolie vor Augen hat. Süleyman kann nur um eine Gemeinschaft trauern, die er erst kennen gelernt und dann verloren hat. Vildan und Serdar erkennen in den jungen Leuten, die die Cafés und Bars ihres Viertels frequentieren, sich selbst in jungen Jahren wieder. Das Verhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird hier manifest. Im Anschluss an die beiden vorausgehenden Unterkapitel, die sich mit den biografischen Erfahrungen sozialräumlicher Integration und den gegenwärtigen sozialräumlichen Interaktionen beschäftigt haben, möchte ich nun das Typische beziehungsweise die übergeordnete Struktur dieser Sachverhalte darstellen. Dazu habe ich ein biografisch-bedingtes Ablaufmodell entwickelt.

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Ablaufmodell zum Umgang mit rapider Raumtransformation »[…] ›offene‹ Zugänge [setzen] auf wenige Einzelfälle, die aber in ihrer konkreten Fülle dokumentiert und auf ihre konstituierenden Prinzipien interpretiert werden, um so zu interessanten, d.h. theoretisch relevanten, Einsichten zu gelangen.« (Bude 2011: 60)

Dieses Prinzip der interpretativen Sozialforschung ist, wie in Kapitel 3. ausführlich beschrieben, auch für meine vorliegende Arbeit konstitutiv. Die Dokumentation und Interpretation der einzelnen Fälle sowie ihr Vergleich miteinander ist in den vorausgegangenen Kapiteln geschehen. Nun komme ich zu der nächsten Anforderung, die an interpretative Studien gestellt wird: nämlich, »das Ganze auf den Punkt einer verstehenden Deutung oder eines erklärenden Zusammenhangs [zu] bringen« (Bude 2011: 60) beziehungsweise die »typische Struktur eines sozialen Sachverhalts« (Bude 2011: 61) darzustellen. Im Rahmen der Fallanalysen und -vergleiche hat sich erwiesen, dass sich das Typische der vorliegenden Untersuchungsergebnisse am besten durch die Rekon-

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struktion eines Ablaufmodells nachweisen lässt, das typische Reaktionen, Stadien und Mechanismen der untersuchten Gruppe im Umgang mit rapider Raumtransformation offenlegt. Denn im Rahmen meiner Untersuchung wurde deutlich, dass die rapide Raumtransformation im Leben aller Interviewten eine Rolle spielte. Wichtige Unterschiede fanden sich im Ausmaß der Bedeutung und dementsprechend auch in den Reaktionen und Bewältigungsstrategien auf die Lebensanforderungen, die eine rapide Urbanisierung und Raumtransformation mit sich bringt. Obwohl ich beispielsweise das Thema Stadterneuerung, als der wichtigste Faktor für die erlebte Raumtransformation, in den Interviews nie direkt in den Fragen angesprochen hatte, wurde das Thema doch von jeder Interviewperson in irgendeiner Art und Weise aufgegriffen. Es kam in der Regel immer zu einer Aushandlung der Problematik und der eigenen Betroffenheit, der Erörterung von Ursachen und Handlungsmöglichkeiten sowie zum Entwurf von Bewältigungsstrategien und Kompensationsmechanismen. All diese Punkte sind selbstverständlich durch die biografischen Erfahrungen und die derzeitige Lebenssituationen der Untersuchungspersonen bedingt. Im Folgenden stelle ich das aus den Interviews entwickelte Ablaufmodell ausführlicher vor. An erster Stelle steht die Aushandlung der Problematik und der eigenen Betroffenheit. Die Aushandlung der Problematik und der eigenen Betroffenheit durch rapide Raumtransformation zeigt sich insbesondere in einem einfachen Prinzip: der Vorstellung »Früher war alles besser«. So reagieren die meisten Interviewten mit einer Verlustorientierung, die sich in der Gegenüberstellung früherer und heutiger Lebensrealitäten äußert, oder in Beschreibungen, wie bestimmte lebensnotwendige Räume zerstört werden. Die Verlustorientierung reicht von einer Art diffuser Nostalgie über das tatsächliche Empfinden des Werteverfalls. Eine lose Verlustorientierung im Sinne einer Nostalgie findet sich beispielsweise bei Emine, die die Meinung präsentiert: »When we were children, İstanbul was a better city. It was more beautiful.« (Transkript Emine). Sie bezieht sich dabei aber vor allem auf die gebaute Umwelt, wie die »sweet houses« (ebd.), die im Zuge der Modernisierungsbemühungen verloren gehen. Gleichzeitig ist sie in ihrer Verlustorientierung inkonsistent, da sie ebenfalls eine moderne, neugebaute und erdbebensichere Wohnung bevorzugt. Nichtsdestotrotz ist sie davon überzeugt, dass das Leben früher besser gewesen ist, und lehnt die derzeitige Stadtentwicklung ab. Tiefgreifendere Verlustorientierungen finden sich bei Süleyman und Leyla, die vor allem auf verlorengegangene soziale Zusammenhänge und Werte eingehen. Beide machen dies an veränderten Umgangsformen fest, die sie beobachten. Interessanterweise führen beide die gleiche hypothetische Geschichte an: Man könne seine Nachbarinnen und Nachbarn nicht mehr nach Salz fragen (Transkript Leyla; Transkript Süleyman). Es fehle also jegliche Voraussetzung für Hilfsbereitschaft, die für ihr Aufwachsen im urbanen Dorf so bedeutungsvoll gewesen ist.

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Der Verlust der alltäglichen nachbarschaftlichen Kontakte wird von beiden sehr stark bedauert. Leyla ist während der Periode, in der sie im Stadtzentrum wohnt, entsetzt von der Anonymität und Ignoranz der Nachbarschaft. Süleyman bedauert, dass sich die Mitglieder der Nachbarschaft nicht mehr gegenseitig besuchen würden, es kaum noch öffentliche Plätze zum Zusammenkommen gebe und somit die Nachbarinnen und Nachbarn im Leben der anderen keine Rolle mehr spielten. In diesem Rahmen setzt er sich insbesondere mit der Tatsache auseinander, dass die Sozialisationsleistung der Nachbarschaft für seine eigenen Kinder wegfällt. Somit wären sie nicht mehr in der Lage, die konstitutionellen Elemente einer sozialen Nachbarschaft zu lernen, wie Hilfsbereitschaft, Solidarität, Vertrauen, gegenseitigen Respekt, Güte, Freundlichkeit und Empathie, die sie insgesamt zu einer vollwertigen Persönlichkeit werden ließen. Aufgrund ihrer hohen Verlustorientierungen sind Leyla und Süleyman gewissermaßen gefangen in der Vergangenheit. Süleyman schaut pessimistisch in die Zukunft, da er die gesamte Nation von einem Werteverfall betroffen sieht. Er versucht, indem er seinem Wohnort treu bleibt, mit der Vergangenheit in Verbindung zu bleiben und übt eine generelle Modernisierungskritik: »And people call it a modernization. It’s not a modernization. (.) Yes, you can modernize yourself but you have to, you you shouldn’t forget about your values.« (Transkript Süleyman) Leyla ist für sich selbst zum Schluss gekommen, dass es den Ort, den sie als Kind kennengelernt hat, nicht mehr gibt und auch nie wiedergeben wird: »Actually after thirty years of a very ordinary life (lacht)/it seems that we’ve come to know Istanbul gradually, during the stages afterwards. I mean, the place we’d been living wasn’t Istanbul, we’ve come to know that.« (Transkript Leyla) Viele der Interviewten sehen die sozialen Räume der Nachbarschaft und Räume, die zur Lebensqualität beitragen, wie Grünanlagen und freie Plätze (vgl. Nuran), in ihrer unmittelbaren Umwelt verschwinden. Sie teilen in der Regel die Ablehnung gegenüber Stadterneuerungsprojekten, die die etablierte Ordnung gefährden. Diese Ablehnung ist dabei auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: Die basalste Form der Ablehnung ist die von einzelnen Projekten, allen voran von großflächig angelegten Stadterneuerungsprojekten wie jenes in Fikirtepe (Kadıköy), für das eine Großzahl an Gecekondus aufgelöst wurde. Diese Ablehnung seitens der Interviewpartnerinnen und -partner baut aber nicht nur auf eigenen Erfahrungen auf, sondern ist von einem übergeordneten, öffentlichen Diskurs geprägt. Insbesondere findet sich diese Thematik bei Yunus und Tolga wieder: »Eh but there are some areas, for example in Fikirtepe, they are building new eh buildings, new towers, eh if the change is huge, eh I think it changes the people

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who lives there. Eh it changes the demographic eh situation of the city. Eh they are building new towers and it is very expensive buildings eh the old eh owners of the, eh these area prefer to go other places and the new ones, the newcomers are the more eh wealthy people.« (Transkript Yunus)   »But again, like those Fikirtepe, Kuştepe or eh Feriköy, they just demolish all those Gecekondus and they are making huge huge huge projects. And those guys will not be able to live in those projects because they will not (.) feel comfortable living there and they will not be able to afford the monthly payments. (.) They will sell out and move to different neighbourhoods.« (Transkript Tolga) Da die Reproduktion sozialer Ungleichheiten in diesen Fällen frappierend ist, bleibt auch bei Yunus und Tolga, die persönlich nicht von dieser Problematik tangiert sind, nur die Ablehnung solcher Stadterneuerungsprojekte, die für die krasse Umwälzung der Siedlungsstrukturen stehen. Eine weitere Form der Ablehnung ist jene, die Form und Geschmack der neuen Raumtypen betrifft. Für Emine sind die neuen Gebäude zu hoch, so dass sie sich eingesperrt fühlt, während Özgür die gängige Architektur geschmacklos findet. Und selbst Çağrı distanziert sich von der schlechten Qualität und der mangelnden architektonisch-stilistischen Umsetzung seiner Wohnanlage. Den meisten Beschreibungen von Raumtransformationsprozessen ist gemein, dass sie die Masse und Geschwindigkeit ablehnen – die Veränderungen sind schlicht zu viele und passieren zu schnell. Insbesondere in Nurans Fall wird die Überforderung mit dieser rapiden Transformation deutlich: Sie hat das Gefühl, dass in ihrer Nachbarschaft jeden Tag ein neues Haus fertiggestellt wird. Eine andere Stelle, die die Überforderung durch diesen schnellen Wandel besonders illustrativ nachzeichnet, findet sich im Interview mit Serdar. Er erzählt, wie er nach der Rückkehr von einem Auslandsaufenthalt von etwa anderthalb Jahren sein eigenes Elternhaus, in dem er geboren und aufgewachsen ist, nicht mehr wiederfinden kann: »The strange thing, I remember, I was, I came to, I came from Paris, I stayed there just eh, one and a half year, it was something like, exact nineteen months, something like that. Eh, when I ca-, when I first came to [V-Köy], I couldn’t find the, the spot that, I mean, the, the house we were living.« (Transkript Serdar und Vildan) Die Nachbarschaft hatte sich so rasant gewandelt, dass sie Serdar zum Fremden in seiner eigenen Heimat gemacht hat. Dieser Prozess der Entfremdung, der auch im übertragenen Sinne gilt, ist zentral für die Frage nach dem Umgang mit einer rapiden Raumtransformation, so dass ich im Kapitel 6.3 noch einmal darauf zurückkommen werde.

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Obgleich viele der Interviewpersonen solche ablehnende Haltungen gegenüber Stadterneuerung und nachbarschaftlichem Wandel präsentieren, distanzieren sie sich von Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten. Aktivismus entsteht bei vielen von ihnen nicht. Sie bleiben passiv, sind sie doch der Meinung, ohnehin nichts ändern zu können. Des Weiteren kommen im Ablaufmodell die Erörterung der Ursachen und Handlungsmöglichkeiten zum Tragen. Bezüglich der Erörterung der Problemursachen wird deutlich: in der Regel werden sie außerhalb des eigenen Handlungs- und Verantwortungsbereiches gesehen. Es kommt zu einer Externalisierung, also einem Abwälzen und einer Verlagerung der Ursachen, in der sich zeigt, dass die Interviewten sich nicht in der Verantwortung und auch ohne Handlungsmöglichkeiten sehen. Die Themen Stadterneuerung und Raumtransformation werden in erster Linie als Teil einer größeren Entwicklung wahrgenommen, die vom einzelnen Individuum nicht beeinflussbar zu sein scheint. Nicht man selbst, sondern andere Personengruppen und entscheidungstragende Institutionen sind für den rapiden Wandel verantwortlich – auch wenn neumodische Apartmentanlagen ja gerade für die hier untersuchte Zielgruppe gebaut werden. Die Interviewten nehmen sich selbst aus der aktuellen Entwicklung heraus: Sie erkennen sich selbst nicht als Teil des Problems – auch wenn ihre Großeltern, Eltern oder sie selbst einmal Einwanderinnen und Einwanderer der Stadt gewesen sind und die meisten der Interviewten vom modernen Wohnungsbau profitiert haben oder immer noch davon profitieren. Dabei werden nicht nur die Problemursachen externalisiert, sondern auch Schuldzuweisungen und Verantwortliche werden genannt. Die Interviewten scheinen ihr eigenes Aufenthaltsrecht in der Stadt aber nicht zu hinterfragen – im Gegensatz zum Aufenthaltsrecht der neuen Migrantinnen und Migranten. Den Zuzug von weiteren in- und ausländischen Personengruppen sehen die Interviewten oftmals als kritisch und als Teil der Problemursache. Sie selbst haben die biografische Erfahrung gemacht, dass der Boden der Stadt wertvoll und begrenzt ist – nun möchten sie ihn nicht noch weiter teilen müssen. Emine geht beispielsweise auf die inländische Migrationsthematik ein: »The problem of Turkey is, people can find jobs, ehm, more easily at İstanbul only. If (.) ehm, job chances are given to people at the eastern side, I’m sure that they wouldn’t co- try to come here. Eh, so our mistake/our country’s mistake is this, I think. Ehm, (.) in order to, ehm, if people to/eh wi- continue to come to İstanbul, then these constructions will continue.« (Transkript Emine) In diesem Sinne handelt es sich eigentlich um keine neue Entwicklung – auch Emines Eltern sind schon mit dem Versprechen auf wirtschaftliche Verbesserung in die Stadt gekommen. Jedoch sieht sie deren Migration nicht als kritisch an. Emine fühlt aber, dass die Stadt nun an ihre Grenzen stößt – so kritisiert sie beispielswei-

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se, dass neues Land am Meeresufer aufgeschüttet wird, um mehr Platz für Bauvorhaben zu schaffen. Nuran geht ebenfalls auf eine empfundene Migrationsproblematik ein, jedoch bezieht sie sich größtenteils auf ausländische Gruppen, die nicht nur zur Expansion der Stadt, sondern ebenso zum Kultur- und Wertefall sowie zur Preissteigerung für Immobilien beitragen: »But we, we have a problem, you know, emigration problem. That too many eh foreign people even they HAD to come here and it’s kind of you know political problems.« (Transkript Nuran)   »It’s not if if I want to think to buy, really with this salary I cannot buy. I even have to work not twenty years, thirty years, it’s it’s really eh unreasonable prices because of this immigration eh there like Syrians came here and then ehm some of them were rich Syrians, so they eh made rise these real estate market too much, too much really.« (Ebd.) Çiğdem macht gleichfalls reiche Syrer und »islamic capital« für diese Entwicklung verantwortlich. Ein weiterer externer Grund, insbesondere für die vielfältigen Modernisierungsmaßnahmen, stellt die Erdbebengefahr dar. Diese Gefahr ist zum einen sehr konkret, da Expertinnen und Experten seit langem vor ihr warnen, und gleichsam abstrakt, da sie doch nicht gänzlich vorhersehbar ist. Zusätzlich scheint der administrative Umgang mit dieser Gefahr seitens der Behörden und der Regierung widersprüchlich. So bemängeln beispielsweise Süleyman und Özgür, dass die Regierung durch rigorose Durchmodernisierung einerseits die Stadt erdbebensicher machen will, andererseits aber keine Zufluchtsorte mehr für Notfälle lässt. Auch Emine sieht die Erdbebengefahr als virulent, die sich durch etwaige Bauvorhaben sogar noch verschlimmern könnte: »All of the sea shore new buildings. They are, ehm, they were sea in the past. They made, they put earth to it and afterwards they made these buildings. But if an earthquake comes what will be? Too many buildings they/Nature takes it back, it’s properties back. We have lived this thing at Gölcük, at the earthquake. Buildings were drawn into the sea. (.)« (Transkript Emine) Hier wird ihre Sorge vor der übermächtigen Natur deutlich, die zurückfordert, was ihr gehört. Im Endeffekt sei man also einer unkontrollierbaren Kraft unterworfen, mit der man nicht leichtes Spiel treiben solle. Diese Externalisierungsmechanismen führen im Umkehrschluss dazu, dass sich die interviewten Personen nicht handlungsmächtig fühlen, um das »Problem« selbst zu bekämpfen. So blicken sie resignierend auf die um sie herum stattfindenden Entwicklungen, wie in vielen Fällen deutlich wird:

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»If you ask me, ›[Süleyman], what are you doing to change this?‹ I don’t know. Maybe I do nothing.« (Transkript Süleyman)   »I’m unhappy about the changes going on, unfortunately. Eh, but we can do nothing.« (Transkript Emine)   »One day kentsel dönüşüm will eventually come to our place and even if we do not want it, the government will make us to do it.« (Transkript Tolga) Nicht einmal Süleyman, dessen Familie eigenständig mit dem Bau eines Apartmenthauses zur Transformation der Siedlungsstrukturen beigetragen hat, fühlt sich in der Lage, diesem Prozess irgendetwas entgegenzusetzen. Er sieht seinen Handlungsspielraum alleine auf seine Kernfamilie beschränkt. Gleiches gilt für Tolga, der einen recht opportunistischen Umgang mit Stadterneuerung pflegt, und trotzdem zu wissen meint, dass die endgültige Handlungsmacht nicht bei ihm liegt. Im gleichen Zug wird die Handlungsmacht bei der Regierung verortet, manchmal als Personifizierung in Recep Tayip Erdoğan (von Tolga) oder auch etwas diffuser bei den »authorized people« (Transkript Nuran). Mit der Externalisierung der Problemursachen geht gleichzeitig die eigene Distanzierung zum Phänomen einher – man selbst hat damit nichts zu tun und kann nichts dafür. Schließlich möchte ich als dritten Punkt die Bewältigungsstrategien und Kompensationsmechanismen beschreiben, in denen der Umgang mit rapider Raumtransformationen Ausdruck findet. Durch die eigene empfundene Handlungsohnmächtigkeit und die externen Problemursachen scheint sich die Überzeugung unter den Untersuchungspersonen verbreitet zu haben, dass jeglicher Widerstand gegen die rapide Raumtransformation zwecklos ist. Allein der Versuch des Widerstands wird dabei von den meisten von vornherein unterlassen. Wie gesagt, ist das Verhältnis bei vielen ohnehin ambivalent – haben sie doch selbst zur Transformation der Siedlungsstruktur beigetragen oder profitieren in der einen oder anderen Art vom modernen Wohnungsbau. Allein Leylas Familie scheint sich den Modernisierungsprozessen widersetzt zu haben. Zunächst versuchen sie und ihre Familie, ihr Elternhaus mit Garten in dem sich transformierenden Ankunftsviertel zu erhalten. Schlussendlich geht es jedoch ebenfalls im Apartmenthäusermeer unter – die genauen Umstände gibt sie im Interview leider nicht preis. Auch ihre zweite Wohnung, die sie mit ihrer Mutter nach deren Scheidung vom Vater bezieht, fällt der Stadterneuerung zum Opfer. Trotz der Vorbehalte, die sie und ihre Mutter gegen den Bauherrn äußern, einigt sich die Mehrheit der Hausgemeinschaft darauf, ihn zu beauftragen. Dabei befällt Leyla und ihre Mutter ein Schicksal, mit dem sich vor allem sozial besonders schwache und vulnerable Gruppen in der Stadt oftmals konfrontiert sehen: Der Baufirma gehen die finanziellen Mittel aus und zur Zeit des Interviews stehen die beiden ohne eigene Wohnung da. Ihr Widerstand war also

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

nicht nur zwecklos, er hat sie auch nicht vor einem größeren Unglück bewahren können. Es bleibt den Personen also nur die Möglichkeit, sich bestmöglich an die herrschende Situation, das anforderungsvolle Leben in der rasant wachsenden Großstadt, anzupassen. Die entworfenen Bewältigungsstrategien und Kompensationsmechanismen zeugen dabei von einer Resilienz der hier untersuchten Gruppe, die andere Gruppen vielleicht nicht haben. Dabei können ständig neue Herausforderungen auftreten – nichts ist in der fluiden Stadt festgesetzt. Viele Räume unterliegen ständiger Transformation, was die Personen mit einer gewissen Unplanbarkeit zurücklässt. Darüber hinaus empfinden die meisten auch die politische Situation, die sich in der Stadtproduktion widerspiegelt, als verunsichernd. Auf der Suche nach festen Strukturen und Sicherheiten wird das Alltagsleben entsprechend gestaltet. Die fehlende Konstanz wird dabei in der Kernfamilie, in der privaten Wohnung oder auch auf der Arbeitsstelle gesucht. Im stressigen Großstadtalltag spielen beispielsweise die Großmütter eine bedeutende Rolle bei der Kinderbetreuung. Gleichzeitig bietet die Privatwohnung einen wichtigen Anker und Rückzugsort. Eine durchgeplante Wohnanlage kann gleichsam Stabilität und Konsistenz schaffen. Genauso unerlässlich sind auch alltägliche Routinen, die Halt und Orientierung geben. Dies wird in Nurans Fall besonders deutlich, aber auch Süleyman beschreibt diese unabkömmlichen Routinen recht eindrücklich – auch wenn sie in beiden Fällen wenig Platz für Sonstiges lassen: »I mean, life is becoming very boring because of these urbanization makes you, you know, really – I mean, eh, busy, […] for example, my ordinary week, for example, for five days I’m working from eight o’clock in the morning til five – five thirty, but because of my responsible, cause I’m not going to leave at five – five thirty […]. Sometimes eight o’clock, sometimes 6 o’clock, and when I come back, most probably I’m tired, I’m dealing with, you know, my son and daughter, their home(work?), whatsoever, but mainly my wife is dealing with that. So, somehow I’m the, eh, eh, foreign ministry, foreign minister of the family. And my wife is the interior minister of the family (I lacht) and we are just dealing with daily routines during the five days.« (Transkript Süleyman) Eine besonders schwere Alltagsanforderung ist dabei der Verkehr, der alle Familienmitglieder betrifft. Er wird zum Problem auf dem Weg zur Arbeitsstelle, zur Schule, zu Freizeiteinrichtungen, zur Familie oder auch zum Einkaufen. Selten befinden sich beispielsweise die private Wohnung, die Arbeitsstelle der Eltern und die Schule der Kinder am gleichen Ort, so dass immer jemand aus der Familie längere Zeit pendeln muss. Die Wahl des Wohnortes ist somit oft eine strategische, die auf diese Anforderungen reagiert – auch wenn man dafür andere Abstriche machen muss, wie Emine deutlich macht:

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

»I have to be next to my eh, job, so that’s why we are here. The most important advantage is really this one. But, I can’t say that I love too many properties of it, these are the summary.« (Transkript Emine) Alle Interviewten berichten von Pendelerfahrungen – zum Großteil haben sie sie selbst bereits zur Schul- und Ausbildungszeit gemacht. Die Auswirkungen auf die Psyche und das Wohlbefinden wird von vielen thematisiert. Nuran spricht davon, sich ihre »mind health« zu bewahren, Emine berichtet von Wutgefühlen und Angst, die sie beim Pendeln verspürt und Leyla von Belästigungen. Die Wahl des geeigneten Verkehrsmittels ist dabei eine kritische. Im besten Fall hat man die Möglichkeit, auf das eigene Auto zurückzugreifen, wie beispielsweise Zehra: »A car is essential. A car, yes, once you have a car everywhere is close.« (Transkript Zehra). Eine Zeitersparnis hat man selbst dadurch jedoch nur selten. Eine besondere Herausforderung für die Alltagsorganisation ist der Verlust von Wohnungen im Zuge von Stadterneuerungsprojekten. Als Zehras Wohnhaus im Rahmen der Erdbebenvorsorge abgerissen wird, kann sie sich keine neue Mietswohnung in ihrer alten Nachbarschaft mehr leisten und zieht zusammen mit ihrer Tochter in ein benachbartes Viertel. Sie arrangiert sich aber mit der neu geschaffenen Tatsache und schaut nicht mit Enttäuschung zurück. Zu ihrem Vorteil kann sie auf ein Auto zurückgreifen, das ihre alte mit ihrer neuen Nachbarschaft verbindet, im Gegensatz zu Leyla, die im Rahmen der fehlgeschlagenen Modernisierung ihres Wohnhauses ohne geeigneten Rückzugsort verbleibt. Für sie stellen sich mit dem Umzug in eine Nachbarschaft, die von religiös-konservativen Bewohnerinnen und Bewohnern geprägt ist, ganz neue alltägliche Herausforderungen. Die Anforderungen des Großstadtlebens sind mannigfaltig. Viele materialisieren sich insbesondere in den Portraitkapiteln. Denn in der jeweiligen Fallrekonstruktion sind sie in der Regel immer noch am besten nachvollziehbar. Mit größeren sozialen oder finanziellen Ressourcen ist die Anpassung der Alltagsorganisation selbstverständlich einfacher zu gewährleisten. Aber auch die schlichte Unterlassung bestimmter Aktivitäten kann einen Anpassungsmechanismus darstellen – wie sich bei Nuran zeigt, die sich kaum noch traut, mit ihren Freundinnen und Freunden auszugehen. Gleichzeitig scheinen diese Bewältigungsstrategien nur für den Moment zu gelten – viele der Interviewten sehen ihre Zukunft nicht in der Großstadt Istanbul und ihren Aufenthalt hier nur an den eigenen Beruf oder die Ausbildung der Kinder geknüpft (siehe Kap. 5.2). Als langfristige Lösung der großstädtischen Probleme scheinen viele die schlichte Flucht aus der Stadt in Betracht zu ziehen. Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass keine der hier beschriebenen Lebenswelten frei von Raumtransformationseinflüssen ist. Die untersuchten Personen empfinden, dass sie in Bezug auf die rigorose Stadterneuerung keine Handlungsautonomie haben – auch wenn sie zum Teil von ihr im Rahmen ihres sozialen

5. Stadterneuerung als soziale Aufstiegsmöglichkeit oder kollektive Verlaufskurve?

Aufstiegs profitiert haben. Sie können den Wandel nicht aufhalten, sondern müssen sich irgendwie mit ihm abfinden. Hier findet sich ein verlaufskurvenförmiger Aspekt wieder. Dabei wird aber deutlich, dass die jeweiligen Individuen recht resilient auf die erlebten Veränderungen reagieren. Sie entwickeln Bewältigungsstrategien und bilden Kompensationsmechanismen aus. Doch was bedeutet diese Erkenntnis im Umkehrschluss für die Stadt und für die Räume, die in ihr konstituiert werden? Das dargestellte biografisch-bedingte Ablaufmodell im Umgang mit rapider Raumtransformation hat Auswirkungen darauf, wie und welche Räume heute in der Großstadt eine wichtige Rolle spielen. Individuen können nicht mehr nur einem Raum oder einem Ort zugeordnet werden. Alte Räume gehen verloren oder verändern ihre Funktion, neue treten an ihre Stelle, und sie bilden das Grundgerüst des sozialen Zusammenlebens in der Großstadt. Darüber hinaus verändert sich ihre Zeitlichkeit. Räume strukturieren die soziale Ordnung. Dabei hat die Art und Weise der Raumkonstitution immer auch etwas mit den biografischen Erfahrungen zu tun. Diesen Punkten werde ich im folgenden Kapitel nachgehen.

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6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

Wie in Kapitel 3. zu Methodologie und Forschungsprozess aufgeführt, stand am Anfang dieser Arbeit ein relativ klassisches Forschungsinteresse der Siedlungssoziologie, nämlich: Welchen Einfluss haben Siedlungsstrukturen und -formen auf soziale Ordnung und Lebenswelten? Laut Martina Löw stellt die Siedlungssoziologie um Bernd Hamm (1982) den ersten Versuch eines Perspektivwechsels dar, der Raum und Handeln nicht mehr zwei verschiedenen Realitäten zuordnet, sondern »Raum aus der Wechselwirkung zwischen Struktur und Handeln [ableitet]« (Löw 2001: 53). Löw entwickelt diesen Versuch in ihrer Monographie »Raumsoziologie« von 2001 weiter und legt ein Forschungsprogramm sowie eine wegweisende Rahmentheorie für raumbezogene Sozialforschung vor. Aus diesem Grund stütze ich mich in diesem Kapitel auf die Raumsoziologie Löws, da sie zum besseren Verständnis der Raumkonstitution im biografischen Verlauf der Interviewpartnerinnen und -partner beiträgt. Nach Löw ist Raum eine »relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten« (ebd.: 224, Herv. i.O.). Raum existiert in dieser Vorstellung also nicht einfach, beispielsweise als vorgegebener Container, den man sich nur noch aneignen muss, sondern er wird erst durch soziale Prozesse und individuelle Erfahrungen aus unterschiedlichen Elementen, ihrer Strukturierung und Anordnung hergestellt. Löw spricht im Rahmen dieses Prozesses von Spacing und Syntheseleistung, die beide wiederum von der Handlungssituation abhängig sind. Die Syntheseleistung meint dabei »Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse« (ebd.: 225, Herv. i.O.), über die soziale (vor allem materielle) Güter und Lebewesen zu Räumen zusammengefasst werden. Diese Syntheseleistung, oder Verknüpfungsleistung, wie Löw sie auch nennt, ist in der Regel durch die soziale Prägung des Individuums vorstrukturiert. In diesem Sinne bekommen die Sozialisation, Biografie und die soziale Position in der Raumkonstitution besondere Rollen zugesprochen. Und nicht nur aus diesem Grund ist es möglich, dass an einem Ort mehrere Räume konstituiert werden können. Das Spacing meint das »Platzieren sozialer Güter und Lebewesen bzw. das Sich-Platzieren derselben, das Bauen, Errichten oder Vermes-

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

sen, auch das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen« (ebd.). Darüber hinaus betont Löw das strukturbildende und -reproduzierende Moment von Räumen. Räume können sich beispielsweise durch alltägliche Routinen und Wiederholungen institutionalisieren: »Bahnhöfe in ganz Deutschland gleichen sich […]. Auch in Fußgängerzonen in ganz Deutschland wiederholen sich die immer gleichen (An)Ordnungen. […] Im Supermarkt zum Beispiel sind die (An)Ordnungen der Regale zueinander, die Platzierung der Güter im Verhältnis zu anderen Gütern, die Wege der Menschen um die Regale herum, die (An)Ordnung der Kassen, der Einkaufswagen und die obligatorische Schranke am Eingang institutionalisiert.« (Ebd.:162) Die Strukturen und Regeln, die in institutionalisierten Räumen eingelagert sind, sind dabei als gesellschaftliche Strukturen zu verstehen, und das Räumliche soll nicht vom Gesellschaftlichen abgegrenzt werden. Löw argumentiert in diesem Zusammenhang, dass räumliche Strukturen, wie jede andere Form von Strukturen auch, im Handeln verwirklicht werden müssen, gleichzeitig aber auch das Handeln strukturieren – sie ermöglichen Handeln und schränken Handlungsmöglichkeiten ein (ebd.: 226). Hier ist wieder das Zusammenspiel von Spacing und Syntheseleistung zu beobachten: »Von räumlichen Strukturen kann man sprechen, wenn die Konstitution von Räumen, das heißt entweder Anordnung von Gütern bzw. Menschen oder die Synthese von Gütern bzw. Menschen zu Räumen (das Wiedererkennen, Verknüpfen und Erspüren von (An)Ordnungen), in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist, welche unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert sind. Neben politischen, ökonomischen, rechtlichen etc. Strukturen existieren demnach auch räumliche (und zeitliche) Strukturen, sie gemeinsam bilden die gesellschaftliche Struktur.« (Ebd.: 171, Herv. i.O.) Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, sind biografische Erfahrungen von großer Bedeutung bei der Konstitution von Räumen. In diesem Sinne fungiert dieses Kapitel als Fortsetzung des vorausgegangenen. Hier zeigt sich die besondere Relevanz der Raumsoziologie für mein Forschungsinteresse: Inwiefern schränkt beispielsweise die Transformation der Nachbarschaft das Handeln der Betroffenen ein? Und welche neuen Handlungsmöglichkeiten werden durch die Konstitution von neuen Räumen jenseits der Nachbarschaft eröffnet? Wodurch zeichnen sich diese Räume aus? Und vor allen Dingen: Welche Rolle spielen biografische Erfahrungen im Prozess der Raumkonstitution? Ich verfolge mit diesem Kapitel außerdem das Ziel aufzuzeigen, wie fruchtbar die Zusammenführung eines biografietheoretischen Ansatzes mit der Raumsoziologie ist. Untenstehend finden sich also eine Reihe von Beispielen, die diese theoretischen Ausführungen veranschau-

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

lichen. Besonders bedeutsam ist dabei die strukturbildende Funktion von Räumen und ihr Beitrag zur Etablierung und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung. Ich werde dies verkürzt als die soziale Funktion von Räumen darstellen. Denn das bearbeitete Material zeigt in sehr spannender Weise, wie sich nicht nur Räume verändern, sondern auch ihre sozialen Funktionen.

6.1

Der verlorene Raum »Nachbarschaft«? – Mahalle und Site

Im Rahmen der Debatte um ein wissenschaftliches Konzept der islamischen Stadt ist es oftmals die besondere Beschaffenheit der städtischen Nachbarschaften, die als bedeutendes Charakteristikum herangezogen wird (Becker 2017: 105ff.). Auch wenn mittlerweile weitläufig Einigkeit darüber besteht, dass die islamische Stadt nicht existiert und dass das Konzept eine Erfindung europäischer Orientalisten des 20. Jahrhunderts war (Lanz 2013: 301ff.), so diskutiert selbst Janet Abu-Lughod, dass das osmanische Regime einen langwährenden Einfluss auf das städtische Leben genommen hat: »Furthermore, the frequent inability of the state to transcend communal organizations and the laissez-faire attitude of the state toward civil society left important functions to other units of social organization which strengthened them. Since many of these functions were vicinal ones (maintaining streets and utilities, guarding turf, providing lighting, supervising and sanctioning behavior etc.), and since vicinal units were composed of socially related people, what we would call the neighborhood became a crucial building block of cities in the Arab world during medieval and even later times.« (Abu-Lughod 1987: 162f.) Diese Bedeutung der Nachbarschaften hinsichtlich einer rapiden und ungesteuerten Urbanisierung setzt sich selbstverständlich in der Geschichte der türkischen Republik ab 1950 fort, wie ich in Kapitel 2. ausführlich diskutiert habe. Es ist aber insbesondere der historische Mythos um islamische Nachbarschaften mitsamt den existierenden Vorurteilen, der auch heute noch das Idealbild einer sozialen Nachbarschaft prägt. Ganz zentral manifestiert sich das in der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Mahalles, wie ich im Folgenden darstellen werde. Die biografische Herangehensweise in dieser Arbeit ermöglicht eine gewisse diachrone Perspektive (vgl. Nittel 2009: 104) auf den Raum Nachbarschaft einzunehmen, wie er von den Interviewpartnerinnen und -partnern im biografischen Verlauf konstituiert wird. Durch die diversen Alltagsanpassungen im Zuge von Raumtransformationen entstehen neue beziehungsweise andere Räume, während alte aufgelöst oder ihre Funktionen neu verortet werden. Hier zeigt sich also die besondere Dialektik zwischen Raum, Handeln und Biografie.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

In diesem Sinne kann auch der Nachbarschaftsraum nicht grundsätzlich festgeschrieben und definiert werden – wird er doch von den Interviewten stets aufs Neue im biografischen Verlauf konstituiert. Darüber hinaus kann er sich im Fallvergleich durchaus ganz unterschiedlich präsentieren. Wie Räume allgemein, ist auch die Nachbarschaft als relational zu betrachten. Aus diesem Grund habe ich bei der Forschung stets vermieden, diesen Raum wie einen Container näher einzugrenzen oder vorzugeben. Die Interviewpartnerinnen und -partner sollten selbst überlegen und entscheiden, was für sie eigentlich die Nachbarschaft ausmacht. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Begriff Nachbarschaft treten, wie in Kapitel 3.5 beschrieben, gewisse Synergieeffekte durch den mehrsprachigen Kontext auf, in dem die Forschung stattfand. Dabei macht es oftmals einen sinnhaften Unterschied, ob die Interviewpersonen von einer »neighbourhood«, einem »mahalle« oder einer »site« sprechen. Der Begriff »neighbourhood«, den ich mit Nachbarschaft übersetze, bezieht sich in der Regel eher auf einen Ort, beziehungsweise eine geographische Einheit, wobei mit den Begriffen Mahalle und Site besondere Qualitäten der räumlichen und sozialen Strukturen verbunden sind. Aus diesem Grund übernehme ich die beiden Begriffe auch unverändert. Im Laufe dieses Kapitel wird noch deutlich, was genau die beiden Begriffe bedeuten. Ein Mahalle erscheint in dieser Vorstellung als traditionell gewachsen, sozial und vielfältig. Eine Site zeichnet sich eher durch ökonomische Homogenität, Anonymität und geplanten Raum aus. Dabei erscheint das Mahalle oft als das Ursprüngliche, als wünschenswert und als ein Idealzustand. Ob es aber tatsächlich und überhaupt eine gemeinsame und allgemeingültige Vorstellung dessen gibt, was gegenwärtig ein Mahalle – vor allem in Abgrenzung zu einer Site – ausmacht, bleibt anzuzweifeln. Relativ sicher kann aber davon ausgegangen werden, dass es eine gemeinsame historische Vorstellung eines Mahalles gibt, die sich auf den osmanischen Idealtypus bezieht, wie er beispielsweise von Cem Behar (2003) beschrieben wird. Behar beschreibt das Istanbuler Mahalle – insbesondere ab Mitte des 16. Jahrhunderts bis ins frühe 19. Jahrhundert – als eine städtisch-administrative, ökonomische und soziale Einheit zugleich (Behar 2003: 6). Wichtige administrative Funktionen übernahm das Mahalle beispielsweise im Rahmen der Steuereintreibung. Als Vorstehende fungierten in der Regel die Imame, die ab den 1830er Jahren von den Muhtars abgelöst wurden (Behar 2003: 6f.). Ein osmanisches Mahalle bestand in der Regel aus einer typischen (An)Ordnung materieller Güter: »Ten or fifteen streets at most, grouped around a thoroughfare or perhaps around a small square, and one or two small mosques (or a church or a synagogue, depending on the ethnic makeup of the neighborhood) defined most of the residential Istanbul mahalles. The neighborhood also usually contained a public fountain or two and a few shops catering to basic necessities or services. There might also

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

be some some public utility buildings (a public bath, or perhaps, a dervish convent or a primary school).« (Ebd.: 4) Über diesen materiellen Charakter hinaus zeichneten sich die Istanbuler Mahalles durch soziale Funktionen aus: Sie gaben den Bewohnerinnen und Bewohnern eine lokale Identität und waren auf sozialen Zusammenhalt und Solidarität ausgelegt, was Sicherheit und Kontrolle gleichermaßen schuf: »This solidarity entailed a particular modus vivendi, plus some sort of collective defense, as well as various mechanisms of mutual control and surveillance, many of them designed for regulating and monitoring public morality. In many mahalles collective social life was real, durable, and strong.« (Ebd.) Dabei war dieser Zusammenhalt laut Behar klassen- und statusübergreifend. So setzten sich die traditionellen Mahalles zwar oftmals aus den Mitgliedern einer gleichen Ethnie oder Religion zusammen, vereinigten aber Bewohnerinnen und Bewohner mit unterschiedlichem ökonomischem und sozialem Status. Auch ethnisch und religiös gemischte Nachbarschaften waren nicht ungewöhnlich. Aus diesem Grund soll es auch keine sozial segregierten Nachbarschaften gegeben haben (ebd.: 5). Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, die historische Korrektheit dieser Darstellung zu bewerten. Behar selbst wehrt sich gegen eine normierte, reduktionistische und essenzialistische Herangehensweise an die historischen Mahalles, waren sie doch ebenfalls von großer Vielfalt geprägt (ebd.: 10). Im gegenwärtigen Istanbul ist jedoch eine mehr oder weniger genormte Vorstellung vom traditionellen Mahalle, wie ich es gerne nennen möchte, durchaus verbreitet. Sie läuft einher mit der romantischen Vorstellung einer überschaubaren geographischen und sozialen Einheit, in der noch alles seinen Platz und seine Ordnung hatte. Insbesondere der Solidaritätscharakter tritt beispielsweise in Süleymans Beschreibung des Mahalles seiner Kindheit auf. Auch Nuran betont, dass sie gerne in einem Mahalle wohnen würde, in dem man sich gegenseitig Unterstützung liefere. Und selbst Leyla trauert den trivialen Streitigkeiten und Diskriminierungen im urbanen Dorf hinterher. Solche romantischen Rückbezüge entstehen vermutlich aus der Sehnsucht nach Ordnung und Struktur, die im hektischen und chaotischen Großstadtalltag so oft schmerzvoll vermisst werden. Trotz dieser romantischen, idealisierenden Vorstellung eines Mahalles würden die meisten Interviewten die strikte soziale Kontrolle der Nachbarschaft wohl ablehnen. Insbesondere Leyla erfährt den sozialen Druck, der mit dem Leben in einer sozialen Einheit unter den wachsamen Augen der Nachbarschaft einhergeht, am eigenen Leibe. Einer der bekanntesten türkischen Soziologen, Şerif Mardin, führte diesen sozialen Druck unter dem Begriff »Mahalle baskısı« in die sozialwissenschaftliche Debatte ein. Seither wird der Begriff vielschichtig diskutiert (vgl. Çetin

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

2010). Der heutige Raum des Mahalles oder der Nachbarschaft konstituiert sich also mitunter ganz anders als in den verklärten Vorstellungen vieler Stadtbewohnerinnen und -bewohner. Diejenigen der Interviewpersonen, die selbst angeben, noch in einem Mahalle zu leben, betonen die freundlich bis freundschaftlichen, aber tolerant-distanzierten Beziehungen unter den Nachbarinnen und Nachbarn und die gute Nahversorgung, oftmals mit traditionellen Geschäften wie einem Metzger, Bakkal1 , Barbier und Simitçi2 . Diese Vorstellung findet sich beispielsweise bei Serdar und Vildan wieder. Mahalle bedeutet für die beiden eine abwechslungsreiche Nahversorgung, die man zu Fuß erreichen kann. Das spiegelt sich wiederum in den sozialräumlichen Kontakten wider, die Serdar und Vildan beschreiben. Dementsprechend haben sie zwar Freunde im Viertel, jedoch sind diese Freundschaften nicht im nachbarschaftlichen Kontext entstanden, sondern beispielsweise in der Studienzeit. Ansonsten beschränken sich ihre Bekanntschaften im Viertel auf alltägliche Versorgungen und Dienstleistungen: »Serdar: The coffee shop knows me, I mean, the butcher knows me, I mean, (lachen) that kind of stuff, I mean. (.) Yah, I mean, just that.« (Transkript Serdar und Vildan) Eine ähnliche Vorstellung eines Mahalles, das sich insbesondere durch eine fußläufige Nahversorgung zusammensetzt, findet sich auch bei Yunus wider: »Eh, you can walk eh in the late night safely. In this area. Eh you can find anything. Eh, I I have a butcher and my market, eh my barber lives here. There are beautiful cafés, you can sit and drink something. You can/there is a bank, two or three banks in this area also many A T Ms, you can (acquire) all of your needs in in just, in in a kilometer. So, eh this is another reason for me. I don’t need go anywhere else. I just go out walk five minutes and I can take whatever I need in this area. (.)« (Transkript Yunus) Das Spacing des Mahalles ist somit einigermaßen konstant geblieben, wenngleich sich die Dimensionen verändert haben. Jedoch ist die Syntheseleistung eine andere: Es wird nicht mehr erwartet, dass der Nachbarschaftsraum auch mit gemeinschaftlicher Solidarität und sozialer Kontrolle einhergeht. Ein gegenwärtiges Mahalle ist in diesem Sinne eine Nachbarschaft mit Aufenthaltsqualität, die sich traditionelle Elemente bewahrt hat, ohne seine Bewohnerinnen und Bewohner moralisch einzuschränken. Es hat in diesem Sinne etwas von seiner Institutionalisierung verloren und bildet eine andere gesellschaftliche Struktur. Selbstverständlich

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Ein Bakkal ist in der Regel ein kleiner Gemischtwarenhandel. Ein Straßenhändler, der Simit (Sesamringe) und anderes Gebäck verkauft.

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

handelt es sich bei dem beschriebenen Typus, der Zusammensetzung des Samples geschuldet, um ein mittelständisches Mahalle. Die interviewten Personen sind allesamt der breiten Mittelschicht zuzuordnen und sind nicht auf Reziprozitätsleistungen aus der Nachbarschaft angewiesen, da sie selbst gut abgesichert sind. Dies sagt nichts über den möglichen sozialen Zusammenhalt in einem ökonomisch prekären Mahalle aus. Im Gegensatz zur Site zeichnet sich das Mahalle darüber hinaus durch einen offenen Zugang aus. Selbst wenn der Platz auch im Mahalle durch die Transformationen der Siedlungsstrukturen immer begrenzter wird, so ist er trotzdem öffentlich zugänglich. In der Site hingegen wird der Eingang begrenzt. Es wird deutlich markiert, was innen und was außen ist – durch Mauern, Zäune, Schranken und Tore. Der Zugang wird durch private Sicherheitsfirmen mal mehr und mal weniger effektiv überwacht. Was für die Bewohnerinnen und Bewohner Sicherheit suggerieren kann, signalisiert für Außenstehende die Isolation der Bewohnerschaft vom Rest der Stadt. So antizipiert beispielsweise Yunus über das Leben in einer Site: »Eh, some people […] prefer new houses to live. Because eh old houses may have eh some plumbing problems, electricity problems, eh so eh many of people eh is going to buy eh trying to buy new houses eh to live. Eh they see they think that it is more comfortable for them. They want a security on the door, eh maybe a gym in the site or eh a pool. But eh (.) this type of lifestyle is not good for me. I don’t prefer it. […] It’s so, too isolated and it is out of city to live in eh Çekmeköy. For Çekmeköy is not Istanbul. (.) Eh a man shouldn’t eh need a car to reach some eh opportunities.« (Transkript Yunus) Für Yunus widerspricht das Leben in einer Site seiner Vorstellung vom städtischen Leben, es ist unnatürlich und künstlich. Er kann den Vorteilen, die andere darin sehen, nichts abgewinnen, da man vom Rest der Stadt isoliert wird. Insbesondere den peripheren Neubaugebieten wird in diesem Rahmen oft die Zugehörigkeit zur richtigen Stadt Istanbul abgesprochen (so argumentieren auch Serdar und Vildan). Neben dieser geographischen Isolation wird auch eine soziale Isolation antizipiert, wie beispielsweise durch Süleyman: »I mean, just you’re in a desert, by yourself, let’s say, desert by yourself. Yes, there are so many people nearby, eh, but you don’t know them. And, you, you don’t have any commonalities or common things to share and it is like a hotel, eh? For me these residential areas are not different than the hotels. […] and you just, you know, enter your, you know, password, and pass through this main gate and go to your room, watch your television, whatever you eat or something like that, you sleep and go out.« (Transkript Süleyman) Trotz dieser antizipierten Isolation ist die Attraktivität insbesondere für Familien hoch, in eine Site zu ziehen. Sie kann ein sicheres, ruhiges und geordnetes Um-

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feld liefern. Im Rahmen meines Besuches bei Emine fällt mir beispielsweise auf, dass in der Site Kinderfahrräder geparkt sind – in einer Stadt, in der sich selbst die allerwenigsten Erwachsenen auf das Fahrrad trauen. Zusätzlich bedeutet die Site eine gewisse Konstanz und Ordnung für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Gleichzeitig reagieren sie mit Enttäuschung, wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden – so ärgert Çağrı sich über die ersten fälligen Bauarbeiten in der frisch fertiggestellten Site und Emine über die regelverletzenden Parkgewohnheiten ihrer Nachbarinnen und Nachbarn. So sehr das Leben in einer Site auch von Isolation geprägt sein mag, so ist sie in den vorliegenden Fällen selbstgewählt und nicht erzwungen (siehe auch Bartu Candan/Kolluoğlu 2008). Und so sehr das Leben in der Site sich von dem in einem Mahalle zu unterscheiden vermag, so sehr kann es doch als Kompensation für das Leben in einem traditionellen Mahalle gesehen werden. Es liefert Ordnung, Struktur, Verlässlichkeit und oftmals ein festgeschriebenes Regelwerk im Sinne einer Hausordnung. Die Site kann, im Löwschen Sinne, einen institutionalisierten Raum darstellen. Insbesondere in den letzten Jahren scheint das Mahalle als Konzept ein Revival zu erleben und in die Planung von Sites wieder Einzug zu erhalten. Die übliche (An)Ordnung der materiellen Güter, wie Apartmentblocks, Grünflächen, Spielplätze, Parkdecks und Freizeiteinrichtungen werden dann ergänzt und begleitet von der zielgruppengerechten Vermarktung der Anlage – insbesondere für Familien und Gutverdienende. Das Ziel dieser Vermarktung ist die Syntheseleistung: Hier wohnen endlich wieder Gleiche unter Gleichen, so dass einem sozialen Austausch nichts mehr entgegensteht, was an sich selbstverständlich wieder einen Widerspruch zum vermeintlich pluralen und vielfältigen Mahalle darstellt. Aber diese Ambivalenz bleibt ausgeblendet. Insgesamt ist die Nachbarschaft, sei es in Form eines Mahalles, einer Site oder etwas dazwischen, in der Regel immer noch der Ort für die Versorgung mit grundsätzlichen Dingen des alltäglichen Gebrauchs, vor allem mit Lebensmitteln. So kaufen die meisten Interviewpartnerinnen und -partner vor Ort ein und besuchen zu einem Großteil auch den lokalen Wochenmarkt. Liegen favorisierte Cafés oder Restaurants zufällig in der Nähe, so werden auch diese aufgesucht. Das Leben ist aber lange nicht mehr auf diesen Raum beschränkt. Insbesondere freundschaftliche Kontakte liegen oftmals außerhalb der Nachbarschaft. Darüber hinaus sind die nachbarschaftlichen Kontakte zwar in der Regel freundlich, aber distanziert bis formalisiert (siehe beispielsweise Süleyman). Konflikten versucht man dabei aus dem Weg zu gehen. Auch wenn sich nachbarschaftliche Beziehungen verändert haben und das Mahalle oder die Nachbarschaft keine totale Institution mehr darstellt, so bedeutet das nicht, dass der Nachbarschaftsraum keine Rolle mehr spielt. Er ist also nicht verloren, sondern auch transformiert. Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel beschrieben, wird diese Transformation jedoch zum Teil verlustorientiert betrachtet

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

– insbesondere von den Interviewpartnerinnen und -partnern, die in einem urbanen Dorf aufgewachsen sind. So verliert die Nachbarschaft beispielsweise gewisse Funktionen, die in anderen und teilweise neuen Räumen angesiedelt werden. Zu diesen Funktionen gehört unter anderem die Sozialisation oder der gesellige Austausch (siehe Kap. 6.2). Der Nachbarschaftsraum scheint in vielen Fällen kein Raum für Kinder mehr zu sein, in dem sie sich frei bewegen können oder wollen. Dies wird insbesondere deutlich, wenn die früh migrierten Interviewpartnerinnen und -partner von ihrer Kindheit erzählen und diese Erzählungen mit der gegenwärtigen Realität ihrer eigenen Kinder vergleichen. Für Leyla, Emine und Süleyman war das freie Spiel auf den Straßen und in den Gärten der Nachbarschaft ein ausschlaggebender Faktor für die glückliche Kindheit, die sie in ihren Interviews darstellen. Die Straßen hatten Nutzungsmöglichkeiten über ihre infrastrukturelle Funktion hinaus: Süleyman und seine Freunde nutzten sie beispielsweise, um dort Fußball zu spielen. In der Gegenwart ist auf der Straße aber kein Platz mehr für Kinder. Sie werden monofunktional für den Personen- und Gütertransport genutzt. Einzig für den wöchentlichen Markttag erobern die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Straße für sich zurück. Aber selbst dann dient sie in erster Linie der Versorgung und dem Konsum. Die kindlichen Räume in der Nachbarschaft werden also eingeschränkt. Selbst Özgür berichtet, dass es in seiner Kindheit in den 1990er Jahren nur einen Ort in der Nachbarschaft zum Fußballspielen gab – einen Bolzplatz, der zum nahegelegenen Kulturzentrum gehörte. Nuran und Leyla bedauern den Verlust von grünen Freiräumen, wie sie zur Zeit ihrer Kindheit noch vorhanden waren. Und gegenwärtig werden Kinderorte unmissverständlich markiert, in erster Linie durch bunte Spielgeräte und Abgrenzungsmarkierungen. Diese kleinteilige Raumnutzung verhindert selbstverständlich kollektive Sozialisationsprozesse, beziehungsweise schränkt sie auf eben solche Räume ein. Eine umfassende Sozialisation in der Nachbarschaft, wie ihr Süleyman hinterhertrauert, ist folglich nicht mehr möglich. Und für einige ist das auch gar nicht mehr gewollt. So betrachtet Emine das Verhalten der Nachbarinnen und Nachbarn in ihrer Site, die ihre Kinder noch spät abends auf den Straßen spielen lassen, als kritisch. Sie selbst lässt ihren zwölfjährigen Sohn nicht einmal alleine vom Tor der Anlage zu ihrer Wohnung laufen – obwohl die Site durch einen Sicherheitsdienst überwacht wird und der Verkehr reduziert ist. An ihrem Fall wird die unterschiedliche Raumkonstitution im biografischen Verlauf besonders deutlich: Der Raum ihrer Kindheit ist durch Freiheit in der Gestaltung und Bewegung geprägt, der Kindheitsraum ihres Sohnes hingegen von Sicherheit und Kontrolle: »because of course children, eh, can be free, but under the control of their parents« (Transkript Emine). Die kontrollierende Instanz muss also mittlerweile von den Eltern gewährleistet werden und nicht mehr von einem sozialen Kollektiv.

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Trotz der Verlustorientierung ehemaliger urbaner Dorfbewohnerinnen und bewohner ist auch im urbanen Dorf der soziale Wandel immer schon immanent eingeschrieben gewesen. Schließlich handelte es sich stets um eine Gemeinschaft, deren Mitglieder sich gegenseitig zum sozialen Aufstieg verhelfen wollten. In den späteren Ankunftsräumen war dies noch viel deutlicher – hier war der Wandel schon im vollen Gange, der Raum viel chaotischer und heterogener (siehe Kap. 4.4). Aber auch diese Migrantinnen und Migranten kamen mit dem Vorsatz nach Istanbul, sich ein besseres Leben zu erarbeiten. Das Chaos der Ankunftsräume schreibt sich weiter fort, so dass eine wirkliche Ankunft gar nicht möglich wird. Insbesondere in Nurans Fall wird deutlich, wie sehr sie sich nach geordneten, stabilen räumlichen Strukturen sehnt, um endlich ankommen zu können. Die fehlende Möglichkeit, einen konstanten Nachbarschaftsraum für sich zu konstituieren, führt dazu, dass sie die Realisierung dieses Wunsches immer weiter in die Zukunft verschiebt. Ihre biografischen Erfahrungen der ständigen Raumtransformationen führen nicht dazu, dass sie alle Hoffnung aufgibt, sondern dass sie für den Moment gewisse Kompensationsleistungen vornimmt. Diese dienen für sie zur Überbrückung, bis sie in der nicht zu weit entfernt erhofften Zukunft Stabilität und nachbarschaftliche Solidarität finden kann. Sozialer Wandel, und somit auch räumlicher Wandel, gehören folglich eher zur Norm als zur Ausnahme. Und dies trifft gleichermaßen auf das traditionelle Mahalle zu, wie Behar beschreibt: »The reality is, as we shall see in the case of Kasap İlyas3 , that even in times of relative demographic stability, even before the »long« nineteenth century, both the population of Istanbul and of the traditional residential neighborhoods were in considerable flux. The demarcation lines between mahalles were never so strict and the horizontal mobility of the residents was much higher than is usually admitted. At the local level, mobility and change seem to have been the rule, not the exception.« (Behar 2003: 9) Neben der Idealvorstellung des Mahalles dominiert noch ein weiter Wohntraum die Vorstellungen vieler der Interviewten. Hierbei handelt es sich um das Haus mit Garten. Trotz, oder vielleicht auch gerade wegen, der radikalen Transformation der Siedlungsstrukturen ist die Idealvorstellung des Heimes als ein Haus mit Garten höchst persistent. Obwohl in der Stadt kaum noch zu finden, stellt das eigene Haus nach wie vor den tiefen Wunsch vieler dar. Auf dieses Phänomen komme ich im nächsten Unterkapitel zurück. Die Stadterneuerung, die rein begrifflich betrachtet

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Kasap İlyas ist eine Istanbuler Nachbarschaft, die Cem Behar (2003) in seiner Monographie »A Neighborhood in Ottoman Istanbul: Fruit Vendors and Civil Servants in the Kasap Ilyas Mahalle« einer detaillierten geschichtlichen Untersuchung unterzieht.

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

Positives verspricht, wird von ihnen unter anderem als Auslöser von Zerstörung angesehen. Der Nachbarschaftsraum verliert für sie an Wert und Bedeutung. Abschließend möchte ich noch festhalten, dass trotz des Bedeutungsverlusts dem Nachbarschaftsraum noch eine strategische Funktion zukommt: Da er zunehmend mit anderen Räumen und Orten in Beziehung steht, muss er auch mit ihnen verknüpft werden. Aus diesem Grund ist die spezifische Wahl des Wohnorts oft eine funktional-strategische. Im besten Fall erleichtert und verkürzt er anfallende Pendelwege. Die Anforderungen der Großstadt, wie oben beschrieben, müssen in den alltäglichen Routinen mitberücksichtigt werden. Ansonsten ist man ihnen schutzlos ausgeliefert. Die Zunahme an alltagsrelevanten Räumen, über den Wohnraum und die Nachbarschaft hinaus, ist zum einen Kompensationsmechanismus für die verlorenen Funktionen und Möglichkeiten, die der Nachbarschaftsraum nicht mehr bietet. Zum anderen kann diese Zunahme ebenso einen zentralen Emanzipationsmoment darstellen – wie beispielsweise bei Vildan, die erst durch den Wechsel ihres Schulortes sich Räume jenseits ihrer eigenen Nachbarschaft erschließen kann. Gleichzeitig ist für Emine und Çağrı die Emanzipation von einer kontrollierenden Nachbarschaft und ihre Auflösung in ein freundlich-distanziertes Verhältnis zentral für ihre Lebensführung. Die herrschende Anonymität unter den Nachbarinnen und Nachbarn wird dabei nicht bedauert, sondern sie ist konstitutiv für die eigene freie Entfaltung im Alltag. Trotz etwaiger Verlustorientierungen was den Nachbarschaftsraum angeht, kann sein spezifischer Ort trotzdem bedeutend für die gegenwärtige Lebenssituation sein. Die Nachbarschaft mag also an Bedeutung für die Identitätskonstruktionen der Befragten verloren haben, sie hat aber trotzdem noch eine alltägliche Relevanz für die Untersuchungspersonen. Dabei wird die Verknüpfung mit anderen Räumen in der Großstadt wichtiger, die zum Teil ehemalige Funktionen der Nachbarschaft übernehmen und zum Teil neue Möglichkeiten zur individuellen Entfaltung erschließen. Personengruppen lassen sich nicht mehr per se nur auf einen bestimmten Ort oder Raum beschränken (siehe Dörfler 2013). Die weiteren Räume möchte ich Substitutions- und Emanzipationsräume der Großstadt nennen und ihnen habe ich das nun folgende Kapitel gewidmet.

6.2

Substitutions- und Emanzipationsräume der Großstadt

Die Zusammenfassung von Substitutions- und Emanzipationsräumen in einem Kapitel mag auf den ersten Blick etwas paradox erscheinen. Stellen sie beide nicht eine gegenteilige Entwicklung dar? Durch Substitutionsräume werden verloren gegangene soziale Funktionen des Nachbarschaftsraums ersetzt und durch Emanzipationsräume entsteht eine Befreiung von der sozialen Beschränkung der Nachbarschaft. Ich möchte an dieser Stelle aber folgendermaßen argumentieren: In

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dem Maße, in dem Räume sich ausdifferenzieren, bieten sie eben durch diese Ausdifferenzierung die Möglichkeit zur Emanzipation und individuellen Entfaltung. Durch das zum Teil anonyme Hin- und Herpendeln zwischen diesen Räumen kann das Individuum verschiedene soziale Rollen und Positionen einnehmen. Dies ist selbstverständlich keine neue soziologische Erkenntnis, sondern geht mit der sozialen Differenzierung moderner Gesellschaften4 einher. Dabei kann die hier erfolgende Darstellung solcher Räume keine erschöpfende, sondern nur eine exemplarische Darstellung sein. In diesem Sinne widme ich mich in diesem Kapitel den Räumen, die im Material besonders häufig auftauchen beziehungsweise die eine besonders große Relevanz zu haben scheinen. Das Verschwinden einer gemeinschaftlichen Nachbarschaft und die Ausdifferenzierung sozialer Räume hat Auswirkungen auf die Vermittlung kollektivistischer Grundwerte wie Treue, Aufrichtigkeit und Respekt von Autoritäten, die für viele Türkinnen und Türken auch heute noch wichtig zu sein scheinen (vgl. Karakaşoğlu 2012). Besonders deutlich zeigt sich dies an den neuen Herausforderungen für Sozialisationsprozesse, die nicht mehr in der Nachbarschaft verortet werden können. So wird in den vorausgegangenen Fallrekonstruktionen deutlich, dass die Nachbarschaft kaum noch Spiel-, Aufenthalts- und Sozialisationsraum für die Kinder der interviewten Personen darstellt. Und dies ist unabhängig davon, wie sehr sie selbst in ihrer Kindheit in ihre Nachbarschaft integriert gewesen sind. Dies liegt nicht nur an den veränderten Siedlungs- und Sozialstrukturen der Nachbarschaft, sondern geht auch mit anderen gesellschaftlichen Veränderungen einher, wie zum Beispiel den hohen Bildungsaspirationen der hier untersuchten Familien. Die fehlende Wertevermittlung der Nachbarschaft wird besonders von Süleyman kritisch betrachtet. Er spricht von dem Verlust der Solidarität, des gegenseitigen Respekts und der Fürsorglichkeit. Auch Emine scheint diese vermeintlich verlorenen Werte in gewissem Maße zu vertreten: »I’m always telling [Turan] to, eh, keep in touch well with his friends, eh, not using bad words, eh, not kicking anyone, not hitting anyone.« (Transkript Emine). Yasemin Karakaşoğlu fasst verschiedene Studien zur Werteorientierungen türkischer Eltern wie folgt zusammen: »Von Ihren [sic!] Kindern – egal ob Mädchen oder Jungen – wünschen sich die Eltern Gehorsam, Verlässlichkeit, Loyalität und Rücksichtnahme gegenüber anderen« (Karakaşoğlu 2012: 298). Jedoch stoßen diese Erwartungen auf alltagsbezogene Probleme: Der Kreis der potentiellen Anderen ist in den vorliegenden Fällen sehr beschränkt. Es findet eine zunehmende Segregation statt, die sich auf das private Umfeld und die maßgeblichen sozialen Institutionen beschränkt. Die formale Ausbildung der Kinder erhält einen hohen Stellenwert im Referenzsystem der 4

Im Rahmen der stadtsoziologischen Auseinandersetzung mit sozialer Differenzierung sind insbesondere die Arbeiten von Georg Simmel zu Klassikern avanciert (vgl. Simmel 1984 [1903], 1989 [1890]).

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

Familie. Sie verbringen viel Zeit in der Schule und in privaten Prüfungsvorbereitungskursen, zu denen sie in der Regel entweder von ihren Eltern im privaten PKW chauffiert werden oder entsprechende Shuttlebusse5 der Schulen nutzen. Oftmals legen die Kinder tagtäglich lange Pendelwege hinter sich. Vor allem innerhalb der Arbeitswoche bleibt laut diverser Routinebeschreibungen der Interviewpersonen kaum mehr Zeit für außerhäusliche Aktivitäten (siehe Kap. 5.1). Zehra beschreibt die wenige Zeit, die ihr und ihrer Tochter Aylin unter der Woche noch bleiben, folgendermaßen: »We set up for ourselves a routine like this: in the evening, after work and school/by the way, I pick up [Aylin] at half past seven. Eh at half past seven, close to [Aylin]‹s course, there is a place with homemade food. Two mothers we sit there. Eh and the girls join us after course. We are usually done with our food and busy chatting by the time they arrive. Then they come and they choose what they’ll eat, sometimes/for instance, lately she especially prefers take-away, she says, ›I’ll eat home.‹ Because we arrive home late/we get home late, that’s why. We eat there eh we pack our things, and then everyone goes off home. Of course, it is at least half past eight by the time we get home, or at best, eight o’clock. The remaining time eh one hour, or two hours until bedtime, feels short.« (Transkript Zehra) Die lange Schulzeit und die vielen zusätzlichen Kurse hängen mit dem hoch kompetitiven türkischen Schulsystem zusammen. Schulischer Erfolg ist wegbereitend für die spätere universitäre Ausbildung. Insbesondere die Übergänge zwischen der Mittel- und Oberschule sowie erneut zwischen Ober- und Hochschule sind kritisch. Die Oberschule (15 bis 18 Jahre) stellt die wichtigste Voraussetzung für einen erfolgreichen Hochschuleintritt dar. Die türkische Bildungslandschaft ist aber von großen Ungleichheiten geprägt und nicht jeder Oberschulabschluss ist gleichwertig (vgl. Karakaşoğlu 2012; Schwarz 2014). Der Zugang zu einer guten Oberschule und zu etwaigen Stipendien ist also hart umkämpft und wird nur mit einer erfolgreichen Übergangsprüfung möglich6 . Zugleich müssen sich alle potentiellen Studierenden der landesweiten Hochschulzugangsprüfung7 unterziehen, für deren be-

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Shuttlebusservices werden nicht nur von (privaten) Schulen angeboten, sondern oftmals auch von Hochschulen, Arbeitgeberinnen oder der Site selbst. Sie können einen Teil des Weges, der sonst mit dem öffentlichen Personennahverkehr zurückgelegt werden müsste, oder auch den kompletten Pendelweg ersetzen. »Temel Eğitimden Ortaöğretime Geçiş Sistemi« (TEOG, Prüfung zum Übergang von Mittelzur Oberschule), auf Grundlage des Testergebnisses kombiniert mit den Klassenleistungen wird den Schülerinnen ein Platz in einer ihrer ausgewählten Schule zugewiesen (vgl. Kitchen et al. 2019: 57). Seit dem Prüfungsjahr 2017/2018 trägt dieser Test den Namen »Yükseköğretim Kurumları Sınavı« (YKS, Hochschulzugangsprüfung) und setzt sich, je nach angestrebtem Fach und

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sonders gutes Abschneiden in der Regel private Vorbereitungskurse von Nöten sind (Schwarz 2014: 144f.). Das Bildungssystem ist einerseits also sehr leistungsorientiert und kompetitiv, andererseits sozial höchst ungleich – eine Tatsache, die einer kollektivistischen Werteausprägung entgegenläuft. Neben der Sozialisationsleistung der formalen Bildungseinrichtungen bleibt für die Kernfamilie im Alltag also wenig Zeit übrig – oftmals nur das Wochenende. Dies dient wiederum auch für Unternehmungen, Familienbesuche, die Verfolgung von Hobbys und, nicht zu vergessen, für die Regeneration. Es geht hier also weniger um die Werte-Einübung, sondern mehr um Familienzeit, Spaß und Erholung. So findet abermals wenig Interaktion außerhalb der Familie statt. Und die Kommunikation der Kinder zu Schulfreunden scheint in der Freizeit größtenteils virtuell abzulaufen, was sie ortsunabhängig macht und face-to-face Treffen ersetzt. Zusätzlich bleibt der öffentliche Raum für die Kinder größtenteils außen vor. Die Pendelwege zwischen den alltagsrelevanten Räumen werden in der Regel im privaten Auto oder in Shuttlebussen zurückgelegt. Zehras 14-jährige Tochter Aylin hat beispielsweise die Möglichkeit, einige Wege im Umfeld ihrer Schule und der Wohnung ihrer Großeltern zu Fuß zurückzulegen. Darüber hinaus nutzt sie aber kaum den öffentlichen Nahverkehr – und wenn, dann nur in Begleitung: »Moreover, [Aylin] has just eh commuted by bus with her grandma. Only, the bus takes 40 or 45 minutes. A bit too long to commute.//I2: You mean, to get back from [T-köy]?//Yes, to get back from [T-köy]. But now she has eh the Istanbul card. If need be, she can get on the bus here and go to and back from [T-köy] on her own. That’s no problem for her. But if you ask if she has done that, no, never.« (Transkript Zehra) Auch Süleyman betont die oft mangelnde Kompetenz von Kindern und Jugendlichen, sich im öffentlichen Raum zurechtzufinden. Er wertet es als eine Ausnahme, dass sein 15-jähriger Sohn in der Lage dazu ist, eigenständig ins nächstgelegene Zentrum zu finden: »For example, [Hakan] can go to [the commercial center] by himself, he learned already. But (.) let me find couple of children in the street, likewise [Hakan], and if I ask them how, how can you go to [the commercial center], please describe me, no one can go. Cause they don’t know because either their families were taking them or (schnippst) they don’t need any necessities to go to [the commercial center] or somewhere else. Okay? Because they have their own world in the television and the iPhone.« (Transkript Süleyman)

Hochschulabschluss, aus mehreren Teilprüfungen zusammen. Er wird zentral organisiert und durchgeführt vom »Ölçme Seçme ve Yerleştirme Merkezi« (ÖSYM, Zentrale für Studierendenauswahl und -platzierung) (ÖSYM 2020).

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

Die Sozialisation der Kinder und das Alltagsleben der meisten Familien passiert also in sehr eingeschränkten und ausgewählten Räumen. Dabei wird gleichzeitig eine Reihe von mal mehr und mal weniger exklusiven Brückenräumen geschaffen. Unter Brückenräumen verstehe ich solche Räume, die Verbindungen zwischen Räumen, Orten und Personen schaffen. Dazu gehören beispielsweise virtuelle Räume, denen in heutigen Gesellschaften, und gerade auch in der türkischen, eine besondere Bedeutung zukommen. Leider liegt mir nicht genügend aussagekräftiges Material vor, um auf diesen näher eingehen zu können. Besonders häufig im Material zu finden sind jedoch Brückenräume, die unterschiedliche Räume und Orte miteinander verbinden, die eine hohe Alltagsrelevanz besitzen: Hierzu gehören insbesondere die typischen Fortbewegungsmittel wie Busse, Bahnen, Schiffe und PKWs. Die Beschreibung dieser Räume geht von Beschwerden über tägliche Pendlerproblematiken wie überfüllte Busse, Bahnen und Straßen bis zur kreativen Auslegung dieser Räume, wie beispielsweise bei Zehra. Für Zehra stellt das Auto einen wichtigen Raum dar, der sie ihrer Familie näherbringt. Es überbrückt die Distanz und macht das Hin- und Herpendeln zwischen ihrer Wohnung und dem primären Aufenthaltsort ihrer Familie kürzer und einfacher. Ich möchte hier noch einmal an ihr Zitat erinnern: »once you have a car everywhere is close« (Transkript Zehra). Das Auto verringert nicht nur den Abstand zwischen den frequentierten Räumen, sondern trägt auch zu einer größeren Nähe zu ihrer eigenen Tochter bei. Bei den gemeinsamen täglichen Pendelwegen im Auto haben sie wertvolle Zeit zu zweit, um sich auszutauschen. Während des Interviews zeigt Zehra mir stolz Videos von Aylin, auf denen sie laut die Lieder aus dem Radio mitsingt. Zehra hatte diese Videos aufgezeichnet, als die beiden mal wieder im Verkehr stecken geblieben waren. Somit wird das Auto zu ihrem privaten und geschützten Raum, in dem sie einfach Mutter und Tochter sein können – etwas, das ihnen sonst nur in ihrer privaten Wohnung vorbehalten bleibt. Und angesichts der geschilderten Alltagsanforderungen ist diese Zeit sehr begrenzt. In diesem Sinne bietet die private Wohnung den bedeutendsten Rückzugsraum für die Interviewpartnerinnen und -partner und eben einen letzten Sozialisationsraum der Kernfamilie. Während der Forschung erlebte ich oft einen bemerkenswerten Stimmungswandel der Interviewpersonen beim Betreten der Wohnung. Es war unmittelbar ersichtlich, dass sie einen geschützten Wohlfühlraum betraten. Die geschlossene Wohnungstür8 , und eben nicht die offene, wie Süleyman sie aus seiner Kindheit vermisst, schien mir dabei konstitutiv für dieses Gefühl. Die Bedeutung von Sicherheit und Geborgenheit kam hier unmittelbar zum Tragen. Der Fokus nach Innen wurde an vielen Stellen ersichtlich. Süleyman berichtet 8

Die meisten Istanbuler Wohnungstüren sind mittlerweile wahre Panzertüren, in der Regel aus Metall mit Türschloss, Bolzen und Innenkette. Ein beliebter Hersteller solcher Türen trägt den Namen »kale« (übersetzt: Burg, Turm, Bollwerk).

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davon, wie er plötzlich ein Einmischen in seine persönlichen Angelegenheiten seitens Personen aus der Nachbarschaft nicht mehr wünscht. Er bedient sich sogar der Metapher des Außenministers (er selbst) und der Innenministerin (seine Frau). Emine betont, dass sie sich in der Freizeit mit ihrem Kind am liebsten zu Hause oder in den Wohnungen von Freundinnen und Freunden aufhält, da diese am sichersten seien. Der Ort der Wohnung scheint dabei irrelevant zu sein, ihr Raum konstituiert sich eben durch die persönlichen Gegenstände, die Abgrenzung nach Außen und das Sicherheitsgefühl nach innen. Zehra bringt diese Erkenntnis auf den Punkt: »This house could be anywhere for us. It is just a spot. Like a hotel. On the other hand eh we love our home. We like being home.« (Transkript Zehra) Die eigene Wohnung dient also als Kompensationsraum für das anstrengende Leben in der Großstadt. Gleichzeitig bieten ihr geschützter Raum und die Möglichkeit, nach außen anonym in ihr zu leben, einen wichtigen Selbstentfaltungsmechanismus, wie sich insbesondere in Emines Fallrekonstruktion zeigt. Der sichere Raum in der Großstadt ist nicht nur ein starkes individuelles Bedürfnis, sondern ebenso ein Kalkül, mit dem Immobilienfirmen spielen. Ein Sicherheitskonzept darf bei keiner Site fehlen, aber auch die Pforten privater Wohnhäuser werden mittlerweile häufig von Sicherheitspersonal überwacht. Ob nur als reine Symbolik gewertet, wie Süleyman und Çağrı dies tun, oder nicht: Sicherheit ist zu einem der größten Grundbedürfnisse in der Stadt avanciert9 . Wie prekär ein Leben in Unsicherheit sein kann, zeigt sich in den dargestellten Erfahrungen von Leyla: Als sie mit ihrer Mutter in eine Apartmentwohnung im Stadtzentrum zieht, muss sie leidvoll feststellen, dass sie nicht einmal darauf vertrauen kann, dass die Polizei für Recht und Ordnung sorgt. Als sie einige Jahre später in eine Hochburg für Konservative zieht, fühlt sie sich als Minderheitenangehörige in ihrem nackten Leben bedroht: »And we were concerned that (.)/if they know us as, well, as (.)/you could expect them to do anything (lacht leicht), like setting the house on fire. I don’t want to exaggerate, but I’m saying this because we’ve been through times like that.« (Transkript Leyla) In diesem Moment ist sie weder Teil eines Kollektivs, das aufeinander aufpasst, noch wird sie durch private oder staatliche Institutionen geschützt. Selbst in ihrer privaten Wohnung fühlt sie sich ausgeliefert. Als Rückzugsraum und Wohlfühlort dient für sie ein Café, in dem sich hauptsächlich pensionierte Lehrerinnen und

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Für eine ausführliche Diskussion des europäischen und nordamerikanischen Kontextes siehe Wehrheim (2012).

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Lehrer aufhalten. Hier verfolgt sie die Diskussionen über aktuelle gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen und sammelt Inspirationen für ihre Arbeit. Neben der privaten Wohnung erfüllen eine Reihe von öffentlichen und halböffentlichen Räumen wichtige Freizeit- und Geselligkeitsfunktionen. Jenseits des grünen Freiluftraums, der in der Großstadt ohnehin erschreckend schnell verschwindet, und neben Restaurants, Cafés und Bars hat insbesondere die Freizeitfunktion der Shoppingmall stark zugenommen. Mittlerweile bieten die meisten Malls ein vollumfassendes Angebot für die ganze Familie. Sie sind sauber, sicher, abwechslungsreich, klimatisiert und meist infrastrukturell gut angebunden. In der Diskussion mit Serdar und Vildan wird noch recht amüsiert die anfängliche Faszination und Anziehungskraft für die erste Istanbuler Shoppingmall (Galeria) erörtert: »Vildan: And then, at that time, Galeria was the only, eh, big shopping mall and eh, which was attractive, and stupid (lacht) but we liked go there and eh/ Serdar: Galeria was (lacht) Galeria is the second, I guess, isn’t it? The first, maybe Vildan: The first, I, I don’t know. I, we were like twelve years old and there was Galeria Serdar: Everybody was going to Galeria, something like/ […] Serdar: But Galeria was a (lacht) Vildan: Galeria was mystery (lachen) Serdar: Everybody (unv.) it was a mystery (unv.) (lachend) everybody was, was going to Galeria. (I1 lacht)« (Transkript Serdar und Vildan) Mittlerweile gehört der Aufenthalt in der Shoppingmall zum Alltag vieler Türkinnen und Türken unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (vgl. Erkip/Ozduru 2015). Wie in vielen Städten weltweit schwindet der öffentliche Raum und die Menschen suchen nach Alternativen (Massey 2005: 152f.). Die Shoppingmall avancierte zur Ersatzikone des öffentlichen Raums. In der Türkei ist die Zahl der Einkaufszentren in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen – nicht nur in den Metropolen – und stellt nicht nur einen Ersatz für den öffentlichen Raum dar, sondern eine kulturelle Neuorientierung. Istanbul bildet im türkeiweiten Vergleich die Spitze mit etwa 140 Shoppingmalls unterschiedlicher Zusammensetzung und Größe, die über die ganze Stadt verteilt sind (Erkip/Ozduru 2015: 13). Auch wenn die Identifikation mit diesem Raum variieren mag, so bietet er doch für alle Nutzerinnen und Nutzer praktische Vorteile. Sie sind sauber, gut erreichbar und erfüllen mit einem breiten Angebot die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Außerdem stellt die Shoppingmall einen institutionalisierten Raum dar, der in seiner strukturbildenden Funktion keine unerwünschten Überraschungen erwarten lässt, anders als es sich im öffentlichen Raum verhält, der in der Regel von Unerwartbarem geprägt ist (Massey 2005: 153). Insbesondere die Malls der letzten Jahre dienen oftmals als

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hybride Funktionsräume, beherbergen nicht nur Einzelhandel, sondern auch ein breites Gastronomie- und Unterhaltungsangebot, Sporteinrichtungen sowie Büround andere Funktionsräume10 . Emine berichtet, dass sich das Lieblingsrestaurant ihrer Familie in einer Shoppingmall befindet, die gleichzeitig ein Kino und einen Escape Room unter ihrem Dach hat, die sie gerne besuchen. Nuran und ihre Freundin ziehen als Treffpunkt eine Shoppingmall vor, die für beide gut erreichbar ist. Tolgas Büro befindet sich in einer Mall und auch Çağrıs Wohnkomplex ist an ein Outlet-Shoppingcenter angebunden. Auch wenn es sich hier nicht mehr um einen öffentlichen Raum11 im eigentlichen Sinne handelt, wird er im Alltag doch so genutzt. Gleichzeitig entsteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Freizeit und Konsumverhalten: Die freie Zeit zeichnet sich hauptsächlich durch Konsum aus. Dieser neoliberale Einfluss auf die Stadtkultur wird insbesondere von der kritischen Stadtforschung bearbeitet (vgl. klassischerweise Harvey 2006, 2013). Der vorgefertigte Raum der Shoppingmall bietet in diesem Sinne, genauso wie Parks und andere Grünanlagen, einen strukturierten, institutionalisierten Raum für Freizeitaktivitäten an. Auch wenn solche Großprojekte ausschlaggebende Faktoren für die rapide Transformation der Stadt und ihrer Gesellschaft darstellen, so bieten sie doch nach Fertigstellung einen relativ konstanten Raum. Gleiches gilt ebenfalls für die großen Sites, die nach ihrer Fertigstellung erstmal eine gewisse materielle Stabilität bedeuten. Das Bedürfnis nach Konstanz durch die biografischen Erfahrungen in der sich rasant wandelnden Großstadt wird insbesondere bei Nuran deutlich. Aber auch Emine betont den Vorteil der Site, dass es hier eine gewisse Infrastruktur und ein qualitativ hochwertiges Wohnangebot gibt. Sie möchte in der Lage sein, noch den Himmel über ihrem Kopf betrachten zu können. Das Leben in ihrer fertiggestellten Site ermöglicht ihr das – hier lässt sich der Himmel nicht so schnell verbauen. Konstanz ist in der Stadt Mangelware. Ständig verändert sich die bauliche Infrastruktur, Personen ziehen hinzu und nur wenige ziehen wieder weg. Aus diesem Grund sind konstante Räume von hoher alltäglicher Relevanz. Die Interviewpartnerinnen und -partner konstituieren sie oftmals am Arbeitsplatz. Nuran bleibt trotz der hohen Anforderung, die das Pendeln zu ihrem Arbeitsplatz an sie stellt, ihrem Arbeitgeber treu. Emine ist an der gleichen Hochschule, am gleichen Campus, an dem sie studiert hat, zur Professorin geworden und identifiziert sich sehr mit ihrer Universität und ihren Studierenden. Und auch Zehra arbeitet seit 15 Jah-

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Ein typisches Beispiel stellt das Zorlu Center dar – eine große Shoppingmall direkt an der Autobahn im zentralen Stadtbezirk Beşiktaş. Für einen Überblick über die unterschiedlichen Generationen von Einkaufszentren siehe beispielsweise Erkip/Ozuduru (2015). Zur Beziehung zwischen öffentlichem und privatem Raum in der Stadt siehe beispielsweise Madanipour (2003) im Allgemeinen und Eckardt/Wildner (2008) in Bezug auf Istanbul.

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

ren bei der gleichen Firma und stellt im Interview die Bedeutung heraus, die der Arbeitsplatz und ihre Kollegschaft für sie haben: »My colleagues’ state of mind is very important to me. Eh, we’ve been working together for a very long time. It’s been 15 years. In that 15 years eh with some friends eh at least/right now, with the team/a friend in the team/for instance, we’ve been together for twelve years. Each Monday to Friday/each weekday/except for leaves, which is two or three weeks a year anyway. Just think we see each other every day. People at the workplace are people I see more than my sister, than my family. And I like the friendly environment there. It matters to me at work too.« (Transkript Zehra) Der Arbeitsplatz ersetzt in gewissen Teilen also Nachbarschaft, Freunde und Familie gleichermaßen. Er kann eine konstante Orientierung im stressigen Alltag bieten. Somit findet ein Großteil des Lebens, von Erwachsenen und Kindern gleichermaßen, in sozialen Organisationen statt. Um allerdings nicht gänzlich in diesen Organisationen aufzugehen, beziehungsweise aufgehen zu müssen, spielt die Ausdifferenzierung der Räume eine große Rolle. Für Emine stellt der Faktor, dass sie sich abseits des Campus’ anonym bewegen kann, eine enorme Befreiungsfunktion dar. Mit ihrer Familie kann sie in der Shoppingmall eine ganz normale Frau sein. Selbst wenn sie einem alten, historischen Istanbul hinterhertrauert, so ist sie doch mit ihrem Großstadtleben so verbunden, dass sie sich einen Wegzug nicht vorstellen kann. In diesem Sinne entwirft sie einen Zukunftsraum, der sich sehr stark von den meisten anderen unterscheidet: Sie will in der Stadt bleiben und nicht an die ruhigere Küste ziehen. Auf ihre zukünftigen Pläne hin angesprochen, reagieren die meisten Interviewpartnerinnen und -partner erst einmal gleich: Es sei für sie gar nicht möglich zu planen. Bei den Interviewten mit Kindern werden die Zukunftspläne in der Regel von diesen abhängig gemacht: Die Bildung der Kinder steht im Vordergrund und der Rest der Familie, insbesondere aber die Frauen, passen sich dementsprechend an. Darüber hinaus werden oftmals Zukunftsszenarien entworfen, die vom einfachen Leben auf dem Land oder in der Kleinstadt dominiert werden – am liebsten an der Küste. »It is very hard to make a living here eh with a retirement pension. Eh, and with the money I have saved I can’t buy a house from eh where I want to live. But eh the place I want to live, wherever that is, the coast/[…] I’d prefer the Mediterranean coast.« (Transkript Zehra) Auch Tolga zieht für sein zukünftiges Leben ein Leben in Bescheidenheit in Betracht:

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»The only thing that is eh I may, I may consider early retirement. And bo- buy a like a olive field or I don’t know any field and do, be become a farmer or eh just go to a small city eh do stuff over there because life is cheaper. And buy an apartment over there, buy a flat over there, paying no rent but no monthly fixed payments and live small, spend small and earn small.« (Transkript Tolga) Nicht alle Interviewpersonen hegen wie gesagt den Wunsch, Istanbul in Zukunft zu verlassen. Trotzdem trifft eine Feststellung fast ausnahmslos auf alle im Sample interviewten zu: Die Idealvorstellung der Siedlungsstruktur orientiert sich noch an den traditionellen Strukturen ihrer Kindheit. Sie wünschen sich ein Haus mit Garten in dem sie in Zukunft, beispielsweise nach der Pensionierung, leben können. »Civilization is having (one?) unit floors, unit flats eh with gardens and so on.« (Transkript Emine)   »We want a little house. And eh, it has got a garden.« (Transkript Çiğdem und Özgür)   »But if it were a house with a garden, it would be beautiful.« (Transkript Leyla) Die enormen Anforderungen, die das Großstadtleben an die Interviewpersonen stellt, führen dazu, dass sie sich in der Regel ein Leben in Einfachheit und Bescheidenheit für ihre Zukunft wünschen. Hier kommt wieder das Bedürfnis nach dem eigenen, privaten Raum inmitten von grüner Natur zum Tragen, welches in der Großstadt stets unerfüllt bleibt. Einerseits sind die Stadt und ihre Menschen den einfachen Strukturen entwachsen. Andererseits sehnen sich viele Stadtbewohnerinnen und -bewohner nach dieser verlorengegangenen Simplizität zurück – mag sie auch nur in ihren Vorstellungen bestanden haben. Das Leben in der Großstadt ist komplex, widersprüchlich und bisweilen überfordernd. Es schränkt ein und eröffnet gleichzeitig neue Möglichkeiten. Aus diesem Grund kann Urbanisierung und Stadterneuerung auch beides sein: eine soziale Aufstiegsmöglichkeit und eine (kollektive) Verlaufskurve. Wie ich am Anfang dieses Unterkapitels anführte, stellt die Ausdifferenzierung sozialer Räume und ihrer Funktionen zum einen eine Ersatzleistung für das verloren gegangene dörfliche Leben in der Stadt dar (Substitution), zeitgleich bietet sie aber ebenso einen Selbstbefreiungsmechanismus aus den engen Strukturen sozialer, nachbarschaftlicher Kontrolle (Emanzipation). Außerdem zeigt sich in der obenstehenden Auseinandersetzung die Vorläufigkeit des gegenwärtigen Lebensstils – die wenigsten können sich vorstellen, ihr Leben in dieser Art und Weise auf lange Dauer fortzuführen. Durch die stetige und schnelle Veränderung und Umwälzung der räumlichen Strukturen bietet die Stadt wenig Sicherheit oder Verläss-

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

lichkeit. So verändern auch städtische Räume ihre Zeitlichkeit – sie werden eben schneller vergänglich. Dieses Phänomen führe ich im Folgenden aus.

6.3

Eine veränderte Zeitlichkeit für Räume?

In den hier dargestellten Ausführungen zu unterschiedlichen Räumen und der Raumkonstitution im biografischen Verlauf blieb bisher eine wichtige Dimension unangetastet: nämlich die der Zeit. Zeit ist in Biografien und Räumen immanent eingeschrieben, wird aber selten direkt als solche thematisiert. Auch in meiner Forschung und Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial fiel sie mir erst später im Laufe des Prozesses als »ständige Begleiterin« auf (vgl. Löw 2018: Kap. 1). Die Frage nach der veränderten Betrachtung der Dimension Zeit und nach Veränderungen der Zeitlichkeit von Räumen, also ihrer die Endlichkeit und Vergänglichkeit, stellt sich für einen abschließenden Ausblick der Analyse jedoch als äußerst fruchtbar dar. In seiner Monographie »Soziale Raumzeit« geht Gunter Weidenhaus (2015) der Frage nach, ob es einen Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Raum im Leben von Individuen gibt: »Vielleicht sind sogar ganz allgemein die Strukturen der Räume und Zeiten unseres Lebens miteinander verbunden? Mit anderen Worten: Könnte es nicht sein, dass sinnvoll von einer sozialen Raumzeit gesprochen werden kann?« (Weidenhaus 2015: 10) Weidenhaus argumentiert, dass insbesondere ein geschichtliches sowie ein chronologisches Konzept von Zeit für die Sozialwissenschaften unabdingbar ist (ebd.: 31). Geschichtlichkeit zeichnet sich dabei vor allem durch ihren unmittelbaren Subjektbezug aus. Die Bestimmung, ob etwas beispielsweise in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, speist sich aus dem, was das Subjekt als Gegenwart auffasst. Eine chronologische Zeitbestimmung nimmt hingegen Bezug auf die Relation von Ereignissen, die unabhängig vom Subjekt gedacht werden: »Dass die Mondlandung nach Christus stattfand, gilt zunächst unabhängig von der Frage, wer wann diese Feststellung macht« (ebd.: 25). Im Rahmen seiner umfassenden Studie, die sich im empirischen Teil auf narrative Interviews stützt, kommt er zu dem Ergebnis, dass es tatsächlich eine Korrelation gibt zwischen der Art und Weise, wie die Untersuchungspersonen ihre Lebensräume konstituieren, und der Art und Weise, wie sie über ihren Lebensverlauf sprechen. Weidenhaus entwickelt aus dieser Erkenntnis heraus drei Typen, die das Verhältnis zwischen Biografie, Raum und Zeit veranschaulichen. Ein Bei-

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spiel ist der konzentrisch-lineare Typ12 , den Weidenhaus in seiner Entstehung der Individualisierung in der Moderne zuordnet. Dieser Typ »erzählt eine durchgängige Entwicklungsgeschichte des ›Ich‹, indem er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seines Lebens logisch verbindet« (ebd.: 225) – dementsprechend linear. Das Konzentrische des Typs ergibt sich daraus, dass er »mehrere umeinander liegende Lebensräume mit einem Zuhause als Mittelpunkt« (ebd.) konstituiert. Der konzentrisch-lineare Typ nimmt sein Leben als selbst zu gestaltendes Gesamtprojekt wahr, was sich auch auf seine imaginierte Zukunft auswirkt, die »sich von der Gegenwart unterscheidet und nicht dem Zufall überlassen bleibt« (ebd.). Weidenhaus’ Erkenntnisse zeigen also den Zusammenhang zwischen Biografie, Raum und Zeit auf und bestätigen gleichzeitig das oben erwähnte Diktum, dass die Erzählungen eigenerlebter Erfahrungen sowohl auf das heutige Leben mit der Vergangenheit, als auch auf das damalige Erleben und auf die antizipierte Zukunft verweisen (Rosenthal 2015: 195ff.). Bei den Erzählungen der hier interviewten Personen mischen sich meist chronologische und geschichtliche Zeitkonzepte. Viele beginnen ihre Erzählungen mit der Stadtmigration der Eltern oder Großeltern, die sie vor ihrer Geburt einordnen, und fahren dann mit den Geschehnissen fort, die danach liegen. Außerdem wird der zeitliche Bezug oftmals durch die Darstellung der unterschiedlichen Bildungsetappen hergestellt: Grundschule, weiterführende Schule und Universitätszeit werden dabei an unterschiedliche biografische Erfahrungsräume geknüpft. In diesen Beispielen ist der geschichtliche Subjektbezug sehr gut zu erkennen. Gleichzeitig orientieren sich die unterschiedlichen Erlebnisaufschichtungen der Interviewpersonen auch am chronologischen Zeitkonzept. So wird beispielsweise das Erdbeben von Gölcük im Jahr 1999 oft als Referenzpunkt für die Einordnung von Ereignissen herangezogen. Die Entwicklung der gebauten Umwelt tritt bei der zeitlichen Einordnung hingegen interessanterweise eher in den Hintergrund. Sie wird häufiger prozesshaft und nicht in Etappen beschrieben und eignet sich deshalb kaum, um sie mit der Zeit zu verknüpfen. Die rapide Transformation des Sozialraums lässt sich nicht mehr mit den eigenen Lebensereignissen sinnvoll verbinden. Die Eröffnung der ersten Shoppingmall in der Stadt ist noch im Gedächtnis eingeschrieben und kann mit einer Lebensphase in Verbindung gebracht werden (siehe Kap. 6.2), aber bei mittlerweile rund 100 Shoppingmalls ist das nicht mehr möglich. Es war nicht das Ziel dieser Arbeit, eine Typik in Anlehnung an die von Weidenhaus zu entwerfen. Und sie würde sich vermutlich auch recht kompliziert gestalten. Insbesondere ein Punkt ist aber von großer Bedeutung, um die Zeitlichkeit von Räumen in der vorliegenden Untersuchung verstehen zu können: Die bauliche Entwicklung, mit der sich die Interviewpersonen konfrontiert sehen, scheint über 12

Als weitere Typen führt er den netzwerkhaft-episodischen sowie den inselhaft-zyklischen an (siehe zusammenfassend Weidenhaus 2015: 223ff.).

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

ihre Biografie hinweg im ständigen Fluss zu sein. Sie ist nie abgeschlossen worden und scheint auch in Zukunft kein Ende zu finden. Die Personen leben mit der ständigen Transformation der gebauten Umwelt, alles ist zeitlich betrachtet nur vorläufig. Besonders deutlich wird dies in Nurans Erlebnisaufschichtung: »Even one day when I go to job I go and then when I come back I see that there is another building, another building, everyday.« (Transkript Nuran) Wie im vorausgehenden Abschnitt bereits beschrieben, versuchen die Interviewpartnerinnen und -partner trotzdem, für sich konstante Räume zu konstituieren, um mit dieser Überforderung zurecht zu kommen. Gleichzeitig sind ebenso diese konstanten Räume nur vorläufig – selbst Sites und Shoppingmalls veralten irgendwann und werden ausgetauscht. Das zeigt sich insbesondere daran, was die Interviewpersonen als alt oder neu, als etabliert oder historisch bezeichnen. Insbesondere vor dem stadtgeschichtlichen Hintergrund fällt dies meist sehr subjektbezogen aus. Yunus bezeichnet sein Viertel aus den 1970er Jahren als alt, seine Bewohnerinnen und Bewohner als alteingesessen – in Abgrenzung zu den neu entstandenen und weiter entstehenden Sites und den neuzugezogenen »newcomers«. Nuran hingegen bezeichnet ihre Site aus den 1990er Jahren als alt und etabliert. Ein Extremfall stellt Mohsen dar, ein junger, iranischer Student, den ich im Rahmen meiner Feldforschung traf, im Endeffekt aber nicht in das abschließende Sample aufnahm. Er wohnte zum Zeitpunkt des Treffens seit zwei Jahren im Istanbuler Nordwesten in einer erst kürzlich fertiggestellten großen Site und bezeichnete den benachbarten, acht Jahre alten Wohnkomplex bereits als alt und defekt. Mit dem Begriff historisch wird meist nur die Istanbuler Altstadt auf der Halbinsel am goldenen Horn gekennzeichnet. Wie bereits erläutert haben die meisten Interviewpartnerinnen und -partner aber kaum einen persönlichen Bezug zu ihr. Das alltägliche Leben findet für sie nicht hier statt und in der Regel besuchen sie die Altstadt eher wie Touristinnen oder Touristen. Sie dient, genau wie die restliche Stadtgeschichte, nicht als relationaler Bezugspunkt für die Zeitlichkeit von Raum und Stadt. Wie gesagt, dominieren dagegen subjektbezogene Zeitkonzepte. Das subjektive Empfinden von Zeit führt dazu, dass die meisten Interviewpersonen sich von der Transformation der gebauten Umwelt überfordert fühlen. Ihr Zeitempfinden wird durch die rapiden Urbanisierungsprozesse durcheinandergebracht. Ihre Umwelt scheint viel schneller zu wachsen, als sie selbst. Der erlebte Wandel scheint kaum im Rahmen einer Biografie verarbeitbar zu sein. Durch diese Beschleunigung kommt es zu einer Entfremdung mit der eigenen Umwelt und in Teilen auch mit der eigenen Gesellschaft13 – was sich besonders deutlich bei 13

Auch dies ist eine bereits etablierte Erkenntnis in der Soziologie, siehe insbesondere Rosa (2018), der sich mit sozialer Beschleunigung und Entfremdung in kapitalistischen Gesellschaften beschäftigt.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Süleyman zeigt. Aber auch die übrigen Fälle sowie die Externalisierung von Verantwortung und die Abwesenheit von Handlungsmöglichkeiten, wie sie in Kapitel 5.3 dargestellt wurden, zeugen von dieser Entfremdung. Was lässt sich also über den Einzelfall hinaus daraus ableiten? Zunächst bedeuten dieser rapide räumliche Wandel und seine mangelnde Verarbeitung, dass Räume ein schnelleres Verfallsdatum zu haben scheinen. Der Nachbarschaftsraum der Kindheit existiert in keinem der Fälle in der Gegenwart weiter. Die Stadtbewohnerinnen und -bewohner sind gezwungen, Kompensationsräume zu konstituieren, die wiederum meist nur einen vorläufigen Charakter haben. Selbst einer der konstanteren Räume der Großstadt – die Arbeitsstelle – ist zeitlich beschränkt. Denn viele der hier Interviewten ziehen einen vorzeitigen Ruhestand in Betracht. Mit der veränderten Zeitlichkeit von Räumen verlieren diese also auch schneller wieder an Bedeutung. Als eindrücklichste Konsequenz steht die Erkenntnis, dass die Interviewpersonen ihr derzeitiges Leben in ihrer Gesamtheit nur für den Moment begreifen können. Die Zukunft ist nicht planbar und es wird nicht viel von ihr erwartet. Wie bereits dargestellt, hegen die Interviewpartnerinnen und -partner lose Zukunftswünsche, die sich an ihren Kindern oder an dem einfachen Leben an der Küste orientieren. Die meisten sehen ihre Zukunft aber nicht in der Großstadt Istanbul. Hier stellt sich insbesondere die Frage, für wen die Stadt eigentlich erneuert wird, für wen sie sicherer, sauberer und moderner gestaltet wird, wenn selbst die Mittelschicht zukünftig nicht mehr in ihr leben möchte. Unter Umständen bedeutet dies, dass die Stadt nur noch in bestimmten Lebensphasen als Aufenthaltsort dient. Und zwar in solchen Lebensphasen, die unmittelbar an die Funktionen des Stadtraums gebunden sind – wie die Ausbildung oder das berufliche Erwerbsleben. Das gilt selbstverständlich nur für diejenigen, die es sich leisten können, auch wieder aus der Stadt wegzuziehen. Gleichzeitig kann der Wegzug das erklärte Ziel des Aufenthalts darstellen: Zehras Vorfahren kamen beispielsweise nach Istanbul, um sich Wohlstand zu erarbeiten. Zehra selbst will sich aber nur so viel Wohlstand erarbeiten, um aus der Stadt wieder wegziehen zu können. Selbstverständlich ergibt sich die Unsicherheit und Unplanbarkeit der Zukunft nicht nur aus der rapiden Urbanisierung und ihren Begleiterscheinungen. An dieser Stelle muss auch noch einmal auf den lokalen und zeitlichen Kontext der Untersuchung eingegangen werden: Die Feldforschung fand unmittelbar vor der Durchführung des Verfassungsreferendums zur Einführung des Präsidialsystems im April 2017 statt. Insbesondere Kritikerinnen und Kritiker der regierenden AKP und Minderheitenangehörige müssen in diesem Moment tief verunsichert gewesen sein. Vor allem Leyla bangt wortwörtlich um ihr Leben. Aber auch Zehra macht sich Gedanken um die Zukunft ihrer Tochter:

6. Städtische Räume und Raumkonstitution im biografischen Verlauf

»I tell [Aylin], if the referendum turns out YES, you better learn German or French (lachen)/If it turns out NO, then you might have some more time.« (Transkript Zehra) Die als instabil wahrgenommene politische Situation scheint die Handlungsmöglichkeiten und Zukunftsentwürfe der Individuen weiter einzuschränken. Die Ungewissheit ist systemisch bedingt und die Zukunft aus dieser Ungewissheit heraus nicht planbar. Weidenhaus bringt diese Erkenntnis mit dem folgenden Satz auf den Punkt: »Die Zukunft existiert nur, weil sie Chancen eröffnet oder weil die Apokalypse droht« (Weidenhaus 2015: 31). Kurz vor der Abstimmung stehen die Interviewpersonen an einem Scheidepunkt und wissen nicht, welcher Weg eingeschlagen werden wird. Die Gespaltenheit der Gesellschaft (Aydın-Düzgit/Balta 2019) treibt die Verunsicherung weiter an. Wie ich in Kapitel 6.2 ausgeführt habe, findet durch die ausdifferenzierten Räume wenig sozialer Kontakt statt, der verschiedene soziale Milieus überspannt. Es scheint kein Verlass auf gesellschaftliche Stabilität zu geben und selbst der eigenen Nachbarschaft kann man nicht vertrauen (siehe auch Kap. 4.). Der Blick in die Zukunft bleibt von Träumen geleitet, wie dem eigenen Haus mit Garten, und in höchstem Maße ungewiss.

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7. Zusammenfassung und Ausblick

Zu Beginn dieser Arbeit stand die Frage: Welchen Einfluss hat eine Raumproduktion, die durch ständige Erweiterung und Erneuerung geprägt ist, auf biografische Handlungsverläufe und Lebensentwürfe von betroffenen Individuen? Daran anschließend habe ich untersucht, welche Rückwirkungen diese veränderten Handlungsverläufe und Lebensentwürfe auf städtische Räume und Raumkonstitutionen im biografischen Verlauf haben. Als Untersuchungskontext wählte ich die Stadt Istanbul, die eine besonders rapide Urbanisierung und Raumtransformation erfahren hat. Die Aufarbeitung des Kontextes hat gezeigt, dass sich der Wandel des städtischen Lebens durchaus konfliktgeladen gestaltet: Einerseits war die frühe Urbanisierung gewissermaßen eine Urbanisierung mit Gewinnbeteiligung. Neue Mittelschichten sind entstanden und neue soziale Aufstiegsmöglichkeiten wurden insbesondere durch Immobilienbesitz ermöglicht. Andererseits wurden (und werden auch heute noch) die Legalisierungen informeller Siedlungen für politische Zwecke instrumentalisiert, prägten und prägen ökonomische Interessen klientelistischer Gruppierungen die Stadtentwicklung und finden selbst in der modernen Großstadt weiterhin soziale Otherings- und Ausgrenzungsprozesse statt. Meine Untersuchungsergebnisse haben gezeigt, dass die hier untersuchten Individuen, die biografisch betrachtet besonders stark von der städtischen Raumtransformation betroffen sind, mit Überforderung, Entfremdung und Externalisierungen auf die Stadtentwicklung reagieren. Dabei war und ist Stadterneuerung nicht nur ein makrostruktureller Faktor oder eine heteronome Systembedingung. Die beschriebenen Raumtransformationsprozesse werden und wurden zum Teil selbst von den Individuen mitinitiiert und durchgeführt. Das gilt in besonderem Maße für den Wandel des Nachbarschaftsraums, der im Fokus meiner Untersuchung stand. Dem hier verfolgten methodischen Ansatz, der insbesondere auf die Biografieforschung zurückgeht, ist dabei immanent, dass er sich nicht nur mit der gegenwärtigen Lebenssituation beschäftigt, sondern ebenfalls die Interpretation der Vergangenheit sowie die antizipierten Zukünfte miteinschließt. Im Zuge der rapiden Urbanisierung durch vermehrten Zuzug von Bewohnerinnen und Bewohnern, Erneuerung und Aufstockung von Apartmenthäusern sowie scheinbar nie ermüdender Bauaktivität sind

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

über den Lebensverlauf hinweg vielfältige Herausforderungen für die biografische Arbeit der Untersuchungspersonen entstanden. Diese Herausforderungen unterscheiden sich je nach Betroffenheit des Einzelfalls, wie die Portraitkapitel gezeigt haben. Jedoch ist jede der Interviewpersonen in irgendeiner Art und Weise von Stadterneuerung und Raumtransformation tangiert. Eine Verlaufskurve entfaltet sich insbesondere dort, wo es viel zu verlieren gibt: In den Fällen, in denen die Kindheit vom Aufwachsen in urban-dörflichen Strukturen geprägt war, werden die identitätsbedrohenden Herausforderungen besonders manifest. Aufgrund der Transformation der Siedlungsstrukturen brechen alltägliche Interaktionsregeln und durch die Nachbarschaft formierte Identitätskonstruktionen zusammen. Das Verlaufskurvenpotential speist sich aus dem Zusammenspiel biografisch erlebter und gegenwärtiger emotionaler Ortsbezüge und sozialräumlicher Integration. Es ist also auch eine Frage der Verortung. Denn dieses Zusammenspiel ist ebenso die Voraussetzung dafür, welche Raumwahrnehmungen die Individuen entwickelt haben – nehmen sie Raum als etwas Konstantes, Feststehendes wahr oder als etwas Fluides, sich Veränderndes? Die Interviewten, die in der Normalität der ständigen Transformation aufgewachsen sind, legen einen stärkeren Pragmatismus im Umgang mit den alltäglichen, großstädtischen Herausforderungen an den Tag. Diejenigen, die Raum als eine Konstante in ihrem Leben erfahren haben, reagieren mit stärkeren Verlustorientierungen. Der Umgang mit rapider Raumtransformation ist auch durch die gegenwärtige Situation der Befragten geprägt. Fühlen sie sich in ihrer Nachbarschaft wohl? Welche Formen der Interaktion finden im Sozialraum statt? Sind die Befragten etabliert, integriert oder eher segregiert und außenstehend? Sind sie zufrieden oder unglücklich? So banal dies klingen mag, in den beschriebenen sozialräumlichen Interaktionen spiegeln sich die biografischen Erfahrungen der Individuen wider. Und nur aus dieser Situation heraus können sie ihre Zukunft antizipieren. Das durch die Fallvergleiche erarbeitete biografisch-bedingte Ablaufmodell im Umgang mit rapider Raumtransformation zeigt das Typische der hier untersuchten Fälle. So ist eine gewisse Struktur abzulesen, die typische Reaktionen, Stadien und Mechanismen beinhaltet. Dieses Ablaufmodell setzt sich aus der Aushandlung der Problematik und persönlichen Betroffenheit, der Erörterung der Ursachen und Handlungsmöglichkeiten sowie den getroffenen Bewältigungsstrategien und Kompensationsmechanismen zusammen. Dabei wird deutlich: Die einzelnen Individuen beurteilen die Gegenwart oftmals schlechter als die Vergangenheit und lehnen Stadterneuerungsprozesse in Teilen oder in ihrer Gänze ab. Die Verlustorientierungen reichen dabei von einer Art diffuser Nostalgie bis zum tatsächlichen Empfinden eines Werteverfalls in der Gesellschaft. Sie sehen die Problemursachen außerhalb ihres Verantwortungsbereiches und können für sich selbst keine Handlungsmöglichkeiten identifizieren, um aktiv etwas an der unzufriedenstellenden Situation zu verändern. Obwohl der Widerstand zwecklos scheint, zeigen

7. Zusammenfassung und Ausblick

die untersuchten Individuen eine gewisse Resilienz im Umgang mit den alltäglichen Herausforderungen und reagieren mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien und Kompensationsmechanismen. Sie versuchen, ihre schwierige Lebenssituation möglichst unbeschadet zu überstehen, beispielsweise indem sie sich strikten Alltagsroutinen unterwerfen. Diese Bewältigungsstrategien und Kompensationsmechanismen spiegeln sich in den gegenwärtigen Raumkonstitutionsprozessen wider und nehmen dadurch Einfluss darauf, welche alltagsrelevanten Räume in der Großstadt konstituiert werden. In Hinblick auf die Frage nach städtischen Räumen und ihren Raumkonstitutionen im biografischen Verlauf ist die Transformation des Raums »Nachbarschaft« besonders prägnant. Ein Antagonismus, der dabei eine besonders große Rolle spielt, ist der zwischen Mahalle und Site. Das Mahalle, im osmanischen Reich die kleinste, örtliche Verwaltungseinheit, steht heute insbesondere für romantische Rückbezüge und die Sehnsucht nach einer sozialen Nachbarschaft, in der noch Ordnung und Struktur, aber auch Gemeinschaft und Solidarität herrschte. Die Site, die geplante Wohnanlage, steht zwar ebenfalls für Ordnung und Struktur, aber auch für soziale Kälte und Anonymität. Die meisten Nachbarschaftsräume meiner Interviewten befinden sich irgendwo dazwischen – mit einer Tendenz in die eine oder andere Richtung. In vielen Fällen hat sich der Nachbarschaftsraum im Zuge des biografischen Verlaufs transformiert: Er ist kein totaler Raum und auch kaum Sozialisationsraum mehr. Die meisten Interaktionen sind freundlich-distanziert. Trotzdem hat er noch wichtige alltägliche Funktionen, wie die Versorgung mit den wichtigsten Alltagsgütern und die Verknüpfung mit anderen Räumen. Da sich der Nachbarschaftsraum im Zuge des biografischen Verlaufs transformiert hat, verlagern sich seine sozialen Funktionen zum Teil in neue Räume. Gleichzeitig kommt es zu einer Ausdifferenzierung von Räumen, die die Funktionen der Substitution und Emanzipation übernehmen. Durch diese Ausdifferenzierung wird das stressige Großstadtleben erträglich. Die Sozialisationsfunktion der Nachbarschaft wird abgelöst, die Kernfamilie und Bildungsinstitutionen spielen eine größere Rolle. Brückenräume, die Räume, Orte und Personen miteinander verbinden, nehmen an Bedeutung zu – wie beispielsweise der private PKW. Private Rückzugsräume wie die eigene Wohnung werden ebenfalls wichtiger, um mit den alltäglichen Anforderungen umzugehen. Anonyme, institutionalisierte Räume wie die Shoppingmall dienen zur Erholung und zur Freizeitgestaltung. Konstanz, die im Großstadtalltag abhanden gekommen zu sein scheint, wird in festen baulichen Strukturen (wie geplanten Wohnanlagen) oder am Arbeitsplatz konstituiert. Im Zuge dieser Erfahrungen und Veränderungen kommt es zu einer veränderten Zeitlichkeit von Räumen: Sie verlieren schneller an Bedeutung, werden schneller abgelöst und scheinen in den meisten Fällen nur vorläufig Bestand zu haben. Die dargestellten Strategien zum Umgang mit Raumtransformationsprozessen zeugen von dieser Vorläufigkeit – sie sind gewissermaßen ein Coping auf

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Dauer. Aus diesem Grund ist auch die Zukunft für die Individuen nicht planbar. Viele wissen nicht, was sie von der Stadt und ihrer Entwicklung noch erwarten können. Somit sehnen sich die meisten nach einfacheren sozialen Strukturen, die sich in den Idealvorstellungen der Siedlungsstrukturen widerspiegeln: ein kleines Haus mit Garten. Da diese Idealvorstellung in der Großstadt jedoch nicht mehr realisierbar ist, ziehen viele der Untersuchungspersonen letztendlich die Flucht aufs Land oder an die Küste in Erwägung. Das wahre, gute Leben lässt sich nur noch außerhalb der Großstadt erhoffen. Meine Studie hat gezeigt, dass die Lebenswelten der hier untersuchten Personen von vielfältigen Verflechtungszusammenhängen und Herausforderungen des dichten Zusammenlebens in der Großstadt geprägt sind, denen sie mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien begegnen. Und es ist völlig offen, welche neuen Verflechtungszusammenhänge noch hinzukommen. Darüber hinaus ist der alltägliche, normative Aushandlungsprozess des richtigen Großstadtlebens unendlich. Schließlich ist er ein Prozess, der sich durch die soziale Praxis auszeichnet. Dieses Phänomen finden wir auch in Pamuks Roman »Diese Fremdheit in mir« wieder. Pamuk beschreibt darin zum Ende die neue Lebensrealität des Protagonisten Mevlut im Apartmentblock: »Nun wohnten sie alle zusammen in demselben zwölfstöckigen Hochhaus, das insgesamt achtundsechzig Wohnungen umfasste. Nur Mevlut und Samiha hatten eine Wohnung auf der nach Norden gehenden Seite, ohne Ausblick, im ersten Stock. Onkel Hasan und Tante Safiye wohnten im Erdgeschoss, Korkut und Vediha im neunten Stock und Süleyman und Melahat ganz oben im zwölften Stock. Wenn sie sich im Aufzug trafen oder in der Eingangshalle, wo der ständig rauchende Hausmeister seine Fußball spielenden Kinder schimpfte, lachten und scherzten sie und taten so, als ob es ganz und gar natürlich wäre, alle zusammen in so einem Hochhaus zu wohnen, aber eigentlich empfanden sie ihre Situation als befremdlich.« (Pamuk 2017: 555) Die urbanen Raumtransformationsprozesse scheinen kaum innerhalb einer Biografie verarbeitbar zu sein. Sie bringen die sozialen Strukturen der Großstadt durcheinander, sodass das Motiv der Entfremdung und Befremdlichkeit immer wieder auftaucht. Obwohl die Stadt Istanbul immer schon eine Metropole war, so war sie dies nicht immer für alle Bewohnerinnen und Bewohner zur gleichen Zeit. Gewisse Bevölkerungsgruppen haben eine spätere Urbanisierung erfahren als andere. Oder, um Leyla noch einmal sprechen zu lassen: »Actually after thirty years of a very ordinary life (lacht)/it seems that we’ve come to know Istanbul gradually, during the stages afterwards. I mean, the place we’d been living wasn’t Istanbul, we’ve come to know that.« (Transkript Leyla)

7. Zusammenfassung und Ausblick

Sind also das Wachstum und die ständige Transformation das unveränderliche Schicksal der Stadt Istanbul? Oder wird sie aufgrund der hier dargestellten Lebensanforderungen in Zukunft von größerer Abwanderung bestimmter Bevölkerungsgruppen betroffen sein? Wird die Großstadt zukünftig vielleicht nur noch zum Aufenthaltsort für bestimmte biografische Phasen, wie die Ausbildung und das Erwerbsleben? Oder kommt es zu einer zunehmenden Verbreitung von kosmopolitischen Inseltypen, die ihr Leben weitestgehend unabhängig von den lokalen Bedingungen und alltäglichen Lästigkeiten der Großstadt gestalten? Dann würde die Bedeutung des Ortes stark an Relevanz verlieren und die Stadt nur noch zu einem »spot« (Transkript Zehra) werden. Der Verlauf solcher Entwicklungen scheint zum jetzigen Zeitpunkt kaum vorhersehbar zu sein. Wie diese Untersuchung zeigt, verhalten sich die Individuen sehr resilient gegenüber den umfassenden Transformationen, mit denen sie über ihren Lebensverlauf konfrontiert sind. Gleichzeitig handelt es sich bei den Interviewten meiner Studie um eine besondere und privilegierte Personengruppe: Sie sind Angehörige der mittlerweile etablierten Mittelschicht, gut ausgebildet und in der Regel mit stabilen Einkommensverhältnissen. Mit der besseren Ausstattung unterschiedlicher Ressourcen können sie auch besser auf die vielfältigen Alltagsanforderungen reagieren. Dazu gehört auch ein potentieller Wegzug aus der Stadt, der bei vielen die Zukunftspläne bestimmt. Man muss es sich leisten können, in die Stadt zu ziehen und in ihr zu leben, man muss es sich aber genauso leisten können, wieder aus ihr wegzuziehen. Was dies für sozialen Zusammenhalt und Identitätskonstruktionen bedeutet, wird dann eine neu zu klärende Frage sein. In jedem Fall scheint schon heute der Traum vom guten Leben an der Küste als Alternative zur Großstadt kaum aussichtsvoll zu sein, denn auch diese entwickelt sich zunehmend zur Betonwüste (Güsten 2020). Die aktuelle Situation in der Türkei scheint von konträren Entwicklungen geprägt. Zum einen erließ die amtierende AKP-Regierung im Jahr 2019, im Vorlauf zu den Kommunalwahlen, einen erneuten »Baufrieden« im Sinne einer Amnestie für Schwarzbauten (Demircan 2019), zum anderen gehen die Baugenehmigungen zurück, das Bauen verteuert sich und ein Überangebot an Immobilien auf dem türkischen Markt1 scheint sich immer deutlicher abzuzeichnen (Kaufmann Bossart 2017; Bagoglu 2019). Unter Umständen kehrt wortwörtlich bald etwas Ruhe in die Stadt ein. Gleichzeitig scheint das Modernisierungsprojekt der AKP-Regierung für eine neue Türkei noch nicht abgeschlossen. Besonders umstritten ist zurzeit das Mega-Projekt »Kanal İstanbul«, der das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbinden soll. Dieses Mega-Projekt zieht weitere Großprojekte mit sich, wie großflächige Wohnanlagen, Finanz- und Dienstleistungszentren sowie natürlich

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Laut GTAI-Analyse standen Anfang des Jahres 2019 allein in Istanbul etwa 371.000 Wohnungen leer (Bagoglu 2019).

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Hafenanlagen und Logistikzentren.2 Der im Jahr 2019 neugewählte Bürgermeister Istanbuls, Ekrem İmamoğlu von der CHP, ist gegen das Projekt (Bellut 2020), wirbt für Transparenz und intelligente Stadtplanung (Hermann 2019: 3) und liefert sich gleichzeitig einen erbitterten Machtkampf mit dem amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan (Schlötzer 2019). Die CHP als Ganze scheint davon getrieben zu sein, dem »Beton-Regime« der AKP ein Ende zu setzen (CHP 2019). Obwohl die Stadtproduktion von vielfältigen Akteurinnen und Akteuren geprägt ist, ist die Zukunft des Städtischen gerade von denjenigen abhängig, die gegenwärtig die größte Gestaltungsmacht besitzen. Sollte hier in der Zukunft auch auf nationaler Ebene ein politischer Wechsel stattfinden, kann er großen Einfluss auf die Lebenswelten in der urbanen Türkei haben. Nicht zuletzt kann die Ablehnung gegenwärtiger Stadtentwicklung seitens der Interviewten auch ein Ausdruck der politischen Unzufriedenheit sein, weil diese stark mit der AKP und Recep Tayyip Erdoğan identifiziert wird. Unter den hier interviewten Personen findet das fast schon totalitär vorangetriebene Modernisierungsprojekt kaum Zuspruch. Darüber hinaus hat sich im Zuge der COVID-19-Pandemie ein wahrer Run auf erwerbbare Grundstücke in den ländlichen Regionen aufgetan. In den malerischen Küstenorten werden Acker erworben und illegal bebaut, in der Hoffnung auf eine erneute Bauamnestie im Vorfeld der Parlamentswahlen im Jahr 2023 (Demircan 2020). Auch die nächsten Generationen scheinen sich in ihrer Heimat nicht mehr wohl zu fühlen. Die türkische Jugend, von der sich laut einer Umfrage aus dem Jahr 2020 über die Hälfte als unglücklich bezeichnet, zieht es vermehrt ins Ausland3 (MAK Danışmanlık/Yeditepe Üniversitesi 2020). Auch wenn die Ankunftsdörfer der urbanen Migrantinnen und Migranten fast ausnahmslos verschwunden sind, so ist die urbane Migration sowie eine rapide Raumtransformation eine geteilte biografische Erfahrung eines Großteils der heutigen Bevölkerung Istanbuls und anderer türkischer Großstädte. Dieses Phänomen findet sich in vielen Ankunftsstädten weltweit wieder, weshalb es viel Raum für eine anschlussfähige Forschung gibt. Losgelöst vom regionalen Kontext hoffe ich also, dass ich mit meiner Arbeit zeigen konnte, wie fruchtbar ein biografisch-interpretativer Ansatz für die interdisziplinäre Stadtforschung und für die Erforschung von Räumen und Orten sein kann. Mit meiner Forschung schließe ich mich an das noch kleine, aber sehr vielversprechende Feld an, das Stadtforschung mit raum-

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Siehe dazu auch die offizielle Homepage (Kanal İstanbul 2020). 50,5 Prozent der türkischen Jugendlichen sind unglücklich (MAK Danışmanlık/Yeditepe Üniversitesi 2020: 38), 76,2 Prozent würden gerne temporär für Ausbildung oder geschäftlich ins Ausland gehen (ebd.: 97) und 64 Prozent würden im Rahmen einer dauerhaften Staatsbürgerschaft ins Ausland gehen (ebd.: 99). Eine deutschsprachige Zusammenfassung der Studie findet sich bei Klinzing (2020).

7. Zusammenfassung und Ausblick

und biografietheoretischen Ansätzen verknüpfen will. Hierzu zählen beispielsweise Gunter Weidenhaus’ (2015; 2017) Forschung zu sozialer Raumzeit, Hans Jürgen Glinkas (2015) Untersuchung zum Verhältnis von Biografie und Raumerleben oder Johannes Beckers (2017; 2019) Arbeiten zur Verknüpfung der Analyse von familienund lebensgeschichtlichen Verläufen mit der Analyse von Prozessen der Verortung. Hiermit seien nur einige neuere Beispiele von mir genannt, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit dieser Liste zu erheben. Auch Becker lobt die aussichtsreiche methodische Innovation, die durch die Kombination aus Biografieforschung und Raumsoziologie entsteht (vgl. Becker 2017: Kap. 2). Die hier erworbenen Erkenntnisse zu städtischen Räumen und ihren Raumkonstitutionen im biografischen Verlauf könnten mit denen anderer Städte verglichen werden. So macht sich auch Löw für dieses Bestreben stark: »Die sozialtheoretische Bestimmung von Raum kann genutzt werden, um Städte in ihren Strukturen zu verstehen und zu vergleichen.« (Löw 2018: 15) Ich möchte an dieser Stelle ein paar Vergleichsmöglichkeiten durchspielen, die für eine Anschlussforschung relevant sein könnten. Diese setzen sich in theoretischer Samplingtradition aus minimalen und maximalen Vergleichen zusammen – auch wenn sich Nähe und Distanz der einzelnen Fälle im Laufe einer Forschung selbstverständlich erst noch beweisen müssten. Zu den minimalen Vergleichen würden zunächst Städte in der Türkei zählen, die zeitlich und strukturell eine ähnliche Urbanisierungserfahrung durchlebt haben, wie Ankara oder Izmir. Also Städte, die sich insbesondere ab den 1950er Jahren rasant urbanisierten und die ebenfalls von vielen Gecekondu-Transformationen geprägt waren. Es zeigt sich dabei eine besondere Nähe zur Stadt Izmir, deren Stadtproduktion ebenfalls von einer ständigen Erdbebengefahr geprägt ist4 . Weitere innertürkische Vergleichsmöglichkeiten stellen die sogenannten »anatolischen Tiger« beziehungsweise die »secondary cities« der Türkei dar, wie Bursa, Mersin, Kocaeli, Kayseri und Gaziantep, die insbesondere ab den 2000er Jahren einen großen Zuzug erlebt haben (vgl. World Bank 2015). Dabei ist zu beachten, dass die Politik der Stadterneuerung in den letzten 20 Jahren zwar zum Teil abhängig von der lokalen Regierung gewesen ist, die Zentralregierung sich aber immer wieder in lokale Stadtentwicklungsprozesse eingemischt hat und einmischt (Kuyucu 2018). Schaut man sich in anderen vorwiegend islamisch geprägten Regionen um, bieten sich insbesondere Vergleiche mit den Städten Kairo, Amman und Teheran an. Kairo und Istanbul verbindet eine lange Geschichte als Wirtschafts- und Machtzentrum, das ab den 1950er Jahren ebenfalls einen großen Bevölkerungszuwachs durch Landflüchtende und eine entsprechend chaotische Stadtentwicklung erlebt hat. Gleichzeitig ist Kairo noch viel dichter bevölkert als Istanbul und muss 4

Wie sich jüngst traurigerweise wieder im Erdbeben vom Jahr 2020 zeigte.

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

sich bezüglich seiner Tal- und Wüstenlage einer bedeutend größeren geografischen Herausforderung stellen. Besonders aufsehenerregend sind hier die Satellitenstädte in der Wüste (vgl. Elmouelhi 2018). Die Stadt Amman zeichnet sich durch ein rasches Bevölkerungswachstum ab dem Jahr 1948 durch palästinensische Flüchtlinge aus, die einen ähnlichen Etablierungsprozess5 hinter sich gebracht haben wie die türkische Landbevölkerung in Istanbul. Besonders spannend zu betrachten wären hier auch die Parallelen und Unterschiede in der Siedlungstransformation der Flüchtlingscamps mit den türkischen Gecekondus. Teherans Bevölkerung speist sich ebenfalls zu einem großen Teil aus städtischen Migrantinnen und Migranten, die ab den 1950er Jahren in die Stadt zogen; die Stadt hat ebenfalls große Probleme mit Flächen- und Wohnungsknappheit sowie einen astronomischen Preisanstieg, was die Wohnkosten angeht, zu verzeichnen. So transformierten und transformieren sich die umliegenden Dörfer zu Großstädten (vgl. Madanipour1998; Pahl-Weber/Wolpert 2014). Die Urbanisierung der Golfstaaten lässt sich nur schwer mit den bisher hier genannten Städten vergleichen. Aber gleichzeitig stellen die Städte am Persischen Golf wichtige Vorbildfunktionen für Städte weltweit dar, insbesondere für Schwellenländer – allen voran die Stadt Dubai. So ist es nicht zufällig zu dem geflügelten Wort der Dubaization gekommen (siehe Elsheshtawy 2010: Kap. 9). In Istanbul erinnern nicht nur viele Elemente der Stadtplanung an das arabische Vorbild (vgl. Yigitcanlar/Bulu 2015), sie sind gleichzeitig auch darauf ausgerichtet, die Stadt für arabische Investoren attraktiv zu machen. Die Liste der minimalen und maximalen Vergleichsmöglichkeiten ließe sich noch beliebig erweitern. Ähnlichkeiten zur türkischen Urbanisierungserfahrung finden sich auch in Lateinamerika (vgl. Huffschmid/Wildner 2013). Besondere Kontrastfälle bezüglich ihrer Geschichte sind die Megastädte Chinas, die in den letzten 30 Jahren quasi aus dem Nichts entstanden sind und ihre umliegenden Dörfer verschlangen. Gleichzeitig gehören auch hier die Gated Communities mittlerweile zum Wohnstandard der Mittelschicht (vgl. Herrle/Fokdal 2012). Und auch die Megastädte der Asian Tigers liefern interessante Anknüpfungspunkte für eine Bearbeitung rapider Raumtransformationsprozesse. Hat man sich einmal rund um den Globus nach Vergleichsmöglichkeiten umgetan, blickt man mit einem frischen Blick auf die sich vergleichsweise doch sehr langsam transformierenden Städte Europas und ihre Logiken der Stadtentwicklung. Gleichzeitig ist es eine große Herausforderung, Städte in einer soziologischen Perspektive miteinander zu vergleichen – selbst wenn diese ein vermeintlich einheitliches Charakteristikum wie eine bestimmte Größe teilen. Johanna Hoerning (2016) zeigt dies beispielsweise mit ihrer Studie »›Megastädte‹ zwischen Begriff 5

Johannes Becker präsentierte einen Forschungsbeitrag dazu beim 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im September 2020 in Berlin (in digitaler Form).

7. Zusammenfassung und Ausblick

und Wirklichkeit«. Laut Hoerning setzt sich die Forschung um Megastädte nämlich hauptsächlich mit den Konsequenzen der Megaverstädterung auseinander6 , aber nicht mit der Frage danach, wie Megastädte hergestellt und erfahren werden (Hoerning 2016: 14f.). Mit der Frage nach der biografischen Verarbeitung räumlicher Transformationsprozesse ließe sich jedoch ein Beitrag zur lebensweltlichen Herstellung und Erfahrung von einem großstädtischen Raum und seiner Zusammensetzung leisten. Neben den Möglichkeiten des Städtevergleichs ließe sich aber noch auf einer anderen Ebene ein Vergleich ziehen, nämlich auf der der spezifischen sozialen Situation, also ein Vergleich der biografischen Verarbeitung rapider Raumtransformation. Diese Vergleichsebene muss nicht zwangsläufig auf städtische Erneuerung zielen. Hier könnten beispielsweise räumliche Veränderungen durch Klimawandel, Naturkatastrophen oder Kriege und ihre Auswirkungen auf die Betroffenen betrachtet werden. Methodisch sind hier keine Grenzen gesetzt. Der biografietheoretische Ansatz wirkt hier so stark, da es sich bei dem sozialen Phänomen der Raumproduktion eben um vielfältige menschliche Verflechtungen beziehungsweise »wechselseitige Beziehungen zu anderen Menschen« (Schütz/Luckmann 2017: 47) handelt und jeder »Mitglied einer sozialen Gliederung [ist], in die er geboren wurde oder der er sich angeschlossen hat, die vor ihm bestanden hat und nach ihm bestehen wird« (ebd.), und jeder baut seine Pläne auf einem biografisch erworbenen Erfahrungsvorrat auf. Das zwischenzeitliche Erschrecken und Fremdwerden ist so fast schon ein natürliches Element von räumlichen Transformationsprozessen. So lässt sich das in der Einleitung erwähnte Zitat von Riemann fast wortgleich übernehmen: Der Bezug zur eigenen Stadt geht verloren, zu viel ist problematisch und undurchsichtig geworden, und es ist den Interviewten nicht mehr möglich, die städtische Entwicklung narrativ darzustellen. Das Zeitalter der Urbanisierung ist längst nicht abgeschlossen und wird mit Sicherheit die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung der nächsten Jahrzehnte weiter prägen. Dabei wird es keine allgemeingültigen Theorien geben, die jegliche Sachverhalte erklären können. Eine methodisch-innovative und auf den Untersuchungsgegenstand abgestimmte Bearbeitung der entstandenen Phänomene wird weiterhin unabdingbar sein.

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Diese Konsequenzen beinhalten beispielsweise gesellschaftliche Polarisierungen und soziale Ungleichheiten, Umwelt- und Ressourcenproblematiken oder wirtschaftliche und kulturelle Faktoren – meist den Städten des globalen Südens attestiert und beschrieben aus (sozial-)geographischer Perspektive (Hoerning 2016: 14; Kraas et al. 2014).

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Transkriptionszeichen

Orientiert an: Erweiterte inhaltlich-semantische Transkription mach Drehsing und Pehl (2018) • /: Satzbrüche • -: Wortabbrüche • Wortdoppelungen werden immer transkribiert • (.): eine Sekunde Pause, »(..)« zwei Sekunden Pause, »(…)« drei Sekunden Pause, (Zahl): Pause in Sekunden • Rezeptionssignale und Fülllaute aller Personen werden transkribiert, mit Ausnahme des Backchanneling der interviewenden Person, wenn diese damit den Redefluss nicht unterbricht • Gegebenenfalls wird nach Partikeln eine Beschreibung der Betonung in Klammern festgehalten • //: Sprecherüberlappungen • Mehrere Fülllaute werden ohne Satzzeichen dazwischen getippt • VERSALIEN: besonders betonte Wörter oder Äußerungen • (lacht): parasprachliche Signale, Hintergrundgeräusche • (unv.): Unverständliches Wort oder Passage • (Wort?): vermuteter Wortlaut • [Wohnort]: zur Maskierung getätigte Veränderung des Originaltextes • ›Aussage‹: zitierte, wörtliche Rede

Zur Bezeichnung der anwesenden Personen: • I: Interviewer(in) (bei mehreren wird Nummerierung angefügt) • B: Interviewte Person (bei mehreren wird Nummerierung angefügt)

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

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Danksagung

Prof. Dr. Stephan Conermann war Erstgutachter dieser Arbeit. Er hat mich über die gut fünf Jahre vertrauensvoll begleitet und hatte jederzeit ein offenes Ohr, um mit mir zu diskutieren und mich zu beraten. Er schien nie an mir zu zweifeln, was mich stets motivierte, weiterzumachen. Vielen Dank, ich hätte mir keine bessere Betreuung vorstellen können! Prof. Dr. Wendelin Strubelt war Zweitgutachter dieser Arbeit. Ihm gilt großer Dank für die vielen anregenden Gespräche über Stadt, Politik und die Türkei bei (wie passend!) schwarzem Tee. Ich habe unsere Treffen immer sehr genossen. Prof. Dr. Christine Schirrmacher danke ich herzlich für ihren Vorsitz bei meiner Prüfungskommission und ihr großes Engagement, das Verfahren noch »rechtzeitig« abzuschließen. Frau Prof. Dr. Ines Stolpe danke ich sehr für ihren Einsatz als weiteres Mitglied der Prüfungskommission und die Begleitung meiner Dissertation innerhalb die BIGS-OAS. In der Türkei möchte ich vor allem Suat Ertüzün danken, ohne den die Forschung nicht hätte stattfinden können. Er war nicht nur Freund und Begleiter, sondern auch fachlicher Diskussionspartner und Türöffner. Besonderer Dank an meine ganzen Interviewpartnerinnen und -partner, die sich viel Zeit für mich genommen und mir unvergessliche Eindrücke in ihr Leben gegeben haben. Außerdem gilt Prof. Dr. Murat Güvenç, Funda Dönmez Ferhanoğlu und dem gesamten Team des Istanbul Studies Center an der Kadir Has Universität in Istanbul großer Dank für die Begleitung und Aufnahme während meiner Feldforschung. Diese Arbeit ist ohne wissenschaftlichen Austausch und die gemeinsame Arbeit am Material kaum denkbar. Ich danke deshalb allen Kolleginnen und Kollegen, die mit mir in kürzeren oder längeren Gesprächen darüber diskutiert haben, beispielsweise im Rahmen der BIGS-OAS, der Forschungswerkstatt Narrationsanalyse von Prof. Dr. Gerhard Riemann und Dr. Thomas Reim beim BMT 2019, PD Dr. AnnaLisa Müller und den Mitdiskutantinnen und -diskutanten bei der Jahrestagung des AK Qualitative Methoden der Geographie und der raumsensiblen Sozial- und Kulturraumforschung 2020 sowie meinen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Kultursoziologie. Christina Auffenberg, Susanne Bell und Ute Burdach haben Korrektur gelesen, vielen lieben Dank!

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Das Fremdwerden der eigenen Stadt

Ich danke außerdem meiner gesamten Familie für Vertrauen, Mut und Stolz. Jan Dirk, die wichtigste Person in meinem Leben, hat nicht nur alles gelesen und kommentiert, sondern mir auch immer den Rücken frei- und mich ausgehalten. Fin und Lene danke ich für den schönsten Lebensinhalt abseits dieser Arbeit.

Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., Dispersionsbindung, 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Gabriele Winker

Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima März 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3

Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid

Gesellschaftstheorie Eine Einführung Januar 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5

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Soziologie Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute 2020, 232 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung, 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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