Das fremde Land der Vergangenheit: Archäologische Dichtung der Moderne 9783412502195, 9783412225445

142 58 4MB

German Pages [280] Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das fremde Land der Vergangenheit: Archäologische Dichtung der Moderne
 9783412502195, 9783412225445

Citation preview

EVA KOCZISZKY

DAS FREMDE LAND DER VERGANGENHEIT ARCHÄOLOGISCHE DICHTUNG DER MODERNE

2015 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Université de Lorraine (Cegil, Metz).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Johannes Poethen: Athen, im Hintergrund der Parthenon © Deutsches Literaturarchiv Marbach

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22544-5

4

Inhalt VORWORT  . . ....................................................................................................... 

7

FIGUREN DER ABSENZ: ARCHÄOLOGISCHE DICHTUNG UM 1900  ...................... 

11

Fragment und Ruine  . . .........................................................................................  Entfremden: Das einsame Bruchstück und sein Ort  ..............................................  Fragmentarisieren und Topographieren  . . ..............................................................  Figuren der Absenz  ............................................................................................ 

11 20 23 28

STEIN UND FLEISCH: DIONYSISCHE ARCHÄOLOGIEN BEI BENN, DEHMEL, HAUPTMANN, EHRENSTEIN UND DÄUBLER  ....................................... 

33

Im Banne der Archaik  .........................................................................................  Sarkazein  .......................................................................................................... 

33 50

WEISS, ABER NICHT APOLLINISCH  ������������������������������������������������������������������ 

59

„Mein Griechenland ist vom Kristall“ ....................................................................  Leukios, der Schlafende  .....................................................................................  Die Insel: Leuké  .................................................................................................  Das Weiß des Wassers: Wasser, Tränen Nebel, Dampf in Ywan Golls „Stunden“  .......................................................................... 

59 67 75

ARCHÄOLOGISCHE LANDSCHAFTEN: ITALIEN VERSUS HELLAS  ........................ 

91

DER GRIECHISCHE TEMPEL: KASCHNITZ, WINKLER, MITTERER UND BACHMANN  . . ........................................................................... 

105

Segesta  . . ...........................................................................................................  Sunion  ..............................................................................................................  Athen: Die Korenhalle des Erechtheion  .. ...............................................................  Die Tempel am Akragas  ......................................................................................  Der Ort  . . .....................................................................................................  Die poetische Konstruktion der Landschaft  ....................................................  Weihen  .......................................................................................................  Poetologie: Tempel und Gedicht  ....................................................................  Ausblick: Extreme Offenheit  ......................................................................... 

83

105 114 122 127 128 129 133 137 141

5

INHALT

DIE ÄGÄIS ALS POETOLOGISCHER RAUM BEI ERICH ARENDT  .......................... 

145

Der photographische und der dichterische Blick  . . .................................................  Kouros  .............................................................................................................. 

145 152

DIE THERMOPYLEN: DENKBILDER DER GESCHICHTE BEI ARENDT, ATABAY UND KUNERT  ....................................................................................... 

178

Die Helme Arendts  .............................................................................................  Atabays Thermopylen  .........................................................................................  Kunerts Ruinen des Überlebenden  . . ..................................................................... 

178 186 194

EXKURS: DIE „PHOTOGRAVIERTEN“ RUINEN IN JACQUES DERRIDAS BLEIBE, ATHEN  ................................................................................................. 

200

Die Ruine Athen  .................................................................................................  Die Photographie und die Schrift  .........................................................................  Die Begleitpersonen der Clichés  . . ........................................................................ 

200 209 217

DAS WORT ALS ARCHÄOLOGISCHER FUND BEI DURS GRÜNBEIN  ..................... 

227

Das Wort als archäologischer Fund: Aktiv  . . ...........................................................  Die Antike ist immer die Stimme des Anderen: Auf der Akropolis  ...........................  Metapher  .. .........................................................................................................  Die leere Fundgrube: Forma Urbis Romae  ............................................................ 

230 239 248 250

EPILOG: DIE AUFGERÄUMTEN RUINEN  .. ............................................................ 

255

LITERATURVERZEICHNIS  .................................................................................. 

261

Quellen  .. ............................................................................................................  Sonstige Literatur  .. ............................................................................................. 

261 264

BILDNACHWEIS  ................................................................................................ 

275 277

REGISTER  . . ....................................................................................................... 

6

Vorwort Die vorliegende Monographie versucht in der Dichtung des 20. Jahrhunderts eine Strömung kennt­lich zu machen, die „archäolo­gische“ Poesie genannt wird. In Bezug auf die früheren Epochen – vom 17. Jahrhundert bis zur Spätroman­ tik – benutzt die Fachliteratur den Terminus der „Ruinenpoesie“, sprach von einer Gattung, die durch das Motiv bzw. durch den Gegenstand des Gedichts bestimmt war. Das Adjektiv „archäolo­gisch“ soll hingegen im doppelten Sinne verstanden werden: Es weist einerseits auf einen realen kulturellen Ort hin, der archäolo­gisch zu nennen ist, dessen Gedächtnis die Lyrik evoziert oder deren Raum sie poetisch gestaltet; außerdem handelt es sich zu gleicher Zeit um eine Metapher, die auf ein poetisches Verfahren hinweist. Es genügt u. a., auf Sigmund Freud, Aby Warburg und Walter Benjamin hinzuweisen, um betonen zu können, wie stark die ausgegrabenen Relikte älterer Kulturen das Kollektivgedächtnis der modernen Kultur geprägt haben und immer noch prägen. Da in meiner Darstellung das Archäolo­gische auf die ausgegrabene Antike fokussiert bleibt, könnte man zu gleicher Zeit von einer Tendenz zum Klas­ sischen innerhalb der Moderne, ja sogar in der Avantgarde sprechen, zu der ­solche Dichterpersön­lichkeiten gehören wie Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Eugen Gottlob Winkler, Marie Luise von Kaschnitz, der späte Yvan Goll und der späte Gottfried Benn. Und nach dem Zweiten Weltkrieg dürfen wir zwar von keiner Strömung, aber von wichtigen einzelnen Lebenswerken spre­ chen, in denen die Gedächtnistiefe der Dichtung sich Orten und Dingen des Griechentums zuwendet, wie etwa bei Erich Arendt, Günter Kunert, Ingeborg Bachmann, Cyrus Atabay oder Durs Grünbein. Die werkimmanenten Poetiken stehen bei diesen Autoren zumeist in einem Wechselverhältnis von Wissenschaft und produktiver Einbildungskraft, sie oszil­ lieren ­zwischen geschulter Wahrnehmung und souveräner Sprachschöpfung. Mögen sie in ihren Einzelheiten noch so vielfältig sein, signalisieren sie doch alle auf ihre Weise markante Wenden hinsicht­lich der Gegenwärtigkeit der grie­ chischen Antike in der Moderne. Mit „Figuren der Absenz“ weise ich auf ein wesent­liches Darstellungsprinzip hin, das den modernen dichterischen Umgang mit den Sichtbarkeiten der Antike kennzeichnet. Während die Romantiker die antike Ruine grundsätz­lich metonymisch lasen und im unwiderruf­lich fragmen­ tierten Bruchstück pars pro toto eine Totalität voraussetzten, sind die Figuren der

7

Vorwort

Leere wie der Hiatus oder der Apostroph ein allgemeines Merkmal jener Strö­ mung der Moderne, die hier untersucht wird. Die Analyse der archäolo­gischen Poetologien wird in einen breiteren Rahmen kulturwissenschaft­licher Fragestellung eingebettet. Es ist u. a. darauf hinzuwei­ sen, dass mit der Entdeckung der Sichtbarkeiten antiker Vergangenheit für die Dichtung das Spannungsfeld ­zwischen dem Griechischen und dem Modernen, das mit dem Ausklang der Klassik bereits als antiquiert galt, wieder neue Energie erhielt. Der Blick des modernen Dichters entdeckt die Ruinen einer verschütteten Welt, aus der nichts übrig geblieben ist als nur noch Ruinen, erkennt in ihnen Zeitbilder, gegenwärtige und gegenwartsbezogene Fragmente aus einer verlorenen Zeit. Die Trümmer zeugen von Zerstörung und Gewalt in der Geschichte, aber zu gleicher Zeit auch von einer verfallenen Gegenwart: Sie figurieren in Kunst und Dichtung unsere Geschichte. Ihre neu empfundene Monstrosität, ihre ver­ wirrende erratische Präsenz erinnert nicht nur an Tod und Verfall im Sinne des Memento mori, sondern stellt uns Leser und Museumsbesucher in eine Verflech­ tung von Zeiten und Orten, in denen sich unsere Existenz aufzuheben scheint. Zum Aufbau der Monographie soll Folgendes bemerkt werden: Die Untersu­ chung beginnt mit der Entdeckung des realen Griechenlands durch die Dichter und Künstler, die um 1900 das Land besuchten und der materiellen Präsenz seiner Vergangenheit begegneten. Sie entdecken in Hellas ein ganz anderes Griechen­ land als die Welt der Klassik: Sie finden das Winckelmannsche, das Schöne, das Klas­sische das Harmonische fast nirgendwo, sie sind eher von der Leere der Rui­ nenstätten und von ihrer unheim­lichen, befremdenden Präsenz gefangen gehalten. Dieses Negativistische, die Faszina­tion einer abwesenden Anwesenheit bildet dann den Kern der Poetiken symbolistischer und avantgardistischer Dichtung, obwohl die Moderne im Rausch der neuen Technik die Antike an sich ablehnen wollte. Die nächsten Kapitel schildern die diony­sische Archäologie, die im Rausch der Uranfänge bei Gerhart Hauptmann, Theodor Däubler und Gottfried Benn konzipiert wird, sowie ihre satyrische Kehrseite bei Richard Dehmel und Albert Ehrenstein. Eine entgegengesetzte Tendenz lässt sich von den 1920er-­Jahren wahrnehmen, in denen die Obsession für eine „weiße“ Antike im ­­Zeichen der ästhetischen Proklama­tionen der Avantgarde der 1920er- und der 1930er-­Jahre wiederkehrt. Diese neue Ästhetik der weißen Antike, deren Genese sowohl der „poésie pure“ als auch der Photographie der 1930er-­Jahre entstammt, hat eine neue klas­sische Strömung in der modernen Dichtung inspiriert, die von Valéry und Kavafis bis zum späten Benn und Goll reicht.

Vorwort

Ein ganzes Kapitel wird dann der poetischen Konstruk­tion der Ruinen, insbe­ sondere des antiken Tempels – bei Kaschnitz, Winkler und Bachmann – gewidmet. Im zweiten Teil der Monographie bildet der Diskurs z­ wischen Poesie und Photo­ graphie die führende Rolle, der mit den Folgen des Massentourismus belastet ist und ihn auch reflektiert. Wegen ­dieses Rahmens der Gedichte von Erich Arendt, Günter Kunert und Durs Grünbein hielt ich es für sinnvoll, in einem Exkurs auf Derridas Essay zu den „photogravierten“ Ruinen Athens Bezug zu nehmen. Während frühere Monographien, die der Gegenwärtigkeit der archäolo­gischen Antike in der Kultur des 20. Jahrhunderts gewidmet waren, eher auf das soziolo­ gische Phänomen eines gesunkenen Kulturguts und auf das Phänomen eines na­tionalsozialistisch gefärbten Klassizismus fokussierten 1, versucht meine Dar­ stellung dazu ergänzend die produktive, mit den Zielstrebungen der Moderne verbundene klas­sische Imagina­tion in der modernen Dichtung freizulegen. Diese „klas­sische“ Moderne deutschsprachiger Dichtung zeigt im Laufe des Jahrhun­ derts ganz unterschied­liche Gesichter in ihrer gesellschaft­lichen Prägung: In der Dichtung des Exils – einer Erika Mitterer, Rose Ausländer, eines Eugen Gottlob Winkler – verwahrt Hellas etwas von der Obhut Arkadiens, vom ersehnten Ort des Friedens und der Geborgenheit; aus der sozialistischen Perspektive sprechen die Ruinen Griechenlands hingegen die Sprache der unverhohlenen Wahrheit, legen alle Sinnlosigkeit und Brutalität der Geschichte frei. Es ist mir eine besondere Freude, den Institu­tionen und Personen ihren Dank auszusprechen, ohne die die Monographie nie die vorliegende Form erreicht hätte. Zu nennen sind zunächst die Institu­tionen, die meine Forschungstätigkeit generös gefördert haben: die Fritz Thyssen Stiftung, die zuerst mein diesbezüg­ liches Projekt im Collegium Budapest gefördert hat (2009), dann das Interna­ tionale Kolleg Morphomata, in dem ich in einer inspirierenden intellektuellen Umgebung und unter idealen Forschungsbedingungen am Manuskript arbeiten durfte, außerdem gilt mein besonderer Dank der Alexander von Humboldt Stif­ tung und dem Getty Research Center Los Angeles, die mir jeweils ein Semester Forschungsaufenthalt in Berlin und in Los Angeles gewährt haben.

1 Suzanne Marchand: Down from the Olympus. Archeology and Philhellenism in Germany 1750 – 1970, Princeton 1996. Esther Sünderhauff: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezep­tion von Winckelmanns Antikenideal 1840 – 1945, Berlin 2004.

8

9

Vorwort

Abb. 1 

Capua, Amphitheater (1993)

10

Figuren der Absenz: Archäologische Dichtung um 1900 A realistic memory or archaeology may need flashbacks, long-­term backgrounds, reflexive reinterpreta­tions of past events. This temporality is the condi­tion of an archaeological method of assemblage, a rigorous atten­tion to things, to the empirical in making connec­tions, following the traces. This, I propose, is an archaeological poetics, the work of poetry.2

Fragment und Ruine Da liegt es, meterweit nur Bruchstücke, eines neben dem andern. Akte in Größe mei­ ner Hand und größer […] aber nur Stücke, kaum eines ganz: oft nur ein Stück Arm, ein Stück Bein, wie sie nebeneinander hergehen, und das Stück Leib, das ganz nahe

dazugehört. Einmal der Torso einer Figur mit dem Kopf einer anderen an sich ange­

preßt, mit dem Arm einer dritten. […] als wäre ein unsäg­licher Sturm, eine Zerstörung

ohnegleichen über d ­ ieses Werk gegangen. Und doch, je näher man zusieht, desto tiefer

fühlt man, daß alles das weniger ganz wäre, wenn die einzelnen Körper ganz wären.

Jeder dieser Brocken ist von einer so eminenten ergreifenden Einheit, so allein mög­ lich, so gar nicht der Ergänzung bedürftig, daß man vergißt, daß es nur Teile und oft

Teile von verschiedenen Körpern sind.3

So schildert Rainer Maria Rilke seinen ersten Besuch in Rodins Atelier in einem Brief an Clara Rilke. Was den Dichter an diesen Bruchstücken faszinierte, ist die absolute Ganzheit des kleinsten Teils, die vollkommene ästhetische Autonomie des kleinsten Fragments: Das Stück Bein, das Stück Arm wäre deut­lich weni­ ger, wenn auch der Leib ganz wäre. Diese Fragmente zeugen von einer unsäg­ lichen Zerstörung, die sie durch die Zerstörungsarbeit der Zeit selbst und durch die gewalttätigen Kräfte in Natur und Geschichte erlitten haben: „als wäre ein 2 Mike Pearson/Michael Shanks: Theatre/Archaeology, London – New York 2001, S. 43. 3 Brief an Clara Rilke, 2. September 1902. In: Rainer Maria Rilke: Briefe. Hrsg. v. Rilke-­ Archiv Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-­Rilke. Frankfurt/Main 1987, Bd. 1, S. 39 f.

11

Archäologische Dichtung um 1900

Abb. 2 Rodins Atelier (1905)

unsäg­licher Sturm, eine Zerstörung ohnegleichen über ­dieses Werk gegangen“. Sie zeugen aber zugleich von einer neuen Ästhetik des Fragments, die den Rest in seiner Konzentriertheit über das Ganze stellt, ja sogar sein Vollendetsein pro­ klamiert. Diese neue Ästhetik wird poetolo­gisch in Rilkes berühmtem Sonett Archaischer Torso Apollos genutzt, das Rilke bekanntermaßen Rodin gewidmet hat.4

4 Siehe die aufschlussreiche Studie von Peter Horst Neumann: Rilkes ‚Archaischer Torso ­Apollos‘ in der Geschichte des modernen Fragmentarismus. In: Lucien Dallenbach  / ­Christiaan L. ­Hart NibbriG (Hrsg.): Fragment und Totalität, Frankfurt/Main 1984, S. 257 – 274.

Fragment und Ruine

Man vergleiche nur die oben angeführte Briefstelle Rilkes mit der winckel­ mannschen Beschreibung des Torsos von Belvedere: Der Torso sei zwar „ohne Kopf, Arme noch Beine“, schreibt Winckelmann, doch „bildet die Vollkommenheit des übrigen in unseren Gedanken schönere Glieder, als wir jehmals gesehen haben“.5 Der Torso entfaltet also seine Schönheit, indem wir ihn mit unserer Einbildungs­ kraft ergänzen, den verstümmelten Rumpf mit Gliedern versehen und so in ihm die Vollkommenheit der abgebildeten Gottheit erblicken. R ­ ilkes Torsoerlebnis lenkt die Aufmerksamkeit des modernen Betrachters auf das Fragment an sich, das nicht mehr auf ein Ganzes hinweist, ja sogar an sich selbst mehr zu sein scheint als das Ganze. Die Fragmente von Statuen, von denen der moderne Dichter spricht, sind nicht einfach Bruchstücke, die durch die zerstörerische Arbeit allmäh­lich fragmentiert wurden: Sie erscheinen in ihrer Mutiliertheit dem „unsäg­lichen Sturm der Zerstö­ rung“ ausgesetzt. Diese Fragmente zeigen eine sonderbare Fragilität, w ­ elche die Rezep­tion antiker Torsi im 20. Jahrhundert so klar bestimmte: die Personalunion des Menschen mit dem Tode.6 Die starke ikonische Ausstrahlung des gewalttätig verstümmelten menschlichen Leibes macht den Torso zu einem konzentrierten ­­Zeichen, zur Chiffre „der spannungsreichen und gespannten Partialität“,7 heraus­ gerissen aus einem Lebensganzen, das zwar existiert, sich aber unserem Vorstel­ lungsvermögen entzieht. Somit werden Torso und Ruine zu autonomen, in sich bestehenden Phänomenen des modernen ästhetischen Denkens, sie werden aber keinesfalls zu bloßen „positiven“ Formen, zu Chiffren künstlerischer Freiheit, wie es immer wieder behauptet wurde, an ihnen wird ja eben das Traumatische unserer geschicht­lichen Existenz sichtbar, näm­lich die zerstörerische Gewalt der Zeit und der Geschichte selbst, wodurch sich die Differenz z­ wischen modernem Fragment, das in seiner Absolutheit keinen Hiatus mehr zur Totalität zeigt und von der auch nicht mehr absetzbar ist, und antikem Überrest neu konstituiert.8

5 Zitiert nach: Gottfried Böhm/Norbert Miller (Hrsg.): Frühklassizismus. In: Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 2, Frankfurt/Main 1995, S. 168. 6 Gladys Fabre: Antiquity/Modernity in Contemporary Art. In: ders. (Hrsg.): Antiguitat/modernitat, en l’art del segle XX. ­Barcelona 1990, S. 325 – 337, zitiert S. 335. 7 Der Ausdruck stammt von Rolf Wedewer. Rolf Wedewer: Torso. In: Karl Oskar Blase (Hrsg.): Torso als Prinzip. Eine Ausstellung des Kasseler Kunstvereins, Kassel 1982, S. 50 – 59, angeführt S. 57. 8 Erst in der Spätmoderne – etwa bei Blanchot, Derrida und Foucault – kann man vom Verschwinden der Differenz z­ wischen Ruine und Fragment sprechen. Aus d ­ iesem Grund können wir von mehreren Aspekten des modernen Fragmentdiskurses absehen.

12

13

Archäologische Dichtung um 1900

In Analogie zur Entdeckung der archaischen Torsi für die Moderne wurden die antiken Ruinen als eine andere Erscheinungsform des Fragmentierten auch anders angesehen als etwa ein halbes Jahrhundert zuvor. Um diesen Wandel wiederum mit einem markanten Vergleich zu veranschau­lichen, zitiere ich aus dem Vortrag von Ernst Curtius, den er 1844 über die Akropolis zu Athen hielt. Er begann seine Rede mit einer spielerischen, imaginären Führung in der Burg zur Zeit des Perikles: Jetzt ist es Zeit, eine Wanderung auf die Burg zu unternehmen, um zu sehen, was nun inzwischen aus dem Felsen, den die Pelasger geebnet, auf dem die Erechthiden das

Holzbild ihrer Göttin aufgestellt haben, geworden ist. – Hinter dem Turm führt der

Weg hinan. Nach wenigen Schritten hat man die Höhe der Terrassen erstiegen und

steht an der großen Freitreppe von Marmor, ­welche zur eigent­lichen Pforte hinan­

führt. […] Welch eine Fülle von Herr­lichkeit tritt uns hier entgegen […], zunächst fesselt unseren Blick die riesige Bronzestatue der Athene … etc.9

Erst nach dieser begeisterten Schilderung der einstigen Hochburg der Athener wird der Umstand bekannt, dass die Akropolis jetzt nicht so überliefert ist: Sie liegt in Trümmern. „So geringfügige Trümmer auch auf dem kahlen Burgfelsen stehengeblieben sind, einer treuen und begeisterten Forschung gelingt es dennoch, diese Trümmerwelt neu zu beleben; die Säulen fügen sich wieder zusammen, um die Giebelfelder zu tragen“ 10, ja sogar die Götter selbst kehren zu ihrem wahren Ort, nach Griechenland, zurück. Was hier als das hohe Ziel der Wissenschaft angekündigt wird, die ursprüng­ liche Schönheit der vergangenen Antike wiederherzustellen, entsprach der Vision von Künstlern und Dichtern der Epoche. Neben Klenzes Gemälde können wir Lamartines Worte über seinen Besuch auf der Akropolis in Erinnerung rufen: Die Burg ragte plötz­lich apokalyptisch aus der Zeit hinaus, sie erschien vor den Augen des Betrachters so, wie sie zu Platons Zeit gewesen war.11 Eine derartige wiederherstellende Erinnerung konnte Künstler und Dichter des 19. Jahrhunderts noch begeistern, aber um 1900 setzten sie sich mit einem solchen Konzept des 9 Zitiert nach: Dolf Sternberger: Die Ruinen von Athen. Deutsche Reisende des neunzehnten Jahrhunderts in Griechenland, Die Neue Rundschau 1939, S. 441. 10 Ebd. 11 Siehe Artemis Leontis: Topographies of Hellenism: mapping the Homeland, Ithaca 1995, S. 155.

Fragment und Ruine

Klas­sischen kritisch auseinander. Kein Wunder, dass sich die literarische, künst­ lerische Moderne als eine markante Krisenzeit zuerst mit einer klaren Abset­ zung von der Antike bzw. von deren klas­sischem Verständnis definierte: „Unser höchstes Kunstideal ist nicht mehr die Antike, sondern die Moderne“ – heißt es in den Thesen der Freien Literarischen Vereinigung zu Berlin, womit „das Flüchten in die Antike“, in ihr utopisches Schönheitsideal gemeint war.12 Solche Manifeste der Moderne haben aber zugleich mit ihrer Arroganz zu einer neuen Schätzung antiker Tradi­tion geführt, insbesondere bei solchen Autoren, die den bedingungslosen Glauben an Wissenschaft und Fortschritt nicht teilen konnten. Sie haben die Überreste des antiken Griechenlands mit neuen Augen gesehen, sie interessierten sich für die Ruinen um ihretwegen; Ruine und Torso wurden für sie zum „konzentrierten Zeichen“ ­­ einer neuen Gegenwärtigkeit des Vergan­ genen. Ihre Aufzeichnungen und Werke zeugen von einer neuen Apperzep­tion der Trümmer überhaupt. Während die Klassiker die Trümmer mit ihrer Phantasie neu aufbauen wollten und die Romantiker in den Ruinen das Werk der Verwü­ stung betrauerten und das Fragmentarische an sich für wertvoll hielten, weil es doch als Bild für das (verschwundene) Ganze stand, konnten die Dichter und Künstler der Moderne mit der überkommenen Ruinenmelancholie nichts mehr anfangen. Der moderne Betrachter erkennt in der Ruine stattdessen eine auto­ nome, in sich vollkommene Erscheinung, er nennt sie ein gemeinsames Werk von Kunst und Natur. Als Beispiel für diese signifikante ästhetische Wende ließe sich Georg Simmels Essay Die Ruine nennen, das eben im Jahre 1907 – im Jahr der Neuen Gedichte Rilkes, im Jahr der Griechenlandreise von Gerhart Haupt­ mann und anderen etc. – erschien. Simmel hat zum ersten Mal in der Ruine „die äußerste Steigerung und Erfüllung der Gegenwartsform der Vergangen­ heit“ 13 wahrgenommen und ihre Suggestivität aus den tiefen Energien dieser Spannung erklärt. Die Ruinen der Vergangenheit wirken auf den Betrachter in ihren Fragmenten, die, von ihrer ursprüng­lichen Funk­tion befreit, nur noch für sich selbst dastehen. Die Ruinen bewegen den modernen Künstler und Dichter, indem die sich im Fragmentarischen, im Verstümmelten darbietende Schönheit sie an die Zerbrech­lichkeit des menschlichen Lebens erinnert, an jene dunklen 12 Helmut Kiesel: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 13 f. 13 Georg Simmel: Die Ruine. In: ders.: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, hrsg. v. Ingo Meyer, Frankfurt/Main 2008, S. 34 – 41.

14

15

Archäologische Dichtung um 1900

phy­sischen und dämonischen Kräfte, die in der Geschichte walten und unerbitt­ lich zum Untergang führen.14 Die Überreste der Antike entfalten jetzt eben nur in ihrer Fragmentarisierung ihre wahre ästhetische Kraft, das Griechische an sich wird zum Urbild für das Verstümmelte, für das Mutilierte, ja für die Spuren des Gewalttätigen in Natur und Geschichte, für die Signatura jener „kosmischen Tragik“ (Simmel), ­welche die Ruinen in ihrer Wehmut ausstrahlen. Die Trüm­ mer strahlen – in Gerhart Hauptmanns Augen – „Ernst und Kraft“ aus, die bis zur „Drohung“, bis zur „Härte“ gesteigert sind.15 Der antike Tempel wird in seiner materiellen Präsenz zum Chiffre für die moderne Gottesverlassenheit, zu einem verfallenen, funk­tionslos gewordenen Sakralbau, dessen Leere das Fehlen des entflohenen Gottes bezeugt. Die anti­ ken Tempelreste werden – wie es sich am Beispiel des Parthenon zeigen lässt, zunehmend aus einem Blickwinkel photographiert, der das Fragmentierte, das Zerstörte zur Schau stellt. Man sieht diesen Blickwechsel auf einer Photographie des Parthenon von Harry Graf von Kessler ganz genau, die er während seiner – mit Maillol und Hofmannstahl unternommenen – Reise 1908 anfertigte. Die Paradoxie der Ruinen überhaupt besteht darin, dass sie – wie Salvatore Settis formulierte – die Gegenwärtigkeit einer Abwesenheit bezeugen. Sie reprä­ sentieren eine Zeit, die es nicht mehr gibt, eine verlorene Zeit also, die nur durch die produktive Tätigkeit der Kunst und der Literatur wiedergefunden werden kann.16 Der verfallene antike Bau ist in der Moderne nunmehr ein Fragment des Fragments: ein Bruchstück eines abwesenden geistigen, metaphy­sischen Lebens­ zusammenhangs. Richard Dehmel, dessen Werk kulturgeschicht­lich heute sicher­ lich signifikanter ist als seine Dichtung, hat die Besichtigung des Tempels zu Bassae und der Ruinen von Olympia in einem Brief folgendermaßen resümiert: „Die Ruinen mag meinethalben der Teufel holen, trotzdem einige so schön sind, dass man nicht traurig werden kann über all den Verfall.“ 17 Dehmel unterstrich, dass man über den Verfall dieser Bauwerke nicht traurig sein kann, weil sie nur so, in ihrem Zerstörtsein, als Ruinen schön sein können. Ernst Jünger ging in

14 Rose Macauley: Pleasure of Ruins, New York 1977 (zweite Auflage), S. 236. 15 Zu Hauptmann siehe das folgende Kapitel. 16 Siehe Silvia Fabrizio-­Costa (éd.): Entre trace(s) et signe(s). Qualques approaches herméneutique de la ruine, Bern 2005, zitiert aus dem Vorwort der Herausgeberin, S. 3. 17 26. 04. 1900. Aus Megalopolis. Zitiert nach: Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 – 1902. Berlin 1922, S. 348 f.

Fragment und Ruine

16

Abb. 3 

Harry Graf von Kessler: Der Parthenon (1907)

seiner Wut gegenüber archäolo­gischer Ergänzung noch weiter, als er 1938 in ­Lindos bemerkte, den Archäologen ziehe er die Haltung der Türken vor, „welche die Altertümer ignorieren, wenn sie nicht Pferdeställe in sie einrichten“ 18. Die Trümmer sollen entweder „ignorant“ neu bewohnt sein und so zeit­lich neutrali­ siert werden, oder sie sollten ganz unberührt, fast vergessen bleiben.19 18 Stefan Janson (Hrsg.): Griechenland. Reise-­Lesebuch, München 2002, S. 149. Ähn­lich äußerte sich auch Theodor Däubler, der als einer der ­Ersten die Ruinierung der Athener Akropolis, den Abriss des lebendigen Gebäudekomplexes aus den nachantiken Epochen bedauerte: „Man hat in Athen, was nicht Ruine, sondern gerade lebendiges Gebäude war, weggeschafft, um die merkwürdigsten Trümmer der Welt, als ­solche, wieder zur Geltung zu bringen.“ Theodor Däubler: Griechenland, hrsg. v. Max von Sidow, Berlin 1946, S. 281. 19 Janson, Griechenland, S. 149.

17

Archäologische Dichtung um 1900

Abb. 4 

Arnold Genthe: Das Theater von Epidauros

Ein solcher gravierender Wandel in der Rezep­tion der antiken Denkmäler fängt – worauf Hartmut Böhme, Robert Ginsberg, Norbert Bolz, Aleida ­Assmann und Salvatore Settis hingewiesen haben – mit einem Tradi­tionsbruch, mit einem Wandel im Geschichtsbild an.20 Wie ist es mög­lich, dass man plötz­lich wieder Augen bekommt für s­ olche Relikte der Vergangenheit, die jahrhundertelang ver­ gessen waren? Aby Warburg zufolge gehört eine s­ olche Brüchigkeit der Tradi­ tionszusammenhänge zum grundlegenden Drama des europäischen kulturellen Gedächtnisses. Die Paradoxie von Vergessen und erneutem Erinnern gestaltet das 20 Hartmut Böhme: Die Ästhetik der Ruinen. In: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Der Schein des Schönen. Göttingen 1989, S. 287 – 304. Robert Ginsberg: Aesthetics of Ruins. Rodopi 2002. Norbert Bolz/Willem van Reijen (Hrsg.): Ruinen des Denkens – Denken in Ruinen. Frankfurt/Main. 1996. Siehe auch die Einleitung von Aleida Assmann zu ihrem Band Aleida Assmann/Monika Gomille/Gabriele Rippl (Hrsg.): Ruinenbilder. München 2002, S. 8.

Fragment und Ruine

kollektive kulturelle Gedächtnis, es ist ihr Zusammenspiel, das den Überresten der untergegangenen antiken Welt und ihrer periodischen Wiederentdeckung die Dynamik verleiht. Das Bewusstsein einer absoluten und unbezweifelbaren Kon­ tinuität nimmt den Ruinen ihr Pathos, ihre tiefere Bedeutung.21 Ihre periodische Wiederentdeckung dagegen, w ­ elche die europäische Kulturgeschichte kennzeich­ net, ist immer das Korrelat einer gesellschaft­lichen und kulturellen Krise, durch die eine neue, veränderte Wahrnehmung solcher „Energiekonserven“ entsteht. Zur romantischen Melancholie und dekadenten Lust mischt sich fortan eine „schreckenerregende Heftigkeit“ (Le Corbusier).22 Die Ruinen sind für die Betrachter des Fin de Siécle nicht mehr fried­liche, stille Orte toten Lebens, sie zeugen nicht von ehemaliger Größe, die noch durch das gemeinsame Werk von Kunst und Natur hindurchscheint. Die Trümmer der Vergangenheit zeugen von Zerstörung und Gewalt in der Geschichte, aber zu gleicher Zeit auch von einer verfallenen Gegenwart: Sie können sogar zu Bildern für unsere Geschichte werden. Einigermaßen sarkastisch hat die amerikanische Photographin Lee Miller eine ihrer Londoner Kriegsphotographien mit der Formel betitelt: "1 Kapelle + 1 Bombe = Griechischer Tempel“. Die Monstrosität, ihre verwirrende Unheim­lichkeit der Ruinen erinnern nicht nur an Tod und Verfall im Sinne des memento mori, sondern rufen im Betrach­ ter zugleich Entsetzen und Lust an der abgestorbenen Realität wach.23 Die heftigen Emo­tionen, ­welche Ruinen seit der Romantik immer wieder auslösen, werden aber erst dann mit einer „archäolo­gischen“ Perspektive verkoppelt, wenn die Ruine zum Gegenstand einer geschicht­lichen Reflexion, also zum Zeitbild, zum ­­Zeichen einer gegenwärtigen Vergangenheit wird. So gesehen sind die R ­ uinen eines archäolo­gischen Ortes Figuren einer anderen Zeit­lichkeit, von denen sich der modernde Betrachter absetzt. Eine ­solche Distanz zur Vergangenheit, die sie für jedwede Begrenzung und für Formen moderner Nutzung freisetzt, stellt ein Kennzeichen der Antikenrezep­ tion des 20. Jahrhunderts dar.24 In ­diesem Zusammenwirken von anthropolo­gischer, 21 Salvatore Settis: Die Zukunft des ‚Klas­sischen‘. Eine Idee im Wandel der Zeiten, Berlin 2004, S. 78. 22 Le Corbusier: Voyage d’Orient. Reisetagebücher 1910 – 1911, hrsg. v. Giuliano Gresleri, Mün­ chen 1987. 23 Norbert Miller: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1978, S. 12. 24 Siehe Adolf Borbein: Distanz und Verfremdung. Zur Rezep­tion des archäolo­gischen Objekts in Wissenschaft und Kunst. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 45 – 74.

18

19

Archäologische Dichtung um 1900

Abb. 5 

1 Kapelle + 1 Bombe = Griechischer Tempel

e­ xistenzieller Betroffenheit und distanzierter Reflexivität erkennen wir den Unter­ schied zur nächsten markanten Wandlung in der Postmoderne, die – im Gegen­ satz zur Moderne – die Überreste der Vergangenheit auf keine Weise mehr in die Gegenwart zu integrieren vermag und dies auch nicht intendiert.

Entfremden: Das einsame Bruchstück und sein Ort Im Jahr des Erscheinens der Neuen Gedichte kam Henry James’ amerikanisches Reisetagebuch, The American Scene (1907), heraus. In Erinnerung an den Besuch im Bostoner Museum für die Schönen Künste berichtet James von einer ästhe­ tischen Erfahrung, die mit Rilkes Erlebnis in Meudon in Verbindung gesetzt werden kann. James erblickt in einem Raum des Museums eine ganze Kollek­tion

Entfremden: Das einsame Bruchstück und sein Ort

antiker Fragmente, unter ihnen einen beschädigten Kopf der Aphrodite mit „ver­ schleierten Augen“.25 Das Fragment hält den Blick des Betrachters im Bann, der überrascht feststellt, dass s­ olche vereinzelten antiken Kunstwerke im amerika­ nischen musealen Kontext weit kräftiger auf den Betrachter wirken können als in ihrer kulturellen Heimat, in Griechenland oder in Europa überhaupt. Man könne zwar ihre Entführung aus Griechenland für respektlos halten, trotzdem würden sie ihr Wesen weit mehr in der Leere jener Kontextlosigkeit entfalten, die sie in einem transatlantischen Museum umgibt. Hier bestimmen keine vor­ geschriebenen Gefühle, keine vorgeprägten Deutungsmuster die Anschauung: Das fragmentierte Kunstwerk steht da als ein kleines Kleinod, ganz isoliert, ganz einsam auf sich selbst gerichtet: There are things we don‘t know, feelings not to be foretold. Till we have had the

experience […] I should to say to him that he has not seen a fine Greek thing till he

has seen it in America […] The little Aphrodite, with her connec­tions, antecedents

and references exhibiting the maximum of breakage, is no doubt as lonely a jewel as ever strayed out of its setting; she has lost her background, the divine creature – has

lost her company and is keeping, in a manner, the strangest; but so far from having

lost an iota of her power, she has gained unspeakably more, since what she essen­

tially stands for alone, rising ineffably to the occasion. […] Where was she ever more, where was she ever so much, a goddess – and who knows but that, beeing thus

divine, she foresees the time when, as she has ‚moved over‘, the place of her actual

whereabouts will become one of her shrines? Objects doomed to distinc­tion make round them a desert.26

In der ästhetischen Reflexion von Henry James wird das antike Relikt doppelt als fragmentiert betrachtet: Einmal bildet der Kopf der Aphrodite ein Fragment durch den Verlust ihrer Ganzheit, von der Statue der Göttin ist nur noch ein beschädigter Kopf erhalten geblieben. Und dieser Kopf verrät uns kaum etwas von der mytholo­gischen Gestalt der Göttin, er darf einfach schön sein. Zweitens ist sie aber fragmentiert durch den Verlust ihres ursprüng­lichen Ortes mitsamt dem kulturellen Kontext, der ihr einst ihre Würde, Repräsenta­tion einer Göttin 25 „Kopf der Aphrodite“ im Museum of Fine Arts, Boston, mfa.org/collec­tions/object/head-­ of-­aphrodite-­the-­bartlett-­head-151059, Zugriff am 17. 03. 2015. 26 Henry James: The American Scene, Bloomington – London 1907, S. 253.

20

21

Archäologische Dichtung um 1900

zu sein, verlieh. Die museale Umgebung mit ihrem künst­lichen Raum ist zwar geeignet, die entkontextualisierte ästhetische Erfahrung der Moderne zu för­ dern, aber nur unter der Bedingung, dass der museale Gegenstand, der in seiner wissenschaft­lichen Präsenta­tion nicht zur Vergangenheit, nur zur Gegenwart gehört und eigent­lich „zeitlos“, für alle Zeiten gedacht aufgestellt ist, durch den Blick des Schriftstellers oder des Dichters seine Gegenwärtigkeit wiedergewinnt. Eine s­ olche plötz­liche, durch Einsamkeit und Sprachlosigkeit geprägte, paradoxe Gegenwärtigkeit des Objekts überraschte Henry James in der Bostoner Antiken­ sammlung; und auf eine ähn­liche, wenn auch ästhetisch-­religiös überhöhte, speku­ lativere Erfahrung wies auch Rilke hin, wenn er die für die Moderne unumgäng­ liche Entfremdung vom „unantastbaren“, „sakrosankten“ Objekt 27, wodurch es wieder als quasi Unbekanntes auf uns zu wirken vermag, unterstreicht: „Darin, glaube ich, liegt der unvergleich­liche Wert dieser wiedergefundenen Dinge, daß man sie so ganz wie unbekannt betrachten kann, man kennt ihre Absicht nicht, und so hängt sich (für den Unwissenschaft­lichen wenigstens) nichts Stoff­liches an sie, keine nebensäch­liche Stimme unterbricht die Stille ihres gesammelten Daseins und ihre Dauer ist ohne Rücksicht und Angst.“ 28 Darüber hinaus, dass konven­tionalisierte Bedeutungsmuster aufgehoben wer­ den und die Autonomie des Kunstwerks in der Sach­lichkeit seiner Wahrneh­ mung restituiert wird, erkennt James, dass die Isolierung des Objekts, das heißt das Abschneiden aller Tradi­tionszusammenhänge, zu einer Energiequelle wird, wodurch das Objekt an Gegenwärtigkeit gewinnt, die den alten Mustern der Ästhetisierung genauso widerspricht wie der Historisierung des Kunstwerks. Eine s­ olche Entkontextualisierung und somit die Freisetzung der ungebundenen Energien des Fragments war in Europa sicher­lich schwieriger gewesen, solange die humanistische Idee der Goethezeit ihren Vorrang behielt. Neben dem Akt, eben diese Tradi­tionszusammenhänge zu destruieren, strebten der Dichter Rilke und der Bildhauer Rodin gleichfalls an, das antike Fragment durch ihren Blick weiter zu fragmentarisieren. Hier können wir nur noch auf Rodins spektakuläre Führungen hinweisen, die er nachts in seiner Antikensammlung in Meudon orga­ nisierte. Er begründete die künst­liche Be­lichtung der Fragmente mit der Absicht, die Aufmerksamkeit ganz auf die einzelnen, isolierten Details lenken zu können. 27 Rainer Maria Rilke: Sämt­liche Werke, hrsg. v. Ernst Zinn, Frankfurt/Main 1975, Bd. V: Worpswede. Rodin. Aufsätze, S. 149. 28 Ebd.

Fragmentarisieren und Topographieren

Fragmentarisieren und Topographieren Neben der Vermittlung moderner Kunst durch Rodin war es die persön­liche Begegnung mit antiker Kunst und mit den Überresten Griechenlands, die aus der Utopie Hellas allmäh­lich eine Wahrnehmung des mehrmals zerstörten Landes formte. Der archäolo­gische Ort, den der Reisende besucht, ist aber immer schon kulturell besetzt, markiert, und mit Worten von anderen benannt. So ist auch an dem Erbe der deutschen Klassik zu beobachten, dass es noch beinahe andert­ halb Jahrhunderte hindurch die Begegnung mit Italien und mit Griechenland formte; die Dichter mussten ringen, von d ­ iesem Banne der Tradi­tion sich zu befreien. Als der Dichter Hermann Lingg im Jahre 1848 Pompeji besuchte, trug er in sein Reisetagebuch ein: „Jeder Schritt in der ausgegrabenen Stadt mahnt an das herr­liche Gedicht von Schiller, darin ist alles gesagt, was man in Pom­ peji findet und sich vorstellt“ 29 – also gerade Schiller, der nie in Italien war. Das Zeugnis der poetischen Imagina­tion bewährt sich während der sinn­lich realen Begegnung mit den Überresten der antiken selbst, weil man nur das sieht, was man von den Ruinen bereits weiß, und weil Schiller selbst, der Poeta doctus, seine Elegie Pompeji und Herculaneum ohne das genaue Studium der archäolo­gischen Literatur nicht hätte schreiben können. Pompeji ist bereits zu Linggs Zeit ein Text geworden, den man durch und mit Schillers Versen las. Das Wort „Topos“ ist doppeldeutig, es nennt einerseits den „Ort“, im Sinne einer geographischen, historischen Lokalität, im Sinne eines Ortes, an dem man sich aufhält bzw. den man bewohnt. Andererseits bezeichnet aber der Topos eine rhetorische Figur: ein Wortk­lischee, ein sich wiederholendes Bild, einen Gemein­ platz. „Der literarische Topos meint eine stereotype Redensart, eine wiederholbare Argumenta­tion, ein Bildk­lischee, eine tradi­tionelle Metapher – einen ,Gemein­ platz‘ eben, der immer wieder verwendet wurde.“ 30 Der Doppelsinn des Wortes Topos weist auf jene Herausforderung hin, der sich jede Topographie, das heißt jede ‚Beschreibung des Ortes‘, jede ‚Schrift von einem Ort‘ stellt.31 Der archäolo­ gische Ort ist nie einfach mit einer geographischen Lokalität identisch: Ihm 29 Hermann Lingg: Meine Lebensreise, Berlin 1899, S. 57. 30 Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel – Frankfurt/ Main 1995, S. 99 f. 31 Zur Frage des Topos und der dichterischen Topographie siehe Artemis Leontis: Topographies of Hellenism: mapping the Homeland, Ithaca 1995, S. 19 ff.

22

23

Archäologische Dichtung um 1900

haften ja jene Worte an, die diesen Ort mit ihren Topoi benannt und beschrie­ ben haben, ja sogar jene „Gemeinplätze“, die ihn trivialisiert und kommerzia­ lisiert haben. Wir sind eigent­lich nie an einem „realen“ Ort, sondern wir leben in der Beschreibung des Ortes. Der Schriftsteller Wallace Stevens zog folgende Konse­quenz in einem Brief aus dem Jahre 1945: „It seems to me an interesting idea: that to say, the idea that we live in the descrip­tion of a place and not in the place itself, and in every vital sense we do.“ 32 Im 20. Jahrhundert wurden die antiken Orte nicht nur durch die sie überflu­ tende Literatur, sondern auch noch durch die Tourismusindustrie immer mehr besetzt. Die Ruinen finden sich auch nicht mehr an ihren „intakten“ Orten, da sich diese historischen Orte selbst erheb­lich verwandelt haben. Sie zeugen nicht mehr vom einstigen Dasein, sie lassen sich nicht mehr durch Identität, Rela­tion und Geschichte bestimmen, sie können ihre zeit­lichen Tiefschichten nicht mehr in sich integrieren. Sie sind nicht „existentiale“ Orte 33, deren Existenzweise im Verhältnis zur Umgebung, zur „Welt“ erfahren wird. Der Ethnologe Marc Augé hat bekannt­lich den Begriff Nicht-­Ort für ­solche geschichtslos gewordenen Tran­ siträume der Reisenden verwendet, zu denen in der Übermoderne auch manche archäolo­gischen Stätten gehören können. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Reisenden nur zu einem flüchtigen, auf vielfache Weise suggerierten und manipulierten Blick einladen, sodass er nur schwer einen Zugang zu den Tiefen­ strukturen der Zeit findet.34 Oder können sie mit Foucaults Terminus (weniger kulturkritisch) „Heterotopien“ genannt werden, die sich – ihrer Bezeichnung entsprechend – jenseits aller Orte befinden?35 Günter Eich, der alles Klas­sische verfemte, gedenkt in seinen Neue(n) Postkarten des Dichters Hölderlin, der in seinem Gedicht Lebensalter die „richtigen Attribute“ Palmyras deshalb finden konnte, „weil er nicht da war“. Er nennt den Dichter „flüchtig“, weil er den Ort nie besucht hat, übernimmt aber eine Spur

32 Wallace Stevens: Letters of Wallace Stevens, ed. Holly Stevens, New York 1966, S, 494. Ich zitiere nach J. ­Hillis Miller: Topographies, Stanford 1995, S. 9. 33 Der Ausdruck stammt von Merleau-­Ponty. 34 Marc Augè: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frank­ furt/Main 1994, S. 92 f. 35 In der Fachliteratur kann bereits seit dem angeführten Buch von Artemis Leontis von einer Tradi­tion gesprochen werden, dass die archäolo­gischen Stätten mit dem Ausdruck von Michel Foucault „Heterotopien“ genannt werden. Siehe Leontis, Topology of Hellenism, S. 43 ff.

Fragmentarisieren und Topographieren

von seiner fernen, durch die Lektüre inspirierten Beobachtung der suggestiven Präsenz des Untergangs, indem er sagt, „die Oberfläche geht erdeinwärts“ 36 Palmyra ist ein Zank um Trinkgelder, Schwiegervater, Schwiegersohn, die Oberfläche geht erdeinwärts, Ablagerung von flüchtigem Hölderlin, die richtigen Attribute, weil er nicht da war, keine Deutungen, die jemanden müde machen.37

Der moderne Dichter prangert zwar die Autopsie häufig als etwas völlig Anti­ quiertes an, dennoch ist es nicht zu leugnen, dass die meiste archäolo­gische Literatur, zum Beispiel die ganze Pompejiliteratur (bis hin zu Jensens Gradiva), aus einer sinn­lichen Auseinandersetzung mit dem Ort hervorging.38 Genauso verhält es sich mit den archäolo­gischen Gedichten des 20. Jahrhunderts, die ihre Genese gleichfalls in der Autopsie haben. Indessen: Berühmte archäolo­gische Ruinen, wie etwa die Akropolis zu Athen, können von ihrer touristischen Nutzung so stark überschüttet werden, dass sie jenes Authentische, das unverfälscht Griechische, kaum mehr ausstrahlen können, weshalb sie überhaupt aufgesucht wurden. Sie muten sogar an ihrem ursprüng­ lichen Ort wie Fälschungen an, da sie durch ihre konven­tionellen Bilder in Photographie, Kunst und Literatur und durch ihre Überinterpreta­tionen in der humanistischen Bildungstradi­tion ihre Originalität und Authentizität der Prä­ senz verloren haben. Liana Giannakopolou hat in ihrer Studie die Verzweiflung neugriechischer Dichter mit ihrem wichtigsten Na­tionaldenkmal, der Akropolis 36 Ich stütze mich in dieser Bemerkung an die Studie von Anke Bennholdt-­Thomsen: Das topographische Verfahren bei Hölderlin und in der Lyrik nach 1945, in: Gerhard Kurz (Hrsg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme, Tübingen 1995, S. 300 – 322, angeführt S. 317. 37 Günter Eich: Gesammelte Werke, hrsg. v. Axel Vieregg, Bd. 1, Die Gedichte, Frankfurt/ Main 1991, S. 152. 38 Siehe Thorsten Fitzon: Pompejanische Schatten. Die Rezep­tion Pompejis in der Literatur um 1900. In: Achim Aurnhammer/Thomas Pittrof (Hrsg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklas­sische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, S. 299 – 332.

24

25

Archäologische Dichtung um 1900

zu Athen, bis zu den ikonoklastischen Gesten der Avantgarde bei Nicolas Calas verfolgt.39 Sie resümiert diesen Prozess mit der Paradoxie, dass sich einerseits eine totale Abwendung vom antiken Monument als von einem künst­lichen bürger­ lichen Erzeugnis beobachten lässt, andererseits aber, dass manche Dichter eben von einer solchen paradoxen Dynamik der Ehrfurcht und des Abscheus gefes­ selt sind. Eine ähn­liche Paradoxie kennzeichnet unter den deutschsprachigen Dichtern etwa die satyrisch-­parodistische Dichtung eines Albert Ehrensteins. Mit dem Verdikt „Fälschung“ (fake), mit der Konstatierung des Verlusts der Authentizität der Monumente wird auf dem rezep­tionsästhetischen Gegen­ pol eine Korrespondenz im Voyeurismus gefunden. Er ist nichts anderes als die „Unechtheit“ der Rezipierung, die falsche, unechte Lust des ästhetischen Betrachters am Objekt. Im Voyeurismus wird das antike Objekt ebenfalls ver­ fälscht, zum Lustobjekt degradiert, zur bloßen Illusion, zur Projek­tion psychi­ schen Begehrens herabgesetzt. Diese Spannung z­ wischen der sinn­lich konkreten Begegnung mit einer Loka­ lität und den Worten, die diesen Ort seit jeher benannt, besetzt haben, diese gegenseitig aufeinander wirkende Formung des Topos und des Logos, öffnet den Raum für die dichterische Verortung, für das poetische Kartographieren des Ortes. ‚Wort‘ und ‚Bild‘ stellen sich in ­diesem Prozess gegenseitig infrage, das Wort als Gemeinplatz, als locus communis, und das Bild als zum Gemeingut oder sogar als zum gesunkenen Kulturgut gewordenes Weltbild. Was bewirkt aber die dichterische Verortung, wozu dient sie überhaupt? Wir wissen aus der antiken Dichtung, dass die dichterische Nennung eines Seien­ den immer eine Konkre­tion, eine im Worte sich bergende Wirk­lichkeit darstellt, wodurch sie dem realen Ort und der realen Zeit eine besondere Würde zuweist. Durch diese Würde gewinnt das Objekt, um das es im Gedicht geht, seine wahre Existenz. Die Verortung des lyrischen Sprechens ist letzten Endes nichts anderes als die Zuweisung des wahren Ortes, wo das, wovon die Rede ist, sich öffnet, wo, wie Yves Bonnefoy einmal sagte, sich „elementare Wirk­lichkeiten offenbaren“.40 Die Schauplätze einer Griechenlandreise an sich sind also noch keine Orte, eher nur Nicht-­Orte im oben genannten Sinne, sie können zu wahren Orten

39 Liana Giannakopoulou: Percep­tions of the Parthenon in Modern Greek Poetry, Journal of Modern Greek Studies, Volume 20, 2002, 241 – 271. 40 Yves Bonnefoy: Das Unwahrschein­liche oder die Kunst, München 1994, S. 87.

Fragmentarisieren und Topographieren

verwandelt werden, indem sie dichterisch bis zu ihrem Grund geschaut, bis zu ihrer Agonie, bis zu ihrem Nicht-­Sein geprüft werden. Der Reiseweg führt näm­lich nie ledig­lich in ein geographisch und zeit­lich fer­ nes Land, sondern zum Ort der Offenheit, wo sich der Weg in die eigene Tiefe öffnet, in den persön­lichen Bereich der verschütteten Urbilder und Urszenen der abendländischen Kultur. Seit Freud wissen wir, dass die Bilder alter Kulturen in der Psyche des modernen Menschen zu verorten sind, aus der sie durch Dichtung und Kunst ausgegraben werden. Die sichtbaren Relikte des antiken menschlichen Lebens, die Ruinen der Vergangenheit gehören – oder zumindest gehörten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts – zum Ich des kreativen Menschen, und allein, weil sie immer noch dorthin gehören, können sie uns ansprechen.41 Aus d ­ iesem Grund hielt es Durs Grünbein für berechtigt, ­solche Bilder mit dem von Aby Warburg stammenden Terminus „Engramm“, Gedächtnisspur, zu benennen. Im Prozess des „Topographierens“ eines Ortes holt der Dichter Vergangenes, Verschüttetes in Erinnerung, schaut die in ihren Relikten noch wahrnehmbare Präsenz einer verlustig gegangenen Vergangenheit mit geschärftem Blick an, um durch den Blick zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Aufgrund der genutzten produkti­ ven Dynamik der Diskontinuität der europäischen Tradi­tionslinien, aufgrund der dichterischen Dynamisierung des Prozesses von kulturellem Vergessen und kultureller Erinnerung können Ruinen der Antike in der Dichtung ihre gewal­ tige Symbolkraft entfalten. Da wir aus der Antike nichts mehr haben, nur noch Ruinen, können sie mit einer besonderen Energie erfüllt werden. „Vielleicht sind die Ruinen“, schrieb Salvatore Settis in seinem Buch Über das Klas­sische, „die auf eine zurückliegende Vergangenheit verweisen und zugleich gegenwärtig sind, eng verbunden mit den großen und kleinen Wiedergeburten, mit dem periodischen Sterben und Wiedererwachen der Antike.“ 42 Von der Wiedergeburt der Antike würden wir aber nicht reden. Unsere Unter­ suchung bestätigt eher die Auffassung, dass die Antike in erster Linie eine Gegen­ ordnung zur Moderne darstellt. Sie ist etwas unheim­lich anderes, das die Zeit­ diagnose und somit die Selbsterkenntnis der Moderne manchmal sogar auf schockierende Weise fördert. Die geschlagene Brücke führt nicht zur abwesenden 41 Siehe dazu auch: Hans Belting: Der Ort der Bilder. In: Hans Belting/Lydia Hausstein (Hrsg.): Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München 1998, 34 – 53, Hinweis auf S. 41. 42 Settis, Die Zukunft, S. 75 f.

26

27

Archäologische Dichtung um 1900

Vergangenheit hinüber, vielmehr trennt sie uns von dieser abwesenden Zeit. Sie führt zurück zur Sprache der Dichtung selbst, indem die Dichter der Moderne hinsicht­lich der Antike nicht mehr als auf ein Gegenbild oder ein „Kraftreser­ voir für Zeitdiagnose“ zurückgreifen.43 Vielmehr wurde die Antike eines Rilke, eines Benn oder Grünbein zunehmend zu einem Heer von Metaphern, zu einer neuen Sprache der Dichtung. Diese Dichtung nutzt das Archäolo­gische selbst als eine Metapher, als ein Vehikel des Über-­Tragens, wodurch ein charontischer Grenzverkehr ­zwischen Zeiten und Topoi entsteht.

Figuren der Absenz Und Tempelstufen tragen nichts als Leere … (Marie Luise von Kaschnitz: Delphi)

Während Grünbein die Metapher den Schlüsselbegriff seiner archäolo­gischen Poesie nennt, würde Walter Benjamin an dieser Stelle „Denkbild“ sagen. In sei­ nem kurzen Text Ausgraben und Erinnern (1924) benutzt er die Metapher der Archäologie, als er seinen Begriff des Denkbildes umschreiben will: Die Sprache hat es unmißverständ­lich bedeutet, daß das Gedächtnis nicht ein Instru­ ment für die Erkundung des Vergangnen ist, vielmehr das Medium. Es ist das Medium

des Erlebten wie das Erdreich das Medium ist, in dem die alten Städte verschüttet lie­

gen. […] Gewiß ist’s nütz­lich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen. Doch ebenso

ist unerläss­lich der behutsame, tastende Spatenstich in’s dunkle Erdreich. Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im

heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt. So

müssen wahrhafte Erinnerungen viel weniger berichtend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher habhaft wurde.44

43 Michael Eskin: „Risse, die durch die Zeit führen“. Zu Durs Grünbeins Historien. In: Durs Grünbein: Der Misanthrop auf Capri. Historien; Gedichte, Frankfurt/Main 2005, Nachwort. 44 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1974 f., Bd. IV, 1, S. 400 f.

Figuren der Absenz

Benjamins Gedankengang lässt sich nicht leicht verfolgen, da der Begriff der Archäologie hier ganz in der Schwebe gehalten wird, er ist weder nur meta­ phorisch noch nur konkret wissenschaft­lich zu verstehen.45 Der Text verdankt aber seine Entstehung jener archäolo­gischen Erfahrung, die Benjamin während seiner zwei längeren Aufenthalte in Neapel gesammelt hat, als er Pompeji und ­Paestum und das archäolo­gische Museum Neapels mehrmals besuchte. Er erzählt in einem Brief an Gerschom Scholem von seinen Ausflügen nach Pompeji und nach Paestum und unterstreicht, wie die antiken Ruinen, „die nur in archäolo­ gischer Betrachtung ihr Leben gewinnen“, ihn in seinem Innersten berührten.46 Ihr Ausgraben nennt er aber nicht nur eine wissenschaft­liche, intellektuelle Tätigkeit, sondern auch einen sprach­lichen Prozess. Die Sprache ist ja genauso wenig nur noch das Instrument der Kommunika­tion der Grabungsergebnisse, wie das Gedächtnis selbst kein Instrument der Erinnerung an Vergangenes ist, viel­ mehr sind beide – Sprache und Gedächtnis – Medien, sie sind wie das Erdreich selbst, das die alten Städte in sich verborgen hält. ‚Archäologien‘ sind Sprachwelten, eine ist die der Wissenschaft und eine andere die des Dichters. Außerdem hält Benjamin das, was ausgegraben wird, nicht für das Wichtigste. Weit wichtiger sei die Markierung des Ortes, der diesen Funden in der Gegenwart zugewiesen wird. Somit sind die Denkbilder Verortungen der Bilder; im Denkprozess ihrer Freilegung wird zugleich den Funden unserer Erinnerung ihr Ort zugewiesen. Benjamins Auffassung von der Sprach­lichkeit des Archäolo­gischen ermög­licht es uns, das Dichterische und das Archäolo­gische noch mehr in ihrem Wechsel­ verhältnis untersuchen zu können. Der Dichter der Moderne versteht sich nicht mehr als ein Seher oder ein Prophet, dessen Worte orakelhaft eine neue Welt schöpfen sollten. An die Stelle einer semantischen Magie tritt eine nüchterne Beziehung zu den Phänomenen der Welt, zu den Dingen, wie sie sind. Somit las­ sen sich die Dichter immer mehr mit den Künstlern und mit dem wissenschaft­ lichen Betrachter der Dinge der Vergangenheit, d. h. mit dem Archäologen, ver­ gleichen, indem sie im Laufe des dichterischen Prozesses die Dinge, um die es

45 Knut Ebeling: Pompeji revisited, 1924. Führungen durch Walter Benjamins Archäologie der Moderne. In: Knut Ebeling/Stefan Altekamp (Hrsg.): Die Aktualität des Archäolo­gischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/Main 2004, S. 159 – 184. 46 Brief an Geschom Scholem vom 12. Oktober–5. November 1924, zitiert nach: Walter Benjamin: Briefe, hrsg. Gerschom Scholem und Theodor W. ­Adorno, Frankfurt/Main 1966, Bd. I, S. 362.

28

29

Archäologische Dichtung um 1900

geht, sorgfältig beobachten und auswählen, sie in sich selbst vergraben, um sie dann – wie Benjamin sagt– „behutsam“, „tastend“, aber auch durch die trans­ formative Energie der Erinnerung verwandelt wieder zum Vorschein zu brin­ gen.47 Benjamin, der alle klas­sischen Inszenierungen der Antike für antiquiert hielt und ihr nur aus der Perspektive der großstädtischen Räume der Moderne Aktualität beigemessen hat, sieht die transformative Tätigkeit der Erinnerung darin, dass das Ausgegrabene für das Gedächtnis nur noch in seiner Hohlform, das heißt negativ, anwesend ist. Einen solchen negativen Abdruck ehemaliger Präsenz konnte Benjamin – worauf Knut Ebeling hinwies – bei der Betrachtung der pompejanischen Hohlformen menschlicher Köper sinn­lich erfahren und aus diesen Figuren sein Denkbild für das archäolo­gische Objekt an sich entwickeln.48 Das Relikt als Abdruck oder als sprach­liche Gedächtnisspur führt uns wiederum zum Begriff des Engramms zurück, den Durs Grünbein mit Vorliebe nutzte, um mit ­diesem Terminus die Worte als archäolo­gische Funde zu bezeichnen. Das Engramm bildet eine Gedächtnisspur, ­welche die Erinnerung an das Vergangene in Metaphern und Bildern der Psyche verwahrt; es kann auch mit Benjamins „Denkbild“ in Verbindung gesetzt werden. Das Wort „Denkbild“ verknüpft seit seinem ersten nachgewiesenen Gebrauch durch Johann Joachim Winckelmann das Denken mit der Bild­lichkeit, indem es zuerst auf die Interpreta­tion der Dar­ stellungen auf antiken Gefäßen angewandt wurde.49 In den Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums (1767) würdigt er die prächtigen Gefäße, auf die ein „würdiges und belehrendes Denkbild eingepräget gesehen wird“.50 Ein Denkbild ist eine denkend angeschaute Idea, ein sinn­lich angeschautes Bild, das ein Nachdenken verlangt, d. h. eine sinn­liche Erkenntnisform, „eine denkende Beobachtung“ (Hegel). Es vereint das Bild­liche der Kunst mit intellektueller 47 Siehe dazu: Christine Finn: Past poetic. Archaeology in the poetry of. W. ­B. Yeats and Saemus Heaney, London 2004, S. 129 f. 48 Ebeling, Pompeji revisited, S. 172 f. 49 Der Nachweis stammt von Harro Müller-­Michaels, er ist aber ungenau. Winckelmann schrieb in ­diesem Kontext nicht über antike Vasen, sondern über Cameogläser. Harro Müller-­Michaels: Herder – Denkbilder der Kulturen. Ein poetisches und didaktisches Konzept der Denkbilder. In: Ralph Köhnen (Hrsg.): Denkbilder. Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, S. 37 – 50, hier S. 38. 50 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, zweite Auflage Wien 1776, hrsg. v. Adolf H. ­Borbein, Thomas W. ­Gaethgens, Johannes Irmscher und Max Kunze, Kritische Ausgabe, Mainz 2002, Bd. 4,1, S. 37, sowie Bd. 4,3 S. 95.

Figuren der Absenz

Besinnung, um das Hintergründige, das ra­tional nicht Erschließbare, in der Bild­ lichkeit der Erkenntnis anzuerkennen.51 Die archäolo­gischen Textlandschaften können mit ihren Ruinen und Torsi auch Denkbilder genannt werden: Sie sind imaginierte Bilder einer jeweils anders gedachten Absenz. Diese Absenz kann von zeit­lich-­räum­licher Art sein wie in der Figur des Torso, kann aber auf eine metaphy­sische Abwesenheit hinweisen: auf die Leere überhaupt, auf das Fehlen im absoluten Sinne, auf die Gottesverlas­ senheit überhaupt. Wie der antike Tempel nicht wegen seiner Verfallenheit eine Ruine ist, sondern weil er seine Funk­tion verlor, das Gottesbild zu beherbergen, so ist der Torso auch nichts anderes als in seiner Gottesverlassenheit verstüm­ melt gewordener Körper. Wie die antike Tempelruine zum suggestivsten Bild der Flucht der Götter, genauso ist der Torso zum Sinnbild der Ikonoklasmen gewor­ den. Als Sichtbarkeiten einer metaphy­sischen Absenz werden sie zu ästhetischen und poetolo­gischen Figuren des Unvollendbaren, der radikalen End­lichkeit, das heißt des Fragmentarischen, des Destruierten, des Zertrümmerten, ja sogar des schmerzhaft Verstümmelten unserer zeit­lichen und geschicht­lichen Existenz. Sie sind, um wiederum mit Benjamin oder mit Derrida zu sprechen, Denkbilder der verschwundenen, nicht existierenden Zeit, Embleme eines Hiatus, der sich nur deshalb vor unseren Augen öffnet, um nichts vom Ganzen zu zeigen, um die Einbildungskraft auf das Fehlen, auf die Abwesenheit des Anwesenden zu lenken. Trotz der Betonung der Absenz wird hier nicht intendiert, Lyrik aus der Per­ spektive der negativen Theologie zu lesen. Vielmehr bin ich der Ansicht, dass die meisten Lyriker, die wir anführen werden, in ihren Gedichten eben eine abstrakte, theoretische, philosophische Haltung zur Absenz fragwürdig machen. Ich zitiere Yves Bonnefoys La tàche d’inexiste,52 in deutscher Übersetzung Die Aufgabe des Nichtvorhandenseins: Man erzählte mir von einer Kultur, die über alle Mittel der Steinmetze, der Erzgießer

verfügte, und w ­ elche die Erbin einer klas­sischen Kunst war, die es liebte, nackte E ­ pheben, Koren auf den Plätzen ihrer Städte oder im Dämmern ihrer Tempel aufzustellen. Diese

51 Britta Leitfeld: „Dies alles, um in das Herz der abgeschafften Dinge vorzustoßen“: ­Benjamins Philosophie und ihre literarische Konkre­tion im Denkbild. In: Ralph Köhnen (Hrsg.): Denkbilder: Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, S.  141 – 162. 52 Yves Bonnefoy: La vie errante, Paris 1993.

30

31

Archäologische Dichtung um 1900

neue Epoche verschmähte jedoch die Statuen. Sie hatte nur leere Sockel, auf denen

man manchmal ein Feuer entzündete, dessen Flammen der Meerwind bog. Die Phi­ losophen sagten, diese leeren Stellen s­ eien die einzigen Werke, die zählten: da sie unter der einfältigen Menge die Aufgabe des Nichtvorhandenseins erfüllten.53

Bonnefoy schlägt vor: Philosophen der „negativen Theologie“ können durch die sinn­liche Präsenz antiker Statuen genauso gestört sein wie jene Leute, die sie einst zerschlagen haben. Sie sagen, die „leeren Stellen s­ eien die einzigen Werke, die zählten“. Diese Absenz spielt aber für den Dichter als für einen Augenmen­ schen und einen denkenden Beobachter eine andere Rolle als für den Philosophen: Sie ist keine Wirk­lichkeitsaussage, keine Behauptung, sondern eine Technik der Poiesis, eine Denkfigur, den Hiatus in der Sprache zu verorten. Der Begriff ‚Denkbild‘ wurde bisher in der Lyrikinterpreta­tion selten verwendet. Es haftete ihm etwas Barockes, Emblematisches an, zu Unrecht. Rilkes Poetik der selbstlosen Hingabe an das Objekt als bild­liche Erkenntnisform der Neuen Gedichte kann ja ohnehin mit der Theorie des Denkbildes als sinn­licher Erkennt­ nisform interpretiert werden. Ein mög­licher Anwendungsbereich findet sich näm­ lich genau an jener Grenzstelle der Lyrik, wo die Bild­lichkeit des Gedichts nicht mehr – wie gewöhn­lich – für Blinde genauso zugäng­lich bleibt wie für Sehende. Solche Gedichte (wie etwa Rilkes Dinggedichte) wurden seit Käte Hamburger immer wieder als Sonderfälle der Lyrik betrachtet, da bei ihnen die Referenzialität der Sprache, ihr Wirk­lichkeitsbezug, nicht vollständig aufgehoben wird.54 Eine Synthese der hermeneutischen und imaginativen Tätigkeit wird in diesen lyrischen Texten vorausgesetzt: „Die Gehalte der Denkbilder sind schließ­lich Leerstellen, Platzhalter für die Lücken“ 55, die der Leser selbst entwirft. Die Leere, mit der die antiken Überreste umhüllt sind und in der sie immer wieder aufgehen, zeugt von der Brüchigkeit und Fragilität einer Tradi­tion und veranlasst uns somit, unsere Sprache, die in ­dieses Schweigen genauso wenig einzudringen vermag wie in die Tiefe unserer eigenen Psyche, zugleich infrage zu stellen. 53 Yves Bonnefoy: Wandernde Wege. Aus dem Franzö­sischen von Friedhelm Kemp, Mün­ chen 1997, S. 49. 54 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart, München 1987, S. 263 f. 55 Britta Leitfeld: „Dies alles, um ins Herz der abgeschafften Dinge vorzustoßen“– Benjamins Philosophie und ihre literarische Konkre­tion im Denkbild. In: Ralph Köhnen (Hrsg.): Denkbilder: Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, S. 141 – 162, hier S. 161.

32

Stein und Fleisch: Dionysische Archäologien bei Benn, Dehmel, Hauptmann, Ehrenstein und Däubler Heute hoffen wir, daß wir mystisch genug sind, um eine Wiederkehr des Klas­sischen zu bewirken. (De Chirico: Der Dämon der Klassik)56

Im Banne der Archaik Jene Genera­tion von Dichtern und Denkern moderner Ästhetik, von der nun die Rede sein wird und die sich mit den Namen Kessler, Hofmannsthal, Hauptmann oder Benn verbinden lässt, wurde sowohl in ihrem Verhältnis zur künstlerisch-­ dichterischen Tätigkeit als auch in ihrer Beziehung zu deren griechischen Ursprün­ gen durch Nietzsches überwältigende Wirkung geprägt. Indessen spielte eben die Archäologie als Fachwissenschaft in Nietzsches Denken eher eine negative Rolle. Sein archäolo­gisches Interesse orientierte sich schon in der ersten Baseler Zeit nicht an Ausgrabungen oder an Relikten, sondern an der Frage, wie sich das Alte verlebendigen lasse. In der zweiten Ausgabe zur Morgenröthe von 1887 nannte sich Nietzsche einen „Unterirdischen, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden“ 57, einen philosophischen Maulwurf, für den das Archäolo­gische ein denkpoetisches Phänomen darstellt.58 Seine denkpoetische Archäologie ließ sich auf keine Weise mit jener klas­ sischen Archäologie vereinbaren, w ­ elche anstrebte, die manchmal durch zer­ störerische Ausgrabungstätigkeiten freigelegten Relikte wissenschaft­lich zu inventarisieren, ohne wahrhaft nach dem antiken Lebenszusammenhang, von dem diese materiellen Reste zeugten, zu fragen. Sie wusste zwar mit Eifer 56 De Chirico, Wir Metaphysiker. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Wieland Schmied, Berlin 1973, S. 63. 57 Friedrich Nietzsche: Sämt­liche Werke, Kritische Studienausgabe (KSA) hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 3, S. 11. 58 Rüdiger Görner: Nietzsches archäolo­gische Poetik. Den Abschnitt „Was ich den Alten verdanke“ aus der Götzen-­Dämmerung deutend. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 189 – 198.

33

Stein und Fleisch

die ausgegrabenen Reste zu einem zeitlosen Monument zu konservieren, sah aber von dessen Zeit­lichkeit, von dessen natür­lichem Verfall und Fragmen­ tierung ab.59 Hauptmann, Hofmannsthal oder eben Benn standen mit Nietzsches Gesinnung jenem „kunstvollen Gebäude der apollinischen Cultur“ gegenüber, die gleichsam „von Stein um Stein“ abgetragen werden sollte, „bis wir die Fundamente erblic­ ken, auf die es gegründet ist“?60 In den Fußstapfen Nietzsches wandten sie sich gegen das plastische Ideal der Griechen und nannten die apollinisch schönen Statuen mit den Worten von Richard Wagner nur noch Leichen, versteinerte Erinnerungen, „Mumien des Griechentums“.61 Im Fokus ihrer denkpoetischen Archäologie stehen die Ruinen als Ruinen, die sie magnetisch anziehen und in denen sie jene faszinierende und zugleich unheim­liche Analogie erblicken, w ­ elche die menschliche und die phy­sische Welt miteinander verbindet: die Phänomene der Zeit­lichkeit und des Verfalls.62 Ihre Betrachtungsweise und ihre archäolo­ gische Phantasie nehmen gewissermaßen jene paradigmatische Wende vor, die man heute mit der anthropolo­gischen Ausrichtung der archäolo­gischen Wis­ senschaft in Verbindung setzt und die in erster Linie danach fragt, welches Ver­ hältnis wir zur Vergangenheit haben und w ­ elchen Platz die Relikte der Vergan­ genheit in unserem Leben einnehmen. Eine s­ olche Archäologie strebt weniger die Rekonstruk­tion des Vergangenen, vielmehr eine Rekontextualisierung des Ausgegrabenen an. Entgegen einem winckelmannschen Klassizismus entdecken also die Dichter der Moderne das Diony­sische in der Archäologie, sie betrachten sie als Wis­ sen um den Verfall, um Tod, Gewalt und Auflösung. Das heißt, sie lassen sich von dem Befremdenden der anfäng­lichen griechischen Kultur berühren, von jenem , das mit der modernen Welt nichts zu tun hat, die aus der Perspektive der modernen Kultur ewig ein Rätsel bleibt und nie zugäng­lich wird, die aber auf 59 Pearson/Shanks, Theatre/Archaeology, S. 92 f. 60 Nietzsche, KSA I, S. 34. Siehe dazu Glenn Most: Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg. In: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hrsg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart – Weimar 2001, S. 33. 61 Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850, siehe Sünderhauf, Griechensehnsucht, S. 27. 62 Im Kontrast zur Archäologie stand die Ruine – Alain Schnapp zufolge – immer schon im Fokus antiquarischen Interesses. Alain Schnapp: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie, Stuttgart 2009.

Im Banne der Archaik

paradoxe Weise in der Tiefe der menschlichen Seele beheimatet blieb. Darüber hinaus wirkt die Nietzsche‘schenietzschesche Konstruk­tion des Griechischen wiederum in der Begegnung mit der griechischen Archaik fort, wie es in Rilkes und Benns Gedichten oder in Hofmannsthals oder Hauptmanns Reiseerinne­ rungen am klarsten bezeugt wird. In der Lyrik wird das Diony­sische auf viel­ fältige Weise zum poetischen Prinzip: in der Inszenierung archaischer Rituale (Gerhart Hauptmann, Hermione von Preuschen etc.) oder im Evozieren mythi­ scher Rausch- und Urzustände, im Umgang mit dem Nichtra­tionalen, mit dem Halluzinatorischen oder in den Phantasmagorien entfesselnder Erotik, die etwa Benns frühe Lyrik kennzeichnen. Im Gedicht Eng­lisches Cafe (1913) wird die aus verschiedenen Schauplätzen montierte antike süd­liche Landschaft – mit ihrem „frevelhaften Blau“, mit ihren phal­lisch aufragenden dorischen Säulen und ihren „in Rosenschwangerschaft“ schwimmenden Ebenen – zu einer Bildsprache ekstatischer Erotik: Tyrrhenisches Meer. Ein frevelhaftes Blau. Die Dorertempel. In Rosenschwangerschaft die Ebenen. Felder sterben den Asphodelentod.63

Ein anderes Gedicht aus der expressionistischen Schaffensperiode Benns, die Karyatide, ist mit destruktiver Energie aufgeladen, mit der das Sprecher-­Ich alles Steinerne, alles Plastische, alles apollinisch schön Gestaltete verachtend zerschla­ gen will, um die genuine Antike von all dem zu befreien, mit dem sie bereits zur Zeit der griechischen Klassik überschüttet war. Das Gedicht wurde in der For­ schung auch eine „Männerphantasie“ genannt, die mit Subjektivierung, mit Selbst­ entgrenzung und mit dem Kult des Primitiven jene süd­lich-­anfäng­liche Triebwelt feiert,64 die allen festen ra­tionalen Stand des Steinhaften und des Geformten bis zur vollkommenen Auflösung des Subjekts im regressiven Ausnahmezustand des

63 Gottfried Benn: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frank­ furt/Main 1982, S. 55. 64 Wilhelm Wodtke: Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden 1963, S. 29 ff., sowie Thomas Pittrof: Gottfried Benns Antikenrezep­tion bis 1934. In: Achim Aurnhammer/ Thomas Pittrof (Hrsg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklas­sische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, S. 471 – 501, angeführt S. 477, 479.

34

35

Stein und Fleisch

Außer-­sich-­Seins zerstört.65 Es handelt sich aber zugleich um eine Kontroverse mit Rilke, dessen Werk für den jungen Benn einige Jahre zuvor von besonderer Wichtigkeit war.66 Benn stellt sich hier gegen die ­rilkesche Konstruk­tion einer eminent männ­lichen Archaik mit den schönen nackten Leibern und mit dem Kult der Frau als Jungfrau, als Kore, oder eben als kühle, distanzierte Karyatide.67 Vielleicht hängt es mit dieser poetolo­gischen Auseinandersetzung zusammen, dass die Karyatide, die mehrmals mit Kraftausdrücken aufgefordert wird, ihr Leben zu ändern und sich aus einer heiligen, steinernen Jungfrau zu einer Venus, einer entzückten Geliebten, zu verwandeln, in ihrer steinernen Beschaffenheit doch ganz genau beobachtet und geschildert wird: Der lyrische Sprecher nimmt einzelne charakteristische Züge der plastischen Darstellung dieser Frauengestalt genau wahr, wie zum Beispiel, dass ihr Knie unter dem Gewand leicht sich zu beugen scheint, als ob sie anfinge zu tanzen: „Stürze / Die Tempel vor der Sehn­ sucht deines Knies, / In dem der Tanz begehrt“. Die archäolo­gische Beobachtung impliziert die Metamorphose der steinernen Korenfigur zu einer fleischernen Tänzerin, die – ihre heilige „Säulensucht“ abwerfend – sich im Rausch erotischer Entzückung „zerblüht“. Man kann nicht umhin, die zahlreichen künstlerischen Versuche zu assoziieren, ­welche die Säulen des antiken Tempels mit dem nackten Frauenkörper verbanden und die Erstere durch das Medium des Tanzes dynami­ sierten. Seien hier bloß die etwas ­später entstandene Photographie von Edward Steinchen, die Therese Duncan in einem ekstatischen Tanz auf der Akropolis abbildet (1921), oder Nellys damals ebenfalls tabubrechende Ab­lichtung der Tän­ zerin Nicolska vor den Säulen des Parthenon (1927) erwähnt. Aus dem statuarisch Steinernen wird blutendes Fleisch, das aus der beweg­ ten, mit Rausch erfüllten Sprache entsteigt. Diese diony­sisch-­erotische Faszina­ tion der „Karyatide“ ist von augenblick­licher Dauer: Sie erweist sich – wie die deutsche Sehnsucht nach dem Süden überhaupt – nur noch als eine „letzte 65 Siehe Wolfgang Emmerich: Benns bacchische Epiphanien und ihr dementi. In: Friederike Reents (Hrsg.): Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007, angeführt S. 97 f., sowie zu Nietzsche-­Benn und zum nietzscheschen Gegensatz des Apollinischen und des Diony­ sischen bei Benn: Renate Schlesier: Diony­sische Kunst. Gottfried Benn auf Nietzsches Spuren, Modern Language Notes April 1993, S. 517 – 528, Cäcilia Töpler: Benn – Ich und Form. In: Gottfried Benn. Text und Kritik, München 2006, 36 – 49. 66 Friedrich Wilhelm Wodtke: Gottfried Benn, Stuttgart 1962, S. 14. 67 Allerdings hat Benn Rilkes Karyatidengedicht, das wir noch unten anführen werden, damals wahrschein­lich nicht gekannt, da es erst aus dem Nachlass veröffent­licht wurde.

Im Banne der Archaik

Glück-­Lügenstunde/Unserer Süd­lichkeit“, die mit dem diony­sischen Rausch zusammen von Stund an verflüchtigt. Benn war nie in Griechenland, das ihm wohl nichts hätte anbieten können, was ihn an der Antike interessierte. Mit einem vergleichbaren rebel­lischen Gestus gegen das Klas­sische haben andere Dichter und Literaten doch Hellas aufgesucht. Sie suchten dort nicht nur eine antiklas­sische, diony­sische Antike, sondern auch jene alte, primitive, vitale Lebensweise, die in Benns süd­lichen Traumphantasien zugegen war. Wenn man einen Blick auf die Zeugnisse nichtdeutscher Reisen­ der wie Gabriele D’Annunzio oder Virginia Woolf wirft, lassen sich mehrere gemeinsame Züge in ihrer Faszina­tion für das touristisch noch nicht erschlos­ sene Land entdecken. Sie suchen das Authentische in Hellas, sie reisen dorthin, um einer noch unverfälschten, „eigent­lichen“, authentischen Antike begegnen zu können. Die griechischen Altertümer faszinieren die Reisenden durch ihre Authentizität, durch ihre „Frische“, durch ihre „Jugend­lichkeit“ – im Vergleich zur reifen, mit Europa selbst alt werdenden italienischen Kultur. Sie besuchen Ausgrabungsstätten, die noch nicht lange zugäng­lich waren, wie Olympia oder Delphi, sie bestaunen neuere archäolo­gische Funde wie den Wagenlenker von Delphi oder die archaischen Skulpturwerke im Akropolismuseum. Diese griechische Kultur erleben sie zumeist enthistorisiert in ihrer körper­lich-­ sinn­lichen Präsenz, sie ist für sie „archaisch“, urtüm­lich, „jugend­lich“, „gesund“ und „frisch“. Es ist erstaun­lich, wie grenzüberschreitend interna­tional ein solches vitalistisches Vokabular in Mode kam. Die altertumswissenschaft­lich geschulte Virginia Woolf 68 schildert zum Beispiel ihre erste Begegnung mit dem Parthenon mit den folgenden Worten: „Die Verwüstungen sind schreck­lich, aber nichtsdesto­ trotz ist der Parthenon noch strahlend & jung. Seine Säulen ragen hoch auf wie lieb­liche runde Glieder, die vor Gesundheit strotzen.“ 69 Und im Museum findet sie die Gesichter archaischer Statuen „frisch“, „heiter“, „geschmeidig“ – wie ein „Kuß der Morgenröte“. Der Wandel des Antikenbildes, der mit Nietzsche, Burck­ hardt, Bachofen seinen Anfang nahm, wird sich letzten Endes eben in d ­ iesem Austausch ­zwischen literarischen Kulturen und Wissenschaftskulturen vollziehen.

68 Virginia Woolf konnte Altgriechisch lesen, sie war mit der führenden Persön­lichkeit der Cambridge-­Ritualisten, mit Jane Ellen Harrison, eng befreundet und hat sie als ihre Men­ torin angesehen. 69 Jan Morris (Hrsg.): Reisen mit Virginia Woolf, Frankfurt/Main 1999, S. 262 f.

36

37

Stein und Fleisch

Unter den deutschsprachigen Autoren kann an erster Stelle Gerhart H ­ auptmann genannt werden, der 1907 in Begleitung seiner Frau und des Sohnes Benvenuto Griechenland bereiste. Aus seinen Reisenotizen hat er ein Gesamtbild über sein Hellas konstruiert und mit dem Titel Griechischer Frühling (1908) herausgege­ ben. Obwohl sein Griechenlanderlebnis und die dazu gehörenden Texte in der Forschung ergiebig dargelegt wurden,70 gewinnen sogar die einzelnen bereits veröffent­lichen kritischen Beobachtungen der Fachliteratur andere Konturen, wenn man sie jetzt in unserem breiteren Kontext neu sichtet. Im Vergleich zu den eminenten Intellektuellen, wie etwa Woolf oder Le Corbusier, erkennt man die mangelhafte Reflektiertheit und die fehlende Distanz zum Objekt seiner Beob­ achtungen klarer, und neben den deutschsprachigen Dichtern, die wie Dehmel oder Ehrenstein mit ihrem Humor und ihrer Ironie aus der Masse der reisenden kreativen Menschen herausragen, fallen einem etwa sein antiquiertes Pathos und sein autoritärer kolonialistischer Gestus noch deut­licher auf. Hauptmanns erste Begegnung mit den Ruinen des alten Griechenlands fand auf Korfu statt: „Ich finde nach einigem Wandern die Marmorreste eines antiken Tempelchens. Es sind nur Grundmauern; einige Säulentrommeln liegen umher. Ich lege mich nieder auf die Steine, und eine unsäg­liche Wollust des Daseins kommt über mich.“ 71 Der Ton der Aufzeichnungen ist forciert euphorisch. Der Autor, der sich „einen ganzen Deutschen und einen halben Hellenen“ 72 nennt, wolle ja keine Bildungsreise machen, er schätze Erfahrung höher als Bildung, den gesunden Gefühlen glaube er mehr als fadem Denken und stelle die imaginier­ ten archaischen S ­ itten vor die entwickelten, das heißt vor die bürger­lichen.73 Der Reisende ist von der archäolo­gischen Freilegung der Urschicht der Geschichte fasziniert, insbesondere von den berühmten deutschen Ausgrabungen von ­Schliemanns Troja an bis zu Olympia, er erwartet von ihnen, dass sie die homerisch-­anfäng­liche „Griechenseele“ ans Licht bringen: 70 Sverre Dahl: Gerhart Hauptmanns Griechenlandbild. In: ders. (Hrsg.): Gedenkschrift für Trygve Sagen., Reprosentalen 1979, S. 133 – 148, Gerhart Pohl: Gerhart Hauptmann und Griechenland. In: ders.: Südöst­liche Melodie. Essay, Rede, Hörspiel. Stuttgart 1963, S. 218 – 235. Felix A. ­Voigt: Gerhart Hauptmann und die Antike, Berlin 1965. 71 Gerhart Hauptmann: Griechischer Frühling. Frankfurt/Main – Berlin 1966, S. 21. 72 Dahl, Hauptmanns Griechenlandbild, S. 133. 73 So kann man sagen, dass Hauptmanns Denkform Züge des sogenannten Vitalismus zeigt. Siehe dazu: August K. ­Wiedmann: The German Quest for Primal Origins in Art, Culture and Politics, 1900 – 1933. Die ‚Flucht in Urzustände‘. Lewiston 1995.

Im Banne der Archaik

Wenn man erst alle die Schichten von Mergel und Schlacke, unter denen die Grie­ chenseele begraben liegt, kennt, wie man die Schichten kennt über mykenischen, tro­

janischen oder olympischen Fundstellen alter Kulturreste aus Stein und Erz, so kommt auch vielleicht für das lebendige Griechenerbe die große Stunde der Ausgrabung.74

Mit ­diesem archäolo­gischen Gestus nimmt Hauptmann seine dichterisch aus­ gegrabene homerische Heimat in Besitz. Hellas ist ihm ein arkadisch-­primitives Land der Hirten, der Böcke, der Berge und der Quellen, eine erhalten gebliebene Sagenwelt, die er aber mit seinen arkadisch-­utopischen sowie mit seinen vor­ gestellten archaischen blutigen Riten schildert.75 Diese Landschaft erhielt ihre imaginäre Prägung vermut­lich bereits vor der Reise durch die heidnisch-­länd­liche Antikenvisionen Arnold Böcklins, bei denen das diony­sische Entzücken nie feh­ len konnte. So durfte Hauptmann die griechische Natur- und Kulturlandschaft mit dem Gefühl des Déjà-­vu begrüßen, er habe ja alles zuvor – imaginiert oder durch die Kunst vermittelt – gesehen, habe die realen Orte mit seinen Worten lange zuvor dichterisch bewohnt, so etwa auch die Akropolis zu Athen: „Heute betrete ich, ich glaube, zum vierten Mal, die Akropolis. Es ist länger als fünf­ undzwanzig Jahre her, daß mein Geist auf dem Götterfelsen heimisch wurde.“ 76 Dieses Monument ist aber nicht die klassizistisch gereinigte Ruine, wie sie seit ihrer Reinigung am Ende des 19. Jahrhunderts dasteht. Dieses reale Monument findet Hauptmann befremdend „spröd“: „Ich finde, daß diese Ruinen einen sprö­ den Charakter haben, sich nicht leicht dem Spätgeborenen aufschließen.“ 77 So stellt er die Ruine in einem imaginären archaischen Zustand zurückversetzt vor: „Deshalb schreckt es mich nicht ab, mir die dorischen Tempel bunt und in einer für manche Begriffe barbarischen Weise bemalt zu denken.“ 78 Das Grundgefühl des mit Wollust und Lebenssteigerung erfüllten Triumphs, zu dem sich die Geste der kolonialistischen Besitznahme gesellt, wird auch durch die Reisefotos ausgestrahlt.79 Man betrachte bloß das kleine Foto aus Olympia, 74 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 63. 75 Voigt, S. 55 f. 76 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 43. 77 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 42. 78 Ebd. 79 Peter Sprengel zitiert eine handschrift­lich überlieferte Notiz aus dem Jahre 1899: „Apolli­ nisch: Verharren im Anschauen der Illusion, Diony­sisch: Wollust im Werden, also Schaf­ fen und Vernichten der Illusion mit dunklem Ziel.“ Peter Sprengel: Die Wirk­lichkeit

38

39

Stein und Fleisch

zu dem er in seinem Werk bemerkt: „Die Fundamente und Trümmer des Tem­ pelbezirks liegen unter mir. Dort, wo der goldelfenbeinerne Zeus gestanden hat, auf den Platten der Cella des Zeustempels, spielt ein Knabe. Er ist mein Sohn.“ 80 Harry Graf Kessler hat mit scharfem Auge in seiner Rezension bereits 1909 über Hauptmanns Griechenlanderlebnis bemerkt: „Geistige Kultur ist nichts als verfeinerte körper­liche Kultur […] die Vergött­lichung der Welt durch Vergött­ lichung des Leibes.“ 81 Hauptmann wollte in seinen Reiseaufzeichnungen die „begrabene“, aber nicht verschwundene antike Seele der Griechen wieder aus dem Schutt hervorholen,82 diese – seiner Ansicht nach – dem gegenwärtigen deutschen Gemüt so verwandte archaische, tra­gische Geistesverfassung. An einer Mischung des winckelmannschen und des nietzscheschen vitalen Antikenbildes hielt Hauptmann zeitlebens fest. Wollte er in seinen Dramen Kult und Kunst miteinander überzeit­lich verbinden und sie als „Tempelweihefestspiele“ verste­ hen, blieb seine epische Dichtung im Banne einer utopischen Entzeit­lichung.83 Nicht einmal die na­tionalsozialistische Enteignung des griechischen jugend­lichen Körpers und der Interpreta­tion der antiken griechischen Kultur überhaupt hat bei ihm Bedenken erweckt. 1939 veröffent­lichte er im Band Ährenlese das epische Gedicht Der Knabe Herakles, dessen Anfangsverse seines Besuchs der Akropolis zu Athen gedenken: Gehüllt in blauen Veilchenrauch und -duft, gleißt sie, Athenens Stadt, im Strahl Apolls. Die Marmorrosse der Akropolis Wiehern im Festzug: Marmorjünglinge, doch warm im Licht des Morgens, tragen sie zum ewig-­goldnen Götterglück der Jugend.84

der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschrift­lichen Nachlasses, Berlin 1982, S. 42. 80 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 35. 81 Harry Graf Kessler: „Griechischer Frühling“. In: Die Neue Rundschau 1909, S. 743. 82 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 57. 83 Gert Mattenklott: Gerhart Hauptmann – Ein Porträt. In: Walter Engel/Jost Bomers (Hrsg.): Zeitgeschehen und Lebensansicht. Die Aktualität der Literatur Gerhart Hauptmanns, Berlin 1997, S. 11 – 22, besonders S. 16 f. 84 Gerhart Hauptmann: Sämt­liche Werke. Bde. I–IV. ­Hrsg. v. Hans-­Egon Hass. Frankfurt/ Main – Berlin 1964. Bd. IV: Lyrik und Versepik, S. 224.

Im Banne der Archaik

40

Abb. 6 

Gerhard Hauptmann mit seinem Sohn Benvenuto in Olympia

Die Akropolis wird auch ­dieses Mal – wie fast immer seit den Attischen Elegien von Ludwig I. – in „Veilchenrauch“, „im Strahl Apolls“ in Licht gehüllt, und mit einer traumähn­lichen Vision werden die Ruinen plötz­lich verlebendigt: Man sieht die griechische Jugend im Panathenaia-­Zug und „die Marmorrosse“, die „wiehern“; die „Marmorjünglinge“ werden zum Fleisch, sie sind „warm im Licht des Morgens“. Den einst eingeatmeten „Zauber der Gottesburg“ 85 sollten diese späten Verse wieder ausstrahlen. Die Ruinen des alten Hellas bilden für Hauptmann 85 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 57. Die Bronzestatue wurde vom Tyrannen von Gela ­zwischen 478 – 474 vor Christus errichtet. Die Kunstarchäologie hält heute ­dieses Werk für mittelmäßig. Die Ikonografie des Viergespanns galt als Herrschaftssymbolik, die Göttern und Königen gebührte. Siehe dazu: Frank Jünger: Gespann und Herrschaft.

41

Stein und Fleisch

auch hier keine Chiffren des Vergangenen, sondern erscheinen als Zeugen der ewigen, ja auch zukünftigen „Jugend der Welt“. „Das ewig-­goldne Götterglück der Jugend“ sollte jene Wollust, jene Urenergien des alten Griechenlands bezeu­ gen, die der Griechische Frühling vitalistisch heraufbeschwor. Gerhart Hauptmann war – wie die meisten Griechenlandreisenden der Zeit – davon überzeugt, dass nur solches aus der Antike einen Wert besitze, was heute „lebendig“, „jugend­lich“, „gesund“ wirke. Trotz der überschwäng­lichen Begeisterung für alles, was anfäng­lich ist, blieb er im Bereich der Beurteilung antiker Plastik mehr im Banne des 19. Jahrhunderts; er hat sich vom Ideal der griechischen Kunst als klas­sische „Schönheit“ nicht getrennt, wie es seine pathetische Bewunderung für die klas­sisch-­jugend­lichen Gestalten am Parthenonfries bezeugt. Und in seinem Arbeitszimmer in Agnetendorf wurde eine Kopie des Wagenlenkers von Delphi in Originalgröße aufgestellt. Das bruchstückhafte Gespanndenkmal, das erst 1896 aus der „blutgetränkten“ Erde ausgegraben wurde, sollte ihn an seine Urbilder im Stadion von Delphi erinnern, an die „Schönheit“ und den „Adel“ „kraftvoll gefestigter, heiterer, heldenhaft freier Menschlichkeit“.86 Eine ganz andere – mehr aus der Perspektive der Frau imaginierte – weib­liche Dionysik strömt aus den Gedichten von Hermione von Preuschen, deren Schaffen nach ihrem Tod beinahe völlig vergessen wurde. Die aus Hessen stammende Malerin und Dichterin gehörte zu den Exzentrikern ihrer Zeit. Sie löste mit ihrem Gemälde Mors Imperator (1887) sowie mit ihrem freizügigen Leben mancherlei Skandale aus, unternahm eine lange Weltreise, zu deren Sta­tionen auch Griechenland (1906) gehörte. Von ihrer großen Reise erwartete die Künstlerin weniger, ihre Kenntnisse über die antike Kultur zu erweitern. Sie besaß als adelige Frau eine mangelhafte humanistische Bildung, die sie in Griechenland nur mit einzelnen Momenten zu bereichern versuchte.87 Ihre eigent­liche Erwartung bestand eher darin, durch die Reise ihre Einsamkeit zuweilen weniger bohrend in ihrer Seele zu fühlen. In ihrer Lebensbeschreibung (Der Roman meines Lebens, 1926) erzählt sie, sie habe Grie­ chenland zweimal bereist. Dem ersten oberfläch­lichen Eindruck folgte ein zweiter Form und Inten­tion großformatiger Gespanndenkmäler im griechischen Kulturraum von der archaischen bis in die hellenistische Zeit, Hamburg 2006. 86 Gerhart Hauptmann, Gesammelte. Werke, hrsg. von Hans-­Egon Hass, fortges. von Martin Machatzke, Bde 1 – 10, Berlin 1966 ff. Angeführt Bd. 6, S. 99. 87 Zur Bildung von Hermione von Preuschen siehe Muriel Eberhardt: Hermione von Preuschen (1842 – 1918). Eine Künstlerin um die Jahrhundertwende. In: Zeitschrift für Museum und Bildung Bd. 63, 2005, S. 8 – 27.

Im Banne der Archaik

Kurzbesuch auf Korfu und Lefkas, in Delphi, Olympia und in Athen: Auf der Insel Lefkas besuchte sie die Stelle, wo der Legende nach Sappho ins Meer stürzte. Dann fuhr ich weiter nach Itea und Delphi, wo mir damals schon die erste Ahnung meines späteren Romans Pythia aufdämmerte. Olympia und Hermes überwältigten

mich fast. Auch in Korinth und Akrokorinth schwelgte ich Künstlerwonnen. Athen zum zweiten Mal genoß ich noch ganz anders, viel gründ­licher und tiefer als das erste

Mal im vergangenen Jahr, nach dem Dalmatiner Stillleben. Am hehrsten aber scheint mir die Akropolis bei Vollmond.88

Wahrschein­lich hat dieser zweite Besuch in Athen ihr Gedicht Attische Nacht inspiriert, das in ihrem Gedichtband Kreuz des Südens (1907) erschien. Im Gegen­ satz zu Hauptmann oder zu Hofmannsthals Ballett Die Ruinen von Athen wird in ­diesem Gedicht die nächt­liche Ruine geschildert, wie sie besonders bei Vollmond von zahlreichen Touristen bereits um die Jahrhundertwende aufgesucht wurde.89 Die Dichterin versucht aber, mit d ­ iesem allzu bekannten Topos anders umzugehen. Anstatt die Ruine stimmungsvoll zu romantisieren, schildert der lyrische Sprecher einen nächt­lichen Aufzug mit dem feier­lichen Zug der Mysten nach Eleusis: Im Taumel, krampfverzerrt, stürzen zu Astarten Füßen nieder, lustzerfleischt – in ungeheurer Brunst, ihrer Jünger ungezählte Scharen. – – Schwarz und ehern hüten Tempelpforten Menschendaseins tiefstes Urgeheimnis. Durch die attisch veilchenblaue Nacht Leuchtet mondweiß die Akropolis!90

88 Hermione von Preuschen: Der Roman meines Lebens. Berlin – Leipzig 1926, S. 145. 89 Über diese Touristenattrak­tion berichtet etwa der Roman von Giorgos Seferis: Sechs Nächte auf der Akropolis, Frankfurt/Main 1995. Die Akropolis wurde auch vielmals bei Vollmond gemalt, unter anderem sei nur das schöne Bild des ungarischen Malers Csontváry erwähnt, der zufällig im gleichen Jahr in Athen war, als das Gedicht von Hermione von Preuschen entstand. 90 Hermione von Preuschen: Kreuz des Südens, Berlin 1907.

42

43

Stein und Fleisch

Hermione von Preuschen baut ihr Gedicht auf bachofensche und nietzschesche Gegensätze auf: Der mondweißen Akropolis, dem Ort der marmornen Statue der klugen, lichten, jungfräu­lichen Göttin, werden die „schwarzen Tempelpforten“ von Eleusis entgegengesetzt: ein Ort der „lustzerfleischten“ Orgien zu Ehren der chthonischen Göttinnen. Die Verlebendigung der attischen religiösen Kulte stützt sich auf ein populäres, mit Imagina­tion erfülltes Bildungsgut: Anstatt der großen Göttinnen der Mysterien, Demeter und Kore, wird im Gedicht die orienta­lische Göttin Astarte genannt. Die genauen religionswissenschaft­lichen Kenntnisse sind für das lyrische Ich schon deshalb nicht von eminenter Wichtigkeit, weil die Kulte der Reinheit und der unverhohlenen sexuellen Freude eigent­lich Bilder der Seelenwelt darstellen. Auch ohne genaue Kenntnisse schließt sich die Dichterin an jene Strömung der Antikenrezep­tion ihrer Zeit an, die – angeregt durch Erwin Rohdes Psyche (1894) – in den antiken Kulten eigent­lich ihr modernes Interesse für die Ausnahme- und Rauschzustände der eigenen Psyche wiederentdecken.91 Herminone Preuschens Gedicht gehört sicher­lich zu den ersten deutschspra­ chigen Gedichten, in denen die weib­liche Sexualität mit ihrem Leid und Schuld­ bewusstsein so unverschleiert und deut­lich geschildert wird: Durch die attisch veilchenblauen Nächte Ächzen ihre sündenbrünstigen Lieder, bringen um den Schlaf die Liebenlosen, zeugen Wollust in den keuschsten Herzen.

„Sein“ und „Sinn“ bilden im Gedicht Synonyme. Das Hin- und Hergerissensein ­zwischen der Suche nach Reinheit und Ordnung, die die mondweiße Akropolis versinnbild­licht, und den Liedern „sündenbrünstige[r]“ Wollust des Fleisches, die als Bild für das eigene Gedicht genommen werden kann, verleiht dem lyrischen Sprechen eine eigentüm­liche Dramatik. Wollte man Hermione von Preuschen mit anderen reisenden Frauen verglei­ chen, erkennt man ihre geistige Nähe zu Helene von Nostitz, die aus der glei­ chen adeligen Schicht stammte und mit ihrem Mann genauso zu den wichtigsten Anregern des Berliner Salonlebens gehörte wie s­ päter Hermione von Preuschen. Über die Stereotypien hinaus, zu denen etwa das Mond­licht über der Akropolis 91 Siehe dazu die Einleitung von Achim Aurnhammer und Thomas Pittroff, „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklas­sische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, S. 6.

Im Banne der Archaik

zählt, verbindet Nostitz ihre tiefe Verzweiflung angesichts der Ruinen, die sie doch mit Leben füllen, erleben wollte. Sie 92 erzählt eine ­solche Verlebendigung in Eleusis, als die Marmortorsi der tanzenden Mänaden, die sie eben anschaut, plötz­lich im Tanz von Isadora Duncan zum lebendigen Fleisch werden: Trümmer sind wieder um uns. Hier stand der Tempel von Dionysos und der Myste­ rien. Nur die Torsen der tanzenden Mänaden und die bacchischen Festzüge auf den

Grabmälern erzählen noch von der Glut dieser gött­lichen Freude. Uns aber sollte eine

lebende Gestalt die Stimmung vermitteln, die noch immer diese Steine ausatmen.

Überraschend erschien, aus dem Schatten der Säulen tretend, von einem roten Mantel umwallt, die Tänzerin Isidora Duncan vor dem Hintergrund des blauen Meeres. Sie

glaubte sich allein. Tanzenden Schritts durchflog sie den verlassenen Raum. Doch man

spürte, wie sie der Geist Gottes erfüllte. Ihre Bewegungen erschienen immer vergesse­

ner, verlangsamten sich, und die feier­liche Gebärde wurde zum Mysteriendienst – noch einmal sollte dem Dionysos von einem Sterb­lichen gehuldigt werden. Von Stein zu

Stein schritt die große Tänzerin, der Stimme ihrer Seele und dem Gruß des Gottes lauschend; dann wandte sie sich dem Meere zu und entschwand unseren Blicken.93

In welchem Maße der Tanz als modernes Körpergefühl und als Ausdruck der fleischernen Erotik der Frau zur Repräsenta­tion antiker Ruinen gehörte und sie sogar gestaltete, darauf haben Esther Sünderhauff und Eleana Jalouri bereits hingewiesen.94 Das Tagebuch von Helene Nostitz bestätigt außerdem, dass auch ­solche theatra­lischen Inszenierungen auf den archäolo­gischen Blick auf die Trümmer angewiesen waren. Helene von Nostitz und Hermione von Preuschen suchten im klas­sischen Griechenland die Emanzipa­tion der Sinne, die diony­sisch leib­liche Antike. Sie bewunderten Sappho, in deren dichterischer Nähe Hermione von Preuschen zugleich auf ihre dichterisch-­künstlerische Erneuerung hoffte. Sie raste „wie eine

92 Helene von Nostitz reiste kurz vor dem Ausbruch des E ­ rsten Weltkriegs nach Athen. Sie stand in engerem Kontakt mit Rainer Maria Rilke, Hugo von Hofmannsthal, aber auch mit August Rodin. 93 Helene von Nostitz: Aus dem alten Europa. Menschen und Städte, Leipzig 1926, zitiert nach der Neuausgabe, hrsg. v. Karl Krolow, Frankfurt/Main – Leipzig 1993, S. 96. 94 Sünderhauff: Griechensehnsucht, sowie Eleana Yalouri: The Acropolis. Global Fame, Local Claim, Oxford – New York 2001.

44

45

Stein und Fleisch

Mänade“ durch das Leben.95 In ihrem 1911 eingeweihten Tempio Hermione, den sie in Berlin-­Lichtenrade errichten ließ, veranstaltete sie nebst Ausstellungen auch selbst erfundene antike Kulte (zum Beispiel ein Rosenfest).96 Ihr inszenierter Antikenkult war aber kurzlebig: Neben ihrem Alter und der zunehmenden Depression hat der Ausbruch des ­Ersten Weltkriegs auch dazu beigetragen, dass ihr Tempio bald verödete und zu einer Ruine wurde. Der Wunsch nach sexueller Befreiung ebenso wie die Suche nach den Urener­ gien der griechischen Landschaft bewogen auch den Triester Dichter Theodor Däubler, nach Griechenland umzusiedeln. Während seiner wiederholten län­ geren Aufenthalte (1921 – 25, 1931 etc.) hatte er das ganze Land – teils zu Fuß – durchwandert und ausgekundschaftet; auf der Basis seines anschauungsgesät­ tigten Wissens verfasste er zahlreiche populäre Aufsätze zu antiken archäolo­ gischen Stätten und wollte sogar ein großes Werk über das antike Griechenland schreiben, worin sich eine Ambi­tion niederschlug, die eigent­lich aus seinem Freundeskreis herrührte. Der junge Dichter und Essayist Eckart Peterich und sein Mentor Rudolf Pannwitz hielten ihn für den besten Kenner des Landes, ja sogar – mit überspitzter Erwartung – für einen modernen Winckelmann, der ein revolu­tionär neues Bild von der Antike vermitteln werde.97 Solchen Erwar­ tungen konnte Däubler sicher­lich nicht entsprechen: Sie haben seinen Aufent­ halt in Griechenland mit den existenzialen und gesundheit­lichen Tiefgängen verbittert und ihn manchmal auf den Rang eines Hofpoeten sinken lassen.98 Der Dichter war trotz seiner außergewöhn­lich reichen topographischen und kunstgeschicht­lichen Kenntnisse der wissenschaft­lichen Arbeit nicht gewach­ sen: So ist zuletzt sein geplantes großes Werk über Griechenland ein Frag­ ment geblieben. Zu seinen Stärken gehörte die vertikale Schau der kulturellen Landschaft. In seiner programmatischen Schrift Simultaneität (1916) plädiert er für eine neue Wahrnehmung der klas­sischen Überlieferung, die sich pole­ misch gegen die simultane Zeit der Avantgarde wendet. Die in der Avantgarde 95 Siehe ihr Gedicht Wie eine Mänade: Wie eine Mänade / durchschluchz’ ich den Morgen, / durchras’ ich den Mittag –, / durchseh’ ich den Abend, / – und taumle ins Dunkel / der großen Nacht. 96 Siehe dazu die zeitgenös­sischen Zeitungskritiken: Berliner Börsen-­Kurier, 4. Mai 1911, Vos­sische Zeitung, 30. Mai 1911 etc. 97 Thomas Rietschel: Theodor Däubler. Eine Collage seiner Biographie. Leipzig 1988, S. 249. 98 Man denke nur an seine Panegyrik, die er über die Griechenlandreise von Pannwitz schrieb: Pannwitz in Hellas (1924).

Im Banne der Archaik

Abb. 7 

Die Freilegung archaischer Statuen auf der Athener Akropolis

vorherrschende Simultaneität ist für Däubler eine horizontale Kultur, breitspurig, geschwind und geschmeidig: Sie droht mit ihrer Wirrnis die Vertikalität des künstlerischen Blicks zunichtezumachen, jene vertikale Schau der Dinge, die alles Klas­sische, alles Intellektuelle in der Lyrik kennzeichnen sollte.99 Neben seiner vertikalen Schau zeichnet sich seine dichterische Wahrnehmung durch scharfe Einzelbeobachtungen aus, die auch seine Prosaschriften prägen. Man 99 Theodor Däubler: Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften, hrsg. v. Friedhelm Kemp und Friedrich Pfäfflin, Darmstadt 1988, S. 35 f.

46

47

Stein und Fleisch

erinnere bloß an seine Kritik an der archäolo­gischen Säuberung der Akropolis, die damals außer ihm kaum jemand so sah. Erst mit der ausführ­lichen wissen­ schaftskritischen Darstellung Lambert Schneiders wurde die klassizistische Gestaltung der Ruine mit der Entfernung alles Nichtklas­sischen kritisch dis­ kutiert und ist die Akropolis als archäolo­gisches Konstrukt überhaupt in unser Bewusstsein gekommen. Däubler selbst sah seine einzigartige Leistung darin, dass er die authentisch attische archäolo­gische Landschaft erschließen konnte, während sie den Roman­ tikern verschlossen blieb: Der Hymettos offenbare uns griechische Landschaft, die Byron tief berührte, schrieb er in seinem Essay über Attika und setzte mit der folgenden Bemerkung fort: „Byron preist Marathon bloß des berühmten Schlachtfeldes wegen.“ Seine „Genera­tion entdeckte uns das Hochgebirge: Was der Sänger des Childe Harold in Griechenland am meisten liebte, war das Schwei­ zerische in Epirus: Jannina, das Kloster Zitze gefielen ihm in Griechenland am besten, vor Attika hat – wie er es enttäuscht äußert – sein Auge versagt. Er lobte Athen, ebenso wie Marathon, seiner hohen Erinnerungen wegen: Sein Gemüt blieb in die eigene Einbildung, die er vom Altertum aus England mitgebracht hatte, verliebt.“ 100 Mit der Schulung des Auges vermochte Däublers Dichtung in dieser neuen, krisenvollen Phase zur Reife zu kommen: „Wenn Däubler dichtet“, schrieb über ihn Katharina Kippenberg, „scheint er immer im Luftschiff zu fahren, wo die Erde merkwürdig zusammengeballt, in ihren einzelnen Linien und Gegenständen überschritten und unerkennbar unter ihm liegt“.101 Aus dieser Luftschiff- oder manchmal sogar kosmischen Perspektive werden die Überreste alter Kulturen zu winzig, ja sogar unbedeutend. Es sind die Elemente des Himmels und des Meeres, die Wildnis der Tiere, vor allem aber doch die „gelenkten Knaben“ mit ihren „dattelgoldnen Leibern“, in denen das antike Land weiterlebt. Ich zitiere aus dem Herbstgesang an Hellas:

100 Däubler, Griechenland, S. 33 f. 101 Siehe Dorothea Gelbrich: Meer und Stadt in Däublers Lyrik. In: Dieter Werner (Hrsg.): Theodor Däubler. Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst. Die Vorträge des Berliner Däubler-­Symposions von 1992, Mainz 1996, S. 41.

Im Banne der Archaik

Letzter Herbst um Hellas’ große Sonne, Lobe deine Götter, lebe faltenbunt empor! Rote Löwen, glüht auf den Giebeln hoher Tempel Auf die kommenden Gestalten kühn herab! Hütet eure offnen Säulenhallen Vor den fahlen Träumen schwacher Schwärmer! Jünglinge, mit stark-­gewölbten Nacken, Gliedern, die goldig wie die Bronze heiliger Sonne, kehren zu den lächelnden Apollobildern heim. Die gelenkten Knaben, mit ihren dattelgoldnen Leibern, Ringen, bis zur Pracht des Mittags, Froh in veilchenblauem Sand.102

Das lyrische Ich warnt vor den „fahlen Träumen schwacher Schwärmer“, zu denen im nietzscheanischen Sinne alle humanistische Bewunderung für eine vergangene historische Wirk­lichkeit mitsamt einem dekadenten Ruinenkult gehört. Wenn die materielle Präsenz der Antike in ihren Tempelruinen noch eine Aussage für die kommenden Genera­tionen hat, dann in ihrer archaischen Kraftausstrahlung, in den „roten Löwen“ archaischer Tempelgiebel, als Chiffre für heroische, kriegerische Männ­lichkeit – und natür­lich in den archaischen K ­ ouroi, die in den beobachteten lebenden Jünglingen, die „mit ihren dattelgoldnen Lei­ bern“ in der Nähe der Ruinen „ringen“, zum Fleisch werden. Diese lebenden Statuen werden so gesehen, als ob sie „zu den lächelnden Apollobildern“ archa­ ischer Kunst „heimkehrten“, als ob Archaik und Gegenwart im lebenden Leib ineinander verschmolzen wären. Eine expressionistische Farbenpracht gestaltet die Figuren der ringenden Jugend wie anderswo die griechische Landschaft: „­Hellas Göttinnen“ s­ eien die Inseln, und „das griechische Gebirge“ hebt männ­lich „umsommert friedevoll“, „wie Bronze goldig-­grell, sich aus dem Meer empor“.103 Diese panero­tische Leidenschaft, w ­ elche die dichterische Sprache Däublers bis in das kleinste Detail gestaltet, findet zuletzt ihr Objekt im apollinischen gött­ lichen Leib der Jünglinge „in veilchenblauem Sand“ 104. 102 Däubler, Griechenland, S. 454 f. 103 Anfangsverse des näm­lichen Gedichts, S. 451. 104 Vielleicht mögen die Dichter die zum Topos gewordene Farbe „veilchenblau“ (von I. ­Ludwig über Hermione von Preuschen bis Däubler) deshalb so sehr, weil sie zu gleicher Zeit die

48

49

Stein und Fleisch

In seiner Annäherung an die antike Kunst geht Däubler genauso auf die Botschaft der wiederentdeckten Gött­lichkeit des (männ­lichen) Leibes ein, wie manche seiner Zeitgenossen, von Harry Graf von Kessler bis hin zu Stefan George. Däublers Sinn­lichkeit ist aber zugleich andersgeartet als Georges. Das Schöpferische seines diony­sischen Gemüts und seiner glühenden Sinn­lichkeit verg­lich Helene von Nostitz mit dem Blitze schleudernden Zeus oder mit einem Manne, dessen Grab – wie Däubler selbst formulierte – keine Pyramide, son­ dern ein Vulkan sei.105

Sarkazein Angesichts der epigonal gewordenen, humanistisch geprägten Klassizismen werden mehrere Dichter wie Richard Dehmel oder Albert Ehrenstein nicht nur kritische Beobachter der Antike, sondern wird auch Lyrik mit einem neuen Ton von scharfer Ironie bis hin zum derben Sarkasmus gefüllt.106 Ihre sarkastische Dichtung ist zu gleicher Zeit vitalistisch beeinflusst, ihr Schlüsselbegriff ist der gegen den Idealismus und gegen die positivistische, historische Wissenschaft gewendete Begriff „Leben“, wie er durch Schopenhauer und Nietzsche etabliert wurde.107 Richard Dehmel gehört zu den radikal umgewerteten Dichtern des 20. Jahr­ hunderts. Während er bis 1918 als der größte Dichter seiner Epoche angesehen wurde,108 fand man in seiner Liebesdichtung ­später nur Schwulst und Epigo­ nentum, und seine humorvollen, fein ironischen Gedichte sind ganz in Verges­ senheit geraten.

starke farbenkräftige Sinn­lichkeit der süd­lichen Meereslandschaft und des Frühlings meint. 105 Helene von Nostitz, S. 219 f. 106 Zu Dehmels Antikenbild gibt es kaum Fachliteratur. Werner Kohlschmidt begnügt sich auch mit der Behauptung, Dehmel sei in die Fußstapfen von Liliencron getreten, der die mythische Dichtung des 19. Jahrhunderts parodiert hätte. Werner Kohlschmidt: Die deutsche Literatur seit dem Naturalismus und die Antike. In: Reformatio 1958, S. 575 – 591, angeführt S. 576. 1 07 Björn Spiekermann: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels, Würzburg 2007, S. 62. 108 Siehe den Ausstellungskatalog von Georges Didi-­Hubermann: Die Welten des Richard Dehmel. Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg 1995, S. 245.

Sarkazein

Er reiste – dem Rat Harry Graf von Kessler folgend – im Frühjahr 1900 nach Griechenland und schrieb von seiner Reise einen Gedichtzyklus, Postkarten genannt.109 Eine s­ olche enge Verbindung z­ wischen einem Gedichttext und einer bebilderten Postkarte zu knüpfen, ist meines Wissens eine ganz besondere Erfindung gewesen, die ich vor Dehmel in der deutschsprachigen Dichtung nicht kenne. Er hat anscheinend als Erster die schnell wachsende Bedeutung ­dieses neuen Mediums erkannt: Erst fünf Jahre vor seiner Griechenlandreise wurden die Bildpostkarten erfunden, und als Souvenir sind sie rasch in Mode gekommen, sodass sie sofort nach ihrem Erscheinen millionenweise verkauft wurden. ­Walter Benjamin hat bekannt­lich mit einer wahren Sammelleidenschaft Postkarten aufbewahrt, sogar die von ihm selbst verschickten Stücke von seinen Freunden zurückverlangt,110 und Dichter wie Günter Eich haben auch immer wieder zur Gattung der Postkartengedichte gegriffen, deren Genese in Dehmels Dichtung zu erkennen ist. Über die Ruinen des antiken Griechenlands schrieb Dehmel abwertend auf einer Postkarte aus Athen, die er am 5. Mai an Harry Graf Kessler verschickte: Man sieht noch manchmal nach ihnen, aber sie sind und blieben Ruinen, nur die Berge und Sterne sind ewig schön.111

Dehmels Verse schließen sich an die weitverbreitete Auffassung an, nach der die Antike in der unverändert gebliebenen Natur bzw. in der archäolo­gisch geprägten Landschaft Griechenlands am ehesten zu erfahren sei. Angesichts der Erfahrung dieser als unvergäng­lich empfundenen landschaft­lichen Schön­ heit ­seien die spär­lichen materiellen Überreste zweitrangig. In der Postkarte aus Bassae heißt es dementsprechend, „die tausend Nachtigallen“ s­ eien „rührender“ als das „himm­lische Aufbegehren“ der Ruinen des Apollontempels selbst. Aus Olympia schickt Dehmel eine andere Postkarte an Dr. J. ­A. Beringer mit dem

109 Die Postkarten erschienen in Dehmels Gedichtzyklus Weib und Welt, zitiert nach Richard Dehmel: Gesammelte Werke. Bd. 3, Berlin 1907. 110 Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und ­­Zeichen. Hrsg. v. Walter Benjamin Archiv Berlin, Frankfurt/Main 2006, S. 137 ff. 111 Richard Dehmel/Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898 – 1935, hrsg. v. Roland Kamzelak, E-Edi­tion 2004, S. 114.

50

51

Stein und Fleisch

nietzscheanischen Diktum: „le grec est mort, vive l’homme!“ 112 Die Überreste der antiken Kultur ­seien an sich genauso tot wie die alten Bewohner des Ortes selbst. Dem wissenschaft­lichen Wissensgut, das nun kategorisch abgelehnt wird, stellt Dehmel die unmittelbare Erfahrung des Lebens entgegen, das im Sinne von Nietzsches Unzeitgemäße(n) Betrachtungen als ein „Lernen am sinnlos bunten Leben“ gedeutet wird.113 Ähn­liche Äußerungen sind ­später von Futu­ risten und Surrealisten in ganz Europa bekannt. In Dehmels Gedicht wird der Gott Apoll selbst zum Touristenführer des Dichters, der Gott, der „jetzt als ein Giebelstück ausgestellt“ ist. Er belehrt den Dichter vom Versinken seiner einstigen Kunstwelt: Lapithe und Kentauren ruhn im Sumpf, Faustkämpfer preist die Menschheit auch nicht mehr, noch aber übermannt euch seelenschwer der Schatten selbst von ­diesem Säulenstumpf.114

Aus der verschwundenen Zeit des antiken Lebens ist bloß der Schatten eines Säu­ lenstumpfs erhalten, der Ort sei von Mythos und Geschichte entleert. Vielleicht wollen Dehmels Postkarten aus Griechenland eben einen solchen Schatten, einen nur noch negativen Abdruck ehemaliger Präsenz vermitteln. Eine Postkarte aus Athen schlägt (im Vergleich zu Olympia) einen anderen Ton an. Es sind nicht mehr die Trümmer, die in ihrer Nichtigkeit ironisch geschildert werden, sondern ihre archäolo­gische Vermittlung, die humorvoll karikiert wird. Beim Besuch des Dionysostheaters und der Athener Akropolis ist es die Muse der Poesie selbst, die sich über die philisterhafte archäolo­gische Akribie lustig macht: Die Muse spricht: […] Was sucht der Herr da, der den Staub beriecht, wo einst der Feldherr saß, der Opferpriester? Und hier, wo ehmals steilgestreifte Säulen schwarz wie der Styx, rot wie geronnen Blut,

112 Den 24. 04. 1900. Zitiert nach Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 – 1902. Berlin 1922. 113 Siehe Spiekermann, Literarische Lebensreform, S. 212 f. 114 Dehmel, Gesammelte Werke. Bd. 3, S. 128.

Sarkazein

Abb. 8 

Das Dionysostheater (Photo vom Ende des 19. Jahrhunderts)

dem blauen Äther, der sie bleichte, trotzten, hier steht gar einer und studiert den Schutt?115

Die Paradoxie dieser Archäologiekritik besteht darin, dass durch die Führung der Muse die Orte der Stadt doch genau topographierend in die Erinnerung gerufen werden. Die Muse weiß nicht nur, wer und wo im Dionysostheater einst saß, „wo einst der Feldherr saß, der Opferpriester“, sondern vermag das Verschwundene performativ in eine neue Präsenz zu rufen; und der Parthenon wird imaginär re-­ konstruierend in archaischer Farbentracht, in den Farben von Schwarz und Rot vorgestellt: „Und hier, wo ehmals steilgestreifte Säulen, / schwarz wie der Styx, rot wie geronnen Blut, / dem blauen Äther, der sie bleichte, trotzten“. Das Dichterauge setzt sich schroff vom Klassizismus eines Winckelmann ab, der nur noch das Weiß, die Reinheit in der antiken Kunst bewundern konnte. Diese imaginierte Archaik ist durch die äußerst starke Symbolik des Todes und des Blutes gekennzeichnet.

115 Dehmel, ebd., S. 131.

52

53

Stein und Fleisch

Es gehört aber zur weiteren Paradoxie der dichterischen Imagina­tion, dass sie trotz der intendierten antiklas­sischen, schockierenden Farbeffekte zugleich gewisserma­ ßen realistisch und rekonstruktiv konzipiert ist. Wenn man die zeitgenös­sischen Photographien vom Parthenon studiert, wird erkennbar, wie der schwarze Ruß den Marmorbau damals gefärbt hatte. Und wenn man die Reiseberichte liest, wird auffällig, wie sehr die Dichter in Verlegenheit geraten, wenn sie über die Farbe des Parthenon reden sollen. Virginia Woolf hat zum Beispiel davon berichtet (1906), wie sie die Ruine mit ihren „dunklen Säulen“ morgens überraschte, um dann beim Sonnenuntergang sie in rotem Glühen zu sehen.116 Vielleicht spielt auch eine s­ olche präzise Beobachtung in Dehmels provokativ formulierten Versen mit. Oder noch wahrschein­licher hat er Gottfried Sempers Rekonstruk­tionszeichnung vom Parthe­ non gekannt. Semper war näm­lich der Ansicht, dass nicht nur die Skulpturen des Tempels, sondern auch seine Säulen farbig gewesen wären: Er stellte sich schwarze schattenhafte Kanneluren auf den rot gefärbten Säulen vor.117 Seit dem franzö­sischen Symbolismus wurde frei­lich die Aufgabe der Dich­ tung anders verstanden als zuvor: Die dichterische Einbildungskraft lasse sich seither mit keiner Form des positivistischen Wissens vereinbaren, sie führe Krieg gegen die Wissenschaft. Der Wissenschaft wirft auch Dehmel Wortklauberei, steriles, nichtsnutziges Wissen, lebensfremde Akribie vor: Der Archäologe rich­ tet seinen Blick bloß in den Staub, in den Schutt. Der Dichter sei dagegen ein Augenmensch. Es ist eben die Muse, die griechische Gestalt gött­licher Inspira­ tionsquelle, die dem Dichter das Sehen beibringt, und so vermag er das Wirk­liche am Monument wahrzunehmen. Im Prozess des dichterischen Schauens werden Situa­tionen und Emo­tionen „dinghaft“ erfasst. Auf der Postkarte Mykenä stellt das Ich der Sprache der toten Dinge, hier genau der Sprache der ausgegrabe­ nen Ruinen, das Wort des Dichters entgegen. Mykenä sei bei Homer eine Rea­ lität, ein Göttersaal, gewesen, in der verwirrten, unverständ­lichen Sprache der Archäologie sei der Ort aber ledig­lich „Hottentottenkraal“ geworden. Erst die Dichtung vermöge also, den sichtbaren Dingen ihre wahre Identität wiederzu­ geben, sie für die Erinnerung zu bewahren und durch ihre benennenden Worte zu neuem Leben zu erwecken. 116 Virginia Woolf: Am Mittelmeer. Unterwegs in Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei, Frankfurt/Main 1995, S. 74 – 76. 117 Vinzenz Brinkmann/Raimund Wünsche (Hrsg.): Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Katalog München 2004.

Sarkazein

Zu Dehmels archäologiekritischen Gedichten zeigen die Verse des Satirikers Albert Ehrenstein einige Nähe. Für den aus einer ungarisch-­jüdischen Familie stammenden Dichter stellte Lukian eine Identifika­tionsfigur dar, so war ihm die Antike ein Hohlspiegel für das zu seinem Zerrbild gewordene moderne Leben.118 Er reiste 1928 mit Oskar Kokoschka nach Griechenland und weiter nach Paläs­tina, und er verband auch in seinen Essays diese einander widersprechenden und doch ergänzenden Sta­tionen miteinander, „die brüllende Melancholie“ der Semiten mit dem komplementären Gemüt der alten Griechen, die trotz allen Schwer­ muts ihren Auserwählten gestatten, ans Ziel zu kommen. „Dieser Konflikt und Kontrast z­ wischen der Weltfreude der Hellenen und ihrem Aussterbenmüssen, ­zwischen dem Weltschmerz der Semiten und ihrem unend­lichen Beharrungs­ vermögen, sind unglaub­liche und doch geschicht­liche Antithesen.“ 119 Von seinem Athener Aufenthalt zeugt ein einziges Gedicht, das er mit der provokativen, ironischen Überschrift Akropolypen versah. Das spielerische Wort­ gebilde verknüpft den Namen der Ruine „Akropolis“ mit dem Namen des Mee­ restiers – im Plural „Polypen“ –, das wahrschein­lich die ­später auch als „Affen­ tiere“ bezeichneten Touristen meint, die sich – wie diese Tiere – am Monument festklammern. Sowohl mit dem Titel als auch mit dem Ton des Gedichts wird die Entweihung, ja Profanierung der „heiligen“ Ruine beabsichtigt. Das lyrische Ich denkt mit aggressivem Spott an seinen Besuch auf der Akropolis zurück, der im Ansturm von „weißen Affentieren“ (Touristen) zu einem Albtraum wurde: Ich alpträumte wach von weißen Affentieren, Die gern auf griechischen Ruinen urinieren.120

Sieht der lyrische Sprecher in seinem „Alptraum“ die ‚heilgen‘ Überreste wie einen Abort und die Menschen darauf darwinistisch als „Affentiere“, so ist mit ­diesem ‚Realismus‘ zumal eine vollkommene Absage an die humanistische Tradi­tion offenkundig. Dieser Parthenon ist nicht das Heiligtum der deutschen Klassik, aber auch nicht der sakrale Ort eines Flaubert, Renan, Pannwitz, ­Däubler oder Kästner. Der lyrische Sprecher des Gedichts fühlt sich am wenigsten inspiriert, auf der 118 Arnim A. ­Wallas: Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer. München 1994, S. 9 ff. 119 Albert Ehrenstein: Menschen und Affen, Berlin 1925, S. 25. 120 Albert Ehrenstein: Gedichte und Prosa, hrsg. v. Karl Otten, Neuwied 1961, S. 69, sowie Arnim A. ­Wallas: Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer. München 1994.

54

55

Stein und Fleisch

Akropolis zu beten, wie man es Renan imitierend kultisch-­rituell zu tun pflegte. Die Ruine gehört bei Ehrenstein zur kleinen Welt des angeprangerten humanis­ tischen Gymnasiums mit seinem Gesangverein und mit seinen „Ex-­Tyrannen der Grammatikhallen“, die den Leser an seine frühere Altsprachenlehrerfigur, an „Metusalem Leichenstil“ aus dem Drehbuch Der Tod Homers (1918), erinnert. Das satirische Gedicht gehört sicher­lich zu den ersten lyrischen Werken, ­welche die moderne Stadt nicht ausblenden. Das Wallfahrtsziel des humanis­ tischen Gymnasiums gilt nicht mehr der antiken Stadt mit ihren verfallenen Denkmälern: Athen und mit ihm die großstädtische Hellas hat sich zum Kultort des Sextourismus gewandelt, den man „archaisch“ erlebt: Aus dem Museum schreit eine archaische Eselin Nach ihrem sehnsüchtig saugenden Eselchen; Aber es antwortet nur ihres Stils Entdecker: Einsam – eine Diasporade – Dionyselt die betreffende Großberliner Kunstschnauze Pseudominoisch im stoischen Meer

heißt es im Gedicht Kypros. Im Stil der juvena­lischen Satire wird auch in den Akropolypen die vermeint­liche Kluft ­zwischen alter und neuer Stadt aufgehoben. In allen drei Strophen werden jeweils zwei diony­sische Alltagsszenen von einst und jetzt miteinander verg­lichen und mit einem ironischen, dialo­gisch antwor­ tenden Refrain kommentiert, wie etwa in der ersten Strophe: Oh, das waren bessere Pestzeiten, ach, Als Alkibiades zu Sokrates „Jetzt gehen ma saufen“ sprach.

In dieser Stadt, wo die Großberliner Kunstszene „dionyselt“, nähern sich den „Nestoren“ der Pfandfinder „die miesen Mädeln“ wie antike Parzen, mit denen – im Neon­licht der Shell-­Reklamen – „Hellenenwandervögel pfadfinden gehen“: Oh, das waren bessere Hurenzeiten, ach, Als Aspasia zu Perikles „Du Säule!“ sprach.

Sarkazein

Die Demontierung des erhabenen Athenbildes des humanistischen Gymnasiums erhält erst im Refrain der letzten Strophe einen feinen Unterton von Melancho­ lie, wenn an die von Diogenes Laertios überlieferte Geschichte der Begegnung ­zwischen Diogenes und Alexander dem Großen erinnert wird, an eine Szene, die keine Entsprechung bei den Pfadfindern und ihren Nestoren hat: Oh, das waren bessere Zeiten, ach, als Diogenes zu Alexander „Geh aus der Sonne“ sprach.121

Mit Ehrensteins Werk kehren wir zu den durch Nietzsche geprägten, mit destruk­ tiven Gesten geladenen mythischen Phantasien des (spät)expressionistischen Gottfried Benn mit der Jahreszahl 1916 zurück, als er die Karyatide schrieb. Wir erkennen, wie rasch die vitalistischen, kulturkritischen dichterischen Topogra­ phien in den 20er Jahren ihr Ende nehmen. Sie werden rasch antiquiert – vor allem mit der Erscheinung der ersten kriti­ schen Ausgabe der Sämt­lichen Werke Friedrich Hölderlins, die von Norbert von Hellingrath und Friedrich Seebaß und dann unter der Mitwirkung von Ludwig Pigenot 1923 vollendet wurde. Der vierte Band mit den Fragmenten 1800 – 1806 erschien 1916.122 In d ­ iesem Rahmen genügt es zu erwähnen, wie das Kennenler­ nen des Hölderlin’schen Werkes alles umwarf, was man vorher über die Dichtung der Goethezeit, über Dichtung überhaupt dachte. Ohne eine ernsthafte Aus­ einandersetzung mit der Poetik der hymnischen Fragmente Hölderlins, ohne die Untersuchung seiner bis heute beispiellos tiefgreifenden und modernen Auseinandersetzung mit den Griechen wäre es nicht mehr mög­lich gewesen, 121 Ehrenstein, ebd., S. 68 f. Ehrensteins Satire lässt sich besonders schätzen, wenn man sie mit zeitkritischen Athengedichten vergleicht, die die Gegenwart abschätzig betrachten. Ich führe als Beispiel Hermann Kestens Akropolis am Mittag (1950) an, da ­dieses Gedicht in zahlreichen Anthologien erschien. Kesten scheint Ehrensteins Satire nicht nur ohne Sinn für Humor und Ironie zu folgen, sondern auch mit deutschem Na­tionalstolz zu ver­ mengen: „Eine Stunde ist es her, / Daß den Sokrates sein Dämon trieb, / Daß Menander seine Possen schrieb. / Doch die Götter sind nicht mehr. / Unten lärmt Athen und leuchtet grell. […] Die noch gestern Göttersöhne waren, / Sind Barbaren.“ Zitiert nach Karl Otto Conrady: Das große deutsche Gedichtbuch. Bonn 1977, S. 868. 122 Friedrich Hölderlin: Sämt­liche Werke. Unter Mitarb. von Friedrich Seebass bes. durch Norbert von Hellingrath. Band 4: Gedichte, 1800 – 1806/besorgt durch Norbert v. Hellingrath, Berlin 1916.

56

57

Stein und Fleisch

dem antiken Kulturraum zu begegnen. Es ist nicht verwunder­lich, dass manche Dichter der Zwischenkriegszeit einer solchen poetischen Auseinandersetzung nicht gewachsen waren. Darüber hinaus wurde das zum Party- und „Fluchtort“ gewordene Griechen­ land mit seinen schönen athletischen Körpern politisch und ideolo­gisch zuneh­ mend durch den aufkommenden Na­tionalsozialismus besetzt. Diese Wende lässt sich an Benns „Wende“ am klarsten aufzeigen: Aus seinen einstmals bewegten Bildern, die der Sprache entstiegen, tritt wiederum etwas Statuarisches hervor, seine Worte werden erneut zu Marmor.123 Eine s­ olche poetische Wende wird dann auch seine Archäologen und Historiker auffinden, die ihr imaginäres Konstrukt geschicht­lich untermauern.124

123 In meiner Darstellung folge ich hier Stephan Düppe, „Am Anfang war das Wort“ – Zu Gottfried Benns Bildtheorie. In: Ralph Köhnen: Denkbilder. Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, S. 247 f. 124 Neben dem bereits angeführten Werk von Esther Sünderhauf siehe Susanne Marchand: Down from the Olympus. Archeology and Philhellenism in Germany 1750 – 1970, Princeton 1996; Beat Näf: Von Perikles zu Hitler? Die Athenische Demokratie und die deutsche Historie bis 1945, Bern 1986; Volker Losemann: Die Dorier in Deutschland. Die dreißiger und vierziger Jahre. In: William M. ­Calder III/Renate Schlesier (Hrsg.): Zwischen Tradi­tionalismus und Romantik. Karl Ottfried Müller und die antike Kultur, Hildesheim 1998, S. 323 – 348.

58

Weiß, aber nicht apollinisch Ob das Licht die Dinge auch unsichtbar macht? (Walter Helmut Fritz: Delos)

„Mein Griechenland ist vom Kristall“ 125 Ist es eine Obsession, vom Weiß des antiken Kunstwerks – trotz allen histo­ rischen Wissens – immer wieder fasziniert zu werden? Nach dem Abschließen des sogenannten Polychromiestreites in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind sogar die archäolo­gisch nicht geschulten Kunstbetrachter von der Farbigkeit dieser heute hellen Denkmäler überzeugt. Warum bleibt der moderne Betrachter doch vom Weiß dieser Kunst gefesselt, sodass er die Farbigkeit antiker Kunst zwar ideell bejaht, sinn­lich aber manchmal nur noch mit großer Anstrengung akzeptiert? Im Gegensatz zur diony­sischen Farbeneuphorie, ­welche jene Dich­ tung der ersten Jahrzehnte kennzeichnete, die wir im vorangehenden Kapitel besprochen haben, galt das Ideal der weißen Antike als klassizistisches Erbe, das seine Geburt Winckelmanns durchaus populär gewordener These verdankt. Auf der Basis der zeitgenös­sischen Optik hat näm­lich Winckelmann in der Geschichte der Kunst des Altertums apodiktisch festgestellt: „Da die weiße Farbe diejenige ist, ­welche die mehresten Lichtstrahlen zurückschicket, folg­lich sich empfind­licher macht, so wird auch ein schöner Körper desto schöner sein, je weißer er ist.“ 126 Die Verknüpfung von Schönheit und Weiß hat ihn, den Apostel der Autopsie, dazu verleitet, das Studium der Gipsabgüsse zumindest für die ungeübten Augen für angemessener zu halten als das der Originale, da ihre glatte weiße Fläche das Licht am besten widerspiegelt. Ganz im Sinne der winckelmannschen Prinzi­ pien antiker Kunst – „edle Einfalt und stille Größe“ – unterstrich dann Goethe die ethische Qualität der weißen Farbe. Sie bringe einen Effekt hervor, „der uns 125 Zitat aus einem unveröffent­lichten Manuskript von Paul Valéry, angeführt nach: Suzanne Larnaudie: Paul Valéry et la Grèce, Genève 1992, S. 60. 126 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, Bd. 2, § 19.

59

����������������������������

zugleich mit dem Begriff vom Weißen den Begriff von unbedingter Reinheit und Einfachheit eindrückt; so daß wir auch im Sitt­lichen den Begriff vom Weiß mit dem Begriff von Einfalt, Unschuld, Reinheit verbunden haben. […] Alle weiße Körper geben uns einen Begriff von Reinheit und Einfachheit“.127 Trotz der raschen Antiquiertheit dieser winckelmannschen und goetheschen Ästhetik haben die Dichter des 19. Jahrhunderts noch mehr goethesch gese­ hen: Man denke nur an Hebbels oder an Meyers „Dinggedichte“ oder sogar an Hofmannsthal, dessen enthusiastischer Goethekult zum Scheitern seiner Griechenlandreise beitrug. Wie aber in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt wurde, wollte die literarische Moderne eben mit ­diesem mittlerweile weltfremd und gutbürger­lich gewordenen Klassizismus abrechnen. Zu den Folgen gehörten jene farbenreichen diony­sischen Poetiken, die oben untersucht wurden. Warum lässt sich trotz dieser Vielfalt eine ganz klare Rezep­tionslinie erkennen, die sich an der ästhetischen Idee der griechischen Antike festhält? Warum bleibt das Weiß eines der wichtigsten Kennzeichen antiker Kunst, und zwar lange nach dem Abschluss des Polychromiestreites?128 Welche metaphorische Funk­tion übernimmt die weiße Farbe in der archäolo­gischen Dichtung der Moderne, und ­welche Parallelen verbinden sie mit der Kunst der Avantgarde? Wir wollen mit der franzö­sischen Poesie beginnen, da sie europaweit eine enorme Wirkung auf Dichter und Künstler ausgeübt hat, unter anderem auch auf die drei Dichter Kavafis, Benn und Goll, deren Dichtung im Folgenden untersucht wird. Man dürfte meinen, dass eben bei der „poésie pure“ eines Mallarmé oder bei Valérys spiritueller Lyrik, die alle Gegenständ­lichkeit bzw. alle objektbezogene Referenz im Prinzip meidet, weder das Klas­sische noch das Archäolo­gische eine Rolle spielen könnten. Mehrere Schriften Valérys bezeu­ gen hingegen, dass er das Konzept moderner Kultur in ihrem Bezug zur Antike konstruierte und dass sein ganzes Denken von der philosophischen bzw. spiritu­ ellen Idee antiker Schönheit geprägt war,129 deren transformative Energien seine Poesie ins Werk setzen wollten. In einer Notiz vergleicht er seinen Hellenismus 127 Johann Wolfgang Goethe: Versuch. Die Elemente der Farbenlehre zu entdecken (1790 – 1807). In: Gesammelte Werke, München 1986, Bd. 23/2, S. 169. 128 Andreas Prater: Streit um Farbe. Die Wiederentdeckung der Polychromie in der griechischen Architektur und Plastik im 18. und 19. Jahrhundert. In: Vinzenz Brinkmann/Raimund Wünsche (Hrsg.): Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Ausstellungskatalog der Glyptothek München, 2003, 257 – 272. 129 Siehe dazu das oben angeführte Buch von Suzanne Larnaudie.

����������������������������

mit einem Kristall. Die Ruinen, die er mit einer naiven Unbefangenheit zu sehen verlangt, s­ eien ihm deshalb weder historische Bauten noch Spuren einer vergangenen Zeit. Sie sollten in ihrer Schönheit eine Sprache besitzen, um ihn anzusprechen.130 Und dann wiederum sagt er im Dialog Eupalinos oder der Architekt mit der Sprechmaske des Architekten: „Diejenigen von den Bauwerken, die weder sprechen, noch singen, verdienen nichts als Verachtung.“ 131 Dieser Idee entsprungen, versucht sein Gedicht Cantique des Colonnes (1922), diese statische Vollkommenheit des antiken Tempels zu dynamisieren, in die Musik der poeti­ schen Worte zu übersetzen. Das dichterische Programm einer solchen Artistik geht wahrschein­lich nicht nur beim späten Gottfried Benn, durch dessen Ver­ mittlung das folgende Zitat angeführt wird, sondern auch bei Valéry auf Flau­ bert zurück. Dieser hat näm­lich während seiner Orientreise auf der Akropolis zu Athen bemerkt, dass ihn „der Anblick einiger Säulen der Akropolis ahnen ließ, was mit der Anordnung von Sätzen, Worten, Vokalen an unvergäng­licher Schönheit erreichbar wäre“.132 Valérys „selige Säulen“ sind in Schönheit und jungfräu­liche Reinheit geklei­ det, ihre Erscheinung ist von jener Sakralität und Feier­lichkeit durchdrungen, ­welche die antike Plastik kennzeichnete. Sie verkörpern die vollkommene Har­ monie der Welt, die nun durch sie nicht nur hörbar, sondern auch an ihnen sichtbar wird: „O seule et sage voix/ Qui chantes pour les yeux“. Sie singen von ihrer Formung, von der gött­lichen Meisterschaft, die sie ins Leben rief (in Rilkes Übersetzung):

130 Larnaudie, ebd., S. 60. 131 Paul Valéry: Gedichte. Franzö­sisch und Deutsch. Die Seele und der Tanz. Eupalinos oder Der Architekt, Hamburg 1962, S. 111. 132 Um eine weitere Koinzidenz anzudeuten, zitiere ich Flauberts Reisetagebuch durch Gottfried Benn. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik, aufgenommen in Beda Allemanns Anthologie: Beda Allemann (Hrsg.): Ars poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik, Darmstadt 1966, S. 146.

60

61

����������������������������

Abb. 9 

Hermann Wagner: Kore-­Statuen vor dem Parthenon (1936)

����������������������������

Wir singen, ans Tragen zugleich Dieser Himmel gewöhnt! Oh einziger Klang, der im Reich Auch der Augen ertönt! Meißel aus unseren Wiegen Holten uns, golden und kalt, Wie die Lilien stiegen wir in diese Gestalt! Plötz­lich erweckte man Uns in dem Bett von Kristallen Und metallene Krallen faßten uns formend an. Daß wir den Mond bestehn, Sonnen- und Mondglanz hätten. […]133

Die Säulen sind aber in ihrer jungfräu­lichen Schönheit eher nur noch rezeptiv, ihr Weiß der Lilien und des Kristalls ist das reflektierende Medium des Lichts, um dessen Willen sie sind. Die bekannte Analogie z­ wischen der Säule und der mensch­ lichen Figur spielt in dieser Metaphorik sicher­lich mit, wird aber im Sinne einer kosmischen Erotik als eine Liebe zur männ­lich agierenden Sonne und zum Licht transformiert.134 Die begehrenswerte Schönheit der Jungfrauen/Säulen reflektiert und zelebriert auch das griechische Licht in allen seinen Erscheinungen, im nächt­ lichen Schein des Mondes und in den transparent glänzenden Strahlen der Sonne. Erst in d ­ iesem Glanz werden die Säulen in ihrer gött­lichen Ordnung sichtbar. Ein ähn­liches Parallelisieren ­zwischen Jungfrau und Säule einerseits und ­zwischen dem Weiß des Marmors und dem Glanz des Himmels andererseits findet man auch auf zeitgenös­sischen Photographien, etwa auf den berühmten Photographien von Hermann Wagner.135 133 Valéry, Gedichte, S.  15 f. 134 Larnaudie, Paul Valéry, S. 124. 135 Dominique de Font-­Reaulx: Visions intérieures, la photographie du XXe siècle et l’art de l’Antiquité, in: D’après l’antique, Cat. Paris Louvre 2000, S. 121 – 131, zitiert S. 123. Siehe

62

63

����������������������������

Hermann Wagner nutzte 1936 die einmalige Gelegenheit, die Skulpturen des Akropolismuseums im Freien, in jenem griechischen Licht photographieren zu dürfen, das sie einst, zur Zeit ihrer Entstehung, beleuchtet hatte. Dies war ein außerordent­liches Ereignis, zumal die zeitgenös­sische Ästhetik – ­Martin ­Heidegger einbegriffen – die Eigenart der weißen griechischen Kunst ganz und gar aus dem Phänomen des griechischen Lichts erklärte. Rudolf Binding hat einige Jahre vor der Entstehung dieser Photographien von der einzigartigen Qualität ­dieses Lichtes geschrieben: „Das Erlebnis des Lichts ist das höchste, das eindring­lichste, das erfüllende Griechenlands. Ohne das Licht wäre Griechenland nicht, seine Kunst nicht, seine Götter nicht, seine Menschen nicht. […] Es ist aber eigent­lich kein Licht mit Eigenschaften des Lichts als vielmehr eine unge­ heure Helligkeit. Kein Mensch könnte ihre Farbe nennen und es ist ihr nicht um Töne zu tun. […] Sie will Klarheit, Bestimmtheit, Unerbitt­lichkeit der Form.“ 136 Einige Dichter, auf die wir oben bereits hingewiesen haben, waren von ­diesem Licht eher abgestoßen. So nannte zwar Hofmannstahl d ­ ieses Licht „fabelhaft und orienta­lisch“, aber zugleich „blendend und häss­lich“.137 Valéry besaß keine unmittelbare Erfahrung mit dem griechischen Licht, da er meines Wissens nie Griechenland besuchte, ihn interessierten nur dessen spekulativ-­kosmischen und ästhetischen Implika­tionen. Das Licht, das die Antike erhellt, ist bei ihm nicht der Ursprung aller Farben, eher eine Metapher für eine s­ olche Kristallisierung der Poesie, die seine Dichtung mit der „poésie pure“ des franzö­sischen Symbo­ lismus und mit dessen negativer Theologie verbindet. Weiß wird mit „leer“ und mit „abwesend“ gleichgesetzt, wobei die Absenz zunächst eine Abwesenheit des Häss­lichen und des Gemeinen bezeichnet. Die Poetologie der „poésie pure“ hat außerhalb des Reiches der Dichtung auch einige Künstler inspiriert. Nicht nur die Futuristen oder Marcel Duchamp, sondern auch Kasimir Malewitschs Suprematismus haben bekannt­lich vieles Mallarmé zu verdanken.138 Er folgte ihm sowohl in der Forderung, die Kunst von der Subjektivität und von allen Schranken der Materie zu befreien, als auch in der mallarméschen

außerdem: Erika Billeter: Skulptur im Licht der Photographie. Von Bayard bis Mapplethorpe, Bern 1997, S. 31. 136 R. ­G. Binding: Erlebtes Leben, Frankfurt 1927, S 185. Sowie Boris von Brauchitsch: Das Ma­gische im Vorübergehen. Herbert List und die Photographie, Münster – Hamburg 1992, S. 71. 137 Brief an den Vater am 15. Mai 1908, und am 2. Mai 1908 aus Patras. 138 Gilles Néret: Kasimir Malevich and Suprematism 1878 – 1935, Köln 2003, S. 43.

����������������������������

Obsession für die Nicht-­Farbe Weiß, die für Mallarmé – Rimbaud folgend – der Inbegriff des Nichts, die nicht verwirk­lichbare absolute Idealität war.139 In seiner Schrift Die gegenstandlose Welt (1926) geht Malewitsch noch weiter und fordert von der Kunst die Forderung einen extremen Purismus: Die tra­gischen Antinomien des Lebens sollen durch „die Gegenstandslosigkeit des weißen Nichts“ aufgehoben werden.140 Diese pure Negativität bildet in der Kunsttheorie von Malewitsch den modernen Gegenpol zur reinen Schönheit antiker Kunst: Man bewahrt in den Museen antike Kunstwerke und behütet sie sorgsam, nicht um sie für den praktischen Gebrauch zu erhalten, sondern um das Ewig-­Künstlerische in

ihnen zu genießen. Der Unterschied z­ wischen der neuen, gegenstandlosen (‚unzweck­ mäßigen‘) Kunst und der antiken Kunst liegt darin, dass der volle künstlerische Wert der letzteren erst dann zum Vorschein kommt (erkannt wird), wenn das Leben auf der Suche nach neuer Zweckmäßigkeit sie verlassen hat, während das unangewandte

künstlerische Element der ersteren dem Leben vorauseilt und vor der ‚praktischen

Verwertung‘ die Türen schließt.

Der antike Tempel ist nicht deswegen schön, weil er einer gewissen Lebensord­

nung oder der entsprechenden Religion als Schlupfwinkel gedient hatte, sondern weil seine Form aus einer reinen Empfindung plastischer Verhältnisse entstanden ist. Die

künstlerische Empfindung (die durch den Bau des Tempels Gestalt wurde) ist uns für

alle Zeiten wertvoll und lebendig, die Lebensordnung hingegen (die einst den Tem­

pel umgab) – tot.141

Malewitsch betrachtet den künstlerischen Willen, der in der Form eines griechi­ schen Tempels seinen Ausdruck fand, als zeitlos gültig, wenn seine plastischen Verhältnisse, ganz abgesehen von seiner ehemaligen religiösen und sozialen Funk­tion, rein ästhetisch angeschaut werden.142 Die antike Kunst solle von all ihrer Zweckmäßigkeit, von ihrem historischen und kultischen Kontext befreit im verfremdeten Raum des Museums ausgestellt werden; so könne sie in ihrer 139 Siehe dazu: Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik: Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956, S. 90 ff. 140 Das Malewitsch-­Zitat habe ich von Andrzej Turowski übernommen. Andrzej Turowski: Der unbegreif­liche Malewitsch, in: Malewitsch und sein Einfluss, Kat. Lichtenstein, Ostfildern 2008, S. 10 – 18, angeführt S. 11. 141 Kasimir Malewitsch: Die gegenstandslose Welt, München 1927, S. 76. 142 Ebd.

64

65

����������������������������

gereinigten Präsenz gemeinsam mit moderner abstrakter Kunst im Museum ausgestellt werden, sie dürfe etwa zu seinem Werk Weißes Quadrat auf weißem Grund kontrastieren. Dieses wirkungsmächtige Werk von Malewitsch, das heute im MOMA zu sehen ist, hat somit die mallarmésche negative Theologie bis zu ihrer letzten Konsequenz weitergeführt: Es hebt Farbe und Form zu gleicher Zeit auf, um nur eine geometrische Spur in der Differenz des weißen Grunds und des weißen Quadrats zu hinterlassen. Mit Malewitschs Konzept des Weiß, in dem alle Farben annihiliert werden sollten, verändert sich die ästhetische Rezep­tion dieser Farbe von Grund auf. Einige Studien haben genügend belegt, wie durch den erst in der Moderne rich­ tig entdeckten Roman von Hermann Melville, durch die gewaltige, enigmati­ sche Symbolik des Moby Dick immer mehr das Unheim­liche, das Monströse, das gespenstisch Irra­tionale mit dem Weiß assoziiert wird, insbesondere von solchen Liebhabern dieser Farbe wie Richard Meier oder Le Corbusier.143 Und durch Malewitsch wird nun die so oft unterstrichene „Reinheit“ dieser Farbe unter­ miniert, indem sie als die Annihila­tion aller Farbe, als der „unend­liche Abgrund“ des kosmischen Raums aufgefasst wird; sie steht für einen unend­lichen, ewigen leeren Raum, für das Nichts Gottes, sie ist die Chiffre einer Kunst, die sich von der Erde wie von einem Müllberg abkehrt, sie hinter sich lassen will.144 Eine s­ olche weniger erhabene als negativistische Ästhetik des Weiß kann nun wohl mit der elementaren Erfahrung des isolierten antiken Fragments ver­ koppelt werden. Ihre Wirkung können wir auch außerhalb der franzö­sischen Poesie wahrnehmen.

143 Siehe Ursula Baus/Klaus Jahn Philipp/Max Stemshorn (Hrsg.): Die Farbe Weiß. Farbenrausch und Farbverzicht in der Architektur, Katalog Ulm 2003, S.  12 f., 90 f. 144 Kasimir Malewitsch: Essays on Art 1915 – 1933, London 1969, S. 121. Siehe außerdem die Malewitsch-­Zitate, die von Gerry Souter angeführt wurden: Gerry SOUTER: Malevich. Journey to Infinity, New York 2008, S. 127, 142.

Leukios, der Schlafende

Leukios, der Schlafende Alle drei oben erwähnten Merkmale der modernen ästhetischen Begegnung mit der griechischen Antike – Fragmentierung, Entleerung und Symbolisie­ rung durch die Farbe Weiß – führen unsere Untersuchung zu Konstantinos Kavafis. Die Einbeziehung seines autonomen Werkes kann einerseits mit sei­ ner frühen Anknüpfung an den franzö­sischen Symbolismus, andererseits mit seiner Wirkung argumentiert werden, die in Deutschland bereits nach seinem Tode (1933) nachweis­lich ist. Die diesbezüg­lichen Forschungen von Chryssoula Kambas haben die Rezep­tion im George-­Kreis ausführ­lich dokumentiert, zu der auch die damals unveröffent­licht gebliebene Übersetzung von Helmut von Steinen gehörte.145 Kavafis begann im Banne von Mallarmé zu dichten, und zu jenem einzigarti­ gen, originellen Dichter griechischer Sprache wurde er durch seine traumatische Begegnung mit der gespenstisch gegenwärtigen Vergangenheit seiner geliebten Stadt, Alexandrien. Er verstand sich als Nachkomme der griechischen Enklave Alexandriens und machte die Erinnerung an diese antike, nur in ihren schwei­ genden Ruinen erfassbare Stadt zur Identifika­tionsmetapher seines lyrischen Schaffens. Von seinen fünf Epitaphien führe ich nun das Gedicht Im Monat Athyr an:

145 Chryssoula Kambas: Athen und Ägypten. Helmut von Steinen, Übersetzer von Kavafis, in: Chryssula Kambas/Marilisa Mitsou (Hrsg.): Hellas verstehen. Deutsch-­griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien 2010, S. 289 – 328.

66

67

����������������������������

Abb. 10 

Konstantinos Kavafis: En to mini Athir

Im Monat Athyr Mit Mühe entziffere ich auf dem alten Stein ‚HE(RR) JESUS CHRISTUS‘ Ein ‚SE(E)LE‘ erkenne ich. ‚IM MON(AT) ATHYR SCH(LIE)F LEUKIO(S) EIN.‘ Über sein Alter, nach ‚LE(B)TE ER,‘ Zeigt die Zahl 27, daß er jung entschlafen ist. Auf einem verwitterten Teil ‚IH(N) … ALEXANDRINER‘, Die nächsten drei Zeilen sind kaum lesbar. Jedoch erkenne ich Worte wie ‚unsere Tränen‘, ‚KUMMER‘, Dann wieder ‚TRÄNEN‘ und ‚U(NS) SEINE TRAUERNDEN (FR)EUNDE‘. Mir scheint, daß Leukios sehr geliebt wurde. Im Monat Athyr ist Leukios entschlafen.146

146 Konstantinos Kavafis: Das Gesamtwerk, hrsg. und übersetzt v. Robert Elsie, Zürich 1997, S. 143.

Leukios, der Schlafende

Abb. 11 

Die Loculi in Alexandria

Im ersten Kapitel haben wir darauf hingewiesen, wie die moderne Ästhetik in Dichtung und Kunst einen neuen Sinn für das Fragmentarische entwickelt hat und zunehmend auf den Verlust, auf das Abwesende, auf das unwiederbring­lich Verlorengegangene fokussierte. Die pseudo-­epigraphische Poetik ­dieses Kavafis-­ Gedichts kann man in dieser Hinsicht neben Rilkes poetische Konstruk­tion eines antiken Torsos stellen. Das Ich versucht hier, die fragmentierten Worte einer frühchrist­lichen Grabinschrift zu lesen. Eine ­solche Tätigkeit gehört zur Arbeit eines Epigraphen, und wir wissen, dass im kulturellen Leben Alexandriens die Freilegung der antiken Nekropolen durch Giuseppe Botti und dann Ernst

68

69

����������������������������

Sieglin eine große Rolle spielte.147 Das Antikenmuseum wurde 1892 eröffnet, und die dort ausgestellten zahlreichen Inschriften und Funde wurden in mehreren Publika­tionen am Anfang des 20. Jahrhunderts veröffent­licht. Es ist aus mehreren Zeugnissen ersicht­lich, dass Kavafis mit diesen Funden und deren archäolo­gischer Erschließung einigermaßen vertraut war. Er hat wahrschein­lich einige Ausgrabungen auch besucht, etwa die mit ihren immensen Räumen sehr beeindruckenden Gräber des aus ptolemäischer Zeit stammenden, aber dann durch die Christen der ersten Jahrhunderte wiederverwendeten Fried­ hofs Kôm-­Esch-­Schukâfa.148 Er erwähnt auch in einem anderen Gedicht, Kaisarion (1918), seine Passion, die neuen Veröffent­lichungen zu den ptolemäischen Inschriften in der Nacht zu lesen: Teils um ein Datum festzustellen Und teils um mir die Zeit zu vertreiben, Nahm ich gestern abend einen Band Ptolemäischer Inschriften zur Hand und blätterte darin.149

Solche Zeugnisse gehören sicher­lich nicht bloß zum fingierten Narrativ des Ichs des Gedichts.150 Es ist an unserem Text Im Monat Athyr auch sonst ersicht­ lich, dass der Dichter wie ein geschulter Epigraph seinen Text typographiert: Er sondert den Text der Inschrift sorgfältig ab, er stellt in Klammern, wie er die Inschrift ergänzt hatte. Der dichterische Versuch, die Inschrift zu lesen, führt aber zu keiner Rekonstruk­tion, er dokumentiert eher die faktische Unlesbarkeit der Vergangenheit. Die Inschrift erweist sich während des Leseprozesses als immer mehr fragmentarisch, auf eine Ergänzung, auf eine Sinnkonstitu­tion muss ver­ zichtet werden. Während der Name des jung Verstorbenen „Leukios“ und sein Lebensalter – 27 Jahre – verhältnismäßig gut lesbar waren, zerfallen die darauf­ folgenden Zeilen der Inschrift in isolierte Einzelworte: 147 Ernst Sieglin: Expedi­tion Ernst Sieglin. Ausgrabungen in Alexandria, Bde. I–III , Leip­ zig 1908. 148 Zu den Bildern und zur Geschichte der Ausgrabungen siehe: Jean-­Yves Empereur: Alexandria Rediscovered, New York 1998. 149 Kavafis, Das Gesamtwerk, S. 105. Titel hier als „Cäsarion“ übertragen. 150 Zu den archäolo­gischen Kenntnissen von Kavafis siehe auch seine Kenntnis antiker Gem­ men: Stephanos Geroulanos/Günther Dembski/Vassiliki Penna: Münzen und Poesie: Der griechische Dichter Konstantinos Kavafis, Wien 2006, insbesondere S. 30 – 39.

Leukios, der Schlafende

Die nächsten drei Zeilen sind kaum lesbar. Jedoch erkenne ich Worte wie ‚unsere Tränen‘, ‚KUMMER‘, Dann wieder ‚TRÄNEN‘ und ‚U(NS) SEINE TRAUERNDEN (FR)EUNDE‘.

Die Worte „δάκρυα ἡμῶν“, „ὀδύνην“, „δάκρυα“, „(ἡμ)ῖν τοῖς (φ)ίλοις πένθος“ – „Tränen“, „Kummer“, „seine trauernden (Fr)eunde“ bilden keine narrative Einheit. Die Kluft z­ wischen Vergangenheit und Gegenwart erweist sich als unüberbrück­ bar. Erst im Prozess des dichterischen Schreibaktes, der nun an die Stelle der Wissenschaft tritt, kann der verwitterte Stein mit seiner unlesbaren Inschrift zum Sprechen gebracht werden. Somit schafft die Poesie selbst die Mög­lichkeit, zwei Zeitschichten miteinander zu verbinden bzw. sich das Vergangene mit einem willkür­lichen Akt anzueignen und im Schlussvers die Worte der Inschrift als die eigenen zu wiederholen: „Im Monat Athyr ist Leukios entschlafen.“ Mit der Nennung des Zeitpunkts, des Monats Athyr, wird der synkretistische Augenblick einer quasi mythischen Zeit zugeordnet, der in unserer Sprache ganz exotisch klingt und nur im ägyptischen Kalender existierte. Der Name „Athyr“ bezeichnete damals den dritten Monat des Jahres. Nach der Nennung ­dieses Monats in der Überschrift beginnt und endet das Gedicht mit ihm. Dieser dreimaligen Wie­ derholung entspricht die ebenfalls dreimalige Erwähnung des Namens „­Leukios“. Der Name ist von einer Stele überliefert, die im Alexandrinischen Museum aus­ gestellt wurde und in seinem Katalog auch abgebildet ist. Somit sehen wir die Relevanz der poetolo­gischen Aussage bestätigt, die wir oben angeführt haben: Der Dichter versucht, seine alexandrinischen Porträts durch Wissen zu beglaubigen.151 Ist es aber ein reiner Zufall, dass der Dichter eben auf diesen Namen stieß, oder dürfen wir den Namen Leukios mit dem Adjektiv „leukos“ assoziieren? In unse­ rem Kontext müssen wir uns mit einem knappen Hinweis auf die griechischen Farbentheorien begnügen, von denen wir wissen, dass die Bezeichnung „leukos“ nicht ohne Weiteres mit der Farbe Weiß gleichgesetzt werden kann. Die Farben, zu denen ursprüng­lich nur Weiß und Schwarz gehörten, wurden näm­lich von der griechischen Philosophie – von dem Pythagorasschüler Alkmaion von Kroton bis

151 Evaristo Breccia: Catalogue Géneral des Antiquités Égyptiennes du Musée d’Alexandrie. Iscrizioni Greche e Latine, Kairo 1911, S. 33, P. 50, Abb. 34.

70

71

����������������������������

zu Aristoteles – aus dem Gegensatz von Licht und Dunkel abgeleitet.152 So wurde auch die Farbe Weiß immer mit dem Licht in Verbindung gesetzt: In d ­ iesem Sinne bezeichnete das Adjektiv „leukos“ etwas „Glanzvolles“, „Helles“, „Glänzen­ des“, „Scheinendes“, und so auch etwas „Reines“ und auch „Weißes“. „Leukos“ ist das glatte Weiß des Marmors wie das Weiß der glänzend schönen, jugend­lichen Haut. Der tote Jüngling Leukios ist schon durch seinen Namen in die semanti­ sche Fülle der Farbassozia­tion einbezogen. Zum Weiß des Grabsteines, an dem die Inschrift zu entziffern ist, also zum Weiß des Todes und des Leblosen gesellt sich als sein Gegenpart das Weiß jugend­licher Schönheit und Frische. Kavafis, der die antiken Autoren gut kannte, war sich dessen sicher­lich bewusst, dass in der Antike, so etwa bei Philostrat, die weiße Farbe als unmänn­lich, als weib­lich galt. So hat er in einem frühen Gedicht, La jeunesse blanche, noch von einer weißen Schönheit, von einer jungen Frau mit strahlenden Gliedern, mit weißen Händen geträumt, deren Weißheit wie „ein schneeweißes Leichentuch“ sich um sie beide breitet.153 In ­diesem Sinne wird nun dem Jüngling Leukios ganz bewusst seine feminine weiße Schönheit zugeordnet, und er ist somit zum irrealen Objekt der ewigen Sehnsucht und der nie erfüllbaren Begierde erhoben. Das Ich des Gedichts identifiziert sich eben in ­diesem Verlangen mit den Freunden des Toten, ­welche die Gravur in den Stein schlagen ließen. Im Spannungsfeld antiker Inschrift und modernen Gedichttexts wird das überzeit­liche Thema der Dichtung, die Fragilität unserer Existenz, die unheim­ liche Zäsur des Todes, die Lebende und Tote voneinander trennt, aller roman­ tischen Hülle entledigt und „archäolo­gisch“ neu verortet. Aus ­diesem Grunde hat Gregory Nagy die Poetologie des Gedichts so resümiert, dass es sich selbst als fragmentierte Inschrift definiert.154 Diese Poetik demonstriert aber zu glei­ cher Zeit, dass die dichterische Erinnerung mit ihrer Spurensuche die Distanz ­zwischen Inschrift und Gedicht nicht zu überbrücken vermag: Der innere Hiatus, der Bruch ist nicht nur die Eigenart der Inschrift, sondern sie ist in der Sprache selbst zu verankern. Sie ist in der Sprache der Inschrift genauso präsent 152 John Gage: Colour and Culture, Singapur 1993, S. 12. 1 53 Das Gedicht hat noch einen engen Dialog mit der symbolistischen Poesie geführt, u. a. mit dem gleichnamigen Zyklus von Georges Rodenbach. Siehe dazu: Panagios Roilos: The Seduc­tion of the „Real“. In: Panagiotis Roilos (Hrsg.): Imagina­tion and Logos. Essays on C. ­P. Cavafy, Cambridge 2010, S. 167. 154 Gregory Nagy: Poetics of Fragmenta­tion in the Athyr Poem of C. ­P. Cavafy. In: Roilos, Imagina­tion, S.  265 – 272.

Leukios, der Schlafende

wie in deren moderner Ergänzung. Ein solcher Bruch ist eben auch in der fin­ gierten Referenz auf frühchrist­lichen Grabinschriften erkennbar. Während die Inschriften für das Gestorbensein zumeist die teleuta, eteleutéken („vollendete“, „beendete“ sein Leben) benutzen, greift Kavafis auf eine altgriechische Formel zurück: ­Leukios ἐκοιήθη, er „entschlief“, er „ging zu schlafen“. Wird mit d ­ iesem Ausdruck das Tremendum des Todes verschönert, gleich jenen neoklassizisti­ schen Dichtern und Ästheten, die gegen das memento mori des Barock die antike Verwandtschaft von Tod und Schlaf stellten? Eine s­ olche klassizisierende Ver­ schleierung und Ästhetisierung würde aber zu d ­ iesem Gedicht kaum passen, nicht einmal mit seinem neutestament­lichen Nebensinn, der dem Schlaf des Todes die Auferstehung und die Idee des ewigen Lebens hinzufügte.155 Oder, eben umgekehrt, weist es – durch die erotische Anspielung des Wortes 156 – auf einen noch weit krasseren Bruch mit dem evozierten christ­lichen Kontext hin? Ist es sogar blasphemisch zu lesen? Eine s­ olche Inten­tion ist mög­lich, aber kei­ nesfalls sicher. So bleibt die Feststellung: Der weiße Jüngling, Leukios, schläft bloß. Er verwandelt sich damit zum zeitlosen Objekt der Lust, er ist nicht der einst verstorbene Jüngling, dem in einer der frühchrist­lichen Nekropolen Alexandriens eine Inschrift gewidmet war; Leukios gehört folg­lich einem anderen Hades, dem der Seele an, er wird überführt in das Reich der Erinnerung und des Traumes.157 Es ist näm­lich nicht die Liebe selbst, auch nicht ihre vereinigende Kraft, sondern die Sehnsucht nach Liebe und Lust, ­welche der An- oder sogar Enteignung der Worte der Inschrift

155 Mt. 27, 52; Joh. 11, 11. 156 Il. 6,246; Od. 8, 29; Hdt. 3,68 etc. 157 Mein Verfahren, das im Dichten das Wissenschaft­liche spannungsvoll inkorporiert vor­ aussetzt, führt in mehrerer Hinsicht zu einer abweichenden Lektüre. Im Gegensatz zu mir sprechen andere Interpreten von einer Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart, und dies betrachten sie als Werk der Liebe, ohne einen Unterschied ­zwischen Liebe und Sehnsucht oder Liebe und Begehren zu machen. B. ­Benjamin Acosta-­Hughes beschreibt den Erinnerungsprozess in ­diesem Gedicht folgendermaßen: „The reading of the inscrip­tion effectively recreates it’s original occasion, the death of a young man. The love felt for him, and the sorrow at his death, live again in Cavafy’s verses.“ Benjamin Acosta-­Hughes: The Poem Remembers Conceptualiza­tion of Memory in the Poetry of Callimachus and Cavafy, Classical and Modern Literature, Vol. 23, Part 2, 2003, S. 19 – 36, zitiert S. 29. Oder um ­Gregory Nagy nochmals anzuführen: Er schreibt der evozierten Liebe ebenfalls eine inte­ grative Funk­tion zu und vergleicht ­dieses kavafissche Motiv mit dem Mythos von Osiris und Isis, mit der Zerstückelung und Zusammenfügung. Nagy, ebd., S. 272.

72

73

����������������������������

Abb. 12 

Giorgio de Chirico: Der Lohn des Wahrsagers, 1913 (© VG Bild-­Kunst, Bonn 2015)

freie Bahn gibt. Mit den Worten der Erinnerung, mit der Metapher des Traumes verlässt der Leser der Inschrift den archäolo­gisch-­musealen Raum mitsamt seiner Sprache des Logos und betritt einen imaginären Raum der Träume, der Lust und des Schmerzes der Seele. Die Repräsenta­tion der Antike in der Gestalt des zu begehrenden Objekts ist jedoch ein Zug der Poesie von Kavafis, der ihn – trotz der sonderbaren Eigenständigkeit seines Werkes – mit den imaginierten Räu­ men zeitgenös­sischer Kunst verbinden könnte. Ich weise in ­diesem Kontext nur auf die schlafende Ariadne von Giorgio de Chirico hin. Sie liegt einerseits wie ein befremdender Gipsabguss, wie ein totes Monument, eine Kopie ihrer selbst, und zwar in einem ihr völlig fremden, surrealen städtischen Raum.158 In dieser befremdenden Isola­tion und in ihrer weißen Inauthentizität verwahrt sie jedoch eine Spur einer Liebesgeschichte, die nicht so sehr in ihrem mythischen Liebes­ verhältnis (zu Theseus und zu Dionysos) liegt. Weit mehr deutet ihre schlafende, 158 Modern Antiquity. Picasso, De Chirico, Léger, Picabia. Verfasser/innen: Christopher Green/ Jens Daehner/Silvia Loreti/Sara Cochran, Los Angeles 2011.

Die Insel: Leuké

träumende Gestalt chiastisch einen anderen Träumenden an, der sie mit Lust und Schmerz anschaut, das Subjekt jener utopischen, ja sogar falschen Liebessehnsucht, ­welche die Moderne immer noch nach Hellas erfüllt. In einem ähn­lichen Sinne ist sie genauso wie der imaginierte Jüngling Leukios ein Objekt des Begehrens, das trotz seiner scheinbaren Präsenz unend­lich fremd bleibt, es ist nicht mehr als eine Spur der vergangenen Zeit mit deren ganzer traumhafter Surrealität.

Die Insel: Leuké Valéry und Kavafis haben uns zwei mustergültige Beispiele gegeben, wie das Weiß der griechischen Antike in den ästhetischen Konzepten der Moderne sei­ nen Raum findet. Das eine benutzt das Weiß der griechischen Kunst als Chiffre für das Lichte, für die kristalline Klarheit des Geistigen in der Poetik selbst, die sich zu gleicher Zeit erotisch in ihrer jungfrau­lichen Schönheit zeigt. Das andere führt in das dunkle Erdreich der Nekropolis zurück, einer Spur archäolo­gischer Erinnerung folgend, und gedenkt im Zuge der hoffnungslosen Entzifferung der antiken Inschrift auf dem weißen Marmor der weißen Schönheit des Jünglings, dessen Name selbst „weiß“ heißt. Die dichterische Erfindung der Figur des Leukios führt uns zur deutsch­ sprachigen Dichtung, zu Gottfried Benn, dessen expressionistische Dichtung im Rausch der archaischen Farben tobte. Mit der oben genannten Linie eines modernen Klassizismus lässt sich jedoch seine spätere Lyrik verbinden. V. ­Jahrhundert I. „Und einer stellt die attische Lekythe, auf der die Überfahrt von Schlaf und Staub in weißem Grund gemalt als Hadesmythe, zwischen die Myrthe und das Pappellaub. Und einer steckt Cypresse an die Pfosten Der lieben Tür, mit Rosen oft behängt, nun weißer Thymian, Tarant und Dosten den letztesmal Gekränzten unterfängt.

74

75

����������������������������

Das Mahl. Der Weiheguß. Die Räucherschwaden. Dann wird ein Hain gepflanzt das Grab umziehn und eine Flöte singt von den Cykladen, doch keiner folgt mir in die Plutonie’n.“

II. Das Tal stand silbern in Olivenzweigen, dazwischen war es von Magnolien weiß, doch alles trug sich schwer, in Schicksalsschweigen sie blühten marmorn, doch es fror sie leis. Die Felder rauh, die Herden ungesegnet, Kore geraubt und Demeter verirrt, bis sich die beiden Göttinnen begegnet am schwarzen Felsen und Eleusis wird. Nun glüht sich in das Land die ferne Küste, du gehst im Zuge, jedes Schicksal ruht, glühst und zerreißest dich, du bist der Myste und alte Dinge öffnen dir dein Blut.

III. Leukée – die weiße Insel des Achill Bisweilen hört man ihn den Päan singen, Vögel mit vom Meer benetzten Schwingen streifen die Tempelwand, sonst ist es still. Anlandende versinken oft in Traum. Dann sehn sie ihn, er hat wohl viel vergessen, er gibt ein ­­Zeichen, ­zwischen den Cypressen, weiße Cypresse ist der Hadesbaum. Wer landet, muß vor Nacht zurück aufs Meer. Nur Helena bliebet manchmal mit den Tauben, dann spielen sie, an Schatten nicht zu glauben: „– Paris gab dem den Pfeil, den Apfel der –“.

Die Insel: Leuké

Abb. 13 

Grablekhytos im Athener Kerameikos

Das Gedicht entstand im Jahre 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, in der Benn – als Militärarzt in Landsberg an der Warthe sta­tioniert – an den „Endsieg“ nicht mehr glaubend die Ruinen des zu achtzig Prozent zerstörten Berlins mit seinen Augen sah und über das „Gesicht“ einer neuen Kunst nach­ dachte, „nahe an der Katastrophe“.159 Der Titel nennt dagegen eine Zeit, das 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, eine Periode Griechenlands, die mit den Perserkriegen anfing und mit dem Peloponne­sischen Krieg und als dessen Folge mit dem Untergang Athens endete. Dieses Jahrhundert der Kriege ist aber 159 Siehe dazu Benns Briefe an Oelze vom 4. Januar 1944 und vom 5. März 1944. Gottfried Benn: Briefe an F. ­W. Oelze 1932 – 1945, Frankfurt/Main 1986, S. 352 f.

76

77

����������������������������

zugleich mit jenem Höhepunkt antiker Kunst identisch gewesen, deren weiße Denkmäler genauso zur Semantik der Überschrift gehören wie die historischen Komponenten. Benn steht aber sowohl eine Parallelisierung, als auch eine bloße Kontrastierung der Zeiten fern, er allegorisiert nicht. Die lose miteinander ver­ bundenen drei Teile des Gedichts stellen drei klas­sische griechische Szenen dar, die thematisch durch die Motive von Tod und Trauer, von „Hadesmythen“ und Bildern des Jenseits – jenseits von Krieg und Tod – verknüpft sind. Im ersten Teil wird ein antikes Bestattungsritual in medias res erzählt: „Und einer stellt die attische Lekythe“. Die mit „und“ begonnene Erzählung mutet wie ein fragmentierter Bericht an, ihr geht folg­lich etwas voraus, das vom Sprecher-­Ich verhüllt, nicht artikuliert wird und von dem wir nur noch den Ausgang erfahren. Zu d ­ iesem Ende der Geschichte gehört die Bestattung eines Toten, die letzte Ehre wird einem „letz­ tesmal Gekränzten“ erwiesen. Dieser Tote dürfte ein gefallener Soldat sein; auf einen solchen verschwiegenen Tatbestand könnten mehrere Motive des Gedicht­ textes in ihrer Kohärenz hinweisen. Vor allem eben das Motiv der Bekränzung, die in den griechischen Bestattungsriten unbekannt war, wohl aber seit der Antike zur Ehrung des Soldaten gehört. Zweitens kann man auf den dritten Teil des Gedichts mit dem Bild des verstorbenen Kriegers Achilleus hinweisen, und drit­ tens auf Benns neue Poetik, die nach einem Brief an Oelze eine Echtheit und Wirk­lichkeitsnähe anstrebt, und zwar eben mit einer phantastischen, vornehm­ lichen Stilisierung.160 Dieser Tote, der Gefallene, wird sich dann im letzten Vers als der lyrische Sprecher entpuppen – eine Sprechsitua­tion, die bereits aus den griechischen Grabepigrammen bekannt ist, vor allem aus dem berühmten Epi­ gramm des Simonides, das den Gefallenen bei den Thermopylen in den Stein geritzt war. Somit erhält auch der erste Teil von Benns Gedicht den Charakter einer Inschrift, die mit der Klage des Toten enden: […] Dann wird ein Hain gepflanzt das Grab umziehn und eine Flöte singt von den Cykladen, doch keiner folgt mir in die Plutonie’n.“

160 Brief an Oelze vom 18. Januar 1945, zitierte Ausgabe S. 377.

Die Insel: Leuké

Von diesen „Plutonien“, die zugleich das Reich des Hades und die Kultstätte, den Schrein des Hades zu Eleusis, bezeichnen, führt der zweite Teil weiter zum suggestiven Bild der verwüsteten Erde, die sowohl in ihrer Rauheit als auch in ihrem feier­lichen, frostig kalten Weiß selbst die geraubte, tote Koré zu betrauern scheint. Diese zweite Hadesmythe schließt sich nun an die der Überfahrt an, mit dem zentralen Motiv der Trauer der Erdgöttin Demeter um ihre tote Tochter, die von den unfruchtbar gewordenen Feldern und vom zerstreuten Vieh mitgetragen wurde und die dann zur Begegnung „am schwarzen Felsen“ zu Eleusis führte. An diese im Präteritum erzählte Mythe denkt im Präsens das Sprecher-­Ich, „der Myste“, dem sich in seiner Begegnung mit dem Reich der Toten „alte Dinge“ im Blut öffnen. Mit dem Begehen dieser Tal- und Klagelandschaft verschränken sich „einst“ und „jetzt“, verschmelzen sich die Orte: „Nun glüht sich in das Land die ferne Küste“, der eleusinische Eingang in die Unterwelt wird nach Deutschland versetzt. Der dritte Teil führt den Leser noch weiter, zu einem mythischen Ort jenseits von Tod und Leben, zur Insel der Seligen, auf der – welch eine Ironie des Schicksals! – der tote Achill mit der toten Helena versöhnt spielt. Aus ­diesem letzten Teil des Gedichts ist es ersicht­lich, dass im Hintergrund der Grundstimmung von Tod und Trauer der Krieg steht – Troja oder der Zweite Weltkrieg. Der tote Krieger Achill spielt mit seiner Erzfeindin Helena: Er nennt in seinem Spiel den „Pfeil“ des Paris, durch den er am Ende des Krieges getötet wurde, und stellt ihn neben den „Apfel“ der Aphrodite, der den Krieg auslöste – „Paris gab dem den Pfeil, den Apfel der –„. Im Gegensatz zum derben Realis­ mus, der die Darstellung des Todes im Frühwerk Benns kennzeichnete, sind diese Verse verwirrend schön und feier­lich. Die Versetzung des Erzählten in die Antike trägt zu ­diesem schönen Schein wesent­lich bei, indem sie den Realitäts­ bezug der drei Szenen verschleiert. Und diese antike Stilisierung interessiert uns nun in Bezug auf ihre wichtigste Metapher, die Farbe Weiß, die explizit fünfmal genannt, implizit aber mindestens noch siebenmal konnotiert wird. Explizit: Vers 3: „in weißem Grund“ Vers 7: „weißer Thymian“ Vers 14: „Magnolien weiß“ Vers 25: „Leukée – die weiße Insel“ Vers 32: „weiße Zypresse“

78

79

����������������������������

Implizit, weiße Dinge: Vers 1: „Lekythe“ Vers 4: „Myrthe, Pappellaub (Silberpappel)“ Vers 7: „Dosten“ 161 Vers 13: „Cykladen“ 162 Vers 18: „marmorn“ Vers 28: „Tempelwand“ Vers 34: „Tauben“ (der Aphrodite)

Die suggestive Wiederholung des Weiß korrespondiert zumeist mit den rituellen und mythischen Bildern des Todes 163: Es evoziert mit dem Weiß der Lekythe, mit der „Myrthe“ etc. die Erinnerung an das griechische Bestattungsritual, mit den Silberpappeln die mythische Landschaft am Acheron, mit der „Myrthe“ u. a. den Myrtenwald in der Unterwelt, der, Vergil zufolge, die Seelen der Toten verbirgt: myrtea circum silva tegit.164 Dieses Weiß deutet sogar andere, mit dem Raub der Persephone jedoch verwandte Hadesmythen an, etwa die noch zu erwähnende Geschichte der Nymphe Leuké. Benns Dichtung ging bekannt­lich mit den Farben sehr vorsichtig um, und deshalb nannte sie Bruno Hillebrand eine „Illumina­tion“, eine „Eigenqualität jenes Zwischenbereichs, der zum Geistigen hinüberweist“. 165 Dies triff auf das Weiß ­dieses Gedichts auch völlig zu, indem es zugleich ein Moment der Abstrak­tion ist, wie sonst in der ganzen lyrischen Erzählung auf markante Weise zweimal das Indefinitpronomen „einer“ benutzt wird. 161 Die Doste, wilder Majoran, hat weiß-­violette Blüten, die Pflanze besaß in der Antike eine apotropäische Funk­tion. 162 Ich denke, mit den „Cykladen“ wird die weiße Insel präfiguriert, also einfach ihr Weiß asso­ ziiert. 163 Zur Farbensymbolik des Weiß hat schon Edgar Lohner einige Bemerkungen gemacht. Er hob jedoch die Dominanz der weißen Farbe bloß im Bereich der Blumen- und Pflanzen­ schilderung ohne Kommentar hervor. Er legte sie strukturell nicht aus, sondern verband sie mit Walter F. ­Ottos Ansichten zu den Requisiten der Mysterienreligionen. Edgar Lohner: Traum vom Mythos. Eine Gedichtinterpreta­tion, in: Reinhold Grimm/Wolf-­Dieter Malsch (Hrsg.): Die Kunst im Schatten des Gottes. Für und Wider Gottfried Benn, Göttingen 1962, S. 85 – 111, angeführt S. 92, 97. 164 Vergil Aeneis VI, 443 f. Siehe auch Lohner, S. 91. 165 Bruno Hillebrand: Zur Lyrik Gottfried Benns, in: Benn, Gedichte, S.  639 – 668, angeführt S. 664.

Die Insel: Leuké

Wir dürfen vermuten, dass in Benns poetischer Verfahrensweise der Name Leukée den Angelpunkt bildete. Der Name, der selbst „die Weiße“ bedeutet, bezeichnete eine entrückte Insel im Schwarzen Meer, auf der sich die seligen Schatten der Heroen aufhielten, zu denen auch Achill gehörte, dem griechi­ sche Siedler dort ­später einen Tempel errichteten.166 Von der Heirat Achills mit Helena hat u. a. Pausanias berichtet, und diese und weitere Quellen wurden von Jakob Burckhardt, Erwin Rohde, Walter F. ­Otto und anderen ausführ­lich besprochen. Man konnte bisher nicht eindeutig feststellen, w ­ elche Quellen der Dichter benutzt hat, da das Gedicht mit keiner wissenschaft­lichen Deutung der griechischen Jenseitsvorstellungen korrespondiert, dies war vom lyrischen Ich auch nicht intendiert.167 Wie dem auch sei, Benns Text scheint mir eher auf Gerhart Hauptmanns Griechischer Frühling zurückzugehen: „Ich weiß nicht, ob hier herum irgendwo Leuké ist, aber ich wüßte keine Sage zu nennen, die tie­ fer in das Herz hier einleuchtet, als jene, die Helena Achill zur Gattin gibt und beide in Wäldern und Tempelhainen der abgeschiedenen kleinen Insel Leuké ein ewig seliges Dasein führen läßt.“ 168 Mit dem gleichen Nomen wird außerdem im Griechischen die Silberpappel (Populus alba) bezeichnet, die in Thesprotien, am Ufer des Acheron, üppig wuchs. Diese antike Landschaft rief bereits das frühe Gedicht Benns, Hier ist kein Trost, in Erinnerung: Dämmert ein Tal mit weißen Pappeln Ein Ilyssos mit Wiesenu[n]fern Eden und Adam und eine Erde aus Nihilismus und Musik.169

Zu dieser Seelenlandschaft aus Nihilismus und aus Musik, die auch unseren Gedichttext kennzeichnet, könnte außerdem die Mythe von einer Okeanide oder Nymphe Leuké gehören, die von Hades entführt war und sich im Elysium in eine 166 Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Bd. 2, Die Heroen-­Geschichten, München 2008, S. 316. 167 Lohner vermutet Walter F. ­Ottos Einfluss, Helene Homeyer betrachtete Rohde als Inspira­ tionsquelle und Wood griff neben Rohde auf Burckhardt zurück. Helene Homeyer: Gottfried Benn und die Antike, Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 79, 1960, S. 113 – 124; Frank Wood: Gottfried Benn’s Attic Tryptich, The Germanic Review 1961, Bd. 36, S. 298 – 307. 168 Hauptmann, Griechischer Frühling, S. 77. 169 Benn, Gedichte, S. 70.

80

81

����������������������������

Silberpappel verwandelte. Außer dem Motiv der Überfahrt ist diese „Hadesmythe“ wahrschein­lich auch im Text mitgemeint: Hinweis darauf bietet die erste Stro­ phe, in der einer die Lekythe „zwischen die Myrthe und das Pappellaub“ stellt.170 Dürfen wir folg­lich annehmen, dass das Homonym „Leuké“ – als Name der Nymphe und der Insel – die klas­sisch anmutende weiße Farbe in der Bild­lichkeit des Gedichts bestimmt, eine ­solche poetolo­gische Selbstreferenzialität des Zei­ chens, in der die vorangehenden konkreten Referenzen auf das aromatische Weiß der Pflanzenwelt oder auf das chthonische Weiß der Lekythe mit einer artistischen Selbstreflexion des Zeichens amalgamieren, in ihr sogar aufgehoben werden? Eine s­ olche immanente Poetik würde wohl Benns expliziter Poetik, die er ­später in Probleme der Lyrik „Artistik“ nennt, entsprechen. Eine s­ olche entleerende Wendung des bennschen Gedichts, durch die das Erzählte plötz­lich eine Selbstspiegelung des Namens wird, erinnert uns zugleich an Kavafis Leukios. Andere Gedichte – wie Valse triste oder ­später die Fragmente – könnten die Ansicht bestätigen, dass die Antike keine kulturelle inhalt­ liche Referenz besitzt, ihre „weißen“ Götter („Die Parthenongötter, die weißen“) ­seien Chiffren für eine Sprache in Kunst und Dichtung, die ihre Form dem „allgemeinen Verfall“ entgegensetzt. Man könnte jedoch entgegnen: Seit den 30er-­Jahren konnte man nicht umhin, mit dem Weiß antiker Kunst zugleich ihren na­tionalsozialistischen Kult zu assoziieren, den Kult des griechischen Jünglings mit der Verklärung des heldenhaften Opfertodes im Krieg. Benns Werk, insbesondere seine Essays, blieben von dieser Ideologie bekannt­lich nicht unberührt. Umso verwirrender ist die Frage, ob das Weiß des V. ­Jahrhunderts mitsamt seiner Todessehnsucht und Melancholie doch nicht von einer Ästhe­ tisierung geprägt sei, die das düstere Zeitgeschehen „klas­sisch“ verschleiert? Wies bereits die Unbestimmtheit der Sprechsitua­tion mit ihrer rätselhaften In-­ medias-­res-­Erzählung auf etwas Verschwiegenes hin, an welches zu denken die Aufgabe des Lesers sei? Oder kommt zugleich in der Selbstreferenz des Weiß jene utopische Vorstellungskraft zu ihrer vollkommenen Entfaltung, w ­ elche die deutschsprachige Dichtung von der Goethezeit an andauernd mit Hellas ver­ band, und kehrt nun diese Farbe der Reinheit, der Unschuld und der Wahrheit in die Utopie des Nichts um?

170 R. ­E. Bell: Women of Classical Mythology, Oxford 1993.

��������������������

Das Weiß des Wassers: Wasser, Tränen Nebel, Dampf in Ywan Golls „Stunden“ Als letzten Text zum antiken Weiß führen wir ein Gedicht von Yvan Goll an. In Bezug auf die Antike kennt man von ­diesem jüngeren Zeitgenossen Benns, des­ sen dichterischer Anfang mit dem Expressionismus und mit dem Surrealismus verbunden war, ziem­lich wenig.171 Seine frühe Dichtung bewegt sich im Sprach­ raum der Großstadt, die in ihrem technischen Barbarismus alle kulturellen Bezüge auf die Erlebniswelt des Klas­sischen ausschließt. Im elektrisierten „Urwald“ der „Rauchfanfaren“, „Omnibusse“ und Tanzpaläste der Berliner Friedrichstraße will das lyrische Ich mutig sein „Opfer“ bringen: Doch wichtiger ist mir mein Opfer: Die Götter Griechenlands will ich erhängen Längs an den Bogenlampensträngen Der steilen Friedrichstrasse!172

Der Antagonismus ­zwischen der technischen Moderne und der Antike wird aber durch Goll – im Gegensatz etwa zu den Futuristen – immer mehr als Verlust thematisiert 173 und der Dichter sucht nach neuen, zeitgemäßen metaphorischen Verbindungen. Die Veröffent­lichung von Carl Einsteins Negerplastik (1915), in der die afrikanische Kunst neben die antike Plastik gestellt wurde, war in dieser Hinsicht von ausschlaggebender Bedeutung. Neben führenden Künstlern wie etwa Picasso oder Picabia haben nun auch Dichter – vor allem im Umkreis von Apollinaire – die Antike im Kontext der afrikanischen Kunst neu erlebt. Auch in Golls Paris gibt Europa „dem Neger Zeus die Hand“, und in seinen ma­gischen Gedichten mutet die neu entdeckte griechische Figurenwelt eher afrikanisch schwarz, von der Sonne erotisch ent­ fesselt an, wie etwa in La Fille chaste d’Heraclite.

171 Die einzige diesbezüg­liche Forschung, die mir bekannt wurde, ist die kurze Darstellung von Antje Göhler. Antje Göhler: Antikerezep­tion im literarischen Expressionismus, Diss. Hagen, Berlin 2012, S. 369 ff. 172 Yvan Goll, Die Lyrik, Bd. I, S. 11. 173 Siehe Göhler, ebd., S. 370.

82

83

����������������������������

Abb. 14 

Man Ray: Schwarz und Weiß, 1926. Print von 1993 (© Man Ray Trust, Paris / VG Bild-­Kunst, Bonn 2015)

Mit dieser schwarzen Antike kontrastiert nun die weiße, aber nicht winckel­ mannsche Antike der letzten Etappe seines Schaffens. In seinen poetolo­gischen Schriften zu einem Ma Reismus in der Dichtung 174 formuliert er seine Ansicht, Kunst und Malerei müssten dem absoluten Ding, der Res, entströmen, wenn sie „die Essenz des Lebens“ auszudrücken haben. Die Wurzel, der Urgrund der Dichtung sei die Res, und nicht Realitas.175 Goll führt ein Gespräch ­zwischen Rilke und Caire Goll an, um seinen abweichenden Umgang mit dem Ding zu verdeut­lichen: Während Rilke die Dinge subjektiviere, behaupte der Reist eine entgegensetzte Richtung der poetischen Anschauung, die in der Entpersön­ lichung besteht: „Der Reist sagt: ‚Dringt ein! Integriert euch dem Gegenstand, werdet selbst dieser Gegenstand, bis er euch verschlungen hat!‘“ 174 Zu den mehr als zwölf diesbezüg­lichen Manuskripten siehe: Erhard Scwandt: Das poetische Verfahren in der späten Lyrik Yvan Golls, Diss. Berlin 1968, S. 138 – 153. 175 Yvan Goll: Dichtungen. Lyrik – Prosa – Drama, hrsg. v. Claire Goll, Darmstadt 1960, S. 436.

��������������������

In seinem Gedicht Stunden ist es ein antikes Ding, welches das Ich des Gedichts verschlingt: ein rituelles Gefäß der Totenbestattung, welches für Goll das grie­ chische Lebensgefühl der ungeheuren Kürze, der Nichtigkeit des menschlichen Lebens evoziert: Wasserträgerinnen Hochgeschürzte Töchter Schreiten schwer herab die Totenstraße Auf den Köpfen wiegend Einen Krug voll Zeit Eine Ernte ungepflückter Tropfen Die schon reifen auf dem Weg hinab Wasserfälle Flüsse Tränen Nebel Dampf Immer geheimere Tropfen immer kargere Zeit Schattenträgerinnen Schon vergangen schon verhangen Ewigkeit 176

Die Überschrift heißt „Stunden“, sie bezieht sich anscheinend auf die „Wasser­ trägerinnen“. Sie werden als „Stunden“ angesehen, also sind es die Horen, die in der antiken Mythologie bestimmte Aspekte der Zeit verkörperten. Sie werden mit den Wasserträgerinnen einer Trauerzeremonie gleichgesetzt.177 Die Szene 176 Yvan Goll: Traumkraut. Gedichte aus dem Nachlass, Wiesbaden, 1951. Ich zitiere diese Fas­ sung, da eine textkritische Erfassung der Gedichte d ­ ieses Bandes nicht mehr mög­lich ist. Barbara Glauert-­Hesse hat in ihrer Ausgabe das Schicksal des von Goll selbst sorgfältig verbesserten Typoscripts geschildert: Die in einer hellblauen Mappe zusammengestellten Manuskripte gingen im Briefwechsel mit den Verlagen Arche und Bollinger verloren (Bd. I, S. 354 f.). Glauert-­Hesse griff in ihrer Ausgabe auf eine frühere Vorfassung des Gedichts zurück, die Goll aufgrund einer Radiosendung, in der er das Gedicht las, edierte (Bd. II, S. 317, S. 605). Ihre Bemerkung, dass zu dieser Fassung kein Manuskript vorliege, kann ich jedoch bestreiten, da ich in einer Mappe des Nachlasses die von ihr veröffent­lichte Vor­ fassung von Stunden gefunden habe. Es gibt außerdem weitere Gründe, weshalb ich an der von Claire Goll edierten Fassung festhalte: Sie zeigt eine klare Distanz zur Subjektivität, die in der Vorfassung noch im ele­gischen Klageton zu spüren ist. Siehe: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden, hrsg. v. Barbara Glauert-­Hesse, Berlin 1996. 177 So ist es ein völliges Mißverständnis, von „water-­bearing goddesses“ zu sprechen, wie man es bei Vivien Perkins liest. Vivien Perkins: Yvan Goll. An Iconographical Study of His Poetry, Bonn 1970, S. 147. Schwarzfigurige Loutrophoros. Ende des 6. Jahrhunderts vor u.

84

85

����������������������������

Abb. 15 

Attische rotfigurige Loutrophoros

eines solchen antiken Bestattungsritus konnte der Dichter zum Beispiel aus der griechischen Vasenmalerei kennen. Die antiken Loutrophoren, Wasserkrüge, die man im Ritual der Hochzeit sowie in den Bestattungsriten benutzte, sind manch­ mal auch mit der Darstellung ihrer rituellen Funk­tion bebildert, so etwa auf der schwarzfigurigen Loutrophoros im New Yorker Metropolitan Museum,178 die über der zentralen Szene des Totenwagens oben auf dem Hals des Gefäßes auch die Klagefrauen darstellt, von denen eine die Loutrophoros auf ihrer Schulter trägt. Oder wir können auf die Loutrophoros des Louvre Bezug nehmen, die wegen einiger Züge der ikonographischen Darstellung wahrschein­lich als bild­liche Vor­ lage zu betrachten ist.179 Auf dem Halsbild d ­ ieses Gefäßes ist die g­ leiche Szene

Z. http://www.metmuseum.org/collection/the-­collection-­online/search/252948, Zugriff am 02. 03. 2015, 1 78 Rosmarie Mösch-­Klingele: Die Loutrophoros im Hochzeits- und Begräbnisritual des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen, Bern 2006, Kat. 27.228. 179 Clemens Heselhaus’ Feststellung von „Symbolverschränkung“ (Wassserträgerinnen – Horen) kann man zwar noch konzedieren, obwohl ich nicht mehr von Symbolen reden würde. Er hat aber weder deren Quelle noch ihre Spannungen richtig untersucht. Er spricht

��������������������

86

Abb. 16 

Bodenmosaik mit den Horen aus dem Haus der roten Säulen, Acholla, Tunesien

dargestellt. Die Frauen haben d ­ ieses Mal kurzes Haar, tragen Chiton und Man­ tel – sie sind, mit den Worten des Gedichts, „hochgeschürzt“.180 Das begriff­lich und bild­lich unfassbare Phänomen der Zeit wurde seit Heraklit immer wieder metaphorisch mit dem Wasser verbunden. Das Gedicht schöpft sicher­lich aus dieser Tradi­tion, aber mit einer erschütternden Umwandlung der Metapher. Es setzt die Wasserträgerinnen des Trauerzuges mit den Horen gleich, irreführend von Darstellungen auf „antiken Sarkophagen“. Clemens Heselhaus: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll, Düsseldorf – Basel 1962, S. 422. 80 Mösch-­Klingele, ebd., S. 84. 1

87

����������������������������

die nicht nur das Bild der verrinnenden Stunden assoziieren, sondern auch die antike Vorstellung der Jahreszeiten. So erscheinen sie etwa auf den späthellenisti­ schen Mosaiken mit den Geschenken ihrer Zeit, so der Frühling mit den Blumen, der Sommer mit der Ernte der Ähren und der Herbst mit der Fülle von Früchten. Auch von den „Stunden“ Golls sind die Bilder der Jahreszeiten untrennbar; sie sind durch die Worte „Ernte“, „ungepflückt“, „reifen“ klar hervorgerufen: Eine Ernte ungepflückter Tropfen Die schon reifen auf dem Weg hinab.

Je mehr man wahrnimmt, dass die „Stunden“ ursprüng­lich Bilder einer erfüll­ ten Zeit waren, desto dramatischer ist ihre poetische Umkehr, ihr negativer Abdruck: Die Krüge sind mit „ungepflückten“ Tropfen voll, die „reifen auf dem Weg hinab“; ein paradoxes Intensivieren der Negativität, die sich nicht im Ver­ gehen, im Verrinnen manifestiert, sondern darin, was vergeht, was verrinnt: Die durch das Wasser symbolisierte Zeit, die sich vaporisiert, verdampft. Das Motiv der ungepflückten Zeit ist sicher­lich auch ein Widerhall des alten Carpe-­diem-­ Motivs mit seiner völligen Unmög­lichkeit. Die verlorene, nichtig gewordene Zeit widerspiegelt die Negativität der Sterb­lichkeit, die nichts vollendet. Dieser Tod erfüllt nichts, reift nichts: Es gibt nur noch den „Weg hinab“. Im Gegensatz zur roten und schwarzen Bemalung der antiken Loutropho­ ren benutzt die Poetik Golls keine Farbeffekte. In der Konstruk­tion der eher reliefartigen Szene dominieren die Kontraste z­ wischen Licht und Schatten bzw. Transparenz und Opazität. Goll reiht nur Einzelworte aneinander, die einen Pro­ zess der langsamen Verdunkelung der Zeit und der Existenz veranschau­lichen: Wasserfälle Flüsse Tränen Nebel Dampf

Von den fünf Einzelwörtern gehören vier zur Sphäre der leblosen Natur und figurieren die Bilder des Wassers von ihrer Transparenz zu ihrer Opazität: „Was­ serfälle“, „Flüsse“, „Nebel“, „Dampf“; nur in ihrer Mitte wird spannungsvoll das Wort „Tränen“ gesetzt, der einzige Hinweis auf das Menschliche. Dieses Ver­ fahren, durch welches der Tod quasi physikalisiert wird, kann als grundlegen­ des Prinzip des Gedichts gelten. Licht und Schatten, kristallklare „Tränen“ und weißgrauer „Dampf “ evozieren im Leser die nicht direkt benannten Farben von Schwarz und Weiß.

��������������������

Die Farbe Weiß kommt bei Goll beinahe immer mit einer negativen Konnota­ tion vor: Sie steht immer wieder – wie Winfried Hauck feststellte – mit Schrec­ ken, Entsetzen, Kälte und Tod 181 bzw. überhaupt mit dem Nichts in Verbindung. Oder es ist eben die Zeit in ihrem Vergehen, die sich „weiß“ nennen lässt, wenn sie sich im „metallenen Spiegel“ des Wassers widerspiegelt: Über dir hängt die Zeit die weiße Zeit Und rundet sich und altert in deinem metallenen Spiegel In dem sich Sterne und Mond verschauen Grübelnd um die Gründe und Beschlüsse der Tiefe.182

Diese weiße Farbe der verrinnenden Zeit und des Wassers wird in unserem spä­ ten Gedicht mit der Res aus der Antike assoziiert. Diese weiße Farbe ist jedoch nicht als die des weißen Marmors zu verstehen, von dem noch Rilkes Dingge­ dichte im Sinne einer neuen Kunstreligion schwärmten, sondern als Todesfarbe, als Metapher einer vollkommenen Absenz. In Bezug auf seine unheilbare Krank­ heit, die mit dem Überschuss der weißen Blutkörperchen zu tun hatte, sprach er franzö­sisch von „funérailles blanches“: Oh funérailles blanches Fourmis blanches Orties orphies Orvets et ortolans Remontez le courant de mes artères Globules blancs et blancs soleils Versez mon sang sur l’ossuaire.183

Oben haben wir erwähnt, dass die Klagefrauen als Horen, als Stunden angese­ hen werden, die aber keinesfalls als Chiffre für eine erfüllte, sondern eben für eine nicht mehr füllbare und deshalb pur phy­sische Zeit anzusehen sind.184 Aus 181 Winfried Hauck: Die Bildwelt bei Iwan Goll, Diss. München 1965, S. 214 f. 182 Wasser Zaubergesicht, zitiert nach Goll, Dichtungen, S. 567. 183 Goll, Dichtungen, S. 776. 1 84 Vgl. Hans-­Georg Gadamer, „Über leere und erfüllte Zeit“. In: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Neuere Philosophie II. ­Gestalten Probleme, Tübingen 1999, S. 137 – 153.

88

89

����������������������������

dieser Perspektive könnte man diese mythologisierende Bild­lichkeit eben als Depersonalisierung lesen, die Übersetzung der Wasserträgerinnen in das Bild der verrinnenden, entleerten Zeit. Als letzte Metapher gesellt sich zu dieser Reihe die Transforma­tion der Wasserträgerinnen zu Schattenträgerinnen, die in ihren Krügen den Schatten bringen, den Tod, das Nichts. Ihr Zug wird immer unsicht­ barer, er verschwindet allmäh­lich im Reich der Schatten: mit einem emphatischen Innenreim wird „vergehen“ und „Verschleierung“ aufeinander bezogen: „Schon vergangen schon verhangen“. Der letzte Vers ist ein Einzelwort: „Ewigkeit“. Die Ewigkeit des Todes vereint alle Tropfen der Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vereinigt die vergangene Zeit der Wasserträgerinnen mit der Gegenwart ihres Betrachters. Diese allmäh­liche Auflösung und Verdunkelung des Weiß führt zur unserer Ausgangsfrage zurück: Dürfen wir diese Poetiken der weißen Antike noch „apollinisch“ lesen, dass sie Form und Ra­tionalität ausstrahlten, etwa im Gegensatz zu jener Dionysik, die nach Nietzsche die energetische, vitale, farben­ reiche Präsenz des antiken Lebens in uns selbst kennzeichnete? Oder öffnen die Konzepte des Weiß zugleich eine neue Perspektive für die Verortung miteinander kollidierender Strömungen der Moderne? Goll spätes klas­sisches Meisterwerk, Stunden, kann in d ­ iesem Sinne die mit Kavafis und Valéry begonnene Sequenz an Benn anschließend angemessen vollenden. Die angeführten Gedichte haben gemein, dass ihre Lektüre uns mit manchen Fragen verlässt. Sie hinterfragen, ja destruieren eine naive Anschauung antiker Relikte, die uns Leser und Touristen in Griechenland oder in den Museen der Welt wahrschein­lich charakterisiert, wenn wir an der weißen Farbe des Gesteins nur noch das Verschwinden der einstigen Kolorierung wahrnehmen und dies uns mit gewissem Wohlbehagen erfüllt. Die Gedichte bezeugen aber, dass Dich­ ter und Künstler anders sehen; ihr Blick auf Kunstdinge vermag uns zu verun­ sichern: Ob das, was wir an ihnen sehen, ja zum Beispiel ihr blendendes Weiß, nicht mehr von uns selbst erzählt als von diesen Dingen? Bleibt in ­diesem Weiß überhaupt noch etwas von einer sichtbaren Evidenz? Geht seine Transparenz und seine Leere – die der Projek­tionsfläche einer leeren „Leinwand“ wie im Falle der Akropolis g­lich und die europäische Dichtung eines Valéry oder D’Annunzio prägte – immer mehr in der Opazität seines chthonischen Entzugs auf ?

90

Archäologische Landschaften: Italien versus Hellas

Ich schenke dir die Landschaft, die mir von jeher die liebste war, denn sie steht dir. Sie steht wenigen.185 (Eckart Peterich: Eine Landschaft für dich)

In den vorangehenden Kapiteln wurde gezeigt, wie die antiken Ruinen auch nach dem Verlust ihrer klas­sischen Mustergültigkeit immer noch etwas Beson­ deres für die Moderne blieben. Aus dieser Vergangenheit sind näm­lich nur noch Ruinen, nur Fragmente erhalten geblieben; wir sind auf die Aussagekraft dieser Überreste angewiesen, wenn uns ihre Gegenwärtigkeit ergreift. Die fragmentierten Überreste der Antike werden aber je nach der Art der Landschaft, zu der sie gehören, je nach der besonderer Art der geographischen und gegenwärtigen kulturellen Umgebung anders rezipiert, also je nachdem, ob sie römischer oder hellenischer Herkunft sind, topographisch in Italien, in Griechenland oder sogar in Ionien, also in der heutigen Türkei liegen. Als ein einzigartiges Gefüge von Überresten konnte Rom seine unbestrittene Beliebt­ heit auch noch im 20. Jahrhundert bewahren. Roms Ruinen standen mit ihren immer neu verwendeten, in neue Strukturen eingebauten Ruinen sinnbild­lich für Freuds archäolo­gische Psychoanalyse 186 und vermittelten für manche Dichter das moderne Lebensgefühl der End­lichkeit. „Ich kenne keine Stadt“, schrieb ­Günther Anders über Rom, „die uns die Kontinuität der Sterb­lichkeit so unerbitt­lich und so 185 Eckart Peterich: Gesammelte Gedichte, München 1967, S. 21. 186 Freud hat Rom bekannt­lich siebenmal besucht, und neben Pompeji war es eben diese Stadt, w ­ elche seine archäolo­gische Metaphorik in der Psychoanalyse anregte. Siehe u. a. Reinhard Gassner: Nietzsche und Freud, Berlin 1997, S. 294 ff.; Leonard Barkan: Rom, Geschichte und die Spolien des Geistes. In: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 89 – 102. Über Freud als Archäologe siehe: Richard Armstrong: Urorte und Urszenen. Freud und die Figuren der Archäologie. In: Knut Ebeling/ Stefan Altekamp (Hrsg.): Die Aktualität des Archäolo­gischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/Main 2004, S. 137 – 158. Über Freud als Sammler siehe außerdem den Katalog zur Ausstellung des Rodin-­Museums Paris: Passion at Work, Rodin and Freud as Collectors from 15 October 2008 to 22 February 2009, by Bénédicte Garnier.

91

Archäologische Landschaften

auf Schritt und Tritt einhämmert wie diese Sammlung von Ruinen.“ 187 In Italien verquickt sich das Alte mit dem Neuen, und dies konnte man – Dickens zitie­ rend – für eine „monströse Heirat“ halten,188 zu der Monstrosität einer solchen Symbiose gesellt sich aber immer noch das „Leben“ der „saxa loquuntur“.189 Die italienische Ruinenlandschaft erwies sich – im Gegensatz zur griechischen – als bewohnbar, was sie für die Dichter „zukunftsfreudiger“ machte: „Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen“.190 Oder um ein neueres Gedicht – Hans Carossas Via Appia – anzuführen: „Grauer Wandrer sucht im Grase / Scherbenrest vom Aschenkrug. / Auf der breiten Gräberstraße / Singt und geigt ein Hochzeitszug.“ 191 Da in Rom jedes einzelne Fragment an ver­ gangenes Leben erinnert, so hofft der Besucher mit der Zusammenlesung dieser Fragmente, ein neues Leben zu schaffen. Ich zitiere aus dem XXV. ­Romgedicht (1951) von Marie Luise Kaschnitz: Es reden die Steine von Rom, blühend im Neon­licht, Im Scheine der Jupiterlampen, eisenklirrendes Echo Zu jedem das ­gleiche und immer das alte: Nimm auf dich. Nimm auf dich die schmerz­liche Schönheit und die Last der Vergangenheit.192

Die Steine von Rom „reden“ „blühend“ im Neon­licht der modernen Stadt, wo die Lampen den Namen Jupiters tragen. Diese vom Neuen beleuchtete alte Stadt soll vom lyrischen Ich mit all seiner „schmerz­lichen Schönheit“ und mit all „der Last der Vergangenheit“ aufgenommen werden, da sie das Leben selbst sind. Die auf sich genommene „Last der Vergangenheit“ löst sich in der Schwermut auf, die aus der sogar körper­lich empfundenen Symbiose mit der

187 Günther Anders: Tagebücher und Gedichte. München 1985, S. 260. 188 Barkan, ebd., S. 90. 189 Ebd. 190 Wilhelm Tell, 4. Aufzug, 2. Auftritt, Verse 2425 f. Zitiert nach: Friedrich Schiller: Sämt­ liche Werke. Historisch-­Kritische Ausgabe in 20 Bänden, hrsg. v. Otto Güntter und Georg Wittkowski, Leipzig 1911, Bd. 8, S. 110. 191 Hans Carossa: Via Appia, zitiert nach Reinhold E. ­Grimm (Hrsg.) Italien-­Dichtung Bd. 2. Gedichte von der Klassik bis zur Gegenwart, Stuttgart 1988, S. 280. 192 Marie Luise Kaschnitz: Rom. Ewige Stadt XXV., zitiert nach Marie Luise Kaschnitz: Gesammelte Werke, hrsg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller, Bd. 5: Die Gedichte, Frankfurt/Main 1985, S. 241.

Archäologische Landschaften

Stadt hervorgeht.193 Diese Symbiose ist bei Kaschnitz nicht nur monströs, son­ dern auch befremdend, bei einigen Sta­tionen ihrer Romwanderung – wie etwa im späten Romgedicht vom Jahre 1961 – sogar voll mit Dissonanzen: Die Stadt erscheint in eine drohende Bewegung gesetzt, als ob sie mit ihren erschütterten Monumenten vorübergerissen würde: „übersprungen vom Lichtschein / Fort­ währen Jahrtausende / Erschütterter Steine“ 194. In diese dämonische Dynamik, die mit dem Schlagen des Weltherzens verg­lichen wird, die dann ­später auch Fellinis Rom beherrscht, sind nun die antiken Überreste hinübergerissen, mit ihrer steinernen jahrtausendealten Festigkeit. Dass die Ruinen der römischen Campagna mit ihrer steinernen Präsenz eine gewisse Stabilität, einen sonderbaren Halt, ausstrahlen können, bezeugen die Romgedicht Rose Ausländers, die nach dem schmerz­lichen Verlust ihrer buko­ winischen Heimat als Überlebende des Holocaust in der italienischen Kultur­ landschaft ihre neue Heimat suchte. Im Gedicht Offener Brief an Italien wird diese Suche nach dem Haltbaren mit einer ersehnten haptischen Nähe zum Stein ausgedrückt: In deine Geschichte taste ich mich Von Marmor zu Marmor Aus brüchigen Schichten schäle ich Glanz […] Ich huldige deinen Ruinen in Blau.195

Während in den Italiengedichten Ausländers die quälende Nostalgie nach einem Ort des Friedens, der Ruhe und des warmen Lichtes beinahe k­lischeehaft wirkt, sind ihre Hellasgedichte emo­tional völlig konträr geprägt. Die Gedichte A ­ kropolis und Überreste bringen angesichts der Ruinen die Emo­tionen der Gefährdung, Bedrückung und das Verlorensein zum Ausdruck; Leid und Angst und kontras­ tieren stark mit der dichterischen Wahrnehmung der römischen Ruinenland­ schaft. Arkadien wird „wie ein unzugäng­licher Steinbruch“ ohne „Rückweg“ erlebt, und „im Säulengang des Tempels“ von Bassae sieht der lyrische Sprecher 193 „Mein Leib eine bleierne Kuppel“ – heißt es in einem anderen Gedicht des Romzyklus. Siehe auch: Maria Koger: Die Rom-­Gedichte von Marie Luise Kaschnitz. Ein Thema und seine Varia­tionen, Recherches Germaniques, Bd. 5, 1975, S. 217 – 242. 194 Kaschnitz: Rom 1961. In: Die Gedichte, S. 359. 195 Rose Ausländer: Gesammelte Gedichte. Köln 1977, S. 59.

92

93

Archäologische Landschaften

nur noch ihren eigenen Schatten „kerzengerade“ stehen. Der lyrische Sprecher ist die Über-­Lebende, die selbst nicht anderes als ein Über-­Rest der Geschichte ist, etwas überflüssig, funk­tionslos Übriggebliebenes. Auf der Akropolis wehrt sich das Ich gegen die Aggressivität, die es im weißen „Andrang“ des Heiligtums zu penetrieren droht. Das Ich wehrt den Anblick der verfallenen Tempelruine, die in ihm die Angst, selbst ein Torso zu bleiben, weckt, imperativisch ab: Öffne dich Nicht Ruinen Eine Stadt Will in dir wohnen Aber die Angst Hier zu bleiben Als Torso Und vergangener Glanz.196

Vielleicht knüpft Ausländers Gedicht damit an eine wohlbekannte Vorstellung an, die den Leib oder vielmehr den toten Körper mit der Ruine in Analogie setzt.197 Diese bereits in der Renaissance festgestellte Analogie z­ wischen unserer Natur und der Natur der leblosen Dinge inspiriert ja fortwährend die produktive archäolo­gische Einbildungskraft. Das Einzigartige des Gedichts liegt aber darin, dass sich die empfundene Gefährdung metaphorisch mit den Figuren der Weib­ lichkeit verschränkt: mit der Figur der imaginär wieder beflügelten Nike Apteros in der ersten Strophe, deren Heiligtum am höchsten Punkt der „Stadt/über der Stadt“ steht, und der Jungfrau Athena, vor deren oben stehendem Heiligtum das Ich sich versperren will, zugunsten der lebendigen Stadt unten. Wollten wir ­dieses Motiv aus ihrem tiefenpsycholo­gischen Kontext herausheben,198 würde es 196 Ausländer: Akropolis, ebd., S. 134. 197 Die Ruine als eine Metapher für den toten Körper bzw. für den sezierten Kadaver war ein weit verbreiteter Topos in der Renaissance, den in erster Linie die Stiche der Anatomie­ bücher verbreiteten. Siehe u. a. Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica libri septem (1543) oder Charles Estienne: De dissec­tione partium corporis humani libri tres (1545). 198 Ich weise auf die vor Kurzem veröffent­lichten Aufsätze zu Freuds Antike hin, die u. a. die Rolle der Athena und Nike in der Analyse der amerikanischen Dichterin H. ­D. erörtern. Antike Kopien der Nike Apteros und der Athena Parthenos standen in Freuds Sammmlung zur Verfügung.

Archäologische Landschaften

ein ungewöhn­licher dichterischer Gestus, weil die Dichter ihrer Epoche auf die moderne Stadt zumeist nur noch negativ reflektierten. Die thematisierte markante Differenz in der ästhetischen Wirkung von römi­ schen und griechischen Ruinen wurde häufig mit ihrer unterschied­lichen Struktur erklärt. Sebastian Heckscher hat beobachtet, dass bei römischen Ruinen „Teile des Bauwerks, vor allem Wände, so einstürzen, dass der Blick in das Innere drin­ gen kann“ 199: So lassen sich Innenraum und Außenraum mit einem Blick erfassen. Aus einer solchen Überblicksperspektive schaut zum Beispiel Jacob Burckhardt vom „Coelius“ in das „weltgeschicht­lich Heiligtum“: Und wie von hoher Veste Warten Schaust du hinab und schaust ringsum Nur Trümmer aus Weltherrschaftstagen, Ein weltgeschicht­lich Heiligtum

und dann weiter mit einem beinahe voyeuristischen Blick in das Innere des Colosseums: „Und in des Colosseums Schlund / Siehst du hinein[…].“ 200 Die Beobachtung, die Erfassung und Erzählung der griechischen Ruinen führt hingegen zu völlig anderen Resümees: Die intensive Beobachtung des Parthenon endete immer wieder in der resignierten Erkenntnis, er verwehre den klaren An- und Durchblick: Man finde keinen Standpunkt, schrieb Heidegger in seinem Reisetagebuch – von dem man den Tempel mit einem Blick erfassen könne.201 Und diese mangelnde Transparenz trägt dazu bei, dass der Betrachter die Ruine als unheim­lich und bedrückend empfindet. Ich weise nun in ­diesem Kontext auf die Reisenotizen des franzö­sischen Architekten Le Corbusier hin, der die Akropolis wie ein „unerbitt­liches Orakel“ empfindet: Die von einer grausamen Starrheit gekennzeichnete Gesteinsvorlagerung erdrückt und erfüllt einen mit Schrecken. Das Gefühl einer jenseits von allem Menschlichen

Inge Stephan: Nachstellungen. Die Antike im psychoanalytischen Alltag, in: Claudia Benthien/ Hartmut Böhme/Ingo Stephan (Hrsg.): Freud und die Antike, Göttingen 2011, S. 33 – 50. 199 Wilhelm Sebastian Heckscher: Die Romruinen. Die geistigen Voraussetzungen ihrer Wertung im Mittelalter und in der Renaissance, Würzburg 1936, S. 36. 200 Jacob Burckhardt: Aus Venedig. In: Grimm: Italien-­Dichtung, S. 179 f. 201 So etwa Martin Heidegger. In: ders.: Aufenthalte, Frankfurt/Main 1989, S. 24.

94

95

Archäologische Landschaften

Abb. 17 

Giovanni Battista Piranesi: Colosseum (1757)

liegenden Fatalität überfällt dich. Der Parthenon, eine schreck­liche Maschine, zermalmt

und beherrscht alles. […] plötz­lich sind zweitausend Jahre weggewischt und eine bit­

tere Poesie ergreift dich; den Kopf in den gekreuzten Armen vergraben, niedergesun­ ken auf eine der Stufen aus dieser Zeit, erfährst du die furchtbare Erschütterung und bleibst zitternd davon zurück.202

Dieser gravierende Unterschied in der Wahrnehmung ist auch durch archäolo­ gische Studien bestätigt. Außer der angeführten These von Heckscher kön­ nen wir hier noch auf die damaligen strukturanalytischen Untersuchungen hinweisen, ­welche uns von der unterschied­lichen Bauart und Raumgestaltung der typisch römischen und griechischen Denkmäler überzeugen wollen. So hat zum Beispiel Guido von Kaschnitz-­Weinberg auf die unterschied­liche Genese griechischer und römischer Architektur hingewiesen, woraus resultiere, 202 Giuliano Gresleri: Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffent­lichte Briefe und zum Teil noch nicht publizierte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret, Zürich 1984, S. 323, 327.

Archäologische Landschaften

dass die Griechen ihre mit Säulen umhüllten Bauten aus der Vorstellung des Zwischenraums entwickelt hätten, „aus einer Vorstellung, die das Räum­liche als etwas Sekundäres im Auge hat, als etwas, das z­ wischen zwei körper­lichen Dingen ist“ 203, während die Römer dagegen der Idee eines rundförmigen, uns umgebenden Raumes gefolgt wären. Eine s­ olche Polarisierung der ästhetischen Wirkung italienischer und griechi­ scher Ruinen ist sicher­lich ein Konstrukt der Zwischenkriegszeit. Sie reicht in die Klassikdiskussion der 20er-­Jahre zurück und prägt diese mit einer Normativität, ­welche die Jahrhundertwende einmal schon hinter sich wusste.204 Vorher, von Du Bellay bis Wilhelm von Humboldt, konnten die römischen Ruinen noch als eine Synthese des Hellenischen und des Römischen, ja sogar der ganzen Antike gelten.205 Rom als caput mundi und seine alles in sich vereinigende Ruinenland­ schaft, in der sich das Griechische, das Etruskische und das Römische gegenseitig ergänzen, war zu einem kulturellen und auch dichterischen Topos geworden, der bis zu Rilke fortlebte. In die römische Synthese konnte sich das Griechische als Ideal noch einigermaßen einfügen: In der dichterischen Erfahrung einer urtüm­ lichen Landschaft vereinigen Rilkes Capri-­Gedichte Italien und Hellas ikonisch in einem schöpferisch-­imaginären Raum. So etwa im Ausblick von Capri: Siehst du wie das Vorgebirge dort Sich entfaltet: Seine Hänge geben

2 03 Guido von Kaschnitz-­Weinberg: Die mittelmeerischen Grundlagen der antiken Kunst, Frankfurt/Main 1944, S. 26. 204 Ich führe als Beispiel den Gedankengang von Hans Rose an, eines Schülers von Wölfflin, der sich an den NS-Lehrerbund anschloss. Er versuchte in seinem Buch Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes eine neue Klassik als wünschenswerte Stilrichtung zu konstruieren, die sich als Antwort auf die Formauflösung der Avantgarde verstehen ließe. Eine ­solche Klassik sollte in der Rezep­tion der griechischen Ruinenlandschaft wurzeln, die ihm als „klas­sische Landschaft“ schlechthin galt: „Die griechische Landesnatur ist also Voraussetzung für das Entstehen der Klassik, sogar in einem ausschließ­lichen Sinn, daß jede auf ein anderes Land verpflanzte Klassik als abgeleitet bezeichnet werden muß. Am ehsten mag noch die Landschaft Siziliens mit der griechischen zu vergleichen sein. Die Lage und Form der römischen Campagna ist völlig unklas­sisch […]. Es fehlt das Gleich­ gewicht z­ wischen Fels und Meer, das Sinnbild für die Versöhnung der Elemente.“ Hans Rose: Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes, München 1937, S. 113. 205 Siehe etwa das 29. Sonett über die Ruinen von Rom. Du Bellay sieht in ­diesem Gedicht Afrika, Asien und Athen in Rom, in ­diesem „Juwel der Welt“ vereinigt. Zu Humboldt siehe Walter Rehm: Europäische Romdichtung, München 1960, S. 204.

96

97

Archäologische Landschaften

Glanz von sich, als führen sie noch fort, den Athena-­Tempel hinzuheben In den Götterhimmel Griechenlands.206

Das Griechische mit seinem ikonischen Bild des Parthenons fügt sich frei­lich nur als das Unsichtbare, als das Ideale, in die erblickte ruhige, glänzende südita­ lienische Landschaft. Dass Italien mit der Renaissance und mit dem Erbe des antiken Roms als das Herz des Abendlandes anzusehen ist, wurde nie infrage gestellt, dagegen hat bereits Hölderlin das antike Griechenland vom Abendland getrennt, es ihm als Fremdes entgegengesetzt. Und diese Trennung gewinnt in der nicht humanistischen Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts immer wieder neue Konturen, etwa bei Oswald Spengler, der sich keine divergierenden Welten vor­ stellen konnte als eben klas­sische Antike und Abendland. Das Anstößige, das Monströse, das Orienta­lische, das Befremdende sind die am häufigsten verwendeten Bezeichnungen der Reisenden, wenn sie mit einem Wort ihre Begegnung mit dem antiken Hellas schildern. Außerdem lag das antike Griechenland – im Gegensatz zu den als bewohnbar und zukunftsfreu­ dig erscheinenden römischen Ruinen – trostlos in Trümmern. Über den Schock der ersten Begegnung mit der damals nur noch als Trümmerhaufen anmuten­ den Akropolis lesen wir bereits in den Gedichten des Königs Ludwig I. von Bayern, der wahrschein­lich die erste deutschsprachige Elegie auf der Basis einer ­Autopsie verfasste: Dem Anschaun nicht, nur durch die Einbildungskraft Sieht der Wandrer Athen.207

Das heißt: Angesichts der Ruinen des antiken Hellas vermag die Einbildungs­ kraft keinen Anhaltspunkt in der Anschauung zu finden, sie ist auf sich selbst angewiesen: „Nur durch die Einbildungskraft sieht der Wandrer Athen“. Durch den Mangel an historischer Kontinuität erblickte man die hellenischen Ruinen von einer sonderbaren Leere umgeben; sie konnten, wenn sie ohne Anlehnung 206 Rainer Maria Rilke: Sämt­liche Werke. Bd. II, Gedichte Zweiter Teil, Frankfurt/Main 1987, S.  208 f. 207 Ludwig I.: Attische Elegien Nr. 5. In: Gedichte König Ludwigs I. von Bayern, Leipzig 1899, S. 169.

Archäologische Landschaften

Abb. 18 

Die Akropolis zu Athen (1832)

an ein historisches, archäolo­gisches Wissen rezipiert wurden, leicht bloß ästhe­ tisch von ihrem Kontext isoliert betrachtet werden. Sie wirken dann als mächtige Symbole bedrohter menschlicher Existenz mehr im emotiven und anthropolo­ gischen Bereich, sie weisen als s­ olche auf unsere eigene Fragilität hin. Damit aber die Ruinen in der Dichtung nicht als bloße Signaturen der End­lichkeit angesehen werden, sondern in ihrer individuellen Einzigartigkeit den Betrachter ansprechen, müssen sie mit geschultem Auge genau betrachtet werden. Wer zu dieser intellektuellen Arbeit nicht geboren ist oder wem es einfach nicht passt, wird in Griechenland nichts sehen. Zu solchen Reisenden gehörte der Religi­ onswissenschaftler Rudolf Otto, der 1891 Griechenland besuchte. Aus seinen handschrift­lich überlieferten Reisenotizen 208 geht hervor, dass ihm die Reise wenig intellektuellen Genuss bot. Er war zwar von der Landschaft von Olympia oder Arkadien fasziniert, über den Trümmern dieser Orte wurde ihm allerdings „fast langweilig“. Und in Athen, bekannte er, überhaupt wenig erlebt zu haben, mit der Ausnahme eines „schönen Blicks“ von der Akropolis. Was manche Wissenschaftler – wie u. a. Rudolf Otto – nicht anspricht, näm­ lich die Authentizität der griechischen archäolo­gischen Relikte, regt hingegen 2 08 Die Handschrift wurde maschinenschrift­lich übertragen und ist nur in dieser Form im Archiv der Universität Marburg zugäng­lich. Hs. 1566.

98

99

Archäologische Landschaften

gerade die Dichter an, nach Griechenland zu reisen.209 In den ersten Jahrzehn­ ten des 20. Jahrhunderts pilgerten zahlreiche Dichter nach Griechenland, wie zum Beispiel Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel, Rudolf Pannwitz, Theodor Däubler. Sie reisten über Norditalien – zumeist über Triest oder über Venedig – zu Schiff nach Griechenland, stiegen zuerst in Korfu aus, um dann ans Festland zu fahren, und nahmen wiederum den Weg auf ihrer Rückreise über Italien nach Deutschland oder Österreich. Die Sta­tionen der mediterranen Reise vermochten in ihnen noch die Erwartung zu stärken, dass sie etwas Ähn­liches in Griechenland erfahren würden wie in Italien: einen kul­ turellen Raum für ihre Selbstfindung, einen Ort für dichterische Erneuerung.210 Diese Reise wurde aber für manche Dichter und Intellektuelle eine Enttäuschung, ein Kulturschock oder zumindest etwas Unbefriedigendes. Manche waren vom italienischen Muster der Kontinuität der Antike bis in die Gegenwart so sehr geprägt, dass sie auf eine historisch leicht funk­tionierende Verbindung ­zwischen Antike und Gegenwart vorbereitet waren: Richard Dehmel hat etwa seine Griechenlandreise mangels einer solchen zeit­lichen und räum­ lichen Vermittlung abrupt beendet, wie auch einige Jahre ­später Hofmannst­ hal. Dehmel schrieb auf dem Rückweg aus Sirmione am Gardasee mit gewisser Selbstironie: „Der schönste dorische Tempel“ sei ihm „San Vitale in Ravenna“.211 Von Italien her gesehen muteten die Überreste von Hellas noch unheim­licher und gespenstischer an. Im Rückblick aus Italien erwiesen sich das quälende Erleben des Nichts und die Leere der Transzendenz noch unerträg­licher und haben die Unnahbarkeit Griechenlands bewiesen. So erschienen die besichtigten Ruinen als Zeugen einer gespenstisch gewordenen Vergangenheit, wie sie bereits auf den 209 Dorothea Ipsen denkt in erster Linie an durchschnitt­liche Lehrer und Professoren mit humanistischer Bildung, wenn sie bemerkt, dass die deutschen Reisenden mit Winckel­ manns Augen gesehen hätten. Trotz des Einflusses Winckelmanns auf die populäre Rei­ sekultur, die man um 1900 nachweisen kann, ist die Behauptung der Autorin, dass „bei fast allen Reisebuchautoren“ die Interpreta­tion der Antike durch Schiller und Goethe bestimmt wäre, wissenschaft­lich unbelegbar, wie auch ihr Beweismaterial mangelhaft ist. Dorothea Ipsen: Der verstellte Blick: Man sieht nur, was man weiß. Antikewahrnehmung in Reiseberichten über Griechenland um 1900. In: Manuel Baumbach: Tradita et Inventa. Bei­ träge zur Rezep­tion der Antike, Heidelberg 2000, S. 459 – 471. 210 Siehe dazu auch Hans Jürgen Heise: Natur als Erlebnisraum der Dichtung. Essays, Düs­ seldorf 1981, S. 118. 211 Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 – 1902, Berlin 1922, S. 115 f. Zu die­ ser Passage siehe noch den Epilog.

Archäologische Landschaften

Abb. 19 

Peter Hommel: Taormina (1926)

Gemälden Carl Rottmanns zu sehen sind, w ­ elche die spätere moderne Wahr­ nehmung dieser Ruinen in mehrerer Hinsicht vorwegnehmen, wenn auch noch die romantischen melancho­lischen Töne vorherrschen. Die in Griechenland 1834/35 angefertigte Bildfolge wurde von Franz Zelger wie folgt charakterisiert: „Eine melancho­lische Grundstimmung durchzieht diese Bilderfolge. Rottmann zeigt im gesamten Zyklus, wie die elementaren Kräfte der Natur die Zeugnisse vergangener Kultur in ihren ursprüng­lichen Zustand zurückführen, aber nicht mehr – wie in Taormina-­Theater – zu neuem Leben erwecken. Vor der Macht der Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde gibt es kein Entrinnen.“ 212 Und das Gemälde Marathon (1848/50) sei „eine Vision von Erde und Kos­ mos, im Urzustand, ohne Kreatur, ohne historische Projek­tion. Über unfrucht­ barem Boden, der ins Meer übergeht, wölbt sich ein stürmischer Himmel mit aufgerissenen Wolken und Lichtbahnen, wie ihn Turner hätte malen können. Eine Versöhnung ­zwischen Vergangenheit und Gegenwart lässt sich nicht mehr

212 Franz Zelger: Das Bild der Antike um 1800. Von Goethe in der Campagna zu Ludwigs I. ­Traum von Griechenland. In: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 141 – 160, angeführt S. 150.

100

101

Archäologische Landschaften

herstellen.“ 213 In Anschluss an die oben angeführten Beobachtungen Heckschers müssen wir noch auf die neuere Studie von Giuseppe Morganti hinweisen, der darlegte, wie sich die geographischen, kulturellen und klimatischen Unterschiede ­zwischen Italien und Griechenland in den Konven­tionen ihrer künstlerischen Darstellung niederschlugen: Die italienischen Ruinen wurden in der Regel pitto­ resk, mit üppiger Natur umgeben dargestellt, die griechische Ruinenlandschaft wurde dagegen „kristallinisch“ isoliert, heroisch und zugleich plastisch gestaltet.214 Die griechische Kulturlandschaft, die auf den Aquarellen so herr­lich erhaben erscheint, widersprach allem Anspruch auf Transparenz und Ra­tionalität, sobald man sie an Ort und Stelle betrachtete. Es genügt, auf die verzweifelten Sätze Hugo von Hofmannsthals hinzuweisen, die er kurz nach dem unerwarteten Abbruch seiner Griechenlandreise an die Fürstin Maria Thurn und Taxis schrieb: Das Land, mit allen seinen sublimen, zerbrochenen Steinen und den Mythen und

Legenden, die an jedem Baum und jeder Höhle hängen […] ­dieses Land ist zu alledem kein Land der Vergangenheit wie Italien, denn es ist zu geheimnisvoll gegenwärtig, zu leer […] zu vierge – man ist wie außerhalb der Zeit.215

Und in einem Brief an Erhart Kästner, der in seinem Buch Ölberge, Weinberge die griechische Schönheit befremdend, ärger­lich und wild nannte,216 formulierte Martin Heidegger seine Grunderfahrung mit dem Land wie folgt: „Oft ist mir, als sei ­dieses ganze Griechenland wie eine einzige seiner Inseln – es gibt keine Brücke dahin.“ 217 Nicht nur für die deutschen Reisenden wurde Hellas zu einem Geschichtsraum, wo man mit den Bruchstellen, mit den Narben und Wunden der Geschichte konfrontiert war. Beinahe Hölderlins berühmte Verse aus Brod und Wein 213 Zelger, ebd. 214 Guiseppe Morganti: „Sta Natura ognor verde“: sulla relazione tra rovine e vegetazione. In: Marcello Barbanera (a cura di): Relitti Riletti. Metamorfosi delle rovine e identità culturale, Torino 2009, S. 112 – 127, zitiert S. 119. 215 Hugo von Hofmannstahl: Brief an Fürstin Marie Thurn und Taxis vom 11. Mai 1908, zitiert nach Hugo von Hofmannsthal: Briefe 1900 – 1909, Wien 1937, S. 321. 216 Reinhard Zimmermann: Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Zu Erhart Kästners ‚Ölberge, Weinberge‘. In: Günter Figal (Hrsg.): Erhart Kästner zum 100. Geburtstag. Die Wahrheit von Orten und Dingen, Freiburg i. Br. 2004, S. 7 – 25. 217 Martin Heidegger, Erhard Kästner: Briefwechsel 1953 – 1974. hrsg. v. Heinrich W.  ­Petzet, Frankfurt/Main 1986, S. 51.

Archäologische Landschaften

paraphrasierend, schrieb Virginia Woolf 1906 in Eleusis: „Wir waren arg verspätete Wanderer: Die heiligen Stätten sind eingestürzt, & die Orakel sind stumm. Das Gefühl hat man sehr häufig in Griechenland – daß der Festzug längst vorbeige­ zogen ist & und man zu spät kommt & es sehr wenig bedeutet, was man denkt oder fühlt.“ 218 Und ein halbes Jahrzehnt s­ päter schreibt Lawrence Durrell von einer ähn­lichen Verwirrung angesichts der historisch nicht zu ordnenden, schat­ tenhaften Präsenz antiker Vergangenheit Griechenlands, wie einst Hofmannsthal: Everything has a history, can be traced, decoded, understood. But Greece […] everything is confused, piled on top itself, contorted, burnt dry, exploded; and the tentativeness

of the scholar’s ascrip­tion is a heartbreak. It is as if nothing were provable any more, everything has become shadowy, provisional.219

Griechenland blieb für Dichter und Künstler ein Land voller Rätsel, eine gespens­ tische Landschaft mit den Schatten des Vergangenen, entleert von der einstigen gött­lichen Parusie. Unter den Künstlern der Moderne wurde kaum jemand durch das Enigmatische dieser paradoxen Präsenz der Absenz so tief beeindruckt wie der thessa­lische Maler de Chirico, der das Schweigen dieser einsamen Land­ schaft in seine Gemälde zu übertragen versuchte. Man braucht jedoch das Auge eines modernen „Mystikers“, quasi einen avantgardistischen Zugang, um aus der Hand­lichkeit eines griechischen Tempels, der sich ansonsten mit einem Spiel­ zeug vergleichen lässt, jenes Geheimnisvolle wahrnehmen zu können, zu dem uns Intellektuellen nach Nietzsche das Griechische geworden ist.220 Seine Zeichnung Rätsel des Orakels (1909) übernimmt die Odysseusfigur von Arnold Böcklin, aber in eine fragmentarische Statue verwandelt. Die in sich versunkene einsame Figur des Gemäldes, die wie eine griechische Statue zeitlos aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinübergekommen ist, wird in eine imaginäre Ruine, vielleicht in ein Apollonheiligtum, versetzt, in dem sie in die Ferne schauend eines Ora­ kelspruchs zu harren scheint.221

218 Woolf, Am Mittelmeer, S. 77 f. 219 Lawrence Durrell: Spirit of Place. Letters and Essays on Travel, London 1969, S. 273. 220 De Chirico, Wir Metaphysiker, S. 63. 221 Wieland Schmied weist darauf hin, dass de Chirico seine drei Bilder, die er mit dem Titel „Enigma“ versah, in einer intensiven Auseinandersetzung mit Böcklins und Nietzsches Werk schuf. Wieland Schmied: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche und die Bildende

102

103

Archäologische Landschaften

Das Rätselhafte, das die entfremdeten metaphy­sischen Ruinenlandschaften eines de Chirico ausstrahlen, hat auch einige Künstler aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch inspiriert: Von den Dichtern der Gegenwart, für die Hellas das Objekt einer nicht erfüllbaren Sehnsucht blieb, führe ich nur Elisa­ beth Borchers Verse an. Das verknappte Gedicht WAR IN GRIECHENLAND bezeugt von einer unstillbaren, unerklär­lichen Sehnsucht nach dem antiken Land, ­welche die Kluft ­zwischen dem dichterischen, dem imaginären und dem sinn­ lich Erfahrbaren reflektiert: WAR IN GRIECHENLAND […] Bin heimgekehrt nicht leichter geworden immer noch mit derselben Sehnsucht im Kopf sie möge nicht enden.222

Kunst. In: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie als Kunst. Veranstaltungsreihe zum 150. Geburtstag des Philosophen München 1994, S. 141 – 216. 2 22 Elisabeth Borchers: Eine Geschichte auf Erden. Gedichte, Frankfurt/Main 2002, S. 43.

104

Der griechische Tempel: Kaschnitz, Winkler, Mitterer und Bachmann Im Folgenden werde ich auf vier berühmte antike Ruinen Bezug nehmen, von denen sich jeweils zwei in Italien und zwei in Griechenland befinden. Mit die­ sen Beispielanalysen werden die oben dargelegten allgemeineren Ausführungen vertieft und individuell – je nach Ort und Dichter – ausdifferenziert, da nicht nur die einzelnen Monumente ihre Einzigartigkeit auch literarisch bezeugen, sondern sich ebenso ihre dichterische Wahrnehmung je nach Zeit und dichterischer Poetik verändert. Zu den meistgeschätzten griechischen Monumenten Italiens gehört der Tempel von Segesta; ihm kann man wohl die Tempelruine von Sunion als eines der populärsten Einzelmonumente Griechenlands entgegensetzen. Diese Wahl ist auch deshalb vorteilhaft, weil es eine archäolo­gisch geschulte Dichterin gibt, Marie Luise von Kaschnitz, die über beide Orte ein Gedicht geschrieben hat. Als drittes Monument wählen wir das Erechtheion auf der Akropolis von Athen, das motivisch in der deutschsprachigen Dichtung eine besondere Rolle spielt und durch das Exilgedicht von Erika Mitterer mit Winklers Segestaerlebnis in Dialog steht. Die vierte archäolo­gische Stätte wird Akragas sein, die in Bachmanns Gedicht Am Akragas zu einer Sprachlandschaft wird, die trotz ihrer griechisch-­philosophischen Fundierung in der Tradi­tion der Italiendichtung verbleibt.

Segesta Am Tempel von Segesta begannen die Elymer um 417/16 vor Christi Geburt zu bauen, seine Fertigstellung wurde aber durch die Einnahme der Stadt von den Karthagem 409 vor Christus unterbrochen.223 Wegen fehlender Reste der Cella hat man ver­ mutet, dass der Bau ungeweiht geblieben sei, dass er nicht mehr vollendet wurde, als die Stadt im 4. Jahrhundert durch die Syrakuser zerstört wurde.224 Andere Archäo­ logen, wie zum Beispiel Dieter Mertens, betonen dagegen, der Bau sei nicht durch 223 Gottfried Gruben: Die Tempel der Griechen, München 1966, 306 f. 224 Gruben weist darauf hin, dass Reste der Cella nicht aufgefunden werden konnten und die Einarbeitungen für Dach und Deckengebälk ebenfalls fehlen. Gruben, ebd., S. 307.

105

Der griechische Tempel

Abb. 20 

Der Tempel von Segesta

Griechen errichtet worden und dessen Zweck sei nicht bekannt; so lässt sich seine ursprüng­liche Bestimmung, ja sogar seine intendierte Struktur, nicht aufhellen.225 Der Anblick des als Fragment betrachteten Tempels und der spär­lichen Über­ reste der Stadt haben die I. ­Sizi­lische Elegie von Ludwig I. angeregt, es ist das erste deutschsprachige Gedicht, das d ­ iesem Ort gewidmet ist. Der bayerische König und der deutsche Historiker Ferdinand Gregorovius haben den Ort jedoch wegen seiner romantischen Stimmung und des schönen Panoramas gewürdigt, die archäolo­gischen Überreste bildeten für sie nicht mehr als eine Spur der Ver­ gangenheit.226 Erst am Anfang des 20. Jahrhunderts wird die eigentüm­liche Schönheit dieser einsamen Ruine entdeckt: Dichter und Schriftsteller wie Rudolf Bach, Edith Landmann oder Eugen Gottlob Winkler hielten ihn im Vergleich zu Paestum für überlegen; Hugo von Hofmannsthal nannte keinen anderen Tempel – nur diesen einen – in seinem Essay Sizilien und wir.227

225 Dieter Mertens: Der Tempel von Segesta und die dorische Tempelbaukunst des griechischen Westens in klas­sischer Zeit, Mainz 1984, S. 207. 226 Ferdinand Gregorovius: Wanderjahre in Italien (1856), zitiert nach: Sizilien. Reisebilder aus drei Jahrhunderten, hrsg. Ernst Osterkamp, München 1986, S. 164 f. 227 Paul Hommel: Sizilien. Landschaft und Kunstdenkmäler. Mit einem Geleitwort von H. v. Hofmannsthal. München 1926.

Segesta

Diese Begeisterung ist aus archäolo­gischer und ästhetischer Perspektive wohl verständ­lich, da die Tempel von Paestum seit der Goethezeit einen bedrückenden Charakter bewahrten, was aus ihren Propor­tionen resultiert. Hermann Lingg fühlt beinahe Ekel vor „Paestums öder Fiebergegend“, wo „Nur ein gelber Tempelriese / Trägt noch seine Quaderbalken“ 228; und die damals archäolo­gisch noch nicht geordneten Ruinen des antiken Selinunt muteten im Vergleich zu Segesta eher chaotisch, nur noch als „Riesentrüm­ mer“, – wie Reinhold Schneiders Gedicht schildert – „das letzte Sinnbild gött­licher Gewalt“ an.229 Aus den Gedichten, die auf Segesta Bezug nehmen, wählen wir als Erstes das gleichnamige Gedicht von Marie Luise Kaschnitz: Segesta In der Hand das Gefühl von winzigen Schneckenhäusern Zwergpalmenschäften und Dornen der Aloe. Unterm Fuße Geröll und uralten Pflasterstein. Im Ohr das Angstgeschrei der kleinen Vögel Der Bewohner der Schlucht, der aufgescheuchten Vom Flügelschlag des Räubers. Regen, Regen Auf dem Dach der hilflosen Hütte. Gespräch der Eingeschlossenen von alter Sorge Uralter Krankheit Armut. Am Nachmittag der helle Streifen Blau Im Westen. Fortgeschoben Zoll Um Zoll die schwere Decke. Irisfeuer In jedem Tropfen. Macchiagesumm.

228 Grimm: Italien-­Dichtung, S. 185. 229 Reinhold Schneider: Küstenstadt Selinunt. In: Grimm: Italien-­Dichtung, S. 331. Außer Schneider hat meines Wissens nur noch Kaschnitz ein Gedicht über Selinunt verfasst.

106

107

Der griechische Tempel

Maultiergespanne wachsen aus dem Acker Pflüge der Vorzeit. Einsame Eselreiter Schwarze, erscheinen wieder am Saume des Himmels. Die Abendsonne saugt ertrunkene Gehöfte aus dem Schlamm und Fensterscheiben Mit kleinem rotem Licht darin zu glühen. Vögel reißen empor die verkrusteten Wälder. Schmetterlinge rasten auf Kohlgerippen Auf den eisernen Sternen der Artischocke. Tief in die Nacht, die andre Verlassenheit Leuchtet der namenlose Unvergäng­liche Tempel. Säule und Schwelle Und die erhabene Stirn.

In der Dichtung von Kaschnitz spielt die Standortbestimmung des lyrischen Sprechers bzw. seine Suche nach einem eigenen Ort eine zentrale Rolle, der Ort erweist sich jedoch zumeist bei ihr als verloren gegangen oder unbestimm­ bar. Segesta entstand wahrschein­lich nach einem Aufenthalt von Kaschnitz mit ihrem Mann, dem klas­sischen Archäologen Guido von Kaschnitz-­Weinberg, auf Sizilien und erschien 1957 im Band Neue Gedichte mit anderen sizilia­ nischen Landschaftsschilderungen, aus denen es sowohl hinsicht­lich seiner Qualität als auch seiner nichtmythischen, sondern archäolo­gischen Einbil­ dungskraft herausragt. Das in sieben unregelmäßige Strophen gegliederte Gedicht beschreibt in den ersten sechs Abschnitten den einsamen, abgelegenen Ort. Die Stätte wird in ihrer geographischen, klimatischen und soziolo­gischen Eigenart erfasst: Dem wohlbekannten K­lischee der üppig-­wilden, fruchtbar-­schönen italienischen Landschaft sich widersetzend, erfasst der lyrische Sprecher die Landschaft in einer Montage aus Bildern der Öde, des Verschwindens und der leblosen Erstarrung: „Dornen der Aloe“, „Vögel reißen empor die verkrusteten Wäl­ der“, Schmetterlinge rasten auf Kohlgerippen“, „auf den eisernen Sternen der

Segesta

Artischoke“ 230 – eine Landschaft, die man mit dem Schlüsselwort charakteri­ sieren könnte: „uralt“. Uralt ist der „Pflasterstein“, uralt sind „Krankheit“ und „Armut“. Die „Pflüge der Vorzeit“ „wachsen“ aus dem Acker. Eine uralte, in der Zeit zurückgebliebene, archaisch-­primitive Schicht der sizilianischen Landschaft wird dichterisch freigelegt, eine stumme, befremdende Welt aus der Vorzeit, eine statische Welt, deren graue Monotonie und Geschlos­ senheit durch die aneinandergereihten schweren Nomina zum Ausdruck kommt: Regen, Regen Auf dem Dach der hilflosen Hütte. Gespräch der Eingeschlossenen von alter Sorge Uralter Krankheit und Armut.

Eine zeitlose Statik herrscht hier, nur die Natur erhält durch die Farben der auf einen Sturm folgenden Abendsonne einigermaßen Leben und Dynamik. Kaschnitz bedient sich hier zuerst einer sonderbaren archäolo­gischen Metapho­ rik, indem das Licht der Abendsonne quasi archäolo­gisch diese Landschaft aus dem Schlamm aufgehen lässt: Die Abendsonne saugt ertrunkene Gehöfte aus dem Schlamm und Fensterscheiben

Wenn man an einige Prosatexte der Dichterin denkt, die in der gleichen Periode entstanden sind, mutet die Schilderung des Ortes als eine uns entfremdete, natür­ liche Schicht des Mediterrraneum, als eine kaum lesbare Urschrift, die eine Welt in letzter Agonie bezeugt, an.231 Zu den Todesbildern, wie „ertrunkene Gehöfte“, schließt sich symbolträchtig, visionär die Silhouette schwarzer Eselreiter, vom letzten Licht beleuchtet:

230 Kaschnitz, Die Gedichte, S. 263. 231 Das Archäolo­gische im Werk von Marie Luise Kaschnitz wurde bisher kaum untersucht. Eine Ausnahme bildet die Studie Sabina Kienlechners, sie deutet aber die Rolle der Archäologie bei Kaschnitz ledig­lich als kolonialistischen Gestus. Sabina Kienlechner: Über Archäologie und Grundbesitz. Beobachtungen zum topographischen Schreiben bei Marie Luise von Kaschnitz. In: Uwe Schweikert (Hrsg.): Marie Luise von Kaschnitz, Frankfurt/ Main 1984, S. 43 – 57.

108

109

Der griechische Tempel

Einsame Eselreiter Schwarze, erscheinen wieder am Saume des Himmels.

Der Verlassenheit des noch lebendigen Ortes wird in der siebten Strophe eine „andre Verlassenheit“, näm­lich die des Tempels, entgegengesetzt. Diese zwei Welten gehören als zwei „Verlassenheit“en, als Tag und Nacht zueinander, wobei der Tag die Zeit­lichkeit des beschriebenen Alltags repräsentiert, die Nacht des Tempels dagegen als eine zeitlose Sphäre erscheint: Tief in die Nacht, die andre Verlassenheit Leuchtet der namenlose Unvergäng­liche Tempel. Säule und Schwelle Und die erhabene Stirn.

Der Tempel gehört nicht zur Vergangenheit, nicht zur „uralten“, einfachen, pri­ mitiven Vorzeit, wie man seit der Goethezeit noch lange die Anfänge der dori­ schen griechischen Kultur Siziliens auffasste. Der Tempel ist „unvergäng­lich“ gegenwärtig, in seiner nächt­lichen Präsenz ist er von seiner Umgebung durch die Finsternis isoliert. „Der namenlose / Unvergäng­liche Tempel“ beleuchtet diese Nacht – wie bei Mörike und Rilke das schöne Kunstwerk es tut. Kaschnitz gibt dem Adjektiv „namenlos“ durch das Enjambement einen besonderen Akzent, was uns wiederum an Rilke erinnert. Rilke hat näm­lich das Programm der objekti­ ven Dichtung mit der Forderung beschrieben, dass sie die Landschaft nicht als etwas Menschliches, sondern in ihrer absoluten, „namenlosen“ Alterität gestalte.232 Kaschnitz strebt hier gleichfalls an, Natur und Kunstwerk als bloßes Seiendes zu dichten. Immerhin mutet aber der Tempel im Gegensatz zur versunkenen Land­ schaft als ein unzerstörbares Menschliches an, was allein schon die Metapher „erhabene Stirn“ assoziiert. Eine Parallele zur archäolo­gischen Anschauung von Guido Kaschnitz-­Weinberg liegt auf der Hand. In seinem Buch Die mittelmeerischen Grundlagen der antiken Kunst (1944) stellt er fest: 232 Thomas Roberg: Bilder der Dinge und Denken der Bilder – Zur Poetik von Rilkes Mittelwerk aus der Perspektive einer Denkbildästhetik. In: Ralph Köhnen (Hrsg.): Denkbilder: Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, S. 163 – 200, angeführt S. 171.

Segesta

Die griechische Kunst besitzt in unserer Erinnerung einen hellen und strahlenden

Charakter. […] Die leuchtenden Säulen der Tempel tauchen auf, die brüder­lich gereiht

selbst in ihrer Verwüstung und Vereinsamung noch die ganze körper­liche Schönheit,

Notwendigkeit und Selbstverständ­lichkeit ihrer Existenz zur Schau stellen.233

Von der Fragmentiertheit der Ruine ist nicht die Rede: Mit den vier Linien, mit den senkrechten Säulen, der horizontalen Schwelle unten und mit dem Tym­ panon oben wird die Ruine klassizistisch eingerahmt: „Säule und Schwelle / Und die erhabene Stirn“. In seiner hellen, klaren verstandesmäßigen Ordnung da stehend, die ihm den Charakter des Ewigen verleiht,234 gewinnt der Tempel tradi­tionell utopische Züge, und diese Utopie ist nur in der Kartographie der romantischen Dichtungstradi­tion zu finden, die der ding­lichen Realität einer Tagwelt aber widerstrebt. Die klas­sisch-­romantisch geprägte, archäolo­gisch geschulte Lyrik von Kaschnitz lässt sich in einigen Zügen mit der Ortsbeschreibung und der Dichtung des mit 24 Jahren verstorbenen Dichters und Essayisten Eugen Gottlob Winkler, des „Nach­ fahren Hölderlins“, „des schwäbischen Valéry“, eines „nihilistischen Klassizisten“ 235, in Verbindung setzen. In seinem Essay Gedenken an Trinakria (1936) beschreibt Winkler, wie er – nach der ersten mit Entsetzen vermischten Freude – verwun­ dert vor der ausgeg­lichenen Harmonie des Tempels stand, die in seinen Augen – im Gegensatz zu Paestum – eine „gewisse Weisheit“, ja Menschlichkeit zeigte: Die Jahrtausende, die als Geschichte über die Landschaft von Paestum zogen, ließen

auf ihm eine Last zurück, er ist davon beinahe unmenschlich geworden. Der seges­

tische Tempel aber […] erweist sich als menschlich gesinnt und nimmt einen, Liebe erweckend, völlig ein.236

233 Guido von Kaschnitz-­Weinberg: Die mittelmeerischen Grundlagen der antiken Kunst, Frankfurt/Main 1944, S. 8. 234 Man könnte den Dialog des Gedichttextes mit der Studie von Kaschnitz-­Weinberg auch ausführlicher belegen. Die Passagen über die Raumordnung des griechischen Tempels korrespondieren auch mit dem Gedicht Sunion. Kaschnitz-­Weinberg, ebd., S. 34. 235 Siehe Grünbeins meisterhaften Essay über Winkler: Durs Grünbein: Ans Ende der Linie. Über Eugen Gottlob Winkler. In: ders: Galiei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen, Frankfurt/Main 1996, S. 162 – 189, angeführt S. 172. 236 Johann Gottlob Winkler: Gedenken an Trinakria (1936). In: ders.: Die Dauer der Dinge. Dichtungen – Esssays – Briefe. München 1985, S. 122. Durs Grünbein unterstrich in seiner

110

111

Der griechische Tempel

Abb. 21 

Peter Hommel: Innenansicht des Tempels von Segesta (1926)

Die in zeit­licher Nähe zu Winklers Essay veröffent­lichte Photographie von Paul Hommel, die im Bildband mit Hofmannsthals Essay über Sizilien erschien, ver­ mittelt etwas von ­diesem intimen, emo­tionsvollen, ja sogar erotisch-­voyeuristischen Blick auf die Ruine, der in die offene Mitte des Inneren dringt und einen klaren, ra­tionalen Durchblick des Ganzen ermög­licht. Winkler sieht in der beinahe unversehrt erhaltenen Form und in den ausgeg­ lichenen Maßen „ein Verlangen nach Ordnung, die Angst vor Endlosem“. Er vergleicht den Tempel inmitten der ihn umgebenden Landschaft mit einer Perle auf der Muschel: „Wie die Perle auf den Muskeln der Muschel lag der Tempel da.“ In seiner unversehrten Schönheit erblickte er „die Überwindung des Nichts“, der quälenden inneren und äußeren Leere.237 Winklers geschultem Auge bleibt es nicht verborgen, dass die unversehrte offene Halle mit den sechsunddreißig aufrecht stehenden Säulen eigent­lich keine Ruine, kein zerstörtes Gebäude, sondern ein unvollendetes Bauwerk darstellt. Vor seinen

oben angeführten Studie die gravierende Differenz ­zwischen Goethes und Winklers Schil­ derung der Ruine. Grünbein, Galilei, S. 180. 2 37 Winkler, ebd., S. 23 f.

Segesta

Augen erscheint dieser nicht zu Ende geführte Tempel, als ob erst der Himmel und die Erde, das Licht und der Schatten ­dieses Werk selbst vollendet hätten: Die Umrisse der Giebel, gefaltet zu dem breiten, zweimal gött­liche Heiterkeit spen­ denden Dreieck, formten aus der Luft ein unzerstörbares Dach. Lichtgetroffen trat

jede Säule hinter den Schattenstreifen der nächsten, bis die beiden Reihen einander in der lichtgebadeten Ecksäule trafen. Er ist als Fragment Ganzes, vollkommen.238

Wohl im Zusammenhang mit d ­ iesem ästhetischen Erlebnis entstand sein Gedicht Ita­lische Ankunft. Auf der Flucht aus dem na­tionalsozialistischen Deutschland suchte Winkler Ruhe und Obhut in der sizilianischen antiken Landschaft und diese innere Unruhe sowie die Sehnsucht nach Geborgenheit prägen auch das Sprechen des lyrischen Ichs, in dem die sich wiederholenden Schlüsselworte „Ruhe“ und „ruhig“ sind: In ­diesem Lande iß dich satt! Des Lichtes reine Ruhestatt Das Dach der Säulen ruhig stehe Auf deinem Haupt! …

„Des Lichtes reine(n) Ruhestatt“ wird unter dem offenen „Dach der Säulen“ gesucht: Der poetischen Schilderung liegt hier eine genaue Beobachtung des Essays („die Umrisse der Giebel […] formten aus der Luft ein unzerstörba­ res Dach …“) zugrunde, sie wird in die Sprache der Dichtung übertragen. Was jedoch im Essay konstatierende Beobachtung war, wird im Gedicht zu einem bloß Ersehnten, zu einem unerfüllten Wunsch nach Harmonie: „Das Dach der Säulen ruhig stehe / Auf deinem Haupt!“ Die Botschaft des Tem­ pels, sichtbares Symbol des Maßes zu sein in einer Zeit, die nur das Übermaß kennt, bleibt eine Utopie mit den Untertönen von Schmerz und Trauer. Was im Essay noch als Überwindung des Nihilismus gefeiert wurde, klingt in den Schlussversen des Gedichts als verzweifelte Kenntnisnahme des Scheiterns jener ästhetischen Religiosität, die im Kreise um Rilke oder um George kul­ tisch verehrt war:

238 Ebd.

112

113

Der griechische Tempel

Ob Gott, ob Tier: es gilt genug Dem Übermaß ein Maß zu sein.

„Dem Übermaß ein Maß zu sein“, diese, gegen den Zeitgeist der 30er-­Jahre und gegen die drohenden Kräfte innerer Zerrüttung gewendete Klassik trennt ­Winkler von Kaschnitz, deren politische Stellungnahme zum Na­tionalsozialismus bis heute nicht ausreichend geklärt werden konnte und durch ihre eigenen For­ mulierungen verschleiert blieb.239 Von Segestas ungewöhn­licher Ausstrahlung des Unvollendeten werden auch heute noch Dichter erfasst. Raoul Schrott widmete das erste Stück seines Gedicht­ zyklus Über das Heilige ­diesem Ort mit der Bemerkung: „welch besseres Emblem gäbe es für ein Gedicht als diesen Tempel[,] der – absicht­lich oder unabsicht­ lich – nie geweiht wurde.“ 240

Sunion Der zweite archäolo­gische Ort, um den es hier gehen soll, ist Sunion, eine der meistbesuchten Tempelruinen Griechenlands. Das Poseidonheiligtum wurde in den Jahren ab 449 vor Christus errichtet. Die weiße Ruine besteht aus einigen verwitterten, noch aufrecht stehenden, sehr schlanken dorischen Säulen, deren viel bewunderte Grazilität und „preziöse Anmut“ ionischen Einfluss zeigen.241 Zum literarischen Ort wurden die Überreste des Poseidontempels durch Byrons Dichtung erhoben,242 und gerade wegen der Literarizität ragt diese Ruine über andere, von den Archäologen hoch geschätzte, wichtige Heiligtümer hinaus. 239 Anderswo haben wir darauf hingewiesen, dass zum Beispiel ihr Gedicht Nike (1942) den Leser an die pathetische Durchhaltelyrik na­tionalsozialistischer Provenienz erinnert. Siehe dazu auch Heidi Hahn: Ästhetische Erfahrung als Vergewisserung menschlicher Existenz, Würzburg 2001, S. 255. Elsbeth Pulver weist darauf hin, dass sie in ihrer Lyrik auf die Geschehnisse des Weltkriegs immer sehr allgemein, in Bildern des Schicksalhaften hin­ deutet und sie somit der Sphäre menschlicher Verantwortung entzieht. Elsbeth Pulver: Marie Luise Kaschnitz, München 1984, S. 20. 240 Raoul Schrott: Weissbuch. München, Wien 2004, S. 16. 241 Gruben, Tempel, S. 205 ff. 2 42 Zu Byrons Griechenlandbild ist immer noch aktuell die Studie von Karl Brunner: Griechenland in Byrons Dichtung, Anglia, 1936, S. 203 – 210. Brunner sagt allerdings nichts zum Erinnerungsort.

Sunion

Abb. 22 

Ansicht des Poseidontempels, Zeichnung von Amand (Freiherr von) Schweiger ­Lerchenfeld, 1887

Man denke etwa an das Apollonheiligtum bei Bassae, dessen Ruinen in der deutschsprachigen Poesie kaum eine Rolle spielen.243 Die herr­liche Lage des Poseidontempels mit dem wilden Meeresufer und dem Ausblick auf die Insel spielte für Byron sicher­lich eine entscheidende Rolle, er erlebte sie aber auch als einen Erinnerungsort: Die Spitze Sunion war näm­lich die berühmte Stätte gewesen, von der die Athener die Rückkehr des Schiffes aus Delos erspäht hat­ ten, die zum Zeichen ­­ für das baldige Vollstrecken des Todesurteils an Sokrates diente. An das Singen und Sterben des Philosophen denkend, erhebt der lyri­ sche Sprecher im letzten Vers den Tempel zum Ort des dichterischen Singens und des Sterbens überhaupt:

243 Zu Bassae kenne ich nur ganz wenige Gedichte, von denen ich auf Anke Bennholdt-­ Thomsens Geschlossne Gefahr noch im nächsten Kapitel Bezug nehmen werde. Wie unten nachgewiesen wird, spielt in der Wahrnehmung dieser Ruinen die graue Farbe eine zentrale Rolle und sie widerspricht der immer noch maßgebenden Idee der „weißen Antike“.

114

115

Der griechische Tempel

Abb. 23 

Marie Luise Kaschnitz am Poseidontempel in Sunion

Place me on Sunium’s marbled steep, Where nothing, save the waves and I, May hear our mutual murmurs sweep; There, swan-­like, let me sing and die:244

Der Gesang des Dichters soll zu einem Schwanengesang werden, inspiriert durch die Einsamkeit der erhabenen Küstenlandschaft und den unend­lichen, zeitlo­ sen Rhythmus des Wellenschlags. Diese Passagen aus Don Juan (1810) wurden 244 George Lord Byron: Don Juan, III, LXXXVI/16. Zitiert nach: The Complete Poetical Works of Byron, Boston 1955, S. 813.

Sunion

in ganz Europa bekannt; und man pilgerte deshalb nach Sunion, um auf einer Säulenbasis den eingeritzten Namen „Byron“ betasten zu dürfen. Das Gedicht Sounion von Marie Luise Kaschnitz gehört zu ihrer frühen Lyrik; zwei Jahrzehnte und ein Weltkrieg trennen Segesta von d ­ iesem noch mehr durch die klas­sisch-­romantische Poetik beeinflussten Gedicht, in dem die Landschaft aus wohlbekannten, konven­tionellen Elementen konstruiert ist und die Griechen­ landerfahrung im Erlebnis des Lichtes aufgeht. Kaschnitz besuchte im Herbst 1936 Sunion mit ihrem Mann. Ihre Tagebucheinträge bezeugen, dass das Gedicht in der Tradi­tion der Erleb­ nislyrik die Impressionen dieser Besichtigung reflektiert und in der Form von Frage und Antwort aufgebaut ist: Sunion Wußte einer denn, wieviel er wagte, Da er ­diesem Ziel entgegenfuhr, Weil man ihm von einem Tempel sagte Und von überwachsener Mauer Spur? Ach, vom Felsen, wo zum steilen Hange Winde flügeln und die Welle bricht, Irrt der Blick am weißen Säulenhange Und er findet Licht und lauter Licht. Das Vergangne wird im Sturm zermahlen In die Zukunft schauen wir wie blind; Denn wir spüren nur die großen Strahlen Und wir wissen nichts als daß wir sind. Viele waren, die von weither kamen, weithin trugen ihr Verwandeltsein; Doch es stehen auch die ew’gen Namen Ohne Schatten auf dem weißen Stein.245

245 Kaschnitz, Die Gedichte, S. 53.

116

117

Der griechische Tempel

In der Antwort wechselt der Sprecher zum Gegenwartstempus, der mit der ener­gisch-­musika­lischen Rhythmik der Verse die Euphorie des Augenblicks zur Sprache bringt, ­welche die Begegnung mit dem Orte auslöst. Das gewaltige Naturerlebnis, das noch klas­sisch die Faszina­tion der Autopsie, das Heureka des An-­Ort-­und-­Stelle-­Seins in sich birgt, ist durch die Aufnahme, ja sogar das Aufsaugen der bewegten Landschaft mit ihrem Übermaß an Licht gekenn­ zeichnet. Zu dieser Sphäre gehört die Tempelruine, der Ort, wo das lyrische Ich seinen Ort findet und von der sein bewegter, „irrender“ Blick nur Teile des Säulenganges erfasst: Irrt der Blick am weißen Säulengange Und er findet Licht und lauter Licht.

In den rhythmisch-­musika­lischen, trochäischen, alliterierenden Versen wird ein entzücktes Glücksmoment reiner Zeitlosigkeit beschrieben. Die Erfahrung des reinen Daseins im hohen Augenblick könnte zwar den Leser noch von Ferne her an Byrons melancho­lische Verse erinnern, aber das Zuviel des Lichtes, das Übermaß der Elemente, wirkt zugleich als etwas Verwirrendes, Zwiespältiges und Unerklär­liches, was ansonsten, wie oben ausgeführt, die Begegnung mit griechischen Ruinen manchmal kennzeichnet. Philippe Forget wies darauf hin, dass der Blick des lyrischen Sprechers keinen festen Anhaltspunkt in der Landschaft findet, sodass der gezwungen sei, nach innen zu gehen.246 Von einer solchen Notwendigkeit sollen wir aber nicht überzeugt werden. Man könnte eher sagen: Aus der nicht geklärten, nicht geordneten Wahrnehmung wird ein diony­sischer Moment konstruiert, in dem das Vorher und Nachher, d. h. alle Vergangenheit und Zukunft, ausgeblendet sind. In dieser augenblick­lichen, licht­ trunkenen Fülle werden die Personen des Gedichts, die „wir“ genannt werden, „blind“. Man sieht also von vermut­lichen Momenten der Nüchternheit vorher und nachher ab und schaltet somit die Leere, die die besungene augenblick­liche „Fülle“ umgibt, aus. „In die Zukunft schauen wir wie blind“. Die Offenheit, ja das dem Augenblick Ausgesetztsein, der im Nu vergeht, soll eben deshalb bei Kaschnitz mit dem Unvergäng­lichen, mit einem Hinweis auf das Ewige, aus­ balanciert werden: Es sind die Gravuren der „ew’gen Namen“, die die Besucher

246 Philipp Forget: Zur frühen Lyrik von Marie Luise Kaschnitz, Diss. Nancy 1974, S. 93 f.

Sunion

Abb. 24 

118

Die Gravour des Namen von Lord Byron in Sunion

des Tempels in den Stein geritzt haben, die dem Vergehen des Augenblicks der Fülle widerstehen.247 So bilden der Marmor der Ruine, die Gravur der Schrift und die Erinnerung auch für Kaschnitz eine Einheit, wie sie von den ersten Tempelbauten an die abendländische Kultur kennzeichnen.248 Das zerstörte antike Heiligtum erweist sich also zugleich als ein Pantheon der Dichtung, als Ort der dichterischen Selbstfindung: 247 In der ansonsten beachtenswerten Analyse von Forget wird d ­ ieses Moment fälschlicher­ weise als die Zuweisung des Tempels an Poseidon gedeutet und dadurch die poetolo­gische Selbstreflexion völlig verkannt. 248 Alain Schnapp: Was ist eine Ruine? Entwurf einer vergleichenden Perspektive, Göttingen 2014, S. 30 f.

119

Der griechische Tempel

Doch es stehen auch die ew’gen Namen Ohne Schatten auf dem weißen Stein.

Sollte die steinerne Ruine selbst dem Verfall ausgesetzt sein – es ist die Schrift, die zeitlos dableibt. Im Wiederstreit des Marmors und des Wortes stehen die ewigen Namen „ohne Schatten auf dem weißen Stein“ da, genauso wie der lyri­ sche Sprecher im Übermaß dem Licht ausgesetzt ist. Was aber die Zeit zunichte macht, wird in der Schrift der Dichtung ewig­lich bewahrt: „Scripta manent“ – lehrt das alte Emblem, und das Werk des Dichters, wie Pindar sagt, ist selbst ein Bau, ein tekton, ja sogar ein „Schatzhaus“, das aus Worten gebaut ist, das weder „vom stürmischen Regen“, noch „vom Geröll getroffen“ wird, „das alles mit sich reißt. Im reinen Licht wird seine Stirnseite“ den „Sieg zu Wagen melden, den ruhmvollen“.249 Ein kurzer Hinweis auf andere Suniongedichte kann uns davon überzeugen, dass die Aufhebung der Zeit im Augenblick zum literarischen Topos ­Sunions geworden ist. Ein weniger bedeutender schweizerischer Lyriker, Albin ­Zollinger, ein Hölderlin-­Epigone, schrieb ebenfalls in den 30er-­Jahren ein Gedicht mit dem Titel Golf von Ägina. Im gleichfalls mit einer Frage eingeleiteten Gedicht wird die Fahrt nach Sunion wie ein irrealer Traum beschrieben: In den Spie­ gelungen von Meer und Himmel geht das Subjekt auf, Vergangenheit und Gegenwart verschränken sich: „Wo bin ich? In der Schwebe der Zeit, in der Spiegelung / Blauen Jahrhunderts / Verwirren mich / Innen und Außen der Welt!“ 250 Haben wir am Beispiel des Tempels von Segesta eine Analogie ­zwischen dem dichterischen und dem photographischen Blick feststellen können, liegt ein Vergleich mit den Sunionphotographien nicht auf der Hand. Die „Schwebe der Zeit“ und die Wahl eines zeitlosen, epiphanischen Augenblicks kennzeichnet die Sunionphotographien von Herbert List, die er ebenfalls in den 30er-­Jahren aufnahm. Die photographische Kunst von Herbert List lässt sich dadurch kennzeichnen, dass er unter den archäolo­gischen Photographen seiner Zeit als Erster die antiken Denkmäler Griechenlands fragmentiert aufnahm. Ihn

249 Pindar: Pythische Oden, 6, 5 – 18, übersetzt von Franz Dornseiff. 250 Albin Zollinger: Gedichte. Sternfrühe, Stille des Lebens, Haus des Lebens, Gedichte aus dem Nachlass, hrsg. Silvia Weimar, Zürich 1962, S. 256 – 258.

Sunion

Abb. 25 

120

Herbert List: Schatten der Säulen des Poseidontempels (1936)

faszinierte das Fragmentarische, das Zerstörte, das Unwiederbring­liche.251 Die hier abgebildete bekannte Photographie weist aber noch eine andere Beson­ derheit auf: Sie weigert sich, die Stereotypie der schlanken, weißen Säulen im blendenden Licht abzubilden, sie hebt dagegen eher die Immaterialität der inmitten der Elemente der Natur aufragenden Ruine hervor, indem er nur

251 Siehe Erika Billeters Einleitung zu ihrem Sammelband: Erika Billeter (Hrsg.): Skulptur im Licht der Photographie. Von Bayard bis Mapplethorp, Bern 1997, S. 34.

121

Der griechische Tempel

noch den Schattenwurf einiger Säulen wie die sichtbare Spur einer Abwe­ senheit abbildet.252 Obwohl die Photographie mit keinem konkreten dichterischen Text verg­lichen werden kann, weist ihre Fokussierung auf die Absenz bzw. auf die Tempelruine in ihrer Gottesverlassenheit sowie das traumhaft Irreale ihrer Stimmung, als ob das Bild ein geistiger Abdruck einer verschwundener Zeit wäre, auf die Topoi des gleichen kulturgeschicht­lichen Kontexts hin, zu dem auch die angeführten Gedichte gehören. List wählte – worauf Interpreten der Photographiegeschichte hinwiesen – seine Perspektive so aus, dass er die Aufnahme genau vom Stand­ punkt in der Cella be­lichtete, wo einst die Kultstatue des Gottes hätte stehen können. Eine Photographie aus dem Blickwinkel der geflohenen Götter – als ob man noch zumindest ihren verloren gegangenen Blick auf die Landschaft nacherleben könnte; der Photograph wirft einen melancho­lischen Blick vom Ort ihrer leer gewordenen Stelle in die Landschaft – ein eher hölderlinscher Blick auf das Meer bei Sunion, eine Gegenposi­tion zur Romantik der jungen Kaschnitz.

Athen: Die Korenhalle des Erechtheion Wie bereits am Beispiel des Tempels von Segesta gezeigt wurde, war die Rui­ nenlandschaft der Westgriechen bei den Dichtern im 20. Jahrhundert belieb­ ter als die des griechischen Festlands. Sie erschien inmitten der zugäng­lichen italienischen Kulturlandschaft menschlicher, profaner und erschließbarer. Dies trifft auch auf die Akropolis zu, trotz oder eben wegen ihrer gewichtigen Sym­ bolkraft und ihrer herausragenden Rolle in der europäischen Kulturgeschichte. Schaut man auf die bisher angeführten Gedichte über Athen zurück, zeigt sich, dass die Sakralität und die empfundene Unnahbarkeit und Strenge der Ruine, insbesondere des Parthenon selbst, den dichterischen Zugang erschwerten. Als geeignete Gattung bot sich am ehesten die Satire an, und die Verse von Dichtern wie Heinrich Vierordt, Hermann Kesten, Rudolf Pannwitz, Rose Ausländer oder eben Erika Mitterer sind nicht von den Zügen der Moderne oder der Avantgarde gekennzeichnet. Mitterers Akropolisgedicht ragt jedoch aus ­diesem Mittelmaß 252 Siehe: Matthias Harder: Mythos und Apokalypse. Antikenrezep­tion und Nachkriegsrealität. In: Herbert List: Das Gesamtwerk. Photographien 1930 – 1972, München 2007, S. 105 – 114, angeführt S. 112.

Athen: Die Korenhalle des Erechtheion

heraus, weil es der Dichterin gelingt, das Unsagbare, das Unaussprech­liche, das Geheimnisvolle fühlbar zu machen, das wie eine dunkle Ahnung, wie eine düstere Stimmung, ihre Landschaftsschilderung durchtränkt. Die österreichische Dichterin Erika Mitterer reiste in den Jahren 1935/36 zwei­ mal hintereinander nach Griechenland. Die junge Dichterin war damals schon bekannt durch ihren Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke, den sie in den 20er-­ Jahren führte. Es war jedoch weder die Antike Rilkes noch ihre humanistische Bildung, die sie nach Hellas trieb. Die Reise ermög­lichte für sie eher eine Flucht aus dem na­tionalsozialistisch gestimmten Österreich, wo sie sich bereits zu jener Zeit isoliert, in die innere Emigra­tion getrieben fühlte.253 Genau in den Jahren, als Winkler nach Sizilien floh, fuhr sie nach Athen, um dort Geborgenheit und Ruhe zu finden. Im Gedichtzyklus Kehr nie zurück – Griechische Gedichte wurde auch das Gedicht Akropolis veröffent­licht, das in dem Sinne einzigartig und bei­ spiellos ist, da es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg auf die politische Symbol­ kraft der Ruine unverhohlen Bezug nimmt: Akropolis Tiefer erblauen die Fluten. Im Süden schweben die Inseln im goldenen Rauch. Heilige Zuflucht, Verfolgten und Müden gabst du den Frieden – gewähr ihn mir auch! Duldende Demut der Koren, durchstrahle mich, die die Woge des Wollens durchfloß … – Im Atem des Abends erkaltet der kahle himbeerfarbene Hymettos.254

Der Sprecher des Gedichts schlüpft in die Rolle der Hiketiden, der Schutzflehenden, und wendet sich flehend an die Karyatiden der Korenhalle des Erechtheion: „Dul­ dende Demut der Koren, durchstrahle / mich.“ Es ist nicht verwunder­lich, dass das Ich nur diesen anmutigsten Teil des Baus benennt, obwohl man sich fragen kann, ob 253 Zu ihrer inneren Emigra­tion und politischen Einstellung siehe Martin G. ­Petrowsky (Hrsg.): Eine Dichterin – Ein Jahrhundert. Erika Mitterers Lebenswerk. Wien 2002. 254 Erika Mitterer: Gesammelte Gedichte. Wien 1956, S. 18.

122

123

Der griechische Tempel

die Dichterin davon wusste, w ­ elchen dämonischen Untergrund diese wunderschöne Korenhalle beherbergt, näm­lich das Grab des schlangenfüßigen Urkönigs, Kekrops.255 Das Gedicht nimmt aber genauso wenig auf die dunklen Tiefen des Ortes Bezug wie auf die bewunderte Heiterkeit und Lebendigkeit des Heiligtums.256 Rilke beschrieb in seinem nicht ausgearbeiteten Sonett an Die Karyatiden die plastische Gestalt dieser Frauenskulpturen mit den ihm vertrauten Topoi der archaischen Plastik, obwohl sie im archäolo­gischen Sinne überhaupt nicht mehr zur archaischen Epoche, sondern zur perikleischen Klassik gehören. Der Dich­ ter, der eine pionierhafte Leistung in der Entdeckung der archaischen Skulptur und im Verständnis ihrer Eigenart leistete, wähnte, an diesen Frauengesichtern das Rätsel archaischen Lächelns wahrzunehmen, und hob an ihrer Gestalt die archaische Vitalität und den Überfluss der Lebensenergien hervor, die auf eine rätselhafte Weise mit der sonderbaren Ruhe ihrer Körper kontrastieren: Doch […] sind ihre Angesichter noch vom Saft gefüllter Sinne süß. Die Wangen reifen das Glänzen, das die Munde nicht begreifen. die Augen sind für Götter aufgegafft, und von den ruhigen Schultern fließt in Streifen der ewige Überfluss der Jungfrauschaft.257

Die ein bisschen steril anmutende Sinn­lichkeit dieser Frauengestalten, die der Beobachter im Gesicht, an den Wangen, erkennt, wird auf überraschende Weise mit ihrer Ehrfurcht verbunden, ­welche die Augen verraten: „Die Augen sind für Götter aufgegafft“, sie widerspiegeln die Reinheit, die Heiligkeit des Inneren. Eine Lebensfülle in der Ruhe und in der Jungfräu­lichkeit – eine ­solche Anschauung von den Korengestalten hätte wohl auch Erika Mitterer nachvollziehen können, wenngleich ihr Gedicht weniger auf das Anschau­liche ausgerichtet ist.

255 Gruben, Tempel, S. 196. 256 Aus zeit­licher Nähe könnte man etwa die oben bereits angedeutete Stelle aus den Reise­ tagebüchern von Corbusier anführen, die im Gegensatz zur unerklär­lichen Heftigkeit des Parthenons die Lebendigkeit und Heiterkeit des Erechtheiontempels unterstrich. Le Corbusier, Reise nach dem Orient, S. 330. 257 Rilke, SW, Bd. II, S, 358.

Athen: Die Korenhalle des Erechtheion

Abb. 26 

Die Korenhalle des Erechtheion

Ihre Verse scheinen eher aus wohlbekannten rhetorischen Topoi zusammengesetzt zu sein: ein Sonnenuntergang in Athen, mit den „erblauten“ Fluten des Meeres, mit dem „goldenen Rauch der Insel“. Es gelingt aber dem lyrischen Sprecher, das Gedicht auf der Spannung z­ wischen diony­sischer Lebenssteigerung und lebloser Ermattung aufzubauen. Den Wortschatz der an sich konven­tionell anmutenden Schilderung kann man diony­sisch nennen: „Fluten“, „Schweben“, „Rauch“ „Wooge des Wollens“ etc. – sie weisen auf einen schwankenden Gemütszustand hin, der seine ra­tionalen Grenzen überschreitet. Die Zuwendung zu den Korengestalten des Erechtheion ist noch durch diese Aufwallung gesteuert. In der Abendstim­ mung wird die sakralisierte Ruine angeredet: Sie solle als apollinisches Reich der Ruhe und des Friedens zu „heilige[r] Zuflucht“ dienen. Der Anredegestus ist hier natür­lich nicht imperativisch wie etwa bei Benn, und die Anrede führt auch zu

124

125

Der griechische Tempel

keinem Gespräch, wie im Karyatidengedicht von Wolf Biermann. Die angere­ deten Statuen bleiben hier stumm, sie werden in ihrer lasttragenden „duldenden Demut“ einerseits zu Gegenfiguren des dichterischen Ichs, aber zugleich auch zu dessen Spiegelungen, indem sie den Leser mehr an Rodins durch Müdigkeit und Versagen geprägte Karyatidenfigur erinnern als an die reale Korenhalle.258 Von der Ausstrahlung des Ortes und den Statuen wird nur noch die Sehnsucht nach der heiligen Ruhe aufgenommen. Die Karyatiden sollen „heilige Zuflucht“ schenken, wie sie den „Verfolgten und Müden“ auch zuvor „den Frieden“ gewährten. Ein einziges Wort, „den Verfolgten“, deutet an, dass es sich hier nicht um ein nachro­ mantisches Ruinengedicht, sondern um ein Zeitgedicht handelt, das schwelende Ängste und das Gefühl akuter Gefährdung in sich birgt. Das lyrische Ich spricht aus der Sprechsitua­tion des europäischen (christ­lichen) Intellektuellen, der nach Hitlers Machtergreifung als ein Verfolgter und ein matter, müder Heimatloser zur antiken Ruine pilgert, die ihm nun als Symbol der humanistischen Tradi­tion Europas, als symbo­lischer Ort von Freiheit und Frieden, erscheint. In den letzten zwei Versen gewinnt die Begegnung des modernen politisch Verfolgten mit dem Freiheitsdenkmal neue Züge. Man erkennt, dass bereits die Ruine an sich als verfallenes Kunstwerk die Personalunion des Menschen mit dem Tode symbolisiert. Die Ruine schenkt keinen Frieden, keine Ruhe, kein Glück des Vergessens, wie die italienische Ruinenlandschaft es im Gedicht von Winkler dem dichterischen Ich vermitteln konnte. Die drohende Gefährdung durch den sich nahenden Tod wird in d ­ iesem letzten Naturbild geheimnisvoll fassbar: „Im Atem des Abends erkaltet der kahle / himbeerfarbene Hymettos“. Die alliterierenden Worte „Atem“ – „Abend“, „erkaltet“ – „kahl“ führen den Leser mit ihrer Assonanz ahnungsvoll zur letzten Farbenpracht, zur Widerspiegelung der scheidenden Sonne im „himbeerfarbenen Hymettos“.259 Die athenische Landschaft wird hier in ihrer fundamentalen Tragik der Kälte und des Todes erlebt und geschildert. 258 In seinem Rodin-­Aufsatz hat Rilke Rodins kniende Karyatide ausführ­lich beschrieben. Diese Schilderung hat Mitterer sicher­lich gekannt. Rilke, SW, Bd. V, S. 175. 259 Es ist zu bemerken, dass der „himbeerfarbene Hymettos“ ansonsten einen klas­sischen Locus zitiert: Est prope purpureos collis forentis Hymetti fons sacer … etc. Ovid: Ars amatoria Liber III , Verse 687 f. Zitiert nach: P. ­O vidi Nasonis Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris, Oxford 1961, S. 195.

Die Tempel am Akragas

Es ist frei­lich erstaun­lich, dass die geschicht­lich-­politische Symbolkraft des Monu­ ments in keinem anderen Gedicht vor 1945 thematisiert wurde. Erika Mitterer besaß eine prophetische Sicht auf die kommenden düsteren Ereignisse, die dann s­ päter in ihrer 1942 erschienenen Erzählung Die Seherin wiederum zum Ausdruck kam. Eine andere Ausnahme bildet Hofmannsthals unvollendetes letztes Libretto Die Ruinen von Athen. Während Hofmannsthal auf seiner Reise in Griechenland den Inbegriff der klas­ sischen Antike, Athen, als eine „gespenstische Stätte des Nichtvorhandenen“ 260 erlebt hatte, wurde die Stadt in seinem Werk nach dem E ­ rsten Weltkrieg zu einem Sinnbild für dasjenige kulturell-­politische Erbe europäischer Vergangenheit, das im Geist an die Stelle der zerfallenen und wieder zu errichtenden Donaumonarchie treten sollte.

Die Tempel am Akragas Ingeborg Bachmann: Am Akragas Das geklärte Wasser in den Händen, an dem Mittag mit den weißen Brauen, wird der Fluß die eigne Tiefe schauen und zum letzten Mal die Dünen wenden, mit geklärtem Wasser in den Händen. Trägt der Wind aus Eukalyptushainen Blätter hochgestrichen, hauchbeschrieben, wird der Fluß die tiefren Töne lieben. Festen Anschlag von den Feuersteinen Trägt der Wind zu Eukalyptushainen. Und geweiht von Licht und stummen Bränden Hält das Meer den alten Tempel offen, wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen, mit geklärtem Wasser in den Händen seine Weihen nimmt von stummen Bränden. 260 Hugo von Hofmannsthal: Augenblicke in Griechenland, zitiert nach ders: Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. Erzählungen, erfundene Gespräche etc., S. 621.

126

127

Der griechische Tempel

Der Ort

Ingeborg Bachmann vergleicht in ihrem Gedicht Bleibe die Bilder, die wir von allen jemals besuchten Orten in unserer Erinnerung bewahren, mit den Bildern auf Spielkarten, aus denen man ein Kartenhaus baut: Die Karten sind bebildert Und zeigen jeden Ort. Du hast die Welt geschildert Und mischst sie mit dem Wort.261

In ­diesem Kartenspiel bleiben die Erinnerungsbilder und die Worte, die sie in der Dichtung vergegenwärtigen, voneinander getrennt: Die Bilder der Orte wer­ den nur „mit dem Wort“ „gemischt“, ohne jemals die Illusion zu hegen, dass die Worte wirk­lich jene Bilder, die man von den besuchten Orten im Gedächtnis trägt, bezeichnen und beschreiben können. Eine ­solche Diskrepanz von Wort und Erinnerungsbild wird in ihrer Lyrik immer wieder reflektiert, wenn sie auf literarisch gestaltete Orte Bezug nimmt. Der zentrale Ort der Bilder ist näm­lich stets die Person, die im Gedicht als Sprecher-­Ich anzusetzen ist. Das poetolo­gische Problem der Differenz ­zwischen dem Da-­Sein und dem Wort, das es zu ergreifen versucht, also überhaupt das Problem des Wie des Sprechens, wird bei Bachmann nicht nur immer erneut reflektiert, sondern praktisch in mehreren Gedichten durch die „Konzentra­tion des geistesgegenwärtigen Blicks“ 262 gelöst, der die sinn­liche Anschauung zugleich zur intellektuellen Tätigkeit, zur dichterischen Erkenntnisgewinnung, macht. Das Gedicht Am Akragas (1955) enthält – wie auch andere Gedichte aus dem Gedichtband Anrufung des Großen Bären, in dem es veröffent­licht wurde – klare topographische Bezüge, da der Ort Akragas nicht nur eine komponierte litera­ rische Landschaft, nicht nur Chiffre eines inneren Erlebnisses ist, sondern sich referenziell auf einen historischen Ort bezieht. Es bestätigt die klare Feststellung der Bachmannliteratur, im zweiten Gedichtband löse die existenzmetaphorische 261 Ingeborg Bachmann: Sämt­liche Gedichte, hrsg. v. Christine Koschel, München 2002, S. 144. 262 Monika Albrecht/Dirk Göttsche (Hrsg.): Bachmann-­Handbuch. Leben – Werk – ­Wirkung, Stuttgart – Weimar 2002, S. 62.

Die Tempel am Akragas

Landschaft ihrer frühen Lyrik eine konkrete Topographie ab.263 An den einzelnen Topoi der lyrischen Schilderung, die zu einer literarischen Landschaft zusam­ mengefügt werden, lassen sich einige Züge der Natur- und Kulturlandschaft des heutigen Agrigento auf Sizilien wiedererkennen: die Flüsse Akragas und Hypsas, die dann vereinigt in das nahe liegende Meer fließen, die Eukalyptushaine neben der Landstraße und vor allem die antiken Tempelruinen im sandigen Hain, die zur Signatur dieser Landschaft wurden. Da der eine Fluss (heute nennt man ihn San Biagio) einst genauso Akragas hieß wie die antike Stadt, kann man vermu­ ten, dass der Titel Am Akragas eigent­lich nicht die Stadt, sondern eher den Fluss selbst nennt, was natür­lich nicht ausschließt, dass in der Abfolge des Gedichts eine Natur- und Kulturlandschaft in ihrer Einheit konstruiert wird. Mit einer solchen Komplexität steht Bachmanns Gedicht allein unter den von mir bekannten Akragasgedichten ihrer Zeitgenossen: Das Gedicht Agrigento von Marie Luise Kaschnitz gehört mehr zur Kategorie der „Erlebnisdichtung“ und schwört eher die dämonischen Geister des Ortes herauf. Arendts Gedicht Der Sarkophag ist hingegen in erster Linie dem berühmten antiken Phaidrasarkophag der Kathedrale gewidmet.264 Die poetische Konstruktion der Landschaft

Akragas ist – neben Rom – meines Wissens der einzige antike Ort, auf den Bachmann Bezug nimmt. Die Antike spielt in ihrer Dichtung keine besondere Rolle.265 Im Titel Am Akragas betont sie mit der alten griechischen Bezeichnung nun ganz klar die antike Vergangenheit des Ortes. Wenn wir jedoch nach der konkreten Funk­tion des antiken Namens fragen, können wir leicht in Verlegen­ heit geraten, da uns in der poetischen Landschaft bloß ein einziges Element, die Tempelruine, an das Griechische erinnert. Bachmann thematisiert die Antike überhaupt nicht, bedient sich jedoch einer archäolo­gischen Verfahrensweise, die sich in der Konstruk­tion der poetischen Landschaft erkennen lässt. 263 Sigrid Weigel: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999, S. 244. 264 Kaschnitz, Die Gedichte, S. 266. Erich Arendt: Memento und Bild, Leipzig 1976, S. 39 f. 265 Es ist kennzeichnend, wie unsicher und allgemein sie formuliert, wenn sie in ihren Frankfurter Vorlesungen bemerkt, dass die alten Griechen für uns immer noch „etwas Musterhaftes“ besäßen. Ingeborg Bachmann: Werke, hrsg. Christine KOSCHEL, BDe I-IV, München 1978, angeführt, Bd. IV; S. 264 f.

128

129

Der griechische Tempel

In der ersten Strophe ist die Rede vom Fluss, der ohne Namen genannt wird: „An dem Mittag (….) / wird der Fluß die eigne Tiefe schauen“. Neben dieser Selbstschau ist er auch aktiv, gestaltend: Er wendet „zum letzten Mal die Dünen“, „mit geklärtem Wasser in den Händen“. Was in den anderen Gedich­ ten des Bandes vielleicht spielerisch klingen mag und aus der Phantasie eines Kindes entsprungen scheint, mutet hier weniger zauberhaft an: Die „weißen Brauen“ der Mittagssonne und das geklärte Wasser „in den Händen“ des Flusses lassen sich nicht als märchenhafte oder mythische Personifizierung verstehen. Somit wird der Fluss einerseits auf seine elementare, ursprüng­liche Gött­lichkeit zurückgeführt, wie wir ihn in der langen Tradi­tion der deutschen Stromdich­ tung seit Hölderlin kennen. Andererseits deutet der Strom mit seinen anthro­ pomorphen Zügen das Subjekt des Gedichts an, von dem gesagt werden kann, dass es ansonsten weder in seinem Verhältnis zur Landschaft erscheint noch sich selbst als Sprechenden benennt. Auf seine Präsenz lässt sich nur vermittelt in der Spiegelung in der Natur, etwa durch die Präsenz einer „Hand“ schließen. Es ist eine schauende und schreibende Instanz, und durch d ­ ieses Schauen und durch das Schreiben ist das Textsubjekt in das Ritual der Reinigung und der Weihe einbezogen. Die zweite Strophe schlägt düsterere und disharmonischere Töne an. Alle vier Elemente („Wind“, „Fluss“, „Feuerstein“ „Anschlag“ von Feuer) der Natur sind in Bewegung, und sie bringen zunehmende Dissonanz in die vorher noch fried­lich anmutende Landschaft. Der erste Agens ist der Wind: „Festen Anschlag von den Feuersteinen / trägt der Wind zu Eukalyptushainen“. Durch die Dynamik des plötz­lichen starken Windes gewinnt die Landschaft selbst dunklere Töne: Sie wird mit den „tiefren Töne(n)“ des Flusses und mit der geheimnisvollen Nach­ richt der „hauchbeschriebenen“ Blätter rätselhaft und opak. Ein Funken des Feuers entzündet sich durch den „festen Anschlag von den Feuersteinen“ und wird durch den Wind „zu Eukalyptushainen“ getragen. Die Flusslandschaft kann vom „Anschlag“ der „Feuersteine“ in Brand gesetzt werden, die gegensätz­lichen Elemente von Wasser und Feuer kündigen eine Entzweiung, eine Dissonanz, ja eine Verwüstung an. Nach der schattenhaften Verdunkelung des Flusses und anschließend an die geheimnisvolle geschriebene Botschaft des Windes werden in der dritten Strophe eine Weihe und eine Reinigung in den gegensätz­lichen Elementen von Feuer und Wasser vollzogen:

Die Tempel am Akragas

Und geweiht vom Licht und stummen Bränden hält das Meer den alten Tempel offen, wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen, mit geklärtem Wasser in den Händen seine Weihen nimmt von stummen Bränden.

Die Strophe beginnt mit einem Enjambement, mit der Konjunk­tion „und“, einer Parataxe: „Und geweiht vom Licht und stummen Bränden …“. Die Satzver­ bindung weckt den Anschein, als ob das Meer als Satzsubjekt die Tätigkeit des Windes einfach weiterführe. Vom Enjambement wissen wir aber, dass es nicht nur verbindet, sondern das Verknüpfte zugleich trennt. Was wird aber geweiht „vom Licht und stummen Bränden“? Wegen der fehlenden Verknüpfung gerät der Leser in die Verlegenheit, wie er den ersten Vers mit den darauffolgenden verbinden soll. Bezieht sich die Weihe auf das Meer oder sinnvoller auf den Tem­ pel? Die semantische Offenheit der Verse wird durch die Inversion noch gestei­ gert: „Und geweiht vom Licht und stummen Bränden, / hält das Meer den alten Tempel offen“. Somit erhält der poetische Raum eine akzentuierte Vertikalität, die ener­gisch eine Bewegung von oben nach unten nachzeichnet: von der Weihe der Sonne und deren Bränden in die Tiefe des Wassers hinunter, in dessen Ele­ ment diese Weihe erhalten und offen gehalten wird. Dieser Vertikalität wird der horizontale Gang des Flusses wiederum entgegengesetzt: „wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen, / mit geklärtem Wasser in den Händen / seine Weihen nimmt…“. In dieser horizontalen Bewegung von der Quelle bis zur Mündung ins Meer vollzieht sich wiederum eine Weihe, eine andere, die durch das Wasser: Der Fluss nimmt seine Weihe aus der Quelle. Es bleibt jedoch unklar, warum der vollständige Gang des Stromes von der Quelle bis zur Mündung in das Land­ schaftsbild eingefügt werden sollte. Behrmann hat diese Eigentüm­lichkeit des Textes damit erklärt, Bachmann sei der Tradi­tion der deutschen Stromdichtung gefolgt.266 Ein solcher Hinweis auf die Tradi­tion ist aber unbefriedigend, da das Gedicht ansonsten nicht dem Gang des Flusses gewidmet ist. Eine alternative Lektüre bietet sich, wenn man die Quelle nicht auf die des Stromes reduziert, sondern zugleich als ein symbolträchtiges Motiv der literarischen Landschaft betrachtet. So gelesen wäre die „Quelle“ eo ipso der Ort der Reinigung und der 266 Alfred Behrmann: Metapher im Kontext. Zu einigen Gedichten von Ingeborg Bachmann und Johannes Bobrowski, Der Deutschunterricht 1968/9, S. 28 – 48, angeführt S. 45.

130

131

Der griechische Tempel

Weihen. Die Pluralform „Weihen“ dürfte ebenfalls auf die rituelle Wiederholung des Ereignisses hinweisen. Aus der Quelle nimmt der Strom seine Weihen „mit geklärtem Wasser in den Händen“. Vielleicht steckt hinter dem Bild vielmehr eine topographische Einzelheit von Akragas, näm­lich das Quellheiligtum beim Demetertempel, das in einer Höhle am Fuße des „Athenafelsens“ eingebaut war und dessen klares Wasser den Waschungs- und Reinigungsriten des Demeterkultes diente.267 Das Quellheilig­ tum liegt in direkter Nähe des Flusses Akragas. Wie dem auch sei, dürfte eine ­solche verborgene Erinnerung an altherkömm­liche Reinigungsriten zu Ehren der Muttergöttin „Erde“ das Bild des Flusses, der an der Quelle seine Weihe „mit geklärtem Wasser in den Händen“ nimmt, mitbestimmen. Die an sich in ihren beweg­lichen Elementen kosmisch erscheinende Natur verwandelt sich erst in dieser letzten Strophe zu einer geschicht­lichen Land­ schaft in ihrer Zeit­lichkeit. Das Überzeit­liche der Natur in ihrem zyk­lischen Kreislauf berührt sich durch die Nennung des Tempels mit der Geschichte, mit einer Geschichte, w ­ elche durch Katastrophen, durch Leid, Schmerz und Ver­ wüstung gekennzeichnet wird. Ist es nun wirk­lich berechtigt, von einer archäolo­gischen Anschauung, von einer archäolo­gischen Konstruk­tion der poetischen Landschaft zu sprechen? Was heißt hier „archäolo­gisch“, was wird hier von der griechischen Substanz dieser Landschaft freigelegt? Nicht eine tradierte mythische Topologie mit den bekannten Pathosformeln der Italiendichtung – wie man die meisten Italien­ gedichte ­Bachmanns zumeist liest. Man darf vermuten, dass es in erster Linie die philosophische Bildung der Dichterin war,268 die das Griechische in dieser Landschaft für den lyrischen Sprecher vermittelte und deren Genius Loci zu erspähen half. In der griechischen Koloniestadt Akragas lebte näm­lich der vor­ sokratische Philosoph, Dichter und Wunderheiler Empedokles. Er lehrte unter anderem über die vier Archai – Elemente oder „Wurzeln“ des Kosmos – Was­ ser, Erde, Luft, Feuer, die er dichterisch als konkrete Naturphänomene wie Erde, Himmel, Sonnenstrahl und Meer schilderte 269 und, um ihre Gött­lichkeit zu beto­ nen, auch mit Götternamen versah: Aidoneus (Hades), Nestis, Hera und Zeus. 267 Gruben, Tempel, S. 291. 268 Siehe dazu ausführ­lich Weigel, Ingeborg Bachmann, S.  74 – 111. 269 Siehe Frgm. 22. In: Hermann Diels/Walther Kranz (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker, Bde. 1 – 3, Hildesheim 1996, Bd. 1, S. 320 f.

Die Tempel am Akragas

Die vier „Wurzeln“ der Physis wurden in ihren zyk­lischen Wechselbewegungen beschrieben, wie sie vom Zustand der Eintracht (auch „Liebe“, Eros oder Philia genannt) in Zwietracht („Neid“, Streit“) gelangen, um sich dann wieder zu einigen und in dieser Phase der wiedergewonnenen Liebe alles Leben hervorzubringen: Selbst näm­lich sie sind diese [vier], doch bei ihrer Wanderschaft durcheinander entste­ hen Menschen und die Scharen von anderm Getier, indem sie bald in Liebe zusammen

gehen zu einem Gefüge, bald auch wieder jedes getrennt seine Bahn zieht in feindseliger

Zwietracht, auf daß, was zu einem zusammengewachsen, auch ganz wieder untergeht.270

Auch in Bachmanns Gedicht wird die Landschaft mit den Augen des Philosophen betrachtet: Es sind die vier Elemente des Wassers, des Windes der Erde und des Feuers, aus denen als konkret anschau­lichen Naturphänomenen die poetische Landschaft zusammengefügt wird. Diese Elemente werden in ihrer Dynamik, in ihrer zyk­lischen Kreisbewegung erfasst, indem sie einmal „in Liebe zusammen­ gehen“, ein andermal „getrennt“ ihre Bahnen ziehen; im zyk­lisch komponierten Sprechen des Gedichts werden die Phasen der Eintracht und der Zwietracht sowohl bild­lich als auch kompositorisch abgebildet. Die empedokleische Schicht in der Betrachtung dieser Urlandschaft widerspricht jener Lektüre des Gedichts, nach der es sich um ein klas­sisches Stromgedicht, um ein glück­liches Erleben des Südens handelt.271 Eine genauere Untersuchung des „Profundum der Partien“ 272 führt dagegen zu der Ansicht, dass der lyrischen Gestaltung der Landschaft eine philosophische Anschauung zugrunde liegt. Weihen

Es kann im Einverständnis mit der Bachmannliteratur festgestellt werden, dass die Landschaften ihrer Gedichte dreifach kodiert sind: als innere Landschaften, als „Geschichtslandschaften“ und als Sprachlandschaften.273 Diese drei Aspekte müssen beachtet werden, wenn wir in der zyk­lischen, in sich wiederkehrenden 270 Zitiert und kommentiert nach: Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994, S. 154 f. 271 Behrmann, Metapher. 272 Zitat aus dem Gedicht Bleib. 273 Albrecht/Göttsche (Hrsg.): Bachmann-­Handbuch, S. 74.

132

133

Der griechische Tempel

Sprachbewegung des Gedichts eine rituelle Sprachgebärde erkennen, wodurch eine Beziehung z­ wischen der philosophisch-­kosmolo­gischen Landschaftsgestal­ tung und dem lyrischen Sprecher hergestellt wird. Die zyk­lisch gestaltete Versrede stellt zugleich eine rituelle Handlung – eine Reinigung und eine Weihe – dar, die das lyrische Ich in der imaginierten Tradi­tion der empedokleischen „Kathar­ moi“ 274 zelebriert. Als Rituale bezeichne ich – im Einverständnis mit Wolfgang Braungart – „symbo­lische, bedeutsame Handlungen (…), in denen sich religiöse, natür­liche und ­soziale Beziehungen darstellen.“ 275 Die rituelle Reinigung und die Weihe vollziehen sich in Bachmanns Gedicht erstens in der Natur selbst. Es ist an erster Stelle der Fluss selbst, der sich reinigt, indem er, „das geklärte Wasser in den Händen“, seine eigene Tiefe im Spiegel der Wasserfläche anschaut. An ihre Tätigkeit schließen sich dann die anderen Elemente an, der Wind, der Bote des Feuers und das Licht der Sonne mit sei­ nen Bränden. Mit der Nennung des Tempels schließ­lich wird auch die Dimension des geschicht­lichen Wohnens in den kosmischen Zyklus der Natur einbezogen. Die „Weihe“ durch die Brände erinnert den Leser an die reale Geschichte der antiken Stadt. Diodor berichtet,276 wie der Heratempel durch die Karthager 406 vor Christus in Brand gesetzt wurde. Die Spuren d ­ ieses Brandes lassen sich auch heute noch an einigen vom Brand geschwärzten Blöcken der Ruine sehen. Das Feuer bildet nicht nur das Zerstörungselement der Natur, sondern auch der Geschichte, es ist nicht nur das vierte Element im empedokleischen Sinne und auch nicht nur das Feuer unter der Erde, wodurch die sizilianische Landschaft immer wieder gefährdet und verwüstet wurde.277 Ungesagt ist im Bild der reini­ genden Weihe des Feuers aber auch eine Anspielung auf den exzentrischen Tod

274 Die Katharmoi sind eine ebenfalls fragmentarisch überlieferte Schrift des Philosophen. 275 Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996, S. 109. 276 Diodor 13. 79,8. 277 Ohne die genaue Untersuchung der topographischen und philosophischen Eigenart des dichterischen Ortes neigt man leicht zu oberfläch­lichen Bemerkungen über das Glücks­ erlebnis des Südens und über Harmonie und Schönheit der sizilianischen Landschaft. So etwa Ulrich Thiem: Im Gedicht Am Akragas „hat das Licht vollends jeden aggressiven Zug verloren, es begegnet als kathartische Kraft, verbunden mit einem quasi-­religiösen Weiheerlebnis. Die Elementarität ist der äußersten Sublima­tion gewichen, die Schönheit des Südens spricht sich in der Harmonie der Bilder und der Sprachbewegung aus.“ Ulrich Thiem: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns, Diss. Köln 1972, S. 85.

Die Tempel am Akragas

des Philosophen mitgegeben, dass er, der überlieferten Legende zufolge, in den Krater des Ätna gesprungen sei. Über das Subjekt des Gedichts soll noch gesagt werden, dass es weder in seinem Verhältnis zur Landschaft erscheint noch sich selbst als Sprechenden benennt. Auf seine Präsenz lässt sich nur vermittelt, in der Spiegelung in der Natur, etwa durch die Präsenz einer „Hand“ schließen. Es ist eine schauende und schreibende Instanz, und durch d ­ ieses Schauen und durch das Schreiben ist das Textsubjekt in das Ritual der Reinigung und der Weihe einbezogen. Eine völlig andere Sprechsitua­tion kennzeichnet hingegen die Lieder von einer Insel, in deren letztem Stück von Reinigung in ihrem Verhältnis zu einem „uns“ gesprochen wird: Es ist Feuer unter der Erde und das Feuer ist rein. Es ist Feuer unter der Erde und flüssiger Stein. Es ist ein Strom unter der Erde, der strömt in uns ein. Es ist ein Strom unter der Erde, der sengt das Gebein. Es kommt ein großes Feuer, Es kommt ein Strom über die Erde. Wir werden Zeugen sein.

Die imitierte Litaneiform weist darauf hin, dass auch d ­ ieses Stück – wie auch andere des genannten Zyklus – die religiösen Zeremonien Siziliens evoziert. Die Insel erscheint im Gedicht wie ein unerbitt­liches Purgatorium. Ihr unterirdisches Feuer, das sich unter dem Krater des Ätna befindet, wurde einst mytholo­gisch mit den dunklen Kräften des Titanischen gleichgesetzt. Bachmanns Litanei evoziert zwar den „Strom unter der Erde“, nennt aber d ­ ieses Feuer zugleich rein und rei­ nigend wie das Wasser. Seine Evozierung in der imitierten Form der christ­lichen Litanei dürfte mit einer anderen archäolo­gischen Stätte in Verbindung stehen, deren Genius Loci nun eine mehr religiöse Stimme verliehen wird. In der K ­ irche

134

135

Der griechische Tempel

„Santa Maria degli Greci“ sieht man unter dem beglasten Fußboden Reste eines antiken Athenatempels, in die s­ päter Bänke eingebaut wurden. Man sagt, dass sie den Reinigungsritualen der Kapuziner gedient hätten. Auf ihnen sollten die Lei­ chen durch eine dorthin geführte heiße Quelle gereinigt werden, ihre Mumifizie­ rung galt als Bedingung für das Erlangen des neuen, ewigen Lebens. B ­ achmanns Litanei hält jedoch den Bezug auf einen solchen späteren Reinigungsritus genauso offen wie einen mög­lichen intertextuellen Hinweis auf Empedokles, der sich mit seinem Sturz in den Ätna durch das versengende Feuer reinigte. Ein entsprechender Hinweis auf das Christ­lich-­Religiöse wie auf ein „uns“ fehlt hingegen im Gedicht Am Akragas völlig. Eine ­solche Subjektivität würde die kosmische und geschicht­liche Dimension der Zerstörung und Reinigung durch das Feuer stören. Im Gedicht Am Akragas lässt sich nur noch vermittelt von einem Subjekt reden, da die dynamischen Prozesse, die sich in der Natur abspielen, zugleich diejenigen in der Seele widerspiegeln. Sigmund Freud hat aufgrund des engen Zusammenhangs ­zwischen der Natur- und Seelenlehre des Empedokles die vorsokratische Lehre auf die Psychoanalyse übertragen. In sei­ nem Essay Die end­liche und die unend­liche Analyse stellte er die empedokleischen Beweggründe Philia oder Eros mit dem Sexualtrieb gleich und Neikos (Streit) mit der „Verlötung“ bzw. „Entmischung von Triebkomponenten“ in Analogie, und so erkannte er im empedokleischen Prinzip des „Streites“ den „Destruk­tionstrieb“, den Drang des Lebenden, zum Leblosen zurückzukehren, wieder.278 Die Beob­ achtung der zyk­lischen Bewegung des Zusammenhalts und der Entzweiung der Elemente in der Natur spiegelt bei Bachmann zugleich eine Landschaft der Seele. Eine ­solche Selbstspiegelung gewinnt im Zuge des Schreibens genauso dunklere Töne wie das Spiegelbild des Flusses. Die literarisierte Sprachland­ schaft ‚Am Akragas‘ wird letzten Endes zu einer inneren Landschaft der Seele mit ihren elementarsten Trieben von Liebe und Tod, auf die sich die dichterische zelebrierte rituelle Weihe genauso bezieht wie auf die durch Leid und Schmerz getragene Reinigung des Ortes.279 278 Sigmund Freud: Die end­liche und die unend­liche Analyse, Kap. VI. ­Siehe die Ausgabe: Über Freuds „Die end­liche und die unend­liche Analyse“. Bearbeitet von Johann Michael Rothmann. Stuttgart – Bad Cannstadt 1996. Es ist bezeugt, dass Bachmann sowohl wissenschaft­liches als auch privates Interesse für die Psychoanalyse zeigte und mit Freuds Schriften vertraut war. Siehe: Albrecht/Göttsche (Hrsg.): Bachmann-­Handbuch, S. 223. 279 Albrecht/Göttsche (Hrsg.): Bachmann-­Handbuch, S. 75; Ariane Huml: Silber im Oleander, Wort im Akaziengrün. Zum literarischen Italienbild Ingeborg Bachmanns, Göttingen

Die Tempel am Akragas

Poetologie: Tempel und Gedicht

Die in ihren Elementen geschilderte Natur wird erst durch die Nennung des Tempels zu einer geschicht­lichen Landschaft mit Zeitdimension: Und geweiht vom Licht und stummen Bränden hält das Meer den alten Tempel offen, wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen, mit geklärtem Wasser in den Händen seine Weihen nimmt von stummen Bränden.

Was meint das Gedicht mit dieser Offenheit? Weshalb hält das Meer den durch Feuer geweihten Tempel „offen“, und eben unter der Bedingung, wenn der Fluss seine Weihen nimmt? Ist er offen wegen seiner Weihen durch den Brand, näm­ lich dass er eine Ruine ohne Dach und Wände ist? Ist es die unend­liche Bläue des Meeres und des Flusses, die in unserer Wahrnehmung mit der des Himmels verschmelzen kann, wodurch der Tempel seine Offenheit erhält? Mag die Offen­ heit des Tempels auch ein wichtiger Wahrnehmungsmoment sein, erklärt dies doch nicht ausreichend, warum die ­zwischen Feuer und Wasser gestellte Ruine offen gehalten werden sollte. Die in ihren Elementen geschilderte Natur wird erst durch die Nennung des Tempels zu einer geschicht­lichen Landschaft mit Zeitdimension. Diese Eigen­ art der dichterischen Gestaltung führt uns zu Heideggers Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes, in dem vom Verhältnis von Tempel(ruine) und Landschaft Fol­ gendes festgestellt wird: Dastehend ruht das Bauwerk auf dem Felsgrund. Dies Aufruhen des Werkes holt aus

dem Fels das Dunkle seines ungefügen und doch zu nichts gedrängten Tragens heraus.

Dastehend hält das Bauwerk dem über es wegrasenden Sturm stand und zeigt so erst

den Sturm selbst in seiner Gewalt. Der Glanz und das Leuchten des Gesteins, anschei­

nend selbst nur von Gnaden der Sonne, bringt doch erst das Lichte des Tages, die Weite

des Himmels, die Finsternis der Nacht zum Vor-­schein. Das sichere Ragen macht den

unsichtbaren Raum der Luft sichtbar. Das Unerschütterte des Werkes steht ab gegen

1999, S. 291 f.

136

137

Der griechische Tempel

das Wogen der Meerflut und lässt aus seiner Ruhe deren Toben erscheinen. […] Der

Tempel gibt in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst.280

Heidegger war der Ansicht, dass ein Kunstwerk wie der griechische Tempel, den wir heute in der Landschaft bestaunen können, nicht in eine vorhandene, zuvor an sich existierende Landschaft eingebaut wurde. Es sei das Kunstwerk selbst, das die Landschaft als s­ olche öffnet. Man kann wohl voraussetzen, dass ­Bachmann, die ihre Disserta­tion über Heidegger schrieb, den Kunstwerkaufs­ atz von H ­ eidegger gut kannte. Sie nahm ja auf ihn in der Erzählung Undine geht Bezug.281 Auf Heideggers Vortrag Der Ursprung des Kunstwerkes könnten im Gedicht die Verse hinweisen: „Und geweiht vom Licht und stummen Brän­ den / hält das Meer den alten Tempel offen“. Sie deuten auf die Passagen hin, in denen Heidegger sagt, der Tempel gebe in seinem Dastehen den Dingen erst ihr Gesicht und den Menschen erst die Aussicht auf sich selbst. Der Tempel eröffne damit „eine Welt“ und stelle sie auf die Erde zurück. Bachmanns Verse enthalten klare Reminiszenzen an den heideggerschen Text: Sie stellen die Ruine ­zwischen das Licht des Himmels und das Wogen der Meer­ flut und es ist im Gedicht wiederum das Meer, das dem Tempel Unerschütter­ lichkeit verleiht. Die Dichterin scheint aber Heideggers Grundgedanken umzu­ kehren, indem es hier nicht das Kunstwerk ist, das die Landschaft öffnet und in ihrer Bestimmung erscheinen lässt, sondern es die Elemente der Natur sind – die Sonne durch ihre Weihe im Licht und das Meer –, die durch ihre Zyklen die geschicht­liche Erinnerung, die im Tempel ihre Gestalt finden. Bei genauer Prüfung lässt sich aber feststellen, dass der Tempel seine Offen­ heit und somit seine Weihe weder einfach durch das Licht, durch die „Brände“, noch durch das Meer nimmt. Die Strophe spricht genau von „stummen Bränden“. Wir wissen aus anderen Werken der Dichterin, dass „Stummheit“ bei ihr die Lebenssitua­tion nach Auschwitz bedeutet, sie ist mit jener Sprachkrise identisch,

280 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes. In: ders.: Holzwege, Frankfurt/Main 1972, S. 31. 281 Im Bachmann-­Handbuch wird ihr kontinuier­liches Interesse für Heidegger belegt. Zu Bachmann und Heidegger siehe außerdem: Paolo Chiarini: Auf der Suche nach wahren Sätzen. Zur Poetik Ingeborg Bachmanns. In: Horst Dieter Schlosser/Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.): Poetik, Frankfurt/Main 1988, S. 15 – 26.

Die Tempel am Akragas

Abb. 27 

Der Hera-­Tempel in Akragas

die aus der schmerz­lichen Erfahrung neuzeit­licher Geschichte entstand. So dürfen wir vermuten, dass die Offenheit der Tempelruine mit ihren Brandspuren zugleich als eine Chiffre für die Fragilität des dichterischen Sprechens zu verstehen ist. In ­diesem Sinne stünde das Bild des von stummen Bränden geweihten Tempels für das Gedicht selbst. Eine s­ olche poetolo­gische Selbstreferenz der Motive wurde bereits mit dem Motiv der „Hand“ – als Schreibinstanz – und mit dem Motiv der „hauchbeschrieben(en)“ „Blätter“ eingeführt. Außerdem müssen wir auf die scheinbar konven­tionelle Bezeichnung des Tempels hinweisen, näm­lich dass ihn der Sprecher einen „alten Tempel“ nennt. Man lässt sich ja fragen, ob etwas anderes dem offen gehaltenen alten Tempel entgegengesetzt werden könnte als das dichterische Sprechen selbst? Das in seiner Fragilität und Gefährdung vernommene dichterische Sprechen bewegt sich ­zwischen den Extremen des Verstummens, der Sprachlosigkeit und der klas­sischen Wohlgestalt des formell-­rituellen Sprachgestus. Mit der kon­ sequent durchgeführten Ritualität des in sich zurückkehrenden formelhaften Sprechens korrespondiert die strenge Strophenform des Gedichts, die uns mit der Einrahmung der Strophen und mit der gebundenen Reimstruktur (A – BB – AA) an die Tradi­tion der Barockdichtung erinnern kann.

138

139

Der griechische Tempel

Das geklärte Wasser in den Händen, A an dem Mittag mit den weißen Brauen,

B

wird der Fluß die eigne Tiefe schauen

B

und zum letzten Mal die Dünen wenden,

A

mit geklärtem Wasser in den Händen. A Trägt der Wind aus Eukalyptushainen A Blätter hochgestrichen, hauchbeschrieben,

B

wird der Fluß die tiefren Töne lieben.

B

Festen Anschlag von den Feuersteinen

A

Trägt der Wind zu Eukalyptushainen. A Und geweiht von Licht und stummen Bränden A Hält das Meer den alten Tempel offen,

B

wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen,

B

mit geklärtem Wasser in den Händen

A

seine Weihen nimmt von stummen Bränden. A

Der Strophenbau mutet zwar in seiner Reimstruktur statisch und geschlossen an, in der Art und Weise aber, wie der Anfangsvers im Schlussvers wiederholt wird, können wir eine eigenartige Dynamik und Offenheit wahrnehmen. In der ersten Strophe scheint die leicht variierte Wiederholung – „Das geklärte Wasser in den Händen“ – bzw. „mit geklärtem Wasser in den Händen“ eher das Spielerische in der Selbstbetrachtung der Natur zu betonen. In der zweiten Strophe verhält es sich aber schon anders: Das zyk­lische Element der Wiederholung wird dynamisiert: Die kreisförmige Bewegung nimmt ihren Anfang „aus Eukalyptushainen“ und führt „zu Eukalyptushainen“, leitet somit das empedokleisch Tra­gische, Düstere in das Zyk­lische der Natur ein. Die einrahmende Wiederholung der dritten Strophe zeigt dann die erheb­lichste Abweichung: Und geweiht von Licht und stummen Bränden A Hält das Meer den alten Tempel offen,

B

wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen,

B

mit geklärtem Wasser in den Händen

A

seine Weihen nimmt von stummen Bränden. A

Die Tempel am Akragas

Zum ersten Mal wird das Satzsubjekt geändert: In den ersten zwei Versen wird vom Meer gesagt: „Und geweiht von Licht und stummen Bränden / Hält das Meer den alten Tempel offen“. Der letzte Vers bezieht sich jedoch wiederum auf den Fluss: „wenn der Fluß, bis an den Quell getroffen, / mit geklärtem Wasser in den Händen / seine Weihen nimmt von stummen Bränden“. Während zum Bild des Meeres und zur genannten Weihe des Tempels Licht und Brand gehörten, nimmt der Fluss seine Weihen nicht mehr vom Licht, sondern nur noch von „stummen Bränden“. Die in den drei Strophen jeweils anders variierten Wiederholungen erfüllen somit ihre klas­sische poetische Funk­tion: Sie stiften Einheit, aber zugleich halten sie mit ihren Varia­tionen das Sprachgefüge des Gedichts offen. Am Akragas schließt sich somit an eine dichterische Tradi­tion an, von der die Dichterin bemerkte: „Die Sprache selbst, meine ich, wäre eine Stadt, und es wachsen eben außen neue Worte dazu, und die alten Gedichte sind aus dem alten Wortmaterial gemacht, die neuen Gedichte aus altem und neuem, würde ich sagen.“ 282 Ausblick: Extreme Offenheit

Bassai. Eines Rechtecks Aufstand auf vom Berg gebildeten Stück, offen, sodaß der Himmel einfällt, der nicht einzufallen gebaut ist, sondern darüber zu stehn, stärker als Bäume, grauer als der umgebende Fels, dem er entstanden, schwerer als noch der Stein, 282 Ingeborg Bachmann: Sämt­liche Werke, Bd. 4, 4, Essays, Reden, vermischte Schriften, Mün­ chen 1984, S. 124.

140

141

Der griechische Tempel

der ein Dach trug, gibt er auf Erden dem Lykier Raum nicht, so sehr der Innenraum lastet, macht sich zu eigen, verschließt ihn, ganz verschwundener Gott. Abends am Horizont der Sonne fast gegenüber hebt sich ein Himmel von der sich immer hebenden Erde ab, auf, und diese kann atmen.

Das 1965 verfasste Gedicht von Anke Bennoldt-­Thomsen wurde von mir anderswo bereits ausführ­lich kommentiert.283 Ein Hinweis auf ­dieses Gedicht ist abschlie­ ßend von besonderer Wichtigkeit, da diese Ruinenbeschreibung von einer Erfah­ rung erzählt, die von Heideggers Ästhetik zu den Dichtern der Nachkriegszeit einen Bogen zieht. Der im Gedicht betrachtete Bau ist der Apollontempel zu Bassae, von dem Pausanias aufzeichnete, er sei dem Apollon Epikurios errichtet worden, als der Gott 429 vor Christus die Gegend von der Pest befreit haben soll.284 Im Gedicht bildet der Vers 5 einen Wendepunkt: Der Tempel ist oben „offen“, weil er – einer archäolo­gischen Hypothese zufolge – vielleicht nie überdacht war 285 oder weil er eine gegen den Himmel offen gewordene Ruine ist. Wie dem auch sei, wird

283 Eva Kocziszky: Atemwechsel. Das Gedicht ‚Geschlossne Gefahr‘ von Anke Bennholdt-­Thomsen, in: Eva Kocziszky/Jörn Lang (Hrsg.): Tiefenwärts. Archäolo­gische Imagina­tionen von Dichtern, Darmstadt 2013, S. 48 – 51. 284 Pausanias VII 38. Angeführt nach: Pausanias: Beschreibung Griechenlands. Übers. v. Ernst Meyer, Bde. I–II, Zürich – Stuttgart 1967. 285 Eine ­solche Hypothese hat sich allerdings nicht bewährt.

Die Tempel am Akragas

diese Offenheit in den Versen 6 – 10 als eine Gefährdung angesehen: Sie gibt dem Einfall des Himmels freien Raum. Dem Auf-­Auf des Rechtecks setzt sich nun die Abwärtsbewegung des Einfallens von oben entgegen, die wiederum durch die Wiederholung hervorgehoben wird: „offen, / sodaß der Himmel / einfällt, / der nicht einzufallen / gebaut ist“. Man könnte wohl hier Heideggers Beschreibung des griechischen Tempels aus dem Ursprung des Kunstwerkes sowie seine späte Philosophie des Gevierts in unsere Erinnerung rufen. Ich denke in erster Linie an Überlegungen von einem dynamischen Verhältnis z­ wischen dem Tempel, dem Temenos und der Landschaft. Das Anwesen des Gottes im Tempel bewirke „eine Ausbreitung und Ausgrenzung des Bezirkes“, schrieb Heidegger, das Tempelwerk „fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen“ die Gestalt ihres Geschickes gewinnen.286 Das Gedicht Geschlossne Gefahr gründet hingegen auf der Erkenntnis, dass der Tempel dem Gott keinen Raum bietet. Anstelle einer Ausbreitung gött­licher Gegenwart über das Heiligtum hinaus in den Bezirk registriert sie eine Einengung, ein Niederdrücken, ja sogar ein vielleicht nur scheinbar völliges Verschwinden des Auratischen. Zweieinhalb Strophen lang folgte dieser dem Aufstand des Tempels entgegengesetzte Blick dieser abwärtsgerichteten Bewegung, die im Lasten des Steins erdwärts ging. Der Gefahr erlebter Offenheit und drückender Enge wird erst in den letzten Versen eine Gegenbewegung entgegengesetzt: hebt sich ein Himmel von der sich immer hebenden Erde ab, auf, und diese kann atmen.

Die dichterische Betrachtung der Ruine folgt der Ab und Auf der Augenbewe­ gung, und führt zur Erkenntnis einer Überkreuzung, ja sogar zum Ineinander­ flechten von Oben und Unten. Sie wird mit der Metapher des Atemwechsels bezeichnet und beinahe haptisch gespürt. Somit wird das statische Aufragen des Rechtecks des Baus durch das dynamische Kursieren des betrachtenden Auges von oben nach unten und von unten nach oben gebrochen. Diese Dynamik, die ansonsten zur Eigenart der Anschauung von Ruinen gehört, führt letzten Endes

286 Heidegger, Holzwege, S. 31.

142

143

Der griechische Tempel

Abb. 28 

Der Tempel des Apollon Epikurios zu Bassai

die einander entgegenstrebenden Bewegungen in eine spannungsvolle Harmo­ nie zusammen, die in das Abwärts des Himmels und in das Aufwärts der Erde eingebunden werden.

144

Die Ägäis als poetologischer Raum bei Erich Arendt In dieser Bodenlosigkeit liegt –archaisch genug – der Grund und das Prinzip des Gedichts. (Paul Celan)287

Der photographische und der dichterische Blick Die Gedichtbände Ägäis (1967) und Feuerhalm (1973) signalisieren bekannt­lich eine markante Wende in Erich Arendts Werk. Diese dichterische Erneuerung steht zwar mit jenem allgemeinen Paradigmenwechsel der deutschsprachigen Lyrik der 60er-­Jahre in Zusammenhang, wodurch die tradi­tionelle Erlebnis- und Naturlyrik verdrängt und Konzepte der Moderne neuer­lich aktualisiert wurden,288 aber Arendts neue poetische Sprache ist zu gleicher Zeit in der Begegnung mit der als zeitlos empfundenen Natur- und Kulturwelt Griechenlands entstan­ den. Gerhard Wolf, Gregor Laschen, Ton Naijkens haben unter anderem dar­ auf hingewiesen,289 dass Arendt die Urenergien des elementar Geschauten mit der Kraft des Totalwortes, mit kühnen Metaphern, die Natur und Geschichte zusammenzwingen, vermittelt habe. Es wurde jedoch bisher kaum untersucht, wie viel die neue Intensivität und Materialität der geballten poetischen Wortsprache der archäolo­gischen Anschau­ ung verdankt, die sich der Dichter während seiner Aufenthalte in Griechenland zu eigen gemacht hat. Er hat sich eine fremde, nur in einigen Spuren sichtbare 287 Aus Celans Notizen zu seiner Meridian-­Rede (1960). In: Dieter Sulzer/Hildegard Dieke (Hrsg.): Der Georg Büchner-­Preis 1951 – 1987. Eine Dokumenta­tion, München – Zürich 1987, S. 126. Siehe außerdem: Hans-­Michael Speier: Grund und Abgrund des Gedichts. Raum als poetolo­gisches Phänomen im Werk Paul Celans. In: Irmela von der Lühe/Anita Runge (Hrsg.): Wechsel der Orte. Studien zum Wandel des literarischen Geschichtsbewusstseins. Festschrift für Anke Bennholdt-­Thomsen, Göttingen 1997, S. 51 – 66. 288 Hermann Korte: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren. In: Text und Kritik, Sonderband: Lyrik des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, 1999, S. 63 – 106. 289 Gregor Görner, Gregor Laschen im Gespräch mit Erich Arendt, Die Horen, Bd. 211, 2003, S.  5 – 12. Ton Naaijkens: Die Inseln Arendts. In: Hendrik Röder (Hrsg.): Vagant, der ich bin. Erich Arendt zum 90. Geburtstag, Berlin 1993, S. 147 – 161.

145

Die Ägäis als poetologischer Raum

Abb. 29 

Die archaische Löwenallee am Heiligen See auf Delos

Vergangenheit angeeignet, mit seiner dichterischen Archäologie die Tiefschich­ ten unserer gegenwärtigen Existenz freigelegt und somit ist er exzentrisch in sich selbst hinabgestiegen. Neben den Gedichten des Ägäiszyklus veröffent­lichte er Photoessays zu seiner Griechenlandreise, an denen auch seine Frau Katja Hayek mitwirkte. Diese Photoessays wurden bisher als der hermeneutische Kontext der Gedichte betrachtet und zur Interpreta­tion der lyrischen Texte herangezogen, ohne dabei zu bedenken, dass diese Medien durchaus unterschied­lich sind, sodass sie einander nicht unbedingt erschließen. Die Essays (Die griechische Inselwelt bzw. Säule, Kubus, Gesicht) versuchen, den Leser von den ältesten erdgeschicht­lichen Ereignissen des Archipelagus an über die jahrtausendealte ägäische Kultur bis zur griechischen Gegenwart zu führen. Aus diesen Veröffent­lichungen kann der

Der photographische und der dichterische Blick

Band Griechische Inselwelt seinen Reiz bis heute bewahren. Arendt hat es zwar sicher­lich nicht intendiert, mit diesen Photographien das Ephemere der griechi­ schen Landschaft, seiner Städte, Ruinen und Menschen bewahren zu wollen, sie zu archivieren. Trotzdem können diese Photographien im Betrachter jene Trauer um die verschwundene Zeit wecken, sie können uns auf eine ähn­liche Weise in unserer Melancholie ansprechen, wie Jacques Derrida von den Photographien von Jean-François Bonhomme in seinem Buch Bleibe, Athen es bedenkt.290 Auf die spannungsvolle, paradoxe Wechselwirkung von Poesie und Photogra­ phie reflektiert der Dichter bisweilen kritisch, ja selbstkritisch: GOETHE ZEICHNETE Alles wir knipsen in das Zerbröckeln der Säulen blickzerfaserte wir 291

Während es einem Dichter wie Goethe noch gegönnt war, alles Geschaute zeich­ nerisch ins Bild zu fassen, vermag der photographierende moderne Dichter nie ein Ganzes abzubilden, vielmehr ist es seine Eigenart, dass er die Welt noch ein Stück unübersicht­licher macht. Der Blick des modernen Dichters ist mit dem Knipsen seines Photoapparats zwangsweise verkoppelt. Sein Auge ist archäolo­gisch geschult, er weiß, dass jeder Prozess geistiger Aneignung zugleich eine Fragmentierung bedeutet. Der parti­ ellen Wahrnehmung folgend dringt der Blick mit der Kamera zersetzend in die Trümmer der Vergangenheit ein, fragmentiert die Reste noch weiter, setzt die zerstörerische Arbeit der Natur und Geschichte fort. Wie einst das Zeichnen den Dichter der deutschen Klassik kennzeichnete, so photographiert der moderne Dichter nur noch Trümmer der Trümmer: Torsi, tote, schweigende Steine. Um Arendts Kritik an ­diesem Prozess einzubeziehen: Der durch die Photographie bestimmte dichterische Blick sieht also statisch fixierte Bilder zersplitterter Objekte einer diffusen Sinneswahrnehmung. Das Auge nimmt zwar noch Objekte einer klas­sischen Bildungsreise wie Säulenreste, Statuen, Sarkophage wahr, sie 290 Siehe unten das Kapitel über Derrida. 291 Zitiert nach Grimm: Italien-­Dichtung, S. 347.

146

147

Die Ägäis als poetologischer Raum

sind aber nur noch Zeugen einer endgültig gebrochenen Tradi­tion; mit ihrer iso­ lierten, zertrümmernden Wahrnehmung kann nur noch das Verschwinden eines Tradi­tionszusammenhangs konstatiert werden. Eine ­solche Bejahung des Tradi­ tionsbruches, der in einigen Texten Arends geradezu ikonoklastisch wirkt, hat sicher­lich mit der anfäng­lichen Bindung an die Avantgarde zu tun. Obwohl er so weit nie ging, wie etwa der italienische Futurist Marinetti, der 1909 das Abrei­ ßen der Akropolis zu Athen vorschlug, ist es für Arendt kennzeichnend, dass er jene Paradoxie, dass die Worte, die eben die Spuren des Vergangenen zu sichern hätten, die scheinbare sinn­liche Präsenz der Antike zersetzen, in seiner Poetik fruchtbar machen will. Arendt ist sich dessen bewusst, dass er in Griechenland nur ein Fremder, ein Tourist mit zerfaserndem Blick sein kann. Der dichterische Blick darf also einerseits die negative Beeinflussung der Technik nicht missachten, sondern er soll sie zu seinem Vorteil wenden. Arendts Gedichte und Photoessays sind Modellbeispiele dafür, was heute Shanks eine Verwandtschaft ­zwischen der performativen Archäologie und dem Photographie­ ren nennt: Beide integrieren multiple Zeitschichten, indem sie ein Vergangenes evozieren, beide konfrontieren uns mit dem Verfall, mit einem Überbleibsel in einer zukunftsorientierten Gesellschaft.292 Das Auge des lyrischen Ichs seiner Gedichte agiert wie die Kamera auf das Fragment, auf das Detail fokussiert, es ist zersetzend tätig. Der Blick soll Arendt zufolge äußerst konzentriert, blitzartig sein: „Lichtschlag / entwimpert“.293 Oder eben umgekehrt, er ist „starrend“, er schaut zeitlos die Dinge an: „Blitzhelle, / Lichtversteint“ 294. Der Sehprozess wird bei Arendt manchmal bis ins Extreme geführt, indem das Sehen in seinen Gegenpol umschlägt: „Augenlos´ / in erste / Schrecken­ stille“ 295. Mit dem Blitzschlag des Blickes korrespondiert die eruptive Spra­ che, die vielleicht allzu häufig verwendete Form des Ausrufes, der Exklama­tion. Der Wahrnehmungsprozess wird dichterisch als ein Ereignis wiedergegeben, in dem Subjekt und Objekt nicht gespalten sind: Die äußerste Intensivierung des

292 Pearson/Shanks, Theatre/Archaeology, S. 44. 293 Erich Arendt: Starrend vor Zeit und Helle. Gedichte der Ägäis, München 1980, S. 49 (­Phaistos). 294 Arendt, Starrend, S. 46 (Delos). Man kann meinen, dass Arendt vielleicht die Hölderlin-­ Interpreta­tionen Heideggers gelesen hat, in denen der Philosoph auf den etymolo­gischen Zusammenhang von Blick und Blitz hinweist. 295 Arendt, Starrend, S. 51 (Seherblick).

Der photographische und der dichterische Blick

Wahrnehmungsprozesses bewirkt, dass der Leser in der arendtschen Lyrik die Auflösung des lyrischen Subjekts empfindet.296 Auf diese Einheit des betrachtenden Ichs mit der wahrgenommenen Realität wird immer wieder sogar programmatisch reflektiert: „Treibender Fels ich […].“ 297 Arendt versucht, die moderne dichterische Posi­tion, die er als Überwindung der lyrischen Subjektivität definiert, mit dem zeitlos Archaischen der Inselwelt in Berührung zu bringen. Die Gegenwärtigkeit des Anfäng­lichen scheint überall im modernen neugriechischen Leben hindurch, indem beide dichterischen Denk­ weisen jenseits der Subjektivität, jenseits des modernen Perspektivismus liegen. In seinen Prosatexten sprach Arendt von einer Korrespondenz ­zwischen seiner Poetik und der „Transparenz“ des ägäischen Raumes,298 worin „alle Phasen der Geschichte“ quasi archäolo­gisch „gleichzeitig“ sichtbar s­ eien.299 Die öde steinerne Landschaft der Insel forme seit Jahrtausenden das Menschenleben, forme die Worte, w ­ elche sie sichtbar machen, forme den Sprecher, der sein Wort aus dieser „schicksalsschweren Gemeinschaft“ wissend hervorbringt, wie Homer, der „blind / wie der wissende / Fels“ sang.300 Die Inselwelt der Ägäis wird archäolo­gisch auf ihre Materialität, auf den Stein und auf die reinen Elemente des Lichts, des Wassers, der Erde und der Luft reduziert. Diese fragmentierende, nicht ästhetisch auf die Form, sondern archäolo­gisch auf den materiellen Überrest fokussierte Sichtweise hat vieles der genauen Betrachtung und dem Photographieren der Ruinen zu verdanken. Der Stein der Ruinen bildet vor dem dichterischen Auge eine Einheit mit dem Felsenstein der Erde. Der Dichter lernt aus dieser Erfahrung, an der puren Materialität des Wortes festzuhalten, was seine Lyrik vom klas­sischen Schönheitskult, von der rilkeschen Ästhetisierung, ja sogar von der Mystifika­tion der Poesie eines George oder Benn eindeutig trennt. In den Gedichten Delos und Kouros nimmt der Sprecher den Stein als Chiffre für sein Wort.301 Die metaphorische Zusammenfügung von Stein und ­dichterischem 296 Naaijkens Die Inseln Arendts, S. 149, 152. 297 Arendt, Starrend, S. 61 (Schwimmend vor de­lischer Küste). 298 Arendt, ebd., S. 30. 299 Arendt, ebd., S. 157. 300 Aus dem Gedicht Stunde Homer. 301 Siehe dazu auch Nadja Lapchine: Textgenese und Interpreta­tion des Gedichts Feuerhalm. In: Françoise Lartillot/Axel Gellhaus (Hrsg.): Dokument/Monument. Textvarianz in den verschiedenen Disziplinen der europäischen Germanistik. Akten des 38. Kongresses des franzö­sischen Hochschulgermanistikverbandes (A. ­G. E. ­S.), Bern – Berlin 2008, S. 251 – 286, angeführt S. 267.

148

149

Die Ägäis als poetologischer Raum

Wort stammt von Osip Mandelstam, der seinen 1913 erschienenen Band mit dem Wort Kamen (Stein) betitelte und damit jenes Ineinander von Leben und Tod, Geschichte und Einzelschicksal, Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Erwartung vorwegnahm,302 was auch Arendts Rückgriff auf diese Metapher kenn­ zeichnet. Dem zerfasernden archäolo­gischen Blick des Sprechers der Gedichte entspricht die fragmentierte, zusammengeballte Wort-­Sprache, die Poetik des Totalwortes.303 Die Zerstörung des verbalen Zusammenhangs in der Lyrik bildet ja im futurum exactum – wie Christian Nibbrig feststellte – ein „Mimikry an die reale Zerstörung, ihre sprach­liche Spur“ 304. Neben dem Totalwort ist es vielleicht noch eher das Schweigen, das ­zwischen den zusammengeballten Worten und z­ wischen den verknappten Versen wirksam ist, die diesen Eindruck des Lesers, im Wort ein Mimykri der realen Zerstö­ rung vorzufinden, bestätigt. Die Totenstille, die Arendt als wesent­lichen Zug der Ägäis regelrecht konstatiert, ist das eigent­liche Element, in dem die Inselwelt zur Sprache wird. Diese Totenstille dringt auch in die kurzen Ein-­Wort-­Sätze ein, formt sie durch die Verknappung, durch Deixis und Ellipse, sie akzentuiert mit dem Innehalten des Atems die harten Fügungen der Verse: Glanz. Totenstille / Der Ägäis. Alle Nähe / Entgrenzt.305 Augenlos / in erste / Schreckenstille 306 Labyrinthne grab- / offene Stille.307

Den Titel des letzten Bandes (entgrenzen) einbeziehend,308 dürften wir sagen, dass das Schweigen, die Zerstörung der Sinnzusammenhänge, die mit der Leere, mit dem Hiatus durchgeführte Isolierung des Wortes die arendtsche Poetik „ent­ grenzt“: Es entgrenzt die sinn­liche Wahrnehmung, führt sie jenseits des Sichtbaren,

302 Michael Eskin: „Risse, die durch Zeiten führen“. Zu Durs Grünbeins Historien. In: Durs Grünbein: Der Misanthrop auf Capri, Frankfurt/Main 2005, Nachwort, S. 107. 303 Stefan H. ­Kaszinsky: Poetik der Schlüsselwörter im lyrischen Werk von Erich Arendt. In: Röder (Hrsg.): Vagant, der ich bin, S.  34 – 67. 304 Christiaan Hart L. ­Nibbrig: Schnitt, Riß, Fuge, Naht. Notizen zur Rela­tion von Ganzem und Teil in neueren deutschen Gedichten, in: Fragment und Totalität, S. 360. 305 Arendt, Starrend, S. 63 (Frühe. Kalymnos). 306 Arendt, ebd., S. 51 (Seherblick). 307 Arendt, ebd., S. 110 (Bronzestadt). 308 Erich Arendt: entgrenzen, Leipzig 1981.

Der photographische und der dichterische Blick

zurück in das Verborgene, in das Unbekannte, aus dem die Dinge hervortreten und zu dem auch verschüttete Zeitschichten gehören. Man kann vermuten, dass Arendt in der Poetik des „Entgrenzen(s)“ mit seinem Lieblingsdichter Rimbaud einen Dialog führt. Rimbaud, der als emblematische Figur modernen Dichter­ tums gilt, hat seine Erkenntnis, zum Dichter geboren zu sein, folgendermaßen formuliert: „Ich will ein Poet sein. […] Es geht darum, durch ein Entgrenzen aller Sinne am Ende im Unbekannten anzukommen.“ 309 Mit dieser Forderung Rimbauds kann ein wesent­licher Zug der arendtschen Poetik erhellt werden. Durch das Entgrenzen des Sehens wird das Unbekannte, das Unaufschließbare, das Unbewohnbare einer nur scheinbar transparenten Welt auf unheim­liche Weise erfahren: Das dichterische Sprechsubjekt muss somit das Zwiespältige in der Sprache selbst reflektieren. Im Prozess der archäolo­gischen Anschauung wird näm­lich einerseits die anfäng­liche Kraft der poetischen Spra­ che aktiviert, dass sie den Dingen Erscheinung, Leben, Präsenz verleiht. Um mit Walter F. ­Otto zu sprechen: „Dinge gibt es nur in der Sprache, im sprechenden Denken oder denkenden Sprechen.“ 310 Das archäolo­gische Ding steht aber ande­ rerseits exemplarisch für die Abwesenheit einer Anwesenheit, es ist das Abwesende in Vergangenheit und Zukunft schlechthin. Somit zeigt sich die Sprache – wie Rimbaud sagen würde – zugleich als eine Bedrohung. Sie versucht in die Sphäre des Unbekannten, des Verborgenen, in die Schichten der Absenz einzudringen und ist dabei gefährdet, zu scheitern. Eine Antwort auf die Sprachkrise ist zwar von Arendt explizit nie formuliert worden, er reflektiert sie aber bereits in seiner archäolo­gischen Poetik. Hellas ist außerdem in gewisser Weise als eine Gegen­ welt der damaligen DDR konstruiert. Gregor Laschen hat zutreffend festgestellt: „Da wird Landschaft­liches zum Politischen und Existentiellen aber immer aus dem Erlebnis des Geschauten, des ‚mit Schrecken Gesehenen‘.“ 311 Griechenland bildet somit einen Gegenpol zur DDR, aber nicht als Utopie, sondern als offene Stätte der ‚Wahrheit‘ ‚Geschichte‘, es ist ein Gegenbild durch seine unverhohlene Wirk­lichkeit. Im dichterischen Topographieren werden die Orte des antiken 309 Arendt war von Anfang an von Rimbauds Poetik stark beeindruckt. Rimbauds Werke erschienen 1976 auch in der DDR. ­Ich zitiere aus dieser Ausgabe: Arthur Rimbaud: Sämt­ liche Werke, Leipzig 1976, S. 394 (Brief an Georges Izambard vom Mai 1871). 310 Walter F. ­Otto: Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung für die Menschheit, Düsseldorf – Köln 1955. 311 Gregor Laschen: Der zerstückte Traum, in: Erich Arendt / Gregor Laschen / Manfred Schlösser: Der zerstückte Traum, Berlin 1978. S. 36.

150

151

Die Ägäis als poetologischer Raum

Hellas in ihrer Wirk­lichkeit neu konstruiert, sie legen vor den Augen des Betrach­ ters die tiefen Schichten der heute ideolo­gisch verzerrten Geschichte frei, ohne Illusion und auch ohne Trug und Schein. Geschichte besteht aber für Arendt immer in denselben Machtordnungen, in derselben Gewalttätigkeit, in Mord­ lust und Leid. Sein Griechenland ist also einerseits die Fremde, die mediterrane Welt, andererseits ist es aber der Ort, wo eben jene tiefere Schicht der Historie erfahren wird, die in Arendts Heimat, in der DDR, ja sogar vielleicht aus seiner Sicht im zeitgenös­sischen Deutschland überhaupt verschüttet blieb.

Kouros Erich Arendt: Kouros Elegie Distelwind, schlängelnd, und die gleitende Antwort Sand. Chiffrelos, schräg, die wandernden Stelen des Lichts. Zeitschattenblind, ein Felsmeer. Zerbrochen am pelas­gischen Himmel. Aber, unter der Hand, Meißel und – die blutet, dem Stein den Hartglanz Stille entreißt, wächst wie Blöße von

Haut und Meer

das ungesichtige Antlitz. Zeitengeduld. Nach Sternäon, ­zwischen Halm und Trauer

Kouros



152

ein Erstes: nacht-

schmale Blüte des Mundes, ein ­­Zeichen, leichter doch schwerer als Mohn als Gefels: gechlossenen Augs ein Lächeln, fast wie am höhlenden Tod vorbei:

Über uns

schwebend, im stierhäuptgen Dunkel, die Doppelaxt Mond, eisiger Zeitgang, immer noch in roten Ästen Glaslicht, die erkalteten Augen.

Hand die

blutet Unerschlossen unterm Sternlid das Untöd­liche: Doch vom Schlafrand, schwer von Dunkel und Hell die Wimper, fällt, und aus der sphärischen Muschel hinschwirrend in die Jahrtausende Qual, der Blick: Über dem Sehenden, steil die Gewitterrose des Blitzes, er sieht:

153

Die Ägäis als poetologischer Raum



Flattern wird

der enthalste Schrei – Elektras – trunken von Irr und Glanz taumelt er ab in den Bluthof. Unter den Hufen des Winds, meerwärts fliehn die Steine.

Schrei der Zikaden! Hand die

blutet Nicht hebt nicht senkt sich die Waage in seinem Blick, der

fallen sah

die Tagesmitten, unaufhör­liche Säulen, Nacht, nicht wenn im Licht du vergehst und ausgeleert die Amphore Rot vor deiner Geburt. Starr das sperberköpfige Herz: So im hypnotischen Schweigen des Meeres, über dem Abgrund der Gott. Vor dir die Stirn seines Lächelns leicht wie Tod: ein Hauch der Welle.

Kouros

Arendt bezeichnet sein Gedicht Kouros als eine „Elegie“ und weist damit auf den Ursprung dieser Gattung aus dem „Trauergesang“ und der „Totenklage“ hin. Inwiefern in Kouros in der Tat von Tod und Trauer die Rede ist, wird aber erst aus der genauen Lektüre des ganzen Textes ersicht­lich. Der Titel enthält außerdem einen archäolo­gischen Hinweis auf eine Gattung griechischer Sta­ tuen, auf die sogenannten Kouroi-­Statuen aus der archaischen Epoche antiker Plastik. Diese Jünglingsstatuen wurden von der damaligen Forschung sowohl für Weihestatuen oder Grabdenkmäler, für Idealbilder griechischer Jugend, als auch für Bilder des Gottes Apollon gehalten. Eine Titelvariante in den frü­ heren Fassungen des Gedichts hieß auch „Kouros auf Naxos“, die dann ­später wahrschein­lich wegen der allzu konkreten archäolo­gischen Referenz verwor­ fen wurde. Der Gedichttext selbst verwahrt aber auch Spuren dieser unfertig gebliebenen, aus dem Felsenstein nur teils ausgehauenen kolossalen archaischen Statue, die sich auf der Südseite der Insel Naxos, in der Nähe des Küsten­ strandes Apollonia, befindet. Die liegende männ­liche Figur, die wahrschein­ lich wegen ihrer Höhe von zehn Metern nicht aufgestellt werden konnte und deren Vollendung aufgegeben wurde, trägt in der Forschung abwechselnd den Namen „Kouros“, „Apollon“ oder„Dionysos“.312 Luca Giuliani beschreibt d ­ ieses Standbild im Unterschied zum anderen, älteren kolossalen Kouros von Naxos: „Etwas anders […] verhält es sich bei der unvollendeten, riesenhaften Statue des bekleideten bärtigen Mannes, im jüngeren naxischen Steinbruch in der Nähe der Küste. Sie stammt aus dem mittleren 6. Jahrhundert, wahrschein­lich sollte daraus ein Standbild des Dionysos werden. Das lange Gewand der ganzen Figur hat einen massiven Charakter.“ 313 Neben der aufgehobenen Konkretisierung des Objektbezugs müssen wir noch auf einen paradigmatischen lyrischen Prätext des Gedichts, auf Rilkes Archaischer Torso Apollons Bezug nehmen, mit dem Arendt einen weitgespannten kritischen Dialog führt. Arendt nimmt näm­lich sowohl zu Rilkes Antike als auch zur Poe­ tik der Neuen Gedichte eine kritische Posi­tion ein. Rilke hat während seiner Anstellung bei Rodin die Fruchtbarkeit des kon­ zentrierten Schauens für die Dichtung erkannt und seine Dinggedichte auf 312 Gisela M. ­A. Richter: Kouroi. Archaic Greek Youths. A Study of the Development of the ­Kouros Type in Greek Sculpture, London – New York 1960, S. 11. 313 Luca Giuliani: Der Koloss der Naxier. In: ders. (Hrsg.): Meisterwerke der antiken Kunst, München 2005, S. 13 – 27, angeführt S. 20.

154

155

Die Ägäis als poetologischer Raum

Abb. 30 

Die unvollendete kolossale Statue bei Apollonia auf Naxos

dieser Einsicht aufgebaut. Für Arendt erweist sich hingegen das für seine Poe­ tik genauso unerläss­liche intensive Schauen als grundsätz­lich problematisch. Zu den Paradoxien der arendtschen Sinneswahrnehmung gehören, dass das Sehen immer schon das Nicht-­Sehen, das Nicht-­Sehen-­Können, in sich ein­ schließt. Mit der Problematisierung des Sehprozesses stellt Arendt die letzten Endes doch subjektivistische Posi­tion Rilkes infrage, indem in dessen Dichtung die Präsenz des Objekts doch in der subjektiven Wahrnehmung aufgeht. Das Schauen ist für das Sprecher-­Ich der arendtschen Gedichte genauso ein Nicht-­ Sehen, wie es das Objekt kennzeichnet: „Zeitschattenblind“ ist das „Felsmeer“, das Antlitz des Kouros ist „ungesichtig“. Außerdem gewinnt Arendt zugleich eine kritische Posi­tion zu Rilkes Umgang mit dem Fragmentarischen, mit dem Torso, das genauso zum Wesen des angeschauten Kunstobjekts gehört, wie es den Kern der modernen Poetik bildet. Das Sehen selbst setzt bei ihm genauso wie bei Rilke einen Prozess des Fragmentarisierens in Gang. Es bewirkt aber nun eine zweifache Fragmentarität, zu der das Unvollendete genauso gehört wie die allmäh­liche Zerbröckelung. Der Kouros ist „zerbrochen am pelas­gischen Him­ mel“, er erscheint in seinem vergangenen und zukünftigen Eins-­Sein mit dem „Felsmeer“, indem er aus dieser Einheit zuerst prozessual auszutreten scheint, aber nur, um in sie zurückzukehren. Eine ­solche materielle Konkretisierung der

Kouros

156

Anschauung kennzeichnet die Poetik des späten Arendt, mit der er versucht, sich gegen die Ästhetisierung des Kunstwerkes einzusetzen, wozu auch seine Musealisierung gehört. Arendts Kouros steht aber auch in anderer Hinsicht im Kontrast zu Rilkes Torso: Die Statue wird weder als schön noch in ihrer erotischen Nacktheit betrachtet. In den Varianten kann man in dieser Hinsicht eine immer bewusster durchge­ führte Distanzierung erkennen, da die frühen Skizzen noch die Nacktheit der Statue klar akzentuierten: Und unter der Hand, die da fühlt und entreißt, blutend dem Stein entreißt, die leib­liche Stille, wächst, wächst mit Zeitengduld, nackten Gesichts, Nacktheit der Blöße wie Haut und Meer, aus dem Fels der Gott

heißt die zweite Strophe in der zweiten Fassung. In der Endversion wird dage­ gen die Ganzheit der aus dem Fels hervortretenden Figur zerbrochen; von ihrer Nacktheit ist auch keine Rede mehr, vielleicht auch wegen des klaren Objekt­ bezugs, da die unfertige Statue die Gottheit, wie oben erwähnt, bekleidet zeigt: Aber, unter der Hand, Meißel und – Die blutet, dem Stein Den Hartglanz Stille entreißt, wächst wie Blöße von

Haut und Meer

Das ungesichtige Antlitz.

Mit dieser Rückbesinnung auf den unvollendeten Schaffensprozess, auf das Rohe des nicht polierten Gesteins, auf das Materielle des Werkes überhaupt mit sei­ nem „ungesichtigen Antlitz“ will sich nun die dichterische Anschauung gegen die seit Winckelmann gängig gewordene Erotisierung antiker Kunst durchsetzen. Gegen das sogenannte „Gaze“ ist der dichterische Blick auch anderswo, etwa

157

Die Ägäis als poetologischer Raum

im Gedicht Fischleere See gestellt. Er will nichts mit den voyeuristischen Blicken „sekundengeil“ gemein haben, die er in den angeführten stereotypen Stimmen der Massentouristen registriert: sieh doch die rückenlinie apolls sieh doch die jünglingsliebe im tor.314

Die vom Dichter sorgfältig beobachtete Statue wird mit „blutender Hand“ gesehen, und diese nur scheinbar belebende, personifizierende Metapher deutet hier die doppelte Fragmentierung der Statue an, das Unvollendete und das Verwitterte. Eine Parallele zu Peterichs Versen bietet sich an: „Glut und Gewitter zerkarren, zerschratten / den blutig verwitterten Stein.“ 315 Somit wird der Stein keinesfalls mit neuem Leben erfüllt, es gehört sogar zur wiederkehrenden metaphorischen Sprachfigur des Textes, dass sie sich mit den Zeitschichten des Zeitlosen, das heißt mit der Zeitlosigkeit des Todes berührt. Zum Wort „Zeit“ gesellen sich kompositorisch immer wieder Worte, ­welche das Sehen, das Wahrnehmen oder teils die Wandlung, die Bewegung negieren oder einschränken: „Zeitschatten­ blind“, „Zeitengeduld“ „eisiger Zeitgang“. Das Vergehen der Zeit lässt sich nur im Bereich des Todes messen: „Chiffrelos, schräg, / die wandernden Stelen / des Lichts“. Inmitten des Felsmeers, in der zeitlosen Zeit des Todes erscheint die Statue selbst wie eine Leiche: Geschlossenen Augs ein Lächeln, fast wie am höhlenden Tod vorbei;

Der Kouros ist ein sonderbarer Leichnam, ein Schlafender, seine sorgfältige Beobachtung führt zu einer Begegnung mit dem Tod, ja mit dem eigenen Tod. Die ersten Fassungen sind mehr noch aus dem existenzialen Erlebnis dieser bestürzenden, hautnahen Konfronta­tion mit der eigenen Nichtigkeit verfasst:

314 Arendt, Starrend, S. 137. 315 Peterich: Eine Landschaft für dich, zitiert nach Gesammelte Gedichte, München 1967, S. 18.

Kouros

158



Weltenleere des Gottes,



[…] Unser



Asche und Wein sind

Ein Zuviel. Nicht hebt Nicht senkt sich die Waage Vor ihm, wenn du stirbst.

Man könnte unterschied­licher Auffassung darüber sein, ob es dem Gedicht zugutegekommen ist, dass Arendt in der Endversion aus ­diesem gleichgültigen toten Gott, der nicht einmal uns mit der Seelenwaage zu messen vermag, die Figur eines Kouros, eines Jünglings, gemacht hat. Diese Umarbeitung entsprach aber seiner Auffassung von der politischen Aufgabe der Dichtung: Der Kouros der Endversion stellt „die jahrtausende Qual“ an seinem eigenen Leib zur Schau, er ist ein Zeuge, ein Opfer und zugleich ein Täter der Geschichte. Er bleibt in dieser Hinsicht unerschlossen als eine Rätselfigur einer meuchelmörderischen Geschichte, die einige archetypische Konkre­tion mit „Elektras Schrei“ und mit dem Bluthof Mykene als mythischem Urort aller Schlachthöfe unserer Historie gewinnt. Er ist wiederum nicht der Kouros Rilkes, der mit seiner fragmenta­ rischen Schönheit den Betrachter in seinen Bann zieht, auch nicht der schöne gött­liche Leib Georges. Mit seinem Steinlid, mit den blutenden Händen seines Bearbeiters und zugleich seines eigenen Wesens, mit der „Jahrtausende Qual“ im Blick ist er figural eher von den blutrünstigen und rachsüchtigen Heroen der Griechen abzuleiten. In der letzten Strophe des Gedichts wird jedoch seine tote Gestalt ganz surreal,die Statue scheint „im Hypnotischen Schweigen / des Mee­ res“ „über dem Abgrund“ zu schweben und sich in Fels, in Wind und in Wasser vollkommen aufzulösen. Das poetische Verfahren enthebt seinen Gegenstand aller Realität, es löst ihn vollkommen in einer hypnotischen Zeit-­Raum-­Dimension auf. Dieser poetische Zeitraum der Starre und Leere erklingt nun bei Arendt nur in einem ele­gischen Trauergesang, um das Menschliche, um das es ja in der Geschichte geht, davon nicht ganz auszuschließen. Dreimal wird im Gedicht wiederholt: „Hand, die blutet“, zuerst in den Versen: Aber unter der Hand, Meißel und – die blutet, dem Stein den Hartglanz Stille entreißt

159

Die Ägäis als poetologischer Raum

Die mit dem Meißel arbeitende Hand blutet, indem sie um die Form ringt, die aus dem harten Stein hervortritt. Man denkt beim Lesen dieser Verse an Paul Valérys Prosatext Über den Adonis. Über die großen Marmorskulpturen der Antike bemerkt er: Eine ­solche Statue „lässt uns nachvollziehen, wie sie sich dem Bild­ hauer widersetzt hat, wie sie sich sträubte, aus der Nacht des kristallinen Gesteins herauszutreten. Dieser Mund, diese Arme, sie haben die Mühsal langer Tage gekostet. Ein Künstler war genötigt, tausenden [sic!] weithin hallende Schläge zu führen, um allmäh­lich die werdende Form zu ertasten.“ 316 Ein kleines Detail, näm­lich die Betonung des akustischen Moments, das im Schall des Meißels, durch den die Stille des Gesteins durchbrochen wird, könnte vielleicht darauf hinweisen, dass Arendt – ein guter Kenner franzö­sischer Lyrik – diesen Valérytext in seinem Gedächtnis hatte. Die mühsame Tätigkeit des Formens mündet aber bei Arendt in keine parnassistische Poetik: Das Werk, der K ­ ouros, ist unvollendet, seine blu­ tige Formung ist ein Akt der Gewalt, die in wahrer Kunst und Dichtung genauso waltet wie in der realen Geschichte. Das Motiv der blutenden Hand wird im Laufe des Gedichts aber noch zweimal wiederholt, in jeweils anderem Kontext: Flattern wird

Der enthalste Schrei – Elektras –



trunken von

Irr und Glanz taumelt er ab in den Bluthof. Unter den Hufen des Windes, meerwärts fliehn die Steine.

Schrei der Zikaden! Hand die

blutet.

Das Motiv der blutenden Hand weist nicht mehr auf die Anfertigung der Sta­ tue hin, es wird zitathaft wiederholt in eine geballte, momenthafte Szene aus den griechischen Tragödien übertragen. Der „enthalste Schrei“ Elektras deutet einen Mord an, wahrschein­lich die Ermordung Klytämnestras durch Orest. Es könnte den Leser wiederum an Orest erinnern, von dem gesagt wird: „taumelt 316 Paul Valéry: Über den Adonis (1920), zitiert nach: Beda Allemann (Hrsg.): Ars poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik, Darmstadt 1966, S. 92.

Kouros

160

er ab in den / Bluthof“. Der mythische Raum Mykenes – ein anfäng­licher Ort, der „Bluthof: Geschichte“ – wird hier in Erinnerung gerufen, und zwar mit dem Motiv „der Hand, die blutet“. So ließe sich folgern, dass das wiederholte Motiv der blutenden Hand hier bereits die blutige Hand der griechischen Tragödien anführt, in denen das gerechte wie das ungerechte Töten entsühnt werden soll, und zwar durch das Ritual der Reinigung der blutigen Hände. In Euripides’ Orestes, dessen Verse in Arendts Dichtung mehrmals intertextuell auftauchen, ist es der durch die Rachegöttinnen verfolgte Muttermörder Orest, den die blutbefleckten Hände kennzeichnen.317 Der Jüngling Arendts ist durch die ­gleiche Aggressivität und Gewalttätigkeit gekennzeichnet, wie der griechische Heros aus den Epen Homers und aus dem griechischen Mythos überhaupt uns vertraut ist und wie sie durch andere bedeutende Dichter der Epoche wie etwa durch Heiner Müller im Elektratext Gestalt annahmen. Neben der blutenden Hand und dem „unge­ sichtigen Antlitz“ gehört zu seinem Wesen das starre „sperberköpfige Herz“. Es weist wiederum auf die Sphäre des Aggressiven, auf das Raubvogelartige hin.318 Metaphern – wie „der enthalste Schrei“ (Elektras), „Bluthof“, „Hufen des Windes“ – evozieren Bilder, ­welche die schwebende Gestalt des archaischen Kouros, der jahrtausendelang zu träumen scheint, am Ursprungsort der Historie verorten. Dieser Arche gebührt aber noch unbestritten eine zeitlose Größe. Mag das „Felsmeer“, in dem er liegt, „zerbrochen“ sein, mag das Antlitz „ungesich­ tig“ bleiben, das Lächeln am Mund „wie am höhlenden Tod vorbei“ erscheinen, bleibt die „hypnotische“ Präsenz des kolossalen Fragments gewichtig, schicksal­ haft. Sie zeugt von einem intensiven, eruptiven Leben des Gött­lichen, das uns, seinen späten Betrachtern, längst verlustig gegangen ist:

So

Im hypnotischen Schweigen Des Meeres, über Den Abgrund der Gott. 317 Siehe Euripides: Orestes, Vers 391. 3 18 Ich stimme in dieser Hinsicht einigen Bemerkungen von Martin Peschken zu: Er fand im Gedicht weniger das heroische Beharren auf utopischen Idealen (wie es etwa vorher von Nadia Lapchine festgestellt wurde), sondern eher „die Weltenleere Gottes“. Ich würde aber noch weiter gehen und von einer düsteren Anthropologie reden, die Arendt in die Nähe Heiner Müllers rückt. Martin Peschken: Erich Arendts Ägäis. Poiesis des bildnerischen Schreibens, Berlin 2009, S. 270 ff.

161

Die Ägäis als poetologischer Raum

Das auratische Ausstrahlen der Gottesstatue wird dadurch noch gesteigert, dass die liegende Statue dem Betrachter als schwebend erscheint, als ob ihre Figur mit einer imaginierten Grenzlinie ­zwischen Meer und Himmel liege, ­zwischen zwei Abgründen, von oben und unten: Wir wissen, dass die charakteristischen Landschaften Arendts immer schon als Grenzzonen konzipiert wurden, in denen Wasser und Erde, Erde und Himmel, Realität und Imagina­tion aufeinandertref­ fen.319 Die Landschaft der Insel Naxos erhält ihre Konturen und Grenzzonen durch die Anwesenheit des Kouros. Sie wurde aber durch das tote Fragment des Gottes entgrenzt, es bleibt nicht mehr die Landschaft der Übergänge, wie Auden über Hellas schrieb: „what I see is a limestone landscape.“ In Kouros wird das Sichtbare bis zum Äußersten hinterfragt, bis es mit dem nicht mehr Sichtbaren eins wird, bis in d ­ iesem Verschmelzungsprozess die sinnbildstiftende Kraft des Poetischen sich selbst entfremdet: So ist der Gott der Mensch selbst, der in sich selbst seine eigene Abwesenheit erfährt, der sich selbst im Schweben z­ wischen Sein und Nichtsein begegnet. Delos I Blickhelle,

lichtversteint.

Wehend ein Schattenstrich, schmal. Ach, Fußbreit um Fußbreit traumleer, bis an den bröckelnden Rand, wo, anfangslos, Zeit ist: Meer Meer! und am Himmel kein Finger, der schreckt der verheißt.

319 Susanne Shipley Toliver: Exile and the Elemental in the Poetry of Erich Arendt, New York 1984, S. 88 f.

Kouros

162

Enthelmt

die töd­liche Bläue. Gestern, vorm Tag,

wie Wenden des Kopfes wie Wissen im Gelbgras die Schlange, aughäuptiges Auge, sah ich.

Im abwesenden

Lächeln

die Lippe.

II Geh, schöpf den Brunnen, trink Mondgrau, spurloser Himmel ein Wimpervergehn, du wirst den Schlüssel hinab in die Stunde nicht finden. Nike, Salzhelle der Leib, rauschend im Felswind, da das Wort schon entblättert. Fluch tragend, Glanz, der Meeresflügel zerbrach. Doch kein Stein sah den Tod. Keine Säule

163

Die Ägäis als poetologischer Raum

den Nabelschnitt. Am Ufer, händeentleert,

steht es



im Verstummen.

III Rinne zurück, Meer, entblöße … da der Flieder des Todes aufging, nachtweiß, im Aug Alkmenes! >>Freund, schließ, das dunkel ich küßte, nimm nimm den Staub auf die Zunge, Bittertrost deinem zu späten Herzen.der Schönheit / des reinen Seins < / erlag.“ 360 Aus dem Zitat lässt sich eine neuplatonische bzw. plotinische Reminis­ zenz heraushören, indem bei Plotin die Nous, d. h. der Geist in seinem reinen Sein, mit dem Schönen identifiziert ist. Die Göttin Artemis ist aber als eine „Urform 359 Man dürfte wohl fragen, ob Atabay Klossowskis literarisches Werk Le Bain de Diane gekannt habe, das nur einige Jahre früher (1956) erschien. 360 Atabay, An- und Abflüge, S. 60.

Atabays Thermopylen

des Seins“ nicht nur die „hinreißende Schönheit“, wie Walter F. ­Otto von der Göttin schrieb, sondern auch die Urform des „mordlustigen Jagens“ 361. Anders als Aktaion endet Delos. Der zauberhaften Schönheit, die das Ich ma­gisch im Banne hielt, mischt sich nun das Gefühl einer spürbaren Gefährdung, ja Bedrohung, bei. Das Wild ist „atemlos“, gehetzt“, es wird „nicht einmal, / immerzu getroffen“. Der Dichter ist zwar wie der zum Hirsch verwandelte Aktaion dem Gnadenlosen im Gött­lichen ausgeliefert, aber bloß um einen Akt der Versöhnung willen, die sich ­zwischen der Ehre des Gött­lichen und seiner poetischen Selbstkonstitu­tion voll­ zieht: Dionysos, der Gott des Rausches, erweist sich als der Lysios, der Befreier, der die Fesseln öffnet, die Lasten nimmt. Der Leser kann meinen, dass hier viel­ leicht das Traumhafte, was Yves Bonnefoy eine ma­gische Kraft nannte, ­welche die Gefahr innehabe, uns aus der Realität zu entführen, seine Grenzen überschrit­ ten hat, sodass die Wahrheit der Existenz in den Schlussversen verfehlt sei. Wie dem auch sei, diese Lyrik speist sich eben aus der Auflösung der Identität des Ichs im Prozess des diony­sischen Untertauchens in die Meerestiefen des Selbst. Die Begegnung mit der klas­sischen Antike zeigt ihr enthülltes Gesicht trotz aller Harmonisierungsversuche als das tiefste innere Bedrohtsein in der dichterischen Existenz selbst, wie man es etwa aus den Versen des Dionysos auf dem Meer hört: Taumel der Möwen und der Fluten, der Entrückten Schrei in deinem Ohr, Gesang der Fische, die an Deck verbluten, des Schiffes, das den Kurs verlor.362

361 Otto: Die Gestalt und das Sein, S. 130. 362 Atabay, An- und Abflüge, S. 62.

192

193

Die Thermopylen

Kunerts Ruinen des Überlebenden Gestern das Foto in der Zeitung: Die Höhle der Cumäischen Sibylle leer: Es gibt nichts mehr zu künden.

– lautet ein Gedicht Günter Kunerts aus dem Band Stilleben (1983), einem Autor, dem, wie Karl Riha damals feststellte, alle positiven Utopien, etwa die Hoffnung auf den ,Fortschritt‘ in der Geschichte, längst ausgetrieben waren. Nichts könnte ihm ferner stehen, als ein Gedicht über die Thermopylen zu verfassen. Kunert betrachtet die ausgegrabene Vergangenheit nicht als die entblößte Geschichte. Er misstraut ihr ebenso wie allen ideolo­gisch gesteuerten Wissensordnungen. Sein archäolo­gisches Interesse gilt einem jeden fremden Ort, der dem dichterischen Sprechen eine neue Standortbestimmung liefert. Die fremde Landschaft ist bei ihm weniger die Chiffre der abwesenden Zeit als eben die materielle Spur des Menschen selbst, der als archäolo­gisches Relikt etwa im „Schatten der Trinker“ in der Weinschenke von Pompeji auftaucht oder im aus Lava geformten „Abbild“ der „Hingestürzten“ wahrgenommen wird.363 Archäolo­gische Stätten haben Kunerts Interesse erweckt, weil sie ihre Besucher allein schon wegen ihrer Präsenz aus dem letzten Schlupfwinkel eines Paradieses hinaustreiben: Ärm­liche Trümmer fruchtlos ausgesät. Hier sprach die Stimme rechtens: „Wüst und leer“.364

363 Kunert: Pompeji I–II. ­Zitiert nach Günter Kunert: Im weiteren Fortgang, München 1974, S.  72 f. 364 Zitat aus dem Gedicht Milet, zitiert nach: Bernd Seidensticker/Antje Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike. Eine Anthologie, Freiburg 2004, S. 29.

Kunerts Ruinen des Überlebenden

Der Sprecher, ein sarkastischer Kritiker der menschlichen Zivilisa­tion,365 benutzt ein Zitat aus der Lutherbibel, „wüst und leer“, das dort für das Urchaos, das Tohuwabohu, steht und den Zustand der Welt vor ihrer Schöpfung benennt. Auf ähn­liche Weise werden hier die Ruinen der antiken Stadt Milet als eine chaotische Urwelt vor aller Ordnung angesehen. Wie wir es bereits an ande­ ren Ruinengedichten gesehen haben, konfrontiert auch ­dieses vorschöpferische Tohuwabohu der Trümmer den Betrachter mit seiner eigenen End­lichkeit: So ist die tote Stadt schlechthin, figural repräsentiert in Milet, Pompeji oder Priene, unser steinerner Stellvertreter, dem die einzige Überlebende, die Natur, nur noch gleichgültig zuschaut: Der Fels über die Ruinen geneigt wie es scheint bedroh­lich oder bloß gleichgültig gegenüber unseren steinernen Stellvertretern.366

Wie im Schlussvers des eben angeführten Gedichts Priene – „für den Anblick von Zukunft / für keinen [sic!] den wir noch kennen“ – wird die Zeitperspektive der Zukunft auch im programmatischen Gedicht Archäologie verwendet. Während die Archäologie als Wissenschaft ihre Aufgabe in der Freilegung, Bewahrung und Deutung der Überreste vergangener Zeiten sieht, besteht nun die dichte­ rische Archäologie Kunerts in der Inventarisierung von drei ausgegrabenen lite­ rarischen Funden: Von Karthago blieb ein Zitat in ausgestorbener Sprache. Von dir mein Freund aus der Traumzeit ein Unterkiefer. Von uns windigen Typen nichts Nennenswertes.367

365 Zu Kunerts Geschichtsbild siehe: Heinz-­Peter Preusser: Versuchte Modernität. Über einen völlig ungeklärten Begriff und seine rein heuristische Applika­tion auf einige Texte von Günter Kunert. In: Text und Kritik, Heft 109, Januar 1991, S. 15 – 21, sowie Elke Kasper: Zwischen Utopie und Apokalypse. Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1857 bis 1987, Tübingen 1995. 366 Priene, zitiert nach Seidensticker/Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike, S. 33. 367 Zitiert nach Seidensticker/Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike, S. 21.

194

195

Die Thermopylen

Mit einem Hinweis auf Catos viel zitierten Spruch „Ceterum censeo ­Carthaginem esse delendam“ wird hier Karthago zu einem „Zitat in ausgestorbener Sprache“ erklärt.368 Und mit ­diesem verdeckten Zitat befinden wir uns bereits auf dem Feld der literarischen Archäologie: Noch zwei weitere Zitate werden ausgegra­ ben: Der „Unterkiefer“, der von dem „Freund aus der Traumzeit“ übrig blieb, enthält vermut­lich eine Anspielung auf Johann Wolfgang Goethe, zu dessen naturwissenschaft­lichen Entdeckungen der Unterkieferknochen gehörte. Im Kontrast zum „Freund aus der Traumzeit“ bleibe aber „Von uns windigen Typen / nichts Nennenswertes“. Der kursiv gesetzte Vers ist ein Zitat aus Brechts Gedicht Vom armen B. ­B. Während aus Karthago zumindest das Diktum Catos übrig blieb, „von uns“, windigen Typen der Gegenwartsliteratur, wird „nichts Nennenswertes“ erhalten bleiben. Von Glück darf reden, wer tot ist und dort, wo ihn kein Spaten ans Licht zwingt zur Zeugenschaft elementarer Nichtigkeit.

Zu Kunerts Wut auf die Archäologie, die zumal uns selbst als steinerne Funde bloßstellt, gesellt sich ein anderer Zorn, der des Überlebenden, der einem Fund­ stück gleicht. Aus der paradoxen Identität des Überlebenden, der in den Trüm­ merstädten sich selbst begegnet, lässt sich erkennen, warum Kunert das Irra­tionale, das Befremdende, das unheim­lich Verding­lichte beim Anblick völlig verwüsteter Ruinenstädte emphatisch betont: Geheimnisvolle Städte aus dem Sand der Erde gewachsen. Was wieder auftaucht, wird

erklärt und bleibt dennoch rätselhaft. Die kühnen Anlagen noch über Schluchten oder

mit Weitsicht über das Meer, der verlorene Sinn, der abgestorbene Zweck […] Die

Welt wie sie war, trotz ihrer massiven Reste, erscheint nicht mehr glaubhaft.369

368 „Im übrigen bin ich der Ansicht, dass Karthago zerstört werden muß.“ Siehe auch den Kommentar des angeführten Bandes Seidensticker/Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike. 369 Günter Kunert: Verspätete Monologe, München 1989, S. 38.

Kunerts Ruinen des Überlebenden

Die zum nicht mehr lesbaren Zitat gewordenen antiken Städte, die völlig zer­ sprungenen Statuen griechischer Plastik unterstellen uns, ihren Betrachtern, dass wir die Stimme der Steine zu vernehmen vermögen. Die Stimme der Steine, synonym für alles Gegenständ­liche und Ding­liche, spricht derart eindring­lich, dass ein Dichter sie nur auf die Gefahr hin unterdrücken kann, dass mit seinem allgemeinen utilitaristischen Schweigen an seiner statt nun die Steine selbst schreien werden.370 Dieser Schrei fordert uns heraus, über Sinn- und Sinnlosig­ keit der Geschichte und somit unsere Existenz nachzudenken. Ihre Präsenz ist eine einzige Nega­tion unserer selbst: „Nichts Nennenswertes“. Die Betrachtung von Monumenten der Verwüstung ist aber, wie oben bemerkt, zugleich „lustvoll“. Die Lust an den Ruinen haben Rose Macaulay oder Henry James eine Wollust genannt, die leicht pervers werden kann. In der simultanen Zeit Kunerts, in der Antike mit moderner Geschichte verschmilzt, ist es aber die mit frivoler Lust verkoppelte Trauerarbeit des Subjekts. Es ist der Epikureismus des Überlebenden, dessen Trauer um die Verwüstung sich mit der Freude mischt, die Katastrophe überlebt zu haben. Der Sprecher des kunertschen Ruinen­gedichts ist dieser selbst zur Ruine gewordene Überlebende, eine Figur, die man aus Erich Frieds Dichtung oder aus Elias Canettis Masse und Macht kennt. Fried bezeich­ net die Überlebenskunst „Wendigkeit“: Wunder der Wendigkeit: Manche bringen es fertig Zu wimmeln als Maden Auf ihrem eigenen Aas.371

Elias Canetti fügt in seinem monumentalen Essay Masse und Macht hinzu: Man überlebt immer auf Kosten der Toten. Der Überlebende ist immer auf der Seite der jeweiligen Sieger, sagt der Holocaust-­Ü berlebende Kunert, der dann noch Jahrzehnte lang eine totalitäre Diktatur überlebt hat. Er weiß wohl, wovon Canetti sprach, wenn er das Überleben „eine mora­lische Quadratur des Zirkels“ 372 nannte. 370 Günter Kunert: Warum schreiben. Notizen zur Literatur, Berlin – Weimar 1976, S. 227. 371 Erich Fried: Gesammelte Werke, hrsg. v. Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach, Ber­ lin 2006, Bd. 1, Gedichte, S. 336. 372 Elias Canetti: Die Provinz des Menschen. In: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Aufzeichnungen 1942 – 1985, München 1993, S. 200. Siehe außerdem: Peter Friedrich: Tod und Überleben.

196

197

Die Thermopylen

Der Überlebende der kunertschen Gedichte ist nur noch eine Ruine, seine Exis­ tenz wird im Prozess der Versteinerung gesehen: Wie überleben, wenn nicht als Stein? Wir werden täg­lich überrollt und gleich vergessen. Vergeb­lichkeit heißt unser Schmerz. Indessen Wir Stück für Stück verkaufen unser Sein.373

Im Gedicht Selbstfindung beschreibt sich das Ich archäolo­gisch im Bild einer antiken Ruine: Um Jahrtausende gealtert Auf einmal über Nacht: Meine kannelierten Beine Vom Deckbett halb überwuchert Vermitteln mir nur noch Archäolo­gische Eindrücke.374

Der Prozess der „Selbstfindung“ wird mit Versteinerung und Ruinierung gleich­ gesetzt, die zu den Grundmotiven der kunertschen Dichtung gehören und eine Selbstentfremdung signalisieren, die einen schärferen und genaueren Blick ermög­ licht. In der Schlusssentenz wird dieser Prozess der Versteinerung als das Los des Überlebenden – egal ob vor oder hinter dem „eisernen Vorhang“ – spruchartig zusammengefasst: „früh versteint / wer irgend etwas / überleben will“. Das lyrische Ich der Ruinengedichte Kunerts ist dieser Überlebende. Aus der Perspektive des Überlebenden sind wir selbst die Ruinen der Geschichte, stei­ nerne Überbleibsel, die von den jeweiligen Siegern enteignet werden. Am besten sollten diese Ruinen einfach abgerissen werden. Nach seiner Übersiedelung in Elias Canettis poetische Anti-­Thanatologie. In: Susanne Lüdemann: Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaft­liche Analysen zum Werk Elias Canettis, Freiburg i. Br. – Ber­ lin – Wien 2008, S. 215 – 246, hingewiesen auf S. 219. 373 Alltagsexistenz, zitiert nach: Günter Kunert: Berlin beizeiten, München 1987, S. 110. 374 Günter Kunert: Abtötungsverfahren, München – Wien 1980, S. 80 sowie Seidensticker/ Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike, S. 34. Die Herausgeber ­dieses Bandes legen ­dieses Gedicht als eine Reflexion der Übersiedlung aus, was meines Erachtens das ethische Dilemma des Überlebens verschleiert.

Kunerts Ruinen des Überlebenden

die Bundesrepublik (1979) hat Kunert ganz entschieden auf ethische Rechtferti­ gung verzichtet. Kunerts archäolo­gische Gedichte erzielen zugleich eine dichte­ rische Dekonstruk­tion der rilkeschen Poetik, wie sie mit nachhaltiger Wirkung in Archaischer Torso Apollons Gestalt annimmt. In Fortgesetzt Rilke demontiert, ja zertrümmert Kunert die poetisch nachgebildete Apollonstatue: Bloß Brocken blieben. Kristalline Splitter. Ein weggefegter bleicher Marmorrest. Unrettbar Schutt. Der Anblick bitter Dessen was sich nicht entsetzen lässt. Verwandelt in Erinnern durch Gewalt Vollkommenheit. Noch eben jeder Zoll Ein Beispiel unnachahm­licher Gestalt Und nun zersprungen: der archaische Apoll.375

Die zum „unrettbaren Schutt“ deklarierte Statue des Gottes ist ein unerbitt­liches Abrechnen mit einer Utopie: mit dem humanistischen Menschenbild genauso wie mit dem auf ihm aufgebauten kollektiven und individuellen Selbstbildnis. Aus der Statue des Gottes, die das Auge des modernen Dichters eben in ihrer Fragmentiertheit als vollkommen sah, sind nur noch „Brocken“, „kristalline Splitter“ erhalten geblieben. „Unrettbarer Schutt“ sei auch aus jener Botschaft geworden, w ­ elche die Statue ihrem Betrachter zusagte: „Du mußt dein Leben ändern“. Kunerts Verse nehmen zugleich jene Poetik zurück, die im Sonett ­Rilkes formuliert war, sie zersetzen sie, und der Schlussvers pointiert ironisch die kul­ turelle Demontage bis zur „Archaik“ zurück: Und nun zersprungen: der archaische Apoll.

375 Zitiert nach Seidensticker/Wessels (Hrsg.): Kunerts Antike, S. 87.

198

199

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen in Jacques Derridas Bleibe, Athen Hier, wo die Frau mit dem Kriegshelm regiert, wo Haarspalten als höchster Zeitvertreib gilt, ist Sterb­lichkeit das Geschrei eines tra­gischen Dichters, ein Rhythmus aus Silben wie ai ai, ai … (Durs Grünbein: Ankunft in Athen)376

Die Ruine Athen Im Juli 1996 hat Jacques Derrida mit den Photographien von Jean-­François Bonhomme im Gepäck die Stadt Athen aufgesucht. Die Photographien des Freundes gingen auf die 50er- bis 70er-­Jahre zurück, wie es nicht nur das Alter der Stadtbilder, sondern auch seine anderen Veröffent­lichungen bezeugen.377 Mit diesen 20 bis zu 50 Jahre alten Photographien durchquerte Derrida die Stadt und schrieb einen Begleittext, der in der ersten franzö­sisch-­griechischen Aus­ gabe noch den Titel trug: Athènes à l’Ombre de l’ Acropole – Athen im Schatten der Akropolis (1996). Diese erste Titelversion – neben dem Hinweis auf die photo­ graphische „Magie“ von Licht und Schatten – wies noch einigermaßen auf die Präsenz antiker Vergangenheit der Stadt hin, obwohl Derridas Text – wie es zu erwarten ist – keinesfalls intendiert, einen präzisen archäolo­gischen Blick auf die Überreste zu werfen. Der spätere deutsche Titel Bleibe, Athen 378 weckt s­ olche Erwartungen nicht: Er besteht aus einem Sprachgestus des Trauernden, mit dem der Sprecher das Verschwindende aufhalten oder zumindest seine Auflösung verzögern will. Die Sprachgebärde vermag eine lange Tradi­tion in Erinnerung zu rufen, die – etwa von Hölderlin bis Heidegger – dichterisch und denkerisch mit dieser Stadt stark verbunden war und durch eine Wehmut gekennzeichnet ist. Es ist nachgewiesen worden, dass das Verb „bleiben“ in Hölderlins Dichtung, 376 Grünbein, Der Misanthrop, S. 62. 377 Siehe die anderen Veröffent­lichungen wie etwa: Jean-­François Bonhomme/Clément Lepidis: Sur les pas du Colosse de Maroussi. Lettre à Henry Miller. Photographies Jean-­François Bonhomme, Paris 1989 sowie Jean-­François Bonhomme: Lettres du Mont Athos, Paris 1994. 378 Jacques Derrida: Bleibe, Athen. Aus dem Franzö­sischen von Markus Sedlaczek, Wien 2010.

Die Ruine Athen

die durch die Trauer um das verschwundene antike Griechenland so sehr geprägt ist, am häufigsten vorkommt.379 Eine ­solche Trauer, die zum Optativ des Bleibens gehört, kann man auch in der Grundstimmung des Textes von Derrida nach­ spüren, da sich der Autor des Buches als ein Schreiber von Epitaphien versteht und somit eine Beziehung zu einem Abwesenden herstellt, zu einem Zeitmo­ ment, der nicht mehr ist.380 Zur Trauer, mit der man die Trennung von dem Verstorbenen, hier konkret von der verschwundenen Stadt, hinnimmt, gehört aber auch bei Derrida ein melancho­lischer Sprachgestus des Grübelnden; der Melancholiker ist näm­lich Derrida zufolge (aber auch bei Walter Benjamin und Michel Foucault) ein Grübler besonderer Art, der über Zeichen ­­ nachsinnt, dem die Instabilität des Entzifferungsprozesses eine Grunderfahrung ist, also das, was Derrida die Differenz nannte.381 Im komplexen Textgewebe Derridas wird es spielerisch in der Schwebe gehal­ ten, wer das sprechende Subjekt eines solchen Optativs/Imperativs sei, wer sagt: Bleibe, Athen. Ist es die Stimme des Photographen oder die des Autors, oder sagen es die Bilder selbst? Und w ­ elche Stadt, welches Athen wird hier angesprochen? Handelt es sich um die Stadt des Sokrates, um die Heimat der Philosophie? Oder handelt es sich um die sichtbar gewordene Stadt, die man auf den Photogra­ phien noch sehen kann, obwohl sie nicht mehr existiert? Vielleicht keine andere Stadt Europas bezeugt so dramatisch, so elementar das sich wiederholende Ver­ schwinden und somit die Diskontinuität der Geschichte wie eben Athen. Nicht nur sind seit Sokrates’ Tod mehrere Athens gestorben, sondern auch die Stadt, die von Derrida gerade durchquert wird, kann im bestimmten Sinne bereits als abwesend gelten, da der Blick auf sie – dem photographischen Blick gleich – im nächsten Moment bereits zur Erinnerung an ein Vergangenes wird. Vom Optativ oder sogar Imperativ des Verbs „Bleibe, Athen“ kann man mit einer Assozia­tion zum Substantiv „Bleibe“ gelangen. Eine Bleibe ist ein Raum, 379 Bernhard Böschenstein: Hölderlins Gedicht „Am Quell der Donau“ – Versuch einer Lektüre. In: Christoph Jamme/Anja Lemke (Hrsg.): „Es bleibet aber eine Spur/Doch eines Wortes“. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins, München 2004, S. 67 – 76. 380 Man kann zum Begriff der Trauer bei Derrida sicher­lich eine lange Liste von Referenzen hinzufügen. Ich nehme hier auf einige Passagen aus seinem Essay Gewalt und Metaphysik Bezug. Siehe: Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1997, S. 188. 381 Siehe dazu: Martina Wagner-­Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Texinterpreta­tion, Stuttgart – Weimar 1997, S. 159 f.; Isabelle Gunterann: Mysterium Melancholie. Studien zum Spätwerk Innokentij Annenshijs, Wien 2001, S. 136 f.

200 201

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

in dem man vorübergehend bleiben, unterkommen, wohnen kann. Ist die photo­ graphierte Stadt Athen, die in ihrem Verschwinden angefordert wird, zu bleiben, auch eine Bleibe? Vermag die Photographie, einer verschwindenden Stadt eine Bleibe zu gewähren? Ist die Photographie das Medium, das dieser Stadt ein Blei­ ben gewährt? Zum Zweck der archäolo­gischen Photographie gehörte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorstellung, dass eine auf der Photographie abgebildete Ruine zwar durch die Abbildung nicht wiederhergestellt sein könne, aber ihre photographische Fixierung sie doch vor weiterem Verfall und vor dem Verschwin­ den bewahren solle. Sie sei archiviert und damit ein für alle Mal dem Gedächtnis bereitgestellt. Würde man Bonhommes Photographien für die Geschichte der Stadt Athen einen ähn­lichen dokumentarischen Wert zuerkennen, findet sich in Derridas Text jedoch keine Spur von einem solchen Interesse. Der derridasche Imperativ ist also untrennbar von der Frage: Was sind diese Photographien, auf denen Bilder der Stadt gezeigt sind? Es wird als ein spezifisches Merkmal der Photographie angesehen, dass die Dinge, die man auf der Photographie sieht, im Moment des Auslösers vor dem Objektiv wirk­lich da waren.382 Die Photographie zwingt uns, über eine nicht zu leugnende, ja sogar banale Referenz nachzudenken, die die Photographie uns angeb­lich vortäuscht. In unserem Kontext ist es weniger von Bedeutung, wie sich die Theoretiker der photographischen Referenzialität zu Derridas Buch stellten.383 Einen Rea­ litätsbezug setzt näm­lich Derrida voraus, obschon er betont, dass die Photogra­ phien genauso wenig einfache Abbilder der Realität sind, wie für Heidegger das Gemälde nicht durch die Abbildungsqualität als Kunstwerk zu bezeichnen war. Die Präsenz des auf der Photographie Abgebildeten ist nur das ­­Zeichen oder die Spur einer Abwesenheit, weil all das, was auf der Photographie zu sehen ist, nicht mehr existiert. Die Photographie erstellt ein technisch produziertes und fixier­ tes „So-­ist-­es-­gewesen“.384 Durch die klas­sische, nichtdigitale photographische 382 Roland Barthes: Die helle Kammer, Frankfurt/Main 1985, S. 86. 383 Die Frage nach der indexika­lischen Referenz der Photographie spielt in der Kontroverse um Barthes Theorie eine zentrale Rolle, die uns aber hier nicht beschäftigt. Siehe z. B.: Lars Blunck (Hrsg.): Die photographische Wirk­lichkeit. Inszenierung  – Fik­tion  – Wirk­lichkeit, Bielefeld 2010. 384 Barthes, Die helle Kammer, S. 87. Über Derridas Verhältnis zur Theorie der Photographie siehe außerdem: Thomas Rösch: Kunst und Dekonstruk­tion. Serielle Ästhetik in den Texten von Jacques Derrida, Wien 2008, insbesondere S. 210 ff.

Die Ruine Athen

Technik bedingt ist jene zeit­liche Kluft, die den Moment der Aufnahme vom Anschauen der Photographie trennt. Auf dieser technischen Eigenart beruht die eigentüm­liche Wirkung der Photographie, die – wie Roland Barthes sagt – nicht das Bewusstsein des Daseins, sondern des Dagewesenseins erzeugt.385 „Wirkt nicht jede Photographie – fragt nun Derrida – indem sie bewahren muss, was sie verliert, näm­lich das Verschwundene,[…] mittels der unwidersteh­lichen Singulari­ tät ihres Referenten, ihres Hier-­und-­Jetzt, Ihres Datums?“ 386 Die Photographie bewahrt folg­lich auf paradoxe Weise eben das, was sie verliert, sie ist – wie nicht nur Derrida, sondern auch einige Theoretiker der Photographie in den 90er-­ Jahren sagten – die Spur einer Abwesenheit.387 Die Photographie erschließt diese Abwesenheit, in der die während des Spa­ zierganges bereits im Schwinden begriffene Stadt erst zur Erscheinung kommen kann. In ihrer vermeint­lich unmittelbaren Präsenz vermag sie sich nie zu zeigen, sondern nur geschicht­lich, in ihrem Verhältnis zu ihrer eigenen Abwesenheit. Was für Heidegger Hölderlins Dichtung als mediales Reflexionsmedium war, das eine Annäherung an Griechenland überhaupt erst ermög­lichte, ist für Derrida in erster Linie die Photographie. Diese ansonsten eher verhüllte Verbindung zu Heidegger deutet Derrida an, indem er einige ironisch-­kritische Noten zu ­Heideggers Griechenlandreise und zu dessen ablehnender Haltung gegenüber der Photographie hinzufügt.388 Sollte die Photographie die Gegenwärtigkeit eines Abwesenden, ja eines Ver­ gangenen, zeigen, ließe sie sich durch ihre paradoxe Zeit­lichkeit, durch die sicht­ bare Präsenz des Vergangenen mit der Erscheinung der Ruinen vergleichen. All das, was trügerisch als eine Jetztzeit erscheint, erweist sich als eine Komposi­tion diverser Zeiten. In d ­ iesem Sinne könnten wir zugespitzt sagen, dass in Derridas 385 Barthes, ebd. 386 Derrida, Athen, S. 13. 387 Derridas Gedankengang scheint somit einen Dialog mit zeitgenös­sischen Theorien wie denen von Jean Baudrillard und Philippe Dubois zu führen. Siehe: Jean Baudrillard: Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität bzw. Philippe Dubois: Die Fotografie als Spur eines Wirk­lichen, beide in: Bernd Stiegler (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 50 – 58 und 102 – 114. 388 Heidegger äußerte sich sehr kritisch über die touristischen Schnappschüsse, so auch in seiner Aufzeichnung über den Besuch der Akropolis: „Der kaum erlangte Aufenthalt wurde durch das Veranstalten von Besichtigungen abgelöst. Diese selbst wurden durch das Funk­tionieren der Photo- und Filmapparate ersetzt.“ Martin Heidegger: Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, GA Bd. 75, Frankfurt/Main 2000, S. 237 (Erstveröffent­lichung 1986).

202 203

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Auffassung die Photographien von Bonhomme genauso eine Art Ruine s­ eien wie sein eigener Text. Es verhält sich näm­lich auch mit den Ruinen nicht anders, da sie eine Abwe­ senheit, ein Vergangenes sichtbar machen.389 Sie erwecken den Anschein, eine Zeit erscheinen zu lassen, die es nicht mehr gibt. Ihre raum-­zeit­liche Erschei­ nungsform ist auf ähn­liche Weise paradox wie bei der Photographie: Sie zeigt räum­liche Präsenz bei zeit­licher Vergangenheit. Somit lässt sich fragen: Sind die photographierten Ruinen nicht eben Verdoppelungen des Paradoxons, dass sie die Spur des Abwesenden wiederum nur noch als eine Spur des Abwesenden zeigen, dass sie zwei Abwesenheiten aufeinander beziehen? Sie bezeugen, was man seit Marcel Proust verlorengegangene Zeit nennt. In zwei Schriften in zeit­licher Nähe zum Athenessay (1990) hat sich Derrida mit dem Phänomen der Ruine beschäftigt. In der Schrift über die Gesetzeskraft taucht die Ruine im Kontext einer Notiz Walter Benjamins über die Endlösung auf: Die Ruine ist in meinen Augen nichts Negatives, kein negativer Gegenstand. Zunächst einmal ist sie offensicht­lich kein Gegenstand, kein Ding. Ich würde gerne (vielleicht

mit Benjamin oder im Gefolge Benjamins, vielleicht aber auch gegen ihn) eine kurze

Abhandlung über die Liebe zu den Ruinen, über die Ruinenliebe abfassen. Was kann

man denn sonst lieben? Man kann ein Denkmal, eine Bauart, eine Institu­tion nur in dem Maße lieben, indem man die prekäre Erfahrung ihrer Zerbrech­lichkeit macht: Sie

sind nicht immer da gewesen, sie werden auch nicht immer da sein, sie sind end­lich.

Als Sterb­licher liebe ich sie genau deshalb, ich liebe ihr Sterb­liches, ich liebe sie – sterb­ lich, end­lich, durch ihre Geburt und ihren Tod hindurch, durch das Gespenst oder den

schattenhaften Umriß ihrer, meiner Ruine, die sie schon sind oder schon andeuten.390

Die „prekäre Erfahrung“ der Zerbrech­lichkeit der Ruinen, ihre End­lichkeit, die sie mit uns selbst teilen, wird in einem ­später geschriebenen Essay, in den Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen 391, auf das Selbst­ porträt übertragen: 389 Settis, Die Zukunft, S.75. 390 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt/Main 1991, S.  92 f. 391 Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hrsg. v. Michel Wetzel, München 1997.

Die Ruine Athen

Von daher die Liebe zu den Ruinen, und die Tatsache, daß der Schautrieb, der eigent­ liche Voyeurismus, nach der ursprüng­lichen Ruine Ausschau hält. Narzißtische Melan­ cholie, in Trauer gehülltes Gedächtnis der Liebe selbst. Wie etwas anderes lieben als die Mög­lichkeit der Ruine? Etwas anderes als die unmög­liche Ganzheit? […] Die

Ruine ist die Erfahrung selbst: weder das aufgegebene, aber immer noch monumentale

Fragment einer Totalität, noch bloß, wie Benjamin meinte, ein Thema der Barockkul­ tur. Sie ist kein Thema, da sie vielmehr das Thema, die Setzung, die Präsenta­tion und die Repräsenta­tion ruiniert. Eher ist die Ruine d ­ ieses Gedächtnis, das offen steht wie das Auge […].392

Die Auseinandersetzung mit Benjamins Denkbild der Ruine fängt hier mit der Behauptung an, dass die Ruine kein Thema einer Kulturanalyse sei, sie ist vielmehr der Prozess, in dem die Repräsenta­tion selbst ruiniert wird. Diese Idee Derridas wird erst in der eben untersuchten Schrift Bleibe, Athen ausgeführt und zu einem Konzept der photographierten Ruinen zusammengefügt. Die Aufzeichnungen eines Blinden haben aber bereits ein wesent­liches Kennzeichen der Ästhetik der Ruinen überhaupt vorweggenommen, dass sie näm­lich Sichtbarkeiten des Unsichtbaren sind: „Die Ruine läßt Sie etwas sehen, weil sie Ihnen nichts vom Ganzen zeigt, und um Ihnen nichts vom Ganzen zu zeigen. Die Ganzheit oder Totalität wird sofort geöffnet, durchbohrt, durchlöchert: Maske jenes unmög­lichen Selbstpor­ träts, dessen Signierender sich seinen eigenen Augen verschwinden sieht, je mehr er verzweifelt sieht, sich darin wieder zu erlangen.“ 393 Mit einem Hinweis auf Charles Baudelaires Bemerkung, nach der die Wahr­ nehmung im nächsten Moment bereits Erinnerung sei, fasst Derrida nicht nur die Photographie, sondern auch die zeichnerische Darstellung so auf, dass sie weniger auf Wahrnehmung als auf Erinnerung beruht. Sogar der nach Modell arbeitende Künstler lehne sich mehr an seine Erinnerung als an seine Wahr­ nehmung an, führt Derrida den Gedanken weiter. So sei es der Legende nach bereits bei der Ausführung des ersten Porträts gewesen, als das korinthische Mädchen Dibutades, die Erfinderin der Malerei, die Umrisse des Schattens ihres Geliebten, ohne ihn selbst sehen zu müssen, an der Wand nachzeichnete.394

392 Derrida, ebd., S. 72. 393 Ebd. 394 Derrida, ebd., S. 54.

204 205

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Abb. 34 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Frau vor einem Ruinengemälde

Auch hier führe das Licht die Regie, an die Stelle der zeichnenden Hand sei aber die Kamera getreten.395 Aus dem Mythos von der Entstehung der Porträtmalerei können also einige Momente auch auf die technische Herstellung der Photographie übertragen werden. Wegen der zeit­lichen Distanz ­zwischen dem Aufnehmen und dem Anschauen der Photographie hängt die Wirkung d ­ ieses Mediums weit weniger 395 Den Vergleich ­zwischen der Genese der Malerei und der Photographie nahm u. a. auch Hans Belting auf. Hans Belting: Bild-­Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 184.

Die Ruine Athen

mit der Wahrnehmung als mit der Erinnerung zusammen. Die Photographie bildet eine Zeit, einen Augenblick ab, die es nicht mehr gibt. So ist das Ansehen der Photographie ein Erinnerungsakt, das Zurückdenken an eine verschwun­ dene Zeit. Susan Sontag nannte die Photographie eben deshalb den Schatten des scheinbar Wirk­lichen, der in Platons Höhle geboren wurde.396 Die Ruine ist ein Zeitbild, sie zeigt die Präsenz einer nicht mehr existierenden Zeit. Was man an ihrem Fragment sieht, ist nicht ein Teil eines verlorenen Gan­ zen, sondern die unmög­liche Ganzheit selbst, die Erfahrung des Ruinierens, die Erfahrung der Zeit schlechthin, ohne dass diese dadurch jemals begreifbar oder verstehbar würde. Derrida rückt die gemalten und photographierten Ruinen in ein ganz enges Verhältnis zueinander: Das Bild 25 mit dem Gemälde einer Ruine, das sich eine Frau in der Abwesenheit des Malers ansieht, und Bild 11, auf dem weitere Photographien des Parthenons zu sehen sind, korrespondieren miteinander, um die Darstellung zu „verabgründigen“.397 Sie sind „Skiagraphien“ des Dagewesenen. Athen erscheint in der photographischen Durchquerung als eine mehrmals gestorbene Stadt, die sich in jeder Jetztzeit im Verschwinden befindet. Die Stadt ist auf den Photographien von Bonhomme in ihren Ruinen gezeigt, wenn „Ruine“ genannt wird, was seine Funk­tion verloren hat oder eben jetzt verliert und somit zum Verschwinden verurteilt ist. „Drei ‚Gegenwärtigkeiten‘ des Verschwindens“ werden von Derrida hervorgehoben: das antike Athen mit seinen archäolo­gischen Denkmälern, das moderne Athen, das Bonhomme noch photographieren konnte, das es aber seitdem nicht mehr gibt, und das Athen, dem Derrida begegnet, das aber morgen nicht mehr existieren wird: „Drei Tode, drei Instanzen, drei Zeit­ lichkeiten des Todes im Blick der / im Hinblick auf die Photographie“.398 Derrida greift hier auf jene begriff­liche Bestimmung der „Ruine“ zurück, nach der ein verfallener Bau erst dann als eine Ruine bezeichnet werden kann, wenn er seine Funk­tion verloren hat. Was sind also die „Ruinen Athens“? Alles, was dort keine Funk­tion mehr hat. Die Stadt von gestern, die nur noch im Archiv des Gedächtnisses aufbewahrt werden kann:

396 Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt/Main 1978, hier zitiert nach: Stiegler, Texte zur Theorie der Fotografie, S. 277 f. Zu Derridas Lektüre der Dibutades-­Geschichte siehe auch: Sonja Neef: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Berlin 2008, S. 56 f. 397 Derrida, Athen, S. 45. 398 Derrida, Athen, S. 32.

206 207

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Abb. 35 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Photograph und verstümmelte Statue

Wer ist das, der Tod? Die Frage kann sich bei dieser photographischen Durchque­ rung Athens auf Schritt und Tritt stellen, nicht nur an den Friedhöfen, angesichts der

Haufen oder Alleen von Grabsteinen, der Grabstelen, der Säulen und der Kreuze, der

archäolo­gischen Stätten, der enthaupteten Statuen, der Tempelruinen, der Kapellen, der Antiquitätenhändler auf dem Flohmarkt, […].399

Angesichts der Ruinen der Stadt, angesichts der Trümmer, den Vestigia des Todes, angesichts all dessen, was in dieser Stadt seine Funk­tion verlor und dem Tode geweiht ist, gebührt der Gestus der Trauer: (Die) Trauer um das antike, archäolo­gische oder mytholo­gische Athen, zweifellos (die)

Trauer um das verschwundene Athen, das den Körper seiner Ruine zeigt; aber auch (die)

Trauer um das Athen, von dem er, während er es photographiert, in der Gegenwart sei­ ner Momentaufnahmen, weiß, dass es bereits dazu verurteilt ist, dahinzuschwinden.400

399 Derrida, Athen, S. 17 f. 400 Derrida, Athen, S. 32.

Die Photographie und die Schrift

Die Photographien Athens sind nichts anderes als: „Seine Ruine, sein sprechendes Archiv, auf ­diesem Marktplatz, in ­diesem Café, mit dieser Drehorgel, das beste Gedächtnis dieser Kultur, das sind die Photographien.“ 401

Die Photographie und die Schrift Das Wort „Photographie“ kann mit einer spielerischen Etymologie als „Licht­ schrift“ übersetzt werden. Der Name verweist bekannt­lich auf die Entstehung des Abbildes auf dem Film durch die Einwirkung des Lichtes bzw. die Sonne selbst, die von Athen genauso wenig wegzudenken ist wie seine Ruinen, und Derrida kann auch nicht umhin, dem Kult der griechischen Sonne, der schon – worauf wir bereits hingewiesen haben – mit Winckelmann und Hegel begann, einen letzten Nachklang zu geben. Trotz seiner Kindheit in Algerien, die einen Reichtum an der Erfahrung des Lichtes besaß, bekennt er, nie eine so einzigartige Qualität des Lichtes jemals erlebt zu haben. Er betrachtet jedoch d ­ ieses Licht auch in seiner End­lichkeit, indem er es mit dem photographischen Augenblick in Verbindung setzt. Er nennt das Wort „Photographie“ das griechischste überhaupt und den in Athen tätigen Photographen einen „Heliographen“. Der Photograph betreibe dort – wiederum in Anspielung auf die Entstehung der Zeichenkunst – seine Kunst in der seriellen „Skiagraphie“, die sich eben durch die Technik, durch die Serialität des Technischen von ihrem Vorgänger (der Zeichnung) unterscheide, in Anschließung an ­dieses fundamentale ästhetische Projekt der Moderne, das griechische Licht mit dem Medium der Photographie sichtbar zu machen. Athen ist in d ­ iesem Sinne nicht nur die Stadt der prallen Sonne, sondern auch die Geburtsstadt der Techné, oder wie Derrida genauer sagt, der Ort der Erfindung der Serialisierung der Kunst, zu der auch die Photographie gehört. Seriell ist die Kunst der Photographie bereits durch ihre Herstellung: Von einem einzigen Negativ lässt sich eine beliebige Zahl von Abzügen anfertigen. Sie ist aber auch in der Hinsicht seriell, dass sich die Photographie nie als Einzelstück deuten lässt, sie muss eine Sequenz bilden. Diese Spannung ­zwischen der Einzigartigkeit der Photographie, die einen einmaligen Moment abbildet, und der Serialität ihres technischen Wesens wird

401 Derrida, Athen, S. 18.

208 209

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

auf die Eigenart des derridaschen „Parergon“ übertragen, das unter dem Doppel­ aspekt des Aphoristischen und des Seriellen definiert wird, indem der Autor eine Serie von Aphorismen schreibt. Das Parergon begleitet wie „Blickpunkte“ und „Perspektiven“ die Photographien von Bonhomme, ohne sie beschreiben zu wol­ len.402 Im engeren Sinne könnte der Text als eine Tagebuchaufzeichnung gelten, die aber nur in Anfang und Ende eine Erzählung und somit eine Sukzessivität fingiert. Die mit römischen Ziffern nummerierten zwanzig Texte werden „C­lichés“ genannt. Das Wort C­liché ist der Fachausdruck für das photographische Nega­ tiv, von dem der Photograph eine Serie von Abzügen generieren kann.403 Im Wort „C­liché“ klingt aber auch eine zweite Bedeutungsschicht, „das K­lischee“, also „die Stereotypie“, mit. In der Rhetorik bezeichnet das Wort „K­lischee“ den „Topos“, den „Gemeinplatz“. Aus der Perspektive des „Topos“ „Athen“ gedacht, könnte man kaum ein stereotypischeres Unterfangen erdenken, als eben diese Stadt mit ihren Ruinen zu photographieren und sie mit den Photos zu begehen oder beschreiben zu wollen. Und auch gerade dann, wenn man all dies vermei­ den will, läuft man Gefahr, den Ort selbst stereotypisch als einen „Gemeinplatz“ anzusehen und zu besprechen, ihn in den wohlbekannten K­lischees abzubilden und in banale, abgedroschene Worte zu fassen. Die Sequenz der Photographien ist für Derrida ein „photogravierter“ Text, der einer Lektüre bedarf. Die Sequenz ist strukturiert, sie besteht aus 34 geordne­ ten Bildern, so kann man den einzelnen Bildern genauso wenig eine Semantik zuweisen wie isolierten Wörtern eines Satzes. Der Begleittext Derridas übersetzt nicht die Photographien in die Sprache, er interpretiert auch nicht, sondern seine Abfassung ist die Anerkennung dessen, dass die Serie der Photographien mit ihrer vermeint­lich universellen Bildsprache doch einer Lektüre bedarf. Die Photographie nimmt näm­lich im Apparat „auf dem delphischen Tripus“ – wie Derrida die Staffage nennt – ihren Anfang, sie ist sozusagen ein dunkles ‚Orakel‘, das auf die Entwicklung des Papierbildes bzw. auf den ‚Hermeneutes‘ ihrer noch im Dunklen verharrenden Aussage angewiesen ist. Im Zusammenhang mit ihrer technischen Bedingtheit gehört folg­lich die Serialisierung zum Wesen der Photographie, also auch dieser Photographien. Da jede Photographie das zu bewahren scheint, was zum Verschwinden verurteilt ist, 402 Bild und Text wurden auch anderswo in Hinsicht auf Singularität und Serialität mitein­ ander verbunden, so etwa zu den Cartouches der Tlingit-­Coffin von Titus-­Carmel. 403 Siehe die Anmerkung des Übersetzers zu S. 14.

Die Photographie und die Schrift

bringt jedes Bild ein anderes Verschwinden zum Ausdruck, ein anderes singulär Gegenwärtiges wird in seiner Abwesenheit bezeugt. Das Denken dieser Wieder­ holung als eine Serialität des Verschwindens erinnert uns an Derridas Lektüre dichterischer Texte, insbesondere Celans, bei dessen Datierungen D ­ errida auf die „generische Gesetzmäßigkeit“ hinweist, auf das Prinzip des „Jedes-­Mal-­ein-­ einziges-­Mal“.404 Auf ähn­liche Weise werden hier die Photographien als die sich in jeder Minute ereignenden Wiederholungen des Todes betrachtet. ­Derrida nimmt hier wiederum mit einer kritischen Korrektur auf Walter ­Benjamin Bezug, der in seinem Trauerspielbuch die Geschichte mit einer archäolo­gischen Grab­ stätte verg­lich, die sich erst dem tiefen Blick des Melancholikers öffnet. Wie bei Benjamin, so wird auch bei Derrida angesichts der Grabstätte die Zeit selbst thematisiert, aber unter dem Aspekt der Trauer, die sich in der Betrachtung der sich aneinanderreihenden Gräber, das heißt in der Erkenntnis der Wiederholung, der Serialität des Todes vollzieht. Die Photographien von Jean-­François Bonhomme wurden zweifelsohne von Derrida ausgewählt und in eine strukturierte Reihe geordnet. Ein kurzer Blick auf die anderen Bücher von Bonhomme kann dies bestätigen.405 Die anderen Photobücher sind durch eine Liebe zum Einfachen, zu einfachen Menschen, zu Szenen des griechischen Alltags gekennzeichnet, sie zeigen eine Vorliebe zum Authentischen der kleinen Dörfer, zu Klöstern, zu alten, verfallenen Städten und überhaupt ein Gespür für die Zeitlosigkeit der griechischen Landschaft. All das vermochte vielleicht auch Derrida zu faszinieren, es wurde jedoch in Derridas Athenbuch nicht aufgenommen, weil es wahrschein­lich nicht in das Konzept des Buches passte. Den Photographien Athens lässt sich also nur in dieser Ordnung, in dieser Struktur, eine bestimmte Semantik zuweisen. Die Serie der Photographien bildet eine Sequenz. Die Nebenordnung der geschriebenen C­lichés nennt der Autor – mit einem Hinweis auf die einander ergänzenden Rezep­tionslinien der Antike – in ihrer Auswahl und in ihrer Anordnung mehr diony­sisch als apollinisch; sie bilden

404 Jacques Derrida: Schibboleth. Für Paul Celan, Graz – Wien 1986. Siehe außerdem: Tobias Keiling: Ort und Zeit im Meridian. Heidegger in Derridas Celan-­Interpreta­tion. In: David Espinet (Hrsg.): Schreiben – Dichten – Denken. Zu Heideggers Sprachbegriff, Frankfurt/ Main 2011, S. 177 – 96. 405 Man schaue bloß die Photographien in Bonhommes anderen Bänden an, wie unter Fuß­ note 1 angemerkt.

210

211

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Abb. 36 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Photograph auf der Akropolis

eine diony­sische (man könnte sagen chthonische, unterwelt­liche) Begleitung zu den eo ipso apollinischen Lichtbildern. Von den Ordnungsprinzipien wird aber expressis verbis nur die Mitte der Bildsequenz hervorgehoben. Der Autor hat das Bild 9 Photograph auf der Akropolis als Mitte des Buches bezeichnet, also eine Photographie mit dem sinnenden oder träumenden Photographen, der ihm als eine Allegorie für den Autor und für seine Alter Egos erscheint. Gegenüber dieser allegorischen oder emblematischen Mitte bildet die mathe­ matische, numerische Mitte der Bildserie jene Photographie, w ­ elche eine Inschrift von der Athener Agora, also eine Steingravur als die älteste Form der Schrift überhaupt, abbildet. Man könnte mit einer gewissen Naivität meinen, dass eine

Die Photographie und die Schrift

s­ olche Schrift massive Dauerhaftigkeit, ja sogar gewissen „Ewigkeitsanspruch“ besitzt, obwohl ihr Photographieren im vorliegenden Kontext gerade das Gegenteil beweist: Die Schrift wird als Ruine betrachtet. Genau in der Mitte der Bildreihe, auf der Abbildung 17, ist sie photographiert. Die photographierte Schrift verbin­ det einerseits die Schrift mit der Photographie, andererseits setzt sie den Text mit der Ruine gleich. Die Wechselbeziehung z­ wischen dem Akt des Schreibens und dem Akt des Photographierens spielt im ganzen Text eine wichtige Rolle, etwa in der oben erwähnten Etymologisierung der Photographie als „Licht­ schrift“ oder in Neologismen wie „photorthographieren“ 406 oder in dem Aus­ druck „photogravierte Aufbewahrung“. Die Betrachtung des (eigenen) Textes als eine Ruine stellt sicher­lich eine Metapher der Unlesbarkeit dar.407 Der Text mutet wie eine ausgegrabene, fragmentarische Inschrift an. Dies widerspricht der herkömm­lichen hermeneutischen Posi­tion, der zufolge der Text ein Gegen­ stück zur Ruine wäre, indem er sich dem allgemeinen Verfall widersetze. „Scripta manent“ hieß es noch auf einem Emblem von Geoffrey Whitneys „Choise of Emblem“, das im Hintergrund zerfallende Ruinen, im Vordergrund Bücher zeigte. Eine ­solche Gegenüberstellung konnte ihre Gültigkeit bis zu Gadamers Hermeneutik bewahren, der in Wahrheit und Methode behauptete: „Die Überreste vergangenen Lebens, Reste von Bauten, Werkzeuge, der Inhalt der Gräber sind verwittert durch die Stürme der Zeit, die über sie hingebraust sind – die schrift­ liche Überlieferung dagegen, sowie sie entziffert und gelesen ist, ist so sehr reiner Geist, daß sie gegenwärtig zu uns spricht.“ 408 Im Augenblick aber, da Derrida die Überführung der Photographie in die Schrift und umgekehrt Überführung der Schrift in die Photographie markiert, in d ­ iesem Augenblick wird alles, Schrift und Bild zugleich, zur Ruine. Abgesehen von den zwei Mitten, die eine Dezentrierung evozieren, besitzt die Bildsequenz einen klaren Anfang und ein pointiertes Ende. Die erste Photo­graphie Kerameikos – Gräberstraße – Grabmal zeigt eine Grabstele der Athener Gräberstraße. Der photographierte Ort, das Grab im Friedhof am 406 Derrida, Athen, S. 51. 407 Die Betrachtung des eigenen Textes als Ruine geht auf Derridas Glas (1974) zurück. Hier wurde der Text in zwei „verstümmelten“ Säulen (Kolumnen) als „Ruine“ ausgestellt. Siehe dazu auch: Aleida Assmann: Text und Ruine. In: Aleida Assmann/Monika Gomille/ Gabriele Rippl (Hrsg.): Ruinenbilder. München 2002, S. 151 – 163, angeführt S. 162. 408 Böhme, Die Ästhetik der Ruinen, sowie Hans Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, S. 156.

212

213

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Abb. 37 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Nekropolis

Kerameikos, ist die eigent­liche Stätte für eine Begegnung z­ wischen dem Lebenden und den Toten. Am Grab öffnet sich das Gedächtnis für das Tote, das Verschwundene. Diese konkrete Grabstele hat die Form eines erigierten Phallos, auf die der Name „Apollodoros“ eingemeißelt ist. Solche Grabsteine führen den Betrachter zugleich zu den Anfängen der griechischen Kultur zurück: In der Form des erigierten männ­lichen Gliedes kommt das älteste Symbol der Zeugungskraft, das Bild des krafterfüllten Lebens, zum Ausdruck, aber darüber hinaus gilt sie als Urbild des menschlichen Körpers überhaupt, dem allein unter allen Lebewesen der Charakter des Aufrechten zukommt. So vermutete man die g­ leiche Symbolik in den griechischen Säulen wie auf den ithyphal­lischen Grabstelen, die als allgemeine Signatur der altgriechischen

Die Photographie und die Schrift

Abb. 38 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Silenfigur aus dem Dionysostheater

Kultur angesehen wurden.409 Die Photographie des Grabmals nennt der Autor „eine Metonymie der gesamten Serie“ 410; sie führt die sich leitmotivisch wieder­ holende Verknüpfung des Anschauens der Photographien von Athen mit der Vorwegnahme des eigenen Todes ein, worauf unter anderem die betonte Persona­ lisierung des Grabsteins mit dem eingeritzten Eigennamen hinweist. Die letzte Photographie (Nr. 34) heißt Fries aus dem Dionysos-­Theater. Silen. 4 09 Guido von Kaschnitz-­Weinberg: Die mittelmeerischen Grundlagen der antiken Kunst, Frankfurt/Main 1944, S. 15. 410 Derrida, Athen, S. 13.

214

215

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Abb. 39 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Ansicht des Friedhofs im Kerameikos und ein Trödelladen

Im Kontext des Begleittextes weist diese Abbildung eindeutig auf die Physio­gnomik des Sokrates hin, den Alkibiades in Platons Symposion als einen ­Silenen charakterisierte: Ich behaupte näm­lich, dass er ganz ähn­lich jenen Silenen sei, w ­ elche man in den Werk­ stätten der Bildhauer findet, so wie diese Künstler sie mit Hirtenpfeifen oder Flöten

darzustellen pflegen […] Und wiederum vergleiche ich ihn mit dem Satyr Marsyas.

Daß du zunächst in deinem Äußern diesen allen ähn­lich bist, lieber Sokrates, wirst du selber nicht bestreiten.411

Wie ein verborgener Kommentar zu dieser Photographie mutet die folgende Passage aus Derridas Text an: Ich stellte „mir eine Photographie vor, ich sah sie. Sie verewigte, in einer Momentaufnahme, die Zeit d ­ ieses unerhörten Moments: Sokrates, auf den Tod wartend.“ Einem solchen Wunsch vermag natür­lich keine 411 Platon: Das Gastmahl, 215a–b. Zitiert nach: Platon: Sämt­liche Werke, Berlin 1941, Bd. 1, S. 716, übers. v. Franz Susemihl.

Die Begleitpersonen der Clichés

Photographie entgegenzukommen, aber: „mitten im Dionysostheater rechnet“ der Photograph „mit dem Unberechenbaren“.412 In der ganzen Reihe der insgesamt vierunddreißig Photographien findet man außerdem Paare, die als Doppelbilder, als „Diptychen“, zueinander gehören könn­ ten: Sie wurden entsprechend auf der linken und der rechten Seite nebeneinander abgebildet. So verhält es sich mit den Photographien 11 – 12, 26 – 27, 28 – 29 und 32 – 33: An die Seite der Ruinen werden verstümmelte Steine und enthauptete Statuen gestellt, die durch ihre Fragmentarisierung ikonisch – genauso wie die Ruine – die Personalunion des Menschen mit dem Tode sichtbar machen.

Die Begleitpersonen der Clichés Die erste Begleitperson ist die Figur des Photographen selbst – Bonhomme und sein Alter Ego bzw. seine Erinnerungsfigur, die er auf der Akropolis photogra­ phierte. Wovon träumt der Photograph in der aporetischen Mitte des Buches? Etwa „von dem, was eines Tages z­ wischen der Photographie, dem Tag oder der Nacht des Unbewußten, der Archäologie und der Psychoanalyse geschah? Hätte er sich zum Beispiel an jene ‚Erinnerungsstörung auf der Akropolis‘ erinnert, an die ich unaufhör­lich denke […]“ 413 Der ‚Traum‘ des Photographen auf der Akro­ polis berührt sich mit dem ‚Trauma‘ des Psychoanalytikers an demselben Ort. Die „Erinnerungsstörung“ näm­lich, die Derrida andeutet, war ein Vorfall, der mit Freud passierte, als er zum ersten und zugleich zum letzten Mal die Akropolis zu Athen bestieg. Man kennt nur seine eigene, erst Jahrzehnte s­ päter formulierte Erklärung zu jener sonderbaren Gedächtnisstörung, die ihn 1904 in Athen befiel. In einem Brief aus dem Jahre 1936 schrieb er an Romain Roland: „Als ich dann am Nachmittag nach der Ankunft auf der Akropolis stand und mein Blick die Landschaft umfaßte, kam mir plötz­lich der merkwürdige Gedanke: Also exis­ tiert das alles wirk­lich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben?“ 414 Das rät­ 412 Derrida, Athen, S. 58. 413 Derrida, Athen, S. 57. 414 Sigmund Freuds Brief an Romain Roland, zitiert nach: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1964 ff. Bd. XVI, S. 251. Freud erörtert dann die Ursachen für die Unlust in Triest und den Zweifel an der Existenz der Akropolis und zieht folgende Schlussfol­ gerung: „Es muß so sein, daß sich an die Befriedigung, es so weit gebracht zu haben, ein Schuldgefühl knüpft; es ist etwas dabei, was unrecht, was von alters her verboten ist. Das

216

217

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

selhafte Ereignis erhielt seither zahlreiche Kommentare, von denen ich auf die Lesart von Jacques de Rider Bezug nehme, da diese eine Brücke zu Derridas Erinnerung an die Szene schlagen könnte. Rider liest die Geschichte mitsamt der Selbstauslegung aus der Perspektive einer Eristik z­ wischen dem Jüdischen und dem Griechischen im kollektiven Bewusstsein, die Freud zum Manifestieren der Überlegenheit des jüdischen Erbes über die klas­sisch-­griechische Kultur drän­ ge.415 Eine ­solche Eristik kennzeichnet Derrida kaum: Er nannte den Griechen sein anderes Ego, und ähn­lich reflektiert, aus der Posi­tion des anderen verstand er seine jüdische Identität.416 Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb der schlafende Photograph mit der Figur Freuds verschmilzt. Man denke nur an Walter Benjamins Ausdruck, an das „Optisch-­Unbewußte“, das die Photo­ graphie wie ein wahrer Psychoanalytiker mit den Hilfsmitteln der Zeitlupen, Vergrößerungen etc. erschließt.417 Im Dialog mit Sigmund Freud, dessen Werke genauso wie das Denken ­Heideggers die wichtigsten Transforma­tionen der griechischen Antike für die Moderne bewirkten, werden die archäolo­gischen Photographien anders als gewohnt angesehen. Die Überreste und die Ausgrabungsgeschichte von Pompeji brachten Freud zur Einsicht, der Zweck der Archäologie bestünde nicht darin, die Vergan­ genheit für die Gegenwart zu verlebendigen, sie sei bloß der Zeuge ihres einstigen Vergehens, sie archiviere nur noch den Moment ihrer Zerstörung. In seiner Schrift über das Archiv (Mal d‘Archive 1995) betont Derrida, dass man einen Zugang zur hat mit der kind­lichen Kritik am Vater zu tun, das heißt mit der Geringschätzung, ­welche die frühkind­liche Überschätzung seiner Person abgelöst hatte. Es sieht aus, als wäre es das Wesent­liche am Erfolg, es weiter zu bringen als der Vater, und als wäre es noch immer unerlaubt, den Vater übertreffen zu wollen. Zu dieser allgemein gültigen Motivierung kommt für unseren Fall das besondere Moment hinzu, daß in dem Thema Athen und Akropolis an und für sich ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß keine Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel bedeuten. Was uns im Genuß der Reise nach Athen störte, war also eine Regung der Pietät.“ (ebd., S. 292 f.). 415 Jacques de Rider: Hugo von Hofmannsthal, Wien 1997, S. 182 f., sowie ders.: Doch mehr Moses als Apoll und Dionysos? Zu Freuds Umgang mit der Altertumswissenschaft. In: Achim AURNHAMMER /Thomas PITTROFF (Hrsg.): „Mehr Dionysos als Apoll“: antiklassizistische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, S.  205 – 215. 416 Jacques Derrida: We other Greeks. In: Miriam Leonard (ed.): Derrida and Antiquity, Oxford 2010, sowie die Studie im gleichen Band: Miriam Leonard: Derrida between Greek and Jew, S.  135 – 158. 417 Benjamin, GS II, S. 303.

Die Begleitpersonen der Clichés

Antike nur im Sinne von Freud finden könne.418 Derrida hatte vielleicht noch Freuds Worte anläss­lich seines Besuchs der Antikensammlungen des Louvre in seinem Gedächtnis: „Wie im Traum“.419 Der Philosoph betont also mit seinem inneren Dialog mit seiner Begleitperson jene Transforma­tion der Antike, die mit der Psychoanalyse und insbesondere mit der Traumdeutung Freuds eintrat. Die Figuren antiker Plastik repräsentierten für Freud unsere archaische Erbschaft, er nannte seine Vitrinen, in denen er die griechisch-­römischen Kleinplastiken aufbe­ wahrte, „Krypten“ unseres Gedächtnisses.420 Kurzum: Seit Freud wissen wir, dass die Psyche nicht nur ein griechisches Wort in unserem Vokabular sei, sondern sie selbst sei der Ort, an dem die Antike haust. Im Athenessay werden Traum und Photographie, Photograph und Traumdeuter miteinander verschränkt. Sie tun auf gewisse Weise dasselbe wie die Archäologie: Sie archivieren Momente der Zerstörung, der „Traumata“, sie legen sie aus ihrer Verschüttung frei. Wenn man bedenkt, dass sich Derrida mit der zweiten Begleitperson seines Textes, mit dem „gräkomanen“ Heidegger, mehr implizit als explizit kritisch auseinandersetzt, erhält die Bezugnahme auf Freud noch eine schärfere Kontur. Aus psychoanalytischer Perspektive scheint Derridas Heidegger die immer wie­ der zu tötende, zu besiegende Vaterfigur zu sein. Im gleichen Jahr, in dem das Essay erschien (1996), wurden auch Derridas Aporien veröffent­licht: eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit und mit dessen Denken des Todes. Bleibe, Athen ist ebenfalls eine Auseinandersetzung mit Sein und Zeit, jedoch aus einer einzigen kritischen Perspektive: „Sein und die Zeit im Zeitalter der Photographie“ 421. Der sich leitmotivisch wiederholende Satz, den der Autor „photograviert“, das heißt in Stein gehauen/photographiert zu sehen wünscht, der Satz „Nous nous devons à la mort“, knüpft an eine kritisch distan­ zierte, nicht explizierte Unterredung mit Heidegger an. Dieser leitmotivische Spruch Derridas lässt sich als eine kritische Korrektur von Heideggers Vortrag Spruch des Anaximander lesen.422 418 Siehe dazu Daniel Orwells: Derrida’s Impression of Gradiva. Archive Fever and Antiquity. In: Leonard (ed.): Derrida and Antiquity, S.  159 – 177. 419 Freuds Brief an Martha Bernays vom 19. 10. 1885, zitiert nach Hartmut Böhme: Die Antike „nach“ Freud. In: Benthien/Böhme/Stephan (Hrsg.): Freud und die Antike, S.  423 – 458, angeführt S. 437. 420 Böhme, ebd. 421 Derrida, Athen, S. 22. 422 Heidegger, Holzwege, S.  296 – 343.

218

219

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Abb. 40  „Er

ist tot und er wird sterben“. Alexander Gardner: Porträt Lewis Paynes (1865)

Dieser immer wieder anders zu übersetzende, semantisch vielschichtige Spruch führt uns von der in den Text intertextuell einbezogenen hintergrün­ digen Figur Heideggers zum Archetyp des Philosophen, zu Sokrates, weiter. Er ist die dritte Begleitperson, der Archiphilosoph aus den platonischen Dialogen Kriton, Phaidon und der Apologie, der seinen Tod wartend kommen lässt. Die­ ser Sokrates, der im Traum die Stunde seines herannahenden Todes voraussah, stellt die emblematische Figur der philosophischen Anerkennung der Schuld gegenüber dem Tod dar. Roland Barthes schreibt, dass im Akt der Betrachtung einer Photographie der eigene Tod eingeschrieben sei: „zwischen diesen beiden bleibt nichts als das

Die Begleitpersonen der Clichés

Warten.“ 423 Er bildet die 1865 angefertigte Photographie von Lewis Paynes ab: Das Photo zeigt den Verurteilten, der im Gefängnis auf den Henker wartet, und unter dem Bild steht die Inschrift: „Er ist tot, und er wird sterben.“ Es wird also an einem extremen Beispiel exemplifiziert, dass die Photographie immer das Bild eines Toten sei und stets eine Person zeige, die vor einiger Zeit noch da war, aber nun nicht mehr ist. Somit verkünde die Photographie dem Betrachter auch das „unabweisbare Zeichen ­­ seines künftigen Todes“.424 Mit dem Gedankenspiel, Sokrates in seinem Gefängnis auf den Tod wartend zu photo­ graphieren, überträgt Derrida den photographischen Fall von Lewis Payne auf den Philosophen, der weiß: „Ein Philosoph zu sein, bedeutet, zu lernen, wie man stirbt.“ 425 Sokrates’ Warten auf den Tod wird mit der photographischen Verzö­ gerung verg­lichen, sie korrespondieren miteinander, denn nachdem das Todes­ urteil des Sokrates gefällt worden war, verzögerte sich sein Vollstrecken, bis die de­lischen Feste zu Ehren des Apolls begangen wurden. Derrida nimmt hier auf Phaidon 58b Bezug: Sobald nun dieser Aufzug angefangen hat, ist es gesetz­lich, während dieser Zeit die

Stadt rein zu halten und von Staats wegen niemanden zu töten, bis das Schiff in Delos

angekommen ist und auch wieder zurück. Und dies währt bisweilen lange, wenn wid­

rige Winde einfallen. Des Aufzuges Anfang ist aber, wenn der Priester des Apollon

das Vorderteil des Schiffes bekränzt; und dies, wie ich sage, war eben den Tag vor dem

Gerichtstage geschehen. Daher hatte Sokrates so viel Zeit in dem Gefängnis z­ wischen dem Urteil und dem Tode.426

Die platonsche Schilderung des Verzugs wird nun von Derrida metaphorisch mit der photographischen Technik in Verbindung gesetzt. Die drei Begleitpersonen – Heidegger, Freud und Sokrates – sind gewisserma­ ßen Alter Egos des Autors, sie bilden mit dem Autor und mit dem Photographen des Bandes eine sonderbare Trinität: Die Figuren Sokrates und Freud und die des photographierten Photographen verlieren ihre Konturen, gehen ineinander 423 Barthes, Die helle Kammer, S. 103. 424 Barthes, Die helle Kammer, S. 108. 425 Letztes Interview mit Derrida 2004 in Le Monde, zitiert nach Leonard (ed.): Derrida and Antiquity, S. 4. 426 Platon, SW, Bd. 1, S. 732, übers. v. Friedrich Schleiermacher.

220 221

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

über, Heidegger wird dagegen aus der Dreifaltigkeit eher verdrängt. Wollten wir uns die Begleitpersonen der C­lichès photographiert vorstellen, würde diese Photographie etwa jenem Lichtbild des franzö­sischen Physikers Victor Regnault ähn­lich sein, auf dessen Negativ der Photograph eine Person auslöschte bzw. aus­ retuschierte; als Resultat war auf dem Papierbild an der Stelle der fehlenden Figur ein „gespenstischer Schleier“, eine Aureole des Lichts, zu sehen.427 Heidegger wird durch diese paradoxe Entfernung, also eben durch die Stärke seiner Abwesenheit, zu einer namenlosen Schatten- und Gegenfigur zum Photographen, „dem guten Mann von einem Photographen“, der alleine schon mit einem etymolo­gischen Spiel zu seinem Namen „Bonhomme“ so bezeichnet werden kann. Man dürfte meinen, damit werde die Photographie zu einem unerläss­lichen Reflexionsmedium, das jeg­lichen Zugang zu den Ruinen Athens erst eröffne. Aber zu gleicher Zeit versperre es ihn auch. Es gibt für Derrida keinen Zugang zu Athen als den Umweg über die technisierte serielle Kunst der Photographie und durch die Texte Platons. Beide Vermittlungen erwecken eine Erinnerung in ihrer höchsten Form, die er Trauer nennt. Wir haben bereits gesehen, dass die Photographien von Bonhomme die Vermittlungsfunk­tion immer wieder thematisieren, da man auf den Photographien selbst weitere Photographien desselben Gegenstandes findet oder die Ruine nicht selbst, sondern durch ihre Repräsenta­tion auf einem kommerziellen Gemälde, also bereits abgebildet, auf der Photographie erscheint. Dieses spielerische Reflektieren des Vermittlungsmediums soll im Dienste der Serialisierung stehen. Es bringe eine besondere Sensibilität für die ­­Zeichen mit sich, die Derrida im Dialog mit Walter Benjamins Wort auch „Melancholie“ nennt. Die Melancholie ist folg­lich der Sinn für die Geschicht­lichkeit überhaupt. Der Melancholiker – wie Susan Sontag formulierte – sieht selbst die Welt zum Ding werden,428 und eine ­solche Sicht lässt sich seit Du Bellays Romsonetten bezeugen. Die melancho­lische Konstruk­tion der Allegorie begleitete stimmungsmäßig die Entzifferung der Zeichen ­­ der Vergangenheit, die uns zur Erkenntnis führen, dass etwas endgültig verschwunden ist. Die Melancholie der Ruinenphotographien von Jean-­François Bonhomme erhält in ­diesem breiteren kulturgeschicht­lichen Kontext eine Korrektur, indem sie nicht mehr auf den Verlust hin angeschaut 427 Georges Didi-­Huberman: Supersti­tion. In: Peter Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/Main 2002, S. 434 – 440. 428 Susan Sontag: Im ­­Zeichen des Saturn. Essays, München 1981.

Die Begleitpersonen der Clichés

Abb. 41 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Fischverkäufer und Säulenstumpf

werden, sondern positiv mit dem Gestus der Trauer gelesen werden: Es gebe eine Kunst, sagt Derrida, die Ruinen graphisch so erscheinen zu lassen, dass sie in ihrem Verschwinden zugleich bleiben, dass ihr Verschwinden durch die photogra­ phische Verzögerung aufgeschoben wird, um damit „ihr Emblem“ in Erinnerung zu rufen: „Auf vielfältige Weise die Schauspiele von Ruinen aneinanderreihend, auch von Ruinen der modernen Zeiten, hat sich also jemand darum bemüht, ihr Emblem in Erinnerung zu rufen.“ 429 Das Schreiben am Paratext zu den Photographien von Jean-­François ­Bonhomme bringt Derrida zum Nachdenken über das Emblem der Ruine: Was heißt das Emblem der Ruine? Die lateinische „Ruina“ bezeichnet etwas, was verfallen ist, was unwiederbring­lich zerstört ist. Wäre also die Ruine einfach ein Emblem des Verfalls, der Zerstörung, des Todes? „Ruin“ als Leiche, als der Kadaver des Tieres oder das verfallene Heiligtum der toten Götter? Die Ruinen wurden in der Moderne zu enthistorisierten Fragmenten, die keiner Ergänzung mehr bedürfen. Die Ruinen Derridas sind weniger auf diese

429 Derrida, Athen, S. 41. Hervorhebung von mir. E. ­K.

222 223

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Fragmentarität, als auf ihre Funk­tionslosigkeit hin gelesen: Somit wird ihnen (in einer impliziten Auseinandersetzung mit Benjamin) die geschichtsphilosophisch fundierte allegorische Sinngebung abgestritten. Sie zeigen für den Autor eher ein Emblem der Ruine, die man (mit Hartmut Böhme) das Emblem der Posthistoire nennen könnte: „Sinn bröckelt von Bildern und Ruinen ab wie die Form von den Ruinen und hinterlässt die Rätselspur der Vergängnis.“ 430 Sie sind weder monu­ mental, noch monströs, sie laden uns auch nicht ein, sie als ­­Zeichen des Verfalls, der Zerstörung, anzusehen. Derrida nimmt an diesen Photographien etwas wahr, was ich einen zärt­lichen Sinn für das Ephemere nennen möchte. Man betrachte nur das „Diptychon“ mit dem Bild des Fischladens links und rechts den Säulen­ stumpf inmitten des gefallenen Laubs und trockenen Grases. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass dieser Stein mehr Dauer besäße als der kleine Fisch. Diese Ruinen sind nicht von der Festigkeit der Materie, sie sind genauso fragil wie das Leben der in einem Käfig gefangen gehaltenen Vögel. Derrida nimmt d ­ ieses feine Gefühl für die Zeit­lichkeit, wie er es nennt, zwar wahr, integriert es aber in seine altbekannte Faszina­tion für das Sterben, die in der Stadt Athen nur des sterbenden Sokrates, des ohnmächtigen Freuds und des schla­ fenden Photographen gedenkt. Abgesehen von Derridas C­lichés können diese sensiblen, von mir selbst nun melancho­lisch genannten Photographien auch als das Emblem der Ruine gelten. Die Karyatiden in ihrem Abtransport von ihrem ursprüng­lichen Ort, wodurch sie ihrer Funk­tion, den Sims der Tempelhalle zu stützen, beraubt sind, oder die alten, vom Sperrmüll geretteten Radios zeigen die g­ leiche Schönheit des Ephemeren der Werke menschlicher Hand, den glei­ chen Gestus, sie mit dem Blick der Kamera anzusehen, um d ­ iesem Athen noch für einen Augenblick eine Bleibe zu schenken. Aus spätmoderner Perspektive ist die Antike in ihren Ruinen mit allen anderen Zeitmomenten der verschol­ lenen Zeit gleichrangig. Derrida schließt seinen Dialog mit einer offenen sokratischen Frage: „Bleibt zu wissen, was das ist (ti esti) das Wesen der photographischen Form, betrachtet unter dem Gesichtspunkt einer Verzögerung“ (S. 58). Unsere Konsequenz soll aber zugleich eine andere Schicht des Verschwindens reflektieren – die des Mediums selbst. Jene photographische Technik, die des Films, befindet sich näm­lich seit der Abfassung des derridaschen Textes selbst im Verschwinden. Das Medium

430 Böhme, Die Ästhetik der Ruinen, S. 301.

Die Begleitpersonen der Clichés

Abb. 42 

Jean-­François Bonhomme: Athen, Abtransport der Karyatiden von der Akropolis

hat seinen Platz der digitalen Photographie übergeben, die weder die Schrift der Skiagraphie noch den Gesichtspunkt der photographischen Verzögerung kennt. Mit dem Vokabular Derridas könnten wir behaupten, dass diese Art von Photo keine Spur eines Vergangenen ist, seine Zeit­lichkeit aus der Perspektive ihrer Technik ist die reine Präsenz ohne Zeit, die bereits wegen des Verlusts ihrer bestimmenden Zeit­lichkeit keinen Diskurs mit den Ruinen führen kann. Hans Belting sieht in der digitalen Photographie eine Überschreitung ihrer herkömm­ lichen Grenze, die bei dem Lichtabdruck auf der Filmschicht von der Analogie mit dem Körper – und wir würden hinzufügen, zugleich in Analogie mit der

224 225

Exkurs: Die „photogravierten“ Ruinen

Ruine – gezogen wurde.431 Nicht nur rauben uns die elektronischen Bilder die analoge Wahrnehmung des Körpers, die immer unter den Bedingungen von Zeit und Raum stand. Sie tauschen den sterb­lichen Körper mit dem unverwundba­ ren Körper der Simula­tion aus, somit falle der Unterschied ­zwischen Leben und Tod in sich zusammen.432 Das photographische Bild ist heute keine Spur der Erinnerung mehr; es ist nur ein numerisches Dokument, ein rechnerisch gespeichertes Gedächtnis. Es öffnet keinen Raum für die Allegorie im benjaminschen Sinne. Ihr Verschwin­ den lässt sich kulturphilosophisch mit jenem Wahn in Verbindung setzen, mit dem emblematische Ruinen der Vergangenheit in den letzten zehn Jahren weni­ ger durch Abriss als durch Wiederaufbau allmäh­lich völlig verschwinden. Eine Stadt wie Athen, die Ruine selbst, wäre für Derrida mit digitalen Photos, die im herkömm­lichen Sinne auch nicht mehr Photo-­Graphien sind, nicht mehr zu überqueren, da sie den Blick nicht mehr für das vielfache Sterben öffneten.

431 Hans Belting: Bild-­Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München, 2001, S. 184. 432 Belting, ebd., S. 186 f.

226 227

Das Wort als archäologischer Fund bei Durs Grünbein

[…] als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehm­lich spräche. (Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik)433

Im Rückblick auf seine Dresdener Kindheitserlebnisse führte Durs Grünbein das Diktum Boris Pasternaks über „das stolze Bedauern“ um die miterlebten Verwüstungen an: „Denn uns erzog die Schönheit der Ruinen.“ 434 Das grundlegende Erlebnis von den Ruinen der Geschichte teilte der zu einer weit jüngeren Genera­tion gehörende Dichter mit solchen „Klassikern“ der Nach­ kriegszeit wie Erich Arendt, Heiner Müller oder Günter Kunert, und diese Schu­ lung hat sicher­lich dazu beigetragen, dass er aus seiner „persön­lichen Posthistoire“ auf die Antike zurückzugreifen verstand, dass sie nicht nur als Gegenbild oder als ein „Kraftreservoir für Zeitdiagnose“ konzipiert wurde,435 um aus ihren Trümmern Chiffren eines globalen Verfalls, einer „Entwurzelung gleichsam vom Erdreich her“ 436, herauszulesen. Vielmehr ist die Antike in seiner Dichtung als ein Heer von Worten und Metaphern zu betrachten, von dem er in einem Interview mit Heinz-­ Norbert Jocks Folgendes sagte: „Wir werden immer nur inmitten von Bruchstüc­ ken leben, z­ wischen den Resten abgebrochener Projekte. […] Die Trümmer der untergegangenen Kulturen, das ist alles, was wir an Zusammenhang haben.“ 437 Der 2011 veröffent­lichte Zyklus Studien in Aquamarin 438 gewährt uns einen Taucherblick in die Trümmerwelt solcher untergegangener Kulturen, zu denen 433 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Frankfurt/Main 1987, S. 158. 434 Durs Grünbein: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2008, Frankfurt/ Main 2010, S. 45. 435 Eskin, Nachwort, S. 112. 436 Grünbein, Poetikvorlesung, S. 46. 437 Durs Grünbein: Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-­Norbert Jocks, Köln 2001, S. 19. 438 Durs Grünbein: Studien in Aquamarin, in: Mare. Zeitschrift der Meere, Nr. 83, 12/2010 – 1/2011, S.  94 f.

Das Wort als archäologischer Fund

Abb. 43 

Richard Peter se.: Dresden, vom Rathausturm herab (1945)

Das Wort als archäologischer Fund

auch wir mit unserer Zukunft gehören. Es sind hier die Fische selbst, diese „Stu­ denten der Altertumskunde“, die „so tief in den Zeiten abgetaucht“, uns einen solchen posthumanen Blick vermitteln. Der Lippfisch etwa, „der gerne Treppen steigt / Am Riff, die porösen Treppen aus Lavagestein“. Aus der Perspektive der See, „wie sie lebt“, oder genauer, wie sie einmal doch lebte, werden archäolo­gische Theorien vom Untergang der antiken Thera – Atlantis – reflektiert, ausschließ­ lich vom Ende, von unserem Ende her: Das ist die See, wie sie lebt. Sie feiert Ende und Anfang einer jeden Geschichte, macht Aus jeder Moderne eine Antike der Zukunft, Aus jeder Antike die versunkenste aller Modernen.

Solche Trümmer bilden Grünbein zufolge den sprach­lichen Stoff, aus dem die Worte der Dichtung genommen werden. Dann in seinem Essay Mein babylonisches Gehirn verg­lich Grünbein die Worte des Gedichts, diese plastischen Stücke „figurierter Zeit“ mit jenen „ostraka“, gebrannten Tonscherben, auf denen unter anderem auch die Fragmente der Dichterin Sappho, dieser „zehnten Muse“ der Griechen (Platon), erhalten geblieben sind: Ist es nicht merkwürdig, daß viele der antiken Dichtungsfragmente, etwa die wenigen

erhaltenen Zeilen der Sappho, in Form winziger Tonscherben, sogenannten Ostrakoi,

auf uns gekommen sind? Denn um ebensolche Scherben, Bruchstücke einer früheren

Erinnerung, handelt es sich im Grunde bei jedem Gedicht.439

Die Worte des Dichters sind Scherben, hinterlassene Relikte, die aus einer früheren Erinnerung dageblieben sind, archäolo­gische Funde im Reich der Sprache. Die Poesie wird damit zur mentalen Form der Archäologie deklariert, in der eine eigenartige, tiefenwärts gerichtete Bild­lichkeit herrscht. Die Poesie wird damit zur mentalen Form der Archäologie deklariert, in der eine eigenartige, tiefenwärts gerichtete Bild­lichkeit herrscht. Sollten die Worte des Dichters eine fast plastische, eine ding­ liche Präsenz der in ihnen figurierten Zeiten verleihen, vermag in solchen Worten „der innerste Abgrund der Dinge“, d. h. eine in die Sprache des Bildes übersetzte

439 Grünbein: Galilei, S. 26.

228 229

Das Wort als archäologischer Fund

diony­sische Weisheit, vernehm­lich zu werden. Es sind also – unserer poetolo­gischen Lektüre zufolge – nicht die Dinge selbst, denen – wie etwa bei Rilke – eine Spra­ che verliehen wird, es ist also nicht ihre Materialität, die uns fasziniert und weshalb etwa W. ­H. Auden Rilkes Poesie bewunderte. Es ist vor allem der Abgrund der Dinge, der vernehmbar zu sprechen beginnt, es ist eine dichterische Stimme, die im grün­ beinschen Gedicht eine fragile, paradoxe sinn­liche Präsenz erhält. Somit reflektiert Grünbein das von Nietzsche postulierte ästhetische Wesen der diony­sischen Kunst der Griechen, die in den Abgrund der Dinge drang, sodass die von ihr erzeugte Lust durch den Weg des Untergangs und der Verneinung, durch die Erkenntnis, dass alles Seiende dem Tode anheimgegeben ist, führen muss.440 Im vorliegenden Kapitel werden vier Gedichte Grünbeins in Bezug auf ihre archäolo­gische Verfahrensweise untersucht: In Aktiv (2004) geht es um ein ver­ nommenes Wort, das sich als ein Seelenführer erweist und die dichterische Einbil­ dungskraft bis in die Tiefe des Hades hinunterführt. Im Gedicht Auf der Akropolis (2008) scheint das symbolträchtigste Monument antiker Kultur, die Akropolis von Athen, ausschließ­lich durch die Worte deutscher Klassiker erfahrbar zu sein, um dann mit einer überraschenden Wende wieder aus den abgedroschenen Zitaten zum neuen Leben zu kommen. Nach dem Exkurs zu Metapher erweist sich der letzte Text Forma Urbis Romae (2010) als archäolo­gisches Dokument der leeren Fundgrube vergangener Zeiten, aus der kein Fund mehr ausgegraben werden kann.

Das Wort als archäologischer Fund: Aktiv Da sagt jemand Krater, und schon stürzt du hinab. Ein Wort aus dem Griechischen, Bruchstück, es meint Einen Krug, in dem mischten sie Wasser und Wein. Den vulkanischen Abgrund, Empedokles’ Grab. Ein Wort nur, ein Splitter, und du siehst die Sandalen Am Trichterrand. Starrst durchs Loch in der Schädeldecke Auf die graue Substanz. – Diese riesigen, fahlen, Im Mondatlas abgebildeten, pockennarbigen Flecken. 440 Zur Deutung des Nietzschezitats siehe den Nietzscheband von Volker Gerhardt und Renate Reschke.

Aktiv

Du hörst nur Krater – es knirscht, und das Ohr, Aus Keramik und Lavaschutt, zaubert Mythen hervor. Rotfigurige Szenen mit Hephaistos, dem Schmied. Oder Hades, der Persephone in sein Totenreich zieht.

Grünbeins Gedicht Aktiv wurde erstmals 2004 in der FAZ veröffent­licht, dann 2005 als Schlusstext in den Band Der Misanthrop auf Capri aufgenommen.441 Das Titelwort „Aktiv“ ist ein Adjektiv, das nichts anderes bedeutet als „aktiv“ sein, „tätig“, „schaffend“ sein, es bezieht sich also in erster Linie auf den dichte­ rischen Schaffensprozess selbst. Zum Adjektiv könnten verschiedene Subjekte gehören, aber in erster Linie ist das Gehirn – der Ort der Poesie – das, was sich im Gedicht als „aktiv“ erweist. Die poetolo­gische Eigenart des Gedichts besteht darin, dass der Dichter hier ein einziges Wort „Krater“ reflektiert und aus ­diesem einzigen Wort die Bildwelt der drei Strophen entfaltet. Das gehörte Wort ist ein Fragment, das uns aus den zahlreichen Stimmen, die uns ununterbrochen bombardieren, zu Gehör kommt, es ist wie ein Bruchstück eines unbekannten Gesprächs. Es ist außerdem ein Fremdwort, ein Überbleibsel aus einer ausgestorbenen Sprache. Es taucht zunächst isoliert, entkontextualisiert auf, es drängt aus der Fülle der urbanen Geräusche aus den uns umgebenden Stimmen plötz­lich und unbeabsichtigt in das Ohr des Ichs.442 Das von allen Bindungen frei gewordene Wort ist einfach da, sodass das hörende Subjekt – um es mit Nietzsches Worten zu sagen – plötz­lich „zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehm­lich spräche“.443 So gibt nun das vernommene Wort dem Gehirn des lyrischen Ichs den Anstoß, aktiv zu werden, sich in Bewegung zu setzen. An dieser Stelle kann man nicht umhin, an Gottfried Benn zu denken, mit welcher „monomanen Besessenheit“ er auf das isolierte dichterische Wort, ins­ besondere auf Südworte, fokussierte, in denen Jahrtausende Erd- und Kultur­ geschichte mitschwingen. Im Prozess des Dichtens kam es bei ihm auf das

441 Siehe zum Gedicht Sonja Klein: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“. Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein, Bielefeld 2008. Im Folgenden wird noch mehrmals kritisch auf diese Studie Bezug genommen. 442 Jene „urbane Trance“, in der man „ständig von einer Fülle von Geräuschen umgeben“ ist, nennt Grünbein die Brutstätte seiner Dichtung. Siehe Grünbein: Galilei, S. 41. 443 Siehe Motto.

230 231

Das Wort als archäologischer Fund

einzelne Wort an, das – seiner Ansicht nach – allein durch seine Präsenz eine Assozia­tionsbewegung auszulösen imstande ist.444 In seinem programmatischen Gedicht Ein Wort formuliert er: Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen erkanntes Leben, jäher Sinn, die Sonne steht, die Sphären schweigen, und alles ballt sich zu ihm hin. Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –, und wieder Dunkel, ungeheuer, im leeren Raum um Welt und Ich.445

Zunächst ist man vielleicht durch ­dieses Echo, durch diese dichterische Wahl­ verwandtschaft ­zwischen Benn und Grünbein, fasziniert oder auch irritiert. Bei genauerem Hinsehen erkennt man aber allmäh­lich, wie grundsätz­lich anders Grünbeins Wort poetolo­gisch fundiert ist. Bei Benn wird das einzelne Wort in seiner ureigenen schöpferischen Potenz in kosmischen Bildern und durch eine Lichtmetapher beschrieben. Somit legt das poetische Wort eine irreale Präsenz der Totalität von Konnota­tionen frei und widerstrebt aller Deutung.446 Benn selbst hat diese Eigenart des Wortes folgendermaßen formuliert: „Das Wort ist die Selbstbegegnung der Schöpfung und ihre Selbstbewegung.“ 447 Des Weiteren werden bei Benn „Wort“ und „Ich“ eng miteinander verflochten, sodass nach dem Verglühen des Wortes das Ich vereinsamt in der kosmischen Leere steht: „wieder Dunkel, ungeheuer, / im leeren Raum um Welt und Ich.“ Grünbeins Worte nehmen ihre Assozia­tionsfülle und ihre Dynamik auch sehr oft aus ihrer Zugehörigkeit zum altmediterranen Kulturraum. In unserem Fall 444 Hans Otto Horch: Gottfried Benn. Worte, Texte, Sinn, Diss. Aachen 1974, S. 22. Stephan Düppe: „Am Anfang war das Wort“ – Zu Gottfried Benns Bildtheorie. In: Köhnen, Denkbilder, S.  235 – 258. 445 Benn, Gedichte, S. 304. 446 Wilfried W.  ­Dickhoff: Zur Hermeneutik des Schweigens. Ein Versuch über das Imaginäre bei Gottfried Benn, Königstein 1984, S. 180; sowie Düppe, „Am Anfang war das Wort“, S. 244. 4 47 Zitiert nach Christel Martha Antonie Zimmermann: Gottfried Benn. Sein Werk in der Dimension von „Wort“ und „Gestaltung“, Diss. Bonn 1987, S. 48 f.

Aktiv

bezeichnet ja das Wort „Krater“ nicht nur Vulkankrater, sondern auch ein grie­ chisches Mischgefäß. Nichts steht ihm aber ferner, als sein dichterisches Wort schöpferisch aufzufassen, das die Welt, ja den ganzen Kosmos, erhellen sollte, aus dem „Leben“ hervorginge. Seine Worte verlieren nie ihren zitathaften Charakter, den wir ansonsten am Wortspiel Krater (Vulkan) – Krater (Becher) wahrneh­ men können. Der Spätklassiker Emmanuel Geibel hat d ­ ieses Wortspiel bereits in seinem Epigramm auf Santorin verwendet: Hierher Zecher! Hier reift der Gott des Feuers Feuertrauben, Und hat das Eiland selbst geformt zum Becher.448

Außerdem stellt Grünbein das Wort – im Gegensatz zu Benn – nicht mit dem Ich, sondern entsubjektiviert, nervenphysiolo­gisch mit dem Gehirn in enge Beziehung. Das im Gehirn aufbewahrte Wort besitzt eine Gedächtnistiefe „von Billionen Erinnerungen“ 449. Denn das Gedichtwort ist, wie Grünbein sagt, eo ipso archäolo­ gisch, es hält „Verbindungen zu den Gedächtnisgründen, den im Erdreich ver­ sunkenen Zivilisa­tionen, den allgegenwärtigen Toten“ 450. Er nannte seine inten­ sivste Erfahrung das Hören auf „das durch Vereinzelung freigesetzte, in einen Traumzustande versetzte Wort“, „das seine Echos durch Zeiten und Räume von überall her empfing“.451 Diese „energetische Beziehung ­zwischen Gedächtnis und Poesie“,452 die von den Dichtern der Moderne so unterschied­lich beurteilt wurde, bildet für Grünbein einen weder positiv noch negativ aufgefassten neurolo­gischen und tiefenpsycholo­gischen Tatbestand. Mit der bloßen Nennung der zwei lexika­lischen Bedeutungen des Wortes „Kra­ ter“ (Vulkankrater, Mischgefäß) geht es sofort tiefenwärts. Am Wort haften sofort Erinnerungsbilder aus antikem Kulturgut: Das Wort „Krater“ evoziert nicht nur 4 48 Emmanuel Geibel: Vermischte Gedichte. In: Gesammelte Werke in acht Bänden, Stuttgart 1888, Bd. 2, S. 54. 449 Eskin, Nachwort, S. 108. 450 Grünbein, Galilei, S. 22. 451 Grünbein, Galilei, S. 32. 452 Grünbeins Ausdruck, zitiert aus Galilei, S. 22. Siehe dazu außerdem: Hinrich Ahrend: Essayistische Lyrik. Grünbeins Grenzgänge z­ wischen Poesie und Poetik. In: Kai Bremer/ Fabian Lampart/Jörg Wesche (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg – Berlin – Wien 2007, S. 135 – 170.

232 233

Das Wort als archäologischer Fund

„den vulkanischen Abgrund“, sondern assoziiert im Gehirn zugleich „­Empedokles’ Grab.“ Diese Bildsequenz erinnert an die legendäre Lebensgeschichte des Philo­ sophen, nach der er in den glühenden Krater des Ätna gesprungen sei und seine Schuhe als Beweis dafür am Trichterrand wiedergefunden wurden, wie man es bei Diogenes Laertios überliefert findet.453 Außerdem führt die poetolo­gische Reflexion auf das Wort des Gedichts auch einen impliziten Dialog mit bestimmten Theorien der Sprachwissenschaft, indem es hier um die Frage nach der Beschaffenheit des Wortes, um seine sinn­liche Potenz geht, die der Dichter zu aktivieren hat. Die durch Grünbein konstatierte Gedächtnistiefe des Wortes hat näm­lich die Sprach- und Religionswissenschaft­ ler des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigt. Max Müller beispielsweise versuchte im Wort der natür­lichen Sprachen die ursprüng­liche innige Einheit von Vorstellung und Begriff, von Sinn­lichem und Intellektuellem wiederzuent­ decken. Diese Einheit suchte er im Akt der Benennung zu ertappen, aus dem er auf die Genese des Mythos aus dem Wort folgerte: „Mythos war zuerst soviel wie Wort.“ Aus dem metaphorischen, das heißt uneigent­lichen Gebrauch des Wortes ­seien die Göttergestalten und somit auch ihre Erklärungen, die Mythen, hervorgegangen.454 Ein solcher uneigent­licher, metaphorischer Gebrauch der Sprache gehört aber zum Wesen der Dichtung. Außer Müller könnte noch sein Zeitgenosse Hermann Usener angeführt werden, der aus dem Akt des Benennens die Entstehung gött­licher Wesen ableitete. Er betrachtete zwar die sprach­lichen ­­Zeichen als arbiträr, aber sie sollten seiner Auffassung nach in ihrer Genese noch nicht willkür­lich gewesen sein: Der Name sei „Niederschlag äußerer Eindrücke“, ein „Bruchstück einer Beschreibung“.455 Es genügte in der Urzeit eine Metapher, und sofort wurden „Götter“ auf die Welt gebracht. Im Gedicht Aktiv reichen das Wort „Krater“ und der von ihm evozierte Eigen­ name „Empedokles“ in die Zeit der Legendenbildung hinab. Sie sind Bruchstücke, die aus dichterischen Texten genommen wurden, Worte aus zweiter Hand. „Die Sandalen / Am Trichterrand“ können zum Beispiel im Gedächtnis des Lesers Bertold Brechts Der Schuh des Empedokles evozieren. Auf die suggestive Kraft des übernommenen Bildes, des vorgefundenen Bruchstücks weisen die Verse hin:

453 Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1998. 454 Max Müller: Natür­liche Religion, Leipzig 1880, S. 395. 455 Hermann Usener: Götternamen, Bonn 1896, S. 4.

Aktiv

Ein Wort nur, ein Splitter, und du siehst die Sandalen Am Trichterrand.

Die mit dem Wort „Krater“ assoziierten Erinnerungsbilder werden im Gehirn des Dichters angesiedelt, als ob sie dort sogar von außen her beobachtet wer­ den könnten. Der Sturz in den Krater bildet einen Sturz in den Abgrund des Gedächtnisses, das heißt, in das „Loch“ des eigenen Gehirns: „Starrst durchs Loch in der Schädeldecke / Auf die graue Substanz.“ Somit werden die mythischen Erinnerungsbilder als Produkte einer „zerebralen Chemie“ quasi von außen her, wissenschaft­lich, betrachtet. Da in dieser dichterischen Chemie die Wahlverwandtschaft unter den Wor­ ten auf eine neue Weise geknüpft wird, vermag der Leser wiederum die Stimme Gottfried Benns mitzuhören, etwa das Gedicht Fleisch oder den Prosatext Ithaca, in dem Rönne sagt: „Ich habe den ganzen Kosmos mit meinem Schädel zer­ kaut. […] Was war dann alles? Worte und das Gehirn, Worte und das Gehirn. Immer und immer nichts als dies furchtbare, dies ewige Gehirn.“ 456 Das Gehirn stellt für Grünbein auch den Ort der Worte mit den in ihnen verborgenen Mythen dar. Das Gehirn ist einmal ein Vulkan, ein kochender Kessel, ein andermal, wenn es sich abkühlt, erkaltet, wird es zu einer entfremdeten Mondlandschaft. Der Schreibakt im Moment der semantischen Lockerung der Worte wird als Ent­ fremdung des eigenen Körpers erfahren: „Im erstbesten Moment, da sich alle semantischen Bindungen lockern, beginnt er sich interessiert zu beobachten. Es ist, als würde er seinem Hirn bei der Arbeit zusehen.“ 457 Im Gegensatz zu Benn, der Gehirne „Muttersäue“ nannte, aus denen die Worte wie „Wortferkel“ „hervorgehurt“ werden, spielt Grünbeins Reflexion ironisch auf die vulkanische Tiefe des Gehirns an. Aus Baudelaires „babylonischem Herz“ wird bei G ­ rünbein ein babylonisches Hirn – ein Hirn, in dem ein „Babel“ der Sprachen brodelt. Im Gehirn taucht das Wort heuristisch, augenblick­lich auf. Grünbein spricht gerne von Augenblicken, „in denen alles gesteigert erscheint, von plötz­licher und genauer Leutkraft des Wortes“.458 456 Horch, Gottfried Benn, S. 23. 457 Grünbein, Galilei, S. 20. Die dichterische Figur der gegenseitigen Beobachtung von Gehirn und Ich übernahm Grünbein von Enzensberger. Siehe: Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur, Köln – Weimar – Wien 2010, S. 170. 458 Grünbein, Galilei, S. 16, sowie Köppe, S. 261.

234 235

Das Wort als archäologischer Fund

Anders als in ­diesem Prosazitat bleibt die Energie des Wortes in unserem Gedicht ausschließ­lich im Bereich des Hörens, das Grünbein den „privilegierte(n) Zugang zum Unbewussten“ nannte.459 Der akustische Effekt wird hier sogar onomatopoetisch imitiert: Du hörst nur Krater – es knirscht, und das Ohr, aus Keramik und Lavaschutt, zaubert Mythen hervor.

Man hört (durch die Kr- und wiederum R-Laute) ein Knirschen, das Wort „Kra­ ter“ wird lautmalerisch imitiert, und das Ohr „zaubert Mythen hervor“. Welche Mythen? Es wird hier kein konkreter Mythos erzählt, es werden nur „Mythen“ im Plural genannt, repräsentiert durch drei Namen. Die drei Namen sind Hephaistos, Persephone und Hades. Sie sind isoliert genannt, sind narrativ nicht miteinan­ der verbunden, sie weisen nur sehr knapp auf Szenen aus der Geschichte dieser mythischen Personen hin: Rotfigurige Szenen mit Hephaistos, dem Schmied. Oder Hades, der Persephone in sein Totenreich zieht.

„Hephaistos“, der Name des griechischen Schmiedegottes, passt genau zum Grundwort „Krater“: setzt man doch Hephaistos mit dem lateinischen „Vulcanus“ gleich. Mit dem Wortspiel, das in dieser mytholo­gischen Übersetzung steckt, blei­ ben wir immer noch im Reich des Ohres, das – wie bei der Genese des Mythos – aus dem Wort „Krater“ einen Gott „Vulcanus“ hervorzaubert. Wir sind also wiederum bei den sprachwissenschaft­lichen Theorien über die Entstehung des Mythos gelandet, indem der Eigenname der Person bereits ihren Mythos in sich birgt: einen Gott des Vulkans, der unter dem Ätna seine Schmiede eingerichtet hat, einen Schmiedegott, der nun als Dichter mit seinem „orphisch-­däda­lischem Handwerk“ 460 Worte hämmert. Vulcanus-­Hephaistos ist aber außerdem auch ein Stürzender, derjenige, der vom Olymp auf die vulkanische Insel Lemnos herun­ tergeworfen wurde, also einer der grünbeinschen „Höllenfahrer“. Nach Empedokles und Hephaistos ist der dritte Höllenfahrer Persephone, die vom Hades selbst in die Unterwelt entführt wird: „Hades, der Persephone in sein 459 Grünbein, Galilei, S. 41. 460 Grünbeins Ausdruck, zitiert nach Galilei, S. 13.

Aktiv

Totenreich zieht“. Der Raub der Persephone durch Hades scheint zunächst ein Mythos zu sein, der eine weitere Geschichte vom Sturz in den Krater darstel­ len würde. Zu den Unterweltfahrern Empedokles, Hephaistos und Persephone gesellt sich aber bei Grünbein auch immer wieder die Figur des Dichters, der wie Orpheus oder wie Dante in die Tiefe der Zeit und des Raumes, zu den Anfängen des Wortes, in den Abgrund der Totenwelt hinunterfährt. In seinem Essay Galilei vermisst Dantes Hölle erklärte Grünbein Dante für eine emblematische Figur aller dichterischen Höllenfahrer, „eine gelebte Verkörperung aller Unterweltfahrer und Bergsteiger von Odysseus bis Empedokles“.461 Und seit Dantes Gött­licher Komödie, dieser „verschütteten Römerstraße von der antiken in die moderne Welt“ 462, gehört Persephone, d ­ ieses einst Blumen pflückende unschuldige Mädchen, unerläss­lich zu den Unterweltfahrern der Moderne. Aus dem Namen Persephone könnte man mit einer spielerischen Etymologie (im Stil des platonschen Kratylos) das Wort „Phone“, „Laut“, „Stimme“ heraushören, so würde der Laut das dichterische Wort selbst, das in die Unterwelt entführt wird. Persephones Abstieg in die Unter­ welt bildet eine poetolo­gische Reise: „Lyrik ist eine Reise ins Innenohr“ – sagt ­Grünbein – „in die Gedächtnistiefen und phonetischen Labyrinthe.“ 463 Die Höllenfahrt der Persephone führt in diese „phonetischen Labyrinthe hin­ unter, erst in den „vulkanischen Abgrund“, dann in das Reich einer verschwun­ denen Zeit, in den Hades der Toten. Aus diesen mit Lavaschutt bedeckten Erinnerungsschichten eines Archivs kollektiver Erinnerung werden nun einige Wort-­Scherben mit den Überresten von Mythen, Worten, ausgegraben, Über­ bleibsel einer untergegangenen europäischen Kultur. Es ist nicht nur das Gehirn, dessen „graue Substanz“ während des Schreibpro­ zesses „aktiv“ wurde: Das Ich stürzt zuletzt in ein noch unbekannteres Reich hinab, in das Reich des aktivierten babylonischen Herzens. Die Szenen werden „rotfi­ gurig“, also zum ersten Mal farbig, nicht nur, weil sie mit einem archäolo­gischen Fachausdruck die Herstellungstechnik des Kraters benennen. Die „rotfigurige(n) Szenen“ kontrastieren mit der „grauen Substanz“ des Gehirns, sie sind Scherben einer Liebesgeschichte, Spuren vom Raub der Eurydike-­Persephone. 461 Grünbein, Galilei, S. 97. 462 Dante Alighieri: Divina Commedia, Inferno 9. Gesang, Verse 44 f. Siehe dazu auch Her­ bert Anton: Der Raub der Proserpina. Literarische Tradi­tionen eines erotischen Sinnbildes und mythischen Symbols, Heidelberg 1967, S. 13. 463 Grünbein, Gespräch mit Jocks, S. 31.

236 237

Das Wort als archäologischer Fund

Die Sinn­lichkeit der Liebe ist die letzte poetolo­gische Instanz, sie führt die Splitter der Totenwelt zusammen und verleiht ihnen neues Leben. Zur kühlen archäolo­gischen Zusammenführung der Scherben gesellt sich ihr Kontrast, näm­ lich die warme Zuneigung zur schattenhaften Präsenz dieser heraufbeschworenen Vergangenheit.464 Somit zeigt das poetische Wort erst hier in den Schlussversen sein Doppelwesen als Signifikant eines abwesenden Anwesens: Es ist erstens ein Fremdkörper, ein zufälliger Fund, den man wie die befremdende kalte Tiefe des eigenen Gehirns experimentell betrachten kann. Es ist aber zugleich eine ma­gische Stimme aus dem Hades der Vorzeit, der das Herz aktiviert. Nennen wir sie mit dem mythischen Namen Persephone. Sollte Grünbein deklariert haben, dass ihm die teuren Toten, die Schatten der Vorzeit weit anwesender ­seien als seine lebenden Zeitgenossen, lässt sich doch die traurige Erfahrung d ­ ieses Gedichts so resümieren, dass diese Schatten, diese Stimmen genauso wenig umarmt werden können, wie auch Odysseus verwehrt war, den Schatten seiner toten M ­ utter zu umarmen. In der Nekya-­Szene der Odyssee wollte er näm­lich ihr Gespenst drei­ mal umarmen, sie entflog aber dreimal seinen Armen, „als sei sie ein Schatten / oder ein Traum“.465 Gegen die Kälte des Wortes als Fremdkörper, als bloßes Objekt einer nüch­ ternen sprachwissenschaft­lichen Beobachtung oder als Artefakt (wie es etwa bei Benn war),466 setzt also Grünbein die ereignishafte Wärme der Stimme aus der Tiefe der Zeit entgegen. Die vernommene Stimme ist aber zwiespältig, anwe­ send und abwesend zugleich, die durch einen Lebenden vernommene Stimme eines Toten.

464 Siehe dazu Helmut Böttiger/Durs Grünbein: Benn schmort in der Hölle. Ein Gespräch über dialo­gische und monolo­gische Lyrik, in Text und Kritik, Bd. 153: Durs Grünbein, 2002/1, S.  72 – 84. Sowie Karen Leeder: Flaschenpost. The Address of German Poetry, in: German Life and Letters, Vol. 60, 2007, S. 277 – 293. 465 Od. XI ; 205 ff. 466 Böttiger/Grünbein:Text und Kritik, Bd. 153, S. 72 – 84.

Auf der Akropolis

Die Antike ist immer die Stimme des Anderen: Auf der Akropolis Das Gedicht Aktiv hat es gezeigt: Für Grünbein ist die Antike – wie sie es bereits für Keats war – immer die Stimme des Anderen. Hier zufällig ins Ohr dringende Stimmen, anderswo, so zum Beispiel im Gedicht Auf der Akropolis, die vocis imago deutscher Klassiker. Auf der Akropolis „Aber bist du mir jetzt näher und bin ich es dir?“ Friedrich Schiller Er war nie hier. Auch die nicht, und der und jener – Die Kleinstaatdeutschen mit dem Herz in Griechenland. Bis nach Sizilien kamen sie, Bordeaux. In Jena Durchdachte einer, was er seit der Schulzeit kannte, Und blieb doch fern. Wie Diener tuschelnd vor der Tür, Berieten sie, die Kenner, sich in Philosophensprache. Die Steine, von Touristen, Kodakjägern heut berührt, Sie sind noch da, streng nummeriert, gefallne Pracht, Und schweigen doch, die Säulen, abgewetzt, die Stufen. Nur einer hat ihn noch gespürt im Leib, Apollons Schlag. Ein Andres immer suchend, darbte er, an fernen Ufern. Ein Tempelberg, und ringsum Reisebusse, Tag für Tag. Die Väter schwärmten, heimatlos, und der verlorne Sohn, Vom Zufall hergeweht, kommt eines Tages dort oben an. Was er da sieht, verstört, ist das alters her Gewohnte: Den Müll, ein blaues Kleid, die Biene überm Thymian.467

Den Versen wurde ein Schillermotto vorangestellt: „Aber bist du mir jetzt näher und bin ich es dir?“ Die Frage stammt aus Schillers Gedicht Die Antike an den nordischen Wanderer und wird dort von der personifizierten Antike selbst an den Wanderer gestellt, der sich über Ströme und Meere hinwegsetzte, um die Antike

467 Durs Grünbein: Gedichte, Bde. I–III, Frankfurt/Main 2008, Bd. III, S. 173.

238 239

Das Wort als archäologischer Fund

„in der Nähe zu schaun“ 468. Somit fingiert Grünbein durch das Zitat ein Gespräch mit einem toten Klassiker und reflektiert zugleich selbstironisch auf seine eigene phy­sische Nähe zur Antike anläss­lich seines Besuchs auf der Akropolis. Die Technik des Zitierens gehört bekannt­lich zu den wichtigsten poetischen Mit­ teln Grünbeins, wodurch mehreres erzielt wird. Erstens wird der Effekt einer Überzeit­lichkeit oder – wie eben in ­diesem Gedicht – einer Verbindung meh­ rerer Zeitebenen erzeugt; zweitens wird dem Text der Effekt des Dialo­gischen, also ein dramatisches Prinzip, beigefügt.469 Der Sprecher des spätmodernen Reisegedichts gedenkt mit seinem Schreiben des von Griechensehnsucht erfüllten jungen Klassikers Schiller, des Dichters der Götter Griechenlands, der, wie im ersten Vers ausgesprochen wird, doch nie in Griechenland war: „Er war nie hier“: Er war nie hier. Auch die nicht, und der und jener – Die Kleinstaatdeutschen mit dem Herz in Griechenland.

„Die Kleinstaatdeutschen mit dem Herz in Griechenland“ sind Schiller, Goethe und Hölderlin. „Bis nach Sizilien kamen sie, Bordeaux“, wie Goethe und wie Hölderlin. Goethe wird aber dann nicht mehr erwähnt. Es ist ironisch genug, dass man vom Olympier eben in d ­ iesem Kontext nur noch schweigt. Also die Lebenswege Schillers und Hölderlins werden einander entgegengesetzt. In einer Anspielung auf Hölderlins Brief an Casimir Böhlendorff,470 in dem der Dich­ ter den Einbruch seiner plötz­lichen psychischen Zerrüttung mit dem Bild, vom Apoll geschlagen zu sein, umschrieb, wird an Hölderlins leib­liche Erkenntnis des Griechischen erinnert, die ihm auf einer Sta­tion seiner unruhigen Wander­ existenz, die ihn „an fernen Ufern“, vielleicht an den Ufern der in das Meer mündenden Garonne als „Apolls Schlag“ traf. Wenn irgendwo, dann in diesen referenziell durchaus belasteten Versen 471 würde der Terminus „essayistische Lyrik“ auf Grünbein zutreffen: 468 Friedrich Schiller: Sämt­liche Werke. Historisch-­kritische Ausgabe in 20 Bänden, hrsg. v. Otto Güntter und Georg Wittkowski, Leipzig 1911, Bd. 2, S. 88. 469 Alexander Müller: Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grünbeins, Wiesbaden 2004, S. 36. 470 Friedrich Hölderlin: Sämt­liche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, 3 Bde., Mün­ chen 1992, Bd. 2, S. 921. 471 ‚Ein Andres immer suchend‘ – lässt sich auch als ein Hölderlinzitat erkennen.

Auf der Akropolis

Nur einer hat ihn noch gespürt im Leib, Apollons Schlag. Ein Andres immer suchend, darbte er an fernen Ufern.

Wie der geistige Vater Hölderlin weiß der verlorene Sohn Grünbein auch, „jedes wirksame Schreiben“ geht „vom Körper aus“.472 Die bloß intellektuelle, philoso­ phische und untertänige Haltung Schillers kontrastiert aber deut­lich mit einer solchen Erkenntnis. Er wird wie ein Kammerdiener charakterisiert, der nur anderen die Tür öffnet, selbst aber draußen bleibt und „tuschelt“ in abstrakter „Philosophensprache“. Sollten diese entgegengesetzten Grundhaltungen einander widersprechen, haben sie trotzdem etwas Wichtiges gemein: Sie – Schiller und Hölderlin – gehören zu den „Vätern“, auf die sich der spätmoderne poeta doctus, als ‚verlorener Sohn‘, zurückbesinnt: Die Väter schwärmten, heimatlos, und der verlorne Sohn, Vom Zufall hergeweht, kommt eines Tages dort oben an.

Diese emphatische neutestament­liche Metaphorik vom Vater und vom verlorenen Sohn enthält einen krassen ironischen Zug. Der Sohn kehrt dort ein, wohin die Väter nie gelangen konnten, aber „heimatlos“ ihre vermeint­liche wahre Heimat suchten. Das väter­liche Haus sei somit mit der verkommenen Ruine der Akro­ polis identisch. Die Verwandtschaft von Vater und Sohn zeigt sich außerdem darin, dass der „Sohn“ mit den Worten der „Väter“ reden darf. Der Besuch allzu vertexteter Orte mag das Gefühl der Überflüssigkeit eigener Autopsie manchmal sehr vehement zum Ausdruck bringen.473 Dem alten Topos der fragwürdigen Autopsie gibt aber Grünbeins Gedicht eine neue Wendung. Er weiß, dass der Dichter nicht an dem realen Ort, sondern an einem literarischen Ort ankommt, wenn er auf die Akropolis hinaufsteigt. Seine Poetik steigert die in den vorangehenden Kapiteln vielfach erörterte Spannung z­ wischen dem Ort (Topos) und dem literarischen Topos ins Extreme. Der Dichter weiß wohl, dass wir uns nicht am Ort selbst, sondern in der Schilderung des Ortes befinden, dass wir in unserer Begegnung mit touristischen Plätzen immer ein déja vu erleben,

472 Grünbein, Galilei, S. 40 ff. 473 Christiane Zintzen: Von Pompeji nach Troja. Archäologie , Literatur und Öffent­lichkeit im 19. Jahrhundert, Wien 1998, S. 75 f.

240 241

Das Wort als archäologischer Fund

da der fremde Ort bereits aus literarischen Quellen, aus dem Fernsehen und aus den Photographien auf vielfache Weise bekannt ist.474 Die Besinnung auf die Dichterpersön­lichkeiten der deutschen Klassik ver­ wandelt die Akropolis zu Athen zu einem besonderen Ort der literarischen Erinnerung. Topographie ist die Verzeichnung, Beschreibung, Darstellung oder Aufzeichnung einer Lokalität, die ihre Besonderheiten, Zusammenhänge und Ordnungen feststellt; auf ähn­liche Weise weist die dichterische Topographie auf die literarischen Topoi in ihren Zusammenhängen hin. Der Sprecher erinnert sich und uns an die fragwürdige Realität des Ortes, die sich teils aus der Utopie „Athen“ der deutschen Klassiker, teils aus ihrem Gegenpol, aus der Atopie eines modernen Nichtortes des Tourismus, zusammensetzt. Die dialo­gisch aufgebau­ ten Verse lassen das Einst und das Jetzt, das pathetische „Schwärmen“ und die nüchterne „Realität“ aufeinanderprallen, sodass sie einander in ihrer Verquickung gegenseitig auslöschen: Die Steine, von Touristen und Kodakjägern heut berührt, Sie sind noch da, streng nummeriert, gefallne Pracht, Und schweigen doch die Säulen, abgewetzt, die Stufen. […] Ein Tempelberg, und ringsum Reisebusse, Tag für Tag. Die Väter schwärmten, heimatlos, und der verlorne Sohn, Vom Zufall hergeweht, kommt eines Tages dort oben an. Was er da sieht, verstört, ist das von alters her Gewohnte: Den Müll, ein blaues Kleid, die Biene überm Thymian.

Aus dem Monument, das zwar uns noch mit seiner schillerischen „gefallne(n) Pracht“ anzusprechen versucht, ist eine auf die Steine, auf diese strikt materielle Fragmente reduzierte numerische Präsenz geworden. Die Steine s­ eien „streng nummeriert“, anscheinend von Archäologen, die sich in ihrem Umgang mit dem antiken Kunstwerk genauso in der Wissensordnung des bloß Numerischen, des Quantifizierbaren bewegten wie einst Galilei, als er Dantes Hölle genau nach ihrem Maß durchmessen wollte. Das Verfehlte dabei sei nicht der Versuch gewesen, kommentiert Grünbein das Ereignis, dass ein Naturwissenschaftler

474 Grünbein, Gespräch mit Jocks, S. 72.

Auf der Akropolis

wie Galilei Dantes dichterische erfundene, aber theolo­gisch existierende Hölle als einen topographisch messbaren Ort aufgefasst hatte, sondern dass sie für ihn nur noch als solches galt: „Der Blick hat sich verengt auf den Bereich des Quantifizierbaren, er kehrt zurück in die Grenzen des faktischen Wissens, die eine Wüste umschließen, wie sie am bib­lischen Anfang geherrscht hat.“ 475 „Die Welt ist in ihrer Messbarkeit erweitert, in ihrer Innigkeit verkleinert worden“ 476, womit sich der Blick auf den Parthenon auf das banal Verständ­liche, auf das fraglos Machbare des Baus verengt. Der nüchtern registrierende Ton des ersten Verses wird mit einem schwulstigen, zitathaften Vers fortgesetzt, mit einem Gemeinplatz: „Und schweigen doch, die Säulen“. Das Schweigen des Marmors bzw. der Säulen ist ein bekannter Topos in der klassizistischen Dichtung, man liest ihn u. a. bei Emmanuel Geibel: „Bei euch, ihr hohen Säulen, lasst mich weilen, / ihr stummen Zeugen…“; dann bei Heinrich Vierordt: „Aus dem Trümmerfeld verschwiegen / Steigt der Marmor­ säulen Hain“.477 Aus dieser kleinen und sicher­lich hier noch nicht vollständig aufgelisteten Referenz intertextueller Bezüge ist zu ersehen, dass die Gemeinplätze zumeist von Kleinmeistern stammen, wie Emmanuel Geibel, dem Wiesbadener Heimat­ dichter Heinrich Vierordt (1855 – 1945) oder dem Verleger Hermann Kesten. Der intertextuelle Bezug zu Geibel und Vierordt wird durch die Betitelung Auf der Akropolis klar akzentuiert.478 Im Spannungsfeld von Idealismus und ernüchtern­ der Autopsie, von Worten verstaubter Klassikerväter und denen der „verlorenen Söhne“ kann der Sprecher ‚seine‘ Worte nur noch im schneidend selbstironi­ schen Ton formulieren. Wo kommt man also an, wenn man sich Auf der Akropolis befindet? Gewiss nicht am Ort der Referenz. Aber welch ein literarischer Ort wird sich hier als Sprachraum öffnen! Es ist kein literarischer Ort, an dem der Sprecher zu Hause wäre, wohin er wie ein verlorener Sohn einkehren könnte. Der identitätsstiftende 475 Grünbein, Galilei, S. 98. 476 Zitiert von Günter Eich: Rede von den Kriegsblinden, Aus: Gesammelte Werke, hrsg. v. Axel Vieregg, Frankfurt/Main 1991, Bd. 4, S. 438. 477 Emmanuel Geibel: Auf der Akropolis zu Athen, Heinrich Vierordt: Die Karyatiden am Erechtheustempel. 478 Über die intertextuelle Verweisfunk­tion der meisten grünbeinschen Titel siehe Florian Berg: Das Gedicht und das Nichts. Über Anthropologie und Geschichte im Werk Durs Grünbeins, Würzburg 2007, S. 181 ff.

242 243

Das Wort als archäologischer Fund

Ort Europas, seine Heimat existiert nicht mehr. Das Ich des Gedichts kommt in einem Überall an. Man sieht nur „ein(en) Tempelberg und ringsum Reise­ busse“ oder das „von alters her Gewohnte“. Der Blick des Besuchers wird mit Nachdruck „verstört“ genannt.479 Es ist ein verstörtes, fragiles, ja diffuses Ich, das auf paradoxe Weise eben „das von alters her Gewohnte“ schockiert. Es ist eine beinahe absurde, schockierende Mischung, die das Ich dort in Sicht bekommt: „Den Müll, ein blaues Kleid, die Biene überm Thymian.“ Zuerst wird mit einem Selbstzitat der „Müll“ genannt. In Grünbeins Dich­ tung und in seinen Prosatexten kommt dem Müll eine besondere Bedeutung zu. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung nannte Grünbein die von allen Menschen benutzte, ja abgenutzte Sprache selbst ein Abfallprodukt, mit dem der Dichter vorliebnehmen müsse: Seine Gedichte gedeihen auf ­diesem Müll, in ­diesem Medienmüll, in dem wir leben.480 Der Müll als Selbstzitat wird in unserem Text im archäolo­gischen Kontext wiederholt: Müll ist das, was aus unserem kultu­ rellen Gedächtnis herausgefallen ist, was man dem Vergessen übergab, das man als relativ wertlos beurteilt.481 Der Archäologe wurde bereits in den satyrischen Gedichten eines Richard Dehmel zu einem bloßen Schuttgräber, zu einem Müll­ sammler degradiert, der alle Art von nutzlosen Resten aus dem Schutt zusam­ menkramt. Müll ist aber bei Grünbein auch Abfall anderer Natur: Die Worte und Zitate aus einer vergessenen Dichtertradi­tion, all das, was man literarisch ausgräbt: „[…] der Pinsel des Ausgräbers, die Schaufel des Müllsammlers, dies ist der Stoff, aus dem die Gedichte sind.“ 482 Das zweite Motiv bildet „ein blaues Kleid“. Es scheint beim ersten Blick die Spur einer momentanen Sinneswahrnehmung zu bewahren. Dieser individu­ elle Erinnerungssplitter klingt aber bei erneuter Lektüre doch einigermaßen rilkeisch, und zwar wegen der Art, wie sich der Beobachter auf einzelnen opti­ schen Eindruck, insbesondere auf die Farbe des Kleides konzentriert. Waren es

479 Im Wort „verstört“ kann man außerdem eine Anspielung an Hölderlin hören; somit wird die vorher bereits akzentuierte Verwandtschaft z­ wischen dem toten Dichter (Vater) und dem Gedicht-­Ich (verlorener Sohn) verstärkt. 480 Grünbein, Poetikvorlesung, S. 36. 481 Siehe die in dieser Hinsicht aufschlussreiche Darstellung von Sonja Klein, „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“, S. 65 f. 482 Durs Grünbein: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990 – 2006. Frankfurt/Main 2007, S. 13 – 18, hier S. 18.

Auf der Akropolis

die berühmten Verse aus Rilkes Gedicht Das Karussell, die im Ohr des Dichters ein Echo fanden? Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald, nur daß er einen Sattel trägt und darüber ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.483

Ein Essay Grünbeins, dessen Titel Ein kleines blaues Mädchen heißt, verrät uns, dass er sich um 2007 intensiv mit ­diesem Gedicht auseinandersetzte.484 Ähn­lich wie im Schluss des rilkeschen Gedichts die einzelnen Farbeffekte „Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet“ werden, werden im Schlussvers Grünbeins die einzelnen fragmentierten, auf einen einzigen Moment reduzierten Eindrücke schnell „vorbeigesendet“. Wollten wir über diese Koinzidenz ­zwischen Rilkes und Grünbeins Gedicht noch eingehender nachdenken, ließe sich fragen, ob bei Grünbein die touristisch ausgebeutete Akropolis – um sie herum mit den Reise­ bussen – dem Ich des Gedichts nicht etwas wie ein perverser Vergnügungspark, wie ein Karussell erscheint? Und drittens gesellt sich das Motiv der „Biene überm Thymian“ zur Reihe, ein Zitat, das an die ehemalige Wahrnehmung der Akropolis in ihrer Umgebung durch Vierordt, Gerhart Hauptmann, Theodor Däubler oder Hermann Kesten erinnert. Ich führe als philolo­gischen Nachweis bloß die folgenden Zitate an: Vierordt: „Sind es Bienen, leise summend?“ „Veilchen athmen, Thymiandüfte / Weben um das Parthenon“ Kesten: „Auf dem Hymettos summen noch die Bienen“.485

Mit dem Hinweis auf die „Biene überm Thymian“ wird also dem als gesäubert, geräumt, verplant und entfremdet empfundenen historischen Ort ein melancho­ lischer Sprachgestus entgegengestellt, der mit der „falschen“ Erinnerung den Verlust, die Leere, demonstriert. Die einst noch lebendige Flora und Fauna der Akropolis mit den Thymianpflanzen und den Bienen als Erinnerungsbild 483 Hervorhebung von mir. E. ­K. 484 Durs Grünbein: Ein kleines blaues Mädchen. Zu Rainer Maria Rilke ‚Das Karussell‘, Det­ mold 2007. 485 Hermann Kesten: Akropolis am Mittag, 1950.

244 245

Das Wort als archäologischer Fund

widerspricht völlig dem wackligen, öden, steinernen Monument, einer von seiner natür­lichen Umgebung gereinigten wissenschaft­lichen Konstruk­tion mit ihrer kulissenhaften Musealisierung. „Die Erinnerung wecken, den Geist eines Ortes – für sich im Stillen, weit weg vom Geschehen, ließ sich das jederzeit machen. Was aber war, wenn der Ort längst geräumt war, hinterrücks neu verplant, mit allen Kräften verfälscht, als Kulisse musealisiert?“, fragt Grünbein in seiner Frankfurter Poetikvorlesung.486 Das dichterische Ich sieht (es wird emphatisch gesagt: „was er sieht…“) das Abwesende, die Bienen, die in seiner dichterischen Erinnerung und zugleich in seiner selbst reflektierten dichterischen Aktivität immer noch Honig aus den Tälern der Musen sammeln: Die erst abgedroschenen Topoi, lose Einzelein­ drücke von Farbe und Duft haben etwas von der Magie der Belebung, sie verlei­ hen Leben dem ansonsten aus streng nummerierten Steinen wiederaufgebauten Tempel, einem Monument unserer bloß statistischen, buchhaltungsmäßig ver­ walteten Existenz. Somit verleiht das Abwesende, das Nichtexistierende Leben dem, was noch anwesend zu sein schien, an sich aber nichtig, nur funk­tionsloser archäolo­gischer Müll wäre. An der Stelle des verfallenen Monuments ist aber die Dichtung noch da, der Dichter schreibt noch ein Gedicht von der Akropolis, wenn auch nur unter Ver­ wendung von Worten und Zitaten aus zweiter Hand. Die Akropolis mit ihrem Thymianduft und den summenden Bienen lebt näm­lich in der literarischen Erin­ nerung des dort eben anwesenden Dichters, der sich nun als Biene betrachtet. Die Dichter wurden ja in Platons Ion als bienenähn­liche Wesen vorgestellt, die „aus Gärten und Tälern der Musen Honig sammeln und uns so ihre Lieder bringen wie die Bienen den Honig“ 487. Eben ­dieses letzte poetolo­gisch selbstreferenzielle Motiv der Bienen unterstreicht, mit der Energie des Schlusswortes beladen, dass das Geschäft des Dichters als Biene zugleich ein Secondhandladen geworden ist, in dem all aufgefundener benutzter, abgelegter, in den Müll geworfener Kram wieder ausverkauft wird. Man kann nicht umhin, eine künstlerische Analogie zu assoziieren, Michelangelo Pistolettos Venere dei stracci: eine plumpe Gipsko­ pie einer nackten Venusstatue steht vor ihrem „Kleiderschrank“, d. h. vor einem (Müll-)Berg von Secondhandklamotten.

486 Grünbein, Poetikvorlesung, S. 46. 487 Platon, Ion, 534a, SW, Bd. I, S. 137, übers. v. Franz Susemihl.

Auf der Akropolis

Abb. 44 

Michelangelo Pistoletto: La Venere degli stracci

Inmitten der selbstreferenziellen, poetolo­gisch wirksamen Ironie des lyrischen Textes Grünbeins lässt sich aber ein melancho­lischer Ton vernehmen. Nicht anders verhielt es sich mit der Schlusssentenz des Aktiv, in der mit der Erin­ nerung an Persephone und Hades eine Neigung zum Totenreich zu spüren ist. Die ruinierte antike Welt wird damit nicht nur zur Chiffre für modernen Verfall, wie bei Gottfried Benn, sondern verwahrt ihre Integrität in ihrer Absenz. Sie ist das Verschwundene, das Tote, das der Dichter mit kaltem Gehirn ausgräbt, aber dessen Scherben er im Schutt doch mit einer gewissen Trauer wehmütig – aber ohne Nostalgie – betrachtet.

246 247

Das Wort als archäologischer Fund

Metapher Im dritten Gedicht Metapher ist die ausgegrabene Antike eine Maske, die Maske des sarkastischen 488 Dichters Lukian, der sich mit der mythischen Figur Charons unterhält. Das Gedicht fängt mit einem Zitat an: „Zerplatzen aber müssen sie alle“ scherzt Lukian Mit der Stimme des Charon. Vor Lachen Kaum halten kann der sich, auf Erden zu Gast. Gemeint sind die Blasen, alle die Menschenleben, Wie Schaum unterm Wasserfall aufgeworfen. Ein Bild für die Götter, dies ihr quirliges Werden Und Vergehen binnen kürzester Zeit. Manche sind klein und zerplatzen sofort, manche Überdauern länger, so höhnt er. Sie fließen Mit andern zusammen, bilden luftige Herden. Chimären aus Luft sind sie alle, die vielen Leben, Groß die einen, die andern verschwindend gering. Aufgebläht sind sie, zeitlebens Beschwerte Von Schwerkraft, all diese Nichtse. Zum Beispiel die Gräber der Helden von Troja – „Groß sind sie ja nicht gerade“, spottet der Fährmann Am hiesigen Ufer. Mit Waffen und Pferden Begraben, blieb nichts als ein grüner Hügel zurück. Ninive, Babylon, Ilios, Mykene: zeig mir die Städte, Ruft er dem Hermes zu. Alle verschwunden, Beschämend die Reste, erwidert der Göttergefährte.

488 Zum Sarkasmus siehe Hinrich Ahrend: „Tanz ­zwischen sämt­lichen stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins, Würzburg 2010, S. 48 f.

Metapher

So hat sich sein Ausflug gelohnt. Was für ein Leben Sie führen, die Armen, vom Unglück Versehrten. „An Charon denkt keiner“, resümiert er verstört.489

Angeführt wird hier vom Dichter Lukians Dialog Charon oder die Weltbeschauer. Charon: „Soll ich dir also sagen, Merkur, wie mir die Menschen und ihr ganzes Leben vorkommen? Du mußt ja wohl oft die Blasen in einem mit Gewalt her­ vorsprudelnden Wasser gesehen haben, aus deren Zusammenhäufung der Schaum entsteht? Von diesen Blasen sind die meisten so klein, dass sie augenblick­lich zergehen und verschwinden; andere dauern etwas länger, und indem mehrere kleine mit ihnen zusammenfließen, blähen sie sich auf und steigen mit großem Schwulste, zerplatzen aber doch bald wieder so gut wie jene, weil es ihrer Natur nach nicht anders sein kann. Geradeso kommt mir das Leben der Menschen vor. Alle werden auf kurze Zeit mit Lebensgeist angeschwellt, die einen mehr, die anderen weniger; bei vielen hat diese Aufblähung einige[,] wiewohl sehr kurze Dauer, andere verschwinden schon im Entstehen, zerplatzen aber müssen sie alle.“ Charon schafft hier eine poetische Metapher, das Bild der Wasserblasen, wel­ ches das Menschenleben darstellt. Indem er auf seine Weise an dieser Metapher bastelt, wird er gewissermaßen zu einem Dichter, seine Stimme verwandelt sich zur Stimme Hölderlins, der nicht nur einen Traktat über Das Werden im Vergehen schrieb, sondern in Hyperions Schicksalslied den Vergleich des Menschenlebens mit den Wasserblasen am Meeresufer schuf: „Es schwinden, es fallen / Die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur andern, / Wie Wasser von Klippe / Zu Klippe geworfen […].“ 490 Aus dem hölderlinschen Vergleich wird bei Grünbein eine sarkastische Meta­ pher, indem er ja schon wegen seines Berufs als Fährmann und als „Dichter“ den Tod bejaht. Die Metapher wird herkömm­lich als die rhetorische Figur der „Übertragung“ des Sinnes definiert, was schon in ihrem Namen angegeben ist: „Metapherein“ heißt etwas „hinüberbringen“, „über-­tragen“. Ein Hinüberbringer, ist aber eo ipso auch Charon selbst, der Unterweltsfahrer, der mit seiner Barke die Toten vom Ufer des Lebens in den Hades hinüberbringt. Bilder aus dem Bereich der Schifffahrt wurden in der europäischen Dichtung von alters her zu 489 Grünbein, Der Misanthrop, S. 74. 490 Friedrich Hölderlin: Sämt­liche Werke und Briefe. Hrsg. von Michael Knaupp, Mün­ chen 1992, Bd. I, S. 745.

248 249

Das Wort als archäologischer Fund

Metaphern für Dichten und Dichtung. „Der Dichter wird zum Schiffer, sein Geist oder sein Werk zum Kahn“ – stellte Ernst Robert Curtius fest. Bei Grünbein wird jedoch diese metaphorische Koinzidenz ­zwischen dem Dichter als Schiffer und Höllenfahrer, der immer schon in Charons Barke sitzt, und dem Schiffer Charon sowie ­zwischen dem Zitat und dem Gedicht selbstreflexiv gebraucht. Aus dem Tatbestand der „Metapher“, des Übertragens tritt mit einem Wortspiel die mythische Figur des Übertragers, der Dichter-­Charon hervor, die dasselbe tut wie die Metapher: einen überbringt; in d ­ iesem Wortspiel bringt er aber zugleich seine Wortmetapher zum Zerplatzen. Indem der Dichter (Lukian – Grünbein) mit Charon metaphorisch gleich­ gesetzt wird, erweist sich seine Lyrik als ein Grenzverkehr ­zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten.

Die leere Fundgrube: Forma Urbis Romae Das Gedicht Forma Urbis Romae erhielt seinen Titel wiederum von einem archäolo­ gischen Fund. „Forma Urbis Romae“ wurde näm­lich jener riesige Grundrissplan des alten Roms genannt, der im 3. Jahrhundert nach Christus in 150 Marmorplat­ ten eingraviert wurde und eine Wand der Aula des Templum Pacis bedeckte.491 Der Sprecher des grünbeinschen Gedichts steht ebenfalls vor einer Karte der „ewigen“ Urbs, wohl vor einer touristischen Karte, und starrt auf den Pfeil „siete qui“: Siete qui sagt der Pfeil Am Ort der Leere. – Sie sind hier. Wo sind wir? Wer sind wir?

Der Nomade des 21. Jahrhunderts, der (mit Rose Ausländers Versen) reist, „um nicht da zu sein, wo“ er ist, der reist, „um NIEMAND zu sein“ 492. Dieser Nachkomme 491 Steffen Bogen/Felix Thürleman: Rom. Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute, Darmstadt 2009. 492 Rose Ausländer: Odysseus, zitiert nach: Bernd Seidensticker/Peter Habermehl (Hrsg.): Unterm Sternbild des Hercules. Antikes in der Lyrik der Gegenwart, Frankfurt/Main – Leipzig 1996, S. 104.

Forma Urbis Romae

Abb. 45 

Fragment des antiken Stadtplans von Rom, der sogenannten Forma Urbis Romae

des Odysseus schaut auf seine eigene leere Stelle auf dem Stadtplan Roms. „Am Ort der Leere“ werden die Fragen gestellt, die an ein „wir“ Touristen oder an die Sozietät des niemand, der europäischen Nomaden gerichtet ist. Sie werden im Gedichttext als „Agenten des Ungefähren“, als „Abgesandte der reinen Absenz“ genannt, und sie werden befragt: „Wo sind wir? Wer sind wir?“. Wir sind das Imaginäre, Die Agenten des Ungefähren. Es gibt jetzt nur uns hier Im Staub des Forum Romanum, Da, wo vieles begann, was wir sind, Abgesandte der reinen Absenz. Wo sind wir? – Sie sind hier, Sagt der Pfeil und zeigt wortlos Den Ort an, die Grube zu Füßen. Doch da ist nur Erdreich.

250 251

Das Wort als archäologischer Fund

Ein Nicht-­Ich schaut also ein Nicht-­Objekt an. Diese Absenz ist anderer Art als die Leere, mit der die Besucher des antiken Griechenlands im 20. Jahrhun­ dert konfrontiert waren. Für die Dichter der Moderne bildete doch jene Absenz eine Abwesenheit, die etwas Gespenstisches in sich barg, es war eine Leere einer ehemaligen Anwesenheit, die in der Erfahrung des reinen Lichts noch schatten­ haft in Erscheinung kam. Und man erinnere sich wieder an Grünbeins Gedicht Auf der Akropolis, in dem sich die Absenz deutscher Dichter, näm­lich der gro­ ßen Klassiker, konstitutiv erweist: Ihre Abwesenheit, Ihr Nie-­Dasein hat das dichterische Sprechen des modernen Dichters überhaupt ermög­licht. In d ­ iesem Romgedicht wird hingegen eine andere Leere, eine andere Absenz konstatiert, die in ihrer Eigenart die oben detailliert beschriebene Spannung ­zwischen Rom und Hellas in sich birgt. Forma Urbis Romae ist ein Stadtplan, einer der ersten, der dazu dient, sich in einer Stadt orientieren zu können. Sie will den Besucher einladen, die Stadt zu begehen, sie nicht nur zu schauen, sondern auch zu lesen. Doch bleibt Rom für den Besucher unlesbar. Der Platz des auf die Karte star­ renden Ich ist leer, er ist in dieser Stadt immer zugleich überall und nirgendwo, und in d ­ iesem Ortslosen und Orientierungslosen geht die urbs auf, ihre „Form“ erweist sich als vollkommen formlos. Ein Trümmerhaufen der Geschichte, der Zeiten, die es nicht mehr gibt. Die Geschichte, setzt Grünbein Walter Benjamin entgegen, betreffe nicht mehr das, was läuft, sondern „was längst gelaufen ist“.493 Forma Urbis Romae nennt sich sein Emblem, eine in die kleinsten Stücke zerfallene Karte einer zu unrettbaren Trümmern gewordenen Stadt. Wer nach Überresten der Vergangenheit sucht, gräbt nicht einmal Schutt oder Müll aus, er findet bloß eine leere Grube: „Doch da ist nur Erdreich“ – ohne irgendwelche Assozia­tion an die ­Mutter Erde her­ vorzurufen. Der archäolo­gische Fundort ist poetolo­gisch betrachtet vollkommen leer, ist restlos entleert geworden. Aus dem Plural erster Person des obigen Zitats geht klar hervor, dass es hier zugleich um unser Grab, um unsere leere Grube, geht, es ist unsere leere Stelle, die der Europäer. An diese poetolo­gische Reflexion schließt sich die Frankfurter Poetikvorlesung an:

493 Grünbein, Gespräch mit Jocks, S. 19.

Forma Urbis Romae

Raumlos, Erinnerung … und keine Stadt, An die man sich heimkehrend, halten kann.494

Grünbeins Kommentar lautete 2009 wie folgt: „Das sagt einer, dem allmäh­lich dämmert, welcher Luxus das in der Zukunft sein wird: eine kulturelle Identität.“ 495 Dichten ist für Grünbein eine Höllenfahrt, ein charontischer Grenzverkehr ­zwischen Moderne und Antike, ­zwischen Lebenden und Toten.496 Seine dichte­ rische Logik erinnert an jene Wendung hegelschen Dialektik vergleichen, nach der es ­zwischen den binären Opposi­tionen wie Leben und Tod, Anwesenheit und Abwesenheit auch ein Drittes gibt: ein lebendiges Totes und ein totes Lebendi­ ges, ein Gespenst, die verkörperte Präsenz der Absenz. Unsere obige Lektüre der grünbeinschen poetischen Topoi, das heisst der ver- oder übernommenen Zitate könnte folg­lich so resümiert werden, dass wir in ihnen eine subversive Sinn­lichkeit erkennen, eine hautnahe, gespenstische Präsenz der fernsten poetischen Stimmen. Der Poeta doctus weiß, dass es kei­ nen unmittelbaren Weg zur Antike gibt, dass der Weg immer über die Arbeit an der Überlieferung bzw. über deren ‚Zurückbiegen‘ (im Sinne der Etymologie zu ‚Reflexion‘) führt. Die archäolo­gische Topographie einer Sprachlandschaft, ­welche die poetolo­gische Aufgabe dieser Dichtung formt, reißt jeden mythischen Tradi­ tionsraum auf und stellt das entfremdete, gereinigte Vergangene in unserem Raum vor. Die Vergangenheit wird aber somit keinesfalls gerettet, weder im Denkbild noch in der Allegorie im benjaminschen Sinne. Das ausgegrabene Wort gerinnt nicht zu einem Bild der Erinnerung, es ist selbst bloß eine Spur eines einstigen Anwesens, eine Scherbe, die ganz radikal vom fehlenden Objekt, von dem sie umgebenden Nichts her betrachtet wird. Wie aber einst die Worte als Namen verstanden Götter, Figuren und Bilder aus dem Nichts hervorzauberten, so kön­ nen die aus der Hölle der Zeit wieder hervorgeholten Worte diesen Zauber einer sinn­lichen Präsenz scheinbar ‚wieder holen‘. Im Essayband Galilei vermißt Dantes Hölle denkt Grünbein über jene Wende nach, die man emblematisch mit dem Namen Galileis zu verbinden pflegt, und die zum Schicksal der europäischen Kultur wurde: Die Wissenschaft, für die sogar die Hölle einen exakt messbaren Raum bedeutet, hat die frühere Form 494 Grünbein, Poetikvorlesung, S. 46. 495 ebd. 496 Ahrend, „Tanz ­zwischen sämt­lichen Stühlen“, S. 321.

252 253

Das Wort als archäologischer Fund

eines sinn­lichen Wissens endgültig antiquiert. Der Dichter glaubt nicht, dass es eine Überwindung – oder heideggerisch zu sprechen – eine ‚Verwindung‘ die­ ser Moderne gäbe. Der Dichter vermag aber eben im Prozess seines aktivier­ ten Gedächtnisses mit seinem unumgäng­lich von der Wissenschaft geprägten Denken das Wort archäolo­gisch auszugraben, jenes Wort, das diese sinn­liche Erkenntnisfülle einst besaß, und er versucht, das ist ja sein Metier, es – im Sinne der Moderne – nicht nur nervenphysiolo­gisch zu speichern, sondern auch dich­ terisch aufzubewahren.

254 255

Epilog: Die aufgeräumten Ruinen Nekrophilie ist die Liebe zur Zukunft. Man muß die

Anwesenheit der Toten als Dialogpartner oder Zer­ störer akzeptieren – Zukunft entsteht allein aus dem

Dialog mit den Toten.497

Im gleichen Jahr, in dem Grünbein von der leeren Grube der Antike sprach, hat Adolf Borbein sehr skeptisch über die kulturelle Auswirkung seiner Fachdiszi­ plin in einem Vortrag in Budapest festgestellt: Die Antike ist nicht mehr ein wichtiger oder selbstverständ­licher Bezugspunkt des

europäischen Denkens und künstlerischen Schaffens, kein notwendiger Bestandteil

mehr des Formenarsenals öffent­licher und privater Repräsenta­tion. Sie ist uns nicht

nur fern gerückt, sondern hat unter den Dingen, die uns fern gerückt sind, auch ihre privilegierte Stellung verloren.498

Der klas­sische Archäologe registriert damit eine neue Phase der Krisen inner­ halb des kulturellen Prozesses, dem unsere Untersuchung von den Dichtern um 1900 bis zu Grünbein folgte. Nachdem manche Vertreter der Avantgarde und anderer Ismen die Antike für obsolet erklärt hatten und trotzdem ihre Kunst und Dichtung von einem neuen Rezipieren der Trümmer der Antike zeugt, hat sich in der Nachkriegszeit vor allem unter Altertumswissenschaftlern die Meinung verbreitet, dass die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland alle echte Bezugnahme auf die Antike zerstört hätten. Angesichts solcher wohlbekann­ ten Transforma­tionen im gegenwärtigen Verhältnis zum antiken Hellas wird in ­diesem kurzen Epilog unternommen, eine mehr persön­liche Reflexion darzubieten. Man kann dort ansetzen, dass die Erinnerung an antike Ruinen nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer neuen Heuristik und geschicht­lich bewirkten Emo­ tionalität wachgerufen wurde. Die beunruhigende Präsenz neuer Ruinen konnte 497 Heiner Müller – Frank Michael Raddatz: „Jenseits der Na­tion“, Berlin 1991, S. 31. 498 Adolf Borbein: Distanz und Verfremdung. Zur Rezep­tion des archäolo­gischen Objekts in Wissenschaft und Kunst vom 20. zum 21. Jahrhundert. In: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 45 – 74, angeführt S. 45.

Epilog: Die aufgeräumten Ruinen

jene alten Überreste vergangener geschicht­licher Katastrophen in einen vollkom­ men neuen Kontext stellen und sie für unsere Wahrnehmung magnetisieren. So dachte man, im ruinierten Berlin die in Brand gesetzte, bis zu ihren Fundamenten zerstörte Stadt Troja wiederzuerkennen: Verse aus der Ilias wurden bei der ersten Theateraufführung 1945 rezitiert, vor einem Hintergrund der Photographien der Trümmer der Stadt.499 Und Herbert List, dessen Griechenlandphotographien mit dem Titel Licht über Hellas noch nicht erschienen waren, stilisierte die photo­ graphierten Ruinen Münchens zu Ruinen der Antike. Im Anschluss an die Korrespondenzen z­ wischen den Ruinen unterschied­licher Zeitschichten der Vergangenheit wurde das 20. Jahrhundert von mehreren Den­ kern wie Simone Weil, George Steiner, Oliver Taplin oder zuletzt Alain Badiou mit der Epoche der Ilias in Parallele gestellt. In seinem 2006 veröffent­lichten Buch Das Jahrhundert behauptet Badiou, das vergangene Jahrhundert habe sich selbst in seinen Erzählungen als eine ununterbrochene Abfolge von Massakern reflektiert und dazu eine neue metaphorische Sprache des Krieges entwickelt.500 Den klarsten Anknüpfungspunkt an die Ilias erkennt er aber im Paradoxon, dass der modernen epischen Heroisierung des Krieges die ­gleiche Gegenfigur wie bei Homer gegenübergestellt wird, näm­lich jene auktoriale Gleichgültigkeit, die sich in der numerischen Registrierung des vorher nie gekannten Ausmaßes an der Lust des Tötens niederschlägt. Ließen sich ­solche Beobachtungen einer zyk­lischen Wiederkehr zu ihren fremd gewordenen archaischen Fundamenten Europas postulieren, würde dies keinesfalls eine Renaissance andeuten. Im Gegenteil. Die homerische Meta­ pher für das 20. Jahrhundert hat zwar vorher s­ olche beispielhaften Werke wie Christa Wolfs Kassandra oder Heiner Müllers Philoktet inspiriert, und Dich­ ter wie Kunert oder Arendt konnten die dichterische Wahrheit antiker Tragö­ dien gegen die Konstrukte ideolo­gisch geprägter Geschichtsschreibung stellen. Die Tragödien des Sophokles wurden mit ihrem Hinterfragen purer politischer 499 Oliver Taplin: Feuer vom Olymp. Die moderne Welt und die Kultur der Griechen, Hamburg 1991, S. 280. 500 Alain Badiou: Das Jahrhundert, Zürich – Berlin 2006, S. 47 f. Die g­ leiche Metapher haben u. a. George Steiner, Oliver Taplin und Richard Stoneman verwendet, ohne jedoch unter der Metapher mehr zu verstehen als eine Chiffre für den permanenten Krieg. George Steiner: Antigones, Oxford 1984; Richard Stoneman: Die Idee Trojas. Resonanzen in England und Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert. In: Eva Kocziszky (Hrsg.), Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, S. 337 – 358.

Epilog: Die aufgeräumten Ruinen

Ra­tionalität in ganz Europa als Gegengift der Diktaturen betrachtet und sie galten als richtungsweisend in breiteren Kreisen der Gesellschaft: Antigone und Elektra durften in Ungarn der 50er- bis 80er-­Jahre eine vergleichbare politische Aktualität gewinnen. Zahlreiche Theateraufführungen wandten sich gegen die Übergriffe staat­licher Gewalt und mahnten an die Unantastbarkeit der Würde des toten Menschen. Wer orientiert sich aber im 21. Jahrhundert noch an der Ilias, wenn es um die Frage nach einem gerechten oder ungerechten Krieg ginge? Wer würde noch angesichts der geschundenen Leichname und der im Namen der „Gerechtigkeit“ verwehrten Gräber jüngster Geschichte die Argumente erwägen, ob auch heute noch dem Feind die Würde gebühren sollte, bestattet und beweint zu werden? Zu den ganz wenigen gehören noch Intellektuelle wie Zizek, die in ihrem Rückblick auf das Jahr 2011 nach der aktuellen politischen Aussage der sophokleischen Antigone fragen und das Kerndilemma des Dramas (Brecht folgend) zum Teil der öffent­lichen Debatten machen wollen. Sein Vor­ schlag jedoch, aus dem Zeitgeschehen des Jahres 2011 ein griechisches Drama sofort in drei Versionen schreiben zu wollen, weist darauf hin, dass die ‚Regie‘ des Ereignisses der Gestalt einer griechischen Tragödie als das Medium moder­ ner Geschichte widerspricht.501 Die Gegenwärtigkeit der lange nicht mehr mustergültigen Antike scheint stark dadurch beeinträchtigt zu werden, dass sie den heutigen Betrachter kaum mehr befremdet, anstößt, schockiert. Als ob sie ihren Kern, eine unbestech­liche kritische Instanz in unserer Gesellschaft zu sein, mit dem Verschwinden des Menschen in einer Gesellschaft, die Gottes Tod deklarierte, verloren hätte.502 501 Siehe FAZ vom 31. Dezember 2011, S. 21: „Mein Traum wäre, die Antigone in brechtscher Manier als dreifaches Stück umzuschreiben, in drei Versionen. […] Erste Version: Die Story bleibt, wie wir sie kennen. Zweite Version: Antigone überzeugt Kreon, und man beerdigt den Bruder. Danach passiert, was Kreon befürchtet hat: Rebellion, die Stadt liegt in Schutt und Asche, und Antigone geht und sagt etwas wie: ‚Ich bin für Liebe geschaffen, nicht für den Krieg.‘ Aber genau den hat sie geschaffen. Dritte Version: die stalinistische. Der Chor, normalerweise dumm, tritt vor, konstituiert sich als jakobinischer Wohlfahrts­ ausschuss, verhaftet Kreon und Antigone und errichtet die Diktatur.“ In den seit dem Ereignis vergangenen drei Jahren haben die kulturellen und politischen Analysen d ­ ieses Moment anscheinend völlig vergessen. Man spielt dann den Verwunderten, wie jene ent­ fesselte, in der Historie vorher nie gekannte Impietät gegenüber dem Menschen in den religiös entfesselten Konflikten herrscht. 502 Somit will ich aus der Perspektive der Zeitdiagnose von Alain Badiou eine kritische Kor­ rektur an Taplins Buch (Oliver Taplin: Feuer vom Olymp. Die moderne Welt und die Kultur

256 257

Epilog: Die aufgeräumten Ruinen

Shelleys mutige Behauptung, „wir sind alle Griechen“, konnte in seiner Zeit breite Resonanz finden: Die Individualität, die als höchste Form griechischer Kunst galt, lebte in der Moderne als ästhetische Lebensform, als Ausdruck der Freiheit weiter. Ist jedoch diese Idee nicht völlig obsolet geworden, angesichts der neuen „Postdemokratien“, wie Hans Magnus Enzensberger die neue euro­ päische Gesellschaftsform nach den NSA-Enthüllungen nannte? Die archäolo­gische Dichtung eines Kunerts oder Grünbeins konnte zwar für eine Weile ihre gesellschaft­liche Repräsenta­tion als kritische Instanz bewahren. Die Ereignisse in Ost-­Mittel-­Europa weisen jedoch schon seit dem Balkan­ krieg darauf hin, dass nicht einmal das sarkastischste Vokabular der Dichtung den Zerrbildern moderner Geschichte gewachsen ist; die Realität übertrifft die Mög­lichkeiten und Mittel des Satirischen überhaupt. Sollten aber die klas­ sischen Texte, auf denen unsere Kultur aufgebaut ist, die Gegenwart nicht mehr beleuchten, kann Letztere beliebig, perspektivisch erlebt, erdacht, erträumt wer­ den, nichts steht irrsinnigen Geschichtsfälschungen im Wege. Walter Benjamin und Martin Heidegger haben auf unterschied­liche Weise, aber gleichermaßen elementar auf das Ausmaß einer Zukunft hingewiesen, in der das Wort seine Leuchtkraft verloren haben wird. Es gibt sicher­lich auch weitere Gründe, weshalb man die Tradi­tionslinien antiker Kultur als nicht nur diskontinuier­lich, sondern auch antiquiert empfinden kann. Hat sich die kritische Energie der Gegenordnung „Antike“ allmäh­lich nicht zu sehr und zu einseitig in einer Kontroverse mit der christ­lichen Kultur Europas erschöpft, die selbst nur noch zu einer maroden Ruine im 20. Jahrhundert wurde? Vielleicht ist es unter anderem auch dieser Kontroverse zu verdanken, dass die griechische Antike für uns immer weniger eine Herausforderung, eine Provoka­tion, ja ein Anlass zu einer unheim­lichen Selbstbegegnung werden kann. Sie hat ihr Licht und ihr Salz genauso für manche Intellektuellen des ausgehenden 20. Jahrhunderts verloren wie die Evangelien. So konnte die gutbürger­lich gewordene Antikensehnsucht, die immer mehr ledig­lich jenen zu eigen blieb, die Enzensberger „scheuend die Mühsal der Wahrheit / dem Lernen abgeneigt, das Denken / überantwortend den Wölfen“ der Griechen, Hamburg 1991) vornehmen. Badiou führt Dostojewski an, nach dem Gottes Tod mit dem Tod des Menschen identisch sei, und zieht daraus die Konsequenz, dass wir, wie Michel Foucault sagte, in die Epoche des „radikalen Antihumanismus“ eingetreten ­seien, w ­ elche die Absenz, die Leere des verschwundenen Menschen kennzeichne. Badiou, Das Jahrhundert, S. 299.

Epilog: Die aufgeräumten Ruinen

nannte, ihre kritische Energie allmäh­lich verlieren. Während das humanistische Erbe als Gemeingut zu jener Karikatur herabsank, wie sie etwa von Esther Sünderhauff zu Recht geschildert wurde, konnte die Reduzierung der griechischen Antike auf Lust, Körper und sexuelle Freiheit zwar immer wieder von jenen Dichtern, dessen Werke wir oben angeführt haben, kritisch annulliert werden, diese Dichtung ist aber nun auch zu den Grenzen ihrer Mög­lichkeiten gekommen. Die Müllberge Dresdens sind längst aufgeräumt, seine Ruinen wieder prunkhaft neugebaut. Die Trümmer der Vergangenheit sind europaweit weggeräumt worden, und mit ihnen schwindet zwangsweise auch die Erinnerung. Sie verwandelt sich zum Gedächtnis der Internetarchive, in denen die Ruinen der Antike auch ihren adäquaten Raum finden werden. Oder eine andere Alternative ist, dass die Ruinen selbst mit Gewalt zerstört, vernichtet werden, wie man etwa die Zerstörung des Palastes von Ninive durch die Armee des IS auf den Videoaufnahmen des You tube verfolgen konnte. Diese Filme wiederum bezeugen, dass die Ruinen machtvolle Chiffren für eine zweifache Vergäng­lichkeit sind: sie sind unvermeid­lich provo­ kativ, denn sie signalisieren die Temporalität der Epochen menschlicher Kultur und Bautätigkeit und zugleich die des menschlichen Wohnens. Jene Neutralität, ja völlige Respektlosigkeit, die sich gegenüber der Vewundbarkeit der biographi­ schen Existenz des Einzelnen und gegenüber seinem „Überrest“ in den Kriegen des Nahen Osten zeigt, geht ganz konsequent mit der Wut auf die Ruinen einher. Während Warburg, der von der Macht der Bilder sprach und in ihnen eine gewaltsame energetische Potenz erkannte, seine private, Sammlung von sym­ bolträchtigen Bildern „Mnemosyne“ nannte, betitelt der Photograph Mimmo Jodice seine (private) Auswahl von antiken Gesichtern wiederum mit dem gegen das Vergessen gerichteten Wort „Anamnesi“. Aber welch eine Differenz in der Rhetorik der Evoka­tion der Erinnerung! Über die Photographien von Mimmo Jodice wurde öfters behauptet, dass sie uns die Antike wieder ganz nahebringen sollten. Solche aus nächster Nähe photographierten, bloß auf das Gesicht redu­ zierten Statuen aus Pompeji, Athen und Rom schauen uns mit der Expressivität ihrer Verstümmelung, mit der gesteigerten Angst in ihren Augen an, als ob sie ihrem eigenen Ende begegneten, als ob diese verstümmelten, mit Blut besprengten, verfallenen Funde nicht nur aus der Vergangenheit, sondern aus einer nächsten, geschauten Zukunft, aus der Perspektive eines anderen kulturellen Endpunktes abge­lichtet wären. Wir wissen von Roland Barthes, dass die Photographie eo ipso nur eine einzige Zeit kennt, ihre scheinbare Gegenwart ist in der Wirk­lichkeit immer schon das Vergangene, das es nicht mehr ist.

258 259

Epilog: Die aufgeräumten Ruinen

Abb. 46 

Mimmo Jodice: Anamnesi 2

260 261

Literaturverzeichnis

Quellen Anders, Günther: Tagebücher und Gedichte, München 1985. Arendt, Erich/Hayek-­arendt, Katja: Griechische Inselwelt, Leipzig 1962. Arendt, Erich: Starrend vor Zeit und Helle. Gedichte der Ägäis, München 1980. –– : Memento und Bild, Leipzig 1976. –– : entgrenzen, Leipzig 1981. –– : Arendt, Erich / Laschen, Gregor / Schlösser, Manfred: Der zerstückte Traum, Berlin 1978. Atabay, Cyrus: An- und Abflüge, München 1958. –– : Doppelte Wahrheit. Gedichte und Prosa, Hamburg – Düsseldorf 1969. –– : Die Wege des Leichtsinns, Düsseldorf 1994. Auden, W. ­H.: Collected Poems, London 1976. Ausländer, Rose: Gesammelte Gedichte, Köln 1977. Bachmann, Ingeborg: Sämt­liche Gedichte, hrsg. v. Christine Koschel, München 2002. –– : Werke, hrsg. Christine Koschel, Bd. 4. Essays, Reden, vermischte Schriften, München 1978. Benn, Gottfried: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt/ Main 1982. Bennholt-­Thomsen, Anke: In Grenzen gesetzt. Gedichte, München 1972. Binding, Rudolf: Erlebtes Leben, Frankfurt 1927. Bonnefoy, Yves: Wanderne Wege. Aus dem Franzö­sischen von Friedhelm Kemp, München 1997. –– : La vie errante, Paris 1993. –– : Das Unwahrschein­liche oder die Kunst, München 1994. Borchers; Elisabeth: Eine Geschichte auf Erden. Gedichte, Frankfurt/Main 2002. Byron, George Gordon: The complete poetical works, ed. by Paul Elmer More, Boston 1955. Carossa, Hans: Sämt­liche Werke, Bd 1, Frankfurt/Main 1962. Celan, Paul: Der Meridian. Endfassung, Vorstufen, Materialien, hrsg. v. Bernhard Böschenstein und Heiko Schmull, Frankfurt/Main 1999. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, hrsg. v. Barbara Wiedemann, Frank­ furt/Main 2003. Conrady, Karl Otto: Das große deutsche Gedichtbuch, Bonn 1977. Däubler, Theodor: Griechenland, hrsg. v. Max von Sidow, Berlin 1946. –– : Im Kampf um die moderne Kunst und andere Schriften, hrsg. v. Friedhelm Kemp und Friedrich Pfäfflin, Darmstadt 1988. Dehmel, Richard: Gesammelte Werke, Berlin 1907. –– : Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 – 1902, Berlin 1922. Dehmel, Richard/Kessler, Harry Graf: Briefwechsel 1898 – 1935, hrsg. v. Roland Kamzelak, E-Edi­tion 2004. Ehrenstein, Albert: Gedichte und Prosa, hrsg. v. Karl Otten. Neuwied 1961.

Literaturverzeichnis

–– : Menschen und Affen, Berlin 1925. Eich, Günter: Gesammelte Werke, hrsg. v. Axel Vieregg, Bde 1 – 4, Frankfurt/Main 1991. Enzensberger, Hans Magnus: Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, Frankfurt/Main 1975. Fried, Erich: Gesammelte Werke, hrsg. v. Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach, Bde.  1 – 3: Gedichte, Berlin 2006. Fritz, Walter Helmut: Gesammelte Gedichte, Hamburg 1979. –– : Gesammelte Gedichte 1979 – 1994, Hamburg 1994. Geibel, Emmanuel: Gesammelte Werke in acht Bänden, Stuttgart 1888. Goethe, Johann Wolfgang: Versuch. Die Elemente der Farbenlehre zu entdecken (1790 – 1807). In: Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 2008, Bd. 23/2. Goll, Yvan: Traumkraut. Gedichte aus dem Nachlass, Wiesbaden 1951. –– : Dichtungen. Lyrik, Prosa, Drama, hrsg. v. Claire Goll, Darmstadt 1960. –– : Die Lyrik in vier Bänden, hrsg. v. Barbara Glauert-­Hesse, Berlin 1996. Grimm, Reinhold E. (Hrsg.): Italien-­Dichtung Bd. 2. Gedichte von der Klassik bis zur Gegenwart, Stuttgart 1988. Grünbein, Durs: Von der üblen Seite. Gedichte 1985 – 1991, Frankfurt/Main 1994. –– : Galiei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen, Frankfurt/Main 1996. –– : Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990 – 2006, Frankfurt/Main 2007. –– : Durs Grünbein im Gespräch mit Heinz-­Norbert Jocks, Köln 2001. –– : Der Misanthrop auf Capri. Historien; Gedichte, Frankfurt/Main 2005. –– : Gedichte, Bde I–III, Frankfurt/Main 2006. –– : Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2008, Frankfurt/Main 2010. –– : Aroma, Frankfurt/Main 2011. Hauptmann, Gerhart: Sämt­liche Werke. Bde. 1 – 10, hrsg. v. Hans-­Egon Hass, fortges. von M ­ artin Machatzke Berlin 1966. –– : Griechischer Frühling, Frankfurt/Main – Berlin 1966. Hofmannsthal, Hugo von: Briefe 1900 – 1909, Wien 1937. –– : Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, hrsg. v. Bernd Schoeller /Rudolf Hirsch, Frankfurt/Main 1979 – 80. hölderlin, Friedrich: Sämt­liche Werke. Unter Mitarb. von Friedrich Seebass bes. durch Norbert von Hellingrath, Bd. 4: Gedichte, 1800 – 1806/besorgt durch Norbert v. Hellingrath, Berlin 1916. –– : Sämt­liche Werke und Briefe, hrsg. v. Michael Knaupp, 3 Bde., München 1992. Hommel, Paul: Sizilien. Landschaft und Kunstdenkmäler. Mit einem Geleitwort von H. v. Hof­ mannsthal. München 1926. James, Henry: The American Scene, Bloomington – London 1907. József, Attila: Szeretném, ha vadalmafa lennék. Ein wilder Apfelbaum will ich werden. Gedichte 1916 – 1937, Übersetzt von Daniel Muth, Zürich 2005. Kästner, Erhart: Die Lerchenschule. Aufzeichnungen auf der Insel Delos, Frankfurt/Main 1964. Kaschnitz, Marie Luise: Gesammelte Werke, hrsg. v. Christian Büttrich und Norbert Miller, Bd. 5: Die Gedichte, Frankfurt/Main 1985. Kavafis, Konstantinos: Das Gesamtwerk, hrsg. und übersetzt von Robert Elsie, Zürich 1997. Kunert, Günter: Im weiteren Fortgang, München 1974. –– : Warum schreiben. Notizen zur Literatur, Berlin – Weimar 1976.

Quellen

–– : Abtötungsverfahren, München – Wien 1980. –– : Berlin beizeiten, München 1987. –– : Verspätete Monologe, München 1989. Kurz, Isolde: Wandertage in Hellas, München 1921. –– : Gesammelte Werke, Bde. 1 – 5, München 1925. Kutsch, Axel (Hrsg.): Orte. Aussichten. Deutssprachige Lyrik der Gegenwart, Weilerswist 1997. Lingg, Hermann: Gedichte, Stuttgart (ohne Jahresangabe). –– : Lyrisches. Neue Gedichte, Wien 1885. –– : Meine Lebensreise, Berlin 1899. List, Herbert: Licht über Hellas. Eine Symphonie in Bildern, München 1953. Ludwig I.: Gedichte König Ludwigs I. von Bayern, Leipzig 1899. Lukian: Werke in drei Bänden, Berlin – Weimar 1974. Malewitsch, Kasimir: Essays on Art 1915 – 1933, London 1969. –– : Die gegenstandslose Welt, München 1927. Mitterer, Erika: Gesammelte Gedichte, Wien 1956. Morris, Jan (Hrsg.): Reisen mit Virginia Woolf, Frankfurt/Main 1999. Müller, Heiner: Gedichte, Berlin 2000. Nostiz, Helene von: Aus dem alten Europa. Menschen und Städte, Leipzig 1926, zitiert nach der Neuausgabe, hrsg. v. Karl Krolow, Frankfurt/Main – Leipzig 1993. Ovidi Nasonis Amores, Medicamina faciei femineae, Ars amatoria, Remedia amoris, Oxford 1961. Pausanias: Beschreibung Griechenlands, übers. v. Ernst Meyer, Bde. I–II, Zürich – Stuttgart 1967. Peterich, Eckart: Gesammelte Gedichte, München 1967. Platon: Sämt­liche Werke, Berlin 1941. Poethen, Johannes: Auf der Suche nach Apollon. Sieben griechische Götter in ihrer Landschaft, Heliopolis 1992. –– : Das Nichts will gefüttert sein. Fünfzig Gedichte aus fünfzig Jahren 1944 – 1994, Weissach im Tal 1995. –– : Zwischen dem All und dem Nichts. Gedichte 1988 – 1993, Ettingen 1995. Preuschen, Hermione von: Kreuz des Südens, Berlin 1907. –– : Der Roman meines Lebens, Berlin – Leipzig 1926. Rilke, Rainer Maria: Sämt­liche Werke, hrsg. v. Ernst Zinn, Bde 1 – 6, Frankfurt/Main 1975. –– : Briefe, hrsg. v. Rilke-­Archiv Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-­Rilke. Frankfurt/ Main 1987. Rimbaud, Arthur: Sämt­liche Werke, Leipzig 1976. Rose, Hans: Klassik als künstlerische Denkform des Abendlandes, München 1937. Schiller, Friedrich: Sämt­liche Werke, Historisch-­kritische Ausgabe in 20 Bänden, hrsg. v. Otto Güntter und Georg Wittkowski, Leipzig 1911. Schrott, Raoul: Weissbuch, München – Wien 2004. Seidensticker, Bernd/Habemehl, Peter (Hrsg.): Unterm Sternbild des Hercules. Antikes in der Lyrik der Gegenwart, Frankfurt/Main – Leipzig 1996. Shelley, Percy Bysshe: Ausgewählte Werke. Dichtung und Prosa, Frankfurt/Main 1990. Valéry, Paul: Gedichte. Franzö­sisch und Deutsch. Die Seele und der Tanz. Eupalinos oder Der Architekt, Hamburg 1962. Vierordt, Heinrich: Akanthusblätter. Dichtungen aus Italien und Griechenland, Heidelberg 1888.

262 263

Literaturverzeichnis

Winckelmann, Johann Joachim: Die Kunst des Altertums (1764), zitiert nach: Adolf H.  ­Borbein, Thomas W. ­Gaethgens, Johannes Irmscher und Max Kunze, Kritische Ausgabe, Mainz 2002, Bd. 4. Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft, Leipzig 1850. Winkler, Johann Gottlob: Die Dauer der Dinge. Dichtungen – Esssays – Briefe, München 1985. Woolf, Virginia: Am Mittelmeer. Unterwegs in Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei, Frankfurt/Main 1995. Zollinger, Albin Gedichte. Sternfrühe, Stille des Lebens, Haus des Lebens, Gedichte aus dem Nachlass, hrsg. Silvia Weimar, Zürich 1962.

Sonstige Literatur Accosta-­Hughes, Benjamin: The Poem Remembers Conceptualiza­tion of Memory in the Poetry of Callimachus and Cavafy, Classical and Modern Literature, Vol. 23, Part 2, 2003, 19 – 36. Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, Bd. I, Frankfurt/Main 1958. Ahrend, Hinrich: Essayistische Lyrik. Grünbeins Grenzgänge ­zwischen Poesie und Poetik. In: Kai Bremer/Fabian Lampart/Jörg Wesche (Hrsg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, Freiburg – Berlin – Wien 2007, 135 – 170. Ahrend, Hinrich: „Tanz ­zwischen sämt­lichen stühlen“. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins, Würzburg 2010. Albrecht, Monika/Göttsche, Dirk (Hrsg.): Bachmann-­Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart – ,Heidelberg 1967. Armstrong, Richard: Urorte und Urszenen. Freud und die Figuren der Archäologie. In: Knut Ebeling/Stefan Altekamp (Hrsg.): Die Aktualität des Archäolo­gischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/Main 2004, 137 – 158. Assmann, Aleida/Gomille, Monika/Rippl, Gabriele (Hrsg.): Ruinenbilder. München 2002. Assmann, Jan: Krypta – Bewahrte und verdrängte Vergangenheit. Künstlerische und wissenschaft­liche Explora­tionen des kulturellen Gedächtnisses. In: Bernhard Jussen (Hrsg.): Archäologie ­zwischen Imagina­tion und Wissenschaft: Anne und Patrick Poirier, Göttingen 1999, 83 – 99. Augè, Marc: Orte und Nicht-­Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt/ Main 1994. Aurnhammer, Achim / Pittrof, Thomas (Hrsg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklas­sische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002. Badiou, Alain: Das Jahrhundert, Zürich – Berlin 2006. Barkan, Leonard: Rom, Geschichte und die Spolien des Geistes. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 89 – 102. Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt/Main 1985. Baus, Ursula/Philipp, Klaus Jahn/Stemshorn, Max (Hrsg.): Die Farbe Weiß. Farbenrausch und Farbverzicht in der Architektur. Katalog. Ulm 2003. Baudrillard, Jean: Denn die Illusion steht nicht im Widerspruch zur Realität. In: Bernd Stiegler: Texte zur Theorie der Photographie, Stuttgart 2010, 50 – 58.

Sonstige Literatur

Behrmann, Alfred: Metapher im Kontext. Zu einigen Gedichten von Ingeborg Bachmann und Johannes Bobrowski, Der Deutschunterricht 1968/9, 28 – 48. Beloch, Karl Julius: Griechische Geschichte, Strassburg 1914. Belting, Hans: Bild-­Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001. –– : Der Ort der Bilder. In: Hans Belting/Lydia Hausstein (Hrsg.): Das Erbe der Bilder. Kunst und moderne Medien in den Kulturen der Welt, München 1998, 34 – 53. Benjamin, Walter: Briefe, hrsg. v. Gerschom Scholem und Theodor W. ­Adorno, Bde 1 – 2, Frankfurt/Main 1966. –– : Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main, Bde 1 – 7, 1974 ff. berg, Florian: Das Gedicht und das Nichts. Über Anthropologie und Geschichte im Werk Durs Grünbeins, Würzburg 2007. Bennholdt-­Thomsen, Anke: Das topographische Verfahren bei Hölderlin und in der Lyrik nach 1945. In: Gerhard Kurz (Hrsg.): Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Tübin­ gen 1995, 300 – 322. Billeter, Erika (Hrsg.): Skulptur im Licht der Photographie. Von Bayard bis Mapplethorp, Bern 1997. Blix, Göran: From Paris to Pompeii. French Romanticism and Cultural Politics of Archaeology, Phi­ ladelphia 2009. Blunck, Lars (Hrsg.): Die photographische Wirk­lichkeit. Inszenierung  – Fik­tion  – Wirk­lichkeit, Bielefeld 2010. Böhm, Gottfried/Miller, Norbert (Hrsg.): Frühklassizismus. In: Bibliothek der Kunstliteratur, Bd. 2, Frankfurt/Main 1995. Böhm, Gottfried/Brandstätter, Gabriele/Müller, Achatz von (Hrsg.): Figur und Figura­tion. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München 2007. Bogen, Steffen/Thürleman, Felix: Rom. Eine Stadt in Karten von der Antike bis heute, Darm­ stadt 2009. Böhme, Hartmut: Die Ästhetik der Ruinen, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hrsg.): Der Schein des Schönen. Göttingen 1989, 287 – 304. Bonhomme, Jean­-François: Lettres du Mont Athos, Paris 1994. Bonhomme, Jean­-François/Lepidis, Clément: Sur les pas du Colosse de Maroussi. Lettre à Henry Miller. Photographies Jean-­François Bonhomme, Paris 1989. Borbein, Adolf: Distanz und Verfremdung. Zur Rezep­tion des archäolo­gischen Objekts in Wissenschaft und Kunst. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 45 – 74. Böschenstein, Bernhard: Hölderlins Gedicht „Am Quell der Donau“ – Versuch einer Lektüre. In: Christoph Jamme/Anja Lemke (Hrsg.): „Es bleibet aber eine Spur/Doch eines Wortes“. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins, München 2004, 67 – 76. Braun, Michael: Die deutsche Gegenwartsliteratur, Köln – Weimar – Wien 2010. Brauchitsch, Boris von: Das Ma­gische im Vorübergehen. Herbert List und die Photographie, Mün­ ster –Hamburg 1992. Breccia, Evaristo: Catalogue Géneral des Antiquités Égyptiennes du Musée D‘Alexandrie. Iscrizioni Greche e Latine, Le Caire 1911. Brinkmann, Vinzenz/Wünsche, Raimund (Hrsg.): Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Katalog München 2004.

264 265

Literaturverzeichnis

Bruneau, Philippe: Explora­tion Archeologique de Délos, Bd. XXIX, Les Mosaiques, Paris 1972. Brunner, Karl: Griechenland in Byrons Dichtung, Anglia 1936, 203 – 210. Buchheim, Thomas: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994. Canetti, Elias: Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942 – 1972, München 1993. Canetti, Elias: Masse und Macht. In: Werke in zehn Bänden, Bd. 3, München 1993. Celan, Paul: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Hrsg. B. ­Wiedemann, Frankfurt/ Main 2003, In: Werke in zehn Bänden, Bd. 4, Aufzeichnungen 1942 – 1985. Chiarini, Paolo: Auf der Suche nach wahren Sätzen. Zur Poetik Ingeborg Bachmanns. In: Horst Dieter Schlosser/Hans Dieter Zimmermann: Poetik, Frankfurt/Main 1988, 15 – 26. Dahl, Sverre: Gerhart Hauptmanns Griechenlandbild. In: ders. (Hrsg.): Gedenkschrift für Trygve Sagen, Reprosentalen 1979, 133 – 148. Cooper, Francis A.: The Temple of Apollo Bassitas, New York – London 1978. Dällenbach, Lucien/Nibbrig, Christiaan L. ­Hart (Hrsg.): Fragment und Totalität, Frankfurt/ Main 1984. De Chirico, Giorgio: Wir Metaphysiker. Gesammelte Schriften, hrsg. v. Wieland Schmied, Ber­ lin 1973. De Rider, Jacques: Hugo von Hofmannsthal, Wien 1997. –– : Doch mehr Moses als Apoll und Dionysos? Zu Freuds Umgang mit der Altertumswissenschaft. In: Achim AURNHAMMER / Thomas PITTROFF:„Mehr Dionysos als Apoll“:antiklassizistische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, 205 – 215. Deridda, Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan, Graz – Wien 1986. –– : Gesetzeskraft. Der “mystische Grund der Autorität”, Frankfurt/ Main 1991. –– : Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, hrsg. v. Michel Wetzel, München 1997. –– : Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1997. –– : Bleibe, Athen. Aus dem Franzö­sischen von Markus Sedlaczek, Wien 2010. –– : We other Greeks, in: Miriam Leonard (ed.): Derrida and Antiquity, Oxford 2010. Dickhoff, Wilfried W.: Zur Hermeneutik des Schweigens. Ein Versuch über das Imaginäre bei Gottfried Benn, Königstein 1984. Didi-­Hubermann, Georges: Supersti­tion. In: Peter Geimer (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/Main 2002, 434 – 440. –– : Die Welten des Richard Dehmel. Ausstellung in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Hamburg 1995. Diels, Hermann/Kranz, Walther (Hrsg.): Fragmente der Vorsokratiker, Bde. 1 – 3, Hildesheim 1996. Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1998. Dubois, Philippe: Die Fotografie als Spur eines Wirk­lichen. In: Bernd Stiegler: Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, 102 – 114. Düppe, Stephan: „Am Anfang war das Wort“ – Zu Gottfried Benns Bildtheorie. In: Ralph Köhnen: Denkbilder. Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, 235 – 258. Durrell, Lawrence: Spirit of Place. Letters and Essays on Travel, London 1969. Ebeling, Knut: Pompeji revisited, 1924. Führungen durch Walter Benjamins Archäologie der Moderne. In: Knut Ebeling/Stefan Altekamp (Hrsg.): Die Aktualität des Archäolo­gischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/Main 2004.

Sonstige Literatur

Eberhardt, Muriel: Hermione von Preuschen (1842 – 1918). Eine Künstlerin um die Jahrhundertwende. In: Zeitschrift für Museum und Bildung Bd. 63, 2005, 8 – 27. Emmerich, Wolfgang: Benns bacchische Epiphanien und ihr dementi. In: Friederike Reents (Hrsg.): Gottfried Benns Modernität, Göttingen 2007. Empereur, Jean-­Yves: Alexandria Rediscovered, New York 1998. Eskin, Michael: „Risse, die durch die Zeit führen“. Zu Durs Grünbeins Historien. In: Durs Grünbein: Der Misanthrop auf Capri. Historien, Gedichte, Frankfurt/Main 2005, Nachwort. Fabre, Gladys: Antiquity/Modernity in Contemporary Art. In: ders. (Hrsg.): Antiguitat/modernitat, en l’art del segle XX. ­Barcelona 1990, 325 – 337. Fabrizio-­Costa, Silvia (éd): Entre trace(s) et signe(s). Qualques approaches herméneutique de la ruine, Bern 2005. Finn, Christine: Past poetic. Archaeology in the poetry of W. ­B. Yeats and Saemus Heaney, London 2004. Fitzon, Thorsten: Pompejanische Schatten. Die Rezep­tion Pompejis in der Literatur um 1900. In: Achim Aurnhammer/Thomas Pittrof (Hrsg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklas­sische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, 299 – 332. Font-­Reaulx, Dominique de: Visions intérieures, la photographie du XXe siécle et l’art de l’ Antiquité, in: D’après l’antique, Cat. Paris Louvre, Paris 2000, 121 – 131. Forget, Philipp: Zur frühen Lyrik von Marie Luise Kaschnitz, Diss. Nancy 1974. Foucault, Michel: Dits et écrits IV.  1980 – 1988. Paris 1994. Freud, Sigmund: Gesammelte Werke, Frankfurt/Main 1964 ff. Bd. XVI. Friedrich, Hugo: Die Struktur der modernen Lyrik: Von Baudelaire bis zur Gegenwart, Hamburg 1956. Friedrich, Peter: Tod und Überleben. Elias Canettis poetische Anti-­Thanatologie. In: Susanne Lüdermann (Hrsg.): Der Überlebende und sein Doppel. Kulturwissenschaft­liche Analysen zum Werk Elias Canettis, Freiburg i. Br. – Berlin – Wien 2008, 215 – 246. Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode, Tübingen 1965. –– : „Über leere und erfüllte Zeit“. In: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, Neuere Philoso­ phie II. ­Gestalten Probleme, Tübingen 1999, 137 – 153. Gage, John: Colour and Culture, Singapure 1993. garnier, Bénédicte: Passion at Work, Rodin and Freud as Collectors. Exhibi­tion of the Rodin Museum Paris from 15 October 2008 to 22 February 2009. Gassner, Reinhard: Nietzsche und Freud, Berlin 1997. Gelbrich, Dorothea: Meer und Stadt in Däublers Lyrik. In: Dieter Werner (Hrsg.): Theodor Däubler. Zum Erscheinen der geistigen Landschaft Europas in der Kunst. Die Vorträge des Berliner Däubler-­Symposions von 1992, Mainz 1996. Gerhardt, Volker/Reschke, Renate (Hrsg.): Friedrich Nietzsche. Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment, Berlin 2006. Giannakopoulou, Liana: Percep­tions of the Parthenon in Modern Greek Poetry, Journal of Modern Greek Studies, Volume 20, 2002, 241 – 271. Ginsberg, Robert: Aesthetics of Ruins. Rodopi 2002. Guiliani, Luca (Hrsg.): Meisterwerke der antiken Kunst, München 2005. Göhler, Antje: Antikerezep­tion im literarischen Expressionismus, Diss. Hagen, Berlin 2012. Görner, Rüdiger: Nietzsches archäolo­gische Poetik. Den Abschnitt „Was ich den Alten verdanke“ aus der Götzen-­Dämmerung deutend. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 189 – 198.

266 267

Literaturverzeichnis

Gregor Laschen im Gespräch mit Erich Arendt, Die Horen, Bd. 211, 2003, 5 – 12. Green, Christopher / Daehner, Jens / Loreti, Silvia / Cochran, Sara: Modern Antiquity. Picasso, De Chirico, Léger, Picabia, Los Angeles 2011. Gresleri, Giuliano: Le Corbusier. Reise nach dem Orient. Unveröffent­lichte Briefe und zum Teil noch nicht publizierte Texte und Photographien von Edouard Jeanneret, Zürich 1984. Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik de Lesens, Basel – Frankfurt/Main 1995. Gruben, Gottfried: Die Tempel der Griechen, München 1966. Hahn, Heidi: Ästhetische Erfahrung als Vergewisserung menschlicher Existenz, Würzburg 2001. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung, Stuttgart – München 1987. Harder, Matthias: Mythos und Apokalypse. Antikenrezep­tion und Nachkriegsrealität. In: Herbert List: Das Gesamtwerk. Photographien 1930 – 1972, München 2007, 105 – 114. Hardt, Manfred (Hrsg.): Literarische Avantgarden, Darmstadt 1989. Hauck, Winfried: Die Bildwelt bei Iwan Goll, Diss. München 1965. Haupt, Sabine/Würfel, Stefan Bodo (Hrsg.): Handbuch Fin de Siècle, Stuttgart 2008. Heckscher, Wilhelm Sebastian: Die Romruinen. Die geistigen Voraussetzungen ihrer Wertung im Mittelalter und in der Renaissance, Würzburg 1936. Heidegger, Martin: Holzwege, Frankfurt/Main 1972. –– : Zu Hölderlin. Griechenlandreisen, GA Bd. 75, Frankfurt/Main 2000. Heidegger, Martin/Kästner Erhard: Briefwechsel 1953 – 1974. Hrsg. v. Heinrich W. ­Petzet. Frank­ furt/Main 1986. Heise, Hans Jürgen: Natur als Erlebnisraum der Dichtung. Essays, Düsseldorf 1981. Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll, Düsseldorf – Bagel 1961. Homeyer, Helene: Gottfried Benn und die Antike, Zeitschrift für Deutsche Philologie, Bd. 79, 1960, 113 – 124. Horch, Hans Otto: Gottfried Benn. Worte, Texte, Sinn, Diss. Aachen 1974. Huml, Ariane: Silber im Oleander, Wort im Akaziengrün. Zum literarischen Italienbild Ingeborg Bachmanns, Göttingen 1999. Ipsen, Dorothea: Der verstellte Blick: Man sieht nur, was man weiß. Antikewahrnehmung in Reiseberichten über Griechenland um 1900. In: Manuel Baumbach (Hrsg.): Tradita et Inventa. Beiträge zur Rezep­tion der Antike, Heidelberg 2000, 459 – 471. Jacobs, Carol: In the Language of Walter Benjamin, Baltimore – London 1999. Janson, Stefan (Hrsg.): Griechenland. Reise-­Lesebuch, München 2002. Jünger, Frank: Gespann und Herrschaft. Form und Inten­tion großformatiger Gespanndenkmäler im griechischen Kulturraum von der archaischen bis in die hellenistische Zeit, Hamburg 2006. Kambas, Chryssoula: Athen und Ägypten. Helmut von Steinen, Übersetzer von Kavafis, in: Kambas, Chryssula/Mitsou, Marilisa (Hrsg.): Hellas verstehen. Deutsch-­griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln – Weimar – Wien 2010, 289 – 328. Kaschnitz-­Weinberg, Guido von: Die mittelmeerischen Grundlagen der antiken Kunst, Frank­ furt/Main 1944. Kasper, Elke: Zwischen Utopie und Apokalypse. Das lyrische Werk Günter Kunerts von 1857 bis 1987, Tübingen 1995. Kaszinsky, Stefan H.: Poetik der Schlüsselwörter im lyrischen Werk von Erich Arendt. In: ARENDT, Erich / RÖDER, Hendrik: Vagant, der ich bin. Erich Arendt zum 90. Geburtstag, Berlin 1993, 34 – 67.

Sonstige Literatur

Keiling, Tobias: Ort und Zeit im Meridian. Heidegger in Derridas Celan-­Interpreta­tion. In: David Espinet (Hrsg.): Schreiben – Dichten – Denken. Zu Heideggers Sprachbegriff, Frankfurt/Main 2011, 177 – 96. Kessler, Harry Graf: „Griechischer Frühling“. Die Neue Rundschau 1909, 743. Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen. Bd. 2. Die Heroen-­Geschichten, München 2008. Kienlechner, Sabina: Über Archäologie und Grundbesitz. Beobachtungen zum topographischen Schreiben bei Marie Luise von Kaschnitz In: Uwe Schweikert (Hrsg.): Marie Luise von Kaschnitz, Frankfurt/Main 1984, 43 – 57. Kiesel, Helmut: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004. Klein, Sonja: „Denn alles, alles ist verlorne Zeit“. Fragment und Erinnerung im Werk von Durs Grünbein, Bielefeld 2008. Kocziszky, Eva (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 45 – 74. Kocziszky, Eva/Lang, Jörn (Hrsg.): Tiefenwärts. Archäolo­gische Imagina­tionen von Dichtern, Darmstadt 2013. Köhnen, Ralph (Hrsg.): Denkbilder: Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996. Koger, Maria: Die Rom-­Gedichte von Marie Luise Kaschnitz. Ein Thema und seine Varia­tionen, Recherches Germaniques, Bd. 5, 1975, 217 – 242. Kohlschmidt, Werner: Die deutsche Literatur seit dem Naturalismus und die Antike. In: Refo­ matio 1958, 575 – 591. Korte, Hermann: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren. In: Text und Kritik, Sonderband: Lyrik des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, 1999, 63 – 106. Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart 2011. Lapchine, Nadja: Textgenese und Interpreta­tion des Gedichts Feuerhalm. In: Françoise Lartillot/ Axel Gellhaus (Hrsg.): Dokument/Monument. Textvarianz in den verschiedenen Disziplinen der europäischen Germanistik. Akten des 38. Kongresses des franzö­sischen Hochschulgerma­ nistikverbandes (A. ­G. E. ­S.), Bern – Berlin 2008, 251 – 286. Larnaudie, Suzanne: Paul Valéry et la Grèce, Genève 1992. Lauffer, Siegfried (Hrsg.): Griechenland. Lexikon der historischen Stätten. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1989. Leeder, Karen: Flaschenpost. The Address of German Poetry, in: German Life and Letters, Vol. 60, 2007, 277 – 293. Leitfeld, Britta: „Dies alles, um in das Herz der abgeschafften Dinge vorzustoßen“: Benjamins Philosophie und ihre literarische Konkre­tion im Denkbild, in: Ralph Köhnen (Hrsg.): Denkbilder. Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, 141 – 162. Leonard, Miriam: Derrida between Greek and Jew. In: ders. (ed.): Derrida and Antiquity, Oxford 2010, 135 – 158. Leontis, Artemis: Topographies of Hellenism: mapping the Homeland, Ithaca 1995. Lohner, Edgar: Traum vom Mythos. Eine Gedichtinterpreta­tion, in: Reinhold Grimm/Wolf-­Dieter Losemann, Volker: Die Dorier in Deutschland. Die dreißiger und vierziger Jahre. In: Calder III, William M./Schlesier, Renate (Hrsg.): Zwischen Tradi­tionalismus und Romantik. Karl Ottfried Müller und die antike Kultur, Hildesheim 1998, 323 – 348.

268 269

Literaturverzeichnis

Macauley, Rose: Pleasure of Ruins, (zweite Auflage) New York 1977. Malsch (Hrsg.): Die Kunst im Schatten des Gottes. Für und Wider Gottfried Benn, Göttingen 1962, 85 – 111. Marchand, Susanne: Down from the Olympus. Archeology and Philhellenism in Germany 1750 – 1970, Princeton 1996. Mattenklott, Gert: Gerhart Hauptmann – Ein Porträt. In: Walter Engel/Jost Bomers (Hrsg.): Zeitgeschehen und Lebensansicht. Die Aktualität der Literatur Gerhart Hauptmanns, Berlin 1997, 11 – 22. May, Markus/Gossens, Peter/Lehmann, Jürgen (Hrsg.): Celan-­Handbuch, Stuttgart 2008. Mertens, Dieter: Der Tempel von Segesta und die dorische Tempelbaukunst des griechischen Westens in klas­sischer Zeit, Mainz 1984. Miller, J. ­Hillis: Topographies, Stanford 1995, 9. Miller, Norbert: Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München 1978. Morganti, Giuseppe: „Sta Natura ognor verde“: sulla relazione tra rovine e vegetazione. In: Mar­ cello Barbanera (a cura di): Relitti Riletti. Metamorfosi delle rovine ed identità culturale, Torino 2009, 112 – 127. Mösch-­Klingele, Rosmarie: Die loutrophoros im Hochzeits- und Begräbnisritual des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen, Bern 2006. Most, Glenn: Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg. In: Bernd Seidensticker/ Martin Vöhler (Hrsg.): Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stutt­ gart – Weimar 2001. Müller, Alexander: Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grünbeins, Wiesbaden 2004. Müller, Max: Natür­liche Religion, Leipzig 1880, 395. Müller-­Michaels, Harro: Herder – Denkbilder der Kulturen. Ein poetisches und didaktisches Konzept der Denkbilder. In: Ralph Köhnen (Hrsg.): Denkbilder. Wandlungen literarischen und ästhetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main 1996, 37 – 50. Naaijkens, Ton: Die Inseln Arendts. In: Hendrik RÖDER (Hrsg.): Vagant, der ich bin. Erich Arendt zum 90. Geburtstag, Berlin 1993, 147 – 161. Näf, Beat: Von Perikles zu Hitler? Die Athenische Demokratie und die deutsche Historie bis 1945, Bern 1986. Nagy, Gregory: Poetics of Fragmenta­tion in the Athyr Poem of C. ­P. Cavafy. In:Panagiotis Roilos, Imagina­tion and logos: essays on C. ­P. Cavafy, Cambridge 2010, 265 – 272. Nancy, Jean Luc: Am Grund der Bilder, Zürich – Berlin 2006, 135. Neef, Sonja: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Ber­ lin 2008. Néret, Gilles: Kasimir Malevich and Suprematism 1878 – 1935, Köln 2003. Neumann, Peter Horst: Rilkes >Archaischer Torso Apollos< in der Geschichte des modernen Fragmentarismus. In: Lucien Dallenbach/Christiaan L. ­Hart Nibbrig (Hrsg.): Fragment und Totalität, Frankfurt/Main 1984, 257 – 274. Nibbrig, Christiaan Hart L.: Schnitt, Riß, Fuge, Naht. Notizen zur Rela­tion von Ganzem und Teil in neueren deutschen Gedichten. In: Dällenbach, Lucien/Nibbrig, Christiaan L. ­Hart (Hrsg.): Fragment und Totalität, Frankfurt/Main 1984, 350 – 367.

Sonstige Literatur

Nietzsche, Friedrich: Sämt­liche Werke, Kritische Studienausgabe (KSA) hrsg. v. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München 1999. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Frankfurt/Main 1987. Orwells, Daniel: Derrida’s Impression of Gradiva. Archive Fever and Antiquity. In: Miriam Leo­ nard (ed.): Derrida and Antiquity, Oxford 2010, 159 – 177. Osterkamp, Ernst: Sizilien. Reisebilder aus drei Jahrhunderten, München 1986. Otto, Walter F.: Die Gestalt und das Sein. Gesammelte Abhandlungen über den Mythos und seine Bedeutung für die Menschheit, Düsseldorf – Köln 1955. Pearson, Mike/Shanks, Michael: Theatre/Archaeology, London – New York 2001. Perkins, Vivien: Yvan Goll. An Iconographical Study of His Poetry, Bonn 1970. Peschken Martin: Erich Arendts Ägäis. Poiesis des bildnerischen Schreibens, Berlin 2009. Petrowsky, Martin G. (Hrsg.): Eine Dichterin – Ein Jahrhundert. Erika Mitterers Lebenswerk. Wien 2002. Pittrof, Thomas: Gottfried Benns Antikenrezep­tion bis 1934. In: Achim Aurnhammer/Tho­ mas Pittrof (Hrsg.): „Mehr Dionysos als Apoll“. Antiklassizistische Antike-­Rezep­tion um 1900, Frankfurt/Main 2002, 471 – 501. Pohl, Gerhart: Gerhart Hauptmann und Griechenland. In: ders.: Südöst­liche Melodie. Essay, Rede, Hörspiel. Stuttgart 1963, 218 – 235. Prater, Andreas: Streit um Farbe. Die Wiederentdeckung der Polychromie in der griechischen Architektur und Plastik im 18. und 19. Jahrhundert, in: Vinzenz Brinkmann/Raimund Wünsche (Hrsg.): Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Ausstellungskatalog der Glyptothek München, 2003, 257 – 272. Preusser, Heinz-­Peter: Versuchte Modernität. Über einen völlig ungeklärten Begriff und seine rein heuristische Applika­tion auf einige Texte von Günter Kunert. In: Text und Kritik, Heft 109, Januar 1991, 15 – 21. Pulver, Elsbeth: Marie Luise Kaschnitz, München 1984. Raulet, Gerard: Die Ruinen im ästhetischen Diskurs der Moderne. In: Norbert Bolz/Willem van Reijen (Hrsg.): Ruinen des Denkens – Denken in Ruinen. Frankfurt/Main 1996. Rehm, Walter: Europäische Romdichtung, München 1960. Richter, Gisela M. ­A.: Kouroi. Archaic Greek Youths. A Study of the Development of the Kouros Type in Greek Sculpture, London – New York 1960. Rietschel, Thomas: Theodor Däubler. Eine Collage seiner Biographie. Leipzig 1988. Roberg, Thomas: Bilder der Dinge und Denken der Bilder – Zur Poetik von Rilkes Mittelwerk aus der Perspektive einer Denkbildästhetik, in: Köhnen, Ralph: Denkbilde – Wandlungen literarischen und aesthetischen Sprechens in der Moderne, Frankfurt/Main –New York 1996, 163 – 200. Röder, Hendrik (Hrsg.): Vagant, der ich bin. Erich Arendt zum 90. Geburtstag, Berlin 1993. Rösch, Thomas: Kunst und Dekonstruk­tion. Serielle Ästhetik in den Texten von Jacques Derrida, Wien 2008. Schirnding, Albert von: Der Klassiker, der aus der Fremde kam: Cyrus Atabay. In: Irmgard Ackermann (Hrsg.): Fremde Augen-­Blicke. Mehrkulturelle Literatur in Deutschland. Bonn 1996. Schlesier, Renate: Diony­sische Kunst. Gottfried Benn auf Nietzsches Spuren, Modern Language Notes April 1993, 517 – 528.

270 271

Literaturverzeichnis

Schmied, Wieland: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche und die Bildende Kunst. In: Im Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie als Kunst. Veranstaltungsreihe zum 150. Geburtstag des Philosophen, München 1994, 141 – 216. Schnapp, Alain: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie, Stuttgart 2009. –– : Was ist eine Ruine? Entwurf einer vergleichenden Perspektive, Göttingen 2014. Scwandt, Erhard: Das poetische Verfahren in der späten Lyrik Yvan Golls, Diss. Berlin 1968. Seidensticker, Bernd/Wessels, Antje (Hrsg.): Kunerts Antike. Eine Anthologie, Freiburg 2004. Settis, Salvatore: Die Zukunft des ‚Klas­sischen‘. Eine Idee im Wandel der Zeiten, Berlin 2004. Sieglin, Ernst: Expedi­tion Ernst Sieglin. Ausgrabungen in Alexandria, Bde. I–III, Leipzig 1908. Simmel, Georg: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie. Hrsg. v. Ingo Meyer, Frankfurt/Main 2008. Sontag, Susan: Im ­­Zeichen des Saturn. Essays, München 1981. : Über Fotografie, Frankfurt/Main 1978. Souter, Gerry: Malevich. Journey to Infinity, New York 2008. Speier, Hans-­Michael: Grund und Abgrund des Gedichts. Raum als poetolo­gisches Phänomen im Werk Paul Celans. In: Irmela von der Lühe/Anita Runge (Hrsg.): Wechsel der Orte. Studien zum Wandel des literarischen Geschichtsbewusstseins. Festschrift für Anke Bennholdt-­Thomsen, Göttingen 1997, 51 – 66. Spiekermann, Björn: Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels, Würzburg 2007. Sprengel, Peter: Die Wirk­lichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschrift­lichen Nachlasses, Berlin 1982. Steiner, George: Antigones, Oxford 1984. Stephan, Inge: Nachstellungen. Die Antike im psychoanalytischen Alltag. In: Claudia Benthien/ Hartmut Böhme/Ingo Stephan (Hrsg.): Freud und die Antike, Göttingen 2011. Sternberger, Dolf: Die Ruinen von Athen. Deutsche Reisende des neunzehnten Jahrhunderts in Griechenland, Die Neue Rundschau 1939. Stevens, Wallace: Letters of Wallace Stevens, ed. Holly Stevens, New York 1966. Stiegler, Bernd (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010. Stoneman, Richard: Die Idee Trojas. Resonanzen in England und Deutschland im zwanzigsten Jahrhundert. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 337 – 358. Sulzer, Dieter/Dieke, Hildegard (Hrsg.): Der Georg Büchner-­Preis 1951 – 1987. Eine Dokumenta­ tion, München – Zürich 1987. Sünderhauf, Esther: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezep­tion von Winckelmanns Antikenideal 1840 – 1945, Berlin 2004. Taplin, Oliver: Feuer vom Olymp. Die moderne Welt und die Kultur der Griechen, Hamburg 1991. Thiem, Ulrich: Die Bildsprache der Lyrik Ingeborg Bachmanns, Diss. Köln 1972. Toliver, Susanne Shipley: Exile and the Elemental in the Poetry of Erich Arendt, New York 1984. Töpler, Cäcilia: Benn – Ich und Form. In: Gottfried Benn. Text und Kritik, München 2006, 36 – 49. Turowski, Andzrej: Der unbegreif­liche Malewitsch. In: Malewitsch und sein Einfluss. Kat. Lich­ tenstein, Ostfildern 2008, 10 – 18. Usener, Hermann: Götternamen, Bonn 1896.

Sonstige Literatur

Voigt, Felix A.: Gerhart Hauptmann und die Antike, Berlin 1965. Wagenknecht, Christian (Hrsg.): Zur Terminologie der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1988. Wagner-­Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textinterpreta­ tion, Stuttgart – Weimar 1997. Wallas, Arnim A.: Albert Ehrenstein. Mythenzerstörer und Mythenschöpfer. München 1994. Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen. ­­ Hrsg. v. Walter Benjamin Archiv Berlin, Frankfurt/Main 2006. Wannagat, Detlev: Der Blick des Dichters. Antike Kunst in der Weltliteratur, Darmstadt 1997. Wedewer, Rolf: Torso. In: Karl Oskar Blase (Hrsg.): Torso als Prinzip. Eine Ausstellung des Kassseler Kunstvereins, Kassel 1982, 50 – 59. Weigel, Sigrid: Ingeborg Bachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999. Wiedmann, August K.: The German Quest for Primal Origins in Art, Culture and Politics, 1900 – 1933; Die ‚Flucht in Urzustände‘. Lewiston, 1995. Wodtke, Friedrich Wilhelm: Gottfried Benn, Stuttgart 1962. –– : Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden 1963. Wood, Frank: Gottfried Benn’s Attic Tryptich, The Germanic Review 1961, Bd. 36, 298 – 307. Yalouri, Eleana: The Acropolis. Global Fame, Local Claim, Oxford – New York 2001. Zelger, Franz: Das Bild der Antike um 1800. Von Goethe in der Campagna zu Ludwigs I. ­Traum von Griechenland. In: Eva Kocziszky (Hrsg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin 2011, 141 – 160. Zimmermann, Christel Martha Antonie: Gottfried Benn. Sein Werk in der Dimension von „Wort“ und „Gestaltung“, Diss. Bonn 1987. Zimmermann, Reinhard: Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Zu Erhart Kästners ‚Ölberge, Weinberge‘. In: Günter Figal (Hrsg.): Erhart Kästner zum 100. Geburtstag. Die Wahrheit von Orten und Dingen, Freiburg i. Br. 2004, 7 – 25. Zintzen, Christiane: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffent­lichkeit im 19. Jahrhundert, Wien 1998.

272 273

274

Bildnachweis Abb. 1: Reproduk­tion aus: Mimmo Jodice: Lost in Seeing. Italy, Thirty Years of Vision, Contasto Verlag, Rom 2007. Abb. 2: http://younghistorian.tumblr.com/post/18048698857/artistandstudio-­auguste-­rodin-­ atelier-1905, Zugriff am 27. 02. 2015. Abb. 3: Literaturarchiv Marbach, Nachlass Kessler. Abb. 4: Reproduk­tion aus: A. ­Genthe: As I remember, Reynal & Hitchcock, New York 1936. Abb. 5: Reproduktion aus: Lee Miller, hrsg. Walter Moser, Klaus Albrecht Schröder, Katalog Albertina 2015. Abb. 6: Literaturarchiv Marbach. Abb. 7: Reproduk­tion aus: Athens 1839 – 1900. A photographic record. Benaki Museum Athen, 1985. Abb. 8: Reproduk­tion aus: Athens 1839 – 1900. A photographic record. Benaki Museum Athen, 1985. Abb. 9: Reproduk­tion aus: Erika Billeter: Skulptur im Licht der Photographie. Von Bayard bis Mapplethorpe, Bern 1997. Abb. 10: Photographiert nach: „What these Ithakas mean. Readings in Cavafy, Katalog des Hel­ lenic Literary and Historical Archive, Athen 2002. Abb. 11: Reproduk­tion aus: Jean-­Yves Empereur: Alexandria Rediscovered, New York 1998. Abb. 12: Reprodul­tion aus: Green, Christopher / Daehner, Jens / Loreti, Silvia / Cochran, Sara: Modern Antiquity. Picasso, De Chirico, Léger, Picabia, Los Angeles 2011. Abb. 13: http://krikri1.gmxhome.de/pages/P5300153%20Athen%20Kerameikos.htm, Zugriff am 22. April 2015. Abb. 14: Man Ray, Städel Museum Frankfurt a. M., Städel Museum – ARTOTHEK. Abb. 15: Reproduk­tion aus: Rosmarie Mösch-­Klingele: Die loutrophoros im Hochzeits- und Begräbnisritual des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen, Peter Lang, Bern 2006. Abb. 16: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Four_Seasons,_Roman_mosaic.jpg, Zugriff am 22. 04. 2015. Abb. 17: http://www.wikiart.org/en/giovanni-­battista-­piranesi/colosseum-­with-­sta­tions-­of-­the-­ cross, Zugriff am 27. 02. 2015. Abb. 18: Photo der Preus­sischen Messanstalt 1881. Reproduk­tion aus: Matthias Harder: alter Hege und Herbert List: Griechische Tempelarchitektur, Reimer, Berlin 2003. Abb. 19: Reproduk­tion aus: Paul Hommel: Sizilien. Landschaft und Kunstdenkmäler. Mit einem Geleitwort von H. v. Hofmannsthal, München 1926. Abb. 20: http://wikipedia.org/wiki/Segesta, Zugriff am 27. 02. 2015. Abb. 21: Reproduk­tion aus: Paul Hommel: Sizilien. Landschaft und Kunstdenkmäler. Mit einem Geleitwort von H. v. Hofmannsthal, München 1926. Abb. 22: http://www.athenskey.com/sounion-­temple-­of-­poseidon.html Zugriff am 27. 02. 2015. Abb. 23: Literaturarchiv Marbach, Nachlass Kaschnitz. Abb. 24: http://www.gtp.gr/TDirectoryDetails.asp?ID=14990, Zugriff am 27. 02. 2015. Abb. 25: Reproduk­tion aus: Herbert List. Das Gesamtwerk. Photographien 1930 – 1972, Schirmer, München 2007. Abb. 26: Reproduk­tion aus: Herbert List: Licht über Hellas. Eine Symphonie in Bildern, Mün­ chen 1953.

275

Bildnachweis

Abb. 27: Der Hera-­Tempel in Akragas, http://www.aeria.phil.uni-­erlangen.de/photo_html/ topographie/italien/akragas/akragas5.jpg Zugriff am 17. 03. 2015. Abb. 28: Photo: Wolfgang Bennholdt-­Thomsen. Abb. 29: Reproduk­tion aus: Erich Arendt / Katja Hayek: Griechische Inselwelt, Brockhaus Ver­ lag, 1967. Abb.30: http://www.guestinn.com/fr/area_gal.php?areaid=196, Zugriff am 17. 03. 2015. Abb. 31: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Statue_of_a_nike_from_delos,_550_bc.jpg, Zugriff am 03. 04. 2015. Abb. 32: http://flickrhivemind.net/Tags/bronze,helmet/, Zugriff am 26. 02. 2015. Abb. 33: Reproduk­tion aus: Ph. Bruneau: Explora­tion Archéologique de Délos faite par l’École Francaise d’Athènes, Paris 1972. Abb. 34: Derrida: Bleibe, Athen, Passagen Verlag, Wien 2010. Abb.  35 – 39: Ebd. Abb. 40: Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Suhrkamp, Frank­ furt/Main 1980. Abb. 41/42: Derrida: Bleibe, Athen, Passagen Verlag, Wien 2010. Abb. 43: Reproduk­tion aus: Erika Billeter: Skulptur im Licht der Photographie. Von Bayard bis Mapplethorpe, Bern 1997. Abb. 44: http://www.ilpost.it/2013/06/25/michelangelo-­pistoletto, Zugriff am 27. 02. 2015. Abb. 45: https://rometheimperialfora19952010.wordpress.com/2011/08/31/roma-­forma-­urbis-­il-­ tesoro-­abbandonato-­la-­pianta-­di-­roma-­giace-­in-­un-­magazzino-­il-­messaggero-31082011-p1-part-­ii/, Zugriff am 03. 04. 2015. Abb. 46: Memoires de pierre, Catalogue Marseille 2002.

276

Register A Anders, Günther  92, 261 Assmann, Aleida  18, 213, 264 Assmann, Jan  174 Atabay, Cyrus  6 f, 178, 186 – 193, 261, 271 Auden, W. H.  162, 178, 230, 261 Augé, Marc  24, 171 Ausländer, Rose  9, 93 f, 122, 250, 261 B Bachmann, Ingeborg  5, 7, 9, 105, 127 – 138, 141, 261, 265 Badiou, Alain  256 – 258, 264 Barthes, Roland  202 f, 220 f, 259, 264, 275 Baudelaire, Charles  65, 205, 235, 267 Benjamin, Walter  7, 28 – 32, 51, 183, 201, 204 f, 211, 218, 222, 224, 226, 252 f, 258, 265, 267 f Benn, Gottfried  7 f, 25, 28, 33 – 37, 57 f, 60 f, 75, 77 – 83, 90, 115, 125, 149, 231 – 233, 235, 238, 247, 266 – 268, 270 – 273, 275 Bennholdt-Thomsen, Anke  25, 115, 142, 145, 184, 265, 272 Blanchot, Maurice  13 Bonhomme, Jean-François  147, 200, 202, 204, 206 – 208, 210 – 212, 214 – 217, 223, 225, 265 Bonnefoy, Yves  26, 31 f, 193, 261 Borbein, Adolf  255, 264 f Borchers, Elisabeth  104, 261 Böcklin, Arnold  39, 103 Böhlendorff, Casimir  240 Böhme, Hartmut  18, 95, 213, 219, 224, 265, 272 Brecht, Bertold  196,234,257 Burckhardt, Jacob  81, 95 Byron, Lord George  48, 114 – 119, 261, 266 C Calas, Nicolas  26 Canetti, Elias  197 f, 266 f Carossa, Hans  92, 261

Celan, Paul  145, 173, 177, 211, 261, 266, 269 f, 272 Curtius, Ernst  14 Curtius, Ernst Robert  250 D Däubler, Theodor  5, 8, 17, 33, 46 – 50, 55, 100, 245, 261, 267 de Chirico, Giorgio  33, 74, 103 f, 266, 274 Dehmel, Richard  5, 8, 16, 33, 38, 50 – 55, 100, 244, 261, 266 Derrida, Jacques  6, 9, 13, 31, 147, 200 – 226, 266, 271, 275 Du Bellay, Joachim  97, 222 Duncan, Isadora  45 Duncan, Therese  36 Durrell, Lawrence  103, 266 E Ehrenstein, Albert  5, 8, 26, 33, 38, 50, 55 – 57, 261, 273 Eich, Günter  51, 262 Eleana Jalouri  45, 276 Empedokles  132 – 134, 136, 140, 230, 234, 236 f F Flaubert, Gustave  55, 61 Foucault, Michel  13, 24, 171, 201, 258, 267 Freud, Sigmund  7, 27, 91, 94 f, 136, 167, 217 f, 221, 224, 266 f, 272 Fritz, Walter Helmut  59, 262, 276 G Gadamer, Hans Georg  89, 213, 267, 276 Galilei, Galileo  242 f Geibel, Emmanuel  165, 233, 243, 262 George, Stefan  50, 67, 113, 149, 159 Giacometti, Alberto  171 Giuliani, Luca  155 Goethe, Johann Wolfgang  59, 101, 110, 112, 196, 240, 262

277

Register

Goll, Yvan  5, 7 f, 83 – 85, 87 – 90, 262, 268, 271 f Gregorovius, Ferdinand  106 Grünbein, Durs  6 f, 27 f, 30, 111 f, 150, 176, 200, 229 – 250, 252 – 255, 258, 267, 269 H Hamburger, Käte  32, 268 Hauptmann, Gerhart  5, 8, 16, 33 – 35, 38 – 43, 81, 100, 245, 262, 266 Hebbel, Friedrich  60 Heckscher, Sebastian  95 f, 202, 268 Hegel, G. W. F. 30, 189, 209, 253 Heidegger, Martin  64, 95, 102, 137 f, 142 f, 148, 171, 179, 200, 202 f, 218 – 222, 254, 258, 268 f Hellingrath, Norbert von  57, 262 Hermann Wagner  62 – 64 Herodot 188, Hofmannsthal, Hugo von  7, 33 – 35, 43, 45, 60, 100, 102 f, 106, 112, 127, 167, 218, 262, 266, 274 Homer  38 f, 54, 56, 149, 161, 187, 256 Hommel, Peter  101, 106, 112, 262, 274 Hölderlin, Friedrich  24 f, 57, 98, 102, 111, 20, 122, 130, 148, 187 f, 200 f, 203, 240, 244, 249, 262 Humboldt, Wilhelm von  97 J James, Henry  20 – 22, 197, 262 Jensen, Wilhelm  25 Jodice, Mimmo  259 f, 274 József, Attila  185, 262 Jünger, Ernst  16 K Kaschnitz-Weinberg, Guido von  215, 268 Kaschnitz, Marie Luise  5, 9, 28, 92 f, 96 f, 105, 107 – 111, 116 – 119, 122, 129, 262, 267, 269, 271 Kästner, Erhart  102, 170, 262, 268, 273 Kavafis, Konstantinos  8, 60, 67 – 70, 72 – 75, 82, 90, 185 f, 262, 268 Keats, John  239 Kessler, Harry Graf von  16 f, 33, 40, 50 f, 261, 269, 274 Kesten, Hermann  57, 122, 243, 245

Kippenberg, Katharina  48 Klee, Paul  183 Klenze, Leo  14 Kokoschka, Oskar  55 Kunert, Günter  6 f, 178, 194 – 199, 227, 256, 258, 262, 268, 271 f L Lamartine, Alphonse de  14 Landmann, Edith  106 Laschen, Gregor  145, 151, 238, 261, 268 f Le Corbusier  19, 38, 66, 95 f, 124, 268 Lingg, Hermann  23, 107, 263 List, Herbert  64, 120 – 122, 256, 263, 265, 268, 274 Ludwig I, König von Bayern  41, 49, 98, 101, 106, 263 Lukian  55, 248 – 250, 263 M Macaulay, Rose  16,165, 197, 270 Maillol, Aristide  16 Malewitsch, Kasimir  64 – 66, 263, 273 Mallarmé, Stéphane  60 – 67 Mandelstam, Osip  150 Marinetti, Filippo Tommaso  148 Melville, Herman  66 Mertens, Dieter  105 f, 270 Mitterer, Erika  5, 9, 105, 122 – 127, 263, 271 Müller, Heiner  161, 255, 263 Müller, Max  234, 270 N Nietzsche, Friedrich  33, 37, 40, 44, 49, 50, 52, 57, 87, 90 f, 103 f, 227, 230 f, 267 f, 271 f Nostitz, Helene von  44 f, 50, 93, 247, 263 O Otto, Walter F. 80 f, 151, 193, 271 P Pannwitz, Rudolf  46, 55, 100, 122 Pasternak, Boris  227 Peterich, Eckart  46, 91, 158, 263

Register

Pindar  120, 179 Piranesi, Giovanni Battista  19, 76, 270, 274 Pistoletto, Michelangelo  246 f, 275 Platon  14, 192, 207, 216, 220 – 222, 229, 237, 246, 263 Preuschen, Hermione von  35, 42 – 45, 49, 263, 267 Proust, Marcel  204 R Renan, Ernest  55 f Rilke, Rainer Maria  7,11 – 13, 15, 20, 22, 28, 32, 35 f, 45, 61, 69, 84, 89, 97 f, 110, 113, 123 f, 126, 149, 155, 159, 178, 183, 199, 230, 244 f, 263, 270 Rimbaud, Arthur  65, 151, 263 Rodin, Auguste  11 f, 22 f, 45, 91, 126, 155, 267, 274 Rohde, Erwin  44, 81 Rottmann, Carl  101 S Sappho  43, 45, 164, 173, 175 f, 229 Schiller, Friedrich  23,99, 100, 239 – 242, 263 Schnapp, Alain  34, 119, 203, 272 Schneider, Lambert  48 Schneider, Reinhold  107 Scholem, Gerschom  29, 265 Schopenhauer, Arthur  50 Schrott, Raoul  114, 263 Semper, Gottfried  54 Settis, Salvatore  16,18 f, 27, 204, 272

278 279

Shelley, Percy Bush  258, 263 Simmel, Georg  15 f, 272 Sophokles 256 Stevens, Wallace  24, 272 Sünderhauff, Esther  9, 45, 259 T Taplin, Oliver  256 f U Usener, Hermann  234, 273 V Valéry, Paul  8, 59 – 61, 63 – 64, 75, 82, 90, 111, 160, 264, 269 Vierordt, Heinrich  122, 243, 245, 264 W Wagner, Hermann  34, 62 – 64 Warburg, Aby  7, 18, 27, 178, 259 Whitney, Geoffrey  213 Winckelmann, Johann Joachim  8 f, 13, 30, 34, 40, 46, 53, 59 f, 100, 157, 209, 264, 272 Winkler, Eugen Gottlob  5,7, 9, 105 f, 111 – 114, 123, 126, 264 Wolf, Christa  256 Woolf, Virginia  37 f, 54, 103, 263 f. Z Zollinger, Albin  120, 264



ALEXANDER LÖCK, DIRK OSCHMANN (HG.)

LITERATUR UND LEBENSWELT (LITERATUR UND LEBEN. NEUE FOLGE, BAND 82)

Welchen besonderen Zugang zur Welt bieten literarische Texte? Wie nehmen wir unsere Lebenswelt mit Hilfe von Texten wahr? Und was bedeutet sie uns in dieser Perspektive? Der vorliegende Band geht diesen Fragen systematisch wie historisch nach. Neben systematischen Beiträgen zum Verhältnis von lebensweltlichem Wahrnehmen und literarischem Darstellen bietet er eine Reihe von Studien, die dieses Verhältnis an konkreten Beispieltexten vom Mittelalter bis zur Gegenwart untersuchen. Er fragt dabei auch, welche Formen eines Konflikts zwischen lebensweltlicher Wahrnehmung durch Individuen und kulturell-gesellschaftlichen Normen und Verhältnissen literarischen Darstellungen aus verschiedenen Epochen zugrunde liegen. 2012. 242 S. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-412-20950-6

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar