Das Öffnen des Dritten Auges, Methode und Praxis [1rst ed.] 9783769904512, 3769904516

Boris Sacharow, der die Urtexte des Yoga im Sanskrit studiert und durch Jahrzehnte körperliche und geistige Übungen erpr

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Das Öffnen des Dritten Auges, Methode und Praxis [1rst ed.]
 9783769904512, 3769904516

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Yo gir Aj Bo ris Sächärow

D A S Ö FFN EN D ES DRITTEN AUGES

METHODE UND PRAXIS

OTTO-WILHELM-BARTH -VERLAG GMBH

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Boris Sacharow, der die Urtexte des Y : gi

Sri Aurobindo

im Sanskrit studiert und durch Jahrzehnte

DER ZYKLUS DER

körperliche und geistige Übungen erprobt

MENSCHLICHEN ENTWICKLUNG

und ausgeführt hat, spricht in diesem Buch

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von der Möglichkeit, mit dem sogenannten

Ein Beitrag des hervorragenden Yogi und Denkers des modernen Indiens %um Verständnis des Menschen, seiner Bewußtseinsentfal­ tung, Höherentwicklung und Selhstwerdung.

„dritten“ Auge zu sehen. Auf bauend auf der Theorie und Praxis des Raja-Yoga stellt Sacharow die Methode des „geistigen Bogen­ schießens“ dar, durch die es dem Übenden möglich wird, sein hellsichtiges, geistiges

W. Y. Evans-Wentz YOGA UND GEHEIMLEHREN TIBETS 286 Seiten — Ganzin. DM 14.80

Zentrum in der Stirnmitte zu öffnen und wirksam zu machen. Da Sacharow die vielen genau beschriebenen Übungen mit seinen Schülern jahrelang aus­

DAS TIBETISCHE BUCH DER GROSSEN BEFREIUNG M it einempsychologischen Kommentar v. C. C.Jtmg

geführt hat und die Ergebnisse genau be­ schreibt, kann die Richtigkeit dieser Aussage

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nachgeprüft werden. Atemschulung und Konzentrationsübungen nehmen einen gro­

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ßen Raum in den praktischen Ausführungen ein, die sowohl für konkrete Zwecke wie auch

EIN LEBEN AUS ZEN Mit einem I 'erwart von Eugen H errigel

für geistige Erfahrungen eingesetzt werden können und zu interessanten Ergebnissen

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führen. C. Kerneiz Zu der Zeichnung auf dem Schutzumschlag:

LEHRE UND PRAXIS

Die Mondsichel mit einem Punkt darüber bezeichnet c_='

DES HATHA YOGA

summende M, das sog. Anuswära. Die Aussprache diese-

Stellungen und Atemübungen

summenden M in einem Mantram regt das Ajna-Chakri das dritte Auge, an. Dieses Symbol findet man c" ;■der Stirn indischer Gottheiten und Mystiker.

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YOGIRAJ BO R IS SACHAROW / DAS Ö FFN EN DES D R ITTEN AUGES

Y O G IR A J B O R IS SACHAROW

DAS ÖFFNEN DES DRITTEN AUGES M ethode und P ra x is

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GO OTTO W IL H E L M B A R TH -V ER LA G GMBH M ÜNCHEN-PLANEGG

1958 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung Vorbehalten © 1958 by Otto Wilhelm Barth-Verlag GmbH, München - Planegg Gesamtherstellung: Allgäuer Heimatverlag GmbH, Kempten/Allg.

M EIN EN SCH Ü LERN GEW IDM ET

VORWORT

In unserem Zeitalter des Radio, des Radar-Geräts und der Strahlen, verschiedenster Art dürfte eigentlich die Möglichkeit einer Gesichts­ wahrnehmung ohne Augen, mit dem Sehnerv allein, ja sogar mit dem Sehzentrum im Gehirn, uns gar nicht wundernehmen. Der indische Bericht von einem Mahratta-Blinden, der mit seinem „inneren Auge“ Bücher lesen konnte, oder von einem Yogi unserer Tage, welcher mit verbundenen Augen durch das dichte Gewühl des Londoner Straßen­ verkehrs ein Auto steuerte, steht nicht vereinzelt da. Schon Lombroso, ein Wissenschaftler von Weltruf, erzielte bei einer Blinden durch Hypnose die Fähigkeit, mit den Zehen zu riechen, mit den Knien zu schmecken und mit den Ohrenspitzen zu lesen, von den vielseitigen Versuchen von Colonel A. de Rochas, Dr. H. Durville und Ch. Lancelin ganz zu schweigen. Prof. Dr. D. 0. Hebb, der Leiter des Seminars für Psychologie an der McGill-Universität in Montreal, hatte vor einiger Zeit einen hochinteressanten Versuch unternommen. Er ließ 46 seiner Studenten folgendes Experiment ausführen: „Man legte jedes der Versuchskaninchen in einen eigenen Raum. Die Augen wurden verbunden, die Hände in steife lange Manschetten gesteckt, der Körper ruhte auf einer weichen Luftmatratze. Es gab nichts zu hören, zu sehen, zu reden, nichts zu tun. Nach wenigen Stunden begann ein Phänomen einzusetzen, das die Studenten so sehr quälte, daß sie schließlich das Nichtstun aufgaben: sie hatten Halluzinationen. Sie „sahen“ und „hörten“ Dinge, wie dies sonst nur bei Rauschgiftsüchtigen oder Schizophrenen der Fall ist. Die ersten drei, die das Rennen schon nach einem Tage aufgaben, berichten von ,bunten Scheiben und Quadraten', die vor den ver­ bundenen Augen vorbeizogen. 9

Nur ein einziger brachte es fertig, das völlige Nichtstun mehr als fünf Tage auszuhalten. Die meisten ließen sich bereits nach 70 bis 72 Stun­ den entschuldigen und gingen in ihre Studienzimmer und Hörsäle zurück; einer brachte es auf 113 und einer auf 127 Stunden.“ (,,Frankenpost“ vom 3. Juni 1954) Und wie ist das Ergebnis dieses Versuches ? Dieselbe Zeitung be­ richtet weiter: ,,Professor Hebb hatte bei seinen Versuchen ganz bestimmte Ziele im Auge. Er wollte beweisen, daß Langeweile (!) eine wissenschaftlich erfaßbare ,Krankheit' ist (!), die bisher von der Psychologie ver­ nachlässigt wurde.“ Hier der Bericht über ein gleiches Experiment des kanadischen Psychologen Woodburn Heron: ,,Seinen Untersuchungen lag die Absicht zugrunde, die Verhaltens­ weise des Gehirns zu erforschen, das heißt, die geistige Reaktion zu prüfen, wenn die Versuchsperson von allen Eindrücken und Erleb­ nissen abgesondert wird, die einen stimulierenden Eßekt auf die Sinnesorgane haben. Der kanadische Wissenschaftler betrieb nun die Faulheit bis zur letzten Konsequenz. Genauer gesagt: seine Studenten unterwarfen sich gegen ein Tagegeld von zwanzig Dollar der anstrengenden Aufgabe, faul zu sein. Sie hatten sich in ein weiches Bett zu legen, das in einem lärmisolierten Raum mit Klimaanlage stand. Ihre Augen be­ deckte eine Brille, die nur einen milchigen Lichtschimmer durchließ. Ihre Hände waren mit dicken Handschuhen und Pappröhren ver­ hüllt, so daß sie keine Sinnesberührung mit der Außenwelt hatten. Die Studenten betrachteten den Test zunächst als ein recht angenehmes Vergnügen. In den ersten Stunden schliefen sie, wurden jedoch nach dem Erwachen immer unruhiger. Allmählich ging ihnen die Untätig­ keit auf die Nerven. Nachdem sie sich anfangs durch Pfeifen und Singen noch selbst unterhalten hatten, versuchten sie später, über irgendwelche Probleme aus ihrem Studienkreis nachzudenken. Den meisten Versuchspersonen mißlangen diese Überlegungen jedoch. Sie vermochten ihre Gedanken nicht mehr zu konzentrieren, schlimmer noch, sie verloren die Denkfähigkeit überhaupt. Nach einiger Zeit stellten sich Halluzinationen ein. Sie sahen Linien und Muster, später prähistorische Tiere, gelbe Männer, Mammutzähne, geisterhafte Riesenhände, sie hörten Stimmen und Töne.“ („Fränkische Presse“ Nr. 239 vom 15, Oktober 1954) 10

Das waren die Folgen dieser bis zu sechs Tagen währenden „Faul­ heit“. Und die Schlußfolgerung? Dem Bericht entnehmen wir: „Der kanadische Wissenschaftler gelangte nach diesem Experiment zu dem Schluß, daß diese Methode, über die Sinnenabtötung die Denkfähigkeit des Gehirns zu reduzieren, möglicherweise auch die sogenannten Geständnisse in kommunistischen Schauprozessen er­ klärt.“ Im Nachstehenden wird gezeigt, zu welchen wichtigen Ergebnissen man sicherlich gelangt, wenn man diese Kultivierung der „Faulheit“ (besser gesagt: Entspannung) der Denksubstanz tatsächlich „bis zur letzten Konsequenz zu betreiben“ entschlossen ist. Das öffnen des Dritten Auges ist keine leichte Aufgabe. Wenn es mir, nach 38-jäh­ riger Mühe, doch gelungen sein sollte, einen Weg in dieses Wunder­ land gezeigt zu haben, dann habe ich nicht umsonst gelebt. Bayreuth, November 1954. B. Sacharow

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I.

WIE DIESE METHODE ENTDECKT WURDE

Es ist schon lange her. Als ich, damals ein 17jähriger Junge, im Jahre 1917 mein Studium der indischen Philosophie und SanskritSprache begann, stieß ich im ersten Teil des Patanjali-Yoga-Sutra, der berühmten klassischen Abhandlung über Räja-Yoga, auf eine Stelle, die mich sofort aufhorchen ließ. Es war der 35. Aphorismus, der lautete: „Jene Formen der Konzentration, die außerordentliche Sinneswahr­ nehmungen hervorrufen, bewirken Beharrlichkeit des Denkorgans.“ Swami Vivekänandas Kommentar zu dieser Stelle lautet wie folgt: „Diese erwächst ganz natürlich aus der Konzentration (dhäranä). Dem Yogin zufolge werden durch die Konzentration des Denkorgans auf die Nasenspitze nach einigen Tagen wundervolle Wohlgerüche wahrgenommen, durch Konzentration auf die Zungenwurzel Klänge vernommen, durch Konzentration auf die Zungenspitze wundervolle Geschmacksempfindungen spürbar, und durch Konzentration der Gedanken auf die Zungenmitte das Gefühl gewonnen, daß man mit etwas in Berührung komme. Konzentriert der Übende seine Gedanken auf den Gaumen, so erblickt er seltsame Dinge. Will aber jemand, dessen Denkorgan unruhig ist, einige dieser Übungen des Yoga aus­ führen, ohne Zutrauen zu ihnen zu haben, so werden seine Zweifel schwinden, wenn er nach einiger Zeit des Übens diese Wirkungen an sich selber erfährt, und er wird Ausdauer zeigen.“ (Swämi Vivekänanda: Räja-Yoga) Tausende von Menschen haben diese Stelle gelesen, viele von ihnen haben diese Wahrnehmungen flüchtig gehabt - lediglich als Mittel zur Stärkung der Ausdauer und Beharrlichkeit in der Konzentration, aber keiner ist offensichtlich auf die Idee gekommen, daß sich hinter 15

diesen schlichten Worten (das vom Kommentator hinzugefügte Wort „außerordentliche“ fehlt im Sanskrit-Original) etwas mehr verbirgt, als nur „der Beweis dafür, daß gewisse geistige Wahrnehmungen“, wie Vivekänanda an einer anderen Stelle (Swämi Vivekänanda: Räja-Yoga) seines Buches sagt, „ohne Berührung mit den Sinnes­ objekten erfahrbar gemacht werden können.“ Mich aber haben diese Worte wie durch einen Zauber gefesselt, als hätte ich mit einem Mal den seit Jahrtausenden gehüteten Eingang in das Innere der großen geheimnisvollen Cheops-Pyramide entdeckt. Mit fanatischem Eifer ging ich an die Arbeit - Konzentration auf die Nasenspitze jeden Tag morgens etwa 15-20 Minuten lang, ohne einen einzigen Tag auszusetzen. Das Resultat ließ nicht lange auf sich warten: nach zwanzig Tagen einer ständig zunehmenden, fast schmerzhaften Empfindung des Kribbelns in der Nasenspitze, kam, plötzlich wie ein Blitz aus hei­ terem Himmel, ein höchst angenehmer süßer Duft. Er kam für einen Bruchteil der Sekunde, um gleich wieder zu schwinden, aber es hat gereicht, um mich in eine ekstatische Freude zu versetzen, deren Spur noch den ganzen Tag deutlich war. Am nächsten Morgen ging ich mit erhöhter Energie an diese Übung heran, aber die Wirkung blieb aus. Auch die darauffolgenden Tage brachten nichts - nur die Empfindung des merkwürdigen Kribbelns in der Nasenspitze war wieder da. Schließlich kam der ersehnte Duft etwa nach 12 Tagen, stärker als zuvor, und blieb einige Augenblicke länger. Wieder ver­ schwand der Duft die nächsten Tage - ich übte aber intensiv weiter, da ich diesmal eine noch kürzere Pause vermutete. Es geschah auch tatsächlich, und schließlich konnte ich nach etwa 1-2 Sekunden der Konzentration den „himmlischen Duft“ (divya gandha) sofort hervorrufen, und er dauerte auch einige Sekunden an. Ich stellte fest, daß ich ihn überall nach Belieben herbeiführen konnte - in der Menschenmenge, am Strand, auf dem Markt, wo es - weiß Gott! nach allen möglichen und unmöglichen Dingen riecht: ich war im Besitz eines Zaubermittels, das mich ständig begleitete, ich fühlte mich wie Alladin aus „Tausendundeiner Nacht“, der sich mit seiner Wunderlampe den dienstbaren Geist gefügig machen konnte! Eines Tages - ich habe diese Übung auch den anderen beigebracht und habe zu meinem Erstaunen festgestellt, daß alle ein und den­ selben Duft verspürten - hat sich die Art des Geruches geändert: der Duft war ebenso angenehm und süß, aber ein ganz anderer. Zu­ fällig habe ich mir dabei einen bestimmten Duft zu empfinden ge­ wünscht und - tatsächlich kam das gewünschte Aroma einer Rose, einer Nelke, einer Lilie, eines beliebigen Parfüms, und blieb auf mein 16

Geheiß einfach da, stärker und „saftiger“ als in Wirklichkeit! Ich war also imstande, beliebige Wohlgerüche hervorzuzaubern. Aber obwohl eine wahre Sucht sich meiner zu bemächtigen schien, war ich mir dessen wohl bewußt, daß dies keine große Errungenschaft dar­ stellte. Denn im Grunde genommen war diese „Fähigkeit“ nichts anderes als eine sogenannte Halluzination, also eine Sinnestäuschung! Nichtsdestoweniger übte ich mit unverminderter Energie weiter. Eines Tages überraschte mich ein Duft, den ich weder gewollt habe, noch als anfängliche Empfindung erkennen konnte. War bis jetzt bei allen Versuchen dieser Duft im Anfangsstadium der Räucherung mit der siamesischen Myrrhe (styrax benzoin) verblüffend ähnlich und deshalb die Annahme berechtigt, daß solche und ähnliche Räu­ cherungen den Zweck haben, den Menschen in Ekstase zu versetzen, so war diesmal der Effekt ein ganz anderer und machte mich stutzig. Wie ein richtiger Spürhund begann ich, alle Gegenstände in meiner Umgebung zu beschnuppern - aber ohne Erfolg. Schließlich ent­ deckte ich im Nebenzimmer in einer Schublade ein altes abgerissenes Stück von der Packung einer Toilettenseife . . . Also das war es! Es lag zusammen mit allem möglichen Kleinkram und, obwohl an sich sehr schwach duftend, das einzig riechende Stück. Ich war außer mir vor Freude: es war keine Sinnestäuschung, keine „Halluzination“ mehr, sondern eine richtige Wahrnehmung, ein wirkliches „Fernriechen“. Auf diese Weise habe ich selbst, und später mit meinen Schülern, viele Versuche angestellt. Es erwies sich, daß die Entfernung so gut wie keine Rolle spielte: ich konnte z. B. von einem vierten Zimmer aus den leisesten Gasgeruch in der Küche wahrnehmen, bevor das neben dem Gasherd stehende Dienstmädchen es bemerkte, daß der Gashahn aus Versehen halbgeöffnet war! Oder man konnte von einer Wohnung aus den Duft der Blümen wahr­ nehmen, die auf dem verschlossenen Fenster der Nachbarwohnung in einer Entfernung standen, welche nicht einmal die Art der Blumen erkennen ließ - und später hinübergehen und sich an Ort und Stelle vergewissern, daß der Duft richtig erraten wurde! Die Erklärung dieses Phänomens liegt auf der Hand: durch stän­ dige Gedankenkonzentration auf die Nasenspitze - vielmehr auf das Gefühl derselben - stockt der Atem augenblicklich. Dadurch emp­ findet man unwillkürlich den Wunsch, die einzuatmende Luft zu riechen, als erwarte man jeden Augenblick einen Duft wahrzunehmen. Die eigentliche Konzentration auf das Gefühl der Nasenspitze spielt aber dabei die untergeordnete Rolle eines Sprungbretts, um den Wunsch, zu riechen, einzuleiten. Dieser ständig wachsende Wunsch reizt die oberhalb des Gaumens liegenden Geruchsnerven, „spitzt 2 Sacharow, Drittes Auge

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sie an“, so daß sie dadurch auf eine „kürzere Wellenlänge“ einge­ stellt werden und auf diese Weise feine Gerüche aufzufangen ver­ mögen, die den „normalen“ Menschen infolge der übergroßen Ent­ fernung nicht mehr erreichbar sind. Diese Fähigkeit, durch längeres Üben stark entwickelt, geht nicht gänzlich verloren, und die Über­ empfindlichkeit der Geruchsnerven bleibt erhalten, selbst wenn das ursprüngliche Phänomen schwindet. Soweit ist alles klar. Aber wie erklären sich weitere höchst merk­ würdige Phänomene mit dem Fernschmecken oder Ferntasten ? Denn ich blieb beim Geruch nicht stehen und ging zur Konzentration auf die Zungenspitze und Zungenmitte über. Das Resultat im ersteren Fall kam nach zwei Tagen - olfensichtlich hat sich meine Konzen­ trationsfähigkeit dank der ersten Übung wesentlich entwickelt - und stellte, wie auch zu erwarten war, einen höchst angenehmen, süßen Geschmack dar, gleichsam von dem, was ich vorher gerochen hatte. Sehr schnell jedoch ließ sich dieser Geschmack unter die Kontrolle des Willens bringen: am selben Tag war ich imstande, beliebigen Geschmack hervorzuzaubern. Das Verblüffendste dabei war, neben der ungewohnten, fast übernatürlichen Schärfe der Empfindung, ein derartig starkes Sättigungsgefühl, daß man noch längere Zeit danach keinen Appetit nach der auf diese „magische“ Weise genossenen Speise mehr hatte! Auch hier vermochte man die Entfernung von dem Objekt der Geschmacksempfindung beliebig zu überbrücken, ein seltsames Phänomen: denn,-während der Duft, selbst aus über­ weiter Ferne kommend, eine Art Emanation, Ausdunstung ist und schließlich auch von den Tieren und einigen Naturvölkern emp­ funden werden kann, so entsteht die Geschmackswahrnehmung doch durch eine, wenn auch flüchtige, Berührung mjt der Zunge. Die Ent­ fernung selbst von einigen Millimetern unterbricht normalerweise diese Wahrnehmung! Hier kann uns also die gewöhnliche psycho­ logische Erklärung nicht helfen. Aber die Wahrnehmung ist da, so oft man dieses Experiment durchzuführen beliebt, und verlangt nach einer verständlichen Schilderung des Vorganges, der uns außerordent­ lich wichtige Aufschlüsse zu geben vermag. Oder ist dies alles Halluzination ? Nach dem berühmten amerika­ nischen Lexikographen Webster (1953), der sich bei der Zusammen­ stellung seines Werkes der Mitarbeit der führendsten Kapazitäten auf allen Gebieten der Wissenschaft rühmen kann, heißt das Wort „hallucination“ „perception of objects with no reality, or experience of sensations with no external cause, usually arising frorn disorder of the nervous System, as in delirium tremens“ (Wahrnehmung der Gegen­ stände, die in Wirklichkeit nicht existieren, oder Empfindung ohne 18

äußere Ursache, gewöhnlich von der Störung des Nervensystems herrührend, etwa wie im Säuferwahnsinn). Zunächst stellen wir fest, daß diese Definition auf unsere Wahr­ nehmungen gar nicht paßt, da die dadurch empfundenen Gerüche und Geschmäcke den Gegenständen eigen sind, die in Wirklichkeit existieren, also eine äußere Ursache haben und - dies ist besonders zu beachten - von uns keinesfalls vorgeahnt oder einfach erwartet wurden. Denn ebenso wie es mit dem Geruch der Fall war, läßt sich ein nicht vorher definierbarer Geschmack aus größter Entfernung „fernempfinden“ ! Selbst wenn man versuchen sollte, die obener­ wähnte wissenschaftlich-fundierte Definition der Halluzination auf unsere gewünschten Geruchs- und Geschmacksempfindungen anzu­ wenden, die keine nachweisbare äußere Ursache oder Wirklichkeit haben, wird man zugeben müssen, daß diese „Halluzinationen“ sich durch weitere systematische Übung zu wirklichen Wahrnehmungen der tatsächlich existierenden Gegenstände entwickeln lassen - also keine Halluzinationen mehr sind, d. h. der Zustand des „gestörten Nervensystems“ wird durch fortgesetzte Störung durchaus normal! Wenn der Mensch durch Konzentration seinen Geruchssinn derart schärfen kann, daß er - wie vollkommen einwandfrei durchgeführte Experimente erwiesen haben - die Entfernung und materielle Hinder­ nisse zu überbrücken vermag, so stellt diese Fähigkeit keine Halluzi­ nation dar, sonst müßte man ja die Naturvölker, die diese Gabe noch besitzen, und vor allem alle Spürhunde und andere Tiere als Hal­ luzinierende bezeichnen! Wie ist es aber mit dem Fernschmecken ? Entweder es ist anzunehmen, daß, wie die indische Vedänta-Schule erklärt, unser Denkprinzip bei einer solchen Wahrnehmung aus dem Menschen nach außen wandert, bis er das Objekt seiner Wahr­ nehmung erreicht und es dann empfindet - also, bildlich gesprochen, daß wir unsere Zunge im Geiste soweit ausstrecken, bis sie die Speise unseres Nachbarn berührt, was wir wohl nicht zugeben würden! Auch wäre dies erst recht Halluzination, denn dieses Wort stammt vom Griechischen alyein, d. h. „im Geiste wandern“, und da, nach dieser indischen Lehre, alle unseren Wahrnehmungen auf diese Weise zu­ stande kommen, müßten alle unseren normalen Empfindungen Hal­ luzinationen sein! Oder - und es bleibt uns keine andere Wahl - wir sind gezwungen anzuerkennen, daß unsere Sinne deshalb solcher „Fernempfindungen“ teilhaftig werden können, weil, ebenso wie Ge­ ruch, auch Geschmack und folglich auch andere mit unseren Sinnen wahrnehmbare Eigenschaften der Dinge, wie Form, Farbe usw., außer einer grobstofflich empfindbaren, auch eine feinstoffliche Natur, eine Art „Ausstrahlung“ besitzen. Das bedeutet, daß die ganze 19

Materie eine Strahlung von Farbe, Geruch usw. ist, welche die Gren­ zen dessen, was von unseren Fingern betastet oder mit der Zunge berührt wird, unendlich übersteigt. Wissen wir doch, daß der Mensch von dem ganzen Meer der Schallwellen normalerweise nur solche im Bereich von 7-8 Oktaven, von Licht nur die Schattierungen von Rot bis Violett wahrzunehmen vermag! Alle tieferen sowie höheren Töne, alle anderen Strahlungen, wie Infrarote, Ultraviolette, Röntgen-, Alpha-, Beta-, Gamma-, Kosmische Strahlen usw. bleiben unwahr­ nehmbar und sind doch vorhanden. Daraus folgt, daß der Mensch, der sein Riechvermögen durch ge­ eignete Übungen geradezu übermenschlich steigern kann, auch alle anderen Sinne zu erweitern vermag. Wie Charles Lancelin auf Grund seiner zahlreichen Experimente behauptet, wird bei einem Hypnoti­ sierten die Empfindungsfähigkeit all seiner Sinnesorgane in höchster Weise, geradezu in astronomischer Potenz, erhöht. Er sagt: „Wenn auf eine Hand des hypnotisierten Menschen ein Kilo Gewicht und auf die andere Hand ein nur um ein Zentigramm größeres Ge­ wicht gelegt wird, zeigt das Subjekt sofort das größere Gewicht an. Dasselbe ist, wenn vor ihm zwei Striche auf dem Boden gezogen werden, der eine 3 Meter und der andere 3,001 Meter lang - er wird sofort angeben, welcher von beiden länger ist. Wenn von zwei Rotwein­ flaschen eine mit dem geringsten Quantum Flüssigkeit einer anderen Farbe vermengt wird, zeigt das Subjekt ohne Fehler, welcher Wein vermengt wurde. Dasselbe in der Akustik: normalerweise hören wir den Schall im Bereich von 7 Oktaven, aber das Subjekt nimmt, nach A. de Rochas, 62 Oktaven wahr. Das Ohr eines normalen Menschen nimmt Schwingungen von 8 bis 64000 pro Sekunde und dasselbe Ohr eines hypnotisierten Subjekts bis 10000000000000000000 (1 mit neunzehn Nullen) Schwingungen pro Sekunde wahr. Das ist mehr als Schwingungen der unsichtbaren Gamma-Strahlen, und deshalb sieht das Subjekt auch die Ausstrahlungen des Menschen, seine Aura. In diesem Zustand der Hypnose nimmt das Subjekt sämtliche Emp­ findungen nicht etwa vermittelst der getrennten Sinnesorgane des Ge­ sichts, des Gehörs usw. wahr, sondern mit einem neuen sechsten Sinn, der bei ihm im Gehirn zwischen den Augenbrauen wachgerufen wird. . .“ Wie aber wird dies erreicht ? Ich habe drei Jahre lang darüber nachgedacht, da mir die in Yoga-Sütra (I, 35) angegebene Anweisung über die Konzentration auf den Gaumen damals irgendwie „ver­ schleiert“ vorkam, denn es schien unwahrscheinlich, daß diese Kon­ zentration tatsächlich das „Fernseh-Phänomen“ zustande bringen könnte. Bei allen anderen Versuchen - „Fernriechen“ und „Fern20

schmecken“ - handelte es sich letzten Endes um eine' Reizung, oder, richtiger gesprochen, um ein Einstellen auf eine Ultrakurzwelle des betreffenden Endes des Riech- bzw. Geschmacksnervs, welches in unmittelbarer Nähe von der Konzentrationsstelle (Nasen- bzw. Zun­ genspitze) liegt. Selbst der Einwand, daß im ersteren Ealle der Riech­ nerv sich nicht dicht an der Nasenspitze, sondern erst in der Gaumen­ gegend befindet, läßt sich dadurch überbrücken, daß die durch diese Konzentration ausgelöste Spannung sich allmählich - besonders durch die dabei üblichen tieferen Atemzüge begünstigt - bis zur Sphäre oberhalb des Gaumens erstreckt und somit diesen Riechnerv berührt. Wie erklärt sich aber die Übertragung der Konzentrationswirkung vom Gaumen (bei Konzentration auf denselben zwecks „Femsehwirkung“) aus, über den hohlen Nasenrachenraum hinweg (siehe Abbildung 1)? bis zur Kreuzung der beiden Sehnerven (chiasma 21

opticurn) unmittelbar über der Hypophyse. Denn es kann sich ver­ mutlich nur um diese Kreuzung der Sehnerven als Wahrnehmungsge­ rät für feinere und von den normalen Augen nicht ■ wahrnehmbare Lichtschwingungen handeln. Meine Versuche in dieser Richtung durch die in Yoga-Sütra I, 35 empfohlene Konzentration auf den Gau­ men - haben zwar tatsächlich die spontane Entstehung „seltsamer Bilder“ verursacht, aber die dadurch erzielten Erfolge ließen sich, trotz mühevoller jahrelanger Anstrengung, nicht weiter entwickeln, bis ich endlich genaue Anweisungen von meinem Meister erhielt. Er lehrte mich eine genaue Methode, wie man das „augenlose Sehen“ entwickeln muß. Es war aber keine Konzentration auf den Gaumen, sondern auf das äjnä-cakra, das feinstoffliche Zentrum, in Augenbrauenmitte. Es war eine anstrengende Schulung. Den größten Wert legte der Meister auf Regelmäßigkeit (in bezug auf Intervall und Rhythmus) der Übungen, sowie auf Einhaltung der Regeln über Mäßigkeit im Leben, aber vor allem auf ständige Überprüfung meiner Gesichte ich sollte als erstes den Unterschied zwischen gedachten und wirk­ lichen feinstofflichen Bildern kennenlernen. So ließ er mich täglich folgendes Experiment machen: meine Frau stellte am Vorabend an der verabredeten Stelle irgendeinen Gegenstand (eine Vase mit Blumen, eine Statuette u. ä.), und ich sollte am nächsten Morgen von dem vierten Zimmer aus mit geschlossenen Augen den Gegenstand sehen. Diese Aufgabe machte ich innerhalb von zwei Jahren täglich, also mindestens 700mal, wenn man von sehr wenigen „Fehlgesichten“ ab­ sieht, habe ich richtig gesehen. Meinen Meister sah ich täglich, und dies stimmte mit dem, was meine Frau und ihre schon früher hell­ sichtige Freundin berichteten, völlig überein. Ich habe diese Technik daraufhin meinem Freund F. und dessen Schwester E. beigebracht, und auch sie beiden haben denselben Grad der Entwicklung erreicht, so daß sie den Meister genauso präzis wie wir sehen konnten. Mein Freund vermochte sogar ein Porträt des Meisters danach zu malen. Nach drei Jahren war ich imstande, Bilder zu sehen aus beliebiger Entfernung, wenn auch nur für einige Augenblicke. Der Meister er­ klärte mir, daß ich von nun an befähigt sei, seine Botschaften in Gedanken zu empfangen. Er gab mir und meiner Frau probeweise einige Gedankenübertragungen, welche wir dann unabhängig vonein­ ander im Wortlaut niederschrieben. Auch andere Beweise dieser mei­ ner Fähigkeit der telepathischen Wahrnehmung wurden mir gegeben. Mir aber schien alles zu langsam vorwärtszugehen. Meine theore­ tischen Yoga-Studien zeigten mir neue Möglichkeiten. So versuchte ich, meine Übungen, die ganz einfach und, wie es mir schien, primitiv waren, zu ergänzen: ich bildete mir ein, daß der richtigen Entfaltung 22

des „Dritten Auges“ unbedingt eine Erweckung der Kundalini-Kraft vorausgehen müsse und steigerte deshalb Pränäyäma (Atemtechnik) mehr und mehr. Ich gelangte zu der Überzeugung, daß ich schnellere und bessere Ergebnisse erzielen würde, wenn ich nicht mit Äjnä, sondern mit mülädhära (Zentrum im Steißbein) arbeiten würde. Dies aber war ein verhängnisvoller Fehler. Denn von nun an ging alles bergab - ich habe all meine Visionen, sämtliche Kräfte verloren. Meine unendlichen Variationen in den Übungen haben den Rhythmus endgültig gestört. Oft habe ich den Meister darüber befragt und um Rat gebeten - aber ständig bekam ich zur Antwort: „Du hörst mich richtig, aber du sollst nur so üben, wie ich es dir gesagt habe.“ Doch ich konnte nicht mehr zurück. Eisern und verbissen machte ich immer weitere erfolglose Versuche. Kaum hatte ich einige Tage die alte Technik angewandt, da trieb mich mein forschender Quäl­ geist zu immer neuen Abweichungen und „Verbesserungen“ .. . So ging es einige Jahre. Zwar habe ich alle Gesichte (darsanas) restlos verloren, als wären sie nie gewesen, dafür aber sammelte ich reiche Kenntnisse auf dem theoretischen Gebiete des Yoga. Ich stu­ dierte besonders die tantras (indische okkulte Schriften). Im Verlauf meiner qualvollen Versuche, den richtigen Weg selbst zu finden, kam ich auf die Idee, meinen Meister und seine mir früher gegebene Unter­ weisung auf eine Probe zu stellen: In Rumänien hatte ich eine Jugend­ gefährtin von mir, eine Hellseherin, die bereits vor vielen Jahren dieselben Visionen wie wir gehabt hatte. Sie kannte ebenfalls meinen Meister und konnte den Kontakt mit ihm aufnehmen. Sie hat mir ganz unvermittelt einen Vorschlag gemacht: ich sollte meinem Mei­ ster einen Brief auf Sanskrit (sie kannte diese Sprache nicht) schrei­ ben, und sie würde ihm diesen Brief „vorlegen“. Ich schrieb den Brief in indischer Schrift, um der Überbringerin das Entziffern unmöglich zu machen. Außerdem war sie seit längerer Zeit bettlägerig in einem kleinen Krankenhaus der rumänischen Provinz, hätte also gar keine Möglichkeit gehabt, einem Sanskrit-Kundigen den Brief vorher zum Lesen zu geben. Ein „Schwindel“ war somit ausgeschlossen. Die Antwort kam pünktlich, aber auf russisch: „merke dir - nicht mülädhära, sondern äjnäl“ (Ich habe den Meister gefragt, ob ich mich auf mülädhära oder äjnä konzentrieren soll!) Im übrigen stimmten die Anweisungen, welche ich durch sie auf diese Weise übermittelt bekommen habe, völlig mit dem überein, was mir vom Meister früher gesagt wurde. Dies jedoch überzeugte mich nicht. Ich experimentierte weiter. Im Jahre 1937 lernte ich Swami Sivänanda Saraswati kennen. Auf meine Frage über die richtige Technik der Meditation sagte er mir 23

dasselbe - „im öjwä-Zentrum“. Doch ich bat ihn um die Erlaubnis, meine Übungen im mülädhära fortzusetzen, welche er mir schließlich erteilte. Nach einem Jahr erfolgloser Bemühungen fragte ich ihn, ob es doch nicht zweckmäßiger wäre, die Übungen vom äjnä aus wieder zu machen. Er erwiderte aber: „You have made sufficient progress by concentration on muladhara chakra. Kindly stick to it. Do not make frequent changes.“ („Du hast genügend Fortschritte durch die Konzentration auf das Muladhara Chakra gemacht. Fahre damit fort und verändere nichts.“) So vergingen weitere zehn Jahre. Inzwischen habe ich nach über neunjähriger Konzentration auf mülädhära die Visionen wieder be­ kommen, doch ließen diese sich nicht weiter entwickeln. Dann kam ich auf die Idee, die Technik meines Meisters an anderen zu ver­ suchen. Im Laufe von einigen Monaten erlangten drei verschiedene Personen, unabhängig voneinander, dieselben Visionen und Erleb­ nisse. Sie sahen das Gesicht des Meisters und erhielten Kontakt mit ihm. Dies hat mich schließlich veranlaßt, meine Versuche mit anderen Zentren und Übungen aufzugeben und die Technik meines Meisters mit äjnä wieder von vorn anzufangen. So trat ich nach 23 Jahren eigenen Gutdünkens wieder an die Stelle, wo ich seinerzeit aufgehört hatte. Gewiß habe ich in dieser langen Zeit reiches Er­ fahrungsmaterial gesammelt, aber ich habe - merkwürdigerweise feststellen müssen, daß sich im Laufe dieser Experimente nur das als richtig erwiesen hat, was mir damals vom Meister mitgeteilt wurde. Und es wurde mir klar, daß des Meisters Augen, dessen strahlenden Blick ich nie verlor, diese ganze Zeit über mich wachten, daß er mich unsichtbar geleitet hat. Und als ich zum zweitenmal wie ein verlorener Sohn zu ihm zurückfand, erklang seine Stimme: „Du hast diese Zeit nicht verloren, du bist viel weiter gegangen.“

24

II.

DAS „DRITTE AUGE“

Worin besteht nun die Technik des augenlosen Sehens? Bei die­ sem Phänomen kann es sich, wie bereits erwähnt, nicht um die Reizung des Sehnervs - oder, besser gesagt, nicht um sie allein - handeln, da die im Yoga-Sütra I, 35 gegebene Konzentration der Gedanken auf den Gaumen diesen Sehnerv oder deren Knotenpunkt (chiasma opticum) kaum zu erreichen vermag. Es müßte also einen anderen Punkt oder ein anderes Zentrum geben, dessen Anregung die aus­ schlaggebende Bedeutung beim Hervorrufen der Gesichtswahrneh­ mungen hat. Mein Meister hatte mich auch nicht ermutigt, die Ge­ dankenkonzentration auf den Gaumen, die ich noch vor seinen An­ weisungen längere Zeit geübt hatte, weiter fortzuführen, sondern mir eine ganz andere Technik empfohlen. Seine schlichte Formel klang auf Sanskrit recht geheimnisvoll: „OM meghä me samhatäh suniyatena, Kham äjnätam räjya-siddhaye“ . .. ,,OM! Die Wolken von mir sind durch rechte Zurückhaltung (meinerseits) zusammengetrieben, Der Himmel bemerkt zwecks Erlangung der Herrschaft.“ Was bedeuten diese mysteriösen Worte? Welche „Wolken“ und welcher „Himmel“ sind damit gemeint ? Daß es kein physischer Himmel und auch keine physischen Wolken sind, geht daraus her­ vor, daß diese Wolken „durch eine rechte Zurückhaltung meiner­ seits“ zusammengetrieben werden müssen, also irgendwie in Ver­ bindung mit meinem Wesen stehen. Und das Wort „Himmel“ ? Das Sanskritwort „lcha“ bedeutet zunächst einmal eine Öffnung des 25

menschlichen Körpers (deren gibt es nach indischer Auffassung neun zwei Augen, zwei Nasenlöcher, zwei Ohren, Mund usw.). Diese Be­ deutung paßt offensichtlich nicht. Ferner bedeutet kha „Raum, Luft­ raum, Äther“, was als Himmel schlechthin übersetzt wird. Auch diese Entsprechung scheint fehl am Platze zu sein. Zwar wird von Swämi Sivänanda Saraswati eine merkwürdige Anweisung der alten indischen Yogis zitiert, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Sie lautet: .. „Der Yoga-Ubende, welcher imstande ist, sein eigenes Spiegelbild im / Himmel zu sehen, vermag zu wissen, ob seine Unternehmungen von Erfolg gekrönt werden oder nicht. Die Yogis, welche die Vorteile der Konzentration völlig erfaßt haben, erklären: ,Bei klarem Sonnen­ schein betrachte mit festem Blick dein eigenes Spiegelbild im Himmel; sobald dasselbe für einen Augenblick im Himmel gesehen ist, siehst du alsbald Gott im Himmel.‘ Derjenige, welcher seinen Schatten täg­ lich im Himmel sieht, erlangt Langlebigkeit. Er wird nie durch einen Unfall ums Leben kommen. Wenn das Schattenbild vollständig sicht­ bar wird, erlangt der Yoga-Ubende Sieg und Erfolg. Er besiegt das präna und kann überall hin gehen. Die Technik ist leicht genug. In kurzer Zeit erlangt man die Früchte der Praxis. Manche Menschen haben es in einer bis zwei Wochen erreicht. Wenn die Sonne aufgeht, stellen Sie sich so, daß Ihr Körper einen Schatten auf den Boden wirft und Sie ihn ohne weiteres sehen können. Nun richten Sie Ihren festen Blick auf den Hals des Schattens für eine Weile, sodann schauen Sie in den Himmel. Wenn Sie dabei im Himmel einen vollen grauen Schatten sehen, ist es ein sehr gutes Zeichen. Der Schatten wird auf Ihre Fragen Antwort geben. Falls Sie den Schatten nicht sehen, setzen Sie diese Praxis so lange fort, bis Sie ihn zu sehen bekommen. Dies können Sie auch beim Mondschein üben.“ („Practica! Lessons in Yoga“, S. 219-220) Selbst wenn diese Praxis „leicht genug“ ist und solche verlockenden Perspektiven erschließen soll, scheint dieses Unterfangen, meines Erachtens, eine verlorene Liebesmühe zu sein, da - wie weiter er­ läutert wird - diese, wie auch ziemlich alle anderen Anweisungen der alten Yogis, die richtige Technik hinter einer grotesk anmutenden äußeren Form verschleiert hält! Kommen wir deshalb zurück zu unserem Wort „Kha“. Seine weitere Bedeutung ist schließlich „die Stelle zwischen den Augenbrauen“. Hier befindet sich, wie zahlreiche indische Darstellungen ihrer Göttergestalten zeigen, das senkrecht gesetzte dritte Auge, welches den Yogis alle Zauberkräfte einschließ­ lich des „göttlichen Sehens“ (divya dristi) ohne physische Augen 26

verleihen soll. So spricht die saubhägya-laksmi-wpanisad von diesem Zentrum als von dem Auge der Weisheit (jnäna-caksus), welches der Flamme einer großen Lampe ähnlich sieht. Wie das satcakranirüpana-tantra (Vers 37) sagt: „Wenn der Yogi seine innere Stätte des Bewußtseins von der Stütze (an die Außenwelt) abschließt und es zur Auflösung bringt, sieht er an dieser Stelle stark strahlende Funken. Er sieht auch eine lodernde Flamme, die wie eine strahlende Morgensonne zwischen Himmel und Erde erscheint In der mystischen Lehre der Yogis wird dieses „Dritte Auge“ als in dieser Flamme befindlich gedacht. So heißt es im Sivayoga: „Denke dir das Augenbrauen-Zentrum in Gestalt einer öllampenFlamme und inmitten derselben das Auge der Weisheit.“ Dabei ist jnäna nicht nur „Weisheit“ im speziellen Sinne der Er­ kenntnis der philosophischen oder religiösen Wahrheit, sondern jedes Wissen, jede Kenntnis überhaupt. Deshalb gilt dieses jnäna-caksus als das Auge des Wissens im weitesten Sinne des Wortes, als das Auge der Allwissenheit, dem nicht nur alles Gegenwärtige, sondern in gleichem Maße Vergangenheit und Zukunft erschlossen sind. Im tripuräsära-samuccaya lesen wir: „Bei demjenigen, welcher dem Yoga der Meditation (in diesem Augenbrauen-Zentrum) ergeben ist, entsteht die Erinnerung an die in früheren Leben vollbrachten Taten, sowie die Fähigkeit des Fern­ sehens und Fernhörens.“ Auch die modernen Yogis teilen diese Ansicht. In seiner „Autobiographie eines Yogi“ nennt Paramhansa Yogänanda dieses Zentrum „ein allwissendes geistiges Auge“ oder „einen tausendblättrigen Lichtlotos“ (siehe „Autobiographie eines Yogi“) Und Swämi Sivänanda erklärt: „Genauso wie die Lichtstrahlen durch Glas, oder die Röntgenstrahlen durch undurchsichtige Gegenstände hindurchgehen, kann ein Yogi Dinge hinter einer dicken Mauer sehen, den Inhalt eines Briefes in einem verschlossenen Kuvert kennen, oder den verborgenen Schatz unter der Erde vermittelst seines inneren geistigen Auges. Dieses geistige Auge ist das Auge der Intuition, divya drishti oder jnäna chakshu.“ („Räja-Yoga“, S. 427-428) Daß dieses „Dritte Auge“, auch das „Auge Sivas“ genannt, räumlich unbegrenzt zu sehen vermag, wurde bereits durch praktische Ver­ suche, nicht nur durch theoretische Erwägungen allein, erwiesen. Es 27

bkibt nur noch zu ergründen, wie dieses Auge auch die Zeit überbrückt, also vierdimensional wirkt. An sich bedürfte es keiner w^üeren Beweisführung. Da dieses Auge außerhalb der Raum­ wirkung steht, liegt sein Wirkungsbereich auch außerhalb der drei Dimensionen des Raumes, also zumindest in der vierten Dimension, der Zeit. Es müßte deshalb auch zeitlich unbegrenzt sein, in der Spraehweise der alten Yogis „trikäla-jna, d. h. „die drei Zeiten (Verran^enheit, Gegenwart und Zukunft) kennend“, oder allwissend! Dabei ist besonders hervorzuheben, daß (wie die praktischen Versuche seit Anbeginn der Zeiten bei allen alten Sehern, sowie bei nüchternen Experimenten der heutigen Zeit, erwiesen haben) Wahrnehmungs­ fähigkeit und -schärfe dieses Dritten Auges, ungleich der materiell­ bedingten Erscheinungen aller uns bekannten Strahlungen, in keiner Weise nachläßt, auch wenn sie beliebig große Raum- und Zeitunter­ schiede zu überbrücken hat. Bekanntlich sinkt die Stärke jeder stoff­ lichen Kraft proportional dem Quadrat der Entfernung, darüber hinaus werden die stärksten Strahlungen durch eine Schirmwand be­ stimmter Stärke (z. B. die Gamma-Strahlen durch eine fußdicke Eisenwand und die Kosmischen Strahlen durch eine Bleiwand bis zu 2 Meter Stärke) abgefangen. Die Strahlen dagegen, welche vom Dritten Auge wahrgenommen werden, auch Charpentier-Strahlen oder N-Strahlen genannt, vermindern, selbst bei größten Entfer­ nungen, ihre Kraft nicht und machen auch vor keinem stofflichen Hindernis halt, sind also zumindest feinstofflicher Natur. Sie sind nicht nur räumlich unbegrenzt, sondern vom Raum unabhängig. Auch die Praxis bestätigt diese theoretischen Schlußfolgerungen, denn, wenn auch die Wahrnehmungen aus längst vergangener Zeit oder aus der Zukunft einer längeren und höheren Entwicklung be­ dürfen, so stehen diese Bilder den normalerweise empfangenen Be­ gebenheiten der Gegenwart weder in der Präzision, noch in der Schärfe, noch in der historischen Tatsächlichkeit nach. Es ist ledig­ lich die Frage der Entwicklungsstufe, die Frage, wie weit sich das „Dritte Auge“, diese „tausendblättrige Lotosblume des Lichtes“, geöffnet hat. In dieser Beziehung kann man im allgemeinen vier Stufen unterscheiden: Auf der niedersten Stufe stehen Visionen „seltsamer Dinge“. Man sieht grotesk anmutende Bilder - nicht etwa Produkte krankhafter Phantasie, sondern durchaus normale Erscheinungen, Gestalten oder Bruchstücke von Gestalten in merkwürdigem Licht, in ungewöhn­ licher Farbenschattierung oder ohne Zusammenhang mit der jewei­ ligen Denkrichtung. Hier könnte vielleicht der Gedanke auftauchen, es handle sich um „Halluzinationen“, also um solche Gebilde, die in 28

Wirklichkeit nicht existieren. Aber ist Wirklichkeit nur etwas Grobstoffliches, das wir vermittelst unserer beschränkten fünf Sinne wahr­ nehmen können ? Wenn - wie wir oben gezeigt haben - sich unsere Sinneswahrnehmungen unbestimmt dehnen lassen, wo liegt denn die Grenze desWirklich-Wahrnehmbaren ? Unsere abendländische Psycho­ logie steht diesen „unwirklichen“ und dennoch wahrnehmbaren Din­ gen ziemlich ratlos gegenüber - unsere Sehulwissenschaft ist gar zu oft geneigt, solche grotesken Erscheinungen unter eine nichtssagende und widerspruchsvolle Rubrik „Halluzination“ einzuordnen. Was aber sagt die indische Psychologie hierzu ? Die Yogis sprechen von einem sogenannten Manas-Cakra oder „Denkzentrum“, welches sym­ bolisch in Gestalt einer sechsblättrigen Lotosblume, genauer genom­ men, wie ein Wahrnehmungszentrum (sensorium) mit sechs Nerven­ strängen beschrieben wird. Fünf dieser Nervenstränge sind Kanäle für unsere normalen Sinneswahrnehmungen des Gesichts, des Gehörs, des Gefühls, des Geruchs und des Geschmacks, während der sechste Nervenstrang oder svapnavahä-nädi als Leitung für solche innerlich­ erzeugten Eindrücke dient, die in Träumen und Halluzinationen entstehen. Auf den ersten Blick überrascht uns diese Verbindung von gesunden (Träume) und ungesunden (Halluzinationen) Wahr­ nehmungen, aber sie ist durchaus nicht zufällig. Das sechste Blütenblatt des Manas-Cakra - ist mit dem „tausend­ blättrigen Lichtlotos“ verbunden, welcher als Sitz unseres Geistes (jivätmä) angesehen wird, während das manas-cakra (sensorium) der Sitz des Wachbewußtseins ist. Diese Tatsache ist von ungeheurer Wichtigkeit, denn, während unser Wachbewußtsein die Eindrücke der Außenwelt vermittelst der durch die fünf Nervenbahnen - fünf Blütenblätter dieses manas-cakra - geleiteten Empfindungen der fünf Sinnesorgane wahrnimmt, muß dasselbe Bewußtsein, wenn die fünf Sinne im Schlafe nicht funktionieren, die Traum- bzw. Phantasiegebilde eben durch diesen sechsten Nervenstrang - also direkt vom „tausend­ blättrigen Lotos“, dem „Dritten Auge“ herleiten! Wenn die fünf äußeren Sinnesorgane im Schlafe oder sonstwie ausgeschaltet sind, beginnt nämlich das „sechste Blütenblatt“ des manas-cakra (Denk­ zentrum) zu arbeiten und entwickelt sich dann besonders groß und stark - man beginnt im Schlaf Träume und im Wachbewußtsein die sog. „Halluzinationen“, richtiger gesagt „seltsame Dinge“ wahr­ zunehmen. Dies ist keine bloße Theorie: den schlagendsten Beweis ihrer praktischen Tatsächlichkeit hat, ohne es zu wissen, unsere eigene abendländische Wissenschaft durch die beiden Psychologen D. 0. Hebb und Woodburn Heron bereits geliefert. Denn ihre „Versuchs­ 29

kaninchen“ waren keine kranken, halluzinierenden Menschen, son­ dern durchaus normale junge Leute - lediglich ihre fünf Sinne waren eine Zeitlang künstlich ausgeschaltet. Ihie „Halluzinationen“ waren somit eine völlig normale Reaktion des Bewußtseins auf diese er­ zwungene Entspannung des Körpers und der Seele - Entspannung, welche die Gelehrten fälschlicherweise der „Faulheit“ gleichgesetzt haben. Mehr noch: die Studenten dieser beiden Forscher haben etwas ge­ leistet, was viel mehr Wert besitzt, als die bescheidene „Erkenntnis“ der Auswirkungen der Faulheit - sie haben zunächst „über Probleme aus ihrem Studienkreis nachgedacht“, und als die erzwungene Aus­ schaltung der äußeren Sinne genügend fortgeschritten war, sahen sie „prähistorische Tiere, gelbe Männer, Mammutzähne“ usw. - typische Beweise dessen, daß das „sechste Blütenblatt“ allmählich zu funk­ tionieren und Anfänge der Eindrücke des „Dritten Auges“ zu leiten begann! Hätten sich diese Leute in ihrer ungewöhnlichen Wahr­ nehmung weiter sachgemäß und systematisch trainiert, anstatt davor zurückzuschrecken, so würden sie vollkommen neue Ausblicke in dieser Richtung entdecken können, und unsere Wissenschaft wäre um eine neue glänzende Möglichkeit der Forschung und der Erkennt­ nis reicher geworden. Immerhin haben wir den Beweis der Wissenschaft dafür, daß die sog. „Halluzinationen“ nicht durch die Sinnesorgane entstehen. Den­ selben Beweis liefert auch die indische Yoga-Wissenschaft, indem sie behauptet, daß der Mensch, wenn es ihm gelänge, seine Sinne eine Zeitlang auszuschalten (pratyähära), „übersinnliche“ Wahrnehmun­ gen zu empfinden vermöge. Jede richtige Konzentration der Gedanken dient mehr oder weniger diesem Zweck - sie entzieht den äußeren fünf Sinnen die Aufmerksamkeit des Geistes, schaltet sie mehr oder weniger aus und begünstigt die Entfaltung des „sechsten Blüten­ blattes“. Die erste unmittelbare Folge dieser Praxis ist die im Sinne der obigen Ausführungen durchaus verständliche und normale Er­ scheinung : die Träume werden mit einem Male reichhaltiger, klarer, logischer und lebendiger. Selbst wenn man normalerweise gar nicht oder nur selten träumt, sieht man bereits nach dem ersten Tag solcher Übungen bestimmt*einen Traum, der sich klar dem Gedächt­ nis einprägt. Im Laufe der weiteren Monate beginnen sich dem Übenden Bilder, Visionen und Gestalten im Wachbewußtsein (während der Ausschal­ tung der Sinne bei der Konzentration) zu zeigen. Dies sind keine krankhaften Erscheinungen, sondern sind ebenso normal wie unsere Gedanken, die übrigens - wie wir später sehen werden - auch auf 30

dieselbe Weise entstehen und nicht, wie angenommen, von unserem Gehirn erzeugt, sondern von ihm lediglich registriert werden. Sie kommen und gehen - niemand weiß woher, noch wohin. Sie sind fremde Körper, die von uns Kraft, Färbung und Stoß bekommen, gleich einem Schneeball, der von allen Spielern gestoßen und ge­ trieben, an Umfang gewinnt oder in kleinere Stücke zerfällt. Sie er­ greifen von unserem Bewußtsein zeitweise Besitz, wie unerwartete Gäste in einem Gasthaus, um demnächst wieder auszuziehen. Wer dies bezweifelt, setze sich bequem hin, den Körper und das Bewußt­ sein entspannt, schalte sämtliche Störungsmomente aus und gebe den Gedanken freien Lauf, ohne sie in irgendeiner Weise zu unter­ drücken oder zu unterbrechen. Nach wenigen Minuten überzeugt er sich davon, daß sein Bewußtsein unerwarteterweise solche merk­ würdigen, absurden, mitunter sogar abscheulichen Gedanken regi­ striert, für die er keinerlei Erklärung weder in seiner Vergangenheit, noch in seiner Erziehung, noch in seiner allgemeinen Denkrichtung zu finden vermag. Er wird sie verabscheuen und die ganze Betrach­ tung unterbrechen. Aber der Versuch hat sich gelohnt. Die zweite Stufe der Visionen wird erklommen, wenn der Übende Ordnung in seine Erlebnisse der ersten Stufe zu bringen beginnt. Dies kennzeichnet sich dadurch, daß die Bilder dieser ersten Stufe, die „seltsamen Dinge“, sich als durchaus normal erweisen, da man sie letzten Endes doch als bekannte Erscheinungen, vielmehr als Bilder der bekannten Gegenstände unter unbekanntem Gesichts­ winkel erkennt. Gleich den Verästelungen eines Blitzes, welcher immer -den Weg des kleinsten Widerstandes einschlägt, suchen sich die feinstofflichen.Strahlen die Richtung des kleinsten geistigen Wider­ standes, die nicht unbedingt „gradlinig“ ist. Dies ist offensichtlich die Erklärung der Tatsache, daß, obwohl die Bilder der zweiten Stufe den gewünschten Gegenstand tatsächlich darstellen, sie die Einzel­ heiten desselben immer etwas anders als erwartet wiedergeben - ein Umstand, der am besten geeignet ist, die Wirklichkeit und nicht nur die angenommene oder vorausgesehene Gestalt der Dinge - Auto­ suggestion oder Einbildung - zu unterstreichen. Alles wird in der Regel richtig, aber irgendwie anders gesehen: ein Haus sieht man häufig von einer Ecke oder vom Dach aus, wie man es in bisherigen Beobachtungen nie zu sehen bekam. Eine weitere Merkwürdigkeit dieser zweiten Stufe ist eigene Bewegung der Bilder gleich einem Film oder einer Landschaft bei schwacher Beleuchtung des Zwie­ lichts oder der Nacht. Denn diese Bilder sind anfänglich schwach wie verblaßte Photos und gewinnen an Licht und Farbigkeit erst im Laufe der weiteren Versuche. Aber ihre eigene Bewegung und 31

eigenes Leben sind unabhängig vom Willen des Beobachters und deshalb nicht die Gebilde seiner Phantasie. Ferner besitzen sie noch eine auffallende Eigenschaft: sie geben Antwort auf unvermittelt gestellte Fragen: kaum hat man während der Vision unwillkürlich an eine beliebige Einzelheit derselben gedacht, erscheint sie augen­ blicklich im Bild, oft sogar „etwas früher“, als man seiner Frage gewahr ist. Das beweist wiederum den „zeitlosen“ Charakter dieser geistigen Strahlen. Darüber hinaus stellt man mit Verwunderung fest, daß diese Strahlen durch alle Hindernisse hindurch gehen - für sie existieren keine Schirm wände, keine Grenzen oder Schranken werden ihnen gesetzt, es sei denn, daß der Übende noch nicht die nötige Entwicklungsstufe erklommen hat. Die Bilder dieser Stufe gehören meistens der Gegenwart oder un­ mittelbarer Vergangenheit an, seltener einer entfernten Vergangen­ heit und ganz selten der Zukunft. Sie können aber auch Gedanken­ bilder von anderen sein, besonders wenn der Gegenstand der Kon­ zentration ein religiöses Symbol oder ähnliches ist, über welches viele Tausende von Menschen bereits ähnliche Meditationen ausgeführt hatten, oder noch ausführen. Eines aber steht fest: sie sind kein Produkt eigener Phantasie, die, selbst wenn sie jahrelang auf ein Symbol gerichtet war, hundertmal schwächer und lebloser und flüch­ tiger erscheint, als die wirklichen Wahrnehmungen der erwähnten zwei Stufen. Auf der dritten Stufe entwickeln sich die Bilder zu einer vollstän­ digen Klarheit und Farbenpracht, welche in keiner Weise den ge­ wöhnlichen, mit beiden physischen Augen wahrnehmbaren Bildern nachstehen. Sie währen aber nur einen kurzen Augenblick und er­ löschen langsam, indem sie fast minutenlang „nachglühen“, wie elektrische Birnen, deren Strom ausgeschaltet wird. Dieses Nach­ glühen ist das typische Kennzeichen dieser dritten Stufe, ebenso wie das charakteristische Leuchten der Bilder überhaupt. Die feinstoff­ liche Materie ist eine leuchtende Substanz, aus welchem Grunde sie von den Okkultisten der alten Zeit „Astrallicht“ genannt wurde. Im Gegensatz zu den Visionen der vorhergehenden Stufen, welche von schwachem Licht erfüllt sind und längere Zeit wie spärlich be­ leuchtete Bilder eines Filmstreifens in steter Bewegung vor dem inneren Auge vorüberziehen, flammt die Erscheinung dieser dritten Stufe plötzlich in voller Stärke auf und verursacht ein eigenartiges Gefühl, als ob man „aus der eigenen Haut herausfährt“, oder die Haare zu Berge stehen. Dieses ekstatische Gefühl hält die ganze Vision an, und sie erlischt langsam, indem sie eine glühende Spur hinterläßt. Nun muß man durch weitere Schulung versuchen, sich 32

durch dieses merkwürdige Gefühl - manchmal ein leichtes Kribbeln im Rücken - nicht in der Bildbetrachtung stören zu lassen und die augenblickliche Wahrnehmung möglichst zu verlängern. Die erwähnten drei Stufen der Visionen (dar&anas) entwickeln sich allmählich eine aus der anderen und stellen in langsamer Steigerung der Präzision die wirklichen (nicht-gedachten) Bilder der feinstoff­ lichen Welt, dieses getreuen Spiegelbildes unserer grobmateriellen Ebene, dar. Sie können mehr oder minder leicht von allen Menschen erreicht werden, die sich genügender Mühe unterziehen, um die richtige Technik lang genug anzuwenden. Frauen sind, dank ihrer größeren Ausgeglichenheit, dazu besser geeignet, vor allem aber sind Blinde, infolge ihrer weit stärkeren Sehnsucht nach Licht und ihres ständigen Verlangens nach dem Visionären, besonders befähigt. Dar­ über hinaus hat jeder Mensch, der denken kann, diese „Gabe des zweiten Gesichtes“, und seine Leistung hängt letzten Endes nur von seiner Geduld, Ausdauer und Konzentrationsfähigkeit ab. Die vierte ist die Meisterstufe. War die langsame Einstellung des Bewußtseins, dieses „geistigen Fernrohrs“, auf ein bestimmtes Ob­ jekt wie auf einen „Brennpunkt“, das typische Merkmal der drei vorhergehenden Stufen, die erst eine Wahrnehmung und somit auch Erkenntnis des Objekts ermöglichte, so ist eine räumliche Wahr­ nehmung - gleichzeitig nach allen Seiten - charakteristisch für diese höchste Stufe, die, wenn sie vollständig beherrscht ist, aus dem Men­ schen einen Adepten macht - denjenigen, „der nichts mehr zu lernen hat“, denn er sieht alles, worauf er seinen geistigen Blick, sein „Drittes Auge“, zu richten beliebt. Er braucht von nun an keine Bücher nachzuschlagen, um an den Erfahrungen anderer zu lernen, keine logischen Schlüsse aus diesen Erfahrungen darüber zu ziehen, was den gewöhnlichen Sterblichen an Wahrnehmungsvermögen durch Schranken des Raumes, der Zeit und sonstiger Hindernisse beständig entzogen bleibt - nichts bleibt seinem Dritten Auge verborgen! Als Beispiel des anfänglichen Zustandes dieser Meisterstufe sei hier das persönliche Erlebnis von Paramhansa Yogänanda erwähnt: „Wie durch eine geheimnisvolle Spritze war der Atem meiner Lunge entzogen, mein Körper wurde ganz ruhig, jedoch nicht untätig. Dem folgte eine ekstatische Erweiterung meines Bewußtseins. Ich konnte auf Meilen hinaus klar sehen über den Ganges-Strom links von mir und über den Tempel hinaus durch die ganze Umgebung von Dalcshineswar. Die Wände aller Gebäude waren leuchtend durchsichtig, und durch sie beobachtete ich, wie die Menschen auf den weiten Feldern hin und her gingen. Ich war atemlos und mein Körper seit3 Sacharow, Drittes Aüge

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t-irn ruhig, ich konnte jedoch meine Hände und Füße frei bewegen. Hehrere Minuten lang machte ich Versuche, meine Augen zu schließen und u'ieder zu öffnen, und in beiden Fällen sah ich deutlich die Gesamtumgebung von Dakshineswar. Mein Körper schien aus einer ätherischen Substanz zu sein, zum Schweben in der Luft bereit. Meiner physischen Umgebung voll bewußt, sah ich mich um und machte ein paar Schritte, ohne jedoch die Fortdauer dieser seligen Vision zu unterbrechen . . .“ („Autobiographie eines Yogi“) Und die Vollendung dieser höchsten Stufe beschreibt Evans-Wentz wie folgt: „Der große Yogi beobachtet in Hellgesichten das Leben kleinster Lebewesen derart genau, wie es einem Forscher auch mit Hilfe des Mikroskops nicht möglich ist, und beschreibt die Natur fernster Sonnen, Planeten und Nebelflecke, die kein Teleskop bisher sichtbar machen konnte. Ebenso mächtig in der Beobachtung der physio­ logischen Vorgänge des eigenen Körpers, bedarf er zu diesen Studien und zur Feststellung von Giften oder Krankheitskeimen weder der Leichenöffnung noch der Vivisektion. Medizin und Serum sind für den unnötig, der den Geist als Schöpfer und Herrn des Körpers und aller stofflichen Verbindungen erkannt hat. Er braucht keine Maschi­ nen, um Luft, Wasser und Land zu durchqueren, denn seinen Worten nach kann er den grobstofflichen Körper verlassen und schneller als das Licht jeden Teil der Erde erreichen oder jenseits der Stratosphäre zu anderen Welten hinübergleiten.“ („Yoga und Geheimlehren Tibets“)

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III.

DAS GEISTIGE BOGENSCHIESSEN „Der Upanishad’s große Waffe ergreif’ als Bogen, Den Pfeil leg’ auf, geschärft durch Meditation, Den spanne durch auf Brahman’s Sein gelenkten Geist Und triff, o Teurer, als Ziel das Unvergängliche.“ (Mundaka-Upanishad II, 2, 3)

Diese mystischen Worte der Upanishad werden von den Yogis oft zitiert, um die Technik der Meditation und Ekstase bildlich dar­ zustellen, indem sie in dem darauffolgenden Vers auch ihren offen­ sichtlichen Kommentar finden: „Als Bogen OM, als Pfeil Seele, Als Ziel Brahman bezeichnet wird; In ihm, nicht lässig, zielnehmend, Dringt man ein, wie der Pfeil im Ziel.“ Es ist jedoch weit mehr als diese mystische Versenkung in Gott. Wir dürfen nicht vergessen, daß das Wort „Upanishad“ „eine Klasse von Schriften“ bedeutet, „welche die Auffindung des geheimen Sinnes des Veda zur Aufgabe haben“ (Böthlingk). In der üblichen Auslegung dieses Textes als Meditation über Eins­ werden mit Brahman (Gott) ist wohl nichts Geheimnisvolles enthalten, denn alle Upanishaden sprechen darüber in klarer Ausdrucksweise. Doch auch die Erklärungen der Yogis besagen nicht viel, wie, bei­ spielsweise, aus folgenden Worten Swämi Sivänandas ersichtlich ist: „Stelle Dir OM als Bogen, das Denkprinzip als Pfeil und Brahman (Gott) als Zielscheibe vor. Ziele mit großer Aufmerksamkeit auf diese Scheibe, und dann, wie der Pfeil mit der Zielscheibe eins wird, wirst Du eins mit Brahman.“ („Practical Lessons in Yoga“) Es bleibt die Frage offen, wie man dies machen soll. Eugen Herriegel behauptet mit Recht: „Für den Ostasiaten sind diese geheimnisvollen Formeln durchsichtig und vertraut. Uns dagegen machen sie ohne Ziveifel völlig ratlos. Es 35

bleibt daher nichts anderes übrig, als noch weiter auszuholen. Seit geraumer Zeit ist es selbst für uns Europäer kein Geheimnis mehr, daß die japanischen Künste um ihrer inneren Form willen auf eine gemeinsame Wurzel zurückweisen: auf den Buddhismus. Dies gilt für die Kunst des Bogenschießens in demselben Sinn und Maße wie für die Tuschemalerei, für die Schauspielkunst nicht weniger als für die Teezeremonie, die Kunst des Blumenstellens und die Schwert­ meisterschaft. Es besagt zunächst, daß sie alle eine geistige Haltung voraussetzen und je nach ihrer Eigenart bewußt pflegen, die in ihrer gesteigertsten Form dem Buddhismus eigentümlich ist und das Wesen des priesterlichen Menschen bestimmt. Freilich ist hierbei nicht der Buddhismus schlechthin gemeint. Nicht um den ausgesprochen speku­ lativen Buddhismus dreht es sich hier, den man um seines angeblich zugänglichen Schrifttums willen allein in Europa kennt und sogar zu verstehen beansprucht, sondern um den „Dhyana“-Buddhismus, den man in Japan als „Zen“ bezeichnet, und der in erster Linie nicht Spekulation, sondern unmittelbare Erfahrung dessen sein will, was als grundloser Grund des Seienden vom Verstände nicht ausgedacht, ja nicht einmal nach noch so eindeutigen und unwiderstehlichen Er­ fahrungen begriffen und gedeutet zu werden vermag: man weiß es, indem man es nicht weiß. Um dieser entscheidenden Erfahrungen willen schlägt der Zen-Buddhismus Wege ein, welche durch ein methodisch geübtes Sichversenken dahin führen sollen, im tiefsten Grunde der Seele des unnennbar Grund- und Weiselosen inne, noch mehr: mit ihm eins zu werden. Und dies bedeutet nun mit Rücksicht auf das Bogenschießen in freilich ganz vorläufiger und eben deshalb vielleicht bedenklicher Feststellung: die geistigen Übungen, denen allein zu verdanken ist, daß die Technik des Bogenschießens zur Kunst wird und, wenn es sich so fügen sollte, als kunstlose Kunst sich vollendet, sind mystische Übungen, und das Bogenschießen kann somit unter keinen Umständen den Sinn haben, mit Bogen und Pfeil äußerlich, sondern mit sich selbst innerlich etwas auszurichten.“ (Eugen Herriegel, „Zen in der Kunst des Bogenschießens“) Die hier erwähnten Künste sind als Stufen geistiger Entwicklung (Yoga) auf dem Wege der Meditation zu erkennen, etwa wie folgt: „Schauspielkunst“, oder die Kunst, sich selbst im Leben lediglich als Schauspieler im Gottes Drama (lilä) zu betrachten = yama und niyama (Ethische Entwicklung im Yoga), „Schwertmeisterschaft“, als die Kunst, sich vor Verletzungen und Schmerzen zu schützen = äsana (Körperbeherrschung), 36

„Blumenstellen“, als die Kunst der Zucht und Pflege der geistigen Lotosblumen im feinstofflichen Leib = pränäyäma (Atemtech­ nik), „Teezeremonie“, als die Kunst, die Quintessenz der Weisheit (den „Tee“) zu genießen, ohne davon durch die servierenden Geishas (Sinnestäuschungen) abgelenkt zu werden = pratyähära (Ent­ ziehung der Sinne), „Tuschemalerei“, als die Kunst, eigenen Gedankenbildern plastische Gestalt zu verleihen = dhäranä (Gedankenkonzentration), „Bogenschießen“, als die Kunst, die Erkenntnis der Wahrheit (das einzig „Unvergängliche“) als Zielscheibe mit dem Denkprinzip als Pfeil zu treffen = dhyäna (Meditation), welche schließlich zum Einswerden mit dem Ziel = samädhi („Vereinigung“, Voll­ endung) führt. Die eigentliche Technik des Bogenschießens als solches wird jedoch dadurch nicht erklärt, so daß uns, wie Herriegel meint, „nichts anderes übrig bleibt, als noch weiter auszuholen“, nämlich den Originaltext dieser Upanishad, der sicherlich auch dieser Zen-bud­ dhistischen Praxis zugrunde liegt, unserer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Wir lassen uns dabei bewußt von dem im 2. Vers gerade­ zu aufgezwungenen ausgesprochen mystischen Deutung des Textes nicht beeinflussen und, indem wir uns auf den 1. Vers allein kon­ zentrieren, untersuchen wir, ob hier nicht etwa - wie dies fast immer in den alt-indischen Texten der Fall ist - ein geheimer Sinn ver­ borgen ist. Wörtlich heißt es im 1. Vers: „Den Bogen, diese in der Geheimlehre erwähnte (aupanisada) „Große Waße“, ergrißen habend, lege auf den Pfeil, der durch die Hingabe (upäsä) geschärft ist; denselben mit dem auf geistige Einstellung (bhäva) gerichteten Bewußtsein spannend (äyamya), erkenne (viddhi), o Freund, eben dies als unvergängliches Ziel.“ Diese Übersetzung erscheint auf den ersten Blick noch verwirrender. Aber bei näherer Betrachtung gewinnen wir einen tieferen Einblick in die genaue Technik. Zunächst einmal heißt das Wort aupanisada „das in der Geheimlehre Erwähnte“, was unsere Annahme, daß es sich um ein Geheimnis handelt, auf einmal bestätigt. Ferner heißt upäsä etwas mehr als einfach „Meditation“. Es stammt von der Wurzel upa-äs „daneben sitzen“, „erwartend dabeisitzen“, „achten“, „seine Aufmerksamkeit richten“ u. ä. Das ist eine genaue Bezeich­ nung der ersten Stufe der Meditation (trätaka), welche den Zweck hat, eine möglichst scharfe geistige Einstellung (bhäva) auf das Ob­ jekt der Meditation herbeizuführen und während der ganzen Medi37

t-ation aufrechtzuerhalten. Äyamya bedeutet nicht nur „spannend“, sondern vielmehr „zurückziehend“, und somit der Ausdruck äyamya tad bhäva-gatena cetasä „den (Pfeil) vermittelst des mit dem Bhäva einhergehenden Bewußtseins zurückziehend“ - das eigentliche Ge­ heimnis, das wir suchen, wie soeben gezeigt wird: schauen Sie eine Weile unentwegt auf irgendeinen Gegenstand, so weilt Ihr Bewußt­ sein bei diesem Gegenstand - es ist die Empfindung, als sei gleichsam ein geistiger Fühler bis zum Objekt der Betrachtung ausgestreckt. Nun schließen Sie die Augen, und sofort wird dieser Fühler einge­ zogen, als wäre das Bewußtsein in die Stelle der Nasenwurzel zurück­ genommen. öffnet man die Augen wieder, so ist das Bewußtsein wieder draußen, schließt man sie, kommt es in die Nasenwurzel zu­ rück: das Bewußtsein wandert also mit dem Blick. Nun machen wir noch einen weiteren Versuch: wir stellen uns, nachdem wir die Augen nach der Betrachtung eines Gegenstandes geschlossen haben, diesen Gegenstand im Geiste vor. Das Bewußt­ sein, in der Bestrebung, den Gegenstand festzuhalten, begibt sich langsam nach dem Innern des Kopfes, wo eigentlich der Sitz des Bewußtseins ist, und diese Stelle inmitten des Kopfes wird ganz deutlich spürbar als ein vernehmbares Druckgefühl. Dies hält aber nicht an. Denn nach einer Weile hat man plötzlich die Empfindung, als wäre der Blick und mit ihm das Bewußtsein wieder nach außen gerichtet! Das Bewußtsein wandert also nach beiden Richtungen: solange man sich auf etwas in der Nasenwurzel konzentriert, bewegt es sich nach innen und erzeugt dort einen Druck. Dieser Druck ent­ steht genau in der Stelle, wo die Hypophyse über der Mitte der Linie, die seitlich beide Ohröffnungen verbindet) liegt. Kaum aber verlagert sich das Bewußtsein über dieses Zentrum hinweg noch weiter nach dem Kopfinnern (nach der Zirbeldrüse) zu, dann schießt der Blick (der geschlossenen Augen) wieder ganz nach vorn - der Pfeil wird abgeschossen! Somit haben wir das Geheimnis des geistigen Bogenschießens ge­ funden. Der Vorgang wird in folgende Abschnitte zerlegt: Ergreifen des Bogens. Da der Bogen die Silbe OM bedeutet, ist dies die einleitende Wiederholung dieser Silbe, die eine nötige Samm­ lung des Geistes herbeiführt und darüber hinaus, bei der rich­ tigen Aussprache (A-O-U-mmm, wie ein einziger Laut mit dem bereits mit A einsetzenden summenden Nachhall), noch den ge­ heimen Zweck verfolgt, selbst beim leisen Flüstern, die ganze Gegend der Hypophyse durch dieses Summen anzuregen (es wird weiter gezeigt, warum dies notwendig ist). 38

Auflegen des Pfeiles. Da dieser das Denkprinzip (Geist als eigenes Selbst oder ätman) bedeutet, ist dies das Wählen eines be­ stimmten Objektes als „Zielscheibe“. Zielen auf die Zielscheibe ist das bereits erwähnte trätaka oder upäsä „Hingabe“ an das Objekt, die den Zweck hat, die geistige (eidetische) Einstellung (bhäva), das „Gefühl“ - nicht die Vorstel­ lung - des Objektes hervorzurufen. Spannen des Bogens ist das Zurückziehen (entgegengesetzt der Ziel­ richtung!) des Pfeiles mit der Sehne (mit dem Sehnen nach dem Objekt - man beachte dabei die gemeinsame Wurzel dieser beiden Worte!) oder die Bewegung des Bewußtseins („Pfeil“) nach dem Zentrum der Spannung (Krümmung) des Bogens nach dem Kopfinnem. Dieses Spannen (Kon-zentration des Be­ wußtseins!) geschieht lediglich durch Befolgung dieser eidetischen Einstellung (bhäva-gatena), durch immer tiefere Versenkung in das „Gefühl“ des Objektes. Wenn diese Spannung (Konzentra­ tion) den Höhepunkt erreicht, kommt das Lösen des Schusses - das Loslassen (Entspannung) des Pfeiles (des Bewußtseins), der nun in Richtung der Zielscheibe (des Objekts) fliegt. Der Bogenschütze schaut auf das Ziel in Erwartung des Treffens, das er nicht mehr beeinflussen kann, denn er hält den Pfeil nicht mehr (konzentriert sein Denken nicht mehr) - er achtet darauf, ob der Pfeil die Zielscheibe ins Schwarze trifft (Vision des Objekts) oder daneben (Vision von nicht beabsichtig­ ten „seltsamen Dingen“, s. das vorige Kapitel), oder aber auf den Boden fällt (keine Vision). Im letzten Falle muß er einen neuen Pfeil auf legen (die Konzentration von vorn anfangen). Deshalb heißt es im Original „erkenne“ oder „achte auf“ (viddhi) das un­ vergängliche Ziel und nicht einfach „triff“ (das Sanskritwort wäre hierfür vidhya, nicht viddhi!). Denn nach dem Loslassen des Pfeiles ist nichts mehr zu ändern, nur noch aufzupassen, ob nicht etwa der Wind (andere Gedankenrichtung) den schon fliegenden Pfeil ablenkt, so daß er das Ziel verfehlt. Dieses Achtgeben auf das Ziel - das nicht ausschließlich Gott (das Wort „Brahman“ steht nicht im Text des 1. Verses), sondern jedes beliebige Objekt sein kann - ist das typische Merkmal der Meditation, die im Gegensatz zur Konzentration (Spannen des Bogens) eine immer vollkommener werdende Entspannung des Geistes ist. Wenn wir diese unsere Erkenntnis des Geheimnisses im geistigen Bogenschießen mit der mir seinerzeit vom Meister gegebenen Sans­ kritformel vergleichen, so stellen wir zu unserer Überraschung fest, 39

daß die beiden auf dasselbe hinauslaufen. Denn die kurze Sanskrit­ formel besteht aus zwei Teilen - aus Spannung, wobei die „Wolken“ (Gedanken) durch rechte Zurückhaltung (Zurückziehung!) des Be­ wußtseins zusammengetrieben (auf ein Zentrum) werden (Spannen des Bogens durch Konzentration), und aus Entspannung (Loslassen des Pfeiles durch Meditation), wobei der „Himmel“ (kha, die Stelle zwischen den Augenbrauen oder an der Nasenwurzel) beobachtet wird (auf die „Zielscheibe“ wird achtgegeben), um die Herrschaft zu erlangen (Beherrschung der Kunst des „Bogenschießens“). Aus der Physiologie des Großhirns weiß man, daß in der Augen­ brauenmitte zunächst einmal die Stirnhöhle, also ein leerer Raum ist, wo bestimmt kein Zentrum zu finden ist. Und dennoch sprechen alle indischen Texte übereinstimmend von dem bhrümadhya-dristi, dem „Schauen auf die Augenbrauenmitte“. Einerseits wird also be­ hauptet, daß dieses „Auge der Weisheit“ in der Öllampen-Flamme im Augenbrauen-Zentrum gedacht wird, andererseits aber sagt der­ selbe Text: „Das Augenbrauen-Zentrum ist (wie) eine Stengel-Knolle (nälakanda), die die eigene Stimme verursacht.“ Demnach müßte dieses Zentrum nicht vorn an der Stirn, sondern in unmittelbarer Nähe der Stimmresonanz sein, oder wenigstens dort beim Sprechen empfunden werden. Den Fingerzeig für die richtige Position des „Dritten Auges“ gibt uns - überraschenderweise - unsere eigene abendländische Wissen­ schaft : „ Wir erinnern uns der Körpergestalten, die es unter den Urmenschen gab. Da waren als niedriger Typus vor allem die Stirnäugigen. Dieses Stirnauge ist das charakteristische Organ jener Urzeit gewesen. Ein einfaches Auge zum Sehen war es nicht; denn die höheren Tiere hatten damals wie später außer jenem Stirn- oder Scheitelauge stets ihre zwei wohlentwickelten Normalaugen. Es kann also nur ein Organ gewesen sein zu einem Sinn, dessen die späteren Tiere und Menschen entbehrten oder besser sie verlustig gingen, so daß sie das Organ nicht mehr oder nur in rudimentärem Zustand noch besitzen - die vom Großhirn überwucherte Zirbeldrüse. Das Großhirn aber ist der Sitz des den Weltaspekt mechanisierenden Intellektes, dessen wir jetzt besonders teilhaftig sind und, wie die Schädelentwicklung zeigt, auch mehr als der vermutlich hierin rückgebildete Steinzeitmensch, obwohl auch dieser, wie die tertiärzeitlichen Säugetiere, noch ein „Gehirn­ riese“ ist. Bei jenen uralten Tieren mit dem vollendeten Scheitelauge ist aber das Gehirn besonders klein dagegen gewesen. Ist also das 40

Großhirn der Sitz des Intellektes, mit dessen Erwerbung und Ent­ faltung mehr und mehr das Dämonisch-Natursichtige abhanden kam, so muß das völlige Zurücktreten des Großhirns und die Vollentwick­ lung des unter ihm jetzt erloschenen 'parietalen Organs eben die physische Betätigung jenes Sinnes bedeuten, der uns am meisten zu­ gunsten des reflektierenden Intellektes fehlt - des Natursichtigen. Zu diesem verlorengegangenen natursichtigen Innenwesen ist das Scheitel­ oder Stirnauge vermutlich das physisch wirksame, schauende und ausübende Organ gewesen. Fernsehen und Fernbannen der Beute oder des Gegners möge eine seiner von uns nicht mehr empfindbaren Aufgaben und Fähigkeiten gewesen sein, also das Natursichtige und Magische im größeren Maßstab.“ (Edgar Dacque, „Unveit, Sage und Menschheit“) Dies mag ein weiterer wissenschaftlicher Beweis dafür sein, daß unser Bemühen, das uns einmal eigene und im Laufe der einseitigen Entwicklung des Intellektes verlorengegangene Natursichtige und Magische durch Wiederentfaltung der Zirbeldrüse (des „Dritten Auges“) zurückzugewinnen, ein durchaus natürliches Anliegen ist. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, dies nunmehr in Harmonie mit dem Intellekt vorzunehmen. Den praktischen Weg zu dieser normalen und harmonischen Entfaltung zeigt der zweite Teil.

41

Z w eiter T eil PR A X IS

I.

ZEIT

Der Praxis des geistigen Bogenschießens gehen einige vorberei­ tende Übungen wie die körperliche Stellung (Sitz), Atmung u. a. voraus. Auch die Wahl der geeigneten Zeit ist von Wichtigkeit, wie es aus folgenden Tatsachen ersichtlich ist: Wie im theoretischen Teil gezeigt wurde, gestaltet sich das geistige Bogenschießen in der Form, daß die Vorstellung, oder besser gesagt, die innere Einstellung („Gefühl“) auf das Objekt nach dem Innern des Kopfes (Hypophyse) und von dieser Stelle aus weiter nach dem „Dritten Auge“ (Zirbeldrüse) geleitet wird. Denn die beabsichtigte geistige Erkenntnis, oder in der symbolischen Sprache der Upanisad „das Treffen der Zielscheibe“, kann nur dann stattfinden, wenn ein innerer geistiger Kontakt, eine feinstoffliche Verbindung zwischen dem Objekt („Zielscheibe“) und dem „Dritten Auge“ hergestellt ist. Dies geschieht nicht nur bei dem „augenlosen Sehen“ des Objektes, sondern eigentlich bei jeder natürlichen Sinneswahrnehmung, mit dem Unterschied, daß im letzteren Falle nur die Peripherie der Zirbeldrüse mit den Schwingungen berührt wird, während im ersteren Falle die „tausendblättrige Blume“ selbst teilweise und für einen Augenblick berührt und zum Öffnen gebracht werden muß. Die Wanderung der Eindrücke nach innen - in der mystischen Sprache der Yogis „Wanderung im kha“ genannt - geht normaler­ weise automatisch vor sich und erfährt bei der Konzentration und Meditation im Yoga eine gewaltige Steigerung, die, wie schon er­ wähnt wurde, im Bereich der Hypophyse (hypophysis cerebri, Hirn­ anhang) wie ein physisch wahrnehmbarer Druck empfunden wird. Selbst bei längerer Betrachtung eines Gegenstandes ohne jegliche Gedankenkonzentration spürt man, wenn die Augen danach für einen Augenblick geschlossen gehalten werden, ein leises Druckgefühl in 45

dieser Gegend, welches noch erheblich steigt, wenn man sich dabei etwas wünscht, beispielsweise, daß der Gegenstand von dieser Stelle wegge­ nommen werden solle. Dies kann sich jeder Mensch sofort beweisen. Diese Anregung der Hypophysegegend - im Yoga wird die Hypo­ physe als das Willenszentrum angesehen - findet bei jeder Betrach­ tung unserer Umgebung, bei jeder Willensäußerung statt und ist um so stärker, je mehr es Abend wird. Infolgedessen werden diese Tageseindrücke in gewissem Sinne mit in den Schlaf übernommen. Es wurde schon gezeigt, daß das „sechste Blütenblatt“ des Denk­ zentrums (manas - cakra) um so stärker angeregt und im Laufe der Zeit auch entwickelt wird, je mehr man sich auf irgend etwas unter Ausschaltung anderer Dinge und Eindrücke konzentriert. Da jedoch dieses „sechste Blütenblatt“ die Leitung für unsere Wahr­ nehmungen mit dem „tausendblättrigen Lotos“ oder dem „Dritten Auge“ ist, entstehen dadurch im Schlafe (wenn die übrigen Sinne ausgeschaltet sind) Traumvorstellungen ganz besonderer Art, die sich von den üblichen, „normalen“ Träumen wesentlich unter­ scheiden: während normalerweise die Tageseindrücke sich im manascakra (Denkprinzip) ablagern und im Schlafe „nachglühen“ und so­ mit die grotesken und bizarren, im Grunde genommen auch unwirk­ lichen, Traumbilder hervorrufen, mischen sich diesen trivialen Traum* bildern im Laufe der Entwicklung des „sechsten Blütenblattes“ (durch Yoga-Übungen der Konzentration und Meditation) allmäh­ lich auch langsam einfallende Wahrnehmungen aus dem „Dritten Auge“ bei, so schwach und kurz diese auch anfänglich sein mögen. Das Resultat ist im Schlafe ein sogenannter „wahrer Traum“, im Wachbewußtsein eine intuitive Eingebung, im geeigneten Zustand der Meditation die erwünschte Vision und, schließlich, im Krank­ heitszustand die sogenannte „Halluzination“. Aber sie alle sind wesensgleiche Erscheinungen, welche durch die Tätigkeit des sich teil- und zeitweise öffnenden „Dritten Auges“ entstehen und durch das nunmehr immer wirksamer werdende „sechste Blütenblatt“ ge­ leitet werden. Wie die Yoga-Lehre weiter behauptet, öfFnet sich das „Dritte Auge“ im traumlosen Schlaf voll und ganz. Wir aber erinnern uns nicht daran, weil unser Bewußtsein, das im manas-cakra verankert ist, ausgeschaltet bleibt. Die ganze Aufgabe der Yoga-Praxis besteht nun darin, daß man sein Bewußtsein aus dem Denkzentrum (manascakra) in das „Dritte Auge“ überträgt und somit die höchste (Meister-) Stufe der Visionen erreicht, während bei den ersten drei Stufen das Bewußtsein im manas-cakra verweilt mit teilweiser Ein­ schaltung des „Dritten Auges“. 46

Daraus folgt, daß, je näher zur Nacht, um so mehr und leichter das „Dritte Auge“ eingeschaltet werden kann. Somit ist die beste Zeit für diese Übungen eigentlich die Nacht oder zumindest der Abend, der frühe Morgen dagegen ist die imgeeignetste Zeit, es sei denn, daß man spezielle Versuche anstellt, das Denkzentrum und das Willenszentrum wach zu bekommen, sozusagen „aus dem Schlaf zu rütteln“. Während man nachts (vor dem Einschlafen, denn nach dem Schlaf ist das Denkzentrum träge) die „augenlosen Bilder“ durch einfaches „Betrachten des kha“ (kham äjnätam, Beobachtung des „Himmels“) bereits nach einigen Minuten durch Übung erreichen kann, braucht man für dieselben Bilder morgens (nach dem Er­ wachen) sogar 1 bis 2 Stunden intensiver Konzentration! Folgende Beispiele beweisen dies: Es hat sich ergeben, daß undeutliche Schatten, welche im Dunkel vor geschlossenen Augen erscheinen, Anfänge der Visionen sind, die sich beim Erreichen der nötigen Konzentration abzuzeichnen beginnen, ebenso wie einzelne Gegenstände beim Beleuchten einer Gegend sich allmählich aus der Dunkelheit hervorheben. Visionen erscheinen, wenn man in das Dunkel vor den Augen schaut und das auseinanderzuhalten versucht, was sich dabei undeutlich ab­ zuzeichnen beginnt. Diese Visionen entstehen auf Wunsch (Visionen der 2. Stufe), jedoch stets im Augenblick des völligen Sich-Vergessens (laya). Heute früh, bei intensiver Konzentration auf äjnä (Augenbrauen­ mitte) mit dem Gefühl der Übertragung der Spannung in die Stelle der Hypophyse, kam gar nichts, trotz der einstündigen Meditation. Jedoch durch einfaches Schauen in die Augenbrauenmitte, jedesmal, wenn sich das Bewußtsein von der Spannung der Konzentration er­ holte, leuchteten Visionen ganz deutlich (im „Brennpunkt“) auf (Visionen der 3. Stufe) - Teile der Landschaft (Das Laub der Pappeln vor unserem Hause). Gestern vor dem Einschlafen ergab das einfache Schauen in das Dunkel vor geschlossenen Augen etwa nach 1 bis 2 Minuten einen ganzen Filmstreifen undeutlicher Visionen (Visionen der 2. Stufe). (Auszüge aus meinem Tagebuch) Freilich wird nicht etwa jedes Schauen in das Dunkel vor den Augen ohne jegliche Übung solche Visionen ergeben! Dazu gehört intensive Schulung. Aber uns interessiert im Augenblick die Tatsache, daß selbst bei denen, welche in dieser Kunst erfahren sind, die Leichtig­ keit des Erfolges wesentlich davon abhängt, zu welcher Tages- bzw. Nachtstunde solche Versuche gemacht werden. Im allgemeinen stellt 47

man fest, daß, in demselben Maße wie die Spannung des Bewußt­ seins im Laufe des Tages vom Erwachen bis zum festen traumlosen Schlaf sich immer mehr von außen (vom jeglichen Objekt der Be­ trachtung) über die Hypophyse hinweg bis in die Zirbeldrüse hinein überträgt - also „im kha wandert“ - sich auch die Art der zur je­ weiligen Vision notwendigen Konzentration verändert: man kann sagen, daß das Bewußtsein ständig und unaufhörlich das Phänomen des „Bogenschießens“ unwillkürlich ausführt. Denn die Betrachtung der Dinge der Außenwelt stellt das „Auflegen des Pfeiles und das Zielen“ ; die Konzentration auf diese Dinge das „Spannen des Bo­ gens“ ; und das stille Nachdenken über die zu erwartende Lösung der täglichen Probleme das „Loslassen des Pfeiles“ dar. Letzteres ergibt dann auch die eventuelle intuitive Antwort auf unsere Fragen - das „Treffen ins Schwarze“. Im Zusammenhang damit wird auch die Konzentration beim bewußten „Bogenschießen“ - bei unseren Übungen - einem gewissen Wandel unterliegen: obwohl jedesmal alle Elemente der Technik - Auflegen des Pfeiles und Zielen, Spannen des Bogens und Lösen des Schusses - vorhanden sein müssen, wird jeweils ein Element je nach der Tageszeit besonders hervorgehoben sein, so daß man am frühen Morgen in der Hauptsache beim Zielen (trätaka und mänduki-mudrä) verweilt, gegen Mittag vorwiegend das Spannen des Bogens (sämbhavi-mudrä) vollzieht und abends - vom Sonnenuntergang bis zum Einschlafen - praktisch nur das Loslassen des Pfeiles (khecari-mudrä), die soeben beschriebene Betrachtung des Dunkels vor geschlossenen Augen (kham äjnälam) ausführt. Darüber hinaus hat jede Tageszeit ihre Vor- und Nachteile, die jeder Übende in Betracht zu ziehen hat, wenn er sich die für ihn geeignete Übungszeit wählt. Unbedingte Forderung aber ist, die ein­ mal gewählte Zeit einzuhalten: man darf diese Zeit nicht mehr ändern, sondern muß immer zur selben Stunde üben; sonst geht der ganze Rhythmus verloren. Das ist unbedingte Voraussetzung. Von den Yogis werden die Zeiten des Sonnenaufganges und -Unter­ ganges besonders geschätzt, da zu dieser Zeit die Natur im Menschen selbst sowie in der Außenwelt eine tiefe Ruhe und Besonnenheit ausstrahlt, die selbst im Taumel der Großstadt zu spüren ist. Von diesen beiden Zeiten wird wohl die des Sonnenunterganges für uns Abendländer vorzuziehen sein - nicht zuletzt, weil wir infolge unserer Zivilisation an andere Zeit- und Arbeitseinteilung als der Inder ge­ wöhnt sind. Frühmorgens, geschweige denn beim Sonnenaufgang besonders im Frühling, Sommer und Herbst - sind wir kaum im­ stande, unser Denkzentrum genügend wachzuhalten für eine tiefe Konzentration. Es bleibt natürlich jedem Leser Vorbehalten, eigene 48

Zeiten zu wählen, er muß nur dessen eingedenk bleiben, daß die von ihm einmal gewählte Zeit bleibt. Wir kommen zurück zu unserem „Bogenschießen“. Wenn, wie oben gezeigt wurde, das „Dritte Auge“ sich, infolge des allmählichen Wanderns des Bewußtseins, im Traum und besonders im traumlosen Schlaf von selbst öffnet, so müßte daraus folgen, daß unsere Übungen im „Bogenschießen“, die das „sechste Blütenblatt“ in erhöhtem Maße entwickeln und somit die Leitung der Eindrücke vom „Dritten Auge“ zum manas-cakra (Sitz des Bewußtseins) begünstigen, den Inhalt unserer Träume wesentlich beeinflussen werden. Die praktische Erfahrung lehrt uns, daß es tatsächlich der Fall ist: die erste un­ mittelbare Folge dieser geistigen Übungen ist ein besonders reges und starkes Traumleben. Die Träume erfahren vom ersten Tag nach den Übungen an eine außerordentliche, fast lebendige Schärfe, Logik und klare Zusammenhänge, die im wirklichen Leben bis dahin nie beobachtet, noch erlebt wurden. So könnte man von einem merk­ würdigen, einzigartigen Traumgedächtnis sprechen, welches mehrere Träume miteinander verbindet, ja sogar in die Wirklichkeit hinein­ ragt. Folgendes Beispiel möge dies vor Augen führen: „Ich sehe mich in einer Menschengruppe, die, mit brennenden Fackeln ausgerüstet, unterirdische Höhlen besichtigt. In jeder Höhle liegen in weiße Tücher, wie Mumien, eingewickelte und einbalsamierte Leich­ name und ein schwacher angenehmer Duft der Myrrhe ist in der Luft spürbar. Einer von der Prozession sagt, dies sei die Basilika des Sankt Petrus in Rom . . . Am Tage sehe ich eine Schülerin, die Rom gut kennt und die Basilika mehrmals besucht hat. Ich frage sie, ob ihr irgend welche Katakomben oder unterirdische Höhlen unter der Basilika bekannt wären und be­ komme eine verneinende Antwort. Am nächsten Morgen eilt diese Dame aufgeregt zu mir und reicht mir die Zeitung, in welcher es heißt: bei der Freilegung des Fundaments der St.-Peterskirche in Rom am soundsovielten (genauer Tag meines Traumes) wurden zum erstenmal die unterirdischen Gänge entdeckt, die zu einem altrömischen Friedhof und unter demselben zu einem noch älteren ägyptischen Friedhof mit einbalsamierten Mumien führten.“ (Aus meinem Tagebuch) Solche oder ähnliche „Träume“ sind bei jedem ernsthaft übenden nicht selten, so daß der etwaige Einwand des „Zufalls“ völlig un­ angebracht erscheint, zumal ich nie in Rom gewesen bin und dort keinen Freund habe, der, falls er bei der Ausgrabung anwesend war, 4 Sacharow, Drittes Auge

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mir irgend welche telepathische Botschaft hätte übermitteln können. Auf dieselbe Weise habe ich oft Paris im „Traum“ besucht, ohne jemals dort wirklich gewesen zu sein, und solche Einzelheiten und Straßenwinkel beobachtet, die mir erwiesenermaßen keiner mitteilen konnte und die ich nachher zu meiner großen Überraschung im Film wiederholt „entdeckt“ und dadurch meine „Besuche“ bestätigt be­ kam. Jeder Leser, der diesen Weg genügend lange gegangen ist, wird mir in dieser Beziehung die Hand reichen, denn darauf - auf eigene Erfahrung - und nicht auf etwaige Einwände und Skepsis der Un­ gläubigen kommt es an! Unsere Fähigkeit des „augenlosen Sehens“ entwickelt sich dem­ nach aus unseren Träumen. An ihrer Schärfe, ihrem logischen Zu­ sammenhang und ihrer lebendigen Wirklichkeit kann man die Wir­ kung sowie die Wirksamkeit der Übungen ermessen. Diese Tatsache gestattet eine wichtige und brauchbare Kontrolle gewisser Kunst­ griffe und Einzelheiten, besonders wenn die Übungen unmittelbar vor dem Einschlafen ausprobiert werden. Durch diese Kontrolle konnte z. B. ermittelt werden, daß der in allen Yoga-Texten behaup­ tete Zusammenhang zwischen dem Mond als Symbol und dem „Dritten Auge“ eher auf verstandesmäßigen Erwägungen als auf wirklichen Entsprechungen aufgebaut zu sein scheint - im Gegen­ satz zur Sonne, da eine Betrachtung (im Geiste) der Sonnenscheibe während der Meditation die Träume sofort und wesentlich beeinflußt und in jeder anderen Hinsicht sensitiv macht, während die gleiche Meditation über die Mondscheibe keine spürbare Belebung der Träume, dafür aber merkliche Symptome der Mondsucht verursacht, wenn sie in der Vollmondnacht ausgeführt wird. Von der Wirkung der Übungen auf die Träume wird noch später gesprochen. Zusammenfassend muß nochmals unterstrichen werden, daß die für die Übungen gewählte Zeit eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, da der Erfolg in der Kunst des geistigen Bogenschießens im wesentlichen Maße davon abhängt. Häufig quält sich der Übende jahrelang unnötig, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß im Grunde genommen der für die Übungen gewählte Zeitpunkt nicht seiner persönlichen Veranlagung entspricht und deshalb der Erfolg ausbleibt.

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II.

ATMUNG

Die Atmung während der Übung und, wie wir sogleich sehen werden, unmittelbar vor derselben, ist ein weiterer wichtiger Faktor, vielleicht sogar der wichtigste von allen, da man dadurch eine phy­ sische Voraussetzung für das Gelingen der Übung, überhaupt für das Zustandekommen der durch die Tageszeit so bedingten einzelnen Kunstgriffe, kurz - für das leichtere Funktionieren des „Bogens“ schafft. Wie der richtige Bogenschütze sich auf das Schießen ein­ stellt, sich sammelt, seinen Bogen probeweise spannt, um dessen geballte Kraft und die Elastizität der Sehne zu prüfen, so muß der „geistige Bogenschütze“ seine inneren Kräfte sammeln und vor allem seine geistige „Spannkraft“ überprüfen. Denn der ganze Erfolg hängt einzig und allein von seiner Fähigkeit ab, sich vollkommen zu ent­ spannen (den „Pfeil“ ohne Zögern loszulassen) - und dies hängt wiederum mit der Spannweite seiner Konzentration (des „Bogenspannens“) zusammen. Hierzu verhilft in erster Linie eine besondere Atemtechnik. Sie ist eigentlich das Hauptwerkzeug des Yogi, da die Atmung auf das engste mit Gedankenkonzentration verbunden ist: konzentriert man sich beispielsweise auf irgendein Geräusch auf der Straße, so stockt der Atem augenblicklich - und umgekehrt: wenn man den Atem anhält, beschränken sich die bis dahin herumschweifenden Gedanken auf eine Richtung. Diese Tatsache hat seit alters her die Yogis ver­ anlaßt, zwei Möglichkeiten der Yoga-Technik auszuarbeiten - den Räja- und den Hatha-Yoga. Während der erste Weg von dem Geistigen und Gedanklichen aus das Körperliche und somit auch den Atem beherrschen soll, sucht der zweite die Gedanken und schließlich auch den Geist durch Atem­ technik unter Kontrolle zu bringen. Da nun der richtige Yoga beide 51

Elemente - Bäja und Hatha - umfassen muß, wäre es unvernünftig, zumindest aber unpraktisch, sich, wie es häufig vorkommt, dieser Mög­ lichkeit einer Erleichterung der ganzen Arbeit zu verschließen. Der Leser überzeuge sich selbst an Hand folgender Beispiele aus der Praxis: Heute eine neue Erscheinung, die allerdings schon des öfteren in letzter Zeit beobachtet wurde: Visionen, noch undeutlich, aber mit Bewegung und mit einer Spur von Färbung (Anfänge der 3. Stufe), beginnen sich abzuzeichnen und zu einem fast ununterbrochenen Streifen zu entwickeln, wenn man, ohne vorherige Konzentration, ein­ fach kontemplativ den Blick auf das kha richtet. Der Atem muß dabei vollständig unmerklich gemacht werden. Selbst wenn man, nach einigen Sekunden des rhythmischen Atems, eine ununterbrochene Atemweise aufrechterhält, beginnen sich Visionen ohne jegliche Anstrengung, Konzentration und dergleichen, einzustellen. Es bestätigt sich, daß beim Schauen in die Augenbrauenmitte Visionen in großer Anzahl erscheinen, wenn man mit dem ununterbrochenen Atem anfängt und zum immerklichen Atem übergeht. Selbst von dem rhythmischen Atem (durch die äjnä-Gegend) allein entstehen die­ selben Visionen. Wenn man ohne jegliche Konzentration (ohne Betrachtung von kha) einfach den ununterbrochenen Atem eine Weile ausführt, setzt mit der Zeit der meditative Zustand und der unmerkliche Atem ein. An­ fänge der Visionen beginnen sich zu zeigen (Hatha-Yoga-Prinzip). Umgekehrt: wenn man ohne besondere Konzentration, einfach sich bemüht, ein bestimmtes Bild im Geiste aufrechtzuerhalten, setzt zuerst der ununterbrochene und daraufhin auch der unmerkliche Atem ein. An­ fänge der Visionen (schwachleuchtend) beginnen (Räja- Yoga-Prinzip). Am frühen Morgen eine halbe Stunde lang den entspannten Atem geübt, der von selbst ununterbrochen wurde. Undeutliche Visionen, welche einander in einer kaleidoskopischen Weise folgten, begannen sich zu zeigen, unter anderem erschienen mehrere Male undeutliche Umrisse von Benares, welches ich mir zu sehen wünschte. Unsere Kontrolle durch Träume („Traum-Test“) bestätigt eindeutig diese auffallende Wirkung der Atmung auf Visionenbildung: Es bestätigt sich, daß die Praxis des unmerklichen Atems vor dem Einschlafen - und nicht die Betrachtung der Sonnenscheibe an sich markante Träume verursacht. (Aus meinem Tagebuch) 52

Da die Atmung bei diesen Übungen eine derart wichtige, ja aus­ schlaggebende Rolle spielt, sei kurz erwähnt, was unter ununter­ brochenem und was unter unmerklichem Atem zu verstehen ist. Es gibt im Yoga eine Reihe von Atemübungen - so werden min­ destens acht Hauptübungen genannt, doch diese können als aufein­ anderfolgende Stufen einer und derselben Übung behandelt werden (vgl. mein Buch „Das große Geheimnis“, die verborgene Seite der Yoga-Übungen). Für unsere Zwecke genügt es, lediglich die letzte Übung der ganzen Reihe, die sogenannte „kevali“ zu beherrschen. Dies ist eine Doppelübung, die sich aus ununterbrochenem und aus unmerklichem Atem zusammensetzt. Zwar könnte man jeden dieser Atemvorgänge für sich allein üben, den ersteren oder bhrämari („bienenartig“ - ununterbrochenen Atem) und den zweiten, mürcchä („betäubend“ - unmerklichen Atem), aber nicht einmal das ist un­ bedingt notwendig. Denn der zweite löst automatisch den ersteren ab, sobald dieser (der ununterbrochene Atem) während der Übung den nötigen Schwung erreicht hat. Worin besteht die Technik des kevali ? Wir beginnen mit einer Vorübung, einer auch sonst sehr erfolgreichen Atemübung, die be­ ruhigend auf den ganzen Körper, insbesondere auf alle Nerven wirkt. Sie heißt auf Indisch täla-yukta („mit Rhythmus verbunden“) und wird wie folgt gemacht: R hythm ische A tem übung (Vorübung): Man sitzt aufrecht (Kopf, Hals und Rücken gerade!) und atmet gleich lang ein und aus - etwa 3 oder 4 Sekunden lang die Einatmung und genau so lang die Ausatmung. Es hilft dabei ganz erheblich, sich diese Atemzüge schwungartig, etwa wie Pendelschläge, möglichst pla­ stisch vorzustellen, als ginge dieses Pendel durch den Körper oder einen bestimmten Teil desselben (wie z. B. die Augenbrauenmitte) hinein und wieder heraus. Die Länge der Atemzüge spielt keine Rolle, lediglich die Gleichmäßigkeit des Schwunges (der Ein- bzw. Aus­ atmung) ist wichtig. Mit der Zeit (auch während der Übung selbst) versuche man, den jeweiligen Schwung (die Länge der Ein- oder der Ausatmung) all­ mählich zu verlängern, etwa von 3 Sekunden auf 4, von 4 auf 5 usw. Wie Beispiele zeigen, bewirkt selbst diese vorbereitende Atmungs­ weise die Entstehung der Bilder während des „augenlosen Sehens“. Hat man in dieser rhythmischen Vorübung die Stufe erreicht, bei welcher eine weitere Verlängerung der Atemzüge anstrengt, so gleitet man in die iewK-Atemübung hinüber: 53

K evali (Hauptübung): Man versucht nunmehr die Übergänge - vom Einatmen zum Aus­ atmen und umgekehrt - möglichst zu verwischen, so daß 'praktisch eine ununterbrochene Atemweise entsteht. Obwohl man dabei bestrebt ist, gerade die Grenze zwischen Ein- und Ausatmung zu beseitigen, entsteht dadurch von selbst eine Atempause (mit Luft in der Lunge). Das ist der erste Teil dieser Übung - der ununterbrochene Atem. Wenn dieser Atem eine gewisse Steigerung erfahren hat, geht er plötz­ lich in den zweiten Teil über - in den unmerklichen Atem, bei welchem die Pause ohne Luft entsteht. Der erste Teil dieser Atemübung kommt dem Übenden vor, als wäre seine Lunge dauernd mit Luft angefüllt, wobei er nur ge­ legentlich ausatmet, um neue Luft zu holen. Der zweite Teil, der immer automatisch und mit einem Male aus dem ersten entsteht, so­ bald die Grenze (Kapazität) des Atemanhaltens überschritten ist, macht den Eindruck, als hörte die Atmung allmählich auf - so un­ merklich erscheint sie. Dieses kevali ist das Hauptrüstzeug eines geistigen „Bogenschützen“ (Yogi), da er vermittelst dieser beson­ deren Atemweise die beiden Bestandteile seiner Technik - die Kon­ zentration („Spannen des Bogens“) mit dem ersten Teil derselben (ununterbrochener Atem) und die Meditation („Loslassen des Pfei­ les“) mit dem zweiten Teil (unmerklicher Atem) beliebig beeinflussen und steigern kann: ebenso wie die Konzentration immer Hand in Hand mit dem ununterbrochenen Atem auftritt, so daß eines das andere hervorruft, so sind auch Meditation und unmerklicher Atem aufs engste miteinander verbunden. Wer deshalb ein Meister im „Bogenschießen“ werden will, der muß dieses kevali zu beherrschen suchen. Aber auch andere weit größere Vorteile hat diese Atemübung: sie vermag die Herztätigkeit in solchem Maße zu beeinflussen, daß man sein Herz mit der Zeit völlig unter Kontrolle bekommt. Die Praxis bestätigt diese Wirkung: Konzentriert man sich auf den Wunsch, durch die Augenbrauenmitte zu sehen, wird der Atem von selbst ununterbrochen. Bei Verlängerung dieser Übung hört der Atemvorgang, sowohl bei der Einatmung als auch bei der Ausatmung, auf, wobei von selbst die Pausen entstehen genauer gesprochen, die Atmung geht langsam weiter, wird aber immer unmerklicher. Der Herzschlag verlangsamt sich. (Aus meinem Tagebuch) Die wichtigste Eigenschaft des kevali in seinem zweiten (unmerk­ lichen) Teil ist jedoch das pratyähära („Entziehung der Sinne“), 54

eine Möglichkeit, die Eindrücke der Außenwelt auszuschalten, so daß das Bewußtsein auf ein beliebiges Objekt ohne jegliche Ablenkung konzentriert werden kann: Mittags um 1 Uhr: Nach 5 Minuten Konzentration auf die Hypophyse (mit starkem Druckgefühl in der Kopfmitte) erschien eine ganz scharfe Vision (3. Stufe) - ein leuchtendes Gesicht, besonders Augen, welches nach einigen Sekunden langsam „erlosch“. Selbst das Ge­ spräch mit meiner Frau im Nebenzimmer hat dies nicht gestört (der Atem war unmerklich). Wenn man direkt mit dem unmerklichen Atem anfängt und das Schauen in die Augenbrauenmitte (kham äjnätam) noch hinzufügt, kehrt die Atmung nicht zur ununterbrochenen Stufe zurück, sondern es entstehen Atempausen, ein fast völliges Aufhören der Atemtätig­ keit, und (abends) - Visionen. Lärm und Geräusch von außen stört dabei nicht. Bei Konzentration, verbunden mit kevali, wird das Bewußtsein wie „verschleiert“, so daß selbst ein plötzliches oder scharfes Geräusch keinen Schock verursacht, wie es sonst bei Versenkung in ein Objekt immer der Fall ist. (Aug me-wem Tagebuch) Paramhansa Yogänanda sagt über kevali: „Dies ist eine wissenschaftliche Methode der Konzentration und Meditation. Sie lehrt das Abschalten der Nervenströme von den Sinnes­ telefonen. Sie zeigt, wie man sein Bewußtsein und seine Nervenkraft den fünf Sinnestelefonen entzieht und somit das Durchlässen der Sinneswahrnehmungen immöglich macht. Diese Methode ist besser als der Versuch zu meditieren mit dem Denkprinzip allein, weil diese Methode nicht nur das Denkprinzip, sondern auch die Lebenskraft von den die Aufmerksamkeit ablenkenden fünf Sinnestelefonen ab­ schaltet. (Aus einem Brief des Swami) Die „Verschleierung“ (Entziehung) der Sinne durch die kevali-Atem­ weise führt, bei Vollendung dieser Praxis, zur vollständigen Aus­ atmung selbst der Residualluft aus der Lunge und der dadurch be­ dingten vollkommenen Ausschaltung der Tätigkeit der Sinne einer­ seits, und zur vierten oder Meisterstufe der Visionen in der Ekstase eines Meister-Yogi andererseits (siehe Yogänandas Beschreibung seiner ekstatischen Erlebnisse, wobei er stets das Empfinden hatte, als wäre ihm die Luft aus der Lunge, wie durch eine Pumpe, voll­ ständig ausgesaugt - „Autobiographie eines Yogi“). 55

III.

KÖRPERSTELLUNG

Es gibt noch einen wichtigen Faktor, den man oft übersieht, zu­ mindest aber unterschätzt, obwohl er fast ebenso ausschlaggebend ist wie die Atmung, - das ist die Körperstellung oder der Sitz (äsana). Dies Kapitel bildet im Yoga eine eigene Wissenschaft und muß sorg­ fältig beachtet werden - nicht, weil der Körper dadurch beruhigt wird und das Denkprinzip ungestört durch Unbehagen oder gar Schmerz sich auf ein Objekt konzentrieren kann, wie es in allen Yoga-Büchern heißt, vielmehr, weil der falsche Sitz unter Umständen unser ganzes Bemühen zunichte machen kann. Wir wollen diesen Punkt erklären: worin besteht, letzten Endes, die Atemtechnik pränäyäma -, die wir soeben besprochen haben ? Nicht nur in der Verlängerung der Atmung allein, denn präna ist weit mehr als Atmung - es ist Lebensenergie, welche im Körper das Leben auf­ rechterhält und nicht nur die Lunge, sondern auch das Herz und alle anderen Organe zur Tätigkeit anregt. Infolgedessen bewirkt pränäyäma eine Verlängerung der Funktion dieser Lebensenergie (siehe „Das große Geheimnis“), die im Körper immer polarisiert ist als „Sonnenatem“ (die rechte, magnetisch-positiv geladene Körper­ seite) und „Mondatem“ (die linke, magnetisch-negative). Jeder Mensch kann sich hiervon leicht überzeugen, wenn er seinen Atem genau beobachtet: er entdeckt, daß der Atem jeweils nur durch die eine Nasenseite frei strömt, während die andere mehr oder weniger „verstopft“ ist, wobei dieses Verhältnis regelmäßig alle zwei Stunden wechselt. Die eine (linke) Körperseite schöpft Lebensenergie aus dem All, die andere (rechte) verteilt sie über den ganzen Körper. Solange die beiden Lebensströme sich im Gleichgewicht befinden, bleibt der Mensch gesund; sind sie in Disharmonie geraten, erkrankt er. Diese uralte Theorie, die übrigens auch der jetzt so modern gewordenen 56

altchinesischen „Akupunktur-Methode“ zugrunde liegt und durch geeignete Experimente sich einwandfrei bestätigen läßt, ist der Aus­ gangspunkt der ganzen Lehre über die Körperstellungen (äsanas) im Yoga: nicht die Blutzirkulation allein soll dadurch in richtige Bahnen gelenkt, sondern - und dies ist ungemein wichtiger - diese magnetischen Strömungen müssen auf die richtige Weise miteinander verbunden werden, vor allem das ganze magnetische „Netz“ muß geschlossen bleiben. Sollte es sich lediglich um Festhalten des Blutes in bestimmten Körperteilen und Organen handeln - etwa in den Knien beim Lotos­ sitz oder in der Bauchspeicheldrüse beim „Kniekuß“ (siehe „Ge­ heimnis“ : Abbildungen) -, so wäre eine Reihe anderer nicht minder wichtiger Wirkungen ohne Erklärung geblieben und darüber hinaus würde die Fuß- bzw. Handstellung dabei keine Rolle spielen. Denn die Blutzirkulation wird durch dieselben in keiner Weise gehemmt oder gefördert. Es handelt sich jedoch in erster Linie - bei unserem Experiment des „Bogenschießens“ sogar ausschließlich - um eine Zusammenschaltung dieser Ströme, von welcher der Erfolg wesent­ lich abhängt, und nicht nur darum, daß man „gelernt hat, fest und aufrecht zu sitzen“. Patanjali sagt in seinem Yoga-Sütra (II, 48) über das Resultat der Beherrschung der Sitzstellung: „Dadurch kommt das Nicht-Gehemmt-Sein durch Gegensätze (dvandvas).“ Das Wort dvandva bedeutet Gegensätze wie Hitze-Kälte, SchmerzWonne usw. Da solche Gegensätze im Körper lediglich durch ge­ störtes Gleichgewicht der genannten beiden magnetischen Strömungen so stark empfunden werden, geht aus diesem Vers eindeutig die Forderung hervor, dieses Gleichgewicht der beiden Strömungen, die übrigens auch zu diesem dvandva-Begriff gehören, wieder herzustellen. Dies geschieht durch Zusammenschaltung derselben, wie auch die praktischen Beispiele unwiderlegbar beweisen. Zunächst die Frage, welche Sitzstellungen beim „Bogenschießen“ von Vorteil sind. Die orientalischen Völker ziehen - wie wir gleich sehen werden, mit Recht - alle Sitzarten mit unter- bzw. über­ geschlagenen Beinen vor, wie den „Türkischen Sitz“ (unseren Schnei­ dersitz), den „Lotossitz“ (manchmal „Buddha-Sitz“ genannt), den „Vollkommenen Sitz“ u. a. m., im Gegensatz zu den Abendländern, die sich in der Regel nur im Sessel oder auf dem Stuhl wohlfühlen. Der unbestritten beste aller Sitze ist der Lotossitz (padmäsana, Ab­ bildung 2a), weil er die vollkommene Zusammenschaltung der magne­ tischen Strömungen sowohl in den Beinen als auch in den Armen 57

gestattet und zwar in solcher Weise, daß bei ihm, erstens, die ganze untere Körperhälfte (bis zur Leistenbeuge) praktisch ausgeschaltet ist und, zweitens, die größte Konzentration des magnetischen Poten­ tials in den Händen und Füßen, die einander berühren, erreicht wird (die Hände können dabei die Finger ineinander flechten). Da aber der Lotossitz äußerst schwierig ist und mindestens % bis 1Jahr Schulung erfordert, doch auch dann nicht lange beibehalten wer­ den kann, könnte man leicht der Versuchung verfallen und - wenn es schließlich nur darauf ankommen sollte, daß der Ström geschlossen ist - den viel leichteren Sitz, das sog. goraksäsana, einnehmen, wobei die beiden Fußsohlen und auch die Hände zusammengehalten wer­ den. Aber die Praxis ergibt ein ziemlich negatives Resultat. Da die Konzentration der magnetischen Strömungen sehr schnell eine merk­ liche Hitze im Rückgrat (Steißbein) hervorruft, ist dies ein unfehl­ bares Merkmal der richtigen Zusammenschaltung der Ströme: Wenn man die Betrachtung der strahlenden Sonne in der Hypophyse ausführt und dabei im Lotossitz bleibt, empfindet man bald eine innere Hitze im Rückgrat (mülädhära), welche dann am Rückgrat entlang bis zum Hals hochsteigt. Beim Übergang zum goraksa-Sitz oder beim Ausstrecken der Beine, hört diese Hitze auf und kommt wieder, wenn man zum Lotossitz zurückkehrt. Früh um halb 6 Uhr morgens, beim Sitzen im padmäsana (Lotos­ sitz) in Verbindung mit Betrachtung des OM (siehe nächstes Kapitel), entstand eine spürbare innere Hitze im mülädhära, welche bei Hinzu­ fügung der Meditation über die Sonne im kha sich über den ganzen Körper erstreckte und starkes Wärmegefühl und Schwitzen verursachte. Beim Ausstrecken der Beine jedoch verschwand sie trotz der Fort­ setzung der Übung. Im goraksa-Sitz zeigten sich Spuren der Hitze, und sie erreichte die ursprüngliche Stärke beim Einnehmen des Lotossitzes. (Aus meinem Tagebuch) Beim längeren Üben erzeugt zwar der goraksa-Sitz mit der Zeit auch die Hitze, aber bedeutend schwächer. Dies zeigt, daß dieser Sitz doch als minderwertig anzusehen ist. Deshalb empfiehlt es sich nicht zuletzt als eine gute Vorbereitung zum Lotossitz - eine leichte Entspannung des letzteren, das muktäsana (Abbildung 2 b) einzu­ nehmen. Es gibt zwei Variationen desselben - die eine, das eigentliche muktäsana, bei welcher die Fußknöchel übereinander gelegt werden, und den sog. yäjnavalkya-Sitz (Abbildung 2c), wobei sie nebenein­ ander liegen. Da die beiden ziemlich leicht sind, dient die erste Varia58

A bb. 2 c: yä jn a va lk ya -ä sa n a /

.

\

A bb. 2 d : m aitreya-äsan a

59

tion als Vorstufe zum späteren Lotossitz und die zweite (yäjnavalkya) als Vorstufe der ersteren. Um den Lotossitz leichter zu beherrschen, wird zuerst (auch innerhalb derselben Übung) dieser yäjnavalkyaSitz (mit einander berührenden Beinen) und daraufhin der Ent­ spannte Lotossitz (muktäsana) eingenommen. Muktäsana-Sitz: Heute früh wurde im muktäsana Konzentration auf die Sonne mit dem Zeichen OM (Augenbrauenmitte) innerhalb von 20 Minuten geübt. Schwache Spuren von Wärme im Steißbein haben sich ge­ zeigt. Beim Übergang zum Lotossitz stieg die Wärme gewaltig, wurde durch den „Blasebalg“ noch stärker und erstreckte sich über den ganzen Körper. Als ich dann die Beine ausstreckte und über Kreuz legte mit den Händen auf den Knien, verminderte sich die Wärme, ebenso wie im muktäsana. Das Sitzen im padmäsana (Lotossitz) steigerte diese innere Hitze wieder, und sie strahlte vom Hals und Gesicht aus, Rückkehr zum muktäsana verminderte sie jedoch und schickte sie zurück zum Steißbein. Diese Wirkung wiederholte sich jedesmal beim Wechsel der beiden Sitzstellungen. Yäjnavalkya-Sitz: Am Mittag kham äjnätam (erwartungsvolle Betrachtung des Dunkels vor den Augen) eine Viertelstunde lang mit unmerklichem Atem und im yäjnavalkya-Sitz. Keine Visionen, aber eine starke Hitze. Am Mittag Konzentration auf den Wunsch, ein bekanntes Gesicht aus dem Gedächtnis im Bewußtsein aufrechtzuerhalten. Nach einigen Minuten erschien es in einer Vision, bewegt und lachend, sowie andere undeutlichere Bilder. (A w mdnem Tagebuch) Damit wird wohl die Brauchbarkeit auch dieser Sitzstellung be­ wiesen. Was den gewöhnlichen „Schneidersitz“ anlangt, so kommt er schon deshalb nicht in Frage, weil man dabei nicht gerade (mit Kopf, Hals und Rücken senkrecht) sitzen kann. Außerdem ver­ schwindet die im Lotossitz entwickelte Hitze im Rückgrat beim Übergang zum Schneidersitz vollständig, während sie in den soeben besprochenen - muktäsana und yäjnavalkya - nur schwächer ist. Bei dem gewöhnlichen europäischen Sitz im Sessel oder auf einem Stuhl, der übrigens auch orientalisch ist und bei den Buddhisten als maitreya-Sitz (Abbildung 2d) bekannt ist, gilt dieselbe Regel: der magnetische Kreis muß geschlossen sein - die Beine müssen ent­ weder mit den Füßen einander berühren oder (besser) die Unter60

Schenkel über Kreuz gestellt sein (nicht etwa die Füße einfach neben­ einander gehalten). Folgende Beispiele bestätigen dies: Ich saß auf dem Stuhl und habe verschiedene Fußstellungen aus­ probiert. Visionen kommen hauptsächlich beim Sitzen mit über Kreuz gehaltenen Unterschenkeln und mit Händen auf den Knien. Trätaka (siehe nächstes Kapitel) und Konzentration auf das Objekt hat eine ganze Reihe von Visionen mit Bewegung und sogar An­ fängen vom Leuchten und „Nachglühen“ (Visionen der 3. Stufe) hervorgerufen. Ich saß dabei im maitreya-Sitz mit über Kreuz ge­ stellten Unterschenkeln. Als ich die Füße parallel stellte, hörten die Visionen auf. (ÄUS meinem Tagebuch) Die Haltung der Hände ist auch zu berücksichtigen, denn sie beein­ flußt - gewiß durch die magnetische Umschaltung - die Atmung und somit auch die Konzentration! Am besten sehen wir dies an praktischen Beispielen: Es wurde festgestellt, daß Händehaltung die Konzentrationsdauer bewirkt. So geht das Bewußtsein, das bereits die Meditationsstufe erreicht hat, zurück zur Konzentration mit dem ununterbrochenen Atem, wenn man die Hände auf die Knie (cin-mudrä) legt. Mit dem Zusammenfalten der Hände setzt die Meditation wieder ein. Während die Haltung der Handflächen auf den Knien im Lotossitz den ununterbrochenen Atem mit Konzentration hervorruft (also Ver­ längerung der Pause mit Luft), steigern die Hände auf den Fuß­ sohlen (über Kreuz oder direkt) sofort die Ausatmung und die Pause ohne Luft. (Aus meinem Tagebuch) Zusammenfassend möchte ich noch darauf hinweisen, daß mein Meister gerade den maitreya-Sitz mit den über Kreuz gelegten Unter­ schenkeln und mit den Händen auf den Knien besonders empfohlen hat.

61

IV .

DIE TECHNIK DES BOGENSCHIESSENS

W ir sind am letzten und wichtigsten Abschnitt unserer Betrach­ tung - der Praxis selbst - angelangt. Wir haben festgestellt, daß diese Angelegenheit keine krankhafte bzw. krankheitsfördernde, son­ dern eine durchaus normale Entwicklung darstellt, die vor Jahr­ millionen uns eigen gewesen war und im Laufe dieser ungeheuer langen Zeit vernachlässigt wurde und somit, anstatt .zu noch vollerer, harmonischer Entfaltung, zu einer Verkümmerung entsprechender Organe und zum Verlust der dadurch bedingten Fähigkeiten geführt hat. Ferner haben wir entdeckt, daß diese zwar äußerst geringe und langsame aber dennoch feststellbare Entwicklung im Sinne der all­ mählichen Anregung dieser Organe (Hypophyse und Zirbeldrüse) weiterhin automatisch vor sich geht. Unsere Bestrebung, diese Ent­ wicklung bewußt in die Hand zu nehmen und zu beschleunigen, stellt somit die absolut notwendige und einzig logische Schlußfolge­ rung aus der ganzen Sachlage dar, welche tatsächlich das gewünschte Resultat der harmonischen Entfaltung der geschilderten wunderbar anmutenden geistigen Fähigkeiten ohne Einbuße des Intellektes herbeizuführen vermag. Es bleibt nur noch die Frage offen, wie diese Entfaltung technisch zu gestalten ist. Zunächst drängt sich uns die Frage auf, wie lange im allgemeinen die von uns beabsichtigte und durch eine spezielle Technik zu be­ schleunigende Anregung und schließlich vollständige Entfaltung des Willenszentrums und des „Dritten Auges“ - denn um sie handelt es sich dabei - wohl dauern kann ? Die Yoga-Lehre schätzt, durch­ aus im Einklang mit den modernen geologischen Erwägungen, diese Dauer etwa auf 1 Million Jahre, bis das menschliche Gehirn die not­ wendige Reife in dieser Beziehung erreicht haben wird. Und in bezug auf die mögliche Beschleunigung des Vorganges und Verkürzung 62

dieser Zeit nennt sie eine bestimmte Prozedur, welche jedem geistigen und nicht nur mystischen Bemühen eigentlich zugrunde liegen muß das sogenannte mantra oder den „Zauberspruch“, wie dieses Wort am trefflichsten zu definieren wäre, wenn es, wie leider fast alle abendländischen Worte, bei dem Versuch, indische Terminologie zu erklären, den überaus inhaltsreichen Begriff „mantra“ nicht fast zur Unkenntlichkeit verzerren würde. Denn „Gebet“ allein ist dieses Mantra nicht, ebensowenig ein „Zauber“ nur, welcher den Unein­ geweihten in den Dschungel der Götzenanbetung, zumindest aber des Aberglaubens zu führen droht. Etymologisch ist mantra ein „Schutz (tra) durch das Denken (man)“ - also eine geistige Formel, die „böse“ Mächte abwehrt. Theurgisch jedoch reicht diese Bedeutung von höchster Geistigkeit in erhabenster Philosophie des Göttlichen bis zu den tiefsten Ab­ gründen der „schwarzen Magie“. Ebenso wie eine Naturkraft, wie Elektrizität oder Atomenergie im höchsten Maße wohltuend oder todbringend wirken kann, je nach Kenntnis und guter oder böser Absicht, so ist auch die Kraft des mantra, welches den Segen bringen oder ins Verderben stürzen kann. Aber klingt es in unserem auf­ geklärten Jahrhundert nicht recht kindisch, daß ein „Zauberspruch“, oder wie man es auch nennen mag, uns die gewaltige Zeit von einer Million Jahren überbrücken helfen soll! Und dennoch ist die Be­ hauptung der alten Weisen, daß man diese Million Jahre durch Wiederholung eines mantra zwölf Millionen Male überspringt, gar nicht so unsinnig, wie es auf den ersten Blick erscheint. Nach der Yoga-Lehre besitzt jedes mantra, abgesehen von dem konzentrierten Denken, welches sein Wesen ausmacht, eine geheime Kraft, welche in einem Teil, dem wesentlichsten des ganzen Spruches, in dem blja („Same“), verborgen liegt und durch mehrtausendfaches Wiederholen dieses Spruches herausgeholt und zur Anwendung ge­ bracht werden soll. Das größte und mächtigste aller bijas und somit auch aller mantras ist die heilige Silbe OM. In ihr, wie auch in jedem anderen blja, ist aber das nasalierte M (das summende Mmmm) vor­ handen, welches, dieser Lehre zufolge, gerade diese geheime Kraft des mantra in sich birgt. Wieso ist dies möglich ? Betrachten wir die Silbe OM zunächst einfach als einen Laut, der eine physiologische Wirkung auszulösen hat. Man spricht sie „AOUmmm“ aus, wie einen Laut, in welchem weder A noch 0, noch U extra hörbar werden, und das summende M soll bereits von Anfang an mitklingen. In diesem summenden M (in den bijas ge­ wöhnlich als gutturales „ng“, wie im Wort Gang ausgesprochen) liegt die ganze Lösung des Problems: das Summen setzt, über den 63

weichen Gaumen hinweg, die ganze Hypophysegegend und als sum­ mendes m auch das gesamte Ma-Gebiet (von der Augenbrauenmitte bis zur Zirbeldrüse!) in Schwingung. Hinzu muß noch eine tiefe und immer stärker werdende Gedankenkonzentration kommen. Diese Ge­ dankenkonzentration in Verbindung mit der m-m-m-Schwingung regt zunächst die Hypophyse als Willenszentrum und dann auch die Zirbeldrüse als „das Dritte Auge“ immer stärker an und bringt es zur Entfaltung. Nach dem allgemeinen biogenetischen Gesetz entsteht zunächst die Notwendigkeit einer Funktion und dann erst das betreffende Organ. Umgekehrt: wenn die Funktion vernachlässigt wird und schließlich ausbleibt, verkümmert das Organ. So ist es notwendig, diese Funktion wieder im Körper wachzurufen, um dadurch auto­ matisch die Neuentfaltung des Organs - der Zirbeldrüse - zu ver­ ursachen. Dies geschieht am zweckmäßigsten, indem man das Ombija in Verbindung mit dem konzentrierten Wunsch, im Icha zu sehen, wiederholt. Die Wiederholung dieses mantra muß nicht unbedingt laut geschehen - es genügt, sie in Gedanken vorzunehmen; nur müßte man bei jedem Mal das summende M durch die an den weichen Gaumen gepreßte Zungenwurzel unterstreichen und so das Schwingen der ganzen Ma-Partie sichern. Diese Übung heißt in einem Wort „nabho-mudrä“ und lautet folgendermaßen: „Wo sich der Yogi auch immer befindet, was er auch immer tut, stets soll er die Zunge (Zungenwurzel) nach oben (am weichen Gaumen) halten und immer wieder den Atem anhalten . . („Gheranda-Samhitä“, I I I , 2) „Den Atem anhalten“ ist - wie oben erklärt - die Forderung nach der Gedankenkonzentration, die stets mit dem Atemanhalten (mit Luft) verbunden ist und durch Wiederholung vom ommantra ver­ stärkt sein muß: „Die Wiederholung dieses OM und das Nachdenken über dessen Bedeutung (ist der Weg).“ (Yoga-Sütra, I, 28) Die alten indischen Weisen kannten die unserem Wissen erst im letzten Jahrhundert erschlossenen Geheimnisse des Stoffwechsels, der Tätigkeit der innersekretorischen Drüsen und der Hormonbil­ dung. Auch wußten sie darüber hinaus noch um die Rolle, die diese Drüsen und die mit ihnen in engster Beziehung stehenden Nerven­ geflechte und feinstofflichen Zentren (cakras) bei der Herstellung der Harmonie des Körperlichen mit dem Seelischen und dem Gött64

liehen spielen. Dieser Lehre zufolge vollzieht sich beim Menschen, welcher die von uns besprochenen Meditationsübungen ausführt, ein geistiger Stoffwechsel. Die mawfra-Schwingungen regen über die Kopfzentren (Hypophyse und Zirbeldrüse) hinweg allmählich auch die übrigen Zentren (cakras) des Körpers an, deren physische Wurzeln die entsprechenden Drüsen, wie Schilddrüse, Thymusdrüse, Bauchspeicheldrüse, Nebennieren, Keimdrüsen und Steißbeindrüse, sind. So entsteht, entsprechend der grobstofflichen Wechselbeziehung und dem so angeregten physischen Kreislauf - ebenfalls durch die Hauptwirkung der Hypophyse als Regulator - auch ein feinstofflicher Kreislauf durch all diese .Sta­ tionen des Geistigen“, die cakras (die „Lotosblumen“ oder mysti­ schen „Kreise“), deren es 7 im Menschen gibt - also 12 insgesamt (7 bei abwärtsgehender Bewegung und 5 beim Aufwärtssteigen). Ein derartiger Kreislauf durch 12 Stationen, welcher übrigens, mit dem Fortschreiten der Praxis auch rein physisch als eine merkliche innere Hitze im Rückgrat empfunden wird - wie schon gezeigt - entspricht einem Jahr der normalen Entwicklung, so daß 1 Million Jahre prak­ tisch durch die gleiche Zahl dieser „Kreisläufe“ ersetzt wird. Daraus folgt, daß die 12 Millionen Wiederholungen des mantra, dessen blja solche Wirkung ausübt, tatsächlich die erschreckend lange Zeit von 1 Million Jahren wesentlich zu verkürzen vermag. Denn eine Wiederholung des OM-Lautes in der vorgeschriebenen Weise dauert nur 2% Sekunden, so daß 12 Millionen solcher Wieder­ holungen insgesamt 8333,33 Stunden ergeben. Bei einer täglichen Praxis von 1 Stunde sind es 8333% Tage oder rund 23 Jahre. Wenn man für diese Übungen mehr Zeit aufzubringen vermag, vermindert sieh dementsprechend diese Dauer, die, beispielsweise, bei achtstün­ diger Übung nur drei Jahre ausmacht. Aber wer, außer indischen Yogis oder westlichen Mönchen, die ihre ganze Zeit solcher geistigen Beschäftigung widmen können, würde diese Zeit von 23 Jahren warten bzw. die Übungsdauer von acht Stunden täglich aushalten ? Wir müssen also versuchen, die Ge­ samtzeit von 8333% Stunden, nicht durch Verlängerung der Übungs­ dauer, sondern durch Steigerung der Anstrengung, noch weiter zu verkürzen. Diesem Zweck dient die uns theoretisch bekannte und nur noch praktisch zu erlernende Technik des „geistigen Bogen­ schießens“. Diese Technik zerfällt in drei Teile:

5 Sacharow, Drittes Auge

65

1. „ A u fle g e n d es P fe ile s u n d Z ie le n “ (trä ta k a ).

. . . „Den Pfeil leg’ auf, geschärft durch die Hingabe“, heißt es in dem Upanishad-Text. Was wird dabei unter „Hingabe“ verstan­ den ? Daß ein „Pfeil“ (Denkprinzip) durch „Meditation“ - also wiederholtes Üben im „Bogenschießen“ - nicht geschärft wird, ist schon deshalb klar, -weil ja der Pfeil durch dauerndes Schießen ab­ gestumpft wird. Folglich ist es kein einfaches Wiederholen der Übung, welches ihn, vielmehr das Denkprinzip, wetzt. Zweitens, besorgt man das Schärfen des Pfeiles vor dem Bogenschießen. Das Wort des Originals upäsä - „voll Erwartung Dabei-Sitzen“ - gibt Aufschluß: wenn ein indischer Text schon eine Meditation meint, so gebraucht er stets das Wort „d h y ä n a zumindest aber irgendeine Ableitung von der Wurzel dhl (dhyä). Der Begriff upäsä dagegen läßt sich am trefflichsten durch „eidetische Einstellung“ ins Europäische über­ setzen. Wir werden gleich sehen, inwiefern diese eidetische Einstel­ lung den Pfeil des Denkprinzips zu „schärfen“ vermag. Das griechische Wort eidolon heißt „Bild“. Somit ist dies eine Einstellung auf ein Bild, welches zunächst imaginär in der Vor­ stellung existiert. Man muß also zunächst ein Bild, eine plastische Darstellung des gewünschten Objektes haben. Wenn aber dieses Ob­ jekt in den Visionen wirklich gesehen wird, erscheint es in der Regel immer anders, als man es sich vorgestellt haben mag. Angenommen, wir wollen einen bestimmten Menschen als Ergebnis unserer Vision sehen. Wir setzen uns vor sein Bild. Was sollen wir nun tun ? In den meisten Büchern wird empfohlen, auf dieses Bild mit dem sogenannten „Zentralblick“ - konzentriert auf die Augenbrauenmitte dieses Bildes - zu schauen, ohne zu blinzeln. Auf diese Weise soll angeblich das ganze Gesicht auf einmal gesehen werden können, wras sonst nie der Fall ist, es sei denn, daß man von einem Auge zum anderen (oder zu anderen Gesichtszügen) dauernd hinüberspringt. Darüber hinaus soll dies das Fixieren des Blickes ohne Blinzeln herbeiführen. Mit anderen Worten - man soll unbewegt auf einen Punkt zwischen den Augenbrauen hinschauen, unbeachtet der Trä­ nen, die bereits nach 1 bis 2 Minuten dieses Schauens ohne Blinzeln unsere klare Sicht zu trüben beginnen, denn - so sagt man uns — diese Tränen werden von selbst durch wiederholtes Üben verschwin­ den. Dies aber ist vollkommen falsch. Erstens, weil man die Ursache mit der Wirkung verwechselt und, zw’eitens, gerade das Gegenteil tun muß. Man muß von einem Teil des Bildes zum anderen hinüber­ gleiten. Denn nicht die Konzentration der Gedanken wird, wie selbst 66

in manchen indischen Yoga-Büchern angepriesen, durch das Schauen ohne Blinzeln entwickelt, sondern umgekehrt: wenn die Gedanken­ konzentration eine gewisse Stufe erreicht, kommt das Schauen ohne Blinzeln von selbst und kann ohne jegliche Übung sogar eine halbe Stunde und mehr aufrecht erhalten werden. Drittens heißt diese Übung auf Indisch trätaka (von trä „verhüten“ und at „herum­ schweifen“), d. h. „das Herumschweifen (ätaka) des Blickes (am Objekt), um alle Ablenkung zu vermeiden“ (trä). (Wäre es, wie manche annehmen, ein „Schutz vor dem Herumschweifen“, so hieße es umgekehrt - etwa „ätakatra“). Dieses Herumschweifen des Blickes ist nötig, weil Blick und Ge­ danken höchstens ein paar Sekunden an irgendeine Einzelheit des Bildes gefesselt bleiben. Im nächsten Augenblick streift schon der Blick - und mit ihm die Gedanken —an dieser Einzelheit vorbei, und beide müssen zurückgeholt werden. Diesen Vorgang wiederholen wir unser Leben lang, wenn wir uns auf etwas zu konzentrieren be­ mühen, aber dies bringt uns im Sinne der Konzentrationsfähigkeit nicht um einen Schritt vorwärts. Viel zweckmäßiger ist es, wenn wir uns darauf konzentrieren, diese merkwürdige Eigenschaft des Blickes und des damit eng verbundenen Denkens auszunutzen, indem wir nur so lange (einige Sekunden) auf jede Einzelheit des Bildes (oder Objektes) schauen, wie der Blick sie festzuhalten vermag, dann aber sogleich zur anderen Einzelheit hinüberstreifen, um Blick und Den­ ken keine Gelegenheit zu geben, das Aneinanderreihen der Gedanken in der Konzentration (richtiger gesagt Meditation) zu unterbrechen. Das ist unter trätaka zu verstehen. Dieses Herumstreifen des Blickes bezweckt aber noch Wichtigeres, als bloß eine ununterbrochene Konzentration. Denn trätaka ist noch keine Konzentration der Gedanken im eigentlichen Sinne - lediglich eine Vorbereitung dazu. Es ist nur „das Auflegen des Pfeiles und Zielen“, während die Konzentration „das Spannen des Bogens“ dar­ stellt. Aber „das Zielen“ setzt voraus, daß die Spitze des Pfeiles trotz des Zitterns der Arme genau auf das Schwarze der Zielscheibe gerichtet bleibt: das Denkprinzip (Pfeil) muß ständig auf den Mittel­ punkt des Objekts (Zielscheibe) gerichtet bleiben - trotz des anfäng­ lichen Herumschweifens der Pfeilspitze. Der Vergleich mit dem Bogenschießen wäre vielleicht noch zu­ treffender, wenn wir das kurze Betrachten (Studieren) der Zielscheibe hinzufügen, da trätaka als Übung zweiteilig ist: der erste Teil des­ selben ist das oben erwähnte Herumschweifen des Blickes - die Be­ trachtung der Zielscheibe, während der zweite Teil mit geschlossenen Augen gemacht wird. Dies ist das Zielen auf das Schwarze der Ziel67

scheibe, welches während des ganzen Bogenschießens fortgesetzt wird und sogar als Erwartung des Treffens nach dem Abschießen des Pfeiles noch vorhanden ist. Ebenso wie man beim Zielen nicht mehr die ganze Zielscheibe oder deren Teile, sondern nur das Schwarze ins Auge faßt, so bedeutet dieser zweite Teil des trätaka kein weiteres Herumschweifen des Denkprinzips mit geschlossenen Augen, sondern das Richten des Bewußtseins auf den Mittelpunkt des Objekts. Dies gelingt nur, wenn der „Pfeil geschärft“ ist. Es geht bei der Betrachtung des Objekts nicht etwa um die Be­ strebung, einzelne Teile desselben seinem Gedächtnis einzuprägen, um sich bei geschlossenen Augen das Objekt bildplastisch vorzu­ stellen - es geht einzig und allein darum, daß man das „Gefühl“ für das Objekt, eine eidetische Einstellung darauf, eine regelrechte Sehnsucht (Sehens-Sucht!) danach, kurzum, eine Hingabe an das Objekt gewinnt. Diese Hingabe, obwohl lediglich eine Vorbereitung zur Konzentration, durchdringt wie ein goldener Faden die ganze Technik: je stärker diese hingebungsvolle Einstellung ist, um so „schärfer“ ist der „Pfeil“ des Bewußtseins, um so leichter das „Span­ nen des Bogens“, welches allein durch diese Hingabe (upäsä oder bhäva) zu vollziehen ist, um so sicherer das „Treffen ins Schwarze“. Somit ist diese Einstellung, das erwartungsvolle Dabeisitzen (upäsä), die treibende Kraft des ganzen „Bogenschießens“. Sein Erfolg steht und fällt mit dieser Hingabe: sollte es dem Übenden nicht gelingen, das richtige eidetische Gefühl für das von ihm gewählte Objekt zu erwecken - sei es, weil das Objekt für ihn nichtssagend ist und er deshalb keinen Kontakt mit demselben verspürt, sei es aus anderen Gründen - so verfehlt der Pfeil sein Ziel oder trifft nicht ins Schwarze, sondern anderswo hin, oder fällt ganz und gar auf den Boden. Aber genug der Theorie. Bevor wir uns das Objekt wählen, ist noch eine Vorsichtsmaßregel zu beachten - das „Raumkreuz Buddhas“ : wir setzen uns in einem bestimmten äsana hin und senden nach allen Seiten - nach vorn, nach hinten, rechts, links, oben und unten - die Gedanken der Ver­ söhnung, des Friedens, des Wohlwollens, etwa so: „Glück allen Wesen, Friede allen Wesen, Freude allen Wesen.“ Je häufiger wir dies tun, desto wohler wird uns sein. Später erfahren wir, daß das geöffnete „Dritte Auge“ eine regelrechte Brücke zu dem schlägt, was man mit diesem Auge sieht: Die Gedanken werden auf das Objekt der Vision einwirken - und wenn das Objekt stärker ist, als wir, wird es um so kräftiger auf uns Zurückschlagen. Hüten wir uns deshalb, Gedanken des Hasses oder niedrige Wünsche der Beherr­ schung, der Unterdrückung und ähnliches auf diese Weise auf andere 68

zu übertragen: was der Mensch sät, das wird er auch ernten! Diese harmonische Einstellung auf die ganze Umgebung bietet anderer­ seits einen guten Schutz auch für sich selbst, denn sie wehrt ähnliche schlechte Gedanken anderer ab: jeder Gedanke ist ein materielles Wesen, das Form, Farbe und Gewicht hat. Nun wählen wir uns ein Objekt. Das beste ist die Sonnenscheibe mit dem OM-Zeichen. (Abbildung 3) Eine Sonnen- oder Mondscheibe allein würde unserem Blick keine Möglichkeit des Herumschweifens bieten und somit das ganze trätaka in Frage stellen. Man schneidet sich aus einem Stück Goldpapier einen Kreis heraus und klebt denselben auf eine blaue Unterlage, die einen „Him­ mel“ darstellen soll. Auf diesen Kreis klebt man noch das weiße Zeichen der OM-Silbe und, wenn man will, auch ein paar goldene Strahlen. Es ist keine Kin­ derei - vielmehr eine wertvolle Hilfe für die Augen, wie wir gleich sehen werden: setzen Sie sich vor diese „Son­ nenscheibe“ und schauen Sie darauf et­ wa 2 bis 3 Sekunden, aber noch bevor der Blick wegstreift, beginnen Sie mit dem Herumschweifen des Blickes zunächst auf die Strahlen, dann zeich­ nen Sie langsam das OM-Zeichen nach. Daraufhin kommen Sie zurück zur Sonnenscheibe, dann zu den Strahlen usw. ungefähr 2 bis 3 Minuten lang. Nun schließen Sie die Augen: Sie werden im Dunkel vor Ihren geschlossenen Augen die Spur der Sonnenscheibe erblicken, welche langsam erlischt. Diese Spur wäre nicht vorhanden, hätten wir keine Unterlage benutzt und uns einfach, was z. B. die Blinden machen müssen, allein auf die Vorstellung der Sonne konzentriert. Manche indischen Yoga-Bücher empfehlen dabei eine wirkliche Betrachtung der Sonne. Aber dies ist eine Verkennung der Tatsache, daß der „Himmel“ (kha) in indischen Schriften kein physischer Himmel ist, sondern die Stelle im Kopf oberhalb des Gaumens. Deshalb soll die Betrachtung der Sonne in demselben nur eine imaginäre sein! Noch eine andere Spur hinterläßt diese Betrachtung der gezeich­ neten Sonnenscheibe: sie läßt in der Hypophyse-Gegend (Abbildung 1) ein deutlich vernehmbares Druckgefühl entstehen, welches beweist, daß das Hypophyse-Zentrum (äjnä-cakra) eingeschaltet ist (der „Pfeil“ ist mit der „Bogensehne“ verbunden). Ist dies nicht der 69

Fall, wie oft am frühen Morgen, wenn das Bewußtsein noch nicht vollständig wach ist, so ist jedes weitere Bemühen umsonst. Das beste Mittel, um dieses Gefühl der Hypophyse und somit auch diese selbst einzuschalten, ist die mänduki-mudrä („Frosch-Siegel“): man legt die Zungenwurzel an den weichen Gaumen, unter Umständen reibt man ein paarmal daran, wodurch dieses Gefühl sofort entsteht. Diese Zungenlage - wir kennen sie von der nabho-mudrä her - wird stets bei den Atemübungen und der Konzentration empfohlen. 2. „Spannen des Bogens“ (sämbhavl-mudrä). „Spanne den Bogen mit dem auf geistige Einstellung gerichteten Bewußtsein“, lautet die Formel. Die geistige Einstellung (bhäva), diese Hingabe an das Objekt, die durch das trätaka gewonnen wurde, ist die einzige Spannkraft, mit welcher die „Bogensehne“ angezogen werden muß. Dieses Spannen des Bogens ist der wichtigste Teil des Schießens - die Konzentration. Doch worauf muß man sich kon­ zentrieren - auf das Objekt, d. h. auf dessen Vorstellung im Bewußt­ sein - also auf seine äußere Form, oder auf das Zentrum, in welchem diese Form geschaut wird - so vor allem auf die Augenbrauenmitte, das Hypophyse-Zentrum oder auf eine andere Stelle im Kopf, etwa auf den Scheitel des Kopfes, wo sich die Inder die „Öffnung des Brahma“ - eine Pforte zum Nirvana - vorstellen ? Solche Fragen verwirren den Anfänger, und es kostet Jahre, Jahrzehnte, ja Men­ schenleben, bis man herausfindet, daß all diese Fragen überflüssig sind, weil das Denkprinzip allein den richtigen Weg und das richtige Zentrum findet, wenn die Konzentration richtig ist. Und wann ist sie richtig ? Wenn sie sich aus der vorhergehenden Stufe spontan entwickelt - also aus dem trätaka, aus der „Hingabe“ an das Objekt, mit einem Wort - wenn man sich auf das Gefühl des Objekts kon­ zentriert. Der Text spricht deutlich davon, daß das Spannen mit dem auf die Einstellung gerichteten Bewußtsein geschieht. Was aber heißt Konzentration auf das „Gefühl des Objekts“ ? Wenn es eine Gedankenkonzentration ist, sollte es dann nicht be­ deuten, daß unsere Gedanken auf das Objekt, mit anderen Worten wir selbst auf unsere Gedanken über dieses Objekt konzentriert werden müssen ? Steht doch in allen Yoga-Büchern geschrieben, daß die Gedanken beherrscht, konzentriert oder - am Ende der ganzen Yoga-Entwicklung - beseitigt werden müssen? Solche Forderungen finden sich jedoch - und dies wird den Leser ziemlich überraschen nur in den abendländischen Yoga-Büchern, nie aber in den authen­ 70

tischen Originalschriften. Es gibt für diese im Westen - und, selbst wenn von Indern geschrieben, für den Westen - sogenannte „Ge­ dankenkonzentration“ keinen entsprechenden Ausdruck in den Sans­ krit-Texten. Konzentration, vielmehr das, was man in westlicher Sprache mangels genauer Bezeichnung als Gegenwert dafür ver­ wendet, heißt auf indisch dhäranä („Festhalten“) und bezieht sich nicht auf unsere Gedanken, die nicht zu unserem Wesen gehören, vielmehr „Gäste“ unseres Bewußtseins sind, sondern auf unsere Denksubstanz (citta), die von den Indern als See dargestellt wird. Unsere Gedanken sind lediglich Wellen auf dessen Oberfläche, hervor­ gerufen durch Windstöße (Wünsche von uns und von anderen Men­ schen, wenn wir uns für solche Windstöße offen halten). Somit be­ deutet dhäranä das Festhalten der Denksubstanz (cttta), nicht aber der Wellen. Daraus folgt die Unzweckmäßigkeit, ja die Unzulänglichkeit einer Konzentration, d. h. des Festhaltens eines Gedankens, wie es im Westen überall geübt und gepriesen wird. Das citta (Bewußtsein) wird festgehalten und zwar in einem Zustand, welcher in ihm bei einem bestimmten Gedanken entsteht, nicht auf dem Gedanken selbst. Und was ist dieser Zustand ? Es ist das Gefühl des Objekts, welches bei der Betrachtung des letzteren, als Wunsch, dieses Objekt zu erfassen, entsteht. Mit anderen Worten - man konzentriert sich auf das Gefühl einer Idee und nicht auf die Idee selbst. Jetzt verstehen wir, warum eine „Hingabe“ an das Objekt ent­ wickelt werden muß: je stärker diese Hingabe, die eidetische Ein­ stellung - oder wie sie auch sonst als upäsä oder bhäva bezeichnet werden mag - ist, desto stärkere Spur, desto deutlicheres Gefühl hinterläßt sie in unserem Denken. Man konzentriert sich also nicht auf die Vorstellung oder äußere Form des Objekts, sondern auf den Wunsch, dieses Objekt im Dunkel vor geschlossenen Augen zu sehen. Denn das Gefühl des Objekts ist nichts anderes als ein inneres Ab­ tasten, ein augenloses „Sehen“ desselben, und der Wunsch zu sehen ist weiter nichts als die Einschaltung des Willenszentrums (Hypo­ physe). Daraus folgt die endgültige Formel: man schaut gleichsam in das Gefühl des Objekts, als könnte man „in diesem Gefühl“ das Objekt selbst erblicken. Dabei versucht man, dieses Gefühl so lange, wie möglich, festzuhalten. In unserem praktischen Beispiel der Sonnenscheibe mit dem OMZeichen ist diese Konzentration die Bemühung, das Gefühl der Sonnenscheibe zu empfinden (das Gefühl, daß die Sonne sich in der Augenbrauenmitte befindet), verbunden mit dem Wunsch, diese Sonnenscheibe (zuerst ohne, dann mit dem OM-Zeichen) wirklich 71

zu erblicken. Praktisch ist es so viel wie das Schauen in die Augen­ brauenmitte (bhrümadhya-dristi) , das ohne schielen erfolgen kann. Das Wort mcidhya heißt „mitten durch“, somit das Ganze: „das Schauen mitten durch die Augenbrauen“. Dieses Schauen durch die Augenbrauenmitte vermittelt uns sogleich das Gefühl der Hypophyse und ersetzt die mändukl-mudrä: es ist eine merkwürdige Tatsache, daß, so sehr man sich auch auf das Gefühl der Augenbrauenmitte konzentrieren mag, das Gefühl dieser Stelle nicht empfunden wird, wohl aber die Hypophyse-Gegend. Diese beiden Hilfsmittel - die Zungenwurzel-Lage am weichen Gaumen (mändukl-mudrä) und die Konzentration auf das Gefühl der Augenbrauenmitte (bhrümadhya-dristi) - sind nur morgens not­ wendig, solange das Druckgefühl in der Hypophyse-Gegend nicht durch das trätaka allein (oder in Ermangelung desselben, wie im Falle eines Blinden) entsteht, was man am Tage, besonders abends, ohne weiteres empfindet. Das einzige Mittel, welches man braucht, um die Konzentration („das Spannen des Bogens“) zu erreichen, ist das Schauen in das Gefühl des Objekts selbst mit dem Wunsch, es zu sehen. Es ist demnach keine Vorstellung, lediglich die Erwar­ tung: man hilft sich dabei, indem man sehnsüchtig das Ganze oder einzelne Teile zu sehen erwartet, als ob man diese „aus dem Dunkel vor den Augen modellieren würde“. Das auf diese Weise geschaute Objekt - eine merkwürdige Tat­ sache - beginnt, sich nach dem Inneren des Kopfes zu bewegen, genauso wie der Pfeil beim Spannen des Bogens sich entgegengesetzt der Schußrichtung bewegt. Dabei merkt der Übende gleichzeitig, daß sein Atem stockt - er wird ununterbrochen. Es ist ein Zeichen, daß die Konzentration richtig ist. Das ist die ständige Begleit­ erscheinung der Konzentration (dhäranä) und ist durchaus normal, so daß wir uns nicht zu beunruhigen brauchen. Schlimmer wäre es umgekehrt, wenn der Atem nicht stocken würde. Denn dies wäre der sichere Beweis, daß unsere Konzentration nicht stimmt. Wenn der Atem stockt, müssen wir lediglich, ohne die Konzentration zu stören, versuchen, die Übergänge vom Einatmen zum Ausatmen und umgekehrt zu verwischen (siehe Seite 54). Nun entsteht eine Frage: wie lange soll man sich konzentrieren? Die Yoga-Lehre behauptet, daß das betreffende Zentrum zum öffnen gebracht wird, wenn man imstande ist, das dhäranä (Festhalten des Denkprinzips) zwei volle Stunden lang aufrechtzuerhalten. Die Dauer der Übung hängt demnach von der Fähigkeit und Zeit ab, mit welcher das Denkprinzip (das Bewußtsein) an ein Objekt gefesselt werden kann. Hier gilt aber ein weiteres Gesetz, ähnlich übrigens, 72

wie auf der materiellen Ebene im Falle der elektrischen Energie: Leistung ist proportional dem Quadrat der Energie! Das bedeutet, daß, wenn man, anstatt zwei Stunden, nur eine Stunde Konzentration aushält, seine Leistung nicht halb so groß ist, sondern (* )2 = \ der ursprünglichen ausmacht, bei einer halben Stunde, d. h. bei einem Viertel der vorgeschriebenen Zeit (2 Stunden), nur ^.der Leistung usw. Praktisch heißt es, daß man nicht 1 sondern 16 volle Tage Konzentration (eine halbe Stunde täglich) machen muß. So entsteht folgende Tabelle: Bei 2 Stunden täglich = 1 Tag 1 Stunde „ = 4 Tage = 16 „ % „ 20 Minuten ,, = 36 „ = 64 „ 15 = 144 „ 10 = 365 „ = 1 Jahr 6,3 „ „ usw. 120 Im allgemeinen ergibt sich die Formel: d = (~ )2, wobei t Vd wo t die Übungsdauer und d die Zahl der Tage bis zum (teilweisen) Öffnen des Zentrums (in unserem Beispiel des „Dritten Auges“) angibt. Diese Zahlen sind natürlich nur annähernd richtig. Denn, imgleich jeder materiellen Kraft, wächst unsere Konzentrationsfähigkeit mit der Übung und verkürzt somit die Gesamtzahl der Tage. Aber diese Tabelle ist immerhin nützlich, denn sie zeigt uns das ungefähre Ver­ hältnis unserer Konzentration zur Leistung und, indem sie einerseits unsere Ungeduld etwas abdämpft, zeigt sie andererseits den Zeit­ punkt an, an dem die Wirkung mit mehr oder weniger Sicherheit zu erwarten wäre, vorausgesetzt, daß unser Eifer im Laufe dieser - im Vergleich mit 23 Jahren der Wiederholung des OM-mantra immer­ hin kurzen - Zeit nicht sinkt. Wie gesagt, muß die Konzentration während der ganzen Übungsdauer auf ein Objekt gerichtet bleiben. Dabei hilft uns ein einfacher aber äußerst nützlicher Kunstgriff: wir stellen uns vor, daß die Sonne immer heller wird. Der Erfolg dieser Übung ist selbstverständlich nicht das voll­ ständige Öffnen des „Dritten Auges“. Er ist lediglich der erste Schimmer des Erfolges, wenn man von dem wirklich ersten und be­ reits in der Nacht nach der ersten Konzentration erscheinenden Zeichen der Wirkung, nämlich vom besonders lebendigen und schar­ fen Traum, absieht. Es sind nur Visionen der ersten Stufe („seltsame 73 99

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Dinge“). So ermutigend sie auf den Übenden auch wirken mögen, so sind sie noch kein Zeichen, daß man nunmehr mit den Übungen der höheren Stufe beginnen darf. Höchstens kann man ab und zu versuchen, ob nicht etwa die zweite Stufe der Visionen heranbricht, auf der, außer den „seltsamen Dingen“, auch gewünschte Objekte erscheinen. Wenn bei der Konzentration das Bewußtsein sich sozusagen mit dem ganzen Gewicht gegen das Objekt anlehnt mit dem Wunsch, es im Dunkel vor geschlossenen Augen zu erblicken, erscheint bei leisester Erinnerung an etwas die Vision des betreffenden Dinges: so erschien die Vorderseite meines Hauses, der Straßenraum vor dem Balkon, die Pappeln und eine Dame, die die Straße entlang ging. Versenkung in das Dunkel vor geschlossenen Augen ergab wieder eine Menge Visionen mit Bewegung, wenn auch unklar. Bei einem flüchtigen Gedanken an meine Wanduhr sah ich augenblicklich die Zeit, die sie angab. Als ich die Augen öffnete, überzeugte ich mich, daß es stimmte. (Aus meinem Tagebuch) Die Konzentration auf die Sonnenscheibe, besonders mit dem 0MZeichen, gibt aber noch eine andere Bestätigung, daß diese Übung wirkt: es ist die bereits oftmals erwähnte inn re Hitze im Rückgrat als Resultat der „Erweckung der mystischen Kundalini-Kraft“, wie es in dichterischer Ausdrucksweise der indischen Schriften heißt. Diese Hitze steigt dann allmählich den Rückenmarkkanal hoch. Dadurch werden alle Zentren und schließlich auch das „Dritte Auge“ oder „die tausendblättrige Lotosblume“, wie eine wirkliche Blume, welche mitten im Winter in einem Treibhaus zur Blüte entfaltet wird, zum Öffnen gebracht. Damit dieses Hochsteigen der Hitzewelle unge­ hindert vor sich gehen kann, empfiehlt es sich, eine bestimmte Atem­ übung, die unter dem Namen „Blasebalg“ (bhastrikä) bekannt ist, auszuführen: Blasebalg-Atemübung: Man sitzt aufrecht (Kopf, Hals und Rücken senkrecht) und atmet schnell abwechselnd ein und aus (vom Zwerchfell aus), etwa 20mal hintereinander, wie eine Luftpumpe (ohne Anstrengung). Dann atmet man tief und langsam ein, hält den Atem möglichst lange an und atmet wieder langsam (einmal) aus. Das Ganze wiederholt man dreimal, jedesmal mit einer Gedankenkonzentration - auf das Steiß­ bein, auf das Sonnengeflecht (vielmehr auf das Rückgrat in dieser Höhe) und auf die Halsgrube (auf das Rückgrat in dieser Höhe). 74

Bei jedem Wiederholen dieser Atemübung merkt man, daß die Hitze, die vor der Übung sich in einem bestimmten Gebiet konzentrierte, dadurch angefacht wird und bis zum nächsten Punkt (also vom Steißbein zum Sonnengeflecht und von dort bis zur Halsgrube und höher) hochsteigt. Diese drei Atemübungen macht man während der Konzentration auf die Sonnenscheibe, sobald sich die Hitze gezeigt hat, und fährt mit der Konzentration weiter fort. Es zeigen sich mit der Zeit häufig verschiedene Bruchstücke der Visionen der 1. und manchmal auch der 2. Stufe, zum Beispiel eigenes Gesicht usw. Um ganz sicher vorzugehen, beginne man jedoch mit den Übungen mit Menschen und Landschaften nicht bevor ein be­ stimmtes Zeichen sich gezeigt hat, nämlich die Vision der Flamme. Sie erscheint ganz hell und strahlend und flackert wie eine wirkliche Flammenzunge. Diese Vision ist ebenso scharf wie das normale Sehen mit den physischen Augen - also die 3. Stufe derselben. Sie kommt unfehlbar zu einem jeden Übenden und zwar mehrere Male und kennzeichnet den Augenblick, in welchem er die höchste Stufe des geistigen Bogenschießens - das khecarl-mudrä („Wanderung im kha“, „Loslassen des Pfeiles“) - nunmehr beginnen darf. Es ist diese Flammenzunge, die „verschluckt“ werden muß, d. h. durch die Öff­ nung im weichen Gaumen bis zur Zirbeldrüse gebracht wird. Dieser ganze Vorgang wurde aber von vielen grobmateriell verstanden und zwar so, daß die physische Zunge durch bestimmte Manipulation in den Rachenraum gesteckt wird: der Yogi soll dadurch Hunger, Durst, Krankheiten und Tod besiegen und lebendig begraben werden können. Manchmal erscheint statt dieser Flamme auch die Vision eines strahlenden Lichtes. Bei der Konzentration auf das Gefühl der Hypophyse genügt es jetzt, etwas den Konzentrationsdruck abzuschwächen - dann erscheinen helle Visionen, z. B. vollständig helleuchtend die Kerzenflamme (flackernd). Einmal während der starken Konzentration auf den Wunsch, in der Augenbrauenmitte zu sehen, erschien eine Vision der Kerzenflamme, für einen Augenblick, aber ganz hell und scharf. Visionen kommen von der Betrachtung der Sonne in der Augen­ brauenmilte. Heute erschien während einer solchen Konzentration auf die Sonne plötzlich eine helle Vision der Flamme, als ob jemand diese Flamme vor den Augen halten würde. (Aus meinem Tagebuch) 75

Diese Vision der Flamme erscheint sogar morgens, obwohl der Mor­ gen eine denkbar schlechte Zeit für solche Übungen ist: Bei der Bemühung, die Sonne in der Konzentration aufrechtzu­ erhalten (am Morgen), setzt sofort der ununterbrochene Atem und dann der unmerkliche Atem ein, und im zweiten Stadium erscheint eine Menge undeutlicher Visionen mit Farben und einmal eine recht helle Flamme. Heute früh rief die Betrachtung der Sonne in äjnä sofort die innere Hitze im Steißbein hervor. Diese Hitze dauerte die ganze Zeit der Meditation (mit unmerklichem Atem) an, verschwand jedoch mit dem Übergang zum Festhalten der Sonnenscheibe (dhäranä) mit dem ununterbrochenen Atem. Dafür aber erschien eine äußerst deutliche und helle, sogar spürbare Vision der Kerzenflamme, die nach allen Seiten flackerte. (Aug meimm Tagebuch) Die angeführten Beispiele aus meinem Notizbuch zeigen deutlich, daß diese Vision der Flamme kein „Zufall“, keine „Einbildung“ ist, denn sie kommt ganz unerwartet und dabei so leuchtend und scharf, daß sie alle anderen Erscheinungen überblendet. 3. „Loslassen des Pfeiles“ (khecari-mudrä). „Erkenne das unvergängliche Ziel“ : in diesen Worten liegt das ganze Geheimnis dieser letzten Handlung - „Lösung des Schusses“. Der Bogenschütze, nachdem er den Pfeil abgeschossen hat, sieht unentwegt in Richtung des Schusses, ob er das Schwarze getroffen hat. Genauso muß der geistige Bogenschütze, nachdem die Ent­ spannung des Bewußtseins (Loslassen des „Pfeiles“) zustande kam, unablässig auf sein Objekt schauen. Während der Bogenschütze den Flug des Pfeiles nach dem Loslas,- n nicht mehr zu ändern vermag das einzige, was den abgeschossenen Pfeil von der ihm gegebenen Schußrichtung ablenken könnte, wäre ein plötzlicher Windstoß - ist der geistige Bogenschütze durchaus imstande, diese „Windstöße“, die in seinem Bewußtsein entstehen, unter seine Kontrolle zu bringen. Diese Kontrolle muß jedoch an sich keine neue Konzentration sein, die, einem neuen Schuß gleich, einen neuen Pfeil abschießen würde, keine Konzentration überhaupt, da eine solche das neue „Spannen des Bogens“ verursachen würde. Was den „Pfeil“ entläßt, ist im Gegenteil eine Entspannung der „Bogensehne“ (des Denkens), 76

zugleich aber kein passives Dasitzen: „erkenne das Ziel“, lautet die Formel. Man soll keinen anderen Gedanken („Windstoß“) zulassen, denn jeder solche Gedanke könnte sofort die Pfeilrichtung ändern und zwar nach diesem Gedanken zu. Das bedeutet: der „Pfeil“ würde, anstatt das „Schwarze“ (Objekt) zu treffen, das neue Ziel erreichen - eben diesen Gedanken „treffen“. Andererseits soll dieser Zustand des „Erkennens des Zieles“ auch keine aktive Unterdrückung anderer Ablenkungsmomente sein. Mit anderen Worten - die Dauer und die Wirksamkeit dieses „Erkennens des Zieles“ hängt unmittel­ bar von dem Schwung des „Spannens des Bogens“, der Konzentration, ab. Da jedoch jede Kraft einen Widerstand der äußeren Umgebung (in unserem Fall Ermüdung des Denkprinzips) hervorruft, ergibt sich,

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A bb. 4

nach dem allgemeinen Gesetz der Stromlinie, eine Ermüdungs­ minimum-Kurve, die gleichzeitig das Leistungs-Maximum darstellt (Abbildung 4). Danach ist das Maximum % der Kurvenlänge vom Ausgangspunkt entfernt und die Gesamtlänge der Kurve um so kürzer, je steiler der Anstieg derselben ist. Praktisch folgt daraus, daß beim schnellen „Anlauf“, beispielsweise im Fall (1) mit dem Kulminationspunkt (Maximum) bereits nach 45 Sekunden, die Leistung noch schneller (nach weiteren 15 Sekunden) bis zum Nullpunkt sinkt, wobei das Maximum höchstens 10 Sekunden und die Gesamtdauer 1 Minute beträgt. Wenn dagegen der Anlauf bis zum Kulminationspunkt, wie im (2) mit der Gesamtdauer von 20 Minuten (die für solche Übungen normalerweise empfohlene Dauer), 15 Minuten in Anspruch nimmt, beträgt auch das Maximum dementsprechend das 20fache, nämlich 3Y3 Minuten! Da aber das „Dritte Auge“ sich erst bei diesem Maximum öffnet, versteht es sich von selbst, daß die Länge dieses Maximums und somit auch die Länge des Anlaufes der Übung die größte Rolle spielt. Dadurch erklärt sich der Umstand, daß, je stär­ ker die Anstrengung bei der Konzentration ist, desto kürzer - wider Erwarten - der Effekt, die Vision, dauert. Die wichtige praktische Schlußfolgerung daraus lautet: je entspannter die Konzentration, desto länger die Vision! Wie soll man das verstehen ? Wenn die 77

Konzentration (dhäranä) an sich schon „das Spannen des Bogens“ ist, wie kann sie denn entspannt sein ? Hier hilft uns - wie schon so oft, und es ist der Grund, weshalb wir uns immer wieder der indischen Terminologie bedienen müssen der Begriff dhäranä („Festhalten des Denkprinzips“), der nur dürftig durch das Wort „Konzentration“ ersetzt wird, denn unter letzterem verstehen wir immerhin eine gewisse Anstrengung, einen Druck des Denkens, während das Festhalten nichts anderes ist, als „Sich-Anlehnen“ (Anschmiegen) an das Objekt mit dem Druck des eigenen Gewichtes - mit dem Minimum der Anstrengung. Mit anderen Wor­ ten: dhäranä bezeichnet genau das, was wir soeben mit dem Gesetz der Stromlinie oder der Leistungsmaximum-Kurve gemeint haben ein weiterer Beweis dessen, daß die alten Weisen um die modernen Grundsätze der Mechanik genau Bescheid wußten. Das Denkprinzip muß sozusagen nur „mit dem eigenen Gewicht“ auf das Objekt drücken - nicht mehr und nicht weniger: drückt es zu stark, steigt die Leistungskurve zu steil an, und die Leistung wird verkürzt; drückt es zu wenig, so verflacht die Kurve und verlangsamt den Erfolg. Das ist das Geheimnis der Konzentration. Der Unterschied zwischen der Entspannung in der Konzentration und der wirklichen Entspannung der Meditation (als „Entspannen des Bogens nach dem Abschießen des Pfeiles“) liegt allein im Atem: je fester man das Objekt, seine innere Gestalt, zu halten versucht, desto mehr verlangsamt sich die Einatmung, bis sie ein Maximum erreicht - dann kehrt sie ins Gegenteil um, und die Ausatmung ver­ langsamt sich. So wird die Meditation (Kontemplation, Betrachtung des Objekts im kha) eingeschaltet. Daraus ergibt sich, daß für die Vertiefung der Konzentration die Einatmung, für die Vertiefung der Meditation die Ausatmung zu verlängern ist. Wenn, schließlich, die Atmung sich so weit vermindert, daß sie vollkommen unmerklich geworden ist, erscheinen die Visionen, von der ersten bis zur höchsten (4) Stufe, wobei der Atem immer mehr schwändet und in der vierten Stufe ganz (vorübergehend) aufhört und ausgehaucht wird. Im Zu­ sammenhang damit hört auch das Selbstbewußtsein im Augenblick einer Vision gänzlich auf - man vergißt sich selbst: dieser Zustand heißt laya (Aufhören) und zwar in bezug auf beides - auf Atmung und Selbstbewußtsein. Es gibt aber einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen Konzentration und Meditation, der trefflich durch den Vergleich mit der Technik des Bogenschießens charakterisiert wird. Es handelt sich um die Richtung, in welcher die Aufmerksamkeit eingesetzt wird. Hatte man sein Bewußtsein bei der Konzentration auf (durch) die 78

Mitte zwischen den Augenbrauen richten müssen, wodurch die Emp­ findung entstand, als ziehe sich das Objekt, vielmehr das Gefühl oder die innere Gestalt desselben, immer mehr nach dem Inneren des Kopfes hinüber - gleich dem Anziehen des Pfeiles entgegen­ gesetzt der Schußrichtung -, so muß man nunmehr während der Meditation die Aufmerksamkeit auf das „Dritte Auge“ richten. Hier­ durch wird sogleich das Gefühl empfunden, als richte sich der innere Blick auf die Augenbrauenmitte. Diese Tatsache, die sich jeder so­ fort klarmachen kann, hat wahrscheinlich den Anlaß zur Mißdeutung dieser Technik gegeben, und so entstand offensichtlich das absurde Schielen auf die Augenbrauenmitte bzw. die Nasenspitze. Der Leser muß sich darüber vollkommen im klaren sein, daß das Richten des (inneren) Blickes auf die Stelle zwischen den Augenbrauen keines­ wegs das Schielen, sondern lediglich das Übertragen des Blickes nach innen verursachen soll, ebenso wie das Schauen in das „Dritte Auge“ (in das Zentrum des Kopfes, wo bei der Konzentration ein Druck­ gefühl entsteht) sofort den Blick wieder nach vorn - in die Augen­ brauenmitte - schickt. In diesem doppelten Sinne soll man all diese Vorschriften der Originalquellen in bezug auf das berüchtigte Schauen auf die Nasenspitze (vielmehr Nasenwurzel!) oder Augenbrauenmitte (bhrümadhya-dristi) verstehen. Nun erhebt sich die Frage: wenn dieses Richten des Blickes im doppelten Sinne ausgeführt werden soll, wann hat man den Über­ gang zum zweiten Teil, zum indirekten Schauen auf die Augenbrauen­ mitte (hervorgerufen durch das direkte Schauen in das „Dritte Auge“) während der Meditation zu machen ? Mit anderen Worten - wann hat man von der Konzentration zur Meditation hinüberzuwechseln ? Dieser Übergang geschieht von selbst: im Augenblick, in dem bei der Konzentration das sich von außen nach dem Zentrum des Kopfes bewegende Objekt (das Gefühl oder die innere Gestalt desselben) die Stelle des Druckgefühls (Hypophyse) überschritten hat, fühlt man sofort, daß mit dem inneren Blick auch das Objekt selbst über die Augenbrauen hinweg in seine ursprüngliche Lage verlegt wird: dies wird symbolisch dargestellt durch „das Loslassen des Pfeiles“, welcher nunmehr in Richtung der Zielscheibe fliegt. Der Leser möchte einen folgenden Versuch machen - sich auf das Zentrum des Kopfes für einen Augenblick konzentrieren und dann seine Aufmerksamkeit von diesem Zentrum nur ganz wenig in Richtung der Zirbeldrüse (nach hinten) verschieben: er wird sofort fühlen, wie sein Blick nach vorn, in die Augenbrauenmitte, schießt. Es gibt also zwei automatisch einander folgende Konzentrations­ stufen : 79

1. die Konzentration im eigentlichen Sinne, als Festhalten (dhäranä) des Denkprinzips an einem Objekt. Diese Stufe wird stets von ununterbrochenem Atem (verlängerte Einatmung und Atem­ pause mit Luft) und dem Eichten der Aufmerksamkeit auf die Augenbrauenmitte gekennzeichnet. Dadurch entsteht das „Span­ nen des Bogens“. (Siehe Abbildung 1.) 2. die Meditation im eigentlichen Sinne, als Betrachten des Objekts (indirekt) im kha (Augenbrauenmitte) oder die Kontemplation (dhyäna). Sie ist immer begleitet von unmerklichem Atem (ver­ längerte Ausatmung und Atempause ohne Luft in der Lunge) und von dem Richten der Aufmerksamkeit auf das „Dritte Auge“ (in die Stelle in der Kopfmitte, wo der Druck der Kon­ zentration entsteht). Dadurch wird „der Pfeil abgeschossen“. Da diese Stufen, wie gesagt, sich automatisch ablösen, auch bei jeder Unterbrechung der Meditation (des „Pfeilfluges“) durch neue Ge­ danken („Windstöße“) und dem Wiederaufnehmen der ursprüng­ lichen Denkrichtung, muß man darauf achten, daß diese voneinander verschiedenen Stufen nicht verwechselt werden. Man darf, beispiels­ weise, nicht die erste Stufe mit dem unmerklichen oder die zweite mit dem ununterbrochenem Atem ausführen, noch Konzentration auf das „Dritte Auge“ beziehungsweise Meditation auf die Augen­ brauenmitte direkt richten. Daraus folgt die endgültige Technik des „augenlosen Sehens“ : a) Es empfiehlt sich, obwohl es nicht unbedingt zum „augenlosen Sehen“ gehört, als die erste Vorbereitung, eine der im Kapitel I beschriebenen Übungen zur Erlangung des „himmlischen Duftes“ oder des „himmlischen Geschmacks“ einige (20 bis 30) Tage lang zu üben. Denn der Erfolg in einem einzigen dieser Wahrneh­ mungen verleiht ungemein starke Zuversicht, Übungseifer und Ausdauer und vermittelt darüber hinaus die Vorstellung einer richtigen Konzentration. b) Nachdem die Atemübungen sowie die geeignete Körperstellung beherrscht wurden, beginnt man mit dem trätaka auf die Sonnen­ scheibe (auf dem Papier): nach 2 bis 3 Minuten Betrachtung derselben schließt man die Augen und wünscht, diese Sonnen­ scheibe (besser mit dem OM-Zeichen darauf) im Dunkel vor geschlossenen Augen zu sehen, indem man sie in Gedanken fest­ zuhalten sucht. Die Zungenlage - mit der Zungenwurzel am weichen Gaumen (Zäpfchen) - und die ständige Wiederholung des OM-Lautes (im Geiste) müssen hierbei beachtet werden. 80

c) Nachdem sich die „seltsamen Dinge“ und sogar Antworten auf gedachte Fragen gezeigt haben, besser aber erst nach dem Er­ scheinen der Vision der Flamme, beginnt man mit den Bildern von Menschen: man sucht sich einen Bekannten oder Verwand­ ten, mit dem man einen starken seelischen Kontakt spürt, oder eine bekannte Persönlichkeit - die man oft gesehen hat und auch im „Gefühl“ behalten kann, und macht das trätaka auf das Bild dieser Persönlichkeit einige Minuten lang. Hat man sich bei der Betrachtung der Gesichtszüge das „Gefühl“ dieses Menschen einverleibt, schließt man die Augen und konzentriert sich auf den Wunsch, dieses „Gefühl“ bzw. die „innere Gestalt“ des Objekts im Dunkel vor geschlossenen Augen festzuhalten. Nun wandert dieses Objekt und mit ihm das „Gefühl“ in das Innere des Kopfes, und man braucht dabei das Objekt nicht mit Ge­ walt in der Augenbrauenmitte zu behalten. Das „Gefühl“ des Objekts ist das einzige, worauf man sein Denkprinzip zu richten hat. Der Atem muß ununterbrochen werden, die Hände hält man am zweckmäßigsten auf den Knien. d) Spürt man, daß das Objekt in seinem „Wandern im kha“ (von der Augenbrauenmitte bis zum Zentrum des Kopfes) sich der Kopfmitte nähert, so legt man die Hände zusammen (in den Schoß) und versucht, in das „Gefühl“ des Objekts, als wäre es in der Stelle, wo durch die vorherige Konzentration der Druck entstanden ist, „hineinzuschauen“. Sobald der innere Blick wie­ der in die Augenbrauenmitte „schießt“, betrachtet man das Objekt im „Dritten Auge“, obwohl der Blick in die Augen­ brauenmitte gerichtet ist. Der Atem muß unmerklich werden. Das einzige, was man braucht, ist das Erwarten der Vision des Objekts im „Dritten Auge“ (indirekt in der Augenbrauenmitte). e) Sobald man sich selbst in dieser Betrachtung vergessen hat, erscheint die Vision des Objekts, eines Teiles dessen, und läßt sich, je nach dem Grad der Entwicklung, vertiefen oder erlischt langsam, eine glühende Spur hinterlassend. Das einzige, was man auf dieser Stufe braucht, ist Übung. f ) Nach genügend langer Praxis, besonders, wenn dasselbe Objekt wiederholt genommen wird, ist man imstande, den „Pfeil“, gleich einem Messerwerfer, ohne „Bogen“ abzusenden, indem man direkt vom „Dritten Auge“ (Zirbeldrüse) ausgeht oder aber, anstatt in die Augenbrauenmitte, auf die Stelle im Scheitel des Kopfes (Fontanelle), wo sich die Haare kräuseln, schaut, denn von hier aus überträgt sich der Blick ebenfalls sofort in die Ö Sacharow, Drittes Auge 81

Augenbrauenmitte. Man beginnt also direkt mit der Meditation im „Dritten Auge“. Zum Schluß noch einige Beispiele aus der Praxis, welche die Mög­ lichkeiten des „augenlosen Sehens“ klar vor Augen führen. Konzentration auf die Augenbrauenmitte - zunächst der Wunsch ohne trätaka, ein bestimmtes Objekt zu sehen, dann das Gefühl des Zentrums, dann Konzentration auf die Lotosblume (statt auf Sonnen­ scheibe) und schließlich auf das gewünschte Objekt ergab die Vision desselben in Bewegung und außerdem eine Menge anderer Visionen ohne besondere Mühe. Die Konzentration wurde von einer dauernden Hitze im Steißbein begleitet und währte 1 Stunde. Heute vollkommen scharf eine Vision der 3. Stufe - ein schönes Ge­ sicht in Lebensgröße, etwas geneigt, fast auf der Wange liegend, mit beweglichen Augenlidern, langsam erlöschend. Angefangen mit dem trätaka auf eine Wandkarte (um den Druck im Kopfzentrum zu bekommen) und nach 1 bis 2 Minuten das Bewußtsein in dieses Kopfzentrum verlegt - direkt mit Meditation und unmerklichem Atem. Die Vision kam nach 5 Minuten. (Aus meinem Tagebuch) Es empfiehlt sich jedoch, zuerst in die Augenbrauenmitte zu schauen, wodurch die Konzentration in das „Dritte Auge“ verlegt wird, um dann in das „Dritte Auge“ zu schauen, wodurch der Blick wieder in die Augenbrauenmitte zurückkehrt. Mit anderen Worten - man muß mit dem „Dritten Auge“ in die Augenbrauenmitte schauen. Dabei muß der Atem unmerklich gemacht werden. Nach einigen Minuten beginnen dann Visionen „seltsamer Dinge“. Man soll aber die Übung nicht abbrechen, sobald diese Visionen kommen, sondern die Übung weiter fortsetzen: die Visionen entwickeln sich, und nach den „seltsamen Dingen“ erscheinen dann Visionen auf Wunsch, die schließlich zu leuchten (3. Stufe) beginnen. Da jedes Geschehen in der feinstofflichen Welt (äkäsa) sein getreues Gepräge hinterläßt, das unauslöschbar ist (die sogenannte äMia-Chronik), kann ein For­ scher darin eine unerschöpfliche Quelle für seine Studien finden. Hier folgen einige Spitzenleistungen meiner besten Schülerin Frau Gabriele F .: Zeit von 12.30 Uhr bis 1.15 Uhr nachts, eidetisch (Konzentration auf das Objekt in Augenbrauenmitte, siehe oben), dann im kha (dasselbe im „Dritten Auge“). Nochmals, wie am Vorabend, konzentriert auf die berühmte Audienz, 82

die Goethe in Erfurt in Gegenwart von Talleyrand hei Napoleon hatte. (Am Vorabend sah ich nur Napoleon.) Diesmal sah ich wieder ihn sitzend und Goethe stehend und sprechend. Talleyrand war nicht zu sehen. (Die Historiker sind sich nicht einig über die Frage, ob er tatsächlich während der ganzen Audienz dabei war.) (Heute kam Ihre Drucksache mit den Palästina-Bildern.) Zeit 12.30 Uhr bis 1.15 Uhr. Ich habe die Fingerspitzen auf das Couvert gelegt. Pendelatem. Im kha auf den Wunsch konzentriert, JerichoTal, Stelle, wo Salomos Tempel stand und Jerusalem zu sehen . . . . . . Ich habe nicht das Jericho-Tal, sondern das Elah-Tal gesehen; Salomos Tempelruine ja, aber nicht wie das Bild, sondern mehr fron­ tal. Jerusalem - nicht die Ansicht aus der Zeitung, sondern die Innen­ stadt mit lebhaftem Gewühl in den Gassen. Zeit 1 Uhr bis 1.45 Uhr nachts. Eidetisch - kha. (Mich auf den Wunsch konzentriert, etwas von dem Palast des Kaisers Justinian zu sehen, in dessen Ruinen am Marmarameer ich oft träumend saß, und wenn möglich, Justinian selbst. . .) . . . Es schien mir, als sei ich in einer zum Meer offenen Halle, Mosaiken an den Wänden, ein Wasserbecken, Sessel mit roten und lila Kissen, eine Männergestalt in kurzer weißer Tunika, knapper brauner Bart, braunes Haar mit Goldreif, scharfe Augen, mittelgroß, ein durchgeistigter Typ . . . Sah eine Stadt am Meer, Schiffe im Hafen, Treppenstufen zu einem riesigen Tempel' hinauf. Eine hohe Gestalt, aber nicht grobstofflich, wie durchsichtig, übernatürliche Augen, große, klare, hellstrahlende ... (Aus meinem Tagebuch) Der Raum dieses Buches gestattet es nicht, weitere höchst inter­ essante Versuche dieser Art anzuführen. Zu beachten wäre noch, daß sämtliche Versuche, die den Notizen dieser Schülerin entnommen sind, in der Nacht ausgeführt wurden. Um noch das Magische dieser Möglichkeiten zu unterstreichen, nämlich Telepathie, Fernwirkung, Fernheilung u. ä., seien hier noch zwei Beispiele von mir angeführt: Ich habe eine Zeitlang in Berlin bei dem Opernsänger B. Gesang studiert. Eines Tages blieb mein wiederholtes Klingeln an seiner Haustür ohne Erfolg - seine Tür war verschlossen. Sehr erstaunt über seine ungewöhnliche Unpünktlichkeit, dachte ich darüber nach, was wohl mit ihm geschehen sei. In diesem Augenblick sah ich 83

mit meinem inneren Auge etwas sehr Merkwürdiges: ich sah ein großes, im alten Stil möbliertes Zimmer mit hohen Fenstern, die breite Sonnenstrahlen ins Zimmer hineinließen, in denen die Staubkörnchen tanzten, wie in einem Zimmer, wo man lange nicht aufgeräumt hatte. Auf dem Parkett unter den Sonnenstrahlen lag ein mir gänzlich un­ bekannter alter Mann. Er war schon lange tot, und ein starker Ver­ wesungsgeruch stand im Zimmer. Diese Vision hat mich irgendwie erschüttert, obwohl ich weder den Raum, noch den Toten erkennen konnte. Da jedoch meine Gesang­ stunde ausfiel, wollte ich die Zeit ausnutzen und in die Stadt fahren. Kaum aber bog ich in die nächste Straße ein, als mir Herr B. mit sehr verstörtem Gesichtsausdruck entgegenkam. „Lieber Herr Sacharow, bitte entschuldigen Sie mich, aber mir ist etwas Schreckliches 'passiert: mein alter Herr, der ganz zurückgezogen in seiner alten Wohnung in der Altstadt lebte, wo ich ihn alle zwei Wochen einmal besuchte, hat auf mein Klopfen seine Tür nicht aufgemacht. Als ich die Tür durch die Polizei einbrechen ließ, entdeckte ich, daß er bereits seit zwei Wochen tot war. Stellen Sie sich vor: er lag auf dem Fußboden in der starken Sonnenhitze und war ganz verwest - mich verfolgt dieser Geruch immer noch . . Eine Dame, die seit 20 Jahren nur mit Schlafmitteln einschlafen kann, und zwar erst nach einer enormen Dosis von 6 bis 7 Tabletten, beklagt sich darüber, daß sie nunmehr nicht einmal bei dieser Menge Tabletten einschlafen könne. Ich rate ihr, sich von einem Nervenspezialisten hypnotisieren zu lassen. Die Dame behauptet aber, dies schon einmal ohne jeglichen Erfolg gemacht zu haben, und überhaupt sei sie nicht hypnotisierbar. Ich sage ihr nach Hause zu gehen und an diesem Abend um 11 Uhr an mich zu denken. Ich konzentriere mich auf sie um 11 Uhr für eine halbe Stunde mit dem Wunsch, daß sie ruhig und tief schlafe. Am nächsten Morgen ruft sie mich voller Freude an: Sie hatte in der fraglichen Nacht, trotz meines Verbots, zwar eine halbe Tablette eingenommen, aber das hätte bei weitem nicht ausgereicht, um den Schlaf herbeizuführen. Nichtsdestoweniger schlief sie die ganze Nacht hindurch - das erstemal seit 20 Jahren ohne Schlafmittel. Nach weiteren 2 Versuchen dieser Art gab sie ihre Angewohnheit endgültig auf und schläft jetzt ohne Schlafmittel dauernd.

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V.

DER VOLLENDETE BOGENSCHÜTZE „Der Beste unter den Übenden, dessen Geist im dh yän a begriffen ist, der Beste unter den Sehern, ist imstande, sich schnell in einen anderen Körper zu begeben; allwissend und allsehend, allen Wesen Gutes tuend, den Sinn aller Schriften erkennend, die Einheitslehre verkündend, erscheint er, durch große imgewöhnliche Kräfte bekannt, langlebig und fähig, Dinge der drei Welten entstehen, währen und schwinden zu lassen.“ ( gatcakran irü pan a- T a n tra , 34)

Ich habe bis jetzt die Technik des „geistigen Bogenschießens“ vorwiegend in den ersten drei Stufen, die jedem Menschen zugäng­ lich sind, geschildert und nur flüchtig die vierte und letzte Stufe erwähnt, welche in ihrer höchsten Vollendung zur Meisterschaft führt. Unsere Betrachtung wäre unvollständig, hätte ich nicht diese Meister­ stufe ebenso genau beschrieben und somit dieser Entwicklung die Krone aufgesetzt. In den mystischen Schulen östlicher Tradition sind alle Stufen dieser geistigen Schulung in allen Einzelheiten, wenn auch in ver­ schleierten Ausdrücken, aufgezählt und ausgearbeitet, und es bedarf deshalb einer tiefen intuitiven Einsicht, um diese Geheimnisse, die nur den Eingeweihten mitgeteilt werden, zu enträtseln. Dies erklärt übrigens die Tatsache, weshalb diese Materie selbst in den indischen Büchern jüngeren Datums so verwirrend und mitunter auch wider­ spruchsvoll dargelegt ist, daß der anspruchsvolle und gebildete Leser sie als „unwissenschaftlich“ und sogar „albern“ ablehnt, und der Eingebildete sie kurzerhand zu „verbessern“, zumindest aber zu „er­ gänzen“ versucht, wodurch es heutzutage so viele „BogenschußSpezialisten“ - und praktisch keine richtigen „Bogenschützen“ gibt! Um an einer solchen geistigen Schulung teilzunehmen, muß sich der Schüler einer strengen ethischen Disziplin unterwerfen, die im wesentlichen vier Tugenden - Unterscheidungskraft (vivelca), Leiden­ schaftslosigkeit (viräga), guten Lebenswandel (satsampatti) und das Trachten nach Erlösung (mumuksatva) - umfaßt. Freilich wird da­ mit nicht etwa eine Unterscheidungsfähigkeit im Sinne des Lebens­ erfolges, noch eine Überwindung der elementaren Leidenschaften, wie Eifersucht, Haß oder Rachsüchtigkeit gemeint - der geistige Schüler muß vielmehr zwischen dem Richtigen und dem Falschen, 85

dem Guten und dem Bösen, dem Ewigen und dem Vergänglichen unterscheiden lernen. Aus dieser ersten Fähigkeit entstehen spontan alle übrigen Eigenschaften, wie Nichtanhänglichkeit gegenüber allem was als falsch, böswillig und vergänglich erkannt wurde, der gute Lebenswandel, der in sechs Teile zerfällt - Ruhe der Gedanken (sama), Selbstbeherrschung (dama) , ruhiges Verhalten (uparama), Geduld (titiksa), Zuversicht (braddhä) und zielbewußte Aufmerk­ samkeit (samädhäna) - und, schließlich, der Wille zum Erlöst-Sein, keine Weltentsagung, sondern ein inneres Losgelöst-Sein von allem Weltlichen. Diese letzte Eigenschaft, das Ergebnis aller vorhergehen­ den, prägt den Geistig-Suchenden erst zu dem, was er werden wollte zu dem der Einweihung Würdigen. Ohne diese geistige Vorbereitung wird er seinen Meister nicht finden - und wenn er auch die ganze Welt nach ihm abgesucht hätte. Hat er sie aber, so braucht er nirgends hinzugehen, um dem Meister zu begegnen - der Meister kommt zu ihm selber. Denn lange Jahre, bevor er zum erstenmal den Ent­ schluß gefaßt hat, den Meister zu suchen, hat dieser auf ihn gewartet. Die Voraussetzungen für die geistige Anwartschaft sind seit der grauesten Vorzeit dieselben geblieben und sind ebensowenig umzu­ stoßen, wie die Naturgesetze der Welt. Andererseits wird von dem Schüler keine Vollkommenheit erwartet - er muß sich nur aufrichtig bemühen, diese Eigenschaften zu entwickeln. Doch noch ehe er sie in genügendem Maße erreicht hat, darf er sich bereits mit den gei­ stigen Übungen der Meditation - mit dem dhyäna - auf ein grob­ materielles Objekt befassen. So beginnt seine Praxis. Nach einigen Monaten dieser grobstoff­ lichen Meditation (sthüla-dhyäna) kommen die ersten Visionen - die „seltsamen Bilder“ und etwa nach einem Jahr die Vision des Meisters - zunächst erscheinen seine strahlenden, alles überblen­ denden Augen, und nach weiterem Üben sieht man ihn von An­ gesicht zu Angesicht. Der aufmerksame und mystisch-geschulte Leser wird wohl darin die Wirkung des großen kosmischen Gesetzes der Analogie erblickt haben. Dieses wichtigste aller geheimnisvollen Gesetze läßt sich folgendermaßen formulieren: Die Zentren der kleineren Kreise rotie­ ren um das Zentrum eines größeren Kreises. So bilden z. B. die Tage und Nächte zweier Wochen, wenn der Mond zunimmt, die „helle“ Monatshälfte („Tag des Mondes“), die Tage und Nächte, wenn der Mond abnimmt, die „dunkle“ Monatshälfte („Nacht des Mondes“); ebenso bilden die sechs Monate, wenn die Sonne nach Norden geht, den „Tag des Jahres“, die sechs Monate, wenn sie nach Süden geht, die „Nacht des Jahres“. Einige Jahrzehnte des 86

Menschenlebens bilden ebenfalls den „Tag“, und eine etwa ebenso­ lang andauernde Existenz im Jenseits die „Nacht“ einer jeweiligen Inkarnation usw. usw. In unserem Fall unterliegen einzelne Stufen der Entwicklung eines abgeschlossenen Bereiches demselben Gesetz wie die Unterabteilungen der jeweiligen Stufe. So wiederholt sich (im größeren Zyklus) auf jeder Stufe mystischer Entwicklung die­ selbe Reihenfolge einzelner Momente, wie sie die Stufen der Medita­ tion auf der jeweiligen Entwicklungsstufe bilden: hat die Meditation als solche die vier Stufen - „Auflegen des Pfeiles und Zielen“ (trätaka), „Spannen des Bogens“ (hämbham-mudrä), „Loslassen des Pfeiles“ (khecari-mudrä) und „Erwartung des Treffens“ oder „Achten auf das Ziel“ (laksyam viddhi) aufzuweisen, so sind die Meditations­ übungen der vier Entwicklungsstufen vom Schüler bis zum Meister im Grunde genommen identisch mit den soeben erwähnten Stufen. Dasselbe ist auch mit den Visionen der Fall: die Visionen einer je­ weiligen Meditation treten in derselben Reihenfolge auf, wie sie sich durch betreffende Meditationsübungen einzeln entwickeln lassen. Zwar überwiegt jeweils die Haupttendenz des vorherrschenden Moments, aber das Grundverhältnis bleibt immer dasselbe. Diese wichtige Tatsache erlaubt uns mit mathematischer Sicherheit den Grundcharakter der jeweiligen und, folglich, auch der vierten (Mei­ ster-) Stufe von dem allgemeinen Charakter der entsprechenden Meditationsstufe abzuleiten. Diese Entsprechung läßt sich wie folgt feststellen: 1. Die erste Meditationsstufe ist grobstofflich (trätaka), und ihre Visionen sind „seltsame Bilder“. Der Mystiker der ersten Stufe beschäftigt sich ebenfalls mit der Versenkung in die grobstoff­ lichen Objekte (sthüla-dhyäna), und das Resultat dieser Be­ trachtung (samädhi) heißt eine „Betrachtung mit Zweifel“ (savitarka), soweit er das von ihm in der Vision geschaute Objekt noch nicht zu identifizieren vermag. Kann er es aber, so ist seine Betrachtung „ohne Zweifel“ (nirvitarka). 2. Die zweite Meditationsstufe ist die Konzentration (kämbhavlmudrä), begleitet von dem ununterbrochenen Atem. Ihre Visio­ nen sind „Antworten auf Gedachtes“ (pratijalpana) und sind gleicherweise.Betrachtungen „mit Bedenken“ (savicära), soweit es noch nicht feststeht, ob sie der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart angehören und ob sie durch eigene oder fremde Gedanken hervorgerufen wurden. Wenn jedoch diese Bedenken fallen - wie die in solchen Übungen stets erforderliche Nachprüfung ergibt -, so heißen diese Betrachtungen „ohne Be­ 87

denken“ (nirvicära) und die dadurch gewonnene Erkenntnis „wahrheitserfüllt“ (ritambharä prajnä), da sie, wie wir gesehen haben, durch alle Hindernisse von Raum und Zeit hindureh­ dringt, „denn sie bezieht sich“, wie Patanjali (Yoga-Sütra, I, 49) unterstreicht, „wegen ihrer besonderen Eigenart, auf ein anderes Gebiet, als Bezeugung oder Schlußfolgerung“. Dennoch ist sie nicht die „letzte“, volle Wahrheit, sondern sie enthält in sich eine Wahrheit - entweder aus der Vergangenheit, oder aus der Zukunft, und nicht unbedingt aus der Gegenwart: sie gehört eben einer feinstolflichen, zeitlosen Sphäre an, und es bedarf der nächst-höheren Stufe, um diese Erkenntnis mit der tatsäch­ lichen Gegenwart (bzw. eine andere gewünschte Zeit) in bezug zu bringen. Hier offenbart sich ein vielfach von den sogenannten „Hellsehern“ nichtbeachtetes Gesetz, nach welchem die Hell­ gesichte sich „von oben nach unten“ - also vom Geistigen zum Physischen, nicht umgekehrt - entwickeln. Bestand die Praxis der zweiten Meditationsstufe in der Be­ trachtung des leuchtenden Objekts - der strahlenden Sonne -, so ist, analog zu dieser Unterstufe, die Praxis auf der zweiten Stufe der mystischen Entwicklung auch eine ähnliche, nämlich das jyotir-dhyäna, eine Meditation über das strahlende Licht (-schein), in welchem das Objekt der ersten Stufe geschaut wird. Und ähnlich der zweiten Meditationsstufe, welche durch diese Lichtbetrachtung eine starke Hitze im Rückenmark und im ganzen Körper hervorruft, entsteht durch diese Lichtmeditation das „Schlangenfeuer“ (kundalini) - eine allegorische Bezeich­ nung des Eindringens der kosmischen Lebenskraft (präna) in die feinstofflichen Kanäle und Zentren, in die „Lotosblumen“ (cakras), welche durch dieses mystische „Feuer“ zum Auf­ blühen und Öffnen gebracht werden. Deshalb wird auf dieser zweiten Entwicklungsstufe der richtige Yoga - hauptsächlich in seinem Hatha-Aspekt - geübt. 3. Wenn dieses mystische „Schlangenfeuer“ bis zu den Augen­ brauen hochgestiegen ist, offenbart sich die „Gottheit Kundalini“ dem geistigen Auge des Mystikers in Gestalt einer Flammen­ zunge, und zwar nicht allegorisch, sondern erscheint vor den (geschlossenen) Augen als eine wirkliche, flackernde Flamme. Dieser Augenblick kennzeichnet die dritte Meditationsstufe und ebenfalls die dritte Entwicklungsstufe des Mystikers, welcher von nun an die Meditation über einen „Punkt“ (bindudhyäna) auszuführen hat. Was bedeutet dieser „Punkt“ ? Das indische 88

Wort bindu heißt eigentlich „Tropfen“ und deutet auf die Tropfenform der Flamme hin! Dies ist die berühmte khecarimudrä, das unter dem Anschein des „Zunge-Verschluckens“ ver­ borgen gehaltene Stecken der „Flammenzunge“ in die Schädel­ öffnung (kha, das Schädelloch zwischen der Hypophyse und der Zirbeldrüse, im übertragenen Sinne der „Himmelsraum“ ober­ halb des Gaumens zwischen der Augenbrauenmitte und dem Hinterkopf) - das Betrachten (samädhi) der bereits geschauten Flamme, die als „Betrachtung mit Wonne“ (sänanda) im Yoga genannt wird und dem Übenden die vollständige Erkenntnis (pratyaksa, wirkliche Wahrnehmung „direkt vor Augen“) und somit die spontane Entfaltung aller Kräfte (siddhis), sowie Glückseligkeit (änanda) verleiht. Denn das Geheimnis der YogaKräfte ist die Fähigkeit, das zu beherrschende Objekt in seinem „Dritten Auge“ (durch das äjnä-calcra) in vollständiger Klar­ heit der Form, Farbe und Ausstrahlung (auf dieser Stufe wird das Geschaute im strahlenden Licht und in vollendeter Farben­ pracht mit „nachglühender“ Wirkung offenbar) zu sehen. Wie der „agni-yoga“, die neue Yoga-Art des zu erwartenden Welt­ lehrers (bodhisattva maitreya), erklärt, . . . „macht jedes klare Bild eines Objekts in unserem dritten Auge es für uns greifbar nahe. Wenn das Bild eines Gegenstandes in Vollständigkeit aller Linien und Farben wachgerufen ist, so kann man ihn unmittelbar beeinflussen. Man kann ihn be­ herrschen, . . . Unabhängig von der Entfernung kann man ihn unter Gewalt bekommen . . . Von den gewöhnlichen Objekten bis zu den fernen Planeten kann man diese Einwirkung erstrecken.“ („Hierarchie“, 90) So ruft - um einige Beispiele zu nennen - die Vision der zu­ sammengerollten goldenen Schlange in einer Flamme in mülädhära (im Steißbein) eine spontane Erweckung der KundaliniKraft hervor, die in hellem Lichtschein augenblicklich bis zum Kopf steigt und die Zentren öffnet; eine Vision der Zirbeldrüse eines Menschen oder einer beliebigen Menschenmenge bringt alle Menschen dieser Menge unter eine vollständige Kontrolle, so daß sie alle jeden Gedanken, der ihnen von dem Yogi über­ mittelt wird, wie eine vollkommene Sinnestäuschung, als wären sie in der Hypnose, bildplastisch erleben, wodurch das berühmte „Seilexperiment“ und ähnliche „Wunder der Hypnose“ erklärt werden können. Eine ähnliche Vision des Nabelzentrums des Menschen ergibt den genauen und beliebig tiefen röntgenähn89

liehen Einblick in die innere Struktur seines Körpers usw. Der Leser findet eine Fülle anderer Anwendungsmöglichkeiten dieser Fähigkeit im dritten Kapitel des Yoga-Sütra von Patanjali, in welchem noch viele andere Kräfte, die alle auf dieselbe visionäre Weise Zustandekommen, angeführt werden. Auch in den tantras, vor allem im tripuräsära-samuccaya, sind eingehende Beschrei­ bungen der in verschiedenen Zentren (cakras) zu entfaltenden Kräfte zu finden, an welche Schriften ich den Leser verweise. 4. Diese vollkommene Entfaltung aller psychischen Kräfte eines Yogi ist jedoch nicht die höchste Stufe, zumal Patanjali, der diese Kräfte als „Zusätze“ (upasargäh) zum samädhi bezeichnet, weiter sagt: „Durch Gleichgültigkeit selbst diesen Kräften gegenüber wird der Same des Übels zerstört und entsteht die Erlösung.'1 (Y . S. I I I , 51) Unter Erlösung (kaivalya) versteht der Yoga eine vollkommene Be­ freiung des Geistes (purusa) von der Materie (prakriti), die Wieder­ erlangung göttlicher Vollkommenheit. Die vierte Entwicklungsstufe muß deshalb den Yogi zu diesem erhabenen Ziel führen. Wenden wir uns wiederum den vier Meditationsstufen - diesmal dem letzten Abschnitt derselben - zu, der, dem Gesetz der Analogie zufolge, den Grundcharakter der vierten Entwicklungsstufe bestim­ men soll. Genau gesprochen, gehören sämtliche Kräfte (siddhis) der an sich schwer erkennbaren vierten Meditationsstufe, dem „Achten auf das Ziel“ (laksyam viddhi) an. Denn sie entstehen im Augenblick des vollkommenen Sich-Vergessens (laya), der Verschmelzung des Bewußtseins mit dem Ziel. Die mundaka-upanisad sagt darüber: „OM ist der Bogen, das Selbst (ätman) ist der Pfeil und Brahman die Zielscheibe; mit Aufmerksamkeit treffe sie und sei, wie der Pfeil, eins mit ihr.“ (M. üp. II, 2, 4) „Das Einssein des Pfeiles mit der Zielscheibe“ soll demnach zunächst die ganze vierte Entwicklungsstufe kennzeichnen. Ferner sollen auf dieser vierten Stufe alle Kräfte spontan, also ohne irgendwelche Übung, entstehen. Wenn wir nun die Frage von dem anderen Ende aus untersuchen, so finden wir bei dem Weisen Gheranda (siehe „Das große Geheim­ nis“) lediglich drei Meditationen - die grobstoffliche, die leuchtende und die feinstoffliche, wobei er allerdings auf den doppelten Charakter der letzteren - als Betrachtung der „großen Gottheit Kundalini“ und des „Brahman als Punkt“ hinweist. Er sagt: 90

. . . „Ist durch großes Glück hei jemand die Kundalini erweckt, so schreitet sie zusammen mit dem Selbst (ätman) aus dem Körper durch die Öfjnung (in der Höhe) der Augen heraus und wandert auf dem Königlichen Wege, kann aber infolge ihrer Beweglichkeit nicht geschaut werden. Der Yogi erreicht jedoch Erfolg in Meditation (dhyäna-yoga) durch sämbhavi-mudrä. Dies ist die geheimnisvolle feinstoffliche Meditation (süksma-dhyäna), die selbst für die Götter schwer zu erreichen ist.“ (ibid. VI, 18-20) Diese Schauung der „großen Gottheit Kundalini“ als flackernde Flammenzunge haben wir auf der dritten Stufe bereits erlebt. Die Betrachtung des „Brahman als Punkt“ (bindu) muß also der Gegen­ stand der Meditation auf der vierten Stufe sein. Andererseits sagt Gheranda im Kapitel VII: „Durch sämbhavi-mudrä führe die Erkenntnis des Selbst (ätmapratyaksa) herbei: das Bindu als Brahman schauend, verbinde da­ mit das Bewußtsein (manas). Setze Dein Selbst inmitten des kha und das kha inmitten Deines Selbst. Also Dein Selbst als kha schauend, laß Dich durch nichts stören. Stets von Glückseligkeit erfüllt, geht der Mensch so in Ekstase (samädhi) über.“ Das also ist die Meditation der vierten Stufe: in die Stelle im Kopf (manas-cakra, zwischen Hypophyse und Zirbeldrüse), wo man vor­ hin (durch sämhavi-mudrä) die Vision der Flammenzunge erlebt hat, „setzt man sein Selbst“, d. h. konzentriert man sich auf das IchGefühl (es entsteht auch sonst immer an dieser Stelle), als wäre es eins mit dieser Flamme (bindu, wie wir wissen ist kein „Punkt“, sondern „Tropfen“, der die Form einer Flamme hat). Denn einerseits soll das bindu (der dritten Meditationsstufe) nunmehr als Brahman geschaut werden, und man soll sein Bewußtsein damit verbinden. Andererseits, wie dieselbe Upanishad zwei Strophen vorher sagt, ist dieses Brahman „flammend“ (arcimat), ist feiner als das Feinste und soll (mit dem Pfeil des Selbst) getroffen werden! Die Folge dieser subtilsten aller Meditationen ist die Erkenntnis des Selbst oder „ätma-pratyaksa“, wie Gheranda behauptet. Und Patanjali fügt hinzu: . . . „Durch Versenkung (samyama) in sich selbst kommt das Wissen um sein Selbst (purusa). Daraus erwächst das (absolute) Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen des prätibha.“ 91

Und weiter: „Durch Versenkung (samyama) in die Unterscheidung von Seele (sattva) und Selbst (purusa) erlangt man Allmacht (absolute Herr­ schaft über alle Wesen und Zustände) und Allwissenheit.“ Diese Form des samädhi heißt „auf Selbstbewußtsein gerichtet“ (asmitä, von der Verbalform asmi, d. h. „ich bin“) und ist die Be­ trachtungsweise auf dieser vierten Stufe der mystischen Entwick­ lung. Aber auch sie ist noch nicht die höchste. Selbst die dadurch gewonnene „Verklärung“ (prätibha), wie wir richtig vermuteten, die alle Kräfte spontan, ohne jegliche Übung, samyama oder ähn­ liches verleiht, ist zwar jedem Jagen nach den Kräften der vorher­ gehenden Stufe himmelhoch überlegen, dennoch ist sie noch nicht die endgültige Erlösung (kaivalya), welche, wie wir oben sahen, erst nach der Erlangung des höchsten vairägya, der Gleichgültigkeit all diesen Kräften und Zuständen wie „Existenz in Form“ (rüpa-räga) oder „Existenz ohne Form“ (arüpa-räga) u. ä. gegenüber, dem Mystiker der vierten Einweihung (paramahamsa) zuteil wird und ihn zum Adepten (jivanmukta, „Lebend-Erlösten“) krönt. Diese Er­ lösung geschieht durch die allerhöchste Form des samädhi, die „Wolke der Tugend“ (dharma-megha) genannt, die aus dieser vollkommenen Erkenntnis, welche nichts für sich selbst erwartet, entsteht, „wenn vor der Unendlichkeit seines Wissens“, wie Patanjali in seinem Schlußsatz verkündet, „jede Verhüllung und alle Unreinheit ge­ wichen ist und alles Erkennbare geringfügig erscheint“.

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ÜBER DAS ÖFFNEN DES DRITTEN AUGES HEISST ES IM URTEXT VON GHERANDA-SAMHITÄ, KAP. I, 34—35

„ M it dem rechten D a u m en reibe d ie H öhlung a n der S tirn . D u rch diese Ü bung w ird der Sch leim entfernt. D ie n ä d l w ird gereinigt u n d es entsteht das göttliche Gesicht (H ellseh en ). (D ies m u ß geübt w erden ) täglich nach dem E rvxw hen, nach dem E ssen u n d a m E n de des T ages.“

Der Schleim ist offensichtlich feinstofflicher Natur und verhüllt das Zentrum des Hellsehens, was nun durch diese Massage, vielmehr magne­ tische Behandlung, beseitigt werden soll. Es gibt eine Methode der magnetischen Beeinflussung, die dieses Zentrum zum Öffnen bringt. Man legt der Versuchsperson die beiden Daumen auf die Stirn oberhalb der Augenbrauen, als bildeten die Daumen die zweite Reihe derselben und streicht die Stirn mit den Daumen von der Mitte aus längs der Augenbrauen. Die übrigen Finger hält man gespreizt auf den Kopfseiten, so daß die kleinen Finger hinter den Ohröffnungen zu liegen kommen. Wenn die Versuchsperson sensitiv genug ist, wird sie, nach einer Weile falls sie vorher magnetisiert wurde - Hellgesichte bekommen (vgl. Das große Geheimnis). Um das Dritte Auge zu öffnen, ist es unbedingt notwendig, die Stelle der Zirbeldrüse zu spüren. Dabei bedient man sieh folgenden Mittels: man konzentriert sich auf die Augenbrauenmitte und das Resultat ist nicht etwa das Gefühl dieser Mitte, sondern merkwürdigerweise gerade das „Gefühl des Dritten Auges“ (Kopfmitte). Deshalb ist überall im Yoga die Vorschrift: „Konzentriere dich auf die Stelle zwischen den Augenbrauen“ zu finden, die meist falsch verstanden wird, indem man versucht, auf diese Stelle zu schielen. Um diesen Fehler auszuschalten, drücken manche Yogalehrer dem Schüler mit einer scharfen Scherben­ spitze auf die Augenbrauenmitte. Der Schüler konzentriert sich unwill­ kürlich auf die schmerzende Stelle - und schon fühlt er sein Drittes Auge. So war es bei der Einweihung durch Sri Ramakrishna der Fall. Das Dritte Auge, das „Auge Shivas“, das „Auge der Weisheit“ (jn ä n a calcSu), der „Sitz der Seele“ (Descartes), das „Traumorgan“ Schopen­ hauers, die Zirbeldrüse (glan du la p in e a lis) befindet sich inmitten des Großhirns, also von der Stirn aus nicht unmittelbar zu erreichen. 93

Sri Aurobindo D E R ZY K LU S D E E M E N S C H L IC H E N E N T W IC K L U N G

410 Seiten

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„D iese N euerscheinung bildet in m itte n der F ü lle ähnlicher V eröffentlichun­ gen eine beachtenswerte A u sn ah m e. S ie fuhrt zu den U rquellen östlicher G eistig keit u n d spiegelt den eigentüm lichen S til des O stens besonders deutlich w ider. D a s B uch en tstan d a u s der U rbegegnung des M enschen m it der großen W ahrheit (im S in n e des indischen A ll-E rleb en s) u n d ist der S elb st­ verw irklich u n g des E in zeln en u n d der G em einschaft gew idm et. D a bei ü ber­ rascht d ie genaue D arstellu n g des m enschlichen W esens. S ie stü tzt sich nicht n u r au f d ie durch Y oga ermöglichte-, fortgeschrittene E n tw icklu n g der P e r­ sön lich keit, sondern ebenso au f den natürlich en Z u stan d. D er Vergleich zu unserer m odernen T iefenpsychologie drän gt sich auf, sie w ird au f w esentliche Strecken vorw eggenom m en u n d in B ereiche fortgeführt, deren R ea litä t w ir n u r ahnen können." Süddeutsche Z eitu n g, M ünchen

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Paramhansa Yogananda A U T O B IO G R A P H IE E IN E S Y O G I —

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„D ieses B uch dürfte eines derjenigen sein , die die Z eiten überdauern w erden. A ls nüchterner T atsachenbericht über d a s eigene L eben dieses sym path isch en u n d erfolgreichen Y ogis, stellt d a s B uch näm lich etw as ganz anderes dar als irgen dein R om an über In d ien oder eine B eschreibung über d ie Y oga-Lehre. E s w irk t durch d ie F ülle des vom Schreiber selbst erlebten W underbaren m itreiß en d u nd klin gt d a rin an christliche H eiligenberichte an, u m so m ehr a ls es m it großer Offenheit u n d In n ig k e it geschrieben ist. K e in hochstehen­ der M ensch w ird dieses w underbare B uch ohne sta rk es inneres E rleben au s der H a n d legen." W eltwoche, Z ü rich

OTTO W IL H E L M B A R T H -V E R L A G GM BH M Ü N C H E N -PL A N E G G