Das Exemplarische. Orientierung für menschliches Wissen und Handeln [1. ed.] 9783957432384, 9783969752388

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Das Exemplarische. Orientierung für menschliches Wissen und Handeln [1. ed.]
 9783957432384, 9783969752388

Table of contents :
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Das Exemplarische
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Inhalt
Einleitung: Das Exemplarische – Orientierung für menschliches Wissen und Handeln
I. Teil Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Exemplarischen
1. Der Prozess des Variierens, Exemplifizierens und Mimetisierens. Exemplarische Zugänge menschlicher Kreativität
2. Exemplar und Form: „Die Physis macht’s wie die Lehrenden“ (Aristoteles Metaphysik 1050a)
3. Ausstellung und Erkenntnis. Exemplarität in Kollektionen und Konstellationen
4. Heikle Zeugen
5. Literarisches Material. Adorno und die Exemplarität der Literatur
II. Teil Die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Exemplarischen
6. Das Exemplarische als Schema bei Wittgenstein. Ein Modell für die Humanwissenschaften?
7. Noch immer magistra vitae? Das Exemplarische in der Geschichtsschreibung
8. Ist das eine Depression? Von kategorialen Kriterien, Prototypen und Beispielen in der psychiatrischen Diagnostik
9. Wenn das Exemplarische das Einzige ist. Überlegungen aus der Physik
10. Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff
11. Warum ist Eis kein Wasser auf der Zwillingserde? Zu den paradigmatischen Beispielen bei Kuhn
III. Teil Die praktisch-orientierende Bedeutung des Exemplarischen
12. Vorbilder – und wie man ihnen folgen soll. Exemplarität in Ciceros praktischer Philosophie
13. Der Einzelfall, die Regel und das Problem der praktischen Urteilskraft
14. Der ethisch-politische Widerhall beispielhaften Philosophierens. Wittgensteins Verortung in der radikalen Demokratietheorie Chantal Mouffes
15. Exemplarität in Politik und Recht
16. Das Exemplarische und die öffentliche Meinung
Backmatter
Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

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Das Exemplarische

Michela Summa, Karl Mertens (Hg.)

Das Exemplarische Orientierung für menschliches Wissen und Handeln

Umschlagabbildung: Albrecht Dürer, „Studienblatt mit drei Händen“ (1494/95)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill mentis, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.mentis.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-95743-238-4 (hardback) ISBN 978-3-96975-238-8 (e-book)

Inhalt

Einleitung: Das Exemplarische – Orientierung für menschliches Wissen und Handeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Michela Summa / Karl Mertens

I. Teil Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Exemplarischen 1.

Der Prozess des Variierens, Exemplifizierens und Mimetisierens. Exemplarische Zugänge menschlicher Kreativität . . . . . . . . . . . . . . Karen Joisten

2.

Exemplar und Form: „Die Physis macht’s wie die Lehrenden“ (Aristoteles Metaphysik 1050a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Thomas Buchheim

3.

Ausstellung und Erkenntnis. Exemplarität in Kollektionen und Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Thomas Zingelmann

4.

Heikle Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Markus Heuft

5.

Literarisches Material. Adorno und die Exemplarität der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Mario Farina

3

II. Teil Die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Exemplarischen 6.

Das Exemplarische als Schema bei Wittgenstein. Ein Modell für die Humanwissenschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Silvana Borutti

7.

Noch immer magistra vitae? Das Exemplarische in der Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Karl-Heinz Lembeck

vi

Inhalt

8.

Ist das eine Depression? Von kategorialen Kriterien, Prototypen und Beispielen in der psychiatrischen Diagnostik  . . . . . . . . . . . . . . 135 Zeno Van Duppen

9.

Wenn das Exemplarische das Einzige ist. Überlegungen aus der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Michael Esfeld

10. Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Andreas Hüttemann 11.

Warum ist Eis kein Wasser auf der Zwillingserde? Zu den paradigmatischen Beispielen bei Kuhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Felice Masi

III. Teil Die praktisch-orientierende Bedeutung des Exemplarischen 12. Vorbilder – und wie man ihnen folgen soll. Exemplarität in Ciceros praktischer Philosophie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Jörn Müller 13. Der Einzelfall, die Regel und das Problem der praktischen Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Christoph Horn 14. Der ethisch-politische Widerhall beispielhaften Philosophierens. Wittgensteins Verortung in der radikalen Demokratietheorie Chantal Mouffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Matthias Flatscher 15. Exemplarität in Politik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Alessandro Ferrara 16. Das Exemplarische und die öffentliche Meinung  . . . . . . . . . . . . . . . 319 Christian Bermes Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

Einleitung: Das Exemplarische – Orientierung für menschliches Wissen und Handeln Michela Summa / Karl Mertens Begriffe wie ‚Beispiel‘, ‚Exempel‘, ‚Exemplar‘ und die entsprechenden Adjektive wie ‚beispielhaft‘, ‚exemplarisch‘ u. ä. werden – sowohl im Alltag als auch im philosophischen Diskurs – häufig gleichbedeutend verwendet. Ihre Gemein­ samkeit besteht darin, dass sie dazu dienen, eine Relation zwischen Einzelnem und Allgemeinem, Individuellem und Generellem ins Spiel zu bringen. Dass es auch Unterschiede zwischen diesen Begriffen gibt, zeigt schon die Alltagssprache, etwa wenn wir um ein Beispiel bitten, um etwas besser zu verstehen, oder wenn wir eine Verhaltensweise als ‚exemplarisch‘ für eine soziale Gruppe bezeichnen. Das Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen wird offenbar in unterschiedlicher Weise verstanden, je nachdem, ob das Einzelne als Beispiel fungiert oder als exemplarisch dargestellt wird. Der philosophische Umgang mit dem Beispielhaften und Exemplarischen spiegelt diese Ambivalenz zwischen der Annahme einer substanziellen Bedeutungsgleichheit und der Unterscheidung von Bedeutungsnuancen wieder.1 Er scheint durch die folgende Spannung gekennzeichnet zu sein: Auf der einen Seite sind Beispiele für das Programm der philosophischen Suche nach begründeter Einsicht in Washeiten und Prinzipien allenfalls von marginalem Interesse. Als Einzelfälle entsprechen sie nicht der Dimension des gesuchten Allgemeinen und haben lediglich darstellerische Relevanz. Ausdrückliche Überlegungen zu einer darüber hinausgehenden philosophischen Funktion von Beispielen finden sich dementsprechend kaum. Auf der anderen Seite verzichten philosophische Untersuchungen jedoch mitnichten auf Beispiele; im Gegenteil, philosophische Reflexionen vollziehen sich fortwährend und sogar in entscheidenden Hinsichten im Rekurs auf Beispiele. Von Platons Ring des Gyges bis zu Hilary Putnams Hirnen im Tank, von Zenons Wettlauf zwischen der Schildkröte und dem schnellen Achill bis zu Russels Antinomie des Barbiers, 1 Dass wir es hier mit einem Begriffsfeld zu tun haben, macht Günther Buck bereits im Titel seines begriffsgeschichtlichen Artikels deutlich, vgl. Buck, Beispiel, Exempel, exemplarisch, Sp.  818–823. Zugleich bietet Buck einen knappen lesenswerten Überblick über die philosophiehistorisch sehr unterschiedlichen Akzentuierungen und Bedeutungen des Beispielhaften und Exemplarischen. In einem sachlichen Zusammenhang mit den Begriffen ‚Beispiel‘ oder ‚Exemplar‘ stehen schließlich auch Begriffe wie ‚Paradigma‘ oder ‚Vorbild‘. Vgl. dazu Rentsch, Paradigma, exemplar; Helmer, Vorbild.

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Michela Summa / Karl Mertens

von Kants Erörterung des lügenhaften Versprechens oder des unterschlagenen Depositums bis zu den sogenannten Trolley Fällen – immer wieder stehen Beispiele im Zentrum philosophischer Analyse und Diskussion. – Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen der geringen oder gar fehlenden expliziten Thematisierung des Beispiels in der philosophischen Reflexion und seiner häufigen und vielfältigen operativen Verwendung verstehen? Einen Leitfaden, um diese Frage zu beantworten, bietet wiederum ein Blick auf den alltäglichen Gebrauch von Begriffen wie ‚Beispiel‘ und ‚exemplarisch‘. Auch wenn es schwer sein dürfte, in dem dabei in Anspruch genommenen Begriffsfeld exakte terminologische Differenzen herauszuarbeiten, lassen sich hier idealtypisch zwei grundsätzlich verschiedene Weisen der Bezugnahme auf Beispielhaftes unterscheiden. Auf der einen Seite wird ein Beispiel oder Exempel als ein Individuelles verstanden, das lediglich als Fall eines bereits bestimmten Allgemeinen begriffen und zur nachträglichen Veranschaulichung des Allgemeinen verwendet wird. In diesem Sinne können wir etwa zunächst die Merkmale eines Gasplaneten bestimmen und dann Jupiter oder Saturn als Beispiele für solche Planeten nennen. Auf der anderen Seite bezeichnet das Beispiel oder Exempel ein konkretes Einzelnes, das zugleich in allgemeiner Bedeutung verstanden wird. Hier erscheint im Beispiel das Individuelle selbst als Ausdruck des Allgemeinen, das seinerseits wiederum nur in konkreter Gestalt erfasst werden kann. So stehen Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe für den deutschen Bildungsroman; d. h. Goethes Werk bietet eine Art Prototyp, an dem sich die Charakteristika dieser Literaturgattung insgesamt allererst gewinnen lassen. Anders als Beispiele des ersten Typs verschaffen Beispiele der zweiten Art genuine Einsichten und gewinnen eine normative Funktion, indem sie als Maßstab und Vorbild für anderes fungieren. Im Folgenden möchten wir terminologisch zwischen illustrativen Beispielen (die dem hier zuerst genannten Typ entsprechen) und exemplarischen Beispielen (dem zweiten Typus von Beispielen) bzw. zwischen Beispielen im spezifischen Sinne und dem Exemplarischen unterscheiden.2

2 Dieser Gegensatz kann selbstverständlich terminologisch auch in anderer Form gefasst werden – etwa in der Weise, in der Mirjam Schaub die oben skizzierte unterschiedliche funktionale Rolle mit Rekurs auf die lateinische und griechische Tradition des Begriffsfeldes zum Ausdruck bringt, wenn sie von „den Polen der Austauschbarkeit eines lateinischen exemplum und der Unersetzbarkeit eines griechischen paradeigma“ spricht. Schaub, Das Singuläre und das Exemplarische, S. 12.

Einleitung

1.

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Die vielfältigen Funktionen von Beispielen – eine Annäherung mit Platon

Mit der vorgeschlagenen Entgegensetzung ist nur eine erste holzschnittartige Orientierung gewonnen. Wie vielgestaltig die Möglichkeiten des philosophischen Gebrauchs von Beispielen – und insbesondere ihrer exemplarischen Verwendung – sind, verdeutlicht ein kurzer Blick auf die platonischen Gespräche, die sich als eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Beispielhaften und Exemplarischen rekonstruieren ließen. So wissen wir zwar spätestens seit Platon, dass diejenigen, die auf Definitionsfragen mit Beispielen antworten, den philosophischen Sinn der Was-ist-Frage nicht verstanden haben. In diesem Sinne spottet Sokrates z. B. über Menon, wenn dieser ihm auf die Frage nach der Bestimmung der aretê die Tugenden des Mannes und der Frau, des Kindes, sei es Mädchen oder Junge, des Alten und des Knechtes auflistet: „Gar besonders glücklich, o Menon, scheine ich es getroffen zu haben, da ich nur eine Tugend suche und einen ganzen Schwarm von Tugenden finde, die sich bei dir niedergelassen“3. Doch Platon ist zugleich derjenige, der in seinen Gesprächsinszenierungen immer wieder die philosophische Relevanz von Beispielen deutlich macht. Nicht zufällig werden dabei vor allem Aspekte der exemplarischen Funktion von Beispielen offenbar. Das beginnt bereits damit, dass das philosophische Fragen seinen Ausgang nehmen muss von unseren lebensweltlichen Situationen. So ist im Menon zwar die begriffliche Bestimmtheit der Tugend erst einmal alles andere als klar – und sicher nicht in Form von Beispielen zu geben. Gleichwohl aber müssen wir uns in der philosophischen Suche an einem intuitiven Verständnis der mit einem bestimmten Begriff verbundenen thematischen Fokussierung orientieren. In diesem Sinne nennt die naive Aufzählung des Menon bereits mögliche Kandidaten für das, was wir als ‚Tugend‘ (aretê) ansprechen können, und gibt der Suche eine erste Richtung. Denn das, was hier als Beispiel genannt wird, ist dies schon mit Blick auf das gesuchte Allgemeine. Beispiele stehen nicht nur am Anfang des philosophischen Fragens und Suchens. Beispiele dienen mitunter auch der Überprüfung des jeweils Erreichten im Gang der Untersuchung selbst. Denn mit Bezug auf sie haben sich philosophische Einsichten zu bewähren. So beginnt etwa die sokratische Kritik an der These des Theaitet, Wissen (epistêmê) sei Wahrnehmung (aisthêsis), mit dem Verweis auf das Beispiel einer fremden Sprache und die Differenz zwischen Hören und Verstehen (epistasthai), mit dem die behauptete 3 Platon, Men. 72a.

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Michela Summa / Karl Mertens

Identifikation in Frage gestellt wird.4 Mitnichten kommt hier ein singulärer Fall zur Sprache. Denn die kritische Funktion des Beispiels erschließt sich nur insofern, als es in exemplarischer Bedeutung genommen wird. Sokrates macht mit ihm auf ein prinzipielles Versäumnis der behaupteten allzu schlichten Identifikation von Wissen und Wahrnehmung aufmerksam. Darüber hinaus lassen sich Beispiele ihrerseits explizieren und geben auf diese Weise Wege zu erkennen, wie die mit ihnen gewonnene Einsicht auf die jeweils gesuchte Sphäre übertragen werden kann. Diese Funktion von Beispielen hat Platon im Politikos erörtert. Danach haben Beispiele eine heuristische Funktion, die auf einer Analogie beruht. Sie veranschaulichen Verhältnisse im vertrauten Kontext, die auf einen vergleichbaren und ähnlichen, aber anderen, uns noch unbekannten, Fall übertragen werden.5 Nicht zuletzt wird auch der Sinn der philosophischen Frage danach, was etwas ist, und die damit verbundene Aufforderung, eine Antwort jenseits bloßer Beispiele zu suchen, exemplarisch verständlich gemacht. So erläutert Sokrates etwa im Menon den das Einzelne überschreitenden Sinn der gesuchten Wasbestimmtheit der Tugend am Verhältnis zwischen einzelnen Figuren und Figur, verschiedenen Farben und Farbe.6 Ähnliches findet sich im Theaitet. Zunächst antwortet auch Theaitet, gefragt nach der Bestimmtheit von Wissen, mit einer Aufzählung verschiedener Wissensbereiche7, erfasst dann aber die spezifische Dimension der sokratischen Frage im Rekurs auf ein mathematisches Beispiel.8 Während in den bislang erwähnten Fällen die Gemeinsamkeit zwischen den ausgewählten Beispielen und dem Vorverständnis der gesuchten Sache das Gesuchte zumindest implizit anzuzeigen vermag, ist in anderen Fällen ein gemeinsames implizites Wissen des Gesuchten nicht verfügbar. Doch auch da tut man gut daran, sich in der philosophischen Reflexion über die relevanten Beispiele zu verständigen. Denn steht zu Beginn der philosophischen Arbeit die Möglichkeit des Rekurses auf ein als unproblematisch vorauszusetzendes Vorverständnis nicht zur Verfügung, ist es die Aufgabe, die zu bestimmende Sache selbst erst aufzusuchen, ggf. auch herzustellen, zu konstruieren. Das ist ein prekäres Unterfangen, das immer auch scheitern kann. Kallikles und Sokrates etwa verstehen im Gorgias unter dem Guten jeweils etwas völlig anderes. Nicht zuletzt wird das plausibel vor dem Hintergrund der sie leitenden Beispiele. Orientiert sich Kallikles in seinem Plädoyer für das 4 5 6 7 8

Platon, Tht. 163a f. Platon, Pol. 277a ff. Platon, Men. 74b-76e. Platon, Tht. 146c-d. Platon, Tht. 147c-148b.

Einleitung

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Recht des Stärkeren exemplarisch an demjenigen, der zügellos seine Lust zu befriedigen vermag, also letztlich am Beispiel des Tyrannen9, so stellt dem Sokrates das Bild des Zügellosen, der einem lecken Fass gleicht und sich nicht einmal selbst beherrschen kann, entgegen.10 – Exemplarische Beispiele dienen demnach als Ausgangspunkte philosophischer Reflexionen, als Instanzen der Überprüfung oder der Ausarbeitung einer These; sie zeigen spezifische Hinsicht des Fragens an oder plausibilisieren der Diskussion vorausliegende Lebensentscheidungen. Angesichts so unterschiedlicher Funktionen kommt es entscheidend darauf an, die für die spezifischen Zwecke der anstehenden Aufgabe geeigneten Beispiele auszuwählen.11 Neben dem zu einer Sache hinführenden Sinn von Beispielen gewinnen Beispiele in Platons Philosophie schließlich auch theoretisch-normative Relevanz, indem sie als Vorbild und Maß dessen gelten, was sie exemplifizieren. In dieser Bedeutung werden im Timaios die immer seienden Ideen als paradigmatische Vorbilder für die Erzeugung ihrer vergänglichen empirischen Abbilder durch den Demiurgen verstanden.12 So gesehen, wird bei Platon die epistemische Rolle des Beispiels ontologisch verankert: Der Weg, den der Erkenntnisprozess einschlägt, läuft vom Beispiel zum gesuchten Wissen, von dem, was als Beispiel genommen wird, zu dem, was im Beispiel sichtbar gemacht wird. Dass der methodische Zugang zur Idee über Beispiele überhaupt vermittelt werden kann, beruht aber letztlich auf einer ontologischen Umkehr dieses Verhältnisses. Denn alles Seiende, das uns empirisch zugänglich ist, wird als ein nach dem Beispiel, dem Vorbild der Idee Geschaffenes verstanden. Das erfahrbare Seiende ist demnach empirische Manifestation seines Urbildes. Es realisiert beispielhaft die ihm zugrundeliegende Idee. Auf diese Weise erfährt zugleich die epistemische Möglichkeit der exemplarischen Annäherung an die Ideen ihre Begründung. Denn alles, was ist, ist im doppelten Sinne Beispiel: Beispiel für die gesuchte Idee und Beispiel der Idee. Allein dieser flüchtige Blick auf die platonische Philosophie macht deutlich, dass Beispiele in der Philosophie im Einzelnen sehr verschiedene Aufgaben 9 10 11

12

Platon, Gorg. 491e-492a. Platon, Gorg. 493a ff. Nicht zuletzt werden die zentralen Überlegungen der platonischen Philosophie mit Hilfe von Beispielen eingeführt. So gewinnt Platon in der Politeia den entscheidenden Zugang zu seiner Konzeption der Idee mit Hilfe von für diesen Zweck eigens konstruierten (beispielhaften) Gleichnissen, dem Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis (Platon, Rep. VI 506b-509b; 509c-511e; Rep. VII 514a-517a). Platon, Tim. 27d-29c. In diesem Sinne haben die Ideen normativen Charakter, „bedeuten“ sie „Gesetze, nicht Dinge“, wie es Paul Natorp in seiner Platon-Interpretation ausdrückt. Natorp, Platos Ideenlehre, S. x.

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übernehmen können. Dabei ist ihre Funktion keineswegs darauf beschränkt, nachträglich das bereits Gedachte zu illustrieren. Beispiele sind vielmehr immer wieder das zentrale Movens der philosophischen Gedanken- und Theoriebildung selbst. In dieser Funktion haben sie bei allen Unterschieden in ihrer Rolle und Bedeutung im jeweiligen philosophischen Kontext einen exemplarischen Charakter. Der mit den Beispielen angesprochene konkrete Gehalt gewinnt seine argumentative Bedeutung gerade insofern, als er die individuelle Sphäre des Beispiels auf ein Allgemeines hin übersteigt. Das überrascht kaum angesichts des bereits bei Platon zum Ausdruck gebrachten philosophischen Selbstverständnisses, nach dem das implizit Gewusste explizit auf Begriffe zu bringen ist, ein noch nicht thematisches Vorverständnis zum Thema eines eigentlichen Verständnisses zu machen ist. Denn ein solches Geschäft hat überhaupt nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sein Ausgangspunkt, das Alltägliche und Selbstverständliche, als etwas verstanden wird, das über seine jeweils konkrete Einzelheit und Situativität hinausweist. In diesem Sinne fungiert es als exemplarisches Beispiel. Es ist ein Individuelles und Okkasionelles, das zugleich als etwas genommen werden kann, das einen Leitfaden für die Suche nach einem Allgemeinen und begrifflich Bestimmbaren zu liefern vermag. Überraschend ist in dieser Perspektive allerdings, dass Beispiele in der Philosophie, obwohl sie zum ständig gebrauchten Instrumentarium philosophischer Theoriebildung gehören, kaum ausdrücklich in dieser Funktion zum Thema eigener Reflexionen werden.13 2.

Die Marginalisierung des Beispiels in der philosophischen Theorie – seine Aufwertung in Rhetorik, Didaktik und Ästhetik

Wurde zuvor angedeutet, inwiefern das vom Vertrauten ausgehende Selbstverständnis philosophischer Reflexion Grund für ein genuines Interesse der Philosophie am Beispiel ist oder doch sein könnte, so steht ein anderer Aspekt philosophischer Selbstverständigung der bereitwilligen Aufnahme des Beispiels in das philosophische Unternehmen zugleich entgegen. Wie eingangs erwähnt, zielt Philosophie gemäß ihrem traditionellen Selbstverständnis auf die explizite Formulierung von theoretischen Einsichten in Sachverhalte, Prinzipien, Normen, Gesetze usw., die allgemeine oder gar universelle Gültigkeit 13

Insofern sind die expliziten Überlegungen zur Rolle des Beispiels, wie sie sich in Platons Politikos (Pol. 277a-279a) und ansatzweise vielleicht auch im Timaios (Tim. 27d-29c) finden, eher Ausnahmen. In der Regel macht aber auch Platon lediglich einen operativen Gebrauch von Beispielen.

Einleitung

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haben. In dieser Fokussierung auf ein wesentlich kognitiv akzentuiertes Verständnis des philosophischen Geschäftes aber ist das Beispiel in beiden skizzierten Hinsichten allenfalls von marginaler Bedeutung. Als illustratives Beispiel ist es aller theoretischen Verständigung gegenüber systematisch nachrangig. Denn Illustrationen setzen ein Verständnis dessen, was veranschaulicht werden soll, bereits voraus. Der geradezu standardmäßige Einstieg in viele platonische Gespräche ist daher mit der Zurückweisung der philosophischen Relevanz dieses Beispieltyps verknüpft. Der u. a. auch bei Platon zu findende implizite Rekurs auf Beispiele hingegen nimmt diese als etwas Exemplarisches, als etwas, an dem sich solches erfassen lässt, das über den Einzelfall hinausweist und das im Rahmen der philosophischen Suche als Leitfaden zu dienen vermag. Im Schatten der jeweils gesuchten Sache aber werden Beispiele in ihrer exemplarischen Rolle philosophisch zumeist lediglich verwendet – und gerade nicht eigens in ihrer Rolle als Beispiele thematisiert. Das ausdrückliche thematische Interesse gilt vielmehr dem, was mit ihrer Hilfe herausgebracht werden soll. Insofern kommt dem exemplarischen Beispiel eher eine pragmatische als eine theoretische Bedeutung zu. Charakteristischerweise findet sich daher die Erörterung der Bedeutung und Funktion des Beispiels vor allem in tendenziell aus der Philosophie ausgelagerten Randbereichen wie der Rhetorik und der Didaktik. Bezeichnenderweise steht in diesen Disziplinen nicht die Gewinnung und Begründung eines Wissens im Zentrum, sondern zielgerichtete Tätigkeiten, die der Lösung bestimmter Aufgaben im Kontext der öffentlichen Rede und der Überzeugungsarbeit oder der Erziehung und der Bildung dienen. Eine Sonderstellung hinsichtlich der Reflexion auf das Exemplarische nimmt schließlich auch die Ästhetik ein. Auch dafür sind Aspekte verantwortlich, die mit einem disziplinären Verständnis zu tun haben, das sich nicht ohne weiteres in das zuvor skizzierte klassische Selbstverständnis der Philosophie einordnen lässt. Die Rhetorik hat es nach Aristoteles weder mit notwendigen Sachverhalten, den Gegenständen der beweisenden Wissenschaften, noch mit dem bloß Zufälligen zu tun, sondern mit solchem, das sich auch anders verhalten kann.14 Der Bereich dieses Veränderlichen ist dabei grundsätzlich von Menschen durch ihr Handeln zu beeinflussen.15 Wäre Handelnden eine absolut souveräne Übersicht, eine jede zeitliche Dimension vollkommen erfassende Kenntnis der Handlungssituation, möglich, dann wäre das rhetorische Geschäft überflüssig. Das Wissen von situativ und stets zu einer bestimmten Zeit Handelnden ist jedoch grundsätzlich beschränkt. Diesem Umstand trägt die sophistische 14 15

Aristoteles, Rhet. I 2, 1357a1 ff. Aristoteles, Rhet. I 2, 1357a23 ff.

xiv

Michela Summa / Karl Mertens

Rhetorik Rechnung. Denjenigen, die inmitten einer sozialen Welt handeln und zum Handeln gezwungen sind, steht kein verlässliches Wissen zur Verfügung.16 Daher ist in der jeweiligen Situation, dem kairos des Handelns, zu entscheiden, was zu tun geboten ist.17 Sinnvoller Ausgangspunkt der rhetorischen Bemühungen kann dementsprechend lediglich die in der Situation erreichbare Kenntnis sein. Diese ist aber stets unsicher. Denn den unter Zeitdruck handelnden Menschen ist eine ausweisbare absolut verlässliche Einsicht nicht möglich.18 Daher kann der Redner, dem es darum geht, trotz solcher Erkenntnismängel ein der Situation angemessenes Handeln zu ermöglichen, für seine Ausführungen nur das in Anspruch nehmen, was angesichts der Handlungssituation der Ansicht (doxa) entspricht und wahrscheinlich (eikos) ist.19 Die Orientierung im kairos des Handelns an doxa bzw. eikos gehören zusammen. Handeln gemäß dem Gesichtspunkt dessen, was in einer Situation der Fall zu sein scheint und wahrscheinlich ist, ist auch das situativ Angemessene und Gebotene. Die Inkorporierung aller Erkenntnis- und Wahrheitsinteressen in das Feld praktischer Anforderungen der Rhetorik ist daher auch nicht Ausdruck eines theoretischen Relativismus, sondern einer an der Möglichkeit gelingender Praxis orientierten aretê, für die aufgrund der konstitutiven Endlichkeit menschlichen Handelnkönnens und Handelnmüssens der Rekurs auf die doxa unausweichlich ist. Vor diesem Hintergrund ist gleichermaßen die kompetitive Akzentuierung der sophistischen Rhetorik als eine Kunst, der es 16

17 18

19

Die hier zugrundeliegende skeptische Haltung äußert in besonders radikaler Weise der historische Gorgias (Gorgias von Leontinoi) in seiner Schrift Über das Nichtseiende, wenn er die Existenz des Seienden, seine Erkennbarkeit und seine Mitteilbarkeit und Erfassbarkeit grundsätzlich in Frage stellt. Vgl. dazu die von Sextus Empiricus (Adversus mathematicos VII, 65) erwähnten „drei Hauptthesen“ des Gorgias, „zum einen und ersten, daß nichts ist, zweitens daß, wenn auch etwas ist, es nicht aufzufassen ist für den Menschen, und drittens daß, ist es auch aufzufassen, es doch einem Nächsten zumindest nicht mitzuteilen und zu erklären ist.“ (Gorgias Fr. 3 [65] = DK 82 B 3 [65]). Rhetorisches Handeln richtet sich folglich nach dem kairos (vgl. Gorgias Fr. 13 = DK 82 B 13), ja bisweilen wird es von diesem geradezu erzwungen (vgl. z. B. Gorgias Fr. 11a [32] = DK 82 B 11a [32]). Den Zeitdruck, unter dem die rhetorische Handlung erfolgt, versteht Platon im Theaitet als Knechtschaft des Redners (Tht. 172d-e). In seiner Kritik der Rhetorik nennt er außerdem die Angewiesenheit des Redners auf das Urteil anderer (Tht. 172e) sowie die Ausrichtung am Eigeninteresse des Redners (172e-173a). So heißt es bei Gorgias von Leontinoi: „Und daher bestellen die meisten in den meisten Fällen die Ansicht zum Beirat ihrer Seele. Die Ansicht aber – trügerisch und unsicher wie sie ist – umgibt den, der sich ihrer bedient, mit trügerischen und unsicheren Geschicken.“ (Gorgias Fr. 11 [11] = DK 82 B 11 [11]) In einer solchen Situation kann sich der Redner nur an das halten, was wahrscheinlich ist – etwa in seiner Rekonstruktion eines Tathergangs (vgl. Gorgias Fr. Gorg. Fr. 11 [5] = DK 82 B 11 [5]). Vgl. zu der hier gegebenen Interpretation Buchheim, Einleitung, xxix ff.

Einleitung

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darum geht, einer Position im Redewettstreit zum Sieg zu verhelfen, wie die Hinordnung der Rhetorik auf ein spezifisches Geschäft des Überzeugens, das in der aristotelischen Systematik zwischen Dialektik und praktischer Philosophie angesiedelt wird20, zu verstehen. Rhetorik trägt der menschlichen Endlichkeit Rechnung. Das gilt auch für eine Rhetorik, die die zuvor skizzierte epistemische Skepsis nicht teilt. Dies wird u. a. in der Erörterung der Funktion des Beispiels in der aristotelischen Rhetorik deutlich. Aristoteles erörtert das Beispiel zusammen mit dem Enthymem als ein rhetorisches Beweisverfahren. In diesem Zusammenhang erscheint das Beispiel von vornherein als ein der rhetorischen Praxis angemessenes Schließen, genauer als eine Form der induktiven Erkenntnisgewinnung, die den Übergang von Teil zu Teil, von Ähnlichem zu Ähnlichem ermöglicht.21 Insofern haben Beispiele für Aristoteles eine Einsicht verschaffende Funktion.22 Allerdings geht das Erkennen hier nicht auf ein begrifflich Allgemeines, sondern lediglich auf Ähnliches. Indem es von einem Einzelnem zu weiteren Individuen hinführt, ermöglicht es intellektuelle Anknüpfungen und Weiterführungen, nicht allerdings einen strengen Beweis von notwendigen Aussagen. Nicht theoretisches Wissen bzw. begründete Einsicht, sondern ein der anstehenden Praxis dienliches Wissen ist ihr Ziel. In dieser praktischen Ausrichtung des rhetorisch geltend gemachten Wissens wird dieses letztlich unter Gesichtspunkten seiner praktischen Wirksamkeit bewertet. Diese Einordnung charakterisiert wesentlich das Geschäft der Rhetorik und begründet die Ambivalenz ihres möglichen Einsatzes. So ist die Redekunst, wie es in Ciceros Kennzeichnung aus De oratore heißt, „eine der allerhöchsten Tugenden“, wo ihre Kraft „mit Rechtschaffenheit und höchster Klugheit“ verbunden wird. Doch liegt in ihrer Wirksamkeit zugleich auch ihre prinzipielle Gefahr, denn, so heißt es weiter bei Cicero: „Wenn wir die Macht der Rede Leuten zur Verfügung stellen, die diese Eigenschaften nicht besitzen, 20 21 22

Aristoteles, Rhet. I 2, 1356a25 ff. Aristoteles, Rhet. I 2, 1356a35-b4; 1357b25-30. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Platon im Gorgias am gleichen Begriff, der peitho bzw. dem peithein, die Differenz von sophistischer Rhetorik und philosophischer Rede herausarbeitet und vom philosophischen Verständnis eines an begründeter Einsicht (epistêmê) interessierten Überzeugens her allererst das Defizit eines nicht auf Wissen beruhenden, Glauben (pistis) machenden, sich lediglich auf die Macht des Logos stützenden Überredens sichtbar macht (vgl. Platon, Gorg. 452d ff.; bes. 454e-455a). Die Betonung des Gegensatzes lässt leicht übersehen, dass es hier durchaus auch um eine im Wort greifbare Kontinuität geht. Aus dem praktischen Interesse heraus wird das weitergehende theoretische Verständnis eines sachbezogenen Überzeugens entwickelt. Umgekehrt erscheint das rhetorische Geschäft als ein Überzeugen unter den Bedingungen der situativen Rede.

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so machen wir sie nicht zu Rednern, sondern geben Rasenden gewissermaßen Waffen an die Hand.“23 Die Didaktik als Teildisziplin der Pädagogik untersucht Methoden für das (erfolgreiche) Lernen und Lehren. Auch sie ist eine Disziplin, die einer bestimmten Praxis dient. Insofern sie dabei argumentativ verfährt, rekurriert sie ihrerseits auf die in der Rhetorik ausgearbeiteten Mittel der Verständigung.24 Doch während das Beispiel im rhetorischen Rahmen nur ein Überzeugungsmittel unter anderen ist, avanciert in Teilen der Didaktik und Pädagogik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Beispielhafte und Exemplarische zu einem Grundbegriff. Die Grundidee haben Pädagogen wie Martin Wagenschein oder Günther Buck klar und knapp umrissen: Insofern Lehren ein bestimmtes Verständnis des Lernens voraussetzt und sich an diesem orientiert, ist der Begriff des Lernens im didaktischen Gefüge prioritär.25 Wird dieses in seiner Grundstruktur als eine Form der Induktion, „des Ganges von der Anschauung zum Begriff, vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Bekannten zum Unbekannten usw.“ verstanden26, rückt die Einsicht verschaffende pädagogische Bedeutung von Beispielen als ein Erstes im pädagogischen Prozess ins Zentrum des Interesses. In direkter Anknüpfung an Aristoteles heißt es bei Buck: Das Beispiel ist ein Proteron, ein Früheres und Bekannteres, und des näheren ein Proteron pros hemas, ein für uns Früheres und Bekannteres, das uns zu dem der Sache nach Früheren und Bekannteren hinführt. Die Struktur des Beispiel-Verstehens ist also keine andere als die uns bekannte Struktur der Prinzipienforschung. […] Es stellt ein Besonderes mit der Aufforderung vor Augen, es unter dem Blickwinkel des Allgemeinen zu betrachten. Es gibt dieses Allgemeine nicht geradezu, sondern es bringt einen darauf, indem es auf ein im Kennen der Beispielmaterie wirksames Vorwissen anspielt, das man nun selbst explizieren kann.27

Auch hier dient das Beispiel dem Verweis von einem Individuellen auf ein Allgemeines. Dementsprechend erschöpft sich die Rolle von Beispielen nicht in der bloßen Veranschaulichung von etwas, das auch unabhängig von Beispielen thematisiert werden kann. Beispielhaftes wird vielmehr in erster Linie sichtbar in seiner, den erzieherischen Prozess und das pädagogische Tun allererst 23 24 25 26 27

Cicero, De oratore III, 55 (Übers. H. Merklin, S. 481). Vgl. Dörpinghaus, Logik der Rhetorik. Zu einer skeptischen Deskonstruktion des Rekurses auf das Beispiel vgl. auch Dörpinghaus, Vom beispielhaft Exemplarischen. Buck, Lernen und Erfahrung, S. xxiii. Buck, Lernen und Erfahrung, S. xxiv. Buck, Lernen und Erfahrung, S. 93–94.

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ermöglichenden, eigentümlichen Kraft und Dynamik. In dieser Funktion erhebt Wolfgang Klafki in seiner Theorie kategorialer Bildung das Exemplarische zu einem primären didaktischen Prinzip zur Erschließung der Wirklichkeit für die Lernenden.28 Diese Idee hat in verschiedene Fachdidaktiken abgestrahlt, z. B. in Gestalt des Exemplaritätsprinzips im Geschichtsunterricht bei Joachim Rohlfes.29 Insofern das Exemplarische in der pädagogischen Reflexion auf den Prozess des Lernens und Lehrens seine Relevanz als Spiegel des Ganzen, sei es des zu erlernenden Faches, sei es der personalen Bildung, gewinnt, wird es in letzter Bedeutung bildungstheoretisch verstanden In diesem Sinne stellt Wagenschein seinen Gedanken des exemplarischen Lernens programmatisch in charakteristischer doppelter Ausrichtung vor, wenn es heißt: „Das Einzelne, in das man sich hier versenkt, ist nicht Stufe, es ist Spiegel des Ganzen.“30 „Die Spiegelung muß nicht nur das Ganze des Faches, – im günstigsten Fall das Ganze der geistigen Welt –, sie muß auch das Ganze des Lernenden (nicht nur z. B. seine Intelligenz) erhellen.“31 Allerdings sind mit dem exemplarischen Denken charakteristische epistemische Grenzen verbunden, wie sie Buck in seiner hermeneutischen Konzeption des Lernens und der Bildung herausstellt. Gemäß Buck hat das Beispiel-Verstehen den Charakter eines hermeneutischen Zirkels, insofern es den Verstehenden in einen selbstrückbezüglichen Prozess verwickelt und ihm zumutet, „sich selbst über das zu verständigen, was er schon mitbringt“.32 In der Bindung an die Verstehenssituation liegt freilich zugleich eine grundlegende Limitation des jeweils beispielhaft Erfassten, insofern dieses stets auf eine bestimmte Situation und Praxis zurückverweist, in der es erworben wird. Für Buck liegt darin nicht zuletzt auch die Grenze des ausdrücklichen Verständnisses philosophischer Begriffe: Nur an Beispielen lassen sich die philosophischen Begriffe vorführen. Und das wiederum hängt mit der Art dieser Begriffe zusammen, Begriffe, d. h. ausdrückliches Verständnis zu sein: Ihre Ausdrücklichkeit hat eine Grenze. […] Das „Bewußtsein“ kann reflektierend nicht hinter die Praxis zurück, die es selber ist, um sie im Begriff aufzulösen, so wie man ein wissenschaftliches „Problem“ löst.33

28 29 30 31 32 33

Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Rohlfes, Geschichte und ihre Didaktik. Wagenschein, Verstehen lehren, S. 12. Wagenschein, Verstehen lehren, S. 14. Buck, Lernen und Erfahrung, S. 156. Buck, Lernen und Erfahrung, S. 167–68.

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Das exemplarisch erworbene ausdrückliche Verstehen ist daher notwendig von einem Nichtwissen begleitet, das in der wesentlich praktischen Verankerung des pädagogischen Prozesses begründet ist.34 Ähnlich wie im Kontext der Rhetorik erscheint auch hier das exemplarische Denken aufgrund seines wesentlichen Handlungsbezugs in seinen epistemischen Möglichkeiten und Grenzen. Als relativ junger Bereich der Philosophie leistet die Ästhetik einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines Exemplaritätskonzeptes, das eine epistemische und philosophische Bedeutung hat, die über die ästhetische Theorie im engeren Sinne des Wortes hinausgeht. Mit anderen Worten: In der Ästhetik wird eine Denkfigur entwickelt, die auch jenseits der Ästhetik im engen Sinne – als ästhetische Theorie bezogen auf ästhetische Eigenschaften, ästhetische Erfahrung und Kunsterfahrung – Anwendung findet.35 Insbesondere führen die Überlegungen zur Exemplarität im Bereich der Ästhetik zu einer Relativierung der Annahme, dass Philosophie sich vor allem für die Identifizierung objektiver und universeller Prinzipien interessiert, denen das Individuelle stets untergeordnet ist. Solange philosophisch die Erkenntnis objektiver und universeller Prinzipien als primäre Aufgabe gilt, verweist der Rückgriff auf die Exemplifikation in gewissem Sinne auf unsere Unfähigkeit als Erkenntnissubjekte, zu einer direkten Erkenntnis solcher Prinzipien zu gelangen. Eine Erkenntnis, die nicht auf Beispiele zurückgreifen muss, wäre daher in jedem Fall vorzuziehen. Ist hingegen der Rückgriff auf Beispiele angesichts der Unzulänglichkeit unserer Erkenntnisfähigkeit notwendig, dann können Beispiele nur als Hilfsmittel für unser Erkenntnisvermögen dienen. Sie sind, mit Kants Bezeichnung, der „Gängelwagen der Urteilskraft“. Beispiele schärfen laut Kant zwar die Urteilskraft, weil durch sie allgemeine Begriffe und Prinzipien angewandt werden. Was aber „die Richtigkeit und Präzision der Verstandeseinsicht betrifft, so tun sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen, (als casus in terminis) und überdem diejenige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen […]“.36 Ausgerechnet Kant gehört aber auch zu den Autoren, die eine stärkere Bedeutsamkeit der Exemplarität im Bereich der Ästhetik anerkennen. 34

35 36

Diese praktische Verankerung hat Buck ausführlich in Hermeneutik und Bildung thema­ti­ siert. „Hermeneutische Pädagogik wird also den Charakter einer Handlungshermeneutik haben; sie wird Interpretation erzieherischer Handlungen, Handlungsarten, Handlungszusammenhänge sein, mit Einschluß der institutionellen Rahmen, innerhalb derer sich dieses Handeln abspielt.“ Buck, Hermeneutik und Bildung, S. 14. Levinston, Philosophical aesthetics: An overview. Kant, Kritik der reinen Vernunft A 134/B173.

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Dabei wird er von einer Frage geleitet, die schon Hume in Of the Standard of Taste stellt und die den Status der Übereinstimmung bzw. der Meinungsverschiedenheit bei ästhetischen Urteilen betrifft. Übereinstimmung und Meinungsverschiedenheit in ästhetischer Erfahrung sind nämlich durch zwei Charakteristika ausgezeichnet. Zum einen beziehen sich Übereinstimmung und Meinungsverschiedenheit zwar auf Urteile über etwas in der Welt. Aber der Wahrheitsanspruch dieser Urteile lässt sich nicht anhand von festen Kriterien verifizieren oder falsifizieren. Wir meinen zwar berechtigt zu sein, etwas als ästhetisch wertvoll oder nicht wertvoll zu beurteilen; strikte Verifikationskriterien für die Rechtmäßigkeit unseres Urteils oder für die Falschheit des Urteils anderer haben wir aber nicht. Sind also diese Urteile bloß idiosynkratisch-subjektiv? Doch wenn das der Fall ist, warum legen wir dann Wert auf Übereinstimmung, und warum streiten wir überhaupt über ästhetische Werte? Zum anderen ist der schillernde Status von ästhetischen Urteilen, die einerseits bloß subjektiv zu sein scheinen, andererseits aber einen überindividuellen Geltungsanspruch erheben, damit verbunden, dass diese Urteile auf Gefühle und auf ganz persönliche subjektive Erfahrungen zurückgehen. Die auf diese Weise skizzierte Zweideutigkeit kann auch als eine mit dem Status des Gefühls verbundene Ambiguität verstanden werden: Gefühle sind wesentlich als subjektive Erfahrungen zu verstehen; gleichzeitig aber ermöglichen sie eine eigentümliche Form der Mitteilbarkeit oder der geteilten Erfahrung und eröffnen in diesem Sinne eine sozial geteilte Beziehung zu den Objekten der Erfahrung. Gerade in Bezug auf diese Mitteilbarkeit kann die Gefühlserfahrung auch als normativ betrachtet werden. Humes Ansatz bezüglich der Frage nach der Mitteilbarkeit von Gefühlen und der Normativität ästhetischer Erfahrung ist insofern bahnbrechend, als sie sich auf deren exemplarischen Status stützt.37 Die Exemplarität ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Urteile sieht er in der Urteilsfähigkeit des Kritikers als idealtypische Figur, die als Modell für die Angemessenheit ästhetischer Urteile genommen wird. Genauer gesagt, ist die Figur des Kritikers in zweierlei Hinsicht exemplarisch: Erstens veranschaulicht der Kritiker die Art und Weise, wie eine angemessene ästhetische Erfahrung gemacht und mitgeteilt werden kann. Zweitens ist der Kritiker auch ein Beispiel für andere: ein Beispiel, dem man folgen sollte, um ästhetische Werte angemessen zu würdigen und sie intersubjektiv zu teilen. In diesem Sinne verfügt der Kritiker über eine doppelte Fähigkeit. Er kann zum einen die Disposition des Werkes, Gefallen zu wecken, aktualisieren. Zum anderen ist er in der Lage, die eigene Erfahrung mit anderen zu teilen. Hume entfaltet diese zweifache exemplarische Funktion, 37 Hume, Über den Maßstab des Geschmacks.

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indem er dem Kritiker fünf besondere Eigenschaften zuschreibt: Feingefühl (delicacy); Übung; die Fähigkeit, Vergleiche anzustellen; die Fähigkeit, Vorurteile auszuklammern; guter Sinn (good sense).38 Die Frage nach der Meinungsverschiedenheit bei ästhetischen Urteilen motiviert auch die Überlegungen zum Schönen und zur Exemplarität in Kants Kritik der Urteilskraft. Denn die Differenz zwischen dem Angenehmen und dem Schönen beruht gerade auf der Unterscheidung zwischen einer bloß sinnlichen Lust, über die zu streiten nicht sinnvoll ist, und einer Lust, deren Erlebnisseite im Spiel der transzendentalen Vermögen des Verstandes und der Einbildungskraft intersubjektiv mitgeteilt werden kann und hinsichtlich derer Streit und Suche nach Übereinstimmung sinnvoll sind.39 Warum sind Kants Überlegungen für das Verständnis des Exemplarischen von Bedeutung? Die vier Momente der Analytik des Schönen – insbesondere das zweite Moment, der Quantität des Geschmacksurteils nach, und das vierte Moment, der Modalität des Wohlgefallens an dem Gegenstande nach – zeigen, dass es bei der Betrachtung von ästhetischen Urteilen um die Suche nach einer Form der Normativität für solche Urteile geht, die sich immer nur auf Partikuläres richten können und stets einen Bezug zur Subjektivität aufweisen, so dass sie sich auf kein vorgegebenes objektiv universelles Prinzip berufen können. Diese Normativität bzw. die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit von ästhetischen Urteilen kann aus den genannten Gründen, wie Kant ausdrücklich sagt, nur eine exemplarische sein, d. h. „eine Notwendigkeit der Beistimmung aller zu einem Urteil, was wie ein Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird“.40 Es ist demnach die Singularität selbst, die für die Urteilskraft hier normativ ist, insofern das Einzelne eine leitende Funktion übernimmt und eine allgemeine, allerdings nicht explizierbare Regel verkörpert. Mit entsprechenden Unterschieden gilt ein analoger Gedanke auch für die Produktion ästhetischer Werke. Als Produkte des Genies haben sie einen exemplarischen Charakter. Sie wirken normativ, ohne sich auf ein gegebenes Prinzip berufen zu können. Das Genie kann weder gelehrt noch nachgeahmt werden; es kann nur anerkannt und durch Nachfolge selbstständig angeeignet werden.

38 39 40

Vgl. Hume, Über den Maßstab des Geschmacks, S. 87–94. Vgl. Costelloe, Aesthetics and Morals in the Philosophy of David Hume. Vgl. Ginsborg, The Normativity of Nature, S.  13–132; Makkreel, Reflection, reflective judgment, and aesthetic exemplarity. Kant, Kritik der Urteilskraft AA05, S. 237.

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Als scientia cognitionis sensitivae41 hat die Ästhetik immer mit Individuellem oder Partikulärem – einzigartigen Werken oder Naturgegenständen – zu tun.42 Und die Urteile über den Wert solcher Individualitäten können ebenso nur singulär sein. Wie Kant betont, wäre es sinnlos zu behaupten, dass alle Rosen schön sind. Doch bezüglich einer einzelnen Rose, die ich als schön erfahre, kann ich den Anspruch erheben, dass andere dieses ästhetische Urteil teilen. Dieser Anspruch ist an den exemplarischen Charakter des Urteils selbst und die ihm zugrundeliegende Erfahrung eines Individuums gebunden: Ästhetisch erfahrene Einzelheiten verkörpern ein Allgemeines, das einer intersubjektiv geteilten Erfahrung korreliert. Dass dies so ist, setzt für Kant eine ursprüngliche Art der Mitteilbarkeit voraus, die endliche Vernunftwesen kennzeichnet und die er im sensus communis verankert sieht. Denn die Maximen des sensus communis können als Ausdruck der exemplarischen Normativität gelesen werden. Kant nennt drei solche Maximen: (1) Selbstdenken bzw. vorurteilsfreie Denkungsart; (2) an der Stelle jedes anderen denken bzw. erweiterte Denkungsart; (3) jederzeit mit sich selbst einstimmig denken bzw. konsequente Denkungsart.43 Hinsichtlich der Exemplarität des Geschmacksurteils zeigen diese Maximen, dass die Zustimmung zu einem exemplarischen Urteil nicht fremdbestimmt ist. Daher genügt es auch nicht, das Beispiel bloß nachzuahmen; man muss es sich vielmehr zu eigen machen. Dies setzt die Fähigkeit voraus, eine erweiterte Denkungsweise anzunehmen, was impliziert, dass man in der Lage ist, persönliche Interessen einzuklammern, um die Perspektive anderer im Denken zu übernehmen. Daher erheben Urteile über ästhetische Einzelheiten einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und intersubjektive Übereinstimmung, der nicht bloß als Übernahme verstanden werden kann. Wir erwarten, dass andere aus ihren eigenen Gründen, stellvertretend für einen jeden und in Einstimmigkeit mit sich selbst einem Urteil, das als exemplarisch gilt, zustimmen. Im Ausgang von solchen Überlegungen lässt sich die paradigmatische Normativität eines ästhetischen Urteils und ihr Anspruch auf Anerkennung epistemischer Werte, für die uns vorgegebene Kriterien oder Prinzipien fehlen, auch auf Bereiche außerhalb der Ästhetik übertragen und für erkenntnistheoretische, ethische oder politische Fragen und Probleme fruchtbar machen.44 Denn dort, wo die Suche nach Kriterien nicht mit der Feststellung 41 42 43 44

Baumgarten, Ästhetik, § 1, S. 10. Vgl. Schaub, Das Singuläre und das Exemplarische, und Schaub, Die Philosophie und ihre Beispiele. Kant, Kritik der Urteilskraft AA05, S. 294. Vgl. Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy; Garroni, Estetica; Ferrara, The Force of the Example.

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eines Objektiven oder schlechthin Allgemeingültigen endet, rückt die Frage nach der Übereinstimmung unserer Urteile und unserer Ansprüche auf Wahrheit in den Fokus des Interesses.45 Aussagen, die wir prinzipiell nicht objektiv verifizieren können, sind dann gleichwohl als intersubjektiv bedeutsam zu betrachten und begründen insofern eine normative Ordnung auf der Basis singulärer Erfahrungen. Genau diese Betrachtungsmöglichkeit zeichnet exemplarische Singularitäten aus. Die Bedeutung eines so verstandenen Begriffs der Exemplarität und der exemplarischen Allgemeingültigkeit geht weit über das Konzept des bloß illustrativen bzw. lediglich veranschaulichenden Beispiels hinaus.46 Als exemplarisch gelten Einzelheiten und die darauf bezogenen Einzelurteile, insofern sie als Leitfaden verstanden werden – und d. h. insofern sie in ihrer Singularität normativ aufgefasst werden. 3.

Die allgemeine philosophische Relevanz des Beispiels – zur Idee des Bandes

Die zuvor skizzierten Thematisierungen des Beispiels und des Exemplarischen im Rahmen von Rhetorik, Didaktik bzw. Theorie der Bildung und Ästhetik umkreisen mit verschiedenen Interessenrichtungen und in unterschiedlichen Akzentuierungen die Funktion von Beispielen, im Ausgang von einem Individuellen Einsichten und Orientierungen zu gewinnen, die über den individuellen Einzelfall hinausweisen. Insbesondere das exemplarische Verständnis von Beispielen vermittelt dabei ein Allgemeines und Prinzipielles, das als normativer Leitfaden zu dienen vermag. Allerdings führt das Resultat des exemplarischen Denkens nicht zu einem propositional explizierbaren theoretischen Wissen. Was hier vermittelt wird, ist vielmehr eine Praxis, ein Stil des Umgangs mit dem Einzelnen, der dieses aufgreift und weiterführt. Wer Exemplarisches verstanden hat, kann in einer bestimmten Weise handeln. Vor diesem Hintergrund lässt sich die eingangs skizzierte Differenz zwischen bloß illustrativen Beispielen einerseits und exemplarischen Beispielen ande­ rerseits mit Blick auf eine jeweils andere Einstellung charakterisieren.47 Während nämlich der Umgang mit illustrativen Beispielen im Wesentlichen kognitiv orientiert ist, leitet das exemplarische Beispiel eine ihm folgende 45 46

47

Vgl. Cavell, Aesthetic Problems of Modern Philosophy. Vgl. Agamben, Signatura rerum; Derrida, La vérité en peinture; Lowrie und Lüdemann (Hrsg.), Exemplarity and Singularity; Lück et  al., Archiv des Beispiels; Schaub, Das Singuläre und das Exemplarische; Güsken, Beispiele geben; Summa und Mertens, Introduction. Zum Folgenden vgl. Mertens, Esemplarità, S. 221 f.

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Praxis an. Pointiert hat Kant diese Differenz in seiner Metaphysik der Sitten herausgestellt: Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Thunlichkeit oder Unthunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere (concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs.48

Ein illustratives Beispiel versteht daher, wer es einer explizierbaren allge­ meinen theoretischen Einsicht unterordnet, für den das Beispiel als Beispiel fungiert. Dies zeigt sich auch daran, dass im Prozess des Erkennens die begriffliche Bestimmung des Allgemeinen, unter das das Beispiel subsumiert wird, zeitlich vorangegangen sein muss. Ein exemplarisches Beispiel ist hingegen im systematischen und zeitlichen Zusammenhang ein Erstes. Es ist Ausgangspunkt einer von ihm angeleiteten Praxis. Das Tun folgt hier im sachlichen und temporalen Sinne dem Beispiel. Man kann aus der Einsicht in den konstitutiven Bezug des Exemplarischen auf eine Praxis unterschiedliche Konsequenzen ziehen. Auf der einen Seite lässt sich der Versuch machen, ein spezifisches Verständnis des Allgemeinen zu entfalten, das der besonderen Form der eine Praxis leitenden exemplarischen Einsicht entspricht. Einen Vorschlag dazu unterbreitet Kant in seinen verstreuten Bemerkungen zum Exemplarischen in der Kritik der Urteilskraft, wenn er, wie oben erwähnt, aufzeigt, inwiefern ästhetische Urteile als ein eigener Typ intersubjektiv geteilter allgemeingültiger Urteile verstanden werden können. Demgegenüber steht auf der anderen Seite eine weniger optimistische Deutung der Möglichkeit, dem Exemplarischen eine intersubjektiv und allgemein geltende Orientierung zu entnehmen. Sie findet sich in Wittgensteins Reflexionen zum Beispiel in seinen Philosophischen Untersuchungen. Wittgensteins Pointe besteht in der konsequenten Preisgabe eines mit dem Beispielgeben verknüpften Anspruchs auf Allgemeinheit. Dem Beispiel ist keine 48

Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Teil, § 52, Anm. AA06, S. 479 f. – Kants Verständnis des Exempels fällt an dieser Stelle allerdings nicht mit seinem Begriff des Exemplarischen in der Kritik der Urteilskraft zusammen. Denn während das Exempel in der Metaphysik der Sitten als Fall einer praktischen Regel bezeichnet wird, betont Kant in der Ästhetik, dass wir für das Exemplarische gerade keine Regel anzugeben vermögen. Die Gemeinsamkeit zwischen Exempel und Exemplarischem bei Kant besteht allerdings in der Hinordnung auf eine praktische Orientierung – sei es im Sinne einer moralischen Orientierung wie beim Exempel, sei es, wie beim Exemplarischen, im Verhältnis zur ästhetischen Mitteilbarkeit.

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allgemeine Orientierung oder Regel zu entnehmen, die man nur noch nicht zu formulieren vermag. Beispiele gehen vielmehr in ihrem Gebrauch auf, so dass jeder Versuch, das Beispiel zu erklären, letztlich nur wiederum auf ein Beispiel verweisen kann. Pointiert heißt es in § 71 der Philosophischen Untersuchungen: Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinne verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden. Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermangelung eines Bessern.49

Hier gibt es keinen theoretischen Überschuss, der über das konkrete Beispielgeben hinausweist. Wenn ich jemandem etwa einen Begriff, den er noch nicht besitzt, erkläre, so „werde ich die Worte durch Beispiele und durch Übung gebrauchen lehren. – Und dabei teil ich ihm nicht weniger mit, als ich selber weiß.“50 Die Idee des vorliegenden Bandes lässt sich als Versuch verstehen, trotz oder auch gerade wegen der zuvor thematisierten theoretischen Schwierigkeiten das Exemplarische in seiner funktionalen Rolle und Bedeutung genauer zu analysieren. Die verschiedenen Beiträge machen dabei deutlich, wie die oben skizzierten Einsichten aus den Bereichen der Rhetorik, der Didaktik und der Ästhetik für eine allgemeine philosophische Bestimmung und Bewertung des Beispielhaften und Exemplarischen im Bereich von Erkennen und Handeln, aber auch in den Kontexten wissenschaftlicher Selbstverständigung in den Natur-, Human- und Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden können. Denn auch wenn konkrete exemplarische Beispiele nicht oder zumindest in relevanten Hinsichten nicht auf ihre explizierbaren Gehalte hin befragt werden können, so lässt sich doch die Praxis des Beispielgebens und Exemplifizierens in ihrer allgemeinen Struktur und Funktionsweise genauer bestimmen. Wie die Beiträge zeigen, können dabei sehr unterschiedliche Aspekte und Aufgaben der Verwendung von Beispielen herausgestellt werden. Gleichwohl übernimmt der Rekurs auf Beispiele und Exempla stets grundlegende Aufgaben im Kontext unseres Strebens nach Wissen und Einsicht oder praktischer Orientierung. Denn Beispiele werden gegeben, weil das Gesuchte (noch) nicht oder (noch) nicht hinreichend bestimmt werden kann. Sie knüpfen an etwas Konkretes und Individuelles an, das Suchenden zunächst verfügbar 49 50

Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 71. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 208. Vgl. auch §§ 209 und 210.

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ist und dem zugleich eine weiterreichende Bedeutung abgewonnen werden kann. In dieser Rolle ist das Exemplarische eine Denkfigur, die sich in allen Bereichen des Wissens und Handelns findet, insofern jedes Wissen und jede praktische Orientierung zunächst in einem Tun erworben werden muss. Das Exemplarische nimmt diese Dimension des Strebens und der Suche nach Wissen und nach praktischer Orientierung in den Blick. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind drei Teilen zugeordnet. Der erste Teil enthält Reflexionen auf die erkenntnisleitende Funktion von Beispielen. Ihm folgt eine Konkretisierung im zweiten Teil, der mit Blick auf verschiedene Wissenschaften die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Exemplarischen herausstellt. Die Kapitel des dritten Teils schließlich richten ihre Aufmerksamkeit auf die praktisch-orientierende Bedeutung von Beispielen. Die verschiedenen Beiträge fokussieren dabei je andere Hinsichten und Aspekte des Beispielhaften und Exemplarischen. Sie liefern insofern ihrerseits exemplarische Zugänge zu verschiedenen Funktionen des Beispielgebens und zeigen auf Basis von einzelnen Einsichten in begrenzten Forschungskontexten, in welchem Sinne das Exemplarische eine fruchtbare Denkfigur für menschliches Erkennen und Handeln ist. Exemplarisches Denken, so die allgemeine These dieses Bandes, ist auf den Erwerb von Einsichten gerichtet. Das Beispielgeben ist daher stets mit der Aufgabe erkenntnisleitender Funktionen verbunden. Wie die Beiträge im ersten Teil aus verschiedenen Perspektiven zeigen, können Beispiele Gedanken initiieren und Einsichten erzeugen. Die damit verbundene wesentliche kreative Dimension des Exemplifizierens stellt Karen Joisten in ihrem Beitrag heraus. Ihre Diskussion unterschiedlicher Typen von Experimenten (gedanklicher im Verhältnis zu physischen Experimenten, philosophischer Gedankenexperimente oder am Leitfaden des narrativen Zugangs zur Selbsterfahrung gewonnener ‚Aneignungsexperimente‘) macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass jede Innovation auf anthropologisch verankerten Möglichkeiten bestimmter Exemplifikationen beruht. Beispiele dienen aber auch dem Erwerb und der Vermittlung von Wissen. Dabei ist ihre didaktische Funktion eigens zu begründen. Als einen Versuch in dieser Richtung lassen sich die Ausführungen von Thomas Buchheim verstehen. Mit Hilfe des aristotelischen Gedankens eines Primats der tätigen Wirklichkeit gegenüber der Materie skizziert er die Idee einer metaphysischen Grundlegung des exemplarischen Lernens. In einer Analogie zum Primat der energeia gegenüber der dynamis in den Prozessen, die die Natur charakterisieren, wird dabei der didaktische Prozess verstanden. Dieser zielt nicht darauf ab, eine Vollkommenheit darzustellen, sondern sie dem Lernenden zu vermitteln.

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Das Exemplarische ist in diesem Kontext als das zu begreifen, an dem sich die exemplifizierte Form deutlich von der exemplifizierenden Materie unterscheiden lässt. Didaktische Kontexte, Plausibilisierungen oder auch Veranschaulichungen von etwas, das zunächst schwer fasslich ist, machen deutlich, dass neben dem Exemplarischen der Typus des illustrativen Beispiels eine wichtige eigene Funktion hat. Denn auch dort, wo ein Allgemeines bestimmt werden kann, steht das bloße Abzielen auf die Allgemeinheit im Gegensatz zu unserem Bedürfnis, das Abstrakte und Allgemeine zugleich in seiner konkreten Bedeutung zu erfassen. Exemplarisches und Beispielhaftes übernehmen daher je eigene Aufgaben und lassen sich in verschiedenen Kontexten aufweisen. So untersucht Thomas Zingelmann in seinem Beitrag zwei unterschiedliche Weisen des Ausstellens und des Zeigens, die den beiden wesentlich verschiedenen Funktionen des Beispielgebens korrelieren: Der Ausstellung einer Kollektion, bei der die einzelnen Exemplare ‚Exemplare von etwas‘ sind, steht die Ausstellung einer Konstellation gegenüber, bei der Exemplare ‚exemplarisch für etwas‘ sind. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Allgegenwart von Beispielen im Zusammenhang der Formulierung des wissenschaftlichen und philoso­ phischen, aber auch des alltäglichen Wissens und Forderns im Rekurs auf das Bedürfnis erklären, universelle und abstrakte Gedanken und Prinzipien zu veranschaulichen. Beispiele sind in diesem Sinne nie bloße Beispiele, sondern sichern die Praxis eines jeden Erwerbs von Einsicht. Erst wer ein passendes Beispiel zu geben vermag, hat eine Sache verstanden. In alltäglichen Erkenntnissen, Erklärungen oder Aufforderungen, aber auch in Lehrbüchern, Vorlesungen, Vorträgen operieren wir daher immer wieder mit Beispielen und verwenden diese nicht nur zwecks Illustration, sondern auch heuristisch, ostensiv und paradigmatisch-normativ. Doch Beispiele können auch scheitern – das ist die Pointe des Beitrages von Markus Heuft mit Blick auf die philosophische Theoriebildung. Ausgehend von Aristoteles’ Bestimmung als Zeugen vermögen unangemessene Beispiele den Sprechenden selbst übel beleumden. Und indem Beispiele gerade in der Philosophie häufig die Funktion haben, die Referenz der Theorie zu sichern, können sie der Argumentation in verheerender Weise zuwiderlaufen. Vor einer solchen Gefahr gefeit ist eine Philosophie, die die heuristische Funktion von Beispielen betont, sich entlang an Beispielen entfaltet und gegebenenfalls auf einen umfassenden systematischen Anspruch verzichtet. Ein bevorzugter Bereich, aus dem die philosophische Theorie ihre Beispiele bezieht, ist die Literatur. Ihre Exemplarität ist daher philosophisch von besonderem Interesse. Mario Farina wendet sich diesem Thema zu, indem er nach der Funktion fragt, die das literarische Material bei Adorno einnimmt. Dabei führt er aus, dass

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die Exemplarität literarischer Werke weder als Nachahmung der Wirklichkeit noch als Hervorbringung ideal-normativer Modelle für die Wirklichkeit zu verstehen ist. Vielmehr ist Literatur insofern exemplarisch, als sie gerade durch das literarische Material – d. h. durch den konkreten Stoff, der in literarische Form gebracht wird – Ausdruck und Kritik der Gesellschaft mit den ihr innewohnenden Konflikten ist. Welche vielfältigen Anschlussmöglichkeiten das exemplarische Denken für die wissenschaftstheoretische Reflexion bietet, verdeutlichen die Beiträge des zweiten Teils. Dabei wird deutlich, dass das Exemplarische sowohl in den Geistes- und Humanwissenschaften als auch in den Naturwissenschaften eine zentrale theoretische Rolle spielt, aber auch in Wissenschaften relevant ist, die sich, wie etwa die Psychiatrie, einer klaren Zuordnung zu dieser Dichotomie entziehen. So zeigt sich in der über das bloß Individuelle hinausweisenden, zugleich aber auf das konkrete Einzelne zurückbezogenen Bedeutung des Exemplarischen eine charakteristische Eigentümlichkeit der historischen Forschung, ja der geistes-, kultur- und humanwissenschaftlichen Forschung insgesamt. Denn richtet sich in diesen Wissenschaften das Interesse auf das Einmalige, das Unwiederholbare, das ausgezeichnete Individuelle und Konkrete, dann stellt sich mit Blick auf ihren Wissenschaftscharakter die Frage, wie eine Wissenschaft als ein auf universale Geltung zielendes Unternehmen möglich sein kann, deren Gegenstand das Individuelle oder Einmalige ist. Eine mögliche Antwort auf diese wissenschaftstheoretische Problemlage könnte der Vorschlag bieten, die individuellen Gegenstände in den Geistes-, Kultur- und Humanwissenschaften von ihrem exemplarischen Charakter her zu verstehen.51 Varianten dieser Überlegung finden sich im Kontext des hermeneutischen, neukantianischen oder phänomenologischen Denkens. Wie bedeutsam neben solchen Versuchen hier auch die Spätphilosophie Wittgensteins sein kann, die jeglichen Anspruch auf Allgemeinheit und auf eine als Gesetz verstandene Regelhaftigkeit des Beispiels abzuweisen scheint, zeigt der Beitrag von Silvana Borutti. Exemplarität wird hier verstanden als ein leitendes Modell für die Methode in den Humanwissenschaften. In diesem Zusammenhang ist das Exemplarische nicht als konkreter Ausdruck einer Norm oder eines über das Konkrete hinausgehenden Ideals zu verstehen, sondern als Regel, die in den konkreten sozialen Konfigurationen entsteht, mit denen sich die Humanwissenschaften beschäftigen. Dieser Begriff der Exemplarität wird mit Hilfe von Wittgensteins Ausführungen zum Beispiel entwickelt. Besondere Beachtung erfährt dabei seine Aufforderung, keine Allgemeinheit und keine den Beispielen gemeinsame Form zu suchen, sondern bei der irreduziblen 51

Vgl. Mertens, Esemplarità.

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Pluralität der Beispiele zu bleiben und aus den Konfigurationen, die sich aufgrund ihrer Familienähnlichkeit abzeichnen, humanwissenschaftlich fruchtbar zu machende Gestaltstrukturen entstehen zu lassen. Der Rekurs auf Beispiele ist allerdings in bestimmten Bereichen der Geistesund Humanwissenschaften in Misskredit geraten. So scheint insbesondere in den Geschichtswissenschaften die Formel von der Geschichte als magistra vitae ihren wissenschaftlichen Wert eingebüßt zu haben. Demgegenüber setzt sich Karl-Heinz Lembeck kritisch mit der scheinbar überholten Charakterisierung der Geschichte als Vorbild oder Lehrmeisterin des Lebens auseinander und entwickelt einen Ansatz zur historischen Vorbildlichkeit, der gegenüber der Eindeutigkeit einer kohärenten historischen Erzählung die Vielfalt und die Spannungen hervorhebt, die den Geschichten innewohnen. Betont wird, dass die Anerkennung der Exemplarität von Geschichten die Verbindung zwischen anthropologischen und philosophischen Einsichten voraussetzt und sich der Verschränkung von personalem und kollektivem Gedächtnis mit ihren als-ob Gestaltungen verdankt. Dass der Blick auf das Exemplarische auch zur Selbstverständigung von Reflexionen beizutragen vermag, wie sie charakteristisch für eine Wissenschaft sind, die methodisch sowohl mit naturwissenschaftlichen als auch geisteswissenschaftlichen Methoden arbeitet, stellt Zeno van Duppen heraus. Gegen reduktionistische und naturalistische Ansätze in der Psychopathologie vertritt er die These, dass psychopathologische Analysen ihr Erklärungspotential auf der Basis ihres exemplarischen Charakters gewinnen. Dieses Potential ist unentbehrlich, wenn Psychopathologie als praktische Wissenschaft verstanden wird, die ein konstitutives Interesse an Diagnose, Prognose und Therapie hat. Unter Bezugnahme sowohl auf typologische Untersuchungen in der Psychopathologie als auch auf einen von Wittgenstein inspirierten Begriff der Exemplarität wird gezeigt, dass die exemplarische Beschreibung klinischer Fälle nicht nur einen heuristischen, sondern auch einen normativen Wert in Bezug auf die typologischen Konfigurationen spezifischer Pathologien hat, insofern jede individuelle Erfahrung in ihrer konkreten Verkörperung selbst zum exemplarischen Typus wird. Die zentrale Bedeutung wissenschaftsleitender, ja wissenschaftskonsti­tuti­ ver Paradigmen für die Etablierung wissenschaftlicher Theorien hat Thomas S. Kuhn mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften in seinem berühmten Buch über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen herausgestellt.52 Wie grundsätzlich und radikal dabei der Rekurs auf Beispiele 52

Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.

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wissenschaftliche Theorien in der Physik begründet, zeigt Michael Esfeld. Er widerspricht der allgemein akzeptierten Annahme, dass das Beispiel in der Physik zur Veranschaulichung oder Verdeutlichung eines Gesetzes mit allgemeiner Gültigkeit dient. Eine nähere Betrachtung der Rolle und des Umfangs, den Beispiele in der Physik tatsächlich haben, verdeutlicht nämlich, dass eine Theorie nur in ihrer spezifischen Form für das als Beispiel angeführte Phänomen gültig ist und dass jede Ausweitung des Bereichs der Anwendungsphänomene bzw. die Suche nach anderen Beispielen letztlich den Rahmen der gegebenen Theorie sprengt und eine Anpassung der Theorie selbst erfordert. In diesem Sinne ist die Annahme, dass das Beispiel ein Beispiel unter vielen für ein allgemeingültiges Gesetz ist, wenig plausibel. Das Beispielphänomen verkörpert stattdessen das Gesetz und definiert zugleich den Umfang und die Grenzen seiner möglichen Anwendung. Auch Andreas Hüttemann beschäftigt sich in seinen Überlegungen mit der Bedeutung des Exemplarischen für die Epistemologie der Naturwissenschaften. Die Differenz zwischen dem Exemplar als Individuum, das als Modell für andere fungiert, und dem Exemplar als Einzelobjekt oder Fall, der ein Allgemeines veranschaulicht, wird hier im Sinne einer vierfachen Unterscheidung präzisiert, nach der Exemplar verstanden werden kann als: (1) konkretes Beispiel eines Modells oder konkrete Anwendung eines Gesetzes, (2) ausgezeichnetes Beispiel bzw. konkreter Fall der Anwendung eines Gesetzes, in dem die charakteristischen Merkmale des Gesetzes am deutlichsten hervortreten, (3) Individuum, das als Modell oder Leitfaden für andere Objekte fungiert, und (4) abstraktes Muster oder Modell, dem mehrere Individuen entsprechen können. Hinsichtlich der Beantwortung der Frage, wie der exemplarische Charakter von Naturgesetzen auf Basis dieser Unterscheidung zu verstehen ist, argumentiert Hüttemann, ähnlich wie Esfeld, dass die Exemplifizierung eines Modells sich mit dem abstrakten Modell selbst deckt und dass diese Konvergenz die Interpretation des Konzepts des Paradigmas oder paradigmatischen Beispiels bei Kuhn ermöglicht. Felice Masi beschäftigt sich mit der Exemplifikation und ihrer epistemischen Funktion im Rahmen einer doppelten Kritik: zum einen kritisiert er die Annahme, dass Ähnlichkeit das Kriterium für die Definition eines Beispiels ist, zum anderen weist er die Konzeption des Beispiels als Besitz plus Referenz (Nelson Goodman) zurück. Dementgegen argumentiert er dafür, dass Beispiele eine paradigmatische Funktion im Sinne Kuhns haben: Als paradigmatisch werden sie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft einer bestimmten Zeit geteilt und prägen eine wissenschaftliche Theorie. Dies erweist laut Masi auch die Unzulänglichkeit einer Theorie der Exemplarität, die auf Ostension beruht, wie die Diskussion des Gedankenexperiments der Zwillingserde zeigen soll.

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Exemplarität zeichnet überdies einen wesentlichen Aspekt des praktischen Wissens aus, mit dem sich die Beiträge des dritten Teils beschäftigen. Das mit dem Exemplarischen verbundene induktive Denken kann geradezu als ein Grundzug praktischer Orientierung verstanden werden, der den instrumentalistischen Modellen der gegenwärtigen Standardtheorien des Handelns und praktischer Rationalität ergänzend an die Seite gestellt werden kann und muss.53 Die hier relevante Denkfigur ist nicht neu. In personaler Wendung wird das Exemplarische seit der Antike als Vorbild verstanden. So ist in der aristotelischen Ethik die Frage der Orientierung eines situativ angemessenen Handelns wesentlich auf Handelnde bezogen, die die gefor­ derten Haltungen personal verkörpern. Was es etwa heißt, gerecht, klug oder couragiert zu sein, lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern lebt uns der Gerechte, Kluge oder Couragierte vor. Jörn Müller diskutiert die praktische Dimension der Exemplarität entlang der ethischen und politischen Schriften Ciceros. Seine Hauptthese lautet, dass Exemplarisches hier anders als in der Rhetorik nicht nur eine rein illustrative Funktion hat, sofern es in diesem Kontext als Prototypisches und Vorbildhaftes verstanden wird. Der singuläre Fall birgt in seiner praktischen Philosophie eine exemplarische Normativität in sich und ist als leitender Typus und als Modell zu nehmen. Damit verbindet sich bei Cicero die Einsicht, dass exemplarische Vorbilder in ihrer handlungsorientierenden Funktion nicht einfach nachzuahmen sind, sondern in erster Linie ein Modell anbieten, das sich jeder kritisch aneignen muss. Diese Konzeption, die eine Neudeutung der römischen exempla-Ethik darstellt, hat gewichtige Implikationen für die ethische und geschichtsphilosophische Reflexion im Sinne einer exemplarist moral theory: Denn Cicero arbeitet so heraus, wie man an (und eben nicht: aus) historischen Beispielen lernen kann, wodurch zugleich eine Schulung der individuellen Urteilskraft erreicht wird. In diesem Zusammenhang ließe sich auch eine Einsicht aus Kants Ästhetik auf das praktische Wissen übertragen: So unterscheidet Kant im Rahmen seiner Bestimmung des Genies zwischen Nachahmung und Nachfolge.54 Während die reflektierende Urteilskraft bei der Nachfolge das Vorbild interpretiert und produktiv unter veränderten Umständen anwendet, handelt es sich im Fall der Nachahmung um eine bloße (fast maschinelle) Kopie, die nichts Neues bringt. Was in solchen Überlegungen thematisch wird, ist die Frage, wie wir uns praktisch zu orientieren vermögen. Die Kantische Unterscheidung verweist dabei auf das Defizitäre einer Orientierung an Beispielen, die ohne die Fähigkeit einer weiterführenden Entfaltung bleibt. Ihr gegenüber steht die 53 54

Millgram, Practical Induction. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft AA05, S. 308 f.; 318; 282 f.

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exemplarische Bedeutung praktischer Beispiele, die wesentlich mit dem verbunden ist, was traditionell mit dem Konzept der Klugheit thematisiert wird. Christoph Horns Beitrag verfolgt diese Linie. Untersucht wird hier der Begriff des Exemplarischen im Verhältnis zur Urteilskraft als epistemische Fähigkeit, die für die Anwendung, Konkretisierung und situative Entscheidung erforderlich ist. Das Exemplarische bezieht sich dabei auf das, was eine Entscheidung und weiter die konkrete Handlung zu orientieren vermag. Auf Basis des exemplarischen Urteilens lässt sich ferner bestimmen, was als angemessene und begründete Entscheidung innerhalb eines bestimmten Handlungskontextes gilt und wie Handelnde dementsprechend konkret agieren sollen. Die exemplarische Kennzeichnung von Kriterien für das konkrete Urteilen in Situationen wird hier insbesondere mit Hilfe von Überlegungen bei Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant und Heidegger analysiert. Die Weise, wie Exemplarisches unsere Praxis zu orientieren vermag, lässt sich als Kennzeichen des Regelverstehens und Regelfolgens überhaupt begreifen. Die Beschäftigung mit dem Exemplarischen im Kontext der praktischen Philosophie scheint damit einer gewissen Einseitigkeit der praktischen Philosophie entgegenzuarbeiten. Denn in der Fokussierung auf die Explikation und Legitimation normativer Orientierungen ist die Frage der Erfassung von Regeln, Normen, Forderungen üblicherweise als Problem von Klugheit und Urteilskraft aus dem Kernbereich der philosophischen Ethik und Normentheorie ausgelagert worden. Sie ist aber, so der diesen Teil des Bandes leitende Gedanke, für unser Verständnis des praktischen Wissens zentral. Entsprechend breit sind die Manifestationen des Exemplarischen im Bereich menschlicher Praxis. Die Fruchtbarkeit eines Ansatzes, der die Vielfalt der Beispiele nicht zu reduzieren versucht, sondern innerhalb einer dynamischen und konflikthaften Auffassung des Politischen aufwertet, untersucht Matthias Flatscher. Im Rekurs auf Wittgensteins Reflexionen über Beispiele betont er, dass Beispiele nicht nur keine bloße Illustration für ein Allgemeines sind, sondern dass sie das vermeintliche Equilibrium zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen grundsätzlich in Frage stellen. Die Pluralität von Beispielen und die konstitutive Möglichkeit, Beispiele zu vermehren und dadurch konflikthafte Dimensionen zu thematisieren, unterliegt einer Offenheit, die jede Theorie beunruhigt. In der politischen Theorie wird dieser Aspekt der wittgensteinschen Beispielsanalyse produktiv von Chantal Mouffe aufgenommen. Nach ihrem Verständnis enthält die politische Theorie nicht nur eine Kritik von universalistischen ethischen und normativen politischen Theorien, sondern immer auch eine Aufforderung zur Selbstkritik. Die Konfrontation mit der Alterität, die das Beispiel im Sinne Wittgensteins kennzeichnet und Mouffe

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als ‚Ethik der Demokratie‘ beschreibt, impliziert zugleich eine Affirmation der agonistischen Pluralität und der für eine Demokratie charakteristischen sowie produktiv zu lesenden Konflikte. Der Exemplarität im Kontext von Recht und Politik ist der Beitrag von Alessandro Ferrara gewidmet. Untersucht wird die Rolle der unser Urteilsvermögen leitenden normativen Funktion der Exemplarität in der Reflexion im Bereich von Politik und Recht. Besonders berücksichtigt werden dabei Rawls’ Analysen des Vernünftigen (reasonable), als Eigenschaft politischer Akteure und als Maßstab öffentlicher Vernunft, sowie Ackermans Diskussion der auf Basis von Meilensteingesetzen oder beispielhaften Präzedenzfällen beruhenden exemplarischen Verfassungsänderungen in den USA im 20. Jahrhundert. Schließlich unterscheidet Ferrara in seinem Beitrag verschiedene Arten von Exemplarität im öffentlichen Raum und vergleicht sie mit anderen Arten von Exemplarität. Christian Bermes geht es um eine Analyse der öffentlichen Meinung als eine Form des Exemplarischen. Herausgearbeitet wird, dass die öffentliche Meinung von dem Konzept der Meinung, nicht von dem Begriff der Öffentlichkeit verständlich wird und dass das Verstehen von Meinungen als ein Umgang mit Exemplarischem zu begreifen ist. Dieser Ansatz kann ebenso als eine Reformulierung des Husserlschen Lebensweltkonzepts verstanden werden. Urteilskraft setzt dann ein und ist vonnöten, wenn Exemplarisches zum Thema und das Exemplarische auf seine paradigmatische Valenz betrachtet wird. Dies ist im Falle der öffentlichen Meinung nicht anders, in der nicht einfach eine postulierte Verbindlichkeit zum Ausdruck kommt, sondern die vielmehr selbst erst einzuordnen ist. In diesem Sinne lässt sich von einer exemplarischen Gültigkeit der öffentlichen Meinung sprechen, auf die etwa auch Hannah Arendt zurückkommt, wenn sie Kants Überlegungen zum ästhetischen Urteil in politischer Hinsicht aufnimmt, allerdings in anderer Weise auslegt. Der Charakter der unbestimmten Bestimmtheit, der für die Lebenswelt und ihre Formen kennzeichnend ist, ist auch der Doxa und damit der öffentlichen Meinung eigen. Sie kann jedoch nicht als eine defizitäre Form der Erkenntnis verstanden werden; sie stellt vielmehr einen Modus des intersubjektiven und gemeinschaftlichen Teilens exemplarischer Sinngebungen dar. Die verschiedenen Zugänge zum Beispielhaften und Exemplarischen, die in den einzelnen Beiträgen entfaltet werden, machen die Fruchtbarkeit dieses in der Philosophie viel genutzten, aber nur vereinzelt reflektierten Denktyps offenbar. Sie bleiben dem Charakter ihres Themas entsprechend beispielhafte Annäherungen, die auf kritische Fortsetzung und mögliche Alternativen verweisen. Denn Beispiele können aufgegriffen, entfaltet und modifiziert werden; stets aber bieten sie nur mögliche Ansätze, neben denen andere stehen, die ebenso eine Aus- und Weiterführung eröffnen können.

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Bei der Erstellung des Bandes haben wir vielen Personen zu danken. Unser erster Dank gilt selbstverständlich allen Autorinnen und Autoren, die sich bereit erklärt haben, sich mit dem Exemplarischen im Umkreis ihrer jeweiligen Forschungsinteressen genauer zu beschäftigen und einen Beitrag zu verfassen. Ohne sie wäre dieses Projekt bloße Idee geblieben. Dem Verlag Brill Mentis danken wir für die Bereitschaft, den Band in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Betreut wurde das Projekt im Verlag zunächst von Michael Kienecker, dem nach seinem Ausscheiden Stephan Kopsiecker folgte. Für die immer ebenso freundliche wie konstruktive Zusammenarbeit möchten wir uns bei beiden sehr herzlich bedanken. Herzlich zu danken haben wir schließlich auch Lukas Beckmann, Hannah Märkl und Carina Middel, die die Artikel redaktionell angepasst und Korrektur gelesen haben. Die Übersetzung des Artikels von Alessandro Ferrara aus dem Englischen hat dankenswerterweise Benjamin Stärr übernommen, den englischen Originalartikel von Zeno van Duppen hat Lukas Beckmann übersetzt, die zwei im Original italienisch verfassten Artikel von Silvana Borutti und Felice Masi hat Michela Summa ins Deutsche übertragen. Finanziell unterstützt wurde das Projekt durch einen Durckkostenzuschuss mit Mitteln aus dem „Nachlass Schechner“.55

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Für ihr kritisches Feedback zu einer ersten Fassung dieser Einleitung danken wir unseren Würzburger Kollegen Diego D’Angelo und Jörn Müller.

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I. Teil Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Exemplarischen

Der Prozess des Variierens, Exemplifizierens und Mimetisierens Exemplarische Zugänge menschlicher Kreativität Karen Joisten Wendet man sich dem stark variierenden und nicht klar strukturierten Themengebiet des Exemplarischen, des Exempels, des Exemplars, des Beispiels und des Exemplum zu, ist das alles andere als einfach. Eine Schwierigkeit liegt bereits darin, einen Oberbegriff zu finden, der diesem Themengebiet angemessen Ausdruck verleiht. Kann der Oberbegriff durch das hier relevante Grundwort ‚das Exemplarische‘ benannt werden? Oder eher durch das Wort ‚Exempel‘? Je nach Assoziation und Vor-Urteil, die mit dem jeweiligen Wort verbunden werden, könnten beide Worte einen semantisch-inhaltlichen Führungsanspruch für sich behaupten. Wird etwas exemplarisch angeführt, dient es beispielsweise (sic!) dazu, eine Sache zu stützen oder sie zu veranschaulichen; und ein Exempel kann statuiert werden, um ein warnendes Beispiel (sic!) zu geben, das andere davor abschrecken soll, eine vergleichbare Untat zu begehen. Sollte angesichts dieser Zugänge vielleicht das Wort ‚Beispiel‘ hierarchisch übergeordnet werden? Immerhin war es ein gutes Hilfsmittel, um beide Worte zu erläutern. Und wie steht es um das Wort ‚Exemplum‘? Irgendwie erscheint es sperrig und unzugänglich, auch dadurch bedingt, dass es im Alltag kaum Gebrauch findet. Neben der angedeuteten Diffusität des genannten Themengebietes ist auch der Kontext zu berücksichtigen, innerhalb dessen es verortet wird. Im Kontext einer strengen Wissenschaft, in der u. a. die Kategorien: Tatsache, Allgemeingültigkeit, Strenge und Objektivität leitend sind, haben sich die genannten Worte diesen Kategorien unterzuordnen. Exemplarisches und Beispielhaftes wird dann an den Stellen angeführt, an denen die Anschauung Hilfestellungen benötigt, um das Abstrakte und das in der reinen Vernunft/Rationalität Präsente zu konkretisieren und dem Verstehen zugänglich(er) zu machen. Begibt man sich in einen anderen Kontext, und zwar den von Kultur-, Lebensund Sozialwissenschaften, werden in der Regel mit Hilfe von empirischen Studien solche Erkenntnisse angezielt, die auf der Basis der Auswertung dieser Studien zustande kommen sollen. Auch in dieser wissenschaftlichen Rahmung sind Exemplarisches und Beispielhaftes von Relevanz, allerdings – da es auch hier um Wissenschaften und deren Anspruch geht – ebenfalls mit einer dienenden Funktion. Und noch ein dritter Kontext ist hier aufzugreifen.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_002

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Im Kontext lebensweltlichen Wissens, in dem das Deuten, Interpretieren und Verstehen von Erfahrungszusammenhängen den primären Zugang darstellt, ist der Rückgriff auf Exemplarisches und Beispielhaftes selbstverständlich. Er dient dazu, das Konkrete und das in der Erfahrung Präsente zu vergegenwärtigen und es dadurch besser – und das heißt aus dieser Perspektive – schneller und vielleicht sogar tiefer verstehen zu können. Was haben wir durch diese Überlegungen gewonnen? Will man einen Beitrag zum Exemplarischen und/oder zu einem der anderen genannten Grundworte/Einzelthemen (Exempel, Beispiel, Exemplum, Exemplar etc.) leisten, ist es erforderlich, eine Klärung der Begrifflichkeiten vorzunehmen. Diese kann durch eigene gedankliche Vorannahmen, die man auch als Vor-Einstellungen bezeichnen kann, vollzogen werden, wie im Absatz zuvor – indem unter der Hand Exemplarisches und Beispielhaftes synonym verstanden und als Veranschaulichungen angesehen wurden – oder durch Rekurs auf die Tradition, in der sich andere Personen diesem Klärungsprozess mit Hilfe ihrer eigenen Vor-Einstellungen innerhalb ihres geistigen Horizontes unterzogen haben. Zu ergänzen ist, dass der innere Zusammenhang und die Unterschiede zwischen rein wissenschaftlichen, empirisch-wissenschaftlichen und lebensweltlichen Zugängen reflektiert werden müssten, um die Grundworte angemessen kontextualisieren zu können. Und schließlich könnte – und das richtet sich an den jeweiligen Anspruch – vielleicht sogar etwas Neues, Originäres im Gedankengang aufscheinen, damit ein weiterer Beitrag zu diesem Themengebiet seine tiefere Berechtigung erhält. Im Folgenden wird ein Weg beschritten, der intuitiv, traditionell gesättigt und – vielleicht sogar – innovativ ist. Leitend ist die Intuition, dass ein innerer Zusammenhang zwischen folgenden drei Experimenttypen besteht: – der Experimenttypus, bei dem das Gedankenexperiment und das „physische Experiment“ zusammengehören; dieser wurde von Ernst Mach erläutert, – der Experimenttypus: „philosophisches Gedankenexperiment“, der insbesondere in den letzten 10–15 Jahren stärker reflektiert wurde, auch wenn er in der gesamten philosophischen Tradition zu finden ist, – der Experimenttypus: Aneignungsexperiment, wie ich ihn nennen möchte, bei dem die Selbstveränderung des Menschen im Zentrum steht. Ziel ist es, in all diesen Experimenttypen in je spezifischer Weise den Prozess des Exemplifizierens aufzudecken, der jeweils zugleich mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse verbunden ist. Während der Experimenttypus, der bei Mach der Sache nach reflektiert wird, die pragmatische Dimension mit der gedanklichen und der physischen Dimension verbindet und entsprechend den Prozess des Exemplifizierens unter der Hand ins Zentrum rückt, stehen bei philosophischen Gedankenexperimenten die im Prozess des Exemplifizierens

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gewonnenen Exemplifikationen, worunter die sogenannten „kontrafaktischen Szenarien“ verstanden werden können, im Fokus des Erkenntnisinteresses.1 Das Aneignungsexperiment ermöglicht im Prozess des Exemplifizierens, der als ein Prozess der kreativen Nachahmung/Mimesis verstanden werden kann, ein Exemplar zu gewinnen, das die Selbstveränderung eines besonderen Menschen repräsentiert. 1.

Das Gedankenexperiment und das „physische Experiment“

Ernst Mach (1838–1916) hat erstmals systematisch-umfassender in seinem Beitrag „Über Gedankenexperimente“2 in seinem Buch Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung aus dem Jahr 1905 über Gedankenexperimente gearbeitet, weshalb er durchaus als ein (oder sogar der) Pionier einer Theorie der Gedankenexperimente bezeichnet werden kann. Mach hat die Relevanz eines Gedankenexperimentes im alltäglich-pragmatischen, im forschenden und – nicht zuletzt auch – im didaktischen Kontext dargelegt und dieses in seiner inneren Bezogenheit auf das, wie er es nennt, „physische Experiment“ erläutert und gedeutet. Schaut man sich die Ausführungen von Mach zu Gedankenexperimenten näher an, erkennt man, dass sie zunächst beim Experiment, genauer gesagt, beim Experimentieren ansetzen. Von besonderem Interesse ist, dass er das Experimentieren anthropologisch herleitet, da er den Menschen als genuin experimentierend deutet. Denn das Experimentieren ist dem Menschen als eine „instinktive Neigung“ angeboren, ebenso die Grundmethode des Experiments, die „Methode der Variation“, die der Mensch „ohne viel nach derselben zu suchen, in sich vorfindet.“3 Dem widerspricht Mach zufolge nicht, dass diese Reichtümer (Mach spricht von „Schätzen“) dem Menschen durchaus verloren gehen können: etwa dadurch, dass der Mensch gesellschaftlich bedingt auf engere Interessen festgelegt wird, oder aber auch einfach Vorurteile übernimmt, in der seine Selbstständigkeit nicht zum Tragen kommt, die untrennbar mit einem Experimentieren einhergeht. So hält er an dem fest, was ihm buchstäblich als eine Tatsache ‚vorgesetzt‘ wird, ohne sie einer Prüfung im

1 Siehe Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 19–22. 2 Mach, Über Gedankenexperimente, S. 169–185. 3 Mach, Über Gedankenexperimente, S. 169.

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Sinne einer, wie ich es nennen möchte, gedanklichen Modellierung und darin sich vollziehenden Veränderung zu unterziehen.4 Wichtig ist – und ich paraphrasiere Mach weiter –, dass der Intellekt in unterschiedlichen Graden beim Experimentieren beteiligt ist und sowohl bei den elementaren Bewegungsabläufen, die eher instinktiv ablaufen, als auch bei einem mit Hilfe des Denkens explizit ausgeführten Experiment immanent ist. Mach gibt ein anschauliches Beispiel für ein Experimentieren bei elementaren Bewegungen, das er durch Selbstbeobachtung gewinnen konnte. Seine rechte Hand war gelähmt und er musste daher mit einer Hand all das tun, was er zuvor mit beiden Händen bewerkstelligt hatte: Indem ich die Bewegungen mit der Richtung auf ein bestimmtes Ziel, wohl auch planlos und ungestüm, variierte, befand ich mich bald ohne viel Nachdenken, nur durch Festhalten, Angewöhnen des Förderlichen, im Besitze einer Menge kleiner Erfindungen. So lernte ich das Aufschneiden der Bücher und anderes. Entschieden durch Nachdenken aber fand ich ein Verfahren mit Zirkel, Lineal und mit Hilfe eines Gewichtes, als Ersatz der zweiten Hand, geometrische Zeichnungen auszuführen, sowie alle jene Kunstgriffe, für welche die Bewegungen meiner Hand überhaupt nicht ausreichten. Es ist kaum zu zweifeln, daß die Grenzen zwischen dem instinktiven und dem durch Denken geleiteten Experiment keine scharfe ist.5

Schaut man sich dieses Beispiel genauer an, sieht man, dass der Übergang von einem instinktgeleiteten Experiment und einem, das durch Nachdenken geleitet wird, fließend ist. So hat Mach zunächst instinktiv Bewegungen variiert, die zwar zielgerichtet waren, in ihren Ausführungen aber alles andere als geschickt bezeichnet werden konnten. Und dennoch führten sie zu „einer Menge kleiner Erfindungen“, führten also dazu, dass er auf einer pragmatischen Ebene die Herausforderung der körperlichen Einschränkung, nämlich nur noch mit einer Hand tätig werden zu können, in einem gewissen Grad ausgleichen konnte. Auf dieser Basis konnte er auf einer intellektuellen Ebene ein neues Verfahren entwickeln, mit dessen Hilfe er den Verlust der Tätigkeit der zweiten Hand sogar ersetzen konnte. So ist zunächst das „bloße Probieren“ und Variieren von Bewegungsabläufen vonnöten, an das sich dann „Denken und Vergleichung“ anschließen können.6 Auf dieser elementaren Ebene der Routine von Handlungen (man könnte veranschaulichend auch von Hand-lungen schreiben, um die Hand 4 Siehe zu Machs anthropologischer Ausrichtung: Kaulbach, Das anthropologische Interesse, S. 39–55. 5 Mach, Über Gedankenexperimente, S. 170. 6 Vgl. Mach, Über Gedankenexperimente, S. 170.

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hervorzuheben), die durch Störungen (wie Machs Beispiel seiner gelähmten Hand veranschaulicht) unterbrochen werden, ist es dem Menschen möglich, durch Probehandlungen (Probe-Hand-lungen) seine Gewohnheiten zu verändern. Habitualisierte körperliche Tätigkeiten werden auf diese Weise den neuen Bedingungen und Bedingtheiten unterworfen und auf Interessen ausgerichtet, um neue gelingende Handlungen gewinnen zu können. Mach bleibt aber nicht bei diesem Beispiel stehen, in dem seine eigene Erfahrung zur Sprache kommt. Vielmehr schlägt er von diesem den Bogen hin zu den Erfindungen in der prähistorischen Zeit, und sogar zu Tieren, bei denen ebenfalls auf einer elementaren Ebene, wenn auch sehr in ihrer „Enge des Interessenkreises“, Experimente zu erkennen sind. Anschaulich führt Mach einige Beispiele an: Die ungestümen Bewegungen eines Hamsters, die den Deckel einer Büchse, in welcher er Futter wittert, bei aller Planlosigkeit endlich doch zum Fallen bringen, stellen wohl die roheste Stufe vor. Interessanter sind schon die Hunde  C.  Lloyd  Morgans, welche nach mehreren Versuchen einen Stock mit schwerem Knopf zu tragen, denselben nicht mehr in der Mitte, sondern nahe am schweren Ende (im Schwerpunkt) fassen, und ebenso nach fruchtlosen Anstrengungen den in der Mitte gefaßten Stock durch eine schmale Tür zu bringen, denselben an einem Ende packen und hindurchziehen. Diese Tiere zeigen aber dennoch wenig Fähigkeit, die Erfahrung eines Falles für den nächsten gleichartigen zu verwenden. Kluge Pferde sah ich durch Stampfen sorgfältig einen bedenklichen Steg untersuchen, und Katzen die Wärme der dargebotenen dampfenden Milch durch Eintauchen der Pfote erproben. Vom bloßen Prüfen durch die Sinnesorgane, dem Wenden der Körper, Wechsel des Standpunktes bis zu wesentlicher Änderung der Umstände, von der passiven Beobachtung zum Experiment, ist der Übergang ein ganz allmählicher.7

Das Experiment, das planmäßig durch das Denken gelenkt und geleitet wird, begründet laut Mach die Wissenschaft. Es kann mit ihm als das „physische Experiment“ bezeichnet werden, bei dem der Instinkt und die Gewohnheit ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Funktion haben, insofern „das feine Gefühl für die Bedeutung der Nebenumstände, die Geschicklichkeit der Hand“ auch in diesem präsent ist.8 Vor dem Hintergrund des physischen Experiments haben Machs Erör­ terungen zum Gedankenexperiment ihren Ort. Nachdrücklich unterscheidet er dabei Gedankenexperimente, die rein fiktiv sind, von solchen, die tatsachengebunden bleiben. Das Gedankenexperiment, das für ihn von Relevanz ist, ist 1. keine Leistung der Phantasie, die Umstände in einer Art und Weise 7 Mach, Über Gedankenexperimente, S. 171. 8 Vgl. Mach, Über Gedankenexperimente, S. 172.

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miteinander verbindet, wie diese in der Wirklichkeit nicht vorzufinden sind. Und es ist 2. keine Leistung der Phantasie, die Folgen an Umstände knüpft, die in der Wirklichkeit gar nicht mit den Umständen verbunden sind. Mit Hilfe dieser negativen Abgrenzung wird deutlich, dass Gedankenexperimente im Sinne Machs stets auf Vorstellungen als Inbegriff von guten Abbildern von Tatsachen basieren, also mit der objektiven Wirklichkeit verbunden sind. Und es wird deutlich, dass eine „Gedankenerfahrung“ vollzogen wird, durch die Neues entdeckt und erfasst werden kann. Hinzu kommt, dass wirklichkeitsnahe Vorstellungen, die – bildlich gesagt – im Kopf modelliert werden, im Menschen präsenter sind als physische Tatsachen: „Unsere Vorstellungen haben wir leichter und bequemer zur Hand, als die physikalischen Tatsachen. Wir experimentieren mit den Gedanken sozusagen mit geringeren Kosten. So dürfen wir uns also nicht wundern, daß das Gedankenexperiment vielfach dem physischen Experiment vorausgeht, und dasselbe vorbereitet.“9 Das physische Experiment, das wir heutzutage als ein physikalisches Experiment bezeichnen, kann von hier her als eine Fortsetzung des Gedankenexperimentes angesehen werden, da es zunächst gedanklich durchgespielt werden muss, bevor es dann tatsächlich ausgeführt wird. Anders gesagt: In Gedanken werden die Tatsachen variiert, die dann in einem physischen Experiment Umsetzung finden. Von hier her ist es möglich, auf die „Grundmethode“ aufmerksam zu machen, die für das Gedankenexperiment leitend ist: Wie man sieht, ist die Grundmethode des Gedankenexperimentes, ebenso wie jene des physischen Experimentes, die Methode der Variation. Durch wenn möglich kontinuierliche Variation der Umstände wird der Geltungsbereich einer an dieselben geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse wechseln.10

Ändert man demnach fortwährend die Gegebenheiten von Tatsachen und deren Zusammenwirken, indem eine spezialisiertere Erwartung auf diese vollzogen wird, ändert man zugleich die Gedanken und Deutungen, die von ihnen scheinbar feststehen. Auf diese Weise ermöglicht die Variation einen Variationsspielraum, in dem sich andere, neue Zugänge mit neuen Vorstellungen eröffnen können. Zwei weitere Theoriestücke können mit Mach kurz herausgegriffen werden, die mit den Überschriften: „das Raten“ und „das Paradoxe“ versehen werden 9 10

Mach, Über Gedankenexperimente, S. 173. Mach, Über Gedankenexperimente, S. 176.

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können. Üblicherweise ist in den Wissenschaften das Raten verpönt, legt es doch scheinbar Zeugnis von einem Nichtwissen ab: man weiß etwas nicht genau, rät und hofft dann doch das richtige Ergebnis mit dem nötigen Glück zu treffen. Umso erstaunlicher ist es, dass Mach die Relevanz des Ratens herausarbeitet: Wenn ein Gedankenexperiment kein bestimmtes Ergebnis hat, d. h. wenn sich an die Vorstellung gewisser Umstände keine sichere eindeutig bestimmte Erwartung eines Erfolges knüpft, so pflegen wir in der Zeit zwischen dem intellektuellen und physischen Experiment uns aufs Raten zu verlegen, d. h. wir nehmen versuchsweise eine nähere zureichende Bestimmung des Erfolges an. Dieses Raten ist kein unwissenschaftliches Verfahren. […] Bei näherem Zusehen wird es uns sogar klar, daß dieses Raten oft allein dem physischen Experiment, der natürlichen Fortsetzung des Gedankenexperimentes, die Form zu geben vermag.11

Was wird in diesem Zitat deutlich? Mit Hilfe des konstruktiven, entwer­ fenden Ratens wird eine Brücke zwischen dem intellektuellen und dem physischen Experiment gebaut. Wir wissen dann noch nicht genau, wie das physische Experiment wirklich aussehen soll, wissen noch nicht genau, wie die experimentelle Untersuchung durchgeführt wird, spielen aber gedanklich immer wieder dieses ‚Wie‘ der experimentellen Umsetzung durch. Bei einem solchen Prozess des Ratens kann es natürlich zu „Mißgriffen“ kommen, was aber – auch im Blick auf die Didaktik und die psychische Entwicklung des Menschen – für Mach nicht negativ zu bewerten ist: „Durch solche Mißgriffe wird aber das Gefühl für die Unterschiede des logisch, physisch und associativ Bestimmten oder Naheliegenden geschärft, man lernt endlich das Erratbare von überhaupt nicht Erratbarem unterscheiden.“12 Neben dem Raten darf auch das Paradoxe nicht vorschnell negativ bewertet werden. Denn mit Hilfe des Paradoxen kann die Natur eines Problems, also das, was es auszeichnet, gefühlt werden. So wird man von dem Problem völlig durchdrungen, kommt nicht mehr zur Ruhe und bleibt, wie man heute vermutlich sagen kann, beim Problematischen der Sache haften: „die widerstreitenden Elemente lassen auch die Gedanken nicht mehr zur Ruhe kommen, und lösen eben den Prozeß aus, den wir als Gedankenexperiment bezeichnet haben.“13

11 12 13

Mach, Über Gedankenexperimente, S. 179. Mach, Über Gedankenexperimente, S. 180. Mach, Über Gedankenexperimente, S. 181.

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So verstärkt das Paradoxe letztlich die Motivation, Neues zu entdecken und die Inkongruenz zwischen den Gedanken und den Tatsachen zu überwinden.14 Überblicken wir das Gesagte, können wir folgende Theoriestücke herausheben, die im Zusammenhang mit den konkreten ‚experimentellen‘ Handbewegungen, dem Gedankenexperiment und dem physischen Experiment bei Mach – insbesondere für unsere Themenstellung rund um das Exemplarische – von großer Bedeutung sind. Mach geht von der anthropologischen Deutung des Menschen als eines experimentierenden Wesens aus. Auch wenn Mach bei dem Wort „experimentierend“ sicherlich nicht an das lateinische Wort experiri gedacht hat, kann dieses mit den Bedeutungen von „erproben“, „versuchen“ und „prüfen“ die richtige Richtung anzeigen, die mit der anthropologischen Bestimmung einhergeht: der Mensch ist konstitutionell darauf aus, zunächst körperlich – vor allem, wenn er auf Widerstand stößt – Neues auszuprobieren, um sein Ziel zu erreichen, nämlich den Widerstand zu überwinden. Er vollzieht demnach – im Sinne einer conditio humana – den Prozess des modellierenden Exemplifizierens, um seine Interessen erfolgreich zielführend verfolgen zu können. Auf der körperlichen Ebene kann dies als ein handlungsgebundenes (Hand-lungsgebundenes) Probieren und Erproben gedeutet werden, bei dem die Handlungen Abweichungen von gewohnten Handlungsroutinen darstellen. Sie sind daher nicht völlig anders, stehen sie doch in einer relativen Differenz zu vertrauten Abläufen. Werden sie, weil sie erfolgreich waren, immer wieder ausgeführt, werden sie verinnerlicht und zu neuen Gewohnheiten und Habitualisierungen, die ohne Nachdenken ausgeführt werden können. Die mit der Hand vollzogenen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen bishe­ rigen Handlungen und neuen Handlungen sind analog zu denen zwischen dem bereits Gedachten und neuen Gedanken, wie sie ebenfalls für das 14

Folgt man den Ausführungen von J. Schneider in seinem Übersichtsartikel zum Begriff „Gedankenexperiment“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie, kann mit P. Duhem ein Einwand herausgearbeitet werden. Denn nach Duhem „liefert das G. nur postulierte Kausalbeziehungen, die durch das physische Experiment kontrolliert werden müssen; wer den vorbereitenden Charakter des G. übersieht, läuft Gefahr, G., die nicht realisiert werden können […], oder gar der Erfahrung widersprechende G. […] zu formulieren.“ Schneider, Gedankenexperiment, Spalte 62. Lässt man sich auf diesen Einwand ein, wird sichtbar, dass er an dem Verständnis eines Gedankenexperimentes bei Ernst Mach vorbeizielt. Achten wir nämlich nicht zuletzt auf den wichtigen Aspekt des Ratens, den wir am Ende kurz erläutert haben, liefert das Gedankenexperiment eine mögliche Formgebung für ein physisches Experiment. Dass es dabei auch nicht erfolgreich ist, ist kein Einwand gegen das Gedankenexperiment, sondern als ein Missgriff zu werten, an den sich ein weiteres, passenderes Gedankenexperiment anschließen kann.

Der Prozess des Variierens, Exemplifizierens, Mimetisierens

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Gedankenexperiment konstitutiv sind. Denn auch bei diesem wird durch die kontinuierlich sich vollziehende Variation von Gedanken ein kreativer Freiraum eröffnet, in dem durch die Variation Ähnliches gedanklich entstehen kann, das stimmig oder nicht stimmig, tragfähig oder schlichtweg auch falsch ist. Hinzu kommt, dass das Gedankenexperiment in ein physisches Experiment einmünden kann, indem es durch das Nachdenken einen Weg der Umsetzung des Gedachten in den physisch-physikalischen Bereich findet. Hier wird die gedankliche Erprobung experimentell vollzogen und Tatsachen und Gedanken in eine Kongruenz überführt, die zugleich den Inbegriff einer Veränderung darstellt. So kann der Mensch von den elementaren bis hin zu den höheren Vermögen Veränderungen von Handlungen und Gedanken vollziehen und diese wiederum für das Verständnis der Natur in physischen Experimenten fruchtbar machen. 2.

Philosophische Gedankenexperimente

Auch wenn sich philosophische Gedankenexperimente von den Vorsokratikern bis in unsere heutige Zeit hinein in der Philosophie finden, ist eine Theorie der Gedankenexperimente erst jüngeren Datums und, wie erörtert und näher erläutert wurde, zunächst mit dem Denken von Ernst Mach verbunden. Mittlerweile sind einige Publikationen zu den Möglichkeiten und Grenzen von philosophischen Gedankenexperimenten erschienen, in deren Zusammenhang auch Fragen nach dem Selbstverständnis der Philosophie verfolgt werden.15 So erweitern Gedankenexperimente den Spielraum kreativen, kritischen und dekonstruktiven Denkens, da sie keine reinen Phantasieprodukte sind – wie man vielleicht bei dem Wort ‚Gedankenexperiment‘ assoziieren könnte –, bleiben sie doch an die Wirklichkeit mit ihren Tatsachen, Gegebenheiten und Möglichkeiten – und sei es in der Gegenstellung und im Widerstreit – gebunden. So gelingt es ‚guten‘ Gedankenexperimenten, wirklichkeitsbezogene Denkstränge neu in- und miteinander zu verweben und sie dabei auch nach vorne in das Zukünftige und real Mögliche hin zu verlängern, begriffliche Präzisierungen vorzunehmen und Argumentationen zu verändern und zu erneuern.

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Vgl. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente. – Cohen, 99 moralische Zwickmühlen. – Genz, Gedankenexperimente. – Levy, Paradoxien und Gedankenexperimente, S. 14/15. – Kühne, Die Methode des Gedankenexperiments. – Popper, Über den Gebrauch und den Mißbrauch von Gedankenexperimenten, S. 397–411.

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Das Spektrum von Gedankenexperimenten ist außerordentlich breit. Anschaulich schreibt Levy: Gedankenexperimente zeichnen sich in der Regel durch eine konkrete und häufig lebhafte Bildsprache aus. Sie stellen Szenarien dar und reichen vom Alltäglichen (ein Esel steht zwischen zwei Heuhaufen; ein Mann hat ein paar Haare auf dem Glatzkopf) bis zum Bizarren (als eine Frau aufwacht, stellt sie fest, dass ihr Körper operativ mit einem berühmten Geigenspieler verbunden wurde; Achilles rennt mit einer Schildkröte um die Wette). Sie treiben einen in den Wahnsinn und sind häufig verspielt. Für Einstein lag darin der Schlüssel zu seinen Gedankenexperimenten. Seiner Aussage zufolge entsprechen sie ‚psychologischen Entitäten … mehr oder weniger klare[n] Bilder[n], die … reproduziert und kombiniert werden können‘. Dieses ‚kombinatorische Spiel‘ bezeichnete er als das entscheidende Merkmal [meines] produktiven Denkens.16

Gedankenexperimente können von hier her als eine Einladung verstanden werden, die beiden Seiten der Reproduktion und der Produktion, der Destruktion und der Konstruktion, des Tatsächlichen und des real Mögli­ chen, originär und originell miteinander zu verbinden. Wird diese Einladung angenommen und lässt man sich auf sie ein, begibt man sich in TatsachenSinn-Welten, die eigene Horizonte weiten oder neue erschließen können. So könnte man dementsprechend philosophische Gedankenexperimente als geistige Laboratorien oder als gedankliche Versuchsanordnungen verstehen, in denen Szenarien erzählerisch geformt werden, die in Bezug und in Differenz zum Wirklichen stehen und „immer etwas ins Spiel [bringen], das so nicht besteht.“17 Sie lassen in dieser Kontrastfunktion etwas sichtbar werden, durch das das Gegebene – wie in einer Art verzerrtem Spiegel – von den Augen dieses Experimentes her anders gesehen werden kann. Man könnte daher auch von einem gedanklich-kreativen Differenzraum sprechen, der in einem philosophischen Gedankenexperiment betreten wird, wobei – wie Bertram zu Recht heraushebt – es „für die Formulierung guter Szenarien wichtig [ist], im

16 Levy, Paradoxien und Gedankenexperimente, S. 14/15. Aus der Perspektive von Levy könnten noch weitere Dimensionen von Gedankenexperimenten aufgezeigt werden: „Sie können destruktiv sein und dabei helfen, Theorien und nicht fundierte Annahmen zu widerlegen sowie Dogmen und Weltsysteme zu dekonstruieren. Sie können Dinge veranschaulichen und aufzeigen, inwiefern eine Theorie oder ein Argument stichhaltig ist. Sie können konstruktiv sein, indem sie aus Prämissen abgeleitete Schlussfolgerungen aufstellen, Denkmodelle möglicher Welten errichten und die Auswirkungen von Theorien und Erkenntnissen ausarbeiten.“ Ebd., S. 14. 17 Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 15.

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Spannungsfeld von Nähe und Abstand zur Wirklichkeit das richtige Maß zu finden.“18 Ein Gedankenexperiment ermöglicht es, in einem rein intellektuellen Prozess Denk- und Lebensgewohnheiten fraglich werden zu lassen, Irritationen hervorzurufen und kritische Reflexionen in Gang zu setzen. Auf diese Weise können in geisteswissenschaftlich-philosophischen Zusammenhängen geis­ tige Fortschritte in dem ‚Labor der Gedanken‘ initiiert werden. Aufgrund der Differenz zum Wirklichen kann man das Szenario des Gedankenexperimentes als ein kontra-faktisches bezeichnen: „Kontrafaktisch ist ein Szenario genau dann, wenn erzählerisch eine Situation entwickelt wird, die faktisch nicht besteht.“19 Achtet man mit Bertram auf den Aufbau eines Gedankenexperimentes kann es – genauer betrachtet – in drei Teile gegliedert werden. Diese sind: „(1) Einleitung durch philosophische Fragestellung(en), (2) Kontrafaktisches Szenario, (3) Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en).“20 Diese Gliederung ist idealtypisch zu verstehen und das heißt, sie stellt den Aufbau eines Gedankenexperimentes so dar, wie er in der Regel zu finden ist, wobei es aber durchaus Abweichungen geben kann. In der Einleitung eines Gedankenexperimentes wird eine Fragestellung vorgestellt, die innerhalb der Philosophie in einer ihrer Disziplinen oder Denkrichtungen zu finden ist. So beginnt beispielsweise eines der berühmtesten Gleichnisse unserer abendländischen Tradition, das Inbegriff eines philosophischen Gedankenexperimentes ist, nämlich das „Höhlengleichnis“ von Platon, mit folgenden Worten: „Nächstdem, sprach ich, vergleiche dir unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande.“21 Dieses Zitat findet sich in Platons Politeia, in der es unter anderem um die Erziehung der Bürger geht, damit ein Staat ein gerechter Staat werden kann. Der Vergleich, der im Höhlengleichnis gemacht wird, ist der zwischen Bildung und Unbildung, und zwar ausgehend von der menschlichen Natur. Er ist Inbegriff eines kontrafaktischen Szenarios, läuft es doch diametral dem eigenen Selbstverständnis entgegen, von Natur an gefesselt in einer Höhle zu sein, aus der man nur unter größtem Schmerz und Leid mit Hilfe eines Philosophen/ Pädagogen/Therapeuten befreit werden kann. Es richtet sich explizit an die

18 19 20 21

Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 16. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 15. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 18. Platon, Sämtliche Werke 3, S. 224.

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Lesenden und fordert sie dazu auf, sich auf diese Situation mit ihren Gegebenheiten einzulassen und sie gedanklich durchzuspielen. Die Auswertung des Szenarios in Bezug auf die Fragestellung(en) führt Bertram zufolge „meist zu einer oder zu mehreren Thesen. Diese Thesen sind Schlussfolgerungen aus dem Durchspielen des Szenarios in Bezug auf die behandelten Fragestellungen.“22 Auf diese Weise gelingt es, andere Positionen zu kritisieren, zu problematisieren, sie zu widerlegen, sie weiterzuentwickeln oder sogar einen Paradigmenwechsel vorzunehmen und einen völlig neuen Ansatz vorzustellen. Folgt man den Ausführungen von Bertram lassen sich drei verschiedene Typen von Gedankenexperimenten unterscheiden, nämlich „erklärende Gedankenexperimente“, „Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen“ und „Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen“, die mit ihm folgendermaßen komprimiert bestimmt bzw. gekennzeichnet werden können: (1) Erklärende Gedankenexperimente illustrieren bestimmte begriffliche Zusammenhänge und machen sie dadurch auf eine anschauliche Weise erfassbar. (2) Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen lassen sich als besondere Formen von Argumentationen für eine Zielthese begreifen, wobei die Besonderheit darin besteht, dass ein kontrafaktisches Szenario in die Argumentation eingeht. (3) Gedankenexperimente zur Schärfung und Innovation von Begriffen formu­ lieren Szenarien, auf deren Basis sich Begriffe und begriffliche Zusammenhänge prinzipiell unbegrenzt erkunden lassen.23

Anhand dieser Typologie wäre es möglich, eine umfassende Untersuchung von philosophischen Gedankenexperimenten durchzuführen und sie auf ihren jeweiligen Gehalt, ihre Wirkmächtigkeit und Rezeption hin in den Blick zu nehmen. Im Kontext unserer Überlegungen würde dies allerdings den Rahmen sprengen. Wichtig ist für uns, sich die Ansatzpunkte und die Ziele, die in den unterschiedlichen Typen von Gedankenexperimenten herausgehoben werden, zu benennen. So setzen Bertram zufolge Gedankenexperimente bei „begriffliche(n) Zusammenhänge(n)“ an oder bei „Argumentationen“ oder bei „Begriffen“. Sie intendieren demnach – und nun blicken wir zwanglos auf die Ziele – rein gedankliche, das sind begriffliche oder argumentative, ‚Gewinne‘ zu generieren und im Raum des Denkbaren durch Veranschaulichung oder 22 23

Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 22. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 45. Nähere Ausführungen finden sich insb. S. 35–45.

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„kontrafaktische Szenarien“ bereits Gedachtes zugänglicher zu machen oder dieses umzustoßen. Denn die im zweiten Typus angesprochenen „Gedankenexperimente zur Änderung bestimmter Überzeugungen“ zielen auf keine Einstellungsänderung, sondern eine Gedankenveränderung, die sich, wie angesprochen, vor allem auf Begriffe und Argumentationen beziehen, da diese angesichts der in den Experimenten vorgenommenen Argumentationen fragwürdig geworden sind. Eröffnet Mach daher mit Hilfe der Methode der freien Variation einen Variationsraum, wird nun mit Hilfe des „mentalen Modellierens“ im Sinne eines gedanklichen Durchspielens eines „kontrafaktischen Szenarios“ ein Denkraum erschlossen und erkundet, der zur Präzision, Schärfung, Problematisierung oder Widerlegung begrifflich argumentativer Zusammenhänge führt: „Das mentale Modellieren ist somit die Basis für das Erreichen des begrifflichen Ertrags in Auseinandersetzung mit einem kontrafaktischen Szenario.“24 So stehen bei einem philosophischen Gedankenexperiment die Begriffsebene und die Ebene der Argumentation im Fokus, wodurch die Illustration und die Veranschaulichung eine untergeordnete Funktion haben. Dementsprechend geht es beim Wort ‚Überzeugung‘ in dem zweiten Typus der angesprochenen Gedankenexperimente nicht um eine innere Haltung, die durch Habitualisierung gewonnen wurde und auf internalisierten Werten beruht, sondern um eine gedankliche Richtigkeit, von der man ‚überzeugt‘ ist. In den vorangegangenen beiden Absätzen wurde auf das „kontrafak­ tische Szenario“ verwiesen und zuvor an einer weiteren Stelle bereits kurz erläutert. Jetzt kann es mit Bertram etwas näher gefasst werden: „Das kontrafaktische Szenario eines philosophischen Gedankenexperiments ist eine Artikulation von Imaginärem. Es öffnet Möglichkeiten des Verständnisses von Begriffen.“25 Und an anderer Stelle heißt es: „Das kontrafaktische Szenario kann als ein narrativer Prototyp verstanden werden: als ein solcher exemplifiziert es bestimmte begriffliche Zusammenhänge und erlaubt dadurch eine Bestimmung von Begriffen bzw. begrifflichen Zusammenhängen.“26 Insbesondere das letztgenannte Zitat mit der Wendung „narrativer Prototyp“ hilft dabei, ein vertieftes Verständnis eines philosophischen Gedankenexperimentes zu gewinnen und den Bogen hin zu der Themenstellung auch explizit zu spannen. Wurden bereits drei Typen von Gedankenexperimenten voneinander abgehoben und gekennzeichnet, lässt sich jetzt festhalten, dass sie darin übereinkommen, jeweils ein narrativer Prototyp zu sein, der je 24 25 26

Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 70. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 72. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 74.

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spezifisch eine Exemplifizierung zwischen dem Prototyp selbst und Begriffen und begrifflichen Zusammenhängen repräsentiert. So geschieht mit Hilfe eines kontrafaktischen Szenarios die Exemplifizierung eines begrifflichen Zusammenhangs, wobei eine Anwendung des begrifflichen Zusammenhangs über das kontrafaktische Szenario möglich ist.27 Mit anderen Worten: Die Exemplifizierung ist der im mentalen Modellieren vorgenommene Prozess, eine Beziehung zwischen dem Gedankenexperiment mit seinem kontrafaktischen Szenario und einem bereits vorhandenen begrifflich-argumentativen Bezugssystem zu gewinnen, um dieses System letztlich im Blick auf eine Neufassung der Begriffe/Argumentationen angemessener modellieren zu können. Versteht man, wie gesagt, die Exemplifizierung als den Prozess der Beziehungsstiftung zwischen Szenario und Begriff/Argumentation, ist die Exemplifikation Inbegriff einer in der Exemplifizierung gewonnenen Beziehungsform, die einen erklärenden oder bestimmenden Charakter hat. Je stimmiger das kontrafaktische Szenario ist, umso eher kann die neu gewonnene Exemplifikation eines Begriffs/einer Argumentation standhalten. Das kontrafaktische Szenario kann daher durchaus – und hier können wir an Mach anknüpfen – als eine Probe (ein Prototyp) verstanden werden und, wenn das Gedankenexperiment überzeugend ist, über dieses hinaus angewendet werden. 3.

Das Aneignungsexperiment

Konnten wir mit Hilfe von Mach den Menschen als ein genuin experimen­ tierendes Wesen in all seinen Vermögen vorstellen, rückte mit Hilfe der in Anlehnung an Bertram vorgenommenen Erörterung der philosophischen Gedankenexperimente der Fokus auf das mentale Modellieren, die Exemplifizierung und die Exemplifikation. Geht es im Folgenden um das Aneignungsexperiment, wie ich die im Mimetisieren möglich werdende Selbstveränderung des Menschen bezeichnen möchte, wird ein narrativer Zugang zum Menschen gewählt. Diesem zufolge wird der Mensch mit seiner Geburt in ein spezifisches Sinnbezugsgewebe seiner Kultur eingewoben, das durch und durch gedeutet und für den Menschen lesbar ist.28 Wahrnehmend, handelnd, denkend und fühlend ahmt er in diesem verankerte Wahrnehmungsweisen, Handlungsmuster, Denkgewohnheiten und emotionale Resonanzformen nach, verinnerlicht und habitualisiert sie. So gewinnt er während seines Heranwachsens 27 28

Vgl. Bertram, Philosophische Gedankenexperimente, S. 62. Siehe dazu u. a. Schapp, In Geschichten verstrickt; Schapp, Philosophie der Geschichten.

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sukzessive Orientierungen, die ihn tragen und binden und es ihm ermöglichen, sich in seinem kulturellen Kontext heimisch zu fühlen oder in Differenzen zu diesem zu treten. Im Laufe des Lebens kann der Mensch Autor/Autorin seiner/ ihrer eigenen Geschichte werden, sich öffnen, weiten, ab- und umkehren und sich verändern. Dieser Prozess der Nachahmung, der sich in der dynamischen Bezogenheit zwischen der gedeuteten Lebenswelt und der Selbstveränderung erstreckt, ist der kreative Prozess der Mimesis. Mit Hilfe von Paul Ricœur ist es möglich, eine Ausdifferenzierung der Mimesis innerhalb von drei Bereichen vorzunehmen, die mit drei Formen der Mimesis einhergehen. Diese Bereiche sind: 1. der Bereich des Lebens, Handelns und Leidens (Mimesis I); 2. der Bereich der Erzählung/des Werkes (Mimesis II); 3. der Bereich des Lesenden/der Rezeption (Mimesis III). Hervorzuheben ist, dass die Hermeneutik diese drei Bereiche umfasst, die sich von der alltäglichen Erfahrung im konkreten Handlungszusammenhang über die von einem Autor/einer Autorin geschriebene Erzählung bis hin zum rezipierenden Lesenden erstreckt. Auch wenn wir hier in Anlehnung an Ricœur von der Erzählung, dem Autor/der Autorin und dem Lesenden sprechen, können diese literarischen Kategorien strukturell gelesen werden. So kann an die Stelle der Erzählung ebenso ein anderes Werk, z. B. eine Fotografie, ein Gemälde oder ein Musikstück treten, das in der Rückbindung an einen bestehenden Deutungszusammenhang durch einen Fotografen, eine Malerin oder einen Komponisten entsteht, dann gesehen oder gehört wird und solche Wirkungen auf einen Rezipierenden ausübt, das er sich verändert. Wichtig ist, dass die Hermeneutik, die allgemein als Kunstlehre des Verstehens und Auslegens von Sinngebilden verstanden werden kann, im Rahmen von Ricœurs Überlegungen – insbesondere in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung – eine umfassende Aufgabe hat. Sie intendiert, alle Prozesse und Vorgänge aufzudecken, durch die ein Werk aus dem Boden der konkreten Lebenswelt hervorgeht und von einem Autor/einer Autorin an einen Lesenden übergeben wird: „Aufgabe der Hermeneutik ist es […], die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es aufnimmt und dadurch sein Handeln verändert.“29

29

Ricœur, Zeit und Erzählung, S.  88. Vgl. dazu mein Kapitel zu Paul Ricœur in meinem Studienbuch: Joisten, Philosophische Hermeneutik, S. 169–182.

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Das Theoriestück, das die Vermittlungsleistung zwischen diesen drei Bereichen innehat, ist die Mimesis, die – wie angedeutet – sich in einer dreifachen Weise auffächert (dreifache Mimesistheorie).30 In Ricœurs dreigliedriger Mimesistheorie zielt, wie aus der Übersicht hervorgeht, die Mimesis I auf den Bereich des Lebens, Handelns und Leidens. Dieser Bereich ist dem Text (der Fotografie, dem Gemälde und der Komposition, um nochmals die Möglichkeit der strukturellen Lesart hervorzuheben) gewissermaßen vorgelagert, insofern in ihm bereits ein Verständnis menschlichen Handelns, in dem die Fabelkomposition verwurzelt ist, präsent ist. Er steht demnach für das „Vorher der dichterischen Kompositionsarbeit“, den der Dichter in seinem kulturellen Hintergrund in einer pränarrativen Gestaltung vorfindet und aus dem heraus er schöpfen kann.31 Von dem Bereich des Lebens, Handelns und Leidens der Mimesis  I hebt Ricœur den Bereich der Erzählung (des Werkes) mit der Mimesis II ab. Die Mimesis II bezieht sich auf den Bereich des ‚Als ob‘ bzw. den Bereich der Fiktion, in dem es um die Komposition oder Konfiguration einer Fabel/Erzählung geht. Die Mimesis II hat eine Zwischenstellung zwischen Mimesis I und Mimesis III, die ihr aufgrund ihrer Vermittlungsfunktion zukommt. Die Dynamik, auf der die Vermittlungsfunktion beruht, kann in der Erzählung u. a. darin aufgewiesen werden, dass im „Akt des Konfigurierens“ die Fabel viele Ereignisse zu einer Geschichte zusammenfügt und sie in eine Geschichte (mit einer narrativen Logik) verwandelt. Und daneben auch darin, dass „so heterogene Faktoren wie Handelnde, Ziele, Mittel, Interaktionen, Umstände, unerwartete Resultate usw.“ vereinigt und in- und miteinander verbunden werden.32 Der Übergang von der Quasi-Welt des Textes (Mimesis II) in die Welt des Lesenden und der Rezeption (Mimesis III) wird durch den Akt des Lesens vollzogen, mittels dessen eine Geschichte im Lesenden aktualisiert wird. Dieser Akt des Lesens muss als ein kreativer und schöpferischer Vorgang verstanden werden. Denn der Lesende kann nun angesichts der neuen Gestaltung der Welt der Handlung im Zeichen der Fabel zum Lesenden seiner eigenen Welt bzw. seiner selbst werden, so der Bezug zwischen Mimesis II und Mimesis III. Die Lektüre dient dazu, den Vorgang der Textinterpretation zugleich zu einem Prozess des Selbstverständnisses werden zu lassen, in dessen Verlauf sich der Lesende „besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt.“33 Der Lesende, der sich in die Lektüre des Textes vertieft, öffnet 30 31 32 33

Vgl. Jervolino, The Cogito and Hermeneutics, S. 126–138. Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung, S. 78. Vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung, S. 106. Ricœur, Vom Text zur Person, S. 99.

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dadurch – anschaulich gesagt – die Tür zu sich selbst, wodurch er in einer aktiven Reorganisation einer sinnhaften Geschichte zugleich ein Verstehen seiner selbst hervorbringen kann. Unter Bezugnahme auf Aristoteles kann das Verständnis der Mimesis vertieft werden, und zwar im Blick auf Aristoteles’ wichtige Ausführungen zu seiner Tragödientheorie, die bis in unsere heutige Zeit rezipiert werden und sich in seiner Poetik finden. Bereits am Anfang des Buches heißt es programmatisch: „das Nachahmen [die Mimesis, K. J.] selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, daß er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt.“34 Dabei ist die Nachahmung, wie er fortfährt, keine nüchtern-sachliche Angelegenheit, hat doch jedermann an Nachahmungen Freude. Mimesis/Nachahmung ist aus einer solchen Perspektive ein Anthropinon, eine Bestimmung des Menschen, die untrennbar mit ihm von Geburt an verbunden ist. Im Rahmen seiner Poetik wird Mimesis daher als genuin menschliche Fähigkeit zum Nachahmen verstanden, die zugleich die Ursache von Dichtung ist. Denn das Kennzeichnende einer Tragödie ist für ihn, dass sie die „Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung“ ist.35 Will man nun genauer verstehen, wie sich die Nachahmung/Mimesis vollzieht und was dies für deren Verständnis heißt, kann man das Augenmerk auf eine kurze Wendung richten. Nach dieser ist es Aristoteles zufolge nicht die Aufgabe des Dichters „mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.“36 Verfährt der Dichter demnach mimetisch und ahmt er Handlungen, präzise gesagt: gute und in sich geschlossene Handlungen, nach, dann hat seine Tragödie mit ihren überraschenden Wendungen und mit dem ihr eigenen „Charakter des Wunderbaren“37 nachvollziehbar und in sich schlüssig zu sein. Denn dargestellte, erzählte Realität ist niemals bloße Nachahmung im Sinne einer bloßen Abbildung bzw. realistischen Darstellung, sondern, wie Werner Jung präzise sagt, „immer ästhetisch verfremdete, poetisch überhöhte Wirklichkeit nach Maßgabe des Möglichen unter Einschluß des Wunderbaren – etwas Wahrscheinliches eben.“38

34 35 36 37 38

Aristoteles, Poetik, S. 11. Aristoteles, Poetik, S. 19. Aristoteles, Poetik, S. 29. Aristoteles, Poetik, S. 33. Jung, Kleine Geschichte der Poetik, S. 21.

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Bezieht man diese Überlegungen auf das dreifache Mimesismodell von Ricœur, können drei Weisen des Mimetisierens, wie der Prozess des schöpferischen Nachahmens benannt werden kann, voneinander abgehoben werden: Das Mimetisieren im Bereich des Lebens, Handelns und Leidens ist ein Prozess, der vollzogen wurde, die Lebenswelt durchdringt und dergestalt so etwas wie eine sedimentierte Mimesis darstellt. Wird der Mensch mit seiner Geburt in ein kulturell geprägtes Sinngewebe eingewoben, kann er dessen mimetische Vorzeichnungen nachahmen, wodurch es ihm zwanglos möglich wird, ‚dabei‘ sein zu können. Er macht dann das in den Weisen, wie es getan, gesehen, gehört etc. wird – allerdings stets mit Variationen und leichten Veränderungen, da eine reine Imitation in der Dynamik menschlichen Handelns, Denkens, Fühlens, Wollens nicht möglich ist. Denn der Mensch ist nicht ohne irgendwelche Sinne/Wahrnehmungen in sich eingekapselt und eingekerkert, er ist auch keine fensterlose Monade (Leibniz) und kein „Gehirn in einem Tank“ (Putnam), sondern durch und durch mimetisierend. Auf diese Weise ist jeder Mensch der Möglichkeit nach Autor/Autorin seiner/ihrer eigenen Geschichte, wodurch der Übergang hin zum Bereich der Erzählung/des Werkes (Mimesis II) implizit bereits vollzogen wird. Auch wenn Ricœur nämlich den Erzähler in diesem Bereich situiert, kann bei einer strukturellen Lesart jeder Mensch als ein solcher Erzähler verstanden werden. Gelingt es in diesem fiktionalen Bereich des ‚Als ob‘ im Mimetisieren solche Werke hervorzubringen, die besonders kreativ und ansprechend sind, können diese Werke bei einem Rezipierenden zur Selbstveränderung führen. So bieten Literatur, Malerei, Musik, Fotografie der Sache nach ein uner­ schöpfliches Reservoir an realen Möglichkeiten, die in den Gewohnheitsgeweben alltäglichen Lebens innerhalb eines kulturellen Kontextes häufig verdeckt, verstellt und buchstäblich ‚durch die Maschen gefallen sind‘. Diese realen Möglichkeiten laden in einem Lektüre-, Seh- oder Hörprozess zu anderen Erfahrungen ein: sie irritieren, provozieren, fordern heraus, sind unverständlich, verstörend, können Ablehnung hervorrufen, oder aber auch, weil sie für Rezipierende allzu fremd sind, von ihnen einfach nicht zur Kenntnis genommen werden. Unabhängig von der jeweiligen konkreten Reaktion sind sie von einer appellativen Kraft durchdrungen, die in einem Menschen ihre Wirkung entfalten kann und ihn dazu bewegt, sich auf sie einzulassen und sich zu verändern. Eine solche Appellfunktion ist in der Sachlichkeit und Nüchternheit von Daten, Tatsachen und Informationen, die in einem Bericht oder einer Chronik zusammengestellt werden, nicht enthalten. Aus dieser Sicht schreibt Ricœur: „Die zeitgenössischen Theaterstücke und Romane sind zu wahren Laboratorien geworden, die Denkexperimente entwickeln, in

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denen die narrative Identität der Figuren unzähligen imaginativen Variationen unter­worfen wird. Zwischen der stabilen Identität der Helden der naiven Erzählungen und dem Identitätsverlust derjenigen gewisser moderner Romane sind alle Zwischenstufen erforscht worden.“39 Das Mimetisieren im Bereich II und im Bereich III kann zu einem gelingenden Aneignungsexperiment werden, mit dessen Hilfe der Prozess des Mimetisierens zu einem relativen Abschluss kommt. Er ist relativ, insofern die Selbstveränderung wiederum Auswirkungen auf den Bereich I hat, der gegebenenfalls dadurch modifiziert wird. Im Unterschied zu philosophischen Gedankenexperimenten, die rein intellektuell sind und zur Veränderung von Begriffen, Gedanken und Denkzusammenhängen führen können, können Aneignungsexperimente die Veränderung der Identität eines Menschen bewirken, die von Ricœur, wie aus dem Zitat hervorgeht, im Rahmen seines narrativen Ansatzes als „narrative Identität“ umschrieben werden kann. Unverzichtbar ist im notwendigen Rekurs auf diese Identitätskonzeption der Verweis auf zwei Arten personaler Identität, die Ricœur voneinander abhebt, nämlich die sogenannte „Selbigkeit“ und die „Selbstheit“. Prägnant kennzeichnet er die beiden Identitätstypen folgendermaßen: Die Identität im Sinne von Selbigkeit schien mir den objektiven oder objek­ tivierten Eigenschaften des sprechenden und handelnden Subjekts angemessen zu sein, während mir die Identität im Sinne von Selbstheit ein Subjekt, das fähig ist, sich selbst als Urheber seines Sprechens und Handelns zu bezeichnen, besser zu charakterisieren schien, ein Subjekt, das nicht substantiell und nicht unveränderlich, aber dennoch für sein Sagen und Tun verantwortlich ist.40

Mit dem ersten Identitätstyp, der Selbigkeit bzw. der Idem-Identität, wird ein Konzept entwickelt, in dem kenntlich wird, dass eine Person im Wechsel und im Wandel von Zuständen und Gewohnheiten als ein- und dieselbe bestehen bleibt. Diese Gleichheit der Person impliziert eine Form ihrer Unveränderlichkeit, die z. B. durch einen Personalausweis veranschaulicht werden kann. Sie macht es möglich, Personen einen konstanten Charakter und kontinuierliche Handlungen und Eigenschaften zuzusprechen, die sich durch spezifische Merkmale belegen lassen und eine Person auch von außen identifizierbar machen. Der zweite Identitätstyp, die Selbstheit oder die Ipse-Identität, spricht das Verhältnis an, das eine Person zu sich selbst einnehmen kann. Aufgrund dieses Identitätstyps kann eine Person für Verbindlichkeiten einstehen und 39 40

Ricœur, Narrative Identität, S. 209–225. Hervorhebung K. J. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 72.

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Verantwortung übernehmen, und zwar sowohl gegenüber dem Vergangenen als auch dem Zukünftigen. Denn der Mensch kann sich selbst zum Urheber seiner Absichten und Ziele in der Welt machen, da er letztlich in seiner Freiheit durch keinen anderen Menschen einfach vertreten werden kann.41 Die Überlegungen Ricœurs zur narrativen Identität mit den beiden Identitätstypen der Selbigkeit und Selbstheit, die eine Person ausmachen, können auf die Überlegungen zur narrativen Identität einer Figur in einer Erzählung bezogen werden – wie umgekehrt: Diese Vermittlungsfunktion, die die narrative Identität der Figur zwischen den Polen der Selbigkeit und der Selbstheit ausübt, wird wesentlich durch die imaginativen Variationen bezeugt, denen die Erzählung diese Identität unterwirft. In Wirklichkeit duldet die Erzählung nicht allein diese Variationen, sie erzeugt sie und sucht sie immer wieder auf. In diesem Sinne erweist sich die Literatur als ein weiträumiges Laboratorium für Gedankenexperimente, in denen die Variationsmöglichkeiten narrativer Identität auf den Prüfstand der Erzählung gestellt werden. Der Gewinn dieser Gedankenexperimente besteht darin, daß sie die Differenz zwischen den beiden Bedeutungen von Beständigkeit in der Zeit ersichtlich machen, und zwar dadurch, daß sie deren wechselseitiges Verhältnis variieren.42

So können die „imaginativen Variationen“ in der Erzählung, die die Figur verkörpert und ‚durchspielt‘, dem Lesenden eine Angebotsfülle von Aneig­ nungsmöglichkeiten vor Augen führen, die eine Veränderung seines Selbstverständnisses initiieren können. Ein solches Aneignungsexperiment eines Lesenden macht demnach zunächst relative (keine absoluten) Differenzerfahrungen emotional und intellektuell mit Hilfe der Figur in der Erzählung zugänglich, die in ein Spannungsverhältnis zu bisherigen emotional-kognitiven Habitualisierungen treten können und im nächsten Schritt vielleicht sogar übernommen und einverleibt werden. Da dieses Aneignungsexperiment von jeder Person unvertretbar selbst zu durchleben ist – eine Selbsterfahrung kann von niemanden anderen übernommen werden –, ist der Mensch als ein Exemplar, ein unverwechselbares, einzigartiges Individuum, in dieser Exemplarität stets derselbe und verändert sich dennoch in der Zeit. So bleibt die Person aufgrund ihrer Selbigkeit bzw. ihrer Idem-Identität in jeder Dynamik als ein- und dieselbe (als dieses Exemplar) bestehen, wie sie zugleich als Selbstheit gewissermaßen eine

41 42

Zum Gesagten der letzten drei Abschnitte siehe Joisten, Philosophische Hermeneutik, S. 180. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 182.

Der Prozess des Variierens, Exemplifizierens, Mimetisierens

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Vielzahl von Exemplaren ist, die als Repräsentationsformen der sich im Laufe der Zeit veränderten Identitäten gelesen werden kann. 4.

Synopse und Ausblick

Das diesem Buch zugrundeliegende Thema des Exemplarischen wurde in diesem Beitrag mit Hilfe einer Erörterung unterschiedlicher Experimenttypen untersucht. Leitend war dabei der Gedanke, dass Innovation einer Veränderung bedarf, die anthropologisch verankert ist und Exemplifikationen nach sich führt, bei denen unterschiedliche menschliche Fähigkeiten zum Tragen kommen. So kann der Mensch, wie bei Ernst Mach zu erkennen war, mit seinen Händen Probierbewegungen vollziehen, Variationen im Sinne von graduellen Handlungsabweichungen vornehmen, um zu einem Ziel zu gelangen und erfolgreich zu sein – oder auch nicht. In diesen elementaren Vollzügen zeigt sich bereits ein kreatives Potenzial, das ebenfalls auf einer gedanklichen Ebene in Gedankenexperimenten oder auf einer physischen Ebene in physischen Experimenten wirksam wird. In all diesen Erkundungen bzw. Exemplifizierungsprozessen innerhalb eines Variationsraums, den man auch als Bezugskontext umschreiben kann, geschieht eine Spezialisierung, eine punktuelle Konkretisierung bzw. eine Modifikation, die Inbegriff eines Exempels bzw. einer Exemplifikation ist.43 Die Erörterungen der philosophischen Gedankenexperimente, insbesondere in Anlehnung an die Ausführungen von Georg Bertram, kamen zu einem ähnlichen Ergebnis. Versteht man philosophische Gedankenexperimente als Exemplifizierung eines Begriffsgefüges durch kontrafaktische Szenarien, die, wenn sie gelingen, auch auf andere Situationen anwendbar sind und zu begrifflichen Präzisierungen oder innovativen Weiterentwicklungen führen, benötigen diese ebenfalls einen kreativen imaginären Frei- bzw. Gedankenmöglichkeitsraum. Setzen sich Lesende nun mit einem solchen philosophischen Gedankenexperiment auseinander, können sie dieses eigentätig durchdenken, ausprobieren und durchspielen, wodurch sich erweisen wird, 43

Hier kann noch einmal an die oben angeführte Beschreibung des Gedankenexperimentes von Mach erinnert werden: „Wie man sieht, ist die Grundmethode des Gedankenexperimentes, ebenso wie jene des physischen Experimentes, die Methode der Variation. Durch wenn möglich kontinuierliche Variation der Umstände wird der Geltungsbereich einer an dieselben geknüpften Vorstellung (Erwartung) erweitert; durch Modifikation und Spezialisierung der ersteren wird die Vorstellung modifiziert, spezialisiert, bestimmter gestaltet; und diese beiden Prozesse wechseln.“ Mach, Über Gedankenexperimente, S. 176.

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ob es vielleicht sogar zum Erfassen eines neuen Verständnisses des Menschen dienen kann. Geschieht dies, ist das Erkenntnisinteresse auf ein bestimmtes Gedankenexperiment als ein Exempel ausgerichtet, das einer Exemplifikation Ausdruck verleiht und Neuorientierungen bieten kann. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Paul Ricœurs Analysen zur Erzählung, der narrativen Identität und zur dreifachen Mimesis konnten wir das Aneignungsexperiment hervorheben. Gelingt es dem Menschen, der in einen gedeuteten Sinnzusammenhang mit seiner Geburt eingewoben ist, sukzessive Mimetisierungsvorgänge anhand der kreativen Rezeption von solchem, was in einer relativen Differenz zu seinem Selbstverständnis steht, zu durchleben und sich in diesen zu verändern, bleibt er als derjenige, der er ist, bezogen auf diejenigen, die er in der Zeit in einer Vielzahl von Exemplaren gewesen und geworden ist. So ist der Mensch als dieser unverwechselbare Einzelne und dieses besondere Exemplar stets zugleich mit Alteritäten seiner selbst, Exemplaren, verbunden, die zusammen seine Identität ausmachen. In diesem mit Hilfe der Mimesis vollzogenen Aneignungsprozess kommt demnach dem Lektüreprozess eine zentrale Relevanz zu, insofern dieser ermöglichen kann, das Selbstverständnis zu modellieren, es zu verändern und es authentischer werden zu lassen. Würde man vor diesem Hintergrund das Exemplarische vom Wort her auf das ‚nur‘ Beispielhafte eingrenzen, würde es zu kurz greifen. Denn letztlich sind all die genannten Typen von Experimenten, denen wir uns zugewendet haben, Typen, in denen der Sache nach Exemplarisierungen geschehen. Und das heißt, in ihnen wird auf verschiedenen Wegen, mit je spezifischen Zielen und Auswirkungen, an der menschlichen Kreativität angesetzt, die sich in unterschiedlicher Weise Ausdruck verleihen kann. Geschieht dies, werden Variationen durchgespielt, es werden Konkretisierungen vorgenommen, Neues entdeckt, Veränderungen initiiert und genuin Menschliches vollzogen.

Literatur

Aristoteles: Poetik, Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hg. v. M.  Fuhrmann. Stuttgart 1994. Bertram, G. W. (Hg.): Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch, Stuttgart 22016. Cohen, M.: 99 moralische Zwickmühlen. Eine unterhaltsame Einführung in die Philosophie des richtigen Handelns, München 22017. Genz, H.: Gedankenexperimente, Hamburg 2005.

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Jervolino, D.: The Cogito and Hermeneutics. The Question of the Subjekt in Ricœur, London 1990. Joisten, K.: Philosophische Hermeneutik, Berlin 2009. Jung, W.: Kleine Geschichte der Poetik, Hamburg 1997. Kaulbach, F.: Das anthropologische Interesse in E. Machs Positivismus. In: Positivismus im 19. Jahrhundert, hg. v. J. Blühdorn u. J. Ritter. Frankfurt a. M. 1971, S. 39–55. Kühne, U.: Die Methode des Gedankenexperiments, Frankfurt a. M. 2005. Levy, J.: Paradoxien und Gedankenexperimente aus Philosophie und Naturwissenschaft, Köln 2017. Mach, E.: Über Gedankenexperimente. In: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, (ders.). Berlin 42017, S. 169–185. Platon: Sämtliche Werke 3: Phaidon, Politeia. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher mit der Stephanus-Nummerierung. Hamburg 1958. Popper, K. R.: Über den Gebrauch und den Mißbrauch von Gedankenexperimenten, bes. in der Quantentheorie. In: Logik der Forschung, hg. v. H.  Keuth. Tübingen 112005, S. 397–411. Ricœur, P.: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung, Paderborn 1988. Ricœur, P.: Narrative Identität. In: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999). Übersetzt u. hg. v. P. Welsen. Hamburg 2005a, S. 209–225. Ricœur, P.: Das Selbst als ein Anderer, München 22005b. Ricœur, P.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), Hamburg 2005c. Schapp, W.: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Frankfurt a. M. 52012. Schapp, W.: Philosophie der Geschichten, hg. v. K. Joisten u. J. Schapp. Frankfurt a. M. 32015. Schneider, J.: Gedankenexperiment. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie Band 3, hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Basel 1974, Spalte 62.

Exemplar und Form: „Die Physis macht’s wie die Lehrenden“ (Aristoteles Metaphysik 1050a) Thomas Buchheim Im 8. Kapitel des IX. Buches der Metaphysik erreicht Aristoteles im vollsten Wind seiner Betrachtungen und Analysen der ‚Substanz‘ seit dem Beginn des VII. Buches endlich den Gipfel seiner Thesen: Dass nämlich allein die „tätige Wirklichkeit“ (energeia) eines Dinges seine Form (eidos) und zugleich primäre Substanz davon sei und diese zugleich früher oder das Prius gegenüber aller Materie und den Zuständen des bloßen Vermögens (dynamis), die noch unterwegs zur Form oder eben zur tätigen Wirklichkeit sind. Dass Aristoteles das sagt, könnte einen verwundern; denn es scheint klar zu sein, dass in einer Welt, in der, was immer auch entsteht, das Entstehende früher dem Vermögen nach da ist als der tätigen Wirklichkeit nach. In einer solchen Welt, die so gar nicht dem platonischen Reich der Formen gleicht, sollte man eher annehmen, dass zuerst immer das dem Vermögen nach Seiende existieren muss, bevor irgendetwas zur entsprechend tätigen Wirklichkeit gelangt. 1.

Die energeia qua Form ist in jeder Hinsicht „früher“ als die vermögende Materie

Doch, wie gesagt, im vollen Wind seiner metaphysischen Betrachtungen bringt Aristoteles mehrere gute Argumente für seine These vor: Denn erstens (zeitliche Priorität) entsteht immer aus dem nur der Möglichkeit nach Seienden das der tätigen Wirklichkeit nach Seiende unter dem Einfluss eines bereits der tätigen Wirklichkeit nach Seienden. Beispielsweise entsteht der Musiker unter dem Einfluss eines Musikers, der es schon der tätigen Wirklichkeit nach ist; und zudem gelte der Satz: „wer lernt, Gitarre zu spielen, der lernt durch Gitarre spielen Gitarre spielen, und so bei allem.“1 „Daher“, so fährt Aristoteles fort, „stammt auch das sophistische Streitargument, dass jemand, der die Wissenschaft nicht hat, gleichwohl tun kann, wofür es die Wissenschaft gibt – denn der Lernende besitzt sie ja nicht!“2 1 Aristoteles, Metaphysics, 1049b31-33. 2 Aristoteles, Metaphysics, 1049b33-35.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_003

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Also wäre, wie es nach diesem sophistischen Argument den Anschein haben könnte, der Anspruch der Wissenschaft und aller Meisterschaft völlig leer. Denn man kann schließlich dasselbe auch ohne all die Wissenschaft tun. Wie aber kann man dann überhaupt einen Unterschied zwischen dem Haben von Wissenschaft und ihrem Nichthaben behaupten? Die Sophisten meinten ja eben deshalb, dass der Selbstdünkel der damals schon etablierten Einzelwissenschaften eine Chimäre sei und sie selber vielmehr alles könnten und alles wüssten, was man überhaupt wissen kann.3 Aristoteles hat meiner Überzeugung nach gute Gründe, das sophistische Argument zurückzuweisen. Nur welche sind das? Das zweite Argument (substantielle Priorität) für die oben angeführte These von Aristoteles (die tätige Wirklichkeit sei in jeder Beziehung „früher“ als das Vermögen) lautet, dass jeder Entstehungsgang erst an seinem Ende dahin gelangt, worin der eigentliche Anfang und das Prinzip (die archê) des Entstehenden beschlossen liegt: Denn das letztere hat die Form definitiv, das andere nicht! Und so läuft alles Entstehende auf sein Prinzip und d. h.: sein Ziel zu. Denn Prinzip ist das Weswegen, und des Zieles wegen findet Werden statt. Ziel aber ist die tätige Wirklichkeit (energeia), und um ihretwillen wird die Möglichkeit ergriffen.4

Das erste Argument für die Priorität der Form qua tätiger Wirklichkeit ist also, dass etwas zur tätigen Wirklichkeit nur unter dem Einfluss des tätig Wirklichen gelangt. Das zweite Argument lautet, dass alles, was aus einem Zustand des Vermögens zu etwas wirklich Seiendem wird, mit Realisierung der Form und tätigen Wirklichkeit auf seinen eigenen primären Anfang, sein eigenes Prinzip, erst zuläuft. Nun folgt ein drittes Argument (begriffliche Priorität) für wiederum dieselbe metaphysische These, dass die tätige Wirklichkeit qua Form und primäre Substanz in jeder Hinsicht früher und primär ist gegenüber dem nur vermögend-Seienden. Und dies ist das Textstück, mit dem ich mich in der Hauptsache in dieser kleinen Abhandlung befassen möchte. Es lautet folgendermaßen: Ferner ist die Materie dem Vermögen nach, weil sie sehr wohl zur Form gelangen könnte; doch immer wenn sie der tätigen Wirklichkeit nach ist, dann ist sie in der Form. Ebenso auch von den anderen Dingen, einschließlich derer, von denen 3 Vgl. Buchheim, Sophistische Kunst, S. 17–19. 4 Aristoteles, Metaphysics, 1050a6-10.

Exemplar und Form

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eine Bewegung das Ziel ist. Deshalb verfährt, wie die Lehrenden das [Lern-, T.  B.]Ziel anzugeben meinen, indem sie einen tätig Ausübenden aufzeigen, genauso auch die Natur. Wenn es nämlich nicht so geschieht, dann wird es ein Pauson’scher Hermes sein: Denn dann ist ja auch die Wissenschaft undeutlich, ob sie drin ist oder draußen, genau wie jener [der Hermes, T. B.]. Denn Ziel ist das Werk, die tätige Wirklichkeit aber das Werk. Deswegen wird ja auch das Wort „Wirklichkeit“ (energeia) ausgesagt gemäß dem Werk und spannt zusammen mit wirklicher Vollbringung (entelecheia).5

Zentral für das Verständnis ist der Satz: „Deshalb verfährt, wie die Lehrenden das [Lern-, T. B.]Ziel anzugeben meinen, indem sie einen tätig Ausübenden aufzeigen, genauso auch die Natur.“ Hieran heften sich mindestens zwei Fragen, auf die bis heute nirgends klare Antwort gegeben wurde: (1) Worin besteht eigentlich das tertium comparationis mit der Natur, oder griechisch: der physis? Inwiefern zeigt denn die physis einen tätig Ausübenden auf (epideixei), um das Ziel anzugeben oder zu markieren? Was hat es für einen Sinn, dass die Natur überhaupt irgendetwas „aufzeigt“ – epideixei? Und wie macht sie das? Denn irgendetwas ist ja immer wirklich da oder wirklich tätig in der Natur. Aber sie zeigt deshalb doch nicht irgendwie auf – oder doch? (2) Was machen denn Lehrende eigentlich, wenn sie einen tätig Ausübenden „aufzeigen“? Die Antwort liegt auf der Hand, aber niemand nimmt sie runter: Sie zeigen jemand anderes, nämlich einen Schüler, auf, den sie selber geschult haben, dass er das Gelernte tätig ausüben kann. Das bedeutet: Die Lehrenden machen es nicht etwa selber vor, indem sie zum Beispiel meisterlich und in Vollendung dem Publikum etwas vorrechnen: „Seht her, so toll kann ich rechnen“, die Mathematiklehrerin, oder „so großartig Reden halten“, der Grammatiklehrer, oder „so vollendet musizieren“, der Musiklehrer. Denn das hieße nicht, das Ziel angeben oder markieren (to telos apodedôkenai). Das Ziel ist nicht die Perfektion der tätigen Wirklichkeit (dann könnte der Mathematiklehrer selber am hellsten glänzen), sondern ihre Vermittlung und Vermittelbarkeit auf Schüler. Erst darin erweist sich etwas als Form oder formale Bestimmung, dass sie unabhängig ist von dem oder der, die/der/das sie gerade diesmal darstellt oder realisiert. Signifikant für das Geforderte ist deshalb ihr Enjambement auf oder die Wiederkehr in der Schülerin. Und so macht es eben, um die erste Frage gleich mitanzusteuern, auch die Natur. Sie zeigt die tätige Wirklichkeit als Form und primäre Substanz gerade dadurch auf, dass sie ihre Wiederkehr in jeweils anderen Materie- und Vermögensbündeln bewerkstelligt. Wie Aristoteles ausdrücklich in Kapitel 8 des VII. Buches schreibt: 5 Aristoteles, Metaphysics, 1050a15-23.

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Thomas Buchheim Also ist offenbar, dass die Form (oder wie man sonst die Gestalt im Wahrnehmbaren nennen soll) weder entsteht noch es ein Werden von ihr gibt, wie auch nicht vom wesentlichen Sein: Denn dies ist es, was in einem anderen entsteht, sei es veranlasst von Kunstfertigkeit oder Natur oder einem Vermögen.6

Adressiert wird hier also das berühmte „Synonymieprinzip“ der aristotelischen Metaphysik.7 Und wenn die Form gleich der tätigen Wirklichkeit (energeia) ist, dann greift eben die tätige Wirklichkeit stets in einem anderen Platz, das aus dem Vermögen zu ihr erst gebracht wird. Daher sind immer, wo etwas wird oder entsteht, Form und Materie verschieden: Die Materie gelangt zur Form, d. h. wird, die Form dagegen wird nicht, sondern ist stets (d. h. in jedem einzelnen Fall) als wiederkehrend in einem anderen. Zum titelgebenden Stichwort der ‚Exemplarität‘ möchte ich an dieser Stelle nur sagen, dass ein genuines Exempel oder Exemplar nach Aristoteles das ist, woran Form oder wiederkehrend tätige Wirklichkeit deutlich zu unterscheiden ist von der Materie, die sie (die betreffende Form oder energeia) aufbietet. Wo kein solches intrinsisches Verhältnis zwischen aufbietender Materie oder Kraft oder Vermögen und daran zur Abhebung kommender Form oder energeia zu erkennen ist, da ist keine die Form aufweisende Exemplarität, keine epideixis der Form zu finden. Deswegen ist es schwer, exemplarisch zu sein. Wenn die Lehrenden selbst etwas vorrechnen würden, und wäre es noch so perfekt, dann wäre das nicht ‚epideiktisch‘ in Bezug auf das Ziel, sie gäben kein Exempel. Wir würden vielleicht wie bei einem Magier staunen darüber, was sie alles vollbringen; aber wir würden zugleich zweifeln, ob es mit rechten Dingen zugeht; ob nicht getrickst wird im Hintergrund; ob wir wirklich sehen, was alles relevant ist, um das Kunststück zu vollbringen – und was nicht. D. h. wir würden dann nicht das Exemplarische an der Sache erkennen, um die es zu tun ist. Das, was exemplarisch ist für irgendetwas, ermöglicht uns immer eine Trennung (Auseinanderhaltung) von exemplifizierter Form und exemplifizierender Materie und bietet uns so die Chance zur Erkenntnis der energeia, der energischen Signifikanz an einer Sache.

6 Aristoteles, Metaphysics, VII 8, 1035b5-8. 7 Aristoteles, Metaphysics, XII, 1070a5 f.: „dass jede Substanz aus einer synonymen entsteht, sowohl was durch Natur (physis) Substanzen sind als auch das Übrige“ (vgl. VII 8, 1033b261034a8 u. a.).

Exemplar und Form

2.

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Der Pauson’sche Hermes

Aber kommen wir einstweilen zurück auf die eingangs zitierten Passagen aus IX 8 über die Gründe einer Priorität von energeia vor dynamis in jeglicher Hinsicht. Schon im ersten Argument hatte Aristoteles auf den sophistischen Fangschluss verwiesen, dass doch offenbar dann, wenn einer, der die Wissenschaft nicht hat, vermögend sein soll, sie zu erwerben, man auch ohne die Wissenschaft müsste dasselbe tun können, was Sache der Wissenschaft ist. Wozu also braucht es die Wissenschaft? Hier haben wir genau den Fall des „Pauson’schen Hermes“8: Der Betreffende ohne die Wissenschaft vermag genau dasselbe zu tun wie der mit Wissenschaft. Allein, im ersten Fall fehlt das Exemplarische. Niemand könnte erfassen, ob die Wissenschaft drinnen ist oder draußen. Denn der, der ohne Wissenschaft es tut, legt die Trennung des materiellen Vermögens von der formalen energeia nicht an den Tag. Das ist das ewige Schicksal dessen, der behauptet, es gebe noch etwas anderes als das Flimmern der materiellen Vermögen – nämlich eine Form und die tätige Wirklichkeit des logos. Ihm wird bedeutet, dass das alles nichts anderes als die materiellen Verhältnisse selbst seien, denen eine Form kausal ohnmächtig nur ‚superveniert‘ oder ähnliches. Supervenienz bedeutet, dass alle Unterschiede der Form im Gefolge von Unterschieden der Materie auftreten, aber nicht umgekehrt: irgendwelche Unterschiede der Materie im Gefolge von Unterschieden der Form. Die superveniente Form ist daher niemals determinativ oder kausal relevant für die materiellen Verhältnisse. Aber übersehen ist dabei – nach Aristoteles – die in rebus inszenierten, sich ereignenden Trennungen von Materie und Form oder energeia, insbesondere da, wo wir Exemplarität in der Präsenz einer Form und damit erst ihr mögliches Enjambement auf je andere Exemplare von ihr haben. Umso mächtiger eine Form ist, umso determinierender begünstigt sie ihre eigene Wiederkehr. Sprechen wir nun genauer vom „Hermes des Pauson“. Es handelt sich nach meiner Interpretation um einen solchen Fall von Nichttrennung zwischen energeia und materiellen Vermögen, wie er dann stattfände, wenn die Lehrenden nicht (wie auch die Natur) anhand eines Enjambements der tätigen Wirklichkeit auf einen anderen Fall (z. B. einen Schüler) aufzeigten, was das Lernziel eigentlich ist. Da ein Schüler ohne Lehrenden zwar vermögend, aber nicht akut in der Lage ist, tatsächlich zu tun, was der Lehrende lehrt, er aber kraft derselben Vermögen dann später – dank der Lehre – akut und tatsächlich tut, wovon die Lehre Lehre ist, bemerkt man die Trennung von energeia und dynamis gerade an ihm, dem Schüler, nicht aber am Lehrenden. Und darauf 8 Aristoteles, Metaphysics, IX 8, 1050a20 s. o.

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kommt es an. „Pausons Hermes“ muss für ein Werkstück stehen, das diese Art von intrinsischer Trennung vermissen lässt. In den Kommentaren ist von jeher umstritten und insgesamt unklar, worum es sich handelt, und wie Aristoteles das Exempel des Pauson’schen Hermes auf seinen Gedankengang angewendet wissen will. Im Ganzen gilt, dass die ziemlich ausführliche, aber leider in manchen Hinsichten auch ungereimte Erklärung, die (Pseudo-)Alexander in seinem Kommentar gegeben hatte, früher fast ohne Widerrede akzeptiert wurde, während sie heute – vor allem wegen eines Verdikts von David Ross (dem großen Editor der Metaphysik in der Oxford-Ausgabe) in dessen Kommentar zur Stelle – kaum mehr für zutreffend gehalten wird, obwohl man auch keine bessere Erklärung zur Hand bekommen hat. Nach Alexander soll ein hermoglyphos (Bildhauer) namens Pauson (oder „Pason“) ein Bildwerk – eben eine Herme oder einen Hermeskopf – hergestellt haben, bei der man nicht unterscheiden konnte, ob die Herme – der Hermes – nun darinnen oder nicht darinnen, also draußen, sei. Eine Herme oder Hermensäule ist ein zumeist eckiger Stumpf, auf den ein Figurenkopf aufgesetzt wird. Im Falle von Pausons Hermes sei, so erklärt Alexander, eine glatte, aber durchsichtige Steinkugel aufgesetzt gewesen, und man habe, obwohl die Form eines Hermes zu sehen gewesen sei, nicht sagen können, ob da ein Hermeskopf drinnen enthalten oder draußen sei. Weitere Beschreibungen Alexanders, die, wie gesagt, in einigem ungereimt sind, überlasse ich der Fußnote.9 9 (Ps.-)Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysicorum libros Commentaria, 559  f.: „Wenn er nicht tätig ist, woher ist dann deutlich, dass er die Wissenschaft hat? Unklar ist folglich, ob er sie drinnen oder draußen hat, das heißt, ob er sie hat oder nicht hat, wie auch der Hermes des Pason. Denn da ist unklar, ob er außen oder innerhalb des Steines ist. Kommentierung: „Die Geschichte aber von dem Pason, soweit sie bekannt und zu wissen, ist folgende: Dieser Pason, als ein Bildhauer, hat in einen Stein die Form (eidos) des Hermes geschaffen, und es wurde in dem Stein der Hermes gesehen. Ob er aber außen vom Stein oder drinnen war (ektos ên tou lithou ê entos), das war nicht deutlich. Zu sagen, dass er außen sei, war nicht möglich; denn wäre er außen gewesen, müsste der Stein eingebuchtet sein und Unebenheiten aufweisen – er war aber ganz glatt wie ein Spiegel. Deshalb war es nicht möglich zu sagen, dass er außen sei. Aber eben auch nicht drinnen. Denn wenn der Stein, in dem die Form des Hermes war, ein Fuge oder irgendwelche Anfügungen gehabt hätte – dann wäre es freilich leicht zu sagen, dass der Hermes in einen anderen Stein gearbeitet wurde, indem er da draußen aufgesetzt war und der Hermes von drinnen durch die vollkommen glatten Steine durchschien, zu sehen dank der leuchtend hellsten und durchsichtigsten wie ebenso glattesten Steinschichten; wie wenn einer in Wachs eine wächserne Form bildet und außen herum Glas oder ein anderes durchsichtiges Material macht, so dass man drinnen die wächserne Form sähe. Wenn das so wäre, dann wäre es wahrscheinlich. Nachdem der Stein aber überall kontinuierlich war und keine Fuge noch Anfügungen aufwies, war es nicht

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David Ross nun, in seiner Kommentierung zur Stelle (1050a19 f.), schrieb dazu: This account is, however, certainly wrong. In the first place Pauson was not a sculptor but a painter, and in the second place the kind of sculpture Alexander mentions is not known and is most improbable. Pauson was apparently addicted to trick pictures. Cf. the story told by Ps.-Luc. (Demosth. Encom. 24), Aelian (Var. Hist. xiv. 15), and Plutarch (de Pythiae Orac. 5. 396 E) of his picture of a horse running, which by being turned upside down was made to represent a horse rolling on its back.10

Der Rest ist Wiedergabe der Meinung eines anderen (Percy Gardner)11, die zu den antiken Befunden aber nichts mehr beiträgt. Seit dem Verdikt von Ross gilt Alexanders Erläuterung eben als falsch („certainly wrong“), ein Irrläufer der Überlieferung; aber dennoch hat niemand bisher etwas Besseres anbieten können. Ross’ Einwand in erster Linie, dass der sonst bekannte Pauson ein Maler gewesen sei und kein Bildhauer, ist jedenfalls nicht stichhaltig. Wir kennen seit der Antike bis heute Beispiele, wo Maler auch als Bildhauer hervorgetreten sind und umgekehrt. Das von Aristoteles oft gegenüber Pauson (als Maler des Niedrigen und Schlechteren als die Realität) ins Feld geführte Vergleichsbeispiel des Polygnotos12 (der Maler des Edlen und Besseren als die Realität) ist selber ein bekannter Fall in dieser Richtung. Polygnotos hat mindestens auch Statuen in Erz gegossen. Er war also auch ein Bildhauer. Es sieht in den Überlieferungen zu beiden Künstlern (bei Aristoteles werden sie gerne gepaart aufgeführt und miteinander kontrastiert13) so aus, als habe der modernere, möglich, dies zu sagen. Von daher war also undeutlich, ob der Hermes innen oder außen vorhanden wäre, außen: weil keinerlei Unebenheit war, wie gesagt, innen: weil nicht zu erkennen war, wie innen der Hermes fabriziert war, war er doch ganz kontinuierlich.“ Die größte Ungereimtheit liegt darin, dass Pseudo-Alexander die Intention des Aristoteles zunächst korrekt interpretiert, wie der Text es verlangt: Unklar, ob drinnen oder draußen, solle heißen, ob der Schüler das Wissen hat oder nicht hat; während er hernach die Pauson-Geschichte so erzählt, als sei unklar, ob der Hermes draußen am Stein oder drinnen in ihm eingeschlossen sei. 10 Aristotle, Metaphysics, S. 263 f. 11 Der Hermes des Pauson sei tatsächlich wohl das Bild eines Hermes gewesen, aber ein Bild derart, dass ihm ein echter Hermes reliefartig aufgesetzt schien. Ist das nun ein HermesBild (d. h. ein Hermes drinnen im Bild) oder ist es ein echter Hermes als äußeres Ding oder Gegenstand (der Hermes draußen)? Also so etwas wie ein tromp-l’oeil-Bild, eine täuschende Verwechslung von Bild und Gegenstand. 12 Geboren etwa 490 v. Chr. 13 Siehe Aristoteles, Politik VIII 5, 1340a35-39; Aristoteles, Poetik 2, 1448a3-6.

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von den Sophisten inspirierte Pauson14 in seinen Arbeiten besonders den Polygnotos, aber auch andere berühmte Künstler konterkariert und parodiert. Das würde also durchaus passen. Freilich trickreich, wie auch Ross hervorhebt, ist Pauson offenbar häufig vorgegangen, und er hatte sichtlich einen Hang dazu, das, was wir sehen, als eine Art von Illusion hinzustellen. Als festen von Alexander berichteten Grundstein der Pauson’schen Hermesillusion fasse ich nun die Nachricht auf, dass der an der Hermensäule befestigte Kopf eine Kugel aus durchsichtigem Stein gewesen ist. Ein solches Kunstwerk ist sicherlich nicht, wie Ross meint, „most improbable“, sondern auf Anhieb eher gewöhnlich (ein Hermeskopf), wenn man einmal von der besonderen Bewandtnis absieht, dass die aufgesetzte Kopfkugel eben Kugel geblieben, nicht weiter behauen und aus einem durchsichtigen Stein gearbei­ tet war. Der trickreiche Pauson wird sich aber gerade dabei doch sicher etwas gedacht haben, was ich durch folgende fingierte Geschichte von seiner Präsentation dieses „Kunstwerks“ illustrieren möchte. Ich stelle mir vor, dass Pauson etwa Folgendes gesagt haben könnte: „Verehrtes Publikum, ihr wisst alle ganz genau, dass ein großer Künstler oder der Hersteller einer Herme eigentlich nichts anderes tut, als von einer Steinkugel da und dort ein Stückchen wegzunehmen. So einer bringt also selbst gar nichts zum Steine hinzu (wie der Maler zu seiner Leinwand die Farben), sondern er bringt nur Verluste an Stein zustande. Voilà, ich präsentiere Euch hier den absoluten Hermes von perfektester Machart (obwohl ich ja eigentlich nur ein verachteter Maler bin15), der deshalb in diesem durchsichtigen Stein doch sicher und für aller Augen manifest eingeschlossen sein muss, wie ihr Kenner natürlich alle sofort seht. Denn der Stein ist durchsichtig – ihr seht also alles, was in dem Steine drin ist; und weil ihr alles sehen könnt, was in dem Stein an Skulpturen enthalten ist, seht ihr auch den perfekten Hermes – oder etwa nicht?“ Es ist nicht leicht, sich zu überlegen, was das verdutzte Publikum auf dieses Räsonnement des Pauson hätte antworten können, um der Konsequenz zu entgehen, dass, wenn alle möglichen, eben auch der perfekte Hermes, in der transparenten Kugel enthalten sein müssen. Für Aristoteles – nach langem Nachdenken über Materie und Form und tätige Wirklichkeit – ist nunmehr klar, was er dem Pauson antworten kann: Dem Pauson’schen Hermes fehlt jegliche Exemplarität einer Form oder tätigen 14 15

Geboren vielleicht um 425 v. Chr. Die Maler waren, wie man an Platon sehen kann, die am wenigsten geltende Spezies von bildenden Künstlern.

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Wirklichkeit im Unterschied zu den Vermögensbündeln der Materie. Denn ein Exempel muss die Form in der Trennung von der Materie vorführen. Dies kann am leichtesten geschehen durch ein extra veranstaltetes Enjambement der Form in eine andere Materie oder ein anderes Bündel von Vermögen. Ein solches anderes Bündel ist bspw. ein Schüler gegenüber dem Lehrenden. Deshalb zeigen die Lehrenden eine den Inhalt der Lehre tätig ausübende Schülerin auf, um so das Ziel ihrer Lehre anzugeben – genau wie die Natur. Ansonsten wäre es ja nur – ein Pauson’scher Hermes. 3.

Abundanz versus Reduktion der Formen: ein aristotelischer Mittelweg

Der Pauson’sche Hermes ertränkt die Form des perfekten Hermes in der unendlichen Vielzahl der Hermen, die in der transparenten Kugel ganz von allein enthalten sein müssen. So etwa wie in der modernen Kosmologie die Signifikanz und Besonderheit unseres wirklichen Kosmos in der unendlichen Abundanz zahlloser Universen („Multiversum“ genannt) zum Verschwinden gebracht werden; und wie die Realität einer jeden Form im physischen Kontext der Materie durch die Vielfalt der zugleich zulässigen emergenten Betrachtungsweisen des Gewimmels der Partikel überflüssig, d. h. zur beliebig vielfältigen Überdetermination dessen, was geschieht, erklärt wird. Einer solchen Strategie von überflüssig machender Abundanz arbiträr vorhandener Formen möchte sich Aristoteles dezidiert nicht anschließen. Vielmehr ist immer nur eine ganz bestimmte Form die entscheidende, weil tätige Wirklichkeit (energeia) dessen, was hier der Fall ist. Und sie ist es, die ihre eigene Exemplarität inszeniert im kausalen oder determinativen Enjambement auf immer andere Materie. Aber auch die gegenläufige Strategie einiger anderer Philosophen, nämlich die Strategie, an den konkreten Dingen immer mehr und mehr zur bloßen Materie zu erklären und eine sogenannte Form davon zu abstrahieren, die letztlich alles zur materiellen Instanziierung von nur einer Urform macht, auch eine solche Strategie irrational fortschreitender formaler Essentifikation des Verschiedenen lehnt Aristoteles kritisch ab. Ich zitiere einen interessanten Passus aus dem 11. Kapitel des VII. Buches der Metaphysik: Bei allem, was offenkundiger Weise auf der Form nach Differentem entsteht, wie der Kreis in Erz und Stein und Holz, scheint klar zu sein, dass das Erz oder der Stein nichts von der Substanz des Kreises ist, weil sie getrennt von ihnen

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Thomas Buchheim vorkommt. Wo wir die Dinge jedoch nicht als getrennte sehen, hindert zwar nicht, dass es sich genauso verhielte […], doch ist es dann schwierig, dies im Denken zu abstrahieren. So wie z. B. die Form des Menschen immer in Fleisch und Knochen und derlei Teilen erscheint: Sind das nun auch Teile der Form und des logos? Oder nicht, sondern Materie und nur wir unvermögend, es zu trennen, weil sie nicht auch auf anderem entsteht? Weil dies nun vorkommen zu können scheint, aber unklar ist, wann, haben manche schon beim Kreis und beim Dreieck die Aporie aufgebracht, dass man sie nicht durch Linien und das Kontinuum definieren dürfe, sondern dies alles gleich zu begreifen sei wie Fleisch und Knochen beim Menschen und Erz und Stein bei der Statue. Und so führen sie alles auf die Zahlen zurück und sagen, dass auch der logos der Linie die „Zwei“ sei. Und von denen, die Ideen behaupten, meinen die einen, dass die Zweiheit Linie-selbst sei, andere die Idee der Linie; […] Also kommt es dazu, dass eines zugleich von vielen Dingen Idee ist, deren Form verschieden erscheint, was auch den Pythagoreern passiert. Und so ist es dann möglich, alles zu einem zu machen, zur selben Idee, während das andere keine Ideen sind. Dennoch wird auf diese Weise alles eins sein. […] Deshalb ist das Verfahren, alles weiter zurückzuführen und die Materie zu abstrahieren, des Guten zu viel. Denn manches ist wohl ein „Dies-in-dem-da“ oder ein „so sich verhaltendes Das-und-das“.16

Der Text spricht für sich. Aristoteles vermeidet also sowohl die leere Abundanz von Formen als auch die übertriebene Reduzierung des Formalen unter Fortlassung des angeblich nur Materiellen. Beides führt nach seiner Meinung zu einem Mangel an Erkenntnis der Verhältnisse. Vielmehr entscheidend ist, überall eben die Trennung zu entdecken, die Trennung, mit der eine wirkliche Form – tätige Wirklichkeit, energeia, entelecheia – sich in der Sache selbst abhebt von der Materie und den Vermögen, die sie aufbietet. Gerade diese in der Sache selbst sich inszenierende Trennung führt dazu, dass eine Form, die diesen Namen verdient, sich als solche verselbständigt in ein Enjambement zu anderen Exempeln ihrer Wiederkehr. Und das ist die These des Aristoteles darüber, wie überhaupt Formen im Kontext der Materie kausal relevant sind und determinative Kraft gewinnen können. Wenn einmal eine echte Form entdeckt ist und an Exemplarität gewinnt, dann wird man sie nicht mehr so leicht los, weil sie ihre Wiederkehr in der Vervielfältigung immer weiter selbst begünstigt.

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Aristoteles, Metaphysics, VII 11, 1036a31-b24.

Exemplar und Form



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Literatur

(Ps.-)Alexander von Aphrodisias: In Aristotelis Metaphysicorum libros Commentaria, hg. v. M. Hayduck, Berlin 1891. Aristotelis opera, hg. v. I. Bekker, 2 Bde., Berlin 1931 ff. Aristotle: Metaphysics. A revised text with introduction and commentary by W. D. Ross, Vol. I–II, Oxford 1924 reprint. Buchheim, T.: Sophistische Kunst und die Mittel menschenmöglicher Korrektur am Gegebenen. In: Die Sophisten. Ihr politisches Denken in antiker und zeitgenössischer Gestalt, hg. v. B. Zehnpfennig. Baden-Baden 2019, S. 15–50.

Ausstellung und Erkenntnis

Exemplarität in Kollektionen und Konstellationen Thomas Zingelmann In seinem Text Ueber Kunstausstellungen von 1890 hat Georg Simmel eine klare Meinung zu den Kunstausstellungen seiner Zeit: Sie seien „unerfreulich und wenig nutzbringend.“1 Zweifellos ein hartes Urteil für eine Zeit, in der es zu einigen Neuerungen in der Kunst kam, die man heute als epochemachend bezeichnen würde. Aber wie kommt er zu dieser Ansicht? Simmel beschreibt eine Erfahrung, die sicherlich auch heute noch viele nach einem Ausstellungsbesuch nachempfinden können: Erschöpfung durch Überforderung.2 Seine Kritik hat zwei Seiten: Einerseits betrifft sie die Kunst selber und andererseits ist sie auf die Ausstellungen gerichtet. Zusammengefasst behauptet er von der Kunst, dass es hier und dort zwar interessante Werke gäbe, sie tendenziell aber durch eine „Armuth der malerischen Motive“3 besticht und der Rezipient aufgrund fehlender „künstlerischer Phantasie“4 nicht mehr erreicht werde. Es handle sich um „ein unermüdliches Versuchen, den tausendmal dargestellten Vorgängen und Personen ein letztes bisschen Originalität abzulisten.“5 Simmel wirft den Ausstellungen vor, auf eine Weise überdimensioniert zu sein, dass der Besucher schlicht überfordert wird. Die Besucher seien mit so vielen Kunstwerken konfrontiert, dass sie gar nicht mehr fähig seien, überhaupt noch etwas aufzunehmen. Simmel entfaltet seine Kritik vor dem Hintergrund, dass er zwei Ausstellungsformen unterscheidet: die des Ausstellungswesens und die des Museums. Er kritisiert Ausstellungen nicht überhaupt, sondern eine bestimmte Art auszustellen – die für ihn aber prototypisch für seine Zeit ist. Mit dem Museum identifiziert er Ruhe und Selektion und mit den Ausstellungen Hektik und Masse.6 Ausstellungen – beispielsweise die der Galerien – seien der Ort, an dem alles in größtmöglicher Vielfalt zusammengetragen wird, was die Kunst hergibt, wohingegen das Museum, aufgrund des Fokus auf eine Sammlung, differenzierter ist. Warum Ausstellungen diese 1 2 3 4 5 6

Simmel, Kunstausstellungen, S. 16. Simmel, Kunstausstellungen, S. 13. Simmel, Kunstausstellungen, S. 14. Simmel, Kunstausstellungen, S. 14. Simmel, Kunstausstellungen, S. 14. Simmel, Kunstausstellungen, S.  13. Damit bezeichnet er aber keinen harten Gegensatz, sondern eine Tendenz.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_004

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Thomas Zingelmann

Wirkung zugesprochen wird, wird wie folgt erklärt: Die voranschreitende Arbeitsteilung im gesellschaftlichen Leben mache auch vor der Kunst nicht Halt und schlage sich in der Qualität der künstlerischen Produktion nieder. Bündelte sich in der Vergangenheit die künstlerische Fähigkeit noch in Einzelpersonen und deren Werken, so diagnostiziert Simmel, fände man sie nur noch fragmentarisch verstreut. Konnte man früher ein paar bedeutende Werke zeigen, um über den Status der Kunst Aufschluss zu erhalten, so bedürfe es nun großangelegter Ausstellungen, die die verschiedenen Leistungen qua verschiedener künstlerischer Fähigkeiten zur Geltung bringen, um einen adäquaten Eindruck zu erhalten. In diesem Sinn seien Ausstellungen ein notwendiges Übel, da der künstlerische Wert aufgrund von Arbeitsteilung zerstreut sei: „Die Kunstausstellung ist die nothwendige Ergänzung und Folge des modernen Specialistenthums in der Kunst.“7 Die Kunstwerke seien als einzelne einseitig und erst im Verbund käme der künstlerische Stand der Zeit zum Vorschein: „Kein einzelnes Kunstwerk läßt sich angeben, das etwa die Summe des vorhanden Könnens, den Höhepunkt aller bisher erreichten Entwicklung so darstellte, wie die Sixtinische Madonna oder die Mediceergräber es thaten; darum bedarf es des Zusammenführens des Verschiedenartigen, des Zusammenkommens aller möglichen Meister, um die Kunst der Gegenwart kennen zu lernen.“8 Aufgrund dieser Zeitdiagnose zeichnen sich Ausstellungen nach Simmels Meinung durch Vermassung aus: Für Simmel wird es zum Problem, dass die Masse an Werken und nicht die Einzelwerke im Vordergrund stehen. Er spricht von „Durcheinander“, „störender Gleichzeitigkeit“, „Ueberladung“, „geistigem Mißbehagen“9 und „bunter Eintönigkeit.“10 Hiermit verbindet er auch eine sozialpsychologische Beobachtung, denn er ist der Meinung, dass Ausstellungen dem Zeitgeist insofern entsprächen, als „Blasirtheit und Oberflächlichkeit“11 Merkmale des Besuchers seien. Ohne dies in Gänze zu rekonstruieren, sei nur folgende Bemerkung stellvertretend erwähnt: „Es ist leicht, ruhig und kühl den Dingen gegenüberzustehen, wenn das Gehirn so abgestumpft ist, daß es überhaupt keiner Wärme und keiner Begeisterung mehr zugänglich ist; es ist leicht, sich vor Ueberschätzung zu bewahren, wenn man überhaupt nichts mehr schätzt; es ist leicht, das Schlechte zu kritisieren, wenn man auch dem Guten nur

7 8 9 10 11

Simmel, Kunstausstellungen, S. 10. Simmel, Kunstausstellungen, S. 10. Alle Simmel, Kunstausstellungen, S. 13. Simmel, Kunstausstellungen, S. 15. Simmel, Kunstausstellungen, S. 12.

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noch kritisch gegenüberzustehen weiß.“12 Ausstellungen, so zeigt diese kurze Rekonstruktion, haben eine schwere Stellung in Simmels Analyse. So sehr es naheliegt, Simmel als Theoretiker des kulturellen Verfalls zu lesen, so kann er den Ausstellungen doch zumindest eine positive Sache abgewinnen. Wie auch in anderen Werken Simmels, wie beispielsweise zur Mode13, stellen die Ausstellungen ein Symptom der modernen Gesellschaft und Kultur dar. Das Symptomatische wird für Simmel Vehikel der Soziologie. Aus den gesellschaftlichen Phänomenen lässt sich deuten, was Gesellschaft ist. Ausstellungen sind in diesem Sinne Gesellschaft im Mikrokosmos. Wer etwas über das Wesen der modernen Kultur erfahren wolle, so kann man mit Simmel sagen, der muss nur in eine Ausstellung gehen. Wer das Werk Simmels kennt, der wird nicht überrascht sein, dass seine Ausstellungskritik in eine Gesellschafts- und Kulturkritik mündet. Ausstellungen stehen für Gesellschaft überhaupt „symbolisch“14, sie sind ein „Miniaturbild unserer Geisteströmungen.“15 Positiv bestimmt Simmel Ausstellungen als exemplarisch für Gesellschaft, Kultur und Zeitgeist. Ihr exemplarischer Charakter besteht darin, dass sie die kennzeichnenden Merkmale einer Gesellschaft, einer Kultur oder eines Zeitgeistes sichtbar machen und uns ermöglichen, diese Merkmale anhand von einem konkreten Gesellschaftsphänomen zu verstehen. Die Form des sozialen Miteinanders einer Gesellschaft sowie ihre Werte werden in Ausstellungen exemplarisch sichtbar. Das ist ein trauriger Trost für das Ausstellungswesen. Denn für Simmel sind Ausstellungen nicht inhaltlich, sondern formal interessant. Was lässt an Art, Struktur und Form der Ausstellungen auf die Beschaffenheit von Gesellschaft und Kultur schließen? Es geht nicht darum, was in der Ausstellung hängt, sondern wie es dort hängt. Die Ausstellung sei eines von vielen Ausdrucksphänomenen von Gesellschaft, könnte aber durch andere wie Schmuck16 ersetzt werden. Simmel verwendet die Begriffe ‚Symbol‘ und ‚Miniaturbild‘ synonym. Seine Überzeugung ist klar: Wer Gesellschaft analysieren will, muss das mit Bezug auf die Erscheinungen machen, weil Gesellschaft als solche nicht erscheint. Demgemäß ist die soziologische Analyse auf einen Stellvertreter für Gesellschaft angewiesen. Auf Basis dieser Erörterungen kann gesagt werden, dass Ausstellungen für Simmel in zwei Sinnen exemplarisch sind. In einem ersten Sinne sind Ausstellungen ihrer Form nach insofern exemplarisch, als sie die kennzeichnenden Merkmale 12 13 14 15 16

Simmel, Kunstausstellungen, S. 12. Simmel, Mode, S. 7–38. Simmel, Kunstausstellungen, S. 11. Simmel, Kunstausstellungen, S. 16. Simmel, Schmuck, S. 17–23.

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einer Gesellschaft ausdrücken. Wenn Ausstellungen exemplarisch sind, so würde Simmel wohl sagen, dann in dieser soziologischen oder sozialpsychologischen Dimension. In einem anderen Sinne scheinen aber Ausstellungen auch ihrem Inhalt nach exemplarisch zu sein. Denn das, was ausgestellt wird, sind nicht einfach Dinge, sondern Dinge, die ebenfalls für etwas anderes stehen. Die Dimension des Ausgestellten selbst steht bei Simmel jedoch nicht im Vordergrund, sondern wird wieder auf Gesellschaftliches bezogen.17 Was bedeutet es, dass Ausstellungen auch in diesem zweiten Sinne exemplarisch sind? In diesem Beitrag soll dieser zweite Punkt genauer erörtert werden. Auf diese Weise soll die Einseitigkeit von Simmels soziologischem Reduktionismus zum Vorschein kommen. 1.

Was ist Exemplarität?

Was ist mit Exemplarität gemeint? Exemplarität und die damit verbundenen Prädikate wie ‚exemplifizieren‘, ‚ein Exempel/Exemplar von etwas sein‘ sind mehrdeutig. Um dieser Mehrdeutigkeit vorzubeugen, soll im Folgenden zwischen dem ‚Exemplar‘ und dem ‚Exemplarischen‘ unterschieden werden. Ein Ding als Exemplar zu verwenden, bedeutet, dieses Ding als Besonderes eines Allgemeinen zu nehmen. Man kann beispielsweise Frau mit Sonnenschirm von Claude Monet als Exemplar der impressionistischen Malerei verwenden. Ein Ding als exemplarisch zu verwenden, bedeutet stattdessen, die strukturellen oder charakteristischen Merkmale eines Allgemeinen konkret zu erfassen. In diesem Sinne gilt Frau mit Sonnenschirm für impressionistische Malerei insofern als exemplarisch, als es die Charakteristika der impressionistischen Malerei sichtbar macht, ohne diese abstrakt zu bestimmen. Worin besteht dann der Unterschied in den beiden Verwendungsweisen? In der einen Weise wird das Gemälde dazu benutzt, um es als der impressionistischen Malerei zugehörig auszuweisen. In der anderen Weise wird das Gemälde dazu benutzt, um an ihm den Impressionismus auszuweisen. Vor diesem Hintergrund sind auch zwei Weisen zu unterscheiden, in denen man Besonderes auf etwas, das als ein Allgemeines verstanden werden soll, bezieht. Die Frage, was impressionistische Malerei ist, kann man dementsprechend auf zwei Weisen beantworten: Entweder man nennt, beziehungsweise zeigt, einzelne impressionistische Werke, um die Zugehörigkeit und den Umfang impressionistischer Malerei anzugeben. Oder man nennt, beziehungsweise 17

Dies ist durch seine These begründet, dass Gesellschaft überall dort „existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten.“ Simmel, Soziologie, S. 17.

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zeigt, einzelne impressionistische Werke, um die Charakteristika impres­ sionistischer Merkmale herauszustellen. Um beim Beispiel zu bleiben: Im ersten Fall ist Frau mit Sonnenschirm Exemplar impressionistischer Malerei. Im zweiten Fall ist Frau mit Sonnenschirm exemplarisch für impressionistische Malerei. In der ersten Weise wird die Bedeutung oder der Gegenstandsbereich impressionistischer Malerei benannt oder gezeigt und in der zweiten Weise der Sinn oder die Merkmale impressionistischer Malerei. In der einen Weise geht es um Unterordnung unter eine Kategorie; in der anderen Weise wird die Kategorie selbst thematisch. Ausstellungen können ihre Exponate in den hier genannten Weisen verwenden. Anders gesagt: Mithilfe von Exemplarität lässt sich die Praxis des Ausstellens differenzieren und genauer fassen: Exponate werden als Exemplare von etwas oder Exponate werden exemplarisch für etwas verwendet. Um das zu verdeutlichen, sollen im Folgenden zwei Dinge geklärt werden. Erstens: Was ist eine Ausstellung und was heißt es, etwas auszustellen? Zweitens: Welche Rolle spielt Exemplarität in Ausstellungen? Die folgenden Überlegungen können als systematische Antwort auf Simmels Beitrag verstanden werden. Dabei ist es meine Absicht, den Erkenntniswert von Ausstellungen herauszustellen. 2.

Was ist Ausstellen?

Ausstellen wird sowohl in der Forschungsliteratur als auch in Handbüchern und Anleitungen in der Regel als ein Akt des Zeigens verstanden, in dem Sinn, dass entweder Zeigen und Ausstellen synonym verwendet werden oder Ausstellen als eine besondere Form des Zeigens verstanden wird. Allerdings hat man es hier mit einem nicht explizierten Verständnis zu tun. Warum Ausstellen ein Akt des Zeigens ist, das wird gemeinhin nicht begründet. Ein philosophisch fundierter Ausstellungsbegriff ist ein Desiderat.18 Dieser eher als Intuition zu beschreibenden Grundannahme soll im Folgenden eine argumentative Grundlage gegeben werden. Dem Zeigen ist in den letzten Jahren verstärkt Aufmerksamkeit in der Forschung zugekommen.19 Insbesondere in der Philosophie hat sich eine verhältnismäßig breite Debatte etabliert. Das Zeigen ist dennoch kein neues 18 19

Ludger Schwarte bildet hier eine Ausnahme und hat in einigen Publikationen einen Ausstellungsbegriff entwickelt, der allerdings dem Zeigen entgegensteht. Vgl. jüngst Schwarte, Geltung, S. 81–98. Eine Auswahl: Schmidt (Hg.), Zeigen. Tomasello, Kommunikation. van den Berg und Gumbrecht (Hg.), Politik.

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Thema in der Philosophie. Dass der Begriff des Zeigens schon bei so namhaften Philosophen im 20. Jahrhundert wie Martin Heidegger20 und Ludwig Wittgenstein21 eine wichtige Funktion übernimmt, ist gut erforscht. Selbst durch die Philosophiegeschichte hindurch wird der Umstand ersichtlich, dass das Zeigen nicht eine unbedeutende Thematik ist.22 Dennoch: Mit einer systematischen Debatte hat man es erst seit ca. 15 Jahren zu tun. Insbesondere hat Lambert Wiesing 2013 eine umfassende Studie und eine Systematisierung der Debatte vorgelegt. Wiesing begründet einen differenzierten Zeigebegriff, der einen ersten Ausgangspunkt bildet, will man argumentieren, dass Ausstellen ein Zeigen ist. Ausgangspunkt für Wiesings Phänomenologie des Zeigens ist die Beobachtung, dass insbesondere die Bildtheorie zu einer animistischen Verwendungsweise des Bildbegriffs neigt. Dies äußere sich insbesondere in Formulierungen wie: „Bilder zeigen etwas.“ Das würde bedeuten, dass Bilder handlungsfähige Subjekte sind. Dieser Kategorienfehler führt zu der Einsicht, dass Bilder nichts von sich aus zeigen können, sondern auf eine bestimmte Art verwendet werden müssen. Wiesings These ist folgende: Nicht Bilder zeigen etwas, sondern jemand zeigt jemand anderem etwas mit Bildern. Bilder sind dann Mittel in einer Zeigehandlung, und eben nicht das Subjekt, das zeigt. So könnte jemand mit dem Bild Sandbank von David Schnell eine Sandbank zeigen oder aber auch einen grauen Himmel. Kurzum: Jemand muss ein Bild zum Zeigen verwenden, von sich aus wird es dies nicht machen. Daran schließt sich für Wiesing die Frage an, was man überhaupt macht, wenn man zeigt. Um sinnvollerweise behaupten zu können, dass jemand etwas jemandem zeigt, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss vom Zeigenden intendiert gewesen sein, dass das Gesehene gesehen wird. Zweitens muss die Person, der etwas gezeigt wird, dieses Intendierte gesehen haben. Wenn ich jemanden mit meinem Zeigefinger auf die vorbeilaufende Katze aufmerksam machen möchte, die Person aber meiner Aufforderung nicht folgt, so habe ich ihr, Wiesings Meinung nach, nichts gezeigt, weil sie die Katze nicht gesehen hat. Zeigen ist der Akt, durch den man jemand anderen etwas sehen lässt. Deswegen ist es notwendig, dass die Person die Katze gesehen hat. Zeigen macht etwas sichtig und nicht nur sichtbar. Allerdings ist nicht alles, was durch das 20 21 22

Bei Heidegger betrifft dies seine Rede von einer „formalen Anzeige“, siehe hierzu: Imdahl, Formale Anzeige, S. 306–332. Darüber hinaus gilt dies schon für den Begriff der Phänomenologie, siehe hierzu: Wiesing, Sehen lassen, S. 25 ff. Beispielhaft für die umfangreiche Forschung zum Verhältnis von Sagen und Zeigen bei Wittgenstein sei hier auf folgenden Artikel verwiesen: Vossenkuhl, Hauptproblem, S. 35–63. Rentsch und Vollmann, Zeigen.

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Zeigen sichtig gemacht wurde, auch gezeigt worden: So wurde vielleicht auch das vorbeifahrende Auto gesehen, es wurde aber nicht gezeigt, weil das Auto nicht das intendierte Objekt meiner Zeigehandlung war. Nur dasjenige ist gezeigt worden, von dem auch beabsichtigt war, dass es vom Adressaten der Zeigehandlung gesehen wird. Es lässt sich also festhalten, dass es nur dann sinnvoll ist, vom Zeigen zu sprechen, wenn jemand auf etwas Intendiertes aufmerksam geworden ist. Der Sinn des Zeigens ist es, die Aufmerksamkeit von jemandem auf etwas zu lenken, damit es gesehen wird. Auf die Frage, wie sich die Aufmerksamkeit von jemandem lenken lässt, macht Wiesing den Vorschlag einer Binnendifferenzierung, die vorsieht, dass es „nur“23 zwei mögliche Formen des Zeigens gibt: entweder durch Konfrontieren oder durch Hinweisen. Ausweisen lässt sich dies an der englischen Sprache, die die Unterscheidung zwischen showing und pointing kennt.24 Was macht also jemand, der konfrontierend zeigt und was macht jemand, der hinweisend zeigt? Wer jemanden mit etwas konfrontiert, der zwingt jemanden dazu, etwas zu sehen. Jemand bewegt ein Objekt also so, dass dieses in das Blickfeld der anderen Person geführt wird, um damit die Aufmerksamkeit der Person zu erzwingen. Das prototypische Beispiel hierfür ist der Exhibitionist. Ein weniger drastisches Beispiel wäre die Schiedsrichterin im Fußball, die mit einer roten Karte einen Spieler des Platzes verweist. Die rote Karte wird nicht nur in die Luft gehalten, sondern so bewegt, dass der entsprechende Spieler sie sehen muss. Entscheidend an dieser Form des Zeigens ist, dass die Aufmerksamkeit gelenkt wird, indem das zu zeigende Objekt bewegt wird. Hingegen gilt für das Hinweisen, dass hier versucht wird, den Blick der anderen Person zu lenken. Typischerweise nutzt jemand seine Zeigefinger, um jemanden auf etwas hinzuweisen, indem dessen Blickrichtung gelenkt wird. So verweist ein Schiedsrichter in der amerikanischen Basketball-Profiliga mit dem Zeigefinger auf den Ausgang, wenn er einen Spieler disqualifiziert. Hinweisen ist derjenige Zeigeakt, der dann nötig wird, wenn sich das Intendierte nicht einfach so bewegen lässt. Wenn ich jemanden auf eine vorbeilaufende Katze aufmerksam machen möchte, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als zu versuchen, den Blick der anderen Person auf die Katze zu lenken. Das Hinweisen zeichnet sich also durch Blicklenkung und nicht Objektbewegung aus. In Wiesings Konzeption des Zeigens wird Ausstellen als eine spezifische Praxis des Zeigens von Bildern in Kunstmuseen verstanden. Genauer gesagt: Wiesing thematisiert Ausstellen nur in dieser Hinsicht – ohne es in Bezug zu showing oder pointing zu setzen. Wiesing behauptet, dass Bilder üblicherweise 23 24

Wiesing, Sehen lassen, S. 21. Wiesing, Sehen lassen, S. 21.

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als Werkzeug benutzt werden, um etwas zu zeigen. Das Kunstmuseum sei nun aber der Ort, an dem Bilder gerade nicht als Werkzeuge in einer Zeigehandlung genutzt werden. Um diesen Unterschied sprachlich deutlich machen zu können, lässt sich sagen, dass es in einem Kunstmuseum zu einem Zeigen von und nicht zu einem Zeigen mit Bildern kommt. Diese museale Zeigepraxis zeichnet sich wie folgt aus: Es soll nicht mit Bildern dieses oder jenes gezeigt werden, beispielsweise verschiedene Ansichten Venedigs. Sondern es soll gezeigt werden, was sich alles mit diesen Bildern zeigen lässt. Wiesings These ist, dass die Ausstellung in einem Kunstmuseum ein Zeigen des Zeigens oder ein Meta-Zeigen, ein Zeigen „zweiter Ordnung“25 sei. Er begründet dies damit, dass Bilder in Kunstmuseen entkontextualisiert, zweckentfremdet werden.26 Dass das Bild als Bild gezeigt wird, bezeichnet Wiesing als ein Ausstellen des Bildes: „[…] wo immer ein Bild um des Bildes selbst willen wie in der Kunstwelt gezeigt wird, dort hat man es mit einer Praxis des Zeigens durch Ausstellung zu tun.“27 Sicher: In Kunstmuseen mag in der Regel auf diese Weise ausgestellt werden. Ob aber die hier beschriebene Praxis für das Ausstellen überhaupt gilt, scheint fraglich. Ist Ausstellen immer ein selbstreflexiver Akt des Zeigens? Zeigt der, der ausstellt, die Möglichkeiten des Zeigens? Nimmt man nämlich an, dass auch in Galerien, Showrooms, Ausstellungshäusern und öffentlichen Gebäuden ausgestellt wird, dann erscheint die von Wiesing beschriebene Ausstellungsform nur als eine Möglichkeit des Ausstellens. Wiesings Beschreibungen zielen auf den Ort der Ausstellung und nicht auf das Ausstellen selbst: „Weil ein Bild in einem Kunstmuseum hängt, ist der Betrachter speziell durch diesen Kontext aufgefordert und legitimiert, das Bild zum Zeigen von allem zu verwenden, was das Bild zeigen kann.“28 Es kommt zu einem Zeigen zweiter Ordnung, nicht weil etwas ausgestellt ist, sondern weil etwas in einem Kunstmuseum ausgestellt ist. Damit aber bleibt die grundlegende Eigenart des Ausstellens ungeklärt. Wenn man nun Ausstellen als einen Zeigeakt begreifen will, wie verhält sich dieser zu den von Wiesing angeführten Merkmalen und Differenzierungen des Zeigens? Ob es sich nun um eine Galerie, ein Schaufenster oder ein Museum handelt: Sollen diese Phänomene als Phänomene ähnlicher Art aufgefasst werden, muss ihnen notwendigerweise etwas Gemeinsames zugrunde liegen. Wer ausstellt, möchte jemand anderen etwas sehen lassen. Es kann sich um eine Werkschau William Turners handeln oder Turners Werke als Wegbereiter 25 26 27 28

Wiesing, Sehen lassen, S. 180. Wiesing, Sehen lassen, S. 185. Wiesing, Sehen lassen, S. 181. Wiesing, Sehen lassen, S. 189.

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des Impressionismus. Es können verschiedene Gitarrenverstärker eines bestimmten Herstellers sein oder aber die geschichtliche Entwicklung dieser Verstärker des Herstellers. Es können verschiedene typische Gegenstände aus der DDR sein oder aber die Rolle dieser Gegenstände für das alltägliche Leben (in der DDR). Ob man die Dinge nun auf diese oder jene Weise ausstellt: Wenn Ausstellen ein Zeigen ist, hat man es dann mit einem showing oder einem pointing zu tun? Die Frage also ist, ob derjenige, der ausstellt, jemanden mit etwas konfrontiert oder jemanden auf etwas hinweist. Wenn jemand beispielsweise eine Werkauswahl des Impressionismus zeigen will oder zeigen will, dass William Turner ein Vorläufer des Impressionismus ist, dann wird diese Person es kaum bewerkstelligen können, es der anderen Person auf die Art des Konfrontierens oder des Hinweisens zu zeigen, ohne dabei einen immensen und übertriebenen Aufwand zu betreiben. Gleiches gilt für ein Möbelhaus: Wer die neuen Möbel einer Kollektion zeigen will oder aber zeigen will, wie diese sich in einem Raum ergänzen, der wird der anderen Person dies nicht durch Konfrontation oder Hinweisen zeigen können – auch hier zumindest nicht ohne erheblichen Aufwand. Zeigen durch Ausstellen ist der Versuch, ein komplexes Intendiertes zu zeigen. Diese Komplexität besteht nicht darin, dass das Intendierte besonders groß oder schwer sein muss – auf den Eiffelturm lässt sich problemlos hinweisen, aber es wäre schwierig, ihn auszustellen. Wer ausstellt, tut dies, weil sich das Intendierte nicht einfach in den Blick der anderen Person bewegen lässt, noch kann man einfach darauf hinweisen. Derjenige, der ausstellt, tut dies, weil er das Intendierte nur durch eine Ausstellung zeigen kann. Und das besagt in der Regel: Wer ausstellt, möchte mehrere Dinge oder mit mehreren Dingen etwas zeigen. Aber ist der Plural des Intendierten oder der Plural des verwendeten „Zeigzeugs“29 für jeden Akt, der dieses Merkmal erfüllt, hinreichend, um ihn als Akt des Ausstellens zu identifizieren? Dies kann verneint werden, da es vorstellbar ist, dass jemand mit unterschiedlichen Dingen jemand Anderen konfrontiert. So kann die Staatsanwältin dem Angeklagten die Beweislast wortwörtlich vor Augen führen, indem sie ihn mit den Evidenzen konfrontiert. Der Museumsführer wird versuchen, die Schulklasse auf verschiedene bemerkenswerte Dinge der Museumssammlung aufmerksam zu machen. Es ist also nicht hinreichend für den Ausstellungsbegriff, dass mehrere Dinge gezeigt oder mit mehreren Dingen etwas gezeigt wird. Was also macht man, wenn man ausstellt? Hält man sich an Wiesings Bestimmungen für das Konfrontieren und Hinweisen, dann lässt sich hinsichtlich des Konfrontierens sagen, dass jemand, der ein Museum besucht oder an einem Schaufenster vorbeiläuft, 29

Wiesing, Sehen lassen, S. 47.

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nicht gezwungen ist, die Dinge dort zu sehen. Es ist sogar vorstellbar, dass die Dinge so platziert werden, dass es unausweichlich scheint, sie sehen zu müssen. Jedoch: Wie oft gehen Menschen durch Museen und an Schaufenstern vorbei, ohne das Intendierte zu sehen? Es gibt keinen Zwang durch die Zeigeform des Ausstellens, auch wenn geschickte Inszenierungen versuchen, einen solchen auszuüben. Hinsichtlich des Hinweisens fällt eine Abgrenzung schon schwerer: Durch Inszenierung wird versucht, die Blickrichtung und Aufmerksamkeit des Anderen zu lenken. Aber führt Inszenierung dazu, dass Ausstellen ein Hinweisen ist? Ist jede Ausstellung inszeniert? Inszenierung als notwendiges Merkmal für Ausstellungen anzunehmen, würde dazu führen, dass man es bei lieblos gestalteten Schaufenstern und Museumsausstellungen dann nicht mehr mit Ausstellungen zu tun hätte. Der Grad der Inszenierung kann keine geeignete Bedingung für Ausstellen als Hinweisen sein. Es ließe sich aber behaupten, dass Inszenierung ein zusätzlicher Akt des Zeigens beim Ausstellen ist, mit dem gezeigt werden soll, dass etwas gezeigt wird. Denn: Wer ausstellt, hegt von vornherein die Hoffnung, dass der Besucher freiwillig aufmerksam ist, da im Gegensatz zur Zeigeform des showings die Aufmerksamkeit nicht erzwungen werden kann. Das mag sich graduell vom Verkäufer zum Kurator, vom Kunstliebhaber zum Schüler unterscheiden. Aber wer ausstellt, weiß, dass das Gelingen der Ausstellung von der Bereitwilligkeit des Besuchers oder des Passanten abhängig ist. Wer nicht Gitarre spielen kann, dem werden in der Regel die Verstärker im Schaufenster nicht auffallen. Wer sich nicht für Geschichte interessiert, der wird vermutlich zwei Stunden in einem Geschichtsmuseum als äußerst lang erleben. Aber: Um auch diese Menschen zu erreichen, werden Ausstellungen eben inszeniert. Inszenierung ist jedoch für das Ausstellen nicht notwendig, auch wenn, wer sichergehen will, dass das Intendierte wirklich gesehen wird, gut beraten ist, sich das ein oder andere Buch der Szenografie anzuschauen. Mag zwar durch Zeigen als Konfrontieren gesichert sein, jemanden etwas sehen zu lassen, so kann dies vom Hinweisen und vom Ausstellen nicht behauptet werden. Denn das ist ein Merkmal des Ausstellens: Der Ausstellende zeigt in der Regel nicht direkt: Er ist nicht anwesend. Der Ausstellende platziert die Objekte nicht in der Gegenwart des Besuchers vor seinen Augen. Genaugenommen muss man sagen, dass der Ausstellende nicht ausstellt, sondern ausgestellt hat. Der Exhibitionist und der Touristenführer hingegen führen den Akt des Zeigens in Anwesenheit aus. Das ist der entscheidende Unterschied: Jemand, der ausstellt, platziert Dinge, damit diese gesehen werden. Anders formuliert: Jemand zeigt etwas qua Ausstellung. Wer ausstellt, der platziert Dinge, egal ob an der Wand, auf dem Boden, im Raum oder im Freien, damit diese Dinge gesehen werden. Platzieren lässt sich vom Abstellen oder Ablegen

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unterscheiden, insofern mit ihm eine Absicht verbunden ist. Dass ich meine Kaffeetasse auf dem Tisch abstelle oder meine Jacke auf dem Sofa ablege, dann geschieht das lediglich, um diese Dinge loszuwerden. Ich hätte diese Dinge auch überall sonst abstellen oder ablegen können, weil der Sinn meiner Handlung darin liegt, die Dinge loszuwerden. Wer aber etwas platziert, der will, dass diese Sache an diesen Ort gestellt wird, weil eine spezifische Absicht damit verbunden ist. Bomben werden in der Regel platziert und nicht abgestellt, weil sie an bestimmten Stellen ihren Zweck besonders effektiv erfüllen. Wer einen Raum einrichtet, der platziert die Dinge und stellt sie nicht ab. Und Product Placement ist diejenige Tätigkeit, mithilfe derer man sich durch Platzierung Aufmerksamkeit erhofft. Nun ist aber nicht jedes Platzieren ein Ausstellen: Jemand, der eine Falle platziert, stellt diese nicht aus, da sie nicht gesehen werden soll. Und jemand, der eine Bombe platziert, hat diese Bombe nicht ausgestellt, denn von dieser will er gerade nicht, dass sie gesehen wird. Mit Ausstellen hat man es dann zu tun, wenn etwas platziert wird, damit es gesehen wird. Ausstellen ist Zeigen durch Platzierung mehrerer Dinge. Jemand der mehrere Dinge platziert, um diese oder mit diesen etwas zu zeigen, der stellt etwas aus. Was man macht, wenn man ausstellt, ist nun klar; jedoch wie man ausstellt, noch nicht: Entweder stellt man mehrere Dinge aus – typisch sind hier Museumssammlungen oder die Gegenstände in einer Schaufensterauslage. Oder man stellt mit den Dingen etwas anderes aus – man denke an Sonderausstellungen in Museen oder die Showrooms von Firmen. Es handelt sich allerdings nicht um ein Entweder-Oder. Beide Weisen markieren die Enden auf einer Skala, innerhalb derer sich die Möglichkeiten, wie ausgestellt wird, ergeben. Das Besondere ist nun, dass in beiden Weisen Exponate im Sinne der Exemplarität verwendet werden. Wer ausstellt, benutzt Exponate entweder als Exemplare von etwas oder exemplarisch für etwas. Es geht also im nächsten Schritt darum zu klären, wie die Dinge gezeigt werden, wenn sie ausgestellt werden. 3.

Exemplarität: Kollektion und Konstellation

Die Unterscheidung zwischen ‚Exemplar‘ und ‚Exemplarischem‘ ermöglicht, besser zu verstehen, wie in Ausstellungen etwas gezeigt wird: Die Exponate einer Ausstellung können nämlich entweder als Exemplare von etwas oder als exemplarisch für etwas ausgestellt werden. Ausstellungen verwenden Exponate in den beiden genannten Weisen von Exemplarität. Durch die Art und Weise, wie Ausstellungen etwas als Exemplar beziehungsweise etwas

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exemplarisch verwenden, wird auch ersichtlich, was Ausstellungen idealtypisch sehen lassen können: den Umfang oder die Merkmale einer Sache. Es geht also nicht nur darum, dass Dinge ausgestellt werden, sondern wie sie ausgestellt werden. Ausstellen ist das Zeigen von Kollektionen und Konstellationen. So lässt sich auf Seiten der Kollektion zuordnen, dass Exponate als Exemplare von etwas verwendet werden. Wohingegen in der Weise der Konstellation Exponate als exemplarisch für etwas verwendet werden. Die Begriffe der Kollektion und Konstellation markieren die beiden Enden einer Skala. Jede Ausstellung lässt sich (notwendigerweise) irgendwo zwischen diesen Enden verorten. Ausstellungen sind dementsprechend mal eher eine Kollektion und mal eher eine Konstellation. Diese beiden Begriffe machen das Verhältnis der ausgestellten Dinge zueinander deutlich. Die Dinge einer Ausstellung – sei es ein Museum, Schaufenster oder eine Messehalle – können als Teil einer Relation oder mit den Dingen kann eine Relation ausgestellt werden. Anders formuliert: Es werden Dinge oder Relationen gezeigt. Oder: Es werden Teile von Relationen oder die Relationen selber gezeigt. Wer ausstellt, organisiert die Beziehung der Teile im Verhältnis zum Ganzen. Man kann impressionistische Gemälde oder ‚den Impressionismus‘ ausstellen, das heißt den Besucher sehen lassen, was den Impressionismus ausmacht. Im ersten Fall ist es das Ausstellen verschiedener Teile einer Relation, im zweiten Fall ist es das Ausstellen einer Relation mithilfe verschiedener Teile. Typischerweise findet man Konstellationen eher im Museum als im Schaufenster. Nichtsdestoweniger muss nicht notwendigerweise auf diese Art im Museum ausgestellt werden. Denn ebenso findet man im Museum auch Kollektionen. Die Möglichkeiten, auf welche Weise ausgestellt wird – ob es sich nun um ein Museum, ein Schaufenster, eine Galerie, ein Bahnhofsfoyer handelt –, ist unabhängig vom Ort der Ausstellung. Wie man ausstellt, heißt also wie man das Verhältnis der Teile zum Ganzen organisiert. Der Begriff der Kollektion bietet sich deswegen an, weil die Sammlung eine relativ lose Relation ist. Die Sammlung lässt sich nur dadurch zeigen, dass Exemplare dieser Sammlung gezeigt werden. Die spezifische Relation der Teile zum Ganzen besteht dabei darin, dass diese Teile zwar Teile einer Sammlung sind, aber für sich stehen. Die je spezifische Kollektion bleibt diese Kollektion, auch wenn ein Teil ersetzt oder entfernt wird. Die Modekollektion ist das namenbringende Beispiel hierfür. Die Relation der Teile zueinander besteht in dieser Form in der Regel lediglich in ihrer Zugehörigkeit zur Sammlung. Man zeigt Exemplare der Mode von Gucci, aber nicht Gucci. Man kann die Kollektion nur durch das Zeigen der Exemplare zeigen. Aber auch hier gilt: Es ist nur ein prototypischer Fall von Modekollektion, denn: Es gibt Modekollektionen, wo die Teile auch aufeinander bezogen werden und in diesem Sinn konstellative

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Aspekte beinhalten. Wer eine Sammlung ausstellt, macht das, indem die Teile der Sammlung ausgestellt werden. Der Begriff der Konstellation hingegen, wie man ihn insbesondere aus der Astronomie und Astrologie kennt, bezeichnet ein Gesamtes, für das die Beziehung der Teile notwendig ist. Unter anderem gehören zu den Konstellationen im astronomischen Sinn die Sternbilder: Man hat es nicht mehr mit der Konstellation des Großen Wagens zu tun, sobald beispielsweise der Stern Dubhe fehlt. Das Vorhandensein spezifischer Teile als auch deren Beziehung zueinander ist konstitutiver Bestandteil einer Konstellation. Die gemeinsame Hinsicht der Analogie zwischen Sternen- und Ausstellungskonstellation besteht in der formalen Struktur der Teil-Ganzes-Relation. Man zeigt eine Konstellation, indem man die Beziehung der Teile zeigt, respektive zeigt man, dass es eine Beziehung gibt. Ausstellungskonstellationen also stellen Dinge in Zusammenhänge. Exemplarisch sind diese Dinge dann, wenn an und mit ihnen ein Allgemeines gezeigt werden soll. In diesem Sinn werden die Sterne eines Sternbilds nicht als exemplarisch verwendet: Wer den Großen Wagen zeigen will, der will mit den Sternen das Sternbild zeigen, aber nicht an ihnen. Ausstellungskonstellationen lassen hingegen durch Zusammenstellung auch die Relation an den Teilen sehen. Darin besteht ihr epistemischer Wert: Durch Zusammenstellung etwas Allgemeines mit und an Einzelnem sehen lassen. Die Exponate stehen für etwas, das sie nur als Teil dieser Relation sind. Ein Beispiel: In einer Konstellation erfüllt das Bild von Manet den Zweck, dass an ihm die Relation erkenntlich werden soll, in die er in Beziehung gesetzt wird. Er ist hier exemplarisch in dem Sinn, dass Impressionismus an ihm erkannt wird, indem er zu anderen Werken, Malern und Epochen in Beziehung gesetzt wird. Anders formuliert: Dass das Prinzip des Impressionismus – etwa die Darstellung subjektiver Wahrnehmungszustände – dadurch an Exemplaren impressionistischer Malerei ersichtlich wird, weil sie in Beziehung zu anderen (nicht-)impressionistischen Werken gestellt werden. An den einzelnen Werken soll unter Bezugnahme aufeinander das Allgemeine gesehen werden. Das schließt aber nicht aus, dass auch beides geht: Es handelt sich hier um eine idealtypische Unterscheidung. Manet ließe sich zugleich sowohl als Exemplar als auch in exemplarischer Hinsicht als exemplarisch zeigen – wenn man ihn denn so zeigt. Denn er ist es nicht einfach so, sondern muss so verwendet werden. Das bedarf weiterer Erklärung. Heinrich Wölfflin hat mit seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen ein begriffliches Repertoire geschaffen, mit dem sich dieses Verhältnis analysieren lässt. Er versucht, anhand von fünf Begriffspaaren die Stilentwicklung in der Kunst begrifflich zu fassen. Er ist dabei der Auffassung, dass sich künstlerische Stile immer in einem Spektrum von zwei Polen verorten lassen. So kann ein

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Stil etwa eher malerisch oder eher linear, aber im seltensten Fall vollkommen eines von beiden sein, denn: „Alles ist Übergang.“30 Man hat es hier aber nicht nur mit einer Strukturanalogie hinsichtlich der Einteilung in Idealtypen zu tun. Der Verweis auf Wölfflin ist auch in der Sache begründet. Wölfflin stellt sich nämlich die Frage, wie die Dinge in einem Kunstwerk organisiert sind; und diese Organisation bewegt sich in einem Spektrum von „dort die Dinge für sich, hier die Dinge in ihrem Zusammenhang.“31 Es geht also im zweiten Fall um eine Teil-Ganzes-Relation. Es ist insbesondere das Spektrum zwischen vielheitlich und einheitlich, welches auch ein geeignetes begriffliches Werkzeug zur Beschreibung der Möglichkeiten von Ausstellungen bietet. Genauer gefasst unterscheidet Wölfflin zwischen vielheitlicher Einheit und einheitlicher Einheit. Vielheitliche Einheit meint, „daß die Teile ein System bilden, wo jeder an seiner Stelle vom Ganzen bedingt erscheint und dabei doch vollkommen selbständig wirkt.“32 Wohingegen für die einheitliche Einheit gilt: „Es fügen sich nicht mehr schöne Einzelteile zu einer Harmonie zusammen, in der sie selbstständig weiter atmen, sondern die Teile haben sich einem herrschenden Gesamtmotiv unterworfen, und nur das Zusammenwirken mit dem Ganzen gibt ihnen Sinn und Schönheit.“33 In der Weise der Kollektion sind die Dinge zwar versammelt, stehen aber für sich und werden als eigenständige Dinge gezeigt. So kann es etwa eine Ausstellung über impressionistische Malerei geben, die Werke als Exemplare des Impressionismus zeigt. Hier soll jedes Werk für sich gezeigt werden, aber eben als impressionistisches Exemplar. Das Ausstellen dieser Kollektion soll also Gegenstände des Impressionismus zeigen. Dass es sich um impressionistische Gemälde handelt, wird daran ersichtlich, dass sie als solche ausgestellt werden. Die Werke Manets, Monets und Renoirs stehen für sich, sind aber Exemplare des Impressionismus. In der Extremform der Kollektion besteht die Beziehung der Teile lediglich darin, dass sie Teile einer Sammlung sind. Historisch adäquates Beispiel hierfür ist die sogenannte Wunderkammer: Wunderkammern können die unterschiedlichsten Dinge beinhalteten. Die Beziehung der Teile der Wunderkammer besteht lediglich darin, dass sie Teile dieser Wunderkammer sind. Das Zeigen der Sammlung ist das Zeigen der Teile dieser Sammlung. Man hat es hier mit einer – vielleicht der – typischen Art des Ausstellens zu tun, nämlich der Sammlungsausstellung. Aber auch die Schaufenster von Bekleidungsgeschäften lassen sich in der Regel in diesem Sinne verstehen: 30 31 32 33

Wölfflin, Grundbegriffe, S. 38. Wölfflin, Grundbegriffe, S. 38. Wölfflin, Grundbegriffe, S. 187 f. Wölfflin, Grundbegriffe, S. 215.

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Es werden Exemplare der aktuellen Kollektion ausgestellt. So wie man es von Modeschauen kennt: Die Kollektion ist das Zeigen der Sammlung durch Zeigen der einzelnen Teile dieser Sammlung. Es geht also um Folgendes: In der Weise der Kollektion werden Dinge versammelt und als Sammlung ausgestellt, eben als Sammlung von Musterstücken. Die Exponate werden als Exemplare impressionistischer Bilder ausgestellt. Die Ausstellung zeigt den Gegenstandsbereich von „impressionistisches Gemälde“, sie zeigt, dass alle Exemplare oder Exponate hierunter fallen. Wer eine Konstellation hingegen ausstellt, der möchte mit den versammelten Dingen etwas zeigen, dass nicht diese Dinge sind. Wer also eine Kollektion ausstellt, der zeigt die Dinge um ihrer selbst willen. Wer aber eine Konstellation ausstellt, der nutzt die Dinge als Werkzeuge, um mit und an ihnen etwas zu zeigen. Wer jemandem mithilfe einer Ausstellung die Entwicklung und Geschichte der impressionistischen Malerei zeigen will, der wird die Dinge so auswählen, arrangieren und in Beziehung setzen, dass dies gesehen werden kann. Sie sind exemplarisch, weil an ihnen die Merkmale des Allgemeinen gezeigt werden. Dies lässt sich nicht an einem Gemälde zeigen, sondern nur mithilfe verschiedener impressionistischer Gemälde sowie womöglich Vorund Nachfolger impressionistischer Malerei. In diesem Sinn werden die Dinge nicht nur als impressionistische Gemälde gezeigt – weil sie es vielleicht gar nicht sind –, sondern sie werden als Werkzeuge benutzt, um den Impressionismus zu zeigen. Eine Extremform der Konstellation, die die Teile einer Relation sichtbar werden lässt, findet man in der Form des Mosaiks: Das einzelne Teil hat lediglich die Funktion das Gesamte zur Erscheinung zu bringen. Beispiele für konstellative Ausstellungen sind insbesondere die Sonderausstellungen der Museen. Dokumentiert wird dies vom Band Themen zeigen im Raum des Deutschen Hygiene-Museums.34 Schon der Titel verrät, dass es nicht primär die Objekte sind, die gezeigt werden, sondern dass mit diesen Objekten Themen oder Thesen gezeigt werden sollen. Den Kuratoren geht es also weniger darum, spezifische Objekte als zu diesen Themenbereichen zugehörig auszustellen, sondern darum, mit diesen Objekten diese Themen respektive Thesen zu diesen Themen auszustellen. Das Hygiene-Museum versteht sich selbst als einen „Diskursort“. Für das Hygiene Museum ist es ausschlaggebend, dass es „einen Standpunkt beziehen“ muss, den es „exponatgestützt“35 vertritt. Die Exponate bilden ein Gesamtgefüge, das das Thema oder die These sehen lassen soll. Die Teile stehen in einer spezifischen Relation zueinander, um die Relation selber zu zeigen. 34 35

Staupe und Vogel (Hg.), Themen, S. 15. Staupe und Vogel (Hg.), Themen, S. 15.

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Es gibt demnach zwei Weisen, um beispielsweise Werke des Impressionismus auszustellen. Diese unterscheiden sich darin, in welcher Weise die Exponate verwendet werden: Man stellt Werke des Impressionismus als dessen Teile oder als Teile des Impressionismus aus, um erkenntlich zu machen, was Impressionismus ist. Wer ausstellt, ist mit der Frage konfrontiert, was er ausstellt. Das Besondere am Ausstellen ist nun, dass das Was des Ausstellens vom Wie des Ausstellens abhängig ist. Wenn ich den Impressionismus auf die eine oder andere Weise ausstellen will, dann müssen die Teile in eine bestimmte Relation gebracht werden. Wenn ich jemanden sehen lassen will, welche Werke zum Impressionismus zählen, dann versammle ich Exemplare. Wenn ich hingegen zeigen will, was den Impressionismus ausmacht, dann versuche ich, mit und durch die Exponate dies sehen zu lassen. In der einen Weise wird Zugeordnetes gezeigt und in der anderen Weise die Zuordnung. In der Kollektion werden die Teile einer Relation gezeigt, in der Konstellation die Relation. Ausstellungen können also in doppelter Hinsicht erkenntnisleitend sein: In der einen Weise wird gezeigt, was zum Impressionismus gehört, in der anderen Weise wird gezeigt, was die Charakteristika des Impressionismus sind. Ausstellungen können etwas sehen lassen, das man als die beiden Seiten eines Begriffs auffasst: Bedeutung und Sinn. Dass Manet, Monet und Renoir zum Impressionismus gehören, kann mir gezeigt werden. Dass der Impressionismus, diejenige Malerei ist, die sich dadurch auszeichnet, die eigene Wahrnehmung zu exemplifizieren, auch das kann mir gezeigt werden. Exemplarität ist in Ausstellungen genuin epistemischer Art.36 Ausstellungen sind nicht nur ein Medium, an dem sich der Zustand der Gesellschaft ablesen lässt – eine These, die eigens überhaupt diskutiert werden müsste –, sondern Ausstellungen selber können Exponate in epistemischer Hinsicht verwenden. Im Gegensatz zu Simmels Behauptung, dass Ausstellungen lediglich in soziologischer Absicht interessant sind, zeigt sich, dass Ausstellungen die Möglichkeit bieten, dass mit und durch sie etwas über die unterschiedlichsten Themen erkannt werden kann.

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Das heißt nicht, dass jede Ausstellung erkenntnisgenerierend ist. Ausstellungen können wie jeder Zeigeakt und jede Argumentation scheitern.

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Literatur

Imdahl, G.: ‚Formale Anzeige‘ bei Heidegger. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37, 1994, S. 306–332. Rentsch, T.  und  Vollmann, M.: Zeigen. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 12, hg. v. J. Ritter, K. Gründer u. G. Gabriel, Basel 2005, Sp. 1182–1186. Schmidt, R. (Hg.): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit, Weilerswist 2011. Schwarte, L.: Zur Geltung bringen. Über expositorische Evidenz und die Normativität des Faktischen. In: Evidenzen des Expositorischen. Wie in Ausstellungen Wissen, Erkenntnis und ästhetische Bedeutung erzeugt wird, hg. v. K. Krüger u. E. A. Werner, Bielefeld 2019, S. 81–98. Simmel, G.: Exkurs über Schmuck (1908). In: Jenseits der Schönheit, Frankfurt a. M. 2008, S. 17–23. Simmel, G.: Ueber Kunstausstellungen (1890). In: Jenseits der Schönheit, Frankfurt a. M. 2008, S. 9–16. Simmel, G.: Philosophie der Mode (1905). In: Gesamtausgabe, Band 10, hg. v. M. Behr, V. Krech u. G. Schmidt, Frankfurt a. M. 1995, S. 7–38. Simmel, G.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). In: Gesamtausgabe, Band 11, hg. v. O. Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992. Staupe, G. und Vogel, K. (Hg.): Themen zeigen im Raum. Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums, Berlin 2018. Tomasello, M.: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a. M. 2011. van den Berg, K. und Gumbrecht, H. U. (Hg.): Politik des Zeigens, München 2010. Vossenkuhl, W.: Sagen und Zeigen. Wittgensteins „‚Hauptproblem‘“. In: Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus, hg. v. W. Vossenkuhl, Berlin 2001, S. 35–63. Wiesing, L.: Sehen lassen. Die Praxis des Zeigens, Frankfurt a. M. 2013. Wölfflin, H.: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (1915), Basel und Stuttgart 131963.

Heikle Zeugen Markus Heuft Gute Argumentation benötigt Beispiele – das gilt auch für die Philosophie. Kaum haben wir uns ein paar Absätze oder Seiten in einem schwierigen Text vorgekämpft, halten wir nach einem Beispiel Ausschau. Doch so sehr wir uns über jedes Beispiel freuen, so schwer fällt es uns häufig, selbst ein gutes Beispiel zu finden. In der Philosophie vermag das Beispiel zu zeigen, dass der abstrakte oder gar kontraintuitive Text tatsächlich auf etwas referiert. Deshalb gilt auch: Nur wer wirklich verstanden hat, kann ein Beispiel geben. Die Bedeutung von Beispielen beschränkt sich keineswegs auf den Kontext des Lernens – als könnten wir die Beispiele (als narrative Hilfsmittel) beiseitelegen, wenn wir ‚die Sache‘ verstanden haben. Im Gegenteil, denn oft rekonstruieren wir Theorien oder deren Argumentation über Beispiele, die uns im Kopf geblieben sind: Wie begründet Platon in der Politeia, dass die Seele drei Teile haben muss? Wie war das noch mal mit dem Prinzip der Doppelwirkung bei Thomas von Aquin? Supervenienz? Quines Unbestimmtheit der Bezugnahme? Zugleich sind es bekanntlich häufig die Beispiele, an denen sich philosophischer Streit entzündet; und zwar, kaum verwunderlich, gerade bei Texten, deren Gegenstand besonders ‚abstrakt‘ ist. Bei Kant allein ließe sich beispielhaft der Kampf um Beispiele vorführen: Ist die Summenbildung tatsächlich ein Beispiel für ein synthetisches Urteil a priori? Überzeugt auch nur eines der Beispiele, die Kant für vollkommene und unvollkommene Pflichten gegen sich und andere in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gibt? Was hätte er wohl Nietzsche geantwortet, der u. a. mit Blick auf ‚gewandlose weibliche Statuen‘ die Interesselosigkeit ästhetischen Wohlgefallens bezweifelt und darin Stendhal und dem Pygmalionmythos folgt?1 Dass Beispiele nicht nur Krücken oder sogar bloße Accessoires sind, war Kant trotz seiner Rede vom Beispiel als „Gängelwagen der Urtheilskraft“2 klar: Immerhin lässt er sich mit seiner berühmten Replik Über die vermeintliche Pflicht, aus Menschenliebe zu lügen auf das vermeintliche Gegenbeispiel ein. Gegenbeispiele entwickeln in der Philosophie häufig eine ungeheure Wucht, weil die Theorien, auf die sie sich beziehen, in der Regel Notwendigkeit beanspruchen. Das ist in der Rhetorik bekanntlich anders, da hier

1 Nietzsche, Genealogie, S. 347. 2 Kant, Kritik der reinen Vernunft A 134, B 173 f.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_005

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fast ausschließlich Wahrscheinlichkeiten verhandelt werden.3 Dennoch lohnt sich ein Blick in die aristotelische Rhetorik insofern, als hier die systematische Funktion des Beispiels innerhalb von Argumentationen sehr genau beschrieben und zugleich vorgeführt wird (Abschnitt 1). Gerade dieser zweite Aspekt, also der Beispielreichtum der Rhetorik selbst, verdient nicht minder Beachtung als der erste: Aristoteles betreibt in seiner Rhetorik wiederholt systematisches Philosophieren an Beispielen entlang. Die fruchtbare Akribie, mit der Aristoteles in diesem Werk das tatsächlich (und nicht nur philosophisch genehme) Überzeugende aufspürt, findet man in der neueren Philosophie – exemplarisch – bei John L. Austin, wie ein kurzer Blick in dessen Handlungstheorie belegen soll. Austins philosophische Praxis zeigt, dass trotz der Umkehrung der Gewichtung von Einzelfall und Systematik Philosophie möglich ist (Abschnitt 2). – Doch selbst wenn Beispiele nur der anschaulichen Konkretisierung des philosophischen Gedankens dienen, können sie misslingen. Beispiele sind prinzipiell heikel – sie können verräterisch sein und sich sogar gegen das wenden, was sie verdeutlichen sollen (Abschnitt 3). 1.

Das Beispiel in der Rhetorik von Aristoteles

Auch wenn Aristoteles der Rhetorik in der Nikomachischen Ethik einen Platz in den politischen Wissenschaften zuweist, gehört seine Rhetorik nach wie vor zu den eher wenig behandelten Texten in der Philosophie – als stünde ihre Rezeption immer noch unter dem so mächtigen Bann, der zur Ursprungserzählung der griechischen Philosophie gehört und der in der deutschsprachigen Tradition von Kant bis Habermas erneuert wurde: Philosophie und Rhetorik schließen einander aus, so wie sich der Philosoph Sokrates von den Sophisten wesentlich unterscheidet. Wer sich in der Philosophie mit Rhetorik beschäftigt, steht bis heute unter einem Verdacht und muss sich also rechtfertigen. Hannah Arendt4 und Hans Blumenberg5 hingegen haben zu bedenken gegeben, dass der Verzicht auf Rhetorik nur demjenigen möglich ist, der sich im Besitz der Wahrheit glaubt (und dann auch die Macht hat, diese Wahrheit Wirklichkeit werden zu lassen). Wie bereits Aristoteles gegenüber Platon betont hat, gibt es im Bereich der menschlichen Praxis diese Wahrheit 3 Wobei Aristoteles darauf hinweist, dass dieser Punkt (des bezüglich der Praxis nur erreichbaren Wahrscheinlichen) häufig übersehen wird und deshalb Widerlegungen schlagkräftiger scheinen, als sie tatsächlich sind. Vgl. Aristoteles, Rhet. II 25, 1402b25–1403a2. 4 Vgl. Arendt, Sokrates. 5 Vgl. Blumenberg, Annäherung.

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nicht – wir benötigen Rhetorik, weil uns in praktischen Angelegenheiten sicheres Wissen fehlt. Diese Überlegung allein lässt ahnen, wie wichtig das Beispiel für die Politik ist. Wir betreten mit der Rhetorik den Raum des bestenfalls sehr Wahrscheinlichen und damit den Raum konkurrierender Meinungen, was denn das Wahrscheinlichste jeweils ist. Indem Aristoteles die Pluralität im Staat anerkennt, braucht es eine Rhetorik, um dieser Vielstimmigkeit gerecht zu werden. Es gibt hier, im Feld der Praxis, immer (mindestens) zwei Reden zu einer Sachlage, und die argumentativ stärkere wird uns überzeugen. Dass wir manchmal nur auf die scheinbar stärkere hereinfallen, lässt Aristoteles nicht ausgespart. Die aristotelische Rhetorik, und das macht sie für die Kritiker zusätzlich verdächtig, ist eine Lehre von dem, was überzeugt – und nicht nur von dem, was überzeugen soll.6 Wer die aristotelische Rhetorik zum ersten Mal aufschlägt, ist verblüfft, weil ihm der Inhalt in systematischer Hinsicht grundsätzlich bekannt vorkommt. Hier findet sich alles, was die Leserin bereits in einem guten Deutschunterricht oder einem Seminar zum Thema ‚überzeugende Kommunikation‘ gelernt hat. Es gibt drei Überzeugungsmittel: die Sachseite, also das Feld der eigentlichen Argumentation, das Bild, das der Hörer vom Redner gewinnt, und schließlich die Emotionen, die im Hörer geweckt werden. Wir sind vor allem dann überzeugt, wenn uns der Redner kompetent und wohlwollend erscheint, die Sache einleuchtet und wir schließlich auch emotional affiziert sind. Gerade in Bezug auf politische Entscheidungen dürfen sich diese Affekte keineswegs nur auf den Moment der Rede selbst erstrecken: Der höheren Steuerlast, die ein so kostspieliger Bau wie der einer schützenden Mauer von der Stadt bis zum Hafen erfordert, müssen die Bürger über Jahre auch affektiv zustimmen. Im dritten Buch finden sich dann noch Hinweise zur Sprachrichtigkeit, zur Angemessenheit des sprachlichen Ausdrucks in Bezug auf Publikum und Redeziel sowie Überlegungen zu Tropen und Figuren als Mittel, die Sache plastisch vor Augen zu führen. Abschließend behandelt Aristoteles den Aufbau der Rede – so macht es für die Reihenfolge von eigener Argumentation und Widerlegung einen Unterschied, wie komplex die Gegenargumente sind und ob man als erster oder zweiter Redner zu überzeugen sucht. Die Argumentation Das Beispiel hat neben dem Enthymem, der rhetorischen Entsprechung zur Deduktion, einen prominenten Ort in der aristotelischen Rhetorik:

6 Bereits die Spannung zwischen den ersten beiden Kapiteln des ersten Buches zeichnet die Verschränkung von empirischen und normativen Passagen vor.

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Markus Heuft Alle aber bringen die durch das Beweisen verfahrenden Überzeugungen entweder dadurch zustande, dass sie Beispiele, oder dadurch dass sie Enthymeme formulieren, und außer diesen durch nichts. Wenn man daher notwendigerweise immer etwas entweder durch Deduktion oder durch Induktion beweist – dies ist uns durch die Analytiken klar –, dann ist notwendig je eines von ihnen mit einem von diesen identisch.7

Das Beispiel ist also eines der beiden Überzeugungsmittel bezüglich der Sache. Und doch wird man schnell seine Bedeutung unterschätzen allein aufgrund des überwältigenden Textumfangs, den Aristoteles den Enthymemen und der zugehörigen Topik widmet. Rein quantitativ gibt es zwei große Themen in den ersten beiden Büchern der Rhetorik: die Topik(en) und die Emotionslehre, die ja zur Seite des Hörers gehört.8 Der große Umfang der Topik überrascht nicht, gilt es doch, für die drei Anwendungsfälle der Rede, die politische Rede, die Gerichtsrede und die Lobrede (bzw. die tadelnde Rede), alle möglichen ‚Orte‘ anzuführen, an denen die Argumentation ansetzen kann; bereichert noch um solche Topen, die gattungsübergreifend und von denen manche sogar in den Wissenschaften Anwendung finden können. Die Topen sind Allgemeinplätze im besten Sinne, Meinungen, die von den meisten Zuhörern geteilt werden. Diese Meinungen können sich beispielsweise auf ein allgemein anerkanntes Gut wie z. B. Reichtum beziehen oder auch komplex strukturiert sein. So lautet ein Topos für die Gerichtsrede, dass diejenigen meinen, verborgen Unrecht tun zu können, die Eigenschaften konträr zu der vorgeworfenen Tat besitzen, „wie zum Beispiel ein Schwacher wegen Misshandlung, der Arme und Hässliche wegen Ehebruchs“;9 ein Topos aus dem Kontext der politischen Rede, dass „das Gegenteil von dem, was die Feinde wollen oder worüber sie sich freuen“, nützlich ist.10 Allein für die politische Rede führt Aristoteles dutzende spezifische Topen an, und dieser umsichtig zusammengetragene Reichtum an argumentativen Ansatzpunkten macht sicherlich das Hauptkapital seiner Rhetorik aus. Einige der allgemeinen Topen haben zudem die besondere Eigenschaft, dass sie Argumentationen in beide Richtungen ermöglichen, wie Aristoteles ausführt.11 7

8 9 10 11

Aristoteles, Rhet. I 2, 1356b5-10. Wenngleich Aristoteles das Beispiel mit Blick auf das in den Analytiken Gezeigte zur Induktion zählt (vgl. auch Rhet. I 2, 1356a35-b4), wird später deutlich, dass das Beispiel in der Rhetorik (nur) den systematischen Platz der Induktion (als Schluss von Einzelfällen auf das Allgemeine) einnimmt, sie also vertritt. Im dritten Buch wird das Beispiel ohne substanzielle Bereicherung nur noch beiläufig erwähnt. Aristoteles, Rhet., I 12, 1372a21-23. Aristoteles, Rhet., I 6, 1362b33-35. Vgl. den Topos des ‚Eher und Weniger‘ (in Aristoteles, Rhetorik, II 23, 1397b12-17).

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Wenn nun aber die Argumentation über Enthymeme läuft, die bei den Topen ansetzen und diese durch die konkrete Situation ergänzen, welche Funktion hat dann noch das Beispiel? Das Beispiel als Zeuge Nachdem Aristoteles im zweiten Kapitel des ersten Buches die für die Enthy­ membildung möglichen Prämissen klassifiziert hat und bevor er auf die Unterscheidung von allgemeinen und spezifischen Topen und damit auf die Redegattungen selbst eingeht, behandelt er noch einmal genauer die Beziehung von Beispiel und Induktion. Dass das Beispiel eine Induktion sei und über welche Art von Dingen es eine Induktion sei, ist bereits gesagt worden. Es verhält sich aber weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie ein Ganzes zum Teil, sondern wie ein Teil zum Teil, wie Ähnliches zu Ähnlichem: wenn beides unter dieselbe Gattung fällt, wenn aber das eine bekannter ist als das andere, dann ist es ein Beispiel.12

Das Beispiel selbst also verweist als einzelner Fall auf den zu ‚beweisenden‘ – in der politischen Rede notwendig künftigen – Einzelfall. Das gelingt durch die beiden Fällen gemeinsame Gattung, wobei das Publikum diese Zuordnung selbst leisten muss, wenn das Beispiel alleine steht. Aristoteles bringt auch sogleich ein Beispiel: Noch ist unklar, ob Dionysios die Tyrannei anstrebt, indem er eine Leibwache fordert – aber vergleicht man die Situation mit dem Fall des Peisistratos oder auch mit dem des Theagenes von Megara („und anderen, von denen man es weiß“), die beide zum Tyrannen wurden, nachdem ihnen eine Leibwache gebilligt wurde, wird dieser Zusammenhang eben auch bei Dionysios äußerst plausibel. Zwar nennt Aristoteles hier mehrere Beispiele, doch es findet keine Induktion statt und muss auch nicht stattfinden, weil allgemeine Sätze gar nicht das Ziel der Rhetorik sind. In analytischer Perspektive erhält das Beispiel seine argumentative Kraft zweifellos dadurch, dass es ein typisches Beispiel ist, dass es dasselbe Allgemeine exemplifiziert und wir dieses Allgemeine in seiner Gesetzmäßigkeit benennen können, aber seine Funktion ist nur, den noch unbekannten Einzelfall zu erschließen. Im 20. Kapitel des zweiten Buches kommt Aristoteles auf die allen Gattungen gemeinsamen Überzeugungsmittel – Beispiel und Enthymem (einschließlich der Sentenz) – zurück und geht dabei recht ausführlich auf das Beispiel und seine Funktionen ein. Zunächst unterscheidet er die Beispiele, die historische

12

Aristoteles, Rhet., I 2, 1357b25-30.

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Begebenheiten anführen, von solchen, die wir erfinden. Letztere können Vergleiche sein oder auch Fabeln.13 Ein Vergleich ist (wie) die Sokratischen Argumente, wie zum Beispiel wenn einer argumentiert, dass nicht die durch das Los Ausgewählten regieren sollen; denn das sei ähnlich, wie wenn einer als Athleten nicht die, die zum Wettkampf befähigt sind, sondern die, welche das Losglück haben, durch das Los bestimmen würde, oder wenn man einen von den Seeleuten durch das Los zum Steuermann bestimmen würde, so als ob man den, der das Losglück hat, und nicht den, der etwas davon versteht, auswählen müsse.14

Während in Berichten von geschehenen Dingen – als mahnendes Beispiel bezüglich der aktuellen Politik des persischen Großkönigs nennt Aristoteles die parallelen Fälle des Dareios und Xerxes, die beide nach der Unterwerfung Ägyptens Griechenland erobern wollten – tatsächlich Einzelfälle als Beispiele dienen, scheint der Vergleich aufgrund seiner allgemeinen Formulierung der Induktion noch näher. Diese Formulierung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kontextwechsel jegliche Induktion verhindert – in gewisser Weise wird ja mit dem konkreten Problem jeweils eine Situation verglichen: die Bestimmung der Wettkämpfer durch das Los bzw. die Bestimmung des Steuermanns durch das Los. Auch für die Fabel (als Beispiel) gibt Aristoteles zwei Beispiele, ebenfalls aus der Sphäre der politischen Rede.15 Im ersten greift Aristoteles noch einmal die Gefahr einer eigenen Leibwache für den politischen Führer auf – die Fabel des Stesichoros erzählt die Geschichte eines Pferdes, das Vergeltung üben wollte an einem Hirschen, der seine Weide zerstört hatte, und sich deshalb an den Menschen wandte. Dieser sagte zu unter der Bedingung, ihm Zügel anlegen und es mit einem Speer besteigen zu dürfen. Nachdem das Pferd einwilligte, musste es dem Menschen dienen, ohne dass je Vergeltung geübt wurde. Da nach Aristoteles das künftige Geschehen dem bereits Geschehenen in der Regel ähnelt, sind die Erzählungen historischer Begebenheiten nützlicher als Fabeln. Wir haben allerdings als politische Redner nicht immer solche Begebenheiten zur Hand, weshalb Fabeln als besonders anschauliche Vergleiche notwendig sein können.

13 14 15

Aristoteles betont die Parallelität von Vergleich und Fabel: „Man muss sie [die Fabeln] nämlich wie Vergleiche bilden, wenn einer in der Lage ist, das Ähnliche zu sehen, was aufgrund der philosophischen Bildung leichter ist.“ (Aristoteles, Rhet., II 20, 1394a4-6) Aristoteles, Rhet., II 20, 1393b3-8. Die Bedeutung des Beispiels für die politische Rede wird immer wieder von Aristoteles betont und verglichen mit der Rolle der Steigerung für die Lobrede und des Enthymems für die Gerichtsrede.

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Direkt im Anschluss an diese Erläuterungen der unterschiedlichen Arten von Beispielen geht Aristoteles auf die Stellung des Beispiels innerhalb der Argumentation ein, je nachdem, ob man aus den Topen ein geeignetes Enthymem bilden kann oder nicht: Man muss aber die Beispiele wie Beweise gebrauchen, wenn man keine Enthymeme zur Verfügung hat – die Überzeugung erfolgt nämlich durch diese –, wenn man aber welche zur Verfügung hat, muss man sie wie Zeugen gebrauchen, indem man sie als Nachsatz zu den Enthymemen gebraucht. Werden sie vorangestellt, gleichen sie der Induktion, zur rhetorischen Argumentation passt die Induktion aber nicht außer in wenigen Fällen; wenn man sie aber an den Schluss stellt, gleichen sie Zeugen, der Zeuge ist aber überall überzeugend. Deswegen muss der, der sie voranstellt, notwendig viele nennen, für den aber, der sie an den Schluss stellt, genügt eines. Denn auch ein einziger glaubwürdiger Zeuge ist nützlich.16

Diese redestrategischen Überlegungen leuchten sofort ein: Kann man kein Enthymem bilden, fungieren die Beispiele als alleinige Beweismittel. Sobald wir allerdings über einen rhetorischen Schluss aus bereits vorhandenen Topen als Überzeugungsmittel verfügen, reicht ein daran anschließendes Beispiel aus – so bezeugt es die Wahrheit (bzw. Wahrscheinlichkeit) der Argumentation. Das Zitat macht darüber hinaus deutlich, dass in Einzelfällen auch in der rhetorischen Rede mehrere Beispiele induktiv zur Bildung von Enthymem beitragen können.17 Angesichts der Vorbehalte, die Aristoteles in rhetorischen Kontexten gegenüber zu ausführlichen Argumentationen hat,18 ist verständlich, warum ihm dieser Gang über die Induktion zu einem allgemeinen Satz, von dem dann das Enthymem starten kann, wenig attraktiv erscheint.

16 17

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Aristoteles, Rhet., II 20, 1394a9-16. Vielleicht ist das der Grund, weswegen Aristoteles später im Zusammenhang mit Widerlegungen und deren Triftigkeit etwas überraschend das Beispiel neben dem Wahrscheinlichen, dem zwingenden Indiz und dem Zeichen als vierte Quelle der Enthymembildung nennt (Aristoteles, Rhet., II 25, 1402b13 f.). Vgl. im Gegensatz dazu Aristoteles, Rhet., I 3, 1359a7 f., wo der rhetorische Satz (ohne Beispiel) definiert wird. Christof Rapp geht in seinem Kommentarband (Aristoteles, Rhetorik, Zweiter Halbband, S. 791 ff.) recht ausführlich auf diese Spannung zwischen II 25 und I 2 hinsichtlich des systematischen Orts des Beispiels ein. U. a. Aristoteles, Rhet., III 17, 1418a5 ff.

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Zeuge und Anlass – das Beispiel in der Philosophie

Die Charakterisierung des Beispiels als Zeugen scheint mir für alle argumentierenden Texte und damit gerade auch für die Philosophie aufschlussreich. Hier steht das Beispiel nie allein, sondern ist eingebunden in Schlüsse oder schlussähnliche Strukturen. Tatsächlich fordern wir ‚zumindest ein überzeugendes Beispiel‘ ein, wenn uns die bisherige Argumentation noch nicht eingeleuchtet hat. Sicherlich dient das Beispiel auch der Anschaulichkeit, aber damit ist seine spezifische Funktion wohl nicht erfasst.19 ‚Black box‘ für Bewusstsein ist kein (vergleichendes) Beispiel, sondern eine Metapher, während die Erzählung von ‚Gehirnen im Tank‘ ein Problem plausibel machen soll, auch wenn der Beweis seiner Unplausibilität das Ziel ist. Hans Lipps meint in seiner hermeneutischen Logik m. E.  zu  Recht, dass ein philosophisches Problem ohne Beispiel kein echtes Problem darstellt.20 Das Beispiel belegt, dass bei aller Abstraktion, bei allen theoretischen Höhenflügen tatsächlich noch ein Realitätskontakt herrscht. Das Beispiel bezeugt also, dass von etwas die Rede ist. Gerade darum können Beispiele auch in der Logik erforderlich sein, wie schon Aristoteles in seiner Ersten Analytik zu erkennen gibt. Wenn Theorien nicht nur abstrakt sind, sondern sie bzw. ihre Folgerungen zusätzlich kontraintuitiv sind, stehen Beispiele endgültig im Fokus der Rezeption und damit auch der Produktion von Texten. Wer wie Niklas Luhmann erfolgreich behaupten möchte, dass die Analyse von Kommunikation nicht beim Sprechen, sondern beim Verstehen ansetzen muss, dass Gesellschaft nicht aus Menschen bestehe und dass Handlungen – auch kommunikative Handlungen – erst durch Kommunikationen in die Welt kommen,21 muss ein Meister des Beispiels sein. Luhmanns Texte sind gekennzeichnet vom Rhythmus zwischen theoretischer Zumutung und pointiertem Beispiel, das allein schon mit seinem Witz zum Weiterlesen animiert.22 Von Beispiel zu Beispiel 19 20 21 22

Zwar muss das Beispiel selbst anschaulich sein, will es seine argumentative Funktion erfüllen, aber seine Hauptfunktion ist nicht, Anschaulichkeit herzustellen – das übernehmen Metapher und Gleichnis, die Aristoteles im dritten Buch behandelt. Lipps, Untersuchungen, S. 21, Fußnote 1. Luhmann vertritt also auch in Bezug auf Sprechhandlungen selbst eine askriptivistische Handlungstheorie: Wer was (zu wem und mit welchem Ziel etc.) gesagt hat, wird in Anschlusskommunikationen entschieden. Natürlich darf auch hier ein Beispiel nicht fehlen: „Handelnde orientieren sich stärker an der Situation, Beobachter rechnen stärker auf Personmerkmale zu; und dies dürfte verstärkt für Beobachter gelten, die Vertrauen oder Liebe testen und wissen möchten, ob sie mit stabilen Haltungen auf der anderen Seite rechnen können. So glaubt der Fahrer eines Wagens sich mit bestem Können nach der Situation zu richten. Der Mitfahrer beobachtet ihn, rechnet die Eigentümlichkeit der Fahrweise auf Personmerkmale zu und

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hangelnd meint der Leser, die Theorie zu verstehen – eine Erfahrung, die vielen Lesern philosophischer Texte vertraut sein dürfte. Beispiele können aber nur dann den Zugang zu Theorien erschließen, wenn sie ihre Funktion als Zeugen tatsächlich ausfüllen – nur in der Vergegenwärtigung eines dem Leser zugänglichen Falles sind sie wirklich erhellend. Funktionierende Beispiele tackern die notwendig abgehobene Theorie an unsere Erfahrungen fest und ermöglichen so Zugang zu diesen Theorien, wie sie deren Realitätskontakt garantieren. Gerade bei kontraintuitiven Ansätzen also vermag das Beispiel für Evidenzerfahrung zu sorgen. Während die theorieerschließende Funktion des überzeugenden Beispiels auf Seiten der Rezeption die Vorgängigkeit theoretischer Überlegungen bislang nicht in Frage stellte, macht nicht nur Aristoteles’ Hinweis auf die Induktion, sondern allein schon die Beispielpraxis in der Rhetorik selbst darauf aufmerksam, dass einzelne Fälle auch in der Philosophie theoriebildend sein können. Indem die Rhetorik keine (nur) normative Theorie der erfolgreichen Rede ist, sondern auf die systematische Sammlung aller erfolgreichen Überzeugungsmittel zielt, vermag jeder einzelne Fall etwas (zur Theoriebildung) beizutragen. Diese Überlegungen können zu der Frage nach einer anderen Gewichtung zwischen der Beschäftigung mit einzelnen Fällen und systematischen Überlegungen führen: Gibt es einen philosophischen Stil, der an Beispielen entlang operiert und bei dem die Frage des theoretischen Rahmens grundsätzlich gegenüber der phänomenalen Vielfalt sekundär ist? Sicherlich sagt jeder Name, der jetzt als Beispiel genannt werden könnte, vor allem etwas über die Kontingenz und damit die Begrenztheit der eigenen Bildungsgeschichte – meine Wahl fällt auf John L. Austin. Austins methodische Überlegungen zu seiner ‚linguistischen Phänomenologie‘ finden sich in A Plea for Excuses, seinem wichtigsten Text zur Handlungstheorie. Dieses Plädoyer für Entschuldigungen als Ansatzpunkt einer Handlungstheorie greift die aristotelische Idee auf, den Handlungsbegriff über ein mögliches Scheitern von Handlungszuschreibungen zu gewinnen. Weil es vor allem vor Gericht um eben diese Zuschreibungen geht, kommt es bei Aristoteles zu einer Parallelität der Handlungstheorien in der Nikomachischen Ethik und der Rhetorik. Die fühlt sich, wenn die Person ihm wichtig ist und er Rücksichtnahme erwarten zu können meint, veranlaßt, zu kommentieren und mitzuteilen, wie er selbst fahren würde bzw. gefahren werden möchte. Der Fahrer dagegen hat die Gründe seines Verhaltens jeweils schon hinter sich, hat sie, wenn überhaupt, im Kontext der Situation erlebt und sie gar nicht auf die Ebene seiner persönlichen Beziehungen zum Mitfahrer hochtransformiert. So werden Ehen im Himmel geschlossen, und im Auto gehen sie auseinander, weil es zu Attributionskonflikten kommt, die sich einer kommunikativen Behandlung weitgehend entziehen.“ Luhmann, Systeme, S. 308 f.

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Explikation der beiden Handlungskriterien ‚willentlich‘ und ‚wissentlich‘ über Fälle, in denen das Handeln einem absoluten oder partiellen Zwang unterliegt oder in denen bestimmte Handlungsaspekte nicht bewusst waren oder gar nicht bewusst sein konnten, führt bei Aristoteles zu einem abgestuften Handlungsbegriff mit unscharfen Grenzen. So hat es die Gerichtsrede in der Regel nicht so sehr mit dem ‚Wer hat es getan?‘ zu tun als mit dem ‚Worin bestand genau die Tat?‘. Aristoteles zeichnet in wenigen Sätzen ein Bild des Menschen, der häufig die Sache nicht gänzlich im Griff hat – und sogar manchmal nichts für das Geschehen kann, an dem er gleichwohl beteiligt ist.23 Die Menschen ringen hier ebenso um Handlungskontrolle wie um adäquate Beschreibungen gerade dann, wenn ihr Tun Schaden anrichtet. Und schon in den von Aristoteles angeführten Beispielen mildernder Umstände gilt das, was Austin in Ein Plädoyer für Entschuldigungen betont: dass man nämlich in den meisten Fällen nie ganz unbescholten aus der Sache herauskommt. Austin beginnt also wie Aristoteles mit möglichen Modifikationen von Handlungsbeschreibungen, die den Handlungscharakter einschränken oder – in Three Ways of Spilling Ink – sogar verstärken. Um nicht in die notorische Phantasiearmut der armchair philosophy zu fallen, schlägt Austin die Verwendung eines Wörterbuchs vor, mit dessen Hilfe man Adverbien oder adverbiale Ausdrücke finden kann, die eben solche Modifikationen leisten. Austin geht davon aus, dass Handlungen und ihre Bewertung eine so wichtige Rolle in Gesellschaften spielen, dass deren Sprachen sehr feine Unterschiede bezeichnen können. Dass wir diese Unterschiede durchaus beherrschen, auch wenn wir uns als Beschuldigte in unserer Not häufig in unzutreffende Beschreibungen flüchten, macht Austin an folgendem Beispiel deutlich: Du hast einen Esel, und ich habe einen Esel, und sie weiden beide auf derselben Wiese. Eines Tages mag ich meinen Esel nicht mehr leiden. Ich gehe hin, um ihn zu erschießen, lege auf ihn an, und das Tier verendet augenblicklich. Ich betrachte das Opfer genauer und stelle zu meinem Entsetzen fest, daß es dein Esel ist. Ich erscheine mit den sterblichen Überresten an deiner Schwelle und sage – ja was? ‚Also hör mal, Sportsfreund, es tut mir schrecklich leid usw. Ich habe durch ein Missgeschick deinen Esel erschossen‘? Oder ‚aus Versehen‘? Oder nehmen wir folgendes an: Ich gehe, wie gehabt, hin, um meinen Esel zu erschießen, lege auf ihn an und gebe Feuer; doch in diesem Augenblick bewegen sich die Tiere, und zu meinem Entsetzen bricht dein Esel zusammen. Wieder kommt es zu der Szene auf der Schwelle – und was sage ich? ‚Aus Versehen‘? Oder: ‚durch ein Missgeschick‘?24 23 24

Umgekehrt wird der Redner in der Lobrede versuchen, Glück und Zufall in seiner Beschreibung zu ignorieren. Austin, Plädoyer, S. 242, Fußnote 5.

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Mögen die Ausdrücke ‚versehentlich‘ oder ‚aufgrund eines Missgeschicks‘25 auf den ersten Blick Ähnliches leisten, wird durch die genaue Beschreibung deutlich, dass beide adverbialen Bestimmungen schon insofern nicht gleichbedeutend sind, als sie verschiedene Etappen der Handlung (und damit des Misslingens) modifizieren. Deshalb ist der Hinweis auf ein Versehen, das in diesem Beispiel tatsächlich in einem nicht genauen Hinsehen besteht, weniger schuldmindernd. ‚Aus Versehen‘, auch das macht dieses Beispiel deutlich, hat ohnehin nur eine sehr begrenzte Reichweite in Bezug auf mögliche Handlungen: Ich kann versehentlich einen Buchausleihzettel unter dem Vornamen einordnen, aber wenn es um Leben und Tod geht, dürfen Versehen einfach nicht passieren – es selbst ist dann unentschuldbar. Subsummiert man Austins Methode unter das Label ‚ordinary language philosophy‘ und stellt sich dabei eine Untersuchung vor, die allein den sprachlichen Unterscheidungen der Alltagssprache folgt, wird die Rolle des Beispiels verkannt. Bloß weil die Alltagssprache das erste Wort hat, spricht sie keineswegs das letzte. Nicht nur treten für Austin im Rahmen der Handlungstheorie das Recht und auch die Psychologie an ihre Seite, sondern alle sprachlichen Werkzeuge müssen sich am Phänomen bewähren – genau das leisten die (oft ausgedachten) Beispiele. Mag die Alltagssprache uns auch entscheidende Hinweise geben, so bleibt sie doch immer, wie jede Sprache, relativ arm gegenüber der phänomenalen Vielfalt: „[D]as Faktische ist reichhaltiger als das Wort“.26 So ermuntert Austin zu einem immer genaueren Hinsehen auf das Phänomen und zugleich zu einem möglichst vorurteilsfreien Hinhören auf die Sprachverwendungen. Nur dann wird klar, dass ‚unwillkürlich‘ nicht die Negation von ‚willkürlich‘ und ‚unabsichtlich‘ nicht die von ‚absichtlich‘ ist. Dass Austin lieber das System als den Einzelfall aus dem Blick verliert, zeigt sich in Ein Plädoyer für Entschuldigungen auch an dem Hinweis, jemand verdiene besonderes Interesse, der ein Wort oder eine Wendung wirklich ganz unorthodox gebrauche. Dabei ist Austin keineswegs ein Philosoph, der Systematisierungen ablehnt27 – nur sollte die Ontologie mehr bieten als die Unterscheidung von Ding und Ereignis, wie er am Beispiel der Flamme deutlich macht, und eine

25 26 27

Im Originaltext lauten die Ausdrücke ‚by mistake‘ und ‚by accident‘. Der deutsche Ausdruck ‚aus Versehen‘ scheint die erste Situation sogar noch besser zu beschreiben, führt doch das nicht genaue Hinsehen zum Missgriff. Austin, Plädoyer, S. 256. „Definitionen – und ich möchte hinzufügen: erläuternde Definitionen – sollten eines unserer vordringlichen Ziele sein; es genügt nicht, zu zeigen, wie gescheit wir sind, indem wir nachweisen, wie unklar alles ist.“ (Austin, Plädoyer, S. 248)

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Handlungstheorie, die sich nur an einfachsten Handlungen orientiert, träfe die Sache in allen anderen Fällen schlicht nicht.28 Nimmt man den Satz ‚Das Faktische ist reichhaltiger als das Wort‘ ernst, wird der Einzelfall zum Stachel philosophischer Theorienbildung. Ein solches Nachdenken im Dickicht phänomenaler Vielfalt, nur das sollten meine kurzen Ausführungen zu Austin andeuten, ist durchaus eine eigene Form des Philosophierens, deren permanent drohenden Kontrollverlust es allerdings auszuhalten gilt. 3.

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Unabhängig von der Frage, inwieweit ein Philosophieren an Beispielen entlang möglich oder der Sache angemessen ist, kann man Beispiele in philosophischen Texten als mehr oder weniger gelungen bezeichnen und die Gründe dafür unabhängig von ihrer sachlichen ‚Passung‘ analysieren. Mit der Wahl des Beispiels stellt sich die Verfasserin aus und tut ihr Bild vom Leser oder ihr Verhältnis zum Leser kund. Allzu idiosynkratische Beispiele sind sicherlich wenig geeignet, ein breites Publikum zu überzeugen, und wirken schnell selbstgefällig – andererseits mag eine gewisse Extravaganz locken. So erweckt Donald Davidsons Beispiel des interpretativen Umgangs mit einer ‚Verwechslung‘ von Ketsch und Yawl vielleicht den Wunsch, mehr über diese Segelboottypen zu erfahren.29 Ein philosophischer Stil zeigt sich also keineswegs nur in der Häufigkeit und im Stellenwert von Beispielen, sondern ebenso in deren Plumpheit oder Raffinesse,30 in deren Nähe oder eben Ferne zur Lebenswirklichkeit und zum Bildungshintergrund der Leser und Leserinnen.31 Im besten Fall verraten Beispiele Geist oder Witz, deren Anschein nach Aristoteles ebenso ein Überzeugungsmittel ist wie der Eindruck der Sympathie.32 Umgekehrt können Beispiele einfallslos, bemüht oder gar geschmacklos wirken. Besonders heikel sind Beispiele dann, wenn 28 29 30 31

32

Austin, Plädoyer, S. 234. Davidson, Begriffsschema, S. 279. Hier wäre natürlich auch an solche Beispiele zu denken, die wie beim Gettier-Problem in immer komplexere Gedankenexperimente eingebunden sind. Viele Beispiele der Philosophie entstammen der Literatur; aber auch historische Verweise, vorausgesetzte naturwissenschaftliche Kenntnisse oder die Bezugnahme auf Kunstwerke können die Rezipienten ansprechen oder überfordern. Insofern – wie in Arnold Gehlens Moral und Hypermoral – aktuelle gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen als Beispiele dienen, wird schon bald deren Verfallsdatum deutlich. Geteilte Schwächen machen moralphilosophische Texte bzw. deren Autoren und Autorinnen sympathisch.

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sie – bewusst oder unbewusst – etwas aus der Weltsicht der Verfasser preisgeben, das die Leserinnen irritiert, was diese als peinlich oder sogar verletzend empfinden. Auch wenn nationalistische, rassistische oder sexistische Stereotypen das Weiterlesen nicht notwendig blockieren, können sie befremden. Verräterisch können Beispiele aber nicht nur in Bezug auf die Verfasserinnen sein, sondern auch in Bezug auf die Sache selbst. Hier geht es nicht mehr um nur schlecht gewählte Beispiele, die günstigstenfalls seitens gutwilliger und phantasievoller Leser ersetzt werden, sondern um Fälle, in denen das Beispiel das zu Zeigende geradezu konterkariert. Zwei kurze Fallbeschreibungen sollen deutlich machen, dass solche verheerenden Beispiele keineswegs selten sind. John Searles ‚chinesisches Zimmer‘ In den ersten beiden Teilen seiner berühmten Vortragsreihe Geist, Hirn und Wissenschaft möchte Searle zeigen, dass das Körper-Geist-Problem keineswegs so unlösbar ist, wie es gemeinhin dargestellt wird.33 Im Gegenteil, eigentlich sei die Sache ganz einfach. Man müsse sich nur klar machen, dass wir in den Naturwissenschaften oft Fälle haben, in denen Eigenschaften auf einer bestimmten Ebene Eigenschaften einer anderen Beschreibungsebene verursachen: So verursacht die Molekülstruktur von H2O die besonderen Eigenschaften von Wasser. Und ebenso verursache das Gehirn geistige Phänomene, die zugleich eben auch Eigenschaften des Gehirns sind.34 Searle bestreitet nicht, dass die Existenz des Bewusstseins auf materieller Grundlage erstaunlich sei – aber dies sei eben nicht geheimnisvoller als die Gravitationskraft oder die Photosynthese. Geist und Körper sind also keine verschiedenen Dinge, weil geistige Phänomene Eigenschaften des Gehirns sind, und genau deshalb können sie interagieren. Zu Beginn der zweiten Vorlesung fasst Searle seine Lösung des Körper-Geist-Problems noch einmal zusammen: „Geistige Vorgänge sind vom Verhalten der Bestandteile des Hirns verursacht. Zugleich sind sie in der Struktur realisiert, die aus diesen Bestandteilen besteht.“35 Aus Sicht von Searle droht nun allerdings seitens der KI-Forscher eine Gefahr. Was 33

34

35

Sein Hinweis auf die Parallelität des Körper-Geist-Problems zum Magen-Verdauungsproblem schon in der ersten Vorlesung allerdings lässt kundige Leser aufhorchen, hatte doch einhundert Jahre zuvor Emil Du Bois-Reymond gegen Carl Vogt überzeugend argumentiert, dass das Problem, wie etwas Materielles wie das Gehirn zu Bewusstsein führt, eben nicht vergleichbar ist mit dem Verhältnis von dem Bau einer Drüse und ihrer Absonderung. Vgl. Du Bois-Reymond, Grenzen, S. 31 f. „Nichts ist verbreiteter in der Natur als daß Oberflächeneigenschaften eines Phänomens sowohl von einer Mikrostruktur verursacht, als auch in ihr realisiert sind. Und genau solche Beziehungen manifestieren sich in der Beziehung vom Geist zum Hirn.“ Searle, Geist, S. 22. Searle, Geist, S. 27.

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Searle in Bezug auf Lebewesen mit einem neuronalen System zeigen möchte, übertragen diese auf Computer mit ihrer Hard- und Software. Auch Computer hätten nämlich, so referiert Searle führende Fachleute seiner Zeit, einen Geist im Sinne von Intentionalität, Gedanken und Gefühlen. Um das zu widerlegen, und zwar unabhängig vom Stand der Computertechnik, kommt nun das Gedankenexperiment des chinesischen Zimmers ins Spiel. Searle möchte damit nachweisen, dass Computer zwar bestimmte Leistungen erbringen können, die wir unserem Geist zuschreiben, dass aber diese Leistungen Geist nur simulieren. Sein Argument lautet, dass Computer Operationen entlang einer Syntax vollziehen können, ohne dass es irgendwo so etwas wie Bedeutungen gibt. Das ‚chinesische Zimmer‘ steht nun für die Operationen eines Rechners bei ‚intelligenter‘ Sprachausgabe – wir werfen also einen Blick in die Arbeitsweise eines Rechners. In diesem Zimmer arbeitet ein Mensch, der gemäß einem bestimmten Input – einem chinesischen Satz – als Output eine zugehörige Antwort auf Chinesisch findet, indem er einem Handbuch folgend eben diese Zeichenfolge der ersten zuordnet. In- und Output dieses Zimmers suggerieren fälschlicherweise, er könne Chinesisch. Bloß weil ein Computer eine solche Leistung vollbringen kann, trifft auf ihn genauso wenig wie auf den Menschen im ‚chinesischen Zimmer‘ zu, dass er tatsächlich Chinesisch beherrscht. Seine Simulation mag perfekt sein, aber es gibt hier nirgends Bedeutungen, keine Interpretation und keine Semantik. – Nun lässt sich vieles gegen Searles Gedankenexperiment und seine argumentative Leistung einwenden, doch ich möchte an dieser Stelle Searle darin folgen, dass es plausibel macht, dass Computer nicht denken können, zumindest wenn Denken einschließt, dass mentale Zustände beteiligt sind. Da das Hirn den Geist verursacht, aber kein Programm dies vermag, folgert Searle, dass „das Hirn kein – oder zumindest kein bloßer – digitaler Computer ist“.36 Jene Eigenschaften des Hirns, die ein Computer simulieren kann, reichen nicht aus, um zu erklären, „wie es Geisteszustände bewirkt“. Das Gehirn sei eben eine „biologische Maschine“, bei der die Biologie durchaus von Belang ist. Searle schließt dabei nicht aus, dass es bewusstes Leben auch auf ganz anderer biologischer Basis geben könne, aber dann müsse „der grüne Schleim“ im Kopf der Marsmenschen Kausalkräfte besitzen, die denen unserer Gehirne gleichkommen, „gelangten wir zu dem Ergebnis, dass sie Geisteszustände haben“.37 Eine mit der Problematik des Fremdpsychischen vertraute Leserin wird sich sofort fragen, wie wir denn je zu diesem „Ergebnis“ gelangen können. Spätestens hier fällt die gesamte Argumentation in sich zusammen. Wenn 36 37

Searle, Geist, S. 39. Searle, Geist, S. 40.

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das ‚chinesische Zimmer‘ beweist, dass Computer nicht denken können, dann können Gehirne auch nicht denken. Im Gehirn werde ich ebenso wenig Geist finden wie im grünen Schleim und in irgendwelchen Rechnereinheiten, ob digital oder wie auch immer. Da wir aber Geist (Bewusstsein) haben, verdeutlich uns das chinesische Zimmer nur, dass wir irgendeinen grundsätzlichen Fehler dabei machen, Geist im Gehirn zu suchen. So konterkariert Searles eigenes Gedankenexperiment seine abschießende Bemerkung: Es ist, wie ich glaube, das Ergebnis dieser Erörterung, daß wir an etwas erinnert werden, was wir die ganze Zeit schon wußten: nämlich daß Geisteszustände biologische Phänomene sind. Bewußtsein, Intentionalität, Subjektivität und geistige Verursachung gehören allesamt zu unserer biologischen Lebensgeschichte, genau wie Wachstum, Fortpflanzung, die Absonderung von Galle oder die Verdauung.38

Clément Rossets Suche nach einem Wort Clément Rosset lehrte drei Jahrzehnte Philosophie an der Universität von Nizza. Bekannt wurde er in Deutschland vor allem durch die Übersetzungen von Le réell (Das Reale) und Le principe de cruauté (Das Prinzip Grausamkeit). Sein Aufsatz Die Wahl der Worte (1995) antwortet auf die Frage von Nicolas Dufourcq39, warum er schreibe – genauer: „[W]arum schreiben, wenn man richtig denkt“. Rosset greift aus der Tradition zwei Antworten auf: um sich über Fragen klar zu werden, die ihn interessieren, und aus der Freude am Schreiben, trotz aller Mühen. Als dritte, sehr persönliche Antwort nennt er noch den Wunsch, der Existenz „eine kleine Hommage“ zu geben – was im Falle eines Philosophen eben nur ein Text könne.40 Über den Umweg der Erläuterung des Wunsches, nicht nur zu schreiben, sondern diese Texte dann auch zu publizieren, um sie in die Wirklichkeit eintreten zu lassen41 – für Rosset wohl die geringere Eitelkeit –, kommt er noch einmal auf seine erste Antwort zurück. Im folgenden Hauptteil möchte er belegen, dass das Problem „warum 38 39 40

41

Searle, Geist, S. 40. Nicolas Dufourcq – in der deutschen Übersetzung irrtümlich ohne ‚c‘ gedruckt – war zu dieser Zeit (1992) die rechte Hand des Ministers für Soziales und Integration. Dufourcq selbst hat über Montaigne promoviert. Dieses dritte Motiv passt unmittelbar zu dem im Text explizit genannten Lebensthema, „wie sich die Liebe zum Dasein mit der Gesamtheit der plausiblen und vernünftigen Argumente versöhnen läßt, die alle dazu beitragen, eben diese Liebe zu zerstören“ Rosset, Wahl, S.  12 f. Diese Frage berühre die – auch m. E. philosophisch ungemein wichtige Frage –, „ob es möglich ist, das Leben bewusst zu lieben, das heißt ohne sich täglich ein wenig belügen zu müssen.“ (Rosset, Wahl, S. 13). Im Zusammenhang mit der ersten Begründung, in der Rosset sehr deutlich zu machen versucht, dass er nur für sich schreibe, ist diese kurze Passage keineswegs unwichtig.

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schreiben, wenn man richtig denkt“ selbstwidersprüchlich sei – einfach weil es zwischen dem Schreiben und dem Denken „überhaupt keinen wirklichen Unterschied gibt“.42 In Wirklichkeit ist Schreiben das Denken selbst, es gibt kein vorgängiges und gewissermaßen vorgefertigtes Denken. Denken findet erst von dem Moment an statt, wo es formuliert wird, das heißt, wo es sich durch die Wirklichkeit der Worte konstituiert.43

Für Rosset unterliegt die Trennung von Denken und sprachlichem Ausdruck44 dem schon durch Descartes und Nietzsche beschriebenen Fehler, etwas in zwei Phänomene zu zerlegen, das ein und dasselbe ist. Die Wahl der Worte konstituiere den Gedanken, den sie ausdrücken; auch beim Lesen gibt es laut Rosset diese vermeintliche Trennung von Form und Inhalt nicht. Ja, Rosset geht sogar so weit, die These, dass der Gedanke immer nach oder gemeinsam mit dem Worte komme, auf alle Werke der Kunst auszudehnen, also auch auf die Musik und die Malerei.45 Nun ist die enge Verbindung von Denken und Sprache in unserer philosophischen Tradition so verankert, dass sie eigentlich keiner weiteren Begründung mehr bedarf. Uns vertraute Metaphern wie die Sprache als Kleid der Gedanken oder das Denken als inneres Sprechen spiegeln diese Tradition wider, die die sprachphilosophischen Wendungen im 20. Jahrhundert überlebt hat – hierin unterscheiden sich Wittgenstein, auf den sich Rosset gleich zweimal beruft, und Searle, aber auch Saussure und Heidegger gerade nicht von Platon oder Schleiermacher. Warnende Stimmen vor einer zu engen Bindung des Denkbaren an das Sagbare und eine Skepsis gegenüber den Möglichkeiten sprachlicher Verständigung sind jedenfalls in der Minderheit. Rosset möchte nun allerdings nicht nur auf diesen Topos und seine zahlreichen Fürsprecher46 verweisen, sondern seine Richtigkeit belegen – zunächst mit einem Vergleich, 42 43 44

45

46

Rosset, Wahl, S. 22. Hier und im Folgenden sind die Kursivierungen übernommen. Rosset, Wahl, S. 23. Auch wenn Rosset primär das Schreiben im Blick hat, wechselt er je nach Referenzautor zur allgemeineren These einer Identität von Denken und Sprechen – so schreibt er mit Blick auf Wittgenstein von der Wesensgleichheit von Denken und Sprechen. Vgl. Rosset, Wahl, S. 34. „Mit dem kleinen Unterschied, daß im Bereich der nicht-literarischen Künste, die nicht direkt mit Wörtern, sondern mit anderen Materialien zu tun haben, das Wort erst am Ende des Schaffensprozesses hinzukommt, um die ‚Idee‘ der vollendeten Arbeit zum Ausdruck zu bringen.“ (Rosset, Wahl, 25 f.) Rosset bezieht sich hier auf die Titel der Werke. Rosset nennt neben Wittgenstein u. a. Peirce, Boileau, de Bonald.

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dann mit einer konkreten Erfahrung. Beide beziehen sich auf unsere große Beunruhigung angesichts uns entfallener Wörter, eben weil dort, wo die Worte fehlen, auch der Gedanke fehle.47 Zunächst der Vergleich: Diese Bedeutung des Wortes erklärt meines Erachtens die – wenn man bedenkt, um wie wenig es doch eigentlich geht – rätselhafte Angst, die uns ergreift, wenn es uns nicht gelingt, ein Wort zu erinnern, ein bestimmtes Wort wiederzufinden, das – dessen sind wir uns sicher – genau das bezeichnet, ja verkörpert, was wir ausdrücken wollen. Denn wir haben mit dem Verlust des Wortes auch den von ihm nicht zu trennenden Inhalt verloren. So, wie wenn wir ein Kind, das man uns kurzfristig anvertraut, in der Menge verlieren und uns an dessen Namen nicht mehr erinnern. Wir haben dann nicht nur den Namen des Kindes, sondern eben auch das Kind selbst verloren.48

So faszinierend die nun folgende Passage über den Zusammenhang von Sprachverlust, Verlust der Kontrolle über die Wirklichkeit und damit einer Vorzeichnung unseres Todes ist, so wenig wird sie durch den Vergleich erhellt. Was wäre, wenn ich mich nun doch plötzlich an den Namen des Kindes erinnerte und mein Ruf in die Menge erhört würde, aber das heranlaufende Kind nicht das mir anvertraute wäre?49 Die systematische Schwäche des Vergleichs wird schon in der zitierten Passage selbst deutlich, in der Rosset trotz aller Kritik an irreführenden Verdopplungen der Phänomene die Aufgabe formuliert, ein bestimmtes Wort wiederzufinden, das „genau das bezeichnet, ja verkörpert, was wir ausdrücken wollen“. Die nun folgende Erzählung kann als Kernstück der Argumentation Rossets gelesen werden. Anlässlich der Disputation einer Doktorarbeit, an der Rosset als Mitglied der Prüfungskommission teilnahm, hielt der Vorsitzende ein beeindruckendes Schlusswort. Dieses Plädoyer zeichnete nun nicht nur ein kritisches Bild der Fähigkeiten des Kandidaten, wie es offensichtlich üblich ist, sondern griff die intellektuelle Kompetenz aller Mitglieder der Kommission an. Rosset beschreibt sich in dieser Situation einerseits als mitgerissen, während er andererseits spürte, dass diese so wohldurchdachte und gelehrt scheinende Rede „nur aus Absurditäten und Sophismen“ bestand. 47 48 49

„Da es allein das Wort ist, das den Gedanken ausdrückt, sind die Gedanken an sich so etwas wie ein Phantom in Erwartung eines Körpers. Wo die Worte fehlen, ihn zu sagen, fehlt auch der Gedanke.“ (Rosset, Wahl, S. 33) Rosset, Wahl, S. 35. Geht es uns nicht manchmal so, dass wir zwar ein Wort oder eine Formulierung in einem Text nach langer Suche finden, aber es sich dann eben doch nicht als das wirklich Vermeinte liest?

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Markus Heuft Am Ende der Disputation versuchte ich ohne Erfolg, meine widersprüchlichen Eindrücke miteinander in Einklang zu bringen. Ich fühlte genau, dass es eine Vorstellung gab, die imstande war, zugleich meine Zustimmung und meine NichtZustimmung zu einer ihrerseits überzeugenden und nicht-überzeugenden Rede in sich zu fassen. Und ich wußte, mit noch größerer Überzeugung, daß es ein Wort gab, das imstande wäre, diese Vorstellung auszudrücken […].50

Die Suche nach diesem Wort beschäftigte Rosset volle zwei Tage. Er nennt einige der Kandidaten, die sich ihm aufdrängten, die aber aus verschiedenen Gründen eben doch nicht das genau bezeichneten, was er suchte – und sei es durch einen Blick auf deren genaue Bedeutung im Wörterbuch. Immerhin hat sich seine Beharrlichkeit gelohnt: Das Wort, das sich für mich letztendlich als das richtige Wort herausstellte, ist die französische Transkription eines englischen Wortes, auf das ich wahrscheinlich nur dank seiner phonetischen Ähnlichkeit mit dem Wort ‚blouser‘ verfiel, das somit doch noch zu etwas nutze war: es ist das Verb bluffen. Ein Blick in das Wörterbuch, beim Eintrag bluff, bestätigt meinen späten Fund: ‚Haltung, die den Gegner einschüchtern soll, ohne daß die dafür notwendigen Mittel vorhanden wären“. Genau dies war die Haltung des Redners, der mich auf diese Weise ‚geblufft‘ hatte. Ich mußte jedoch warten, bis ich dieses Wort am Ende eines langen Weges durch den linguistischen Dschungel gefunden hatte, um endlich etwas darüber zu erfahren, was ich empfunden hatte, aber nicht denken konnte, weil ich es nicht zu formulieren vermochte.51

Rossets Beispiel ist insofern gelungen, als es seine Leserinnen in eine nur allzu vertraute Situation eintauchen lässt. Doch was bezeugt es außer der – oft nur kurzen – Freude, den richtigen Ausdruck gefunden zu haben? Wohl kaum, dass man bei der Suche die Sache nicht im Blick hatte. Vielleicht fällt uns die Wahl der Worte so schwer, weil kein Wort und kein Text das Verstehen garantiert. Und weil wir als Sprechende und Schreibende die Erfahrung gemacht haben, dass uns das eigene Wort enttäuschen kann – und das keineswegs nur, wenn wir beim anderen auf Unverständnis treffen. Was wäre, wenn ‚bluffen‘ für mich zu sehr dem finsteren Pokerkontext verhaftet ist oder wenn Rosset gemerkt hätte, dass ‚bluffen‘ eben genau in dem Sinne verwendet wird, den er vorher mit den Wörtern ‚täuschen‘ und ‚düpieren‘ ausschließen wollte, habe doch der Redner „in aller Aufrichtigkeit gesprochen und sozusagen mit offenen Karten gespielt“? Auch Adorno beschreibt in seinem Aufsatz Wörter aus der Fremde eine Funktion des Fremdwortes darin, etwas genauer und zugleich kürzer zu sagen. Aber davor weist er noch auf eine ganz 50 51

Rosset, Wahl, S. 39. Rosset, Wahl, S. 45.

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andere Aufgabe des Fremdwortes hin – den Lesefluss ins Stocken geraten zu lassen, um den Blick auf das Phänomen zu forcieren. „Das Fremdwort mahnt kraß daran, daß alle wirkliche Sprache etwas von der Spielmarke hat, indem es sich selber als Spielmarke einbekennt.“52 Indem das Fremdwort die Illusion durchbricht, das Gemeinte könnte unmittelbar ausgedrückt werden, befreit es die Leserin von der Gängelung durch die Sprache. Statt als Argument für eine naive Sprachontologie zu dienen, könnte Rossets Beschreibung helfen, den komplexen und durchaus problematischen53 Zusammenhängen von Denken und Sprechen/Schreiben bzw. Hören/Lesen eine weitere Facette hinzuzufügen. Schon die Existenz des Lehnwortes ‚bluffer‘ verweist doch darauf, dass dem Französischen hier nicht der Gedanke, sondern für eine Erfahrung ein Wort fehlte – so wie eine Sprachgemeinschaft, Dichterinnen und auch Philosophinnen neue Wörter kreieren oder schon vorhandene mit einem anderen Sinn belegen können. Vielleicht ist ja jedes neue Wort, um ein Bild von Paul Valéry aufzugreifen, eine neue Planke, die uns hilft, weiter voranzuschreiten – in der Hoffnung, dass uns der Hörer oder die Leserin zu folgen vermag, insofern sie diese Planke nicht zu sehr belasten.54 4.

Fazit

Beispiele dienen in argumentativen Zusammenhängen keineswegs nur zur Veranschaulichung, sondern gehören selbst zu den Überzeugungsmitteln. Sie können Argumentationen initiieren, Schlüsse vertreten oder stützen und dabei eine erhebliche Durchschlagskraft entwickeln. Im besten Fall sind es beredte Zeugen, die Aufmerksamkeit erregen, den Realitätskontakt der Argumentation sichern und die Hörer- und Leserinnen aktivieren, genau diesen Kontakt wohlwollend zu prüfen. Darüber hinaus verraten sie gerade in philosophischen Kontexten viel von der Welt und nicht zuletzt vom Witz der Verfasserin und damit von deren Leserbild. Mit der Wahl der Beispiele gibt der Verfasser etwas von sich preis. Deshalb können Beispiele entlarvend und sogar peinlich sein. Sachlich schlecht gewählte Beispiele sind wahrscheinlich problematischer als löchrige Argumentationen – nachsichtig zumeist ergänzen wir ohnehin ständig, ohne dass dies unser Verständnis notwendig trübt. Besonders heikel sind Beispiele dann, wenn sie die Argumentation nicht nur nicht stützen, 52 53 54

Adorno, Wörter, S. 221. Dass die Grenzen der Sprache tatsächlich die Grenzen unserer Welt sein könnten, kann auch als Bedrohung oder resignierter Ausdruck von Trauer gelesen werden. Vgl. Valéry, Dichtkunst, S. 139 f.

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sondern sie oder ihr Ziel unterlaufen. Wie bei einer Gerichtsverhandlung gilt es deshalb, sorgfältig zu überlegen, welche Zeugen man beruft.

Literatur

Adorno, T.  W.: Wörter aus der Fremde. In: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974, S. 216–232. [Entspricht T. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Band II.] Arendt, H.: Sokrates. Apologie der Pluralität, Berlin 22016. Aristoteles: Rhetorik, übersetzt u. erläutert v. C. Rapp. Erster u. zweiter Halbband, Berlin 2002. [Entspricht Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hg. v. H.  Flashar, Band 4.] Austin, J.  L.: Ein Plädoyer für Entschuldigungen. In: Gesammelte Aufsätze, übersetzt v. J. Schulte. Stuttgart 1986, S. 229–268. [Orig.: Austin, J. L.: A Plea for Excuses. In: Proceedings of the Aristotelian Society 57, 1956, S. 1–30.] Blumenberg, H.: Anthropologische Annäherung an die Aktualtität der Rhetorik. In: Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 104–136. Davidson, D.: Was ist eigentlich ein Begriffsschema? In: Wahrheit und Interpretation, übersetzt v. J. Schulte. Frankfurt a. M. ²1994, S. 261–282. [Orig.: Davidson, D.: On the Very Idea of a Conceptual Scheme. In: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 47, 1974, S. 5–20.] Du Bois-Reymond, E.: Über die Grenzen der Naturerkenntnis, Leipzig 1872. Kant, I.: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. R. Schmidt, Hamburg 1976. Lipps, H.: Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, Frankfurt a. M. 41976. Luhmann, N.: Soziale Systeme, Frankfurt a. M. 1984. Nietzsche, F.: Genealogie der Moral. In: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (Kritische Studienausgabe Band 5), hg. v. G. Colli u. M. Montinari. München 82004. Rosset, C.: Die Wahl der Worte, übersetzt v. P. Geble, Berlin 1997. [Orig.: Rosset, C.: Le choix des Mots, Paris 1995.] Searle, J.: Geist, Hirn und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1986. [Orig.: Searle, J.: Minds, Brains and Science. The 1984 Reith Lectures, Cambridge, MA 1984.] Valéry, P.: Dichtkunst und abstraktes Denken. In: Zur Theorie der Dichtkunst, Frankfurt a. M. 1975, S. 137–168.

Literarisches Material

Adorno und die Exemplarität der Literatur Mario Farina Die Philosophie hat sich seit ihren Anfängen mit dem Phänomen beschäftigt, das heute dank der Romantik als „Literatur“ bezeichnet wird1, und dabei bestimmte Aspekte untersucht, die auf ihre Beispielhaftigkeit zurückgehen. In der Politeia verbannt Platon die Poesie aus der idealen Stadt wegen ihrer strukturellen Unzulänglichkeit bei der Bestimmung der Wirklichkeit: Die Poesie verfälscht die Dinge. Anstelle einer Exemplifizierung der Realität liefert sie eine Verzerrung derselben.2 Im Gegensatz zu Platon leitet Aristoteles gerade aus diesem Merkmal die positive Kennzeichnung der Dichtung als Ausdrucksform ab. Anders als die Geschichte, die sich mit der Wirklichkeit befasst, konstituiert das poetische Schreiben – das epische sowie das dramatische – den Bereich des Wahrscheinlichen, der weiter ist als die Wirklichkeit, aber deshalb nicht ohne Korrespondenz mit der Wirklichkeit. D.h. sie konstituiert einen Bereich, dessen Umfang größer als der der Wirklichkeit ist, aber nichtsdestoweniger einen Bezug zur Wirklichkeit behält. Denn wahrscheinlich ist etwas, das möglicherweise wirklich ist; das aber kann sich nur durch eine Form der Abbildung der Wirklichkeit konstituieren.3 Gerade wegen der Wahrscheinlichkeit ihrer Handlungen können poetische Charaktere Modelle für das menschliche Handeln bieten und damit eine exemplarische Funktion ausüben. Die Debatte über den exemplarischen Charakter der Poesie zieht sich bis in die Neuzeit durch die wichtigsten poetischen Theorien, von Petrarca bis Scaliger, von Shakespeare bis zu den französischen Klassizisten, von Calderón de la Barca bis Lessing.4 Viele dieser Standpunkte werden innerhalb der Diskussion 1 Lacoue-Labarthe und Nancy, L’absolu littéraire, S. 8. 2 Platon, Politeia, X, 606e-607b. 3 „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte“. Aristoteles, Poetik, 1451a-1451b. 4 Tatarkiewicz geht auf diese Frage in mehreren Passagen seiner Geschichte der Ästhetik ein. In der Einleitung wird z. B. besonders Petrarcas Idee hervorgehoben, dass die Dichtung die

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_006

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des 20. Jahrhunderts aufgegriffen; vor allem die analytische Tradition tendiert dazu, die klassische Fassung des Problems wiederherzustellen5. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses des exemplarischen Charakters der Literatur zeichnet sich Adornos Position insofern aus, als sie einen Doppelcharakter der Literatur hervorhebt. Dieser Doppelcharakter besteht darin, die gesellschaftliche Realität auszudrücken und gleichzeitig eine Kritik an ihr zu üben. Diese Kritik ist jedoch nicht eine Exemplifizierung dessen, was die Realität „sein sollte“, etwa mit Hilfe einer Darstellung von tugendhaften Verhaltensmodellen. Sie entwickelt auch keine pragmatistische Perspektive, nach der Literatur die Regeln aufweist, die sie als solche innerhalb institutioneller sozialer Praktiken definiert. In Adornos Perspektive drückt die Literatur vielmehr die Konflikte aus, die die Gesellschaft konstituieren. Außerdem wird die reale Unversöhnlichkeit dieser Konflikte insofern gezeigt, als die Literatur sie in einer angenehmen und weitgehend einheitlichen literarischen Form bloßlegen. Thema meines Beitrags sind die Strukturen und theoretischen Elemente, die es Adorno ermöglichen, die Funktionsweise der Literatur auf diese Weise zu definieren. Insbesondere interessiert mich, wie Literatur mit Gesellschaft verbunden ist, d. h. durch welche identifizierbaren Elemente literarische Werke bestimmte Aspekte der Gesellschaft exemplarisch ausdrücken. Hegels Idee, nach der die griechische Tragödie die konstitutiven Merkmale der attischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, wird von Adorno – wie von anderen Autoren, die in unterschiedlicher Weise Hegels Erbe aufgegriffen haben – als solche allgemein akzeptiert und wegen der Erklärungsmöglichkeiten, die sie bietet, geschätzt. Ich bin jedoch der Meinung, dass innerhalb dieser ästhetischen Tradition vor allem ein Begriff bedeutsam ist, der das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft weiter zu klären vermag: der Begriff des Materials. Der Autor, der ihn am gründlichsten untersucht hat, ist Adorno. Ich werde versuchen, die Grundzüge des kontraintuitiven Begriffs des „literarischen Materials“ zu skizzieren und damit zu erklären, warum er in Adornos Ästhetik eine so wichtige Rolle spielt. Der Begriff des Materials ist in der Tat der Schlüssel zur Definition einer anderen ästhetischen Kategorie, um die nach Adorno die meisten ästhetischen Probleme kreisen, der Kategorie Wahrheit nicht verbirgt, sondern erhellt. Eine erschöpfende Behandlung dieses Themas findet sich, wenn man sich mit der Poetik des sechzehnten Jahrhunderts beschäftigt. Siehe diesbezüglich Tatarkiewicz, History of Aesthetics, vol. III, S. 10, 161–183. 5 Ich halte die Art und Weise, wie Peter Lamarque an das Problem herangeht, für paradigmatisch, nämlich indem er sich auf die analytische Debatte insgesamt bezieht und die aktuelle Zentralität dieser Art von Fragen aufzeigt. Lamarque, The Philosophy of Literature, S. 220–253.

Literarisches Material

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der Form. Aus Adornos Ästhetik gewinnt einer seiner gründlichsten Leser, Peter Szondi, das Hauptprinzip für seine Studie über die historische Form des modernen Dramas, nämlich die Idee, dass die Form nichts anderes ist als niedergeschlagener, sedimentierter Inhalt.6 Gemäß dieser Idee ist das Kunstwerk im Wesentlichen durch seine Form gekennzeichnet. Genauer gesagt, muss das Kunstwerk als die Art und Weise interpretiert werden, in der sich ein bestimmter historischer Inhalt in einer bestimmten äußeren Form ablagert. Anders ausgedrückt: Die Form ist das ästhetische Element, in dem sich das Werk auf die Realität bezieht, weil es deren historische Struktur veranschaulicht. Wenn man nun fragen würde, wie die Form hergestellt wird, wäre Adornos Antwort ganz einfach: Die Form wird durch Organisation erschaffen, und zwar durch die Organisation des Materials. So kann man in der Ästhetischen Theorie nachlesen: „Das substantielle Moment der Gattungen und Formen hat seinen Ort in den geschichtlichen Bedürfnissen ihrer Materialien“. Und die besondere Form eines Kunstwerks ist definiert als „Organisation“ ihrer „Materialien“.7 Der Begriff des Materials ist also der Schlüssel zur Definition des Begriffs des literarischen Kunstwerks selbst in seinen konstituierenden Bestandteilen, nämlich des Verhältnisses zwischen der Form und dem, worauf die Form verweist, d. h. der sozialen Realität, die in ihr exemplifiziert wird. In diesem Beitrag werde ich zunächst den Begriff des künstlerischen Materials im Allgemeinen klären und mich anschließend dem rein literarischen Material zuwenden. Schließlich, und das ist mein Hauptziel, werde ich zeigen, inwieweit diese Definition des Materialen möglicherweise zu einem besseren Verständnis eines breit und vielfältig diskutierten literarischen Phänomens unserer Zeit beiträgt, nämlich der Form des sogenannten postmodernen Romans. 1.

Künstlerisches Material

Was genau ist also mit „künstlerischem Material“ gemeint? Interessanterweise führt Adorno diesen Begriff ein, um ihn scharf von dem des „Inhalts“ zu unterscheiden. Die klassische Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts neigte tatsächlich dazu, die beiden Begriffe als gleichbedeutend zu behandeln. Dieser Begriff ist eben nicht dasselbe wie der Begriff des Inhalts, obwohl „Hegel […] beides verhängnisvoll konfundiert“ hat.8 Nach Adorno ist der Begriff des Materials jedoch eng mit dem der Form verbunden und bezieht sich durch 6 Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 13. 7 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 297. 8 Adorno, Ästhetische Theorie, S. 222.

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diesen auf den Inhalt. Die Diskussion geht nämlich von einem der MakroProbleme der Ästhetik aus, nämlich dem Verhältnis von Form und Inhalt. „Gegen die banausische Teilung der Kunst in Form und Inhalt ist auf deren Einheit zu bestehen, gegen die sentimentale Ansicht von ihrer Indifferenz im Kunstwerk darauf, daß ihre Differenz in der Vermittlung zugleich überdauert“.9 Wie bereits erwähnt, sind Form und Inhalt im Kunstwerk – technisch gesehen – untrennbar, da die Form direkt dem „sedimentierte[n] Inhalt“ entspricht, wie Adorno sagt.10 Deshalb ist der Inhalt nicht denkbar, außer in dieser spezifischen Form, in der er auftritt. Andererseits muss sich die Philosophie, wenn sie von Kunst spricht, in ihrer eigenen Sprache ausdrücken und nicht in der Sprache der Kunst selbst. Innerhalb dieses Rahmens spielt der Begriff des Materials eine Schlüsselrolle, denn gerade dieser Begriff wird nach Adorno am besten der vermittelten Unterscheidung von Form und Inhalt gerecht. Wie Adorno schreibt, ist das Material in der Tat „was geformt wird”11, das heißt, es ist nicht der Sinn des Werkes, sondern das, worüber der Künstler verfügt und was streng genommen in Form gebracht wird. Um es pointierter zu sagen: Es ist eigentlich nur das Material des Kunstwerks, das in ihm Gestalt annimmt, d. h. das Material ermöglicht uns, mit Recht etwas als ein Kunstwerk zu bezeichnen. Worauf es ankommt, ist im Falle von visuellen Kunstwerken recht einfach zu verstehen. Marmor ist zum Beispiel das Material, aus dem eine Statue gefertigt wird; es ist das, an dem der Künstler gearbeitet hat, und der in Form gebracht wird, so wie Farben das sind, was in Gemälden in Form gebracht wird. Weder der Rahmen noch der Sockel ist Teil des Kunstwerks; obwohl sie materielle Elemente sind, die mit dem Kunstwerk verbunden sind, sind sie nicht Teil dessen, was in Form gebracht wird. Wenn es um Musik und vor allem um Literatur geht, ist es weniger klar, was künstlerisches Material ist – und ob man überhaupt noch von ästhetischem Material sprechen kann. Denn hier kann die Immaterialität so weit gehen, dass die sinnes- und objektbasierten Komponenten des Kunstwerks gänzlich wegfallen. In dem oben zitierten Text äußert sich Adorno daher noch genauer zu diesem Thema und erklärt: „Material dagegen ist, womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrungsweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet: insofern können auch Formen Material werden”.12

9 10 11 12

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 222. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 15. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 222. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 222.

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Kurz: Ein Kunstwerk ist eine Produktionsform; und wie jede andere Produktionsform hat es mit Materialien zu tun. Über diese Materialien entscheiden die Künstler, aber ihre Entscheidungskraft geht nur bis zu einem gewissen Punkt, insofern das Material eine maßgebliche Form von Zwang auf die Künstler selbst ausübt. Wie es in der Philosophie der neuen Musik heißt, wird eine Kritik der harmonischen Akkorde nicht nur deshalb durchgeführt, weil „jene Klänge veraltet und unzeitgemäß wären. Sie sind falsch. Sie erfüllen ihre Funktion nicht mehr“.13 Und der Grund dafür ist, wie man in der Ästhetischen Theorie liest, dass „Material […] auch dann kein Naturmaterial [ist], wenn es den Künstlern als solches sich präsentiert, sondern geschichtlich durch und durch“.14 Um nur ein Beispiel zu nennen, das über die Zeit hinausgeht, in der Adorno dies schrieb, könnte man an die Land Art denken. Auch das Msterial der Land Art, so könnte Adorno sagen, wenn er zum Beispiel das Werk von Giuseppe Penone sähe, ist geschichtlich. Und zwar nicht nur, weil der Prozess, durch den das Werk entsteht – die Technik – geschichtlich ist, sondern weil das Material selbst geschichtlich ist, noch bevor es verarbeitet wird. Der Künstler kann sich aussuchen, welchen Baumstamm er für seine Komposition verwendet, aber er kann sich nicht aussuchen, dass das Bild eines hohlen Baumstammes heute, innerhalb der aktuellen Produktionsbedingungen, eine Reihe von genau bestimmten Bedeutungen mit sich führt; diese sind in der Tat geschichtlich dem Material selbst verhaftet. In Bezug auf das oben dargestellte Zitat kann man nun sehen, in welchem Sinne „auch Formen Material werden“ können. Auch in der bildenden Kunst betrifft die Geschichtlichkeit des Materials nicht ausschließlich die Technik, so ist beispielsweise Grün in der mittelalterlichen Malerei aufgrund der Problematik der Giftigkeit seiner Herstellungstechniken selten zu finden. Die Formen selbst sind Teil des Materials in dem Sinne, dass z. B. eine nackte Frau, die auf einer Wiese inmitten von vollständig bekleideten Männern frühstückt, eine der Möglichkeiten ist, die die Geschichte Manet zur Auswahl gestellt hat. Wie Adorno schreibt: „die Entqualifizierung des Materials, an der Oberfläche dessen Enthistorisierung, ist selber seine geschichtliche Tendenz als die subjektiver Vernunft“.15 Wollte man eine umfassende Definition des Materialbegriffs aus Adornos Ästhetik geben, so könnte man die folgende anbieten: Das Material ist alles, was sich im Inneren eines Kunstwerkes befindet und schon vor der Produktion des Kunstwerkes existierte, aber in der Konfiguration, in die der Künstler es 13 14 15

Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 40. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 223. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 224.

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stellt, eine andere Bedeutung erhält. Man denke an ein Gemälde. Zum Beispiel Die Milchmagd von Vermeer. Seine Materialien sind die Leinwand und die Farbkomposition, die eine bestimmte Wiedergabe von Licht ermöglicht; aber auch die Zweidimensionalität der Oberfläche gehört dazu; ebenso der an der Wand hängende Packkorb, der Terrakottakrug sowie die Fülle an Brot im Korb. Alle diese Elemente zusammengenommen erlauben es, den freien und zufriedenen Charakter des Daseins auszudrücken, der nach Hegel der spezifische Inhalt eines solchen Bildes ist16. So ist das Material genau genommen das, „was geformt wird“. 2.

Literarisches Material

Das Material ist also das, was geformt wird – d. h. alles, was dem Künstler zur Verfügung steht –, während die formgebende Tätigkeit aus zwei Elementen besteht, von denen das eine als „Technik“, das andere als „Vergeistigung“ definiert wird. Beispiele für Technik, sagt Adorno, sind die Perspektive in der Malerei und der Übergang vom Impressionismus zum Pointillismus. Dabei handelt es sich um progressive Elemente, die auf „geschichtliche […] Materialien und ihre Beherrschung angewendet werden“.17 Mit dem Wort „Vergeistigung“ bezeichnet Adorno das, was dem Kunstwerk – d. h. einer Sammlung von Materialien – erlaubt, eine Bedeutung zu vermitteln. „Vergeistigung“ steht jedoch nicht für eine Trennung der Materialien von ihrer eigentlichen Bedeutung, weil „Materialbeherrschung […] Vergeistigung [impliziert], die freilich als Verselbständigung des Geistes gegenüber seinem Anderen sogleich wieder sich gefährdet“.18 Anstatt etwas Dinghaftes und Objekthaftes zu bezeichnen, entspricht Adornos Materialbegriff eher einer spezifischen Übertragung von Marx‘ Begriff ‚Material‘, der im Kontext des historischen Materialismus eine zentrale Rolle spielt, in den Bereich der Ästhetik. So wie der Begriff des Geistes als eine Lesart dessen, was Marx mit gesellschaftlicher Arbeit mein19, so steht der Begriff des Materials für die Machtverhältnisse im Produktionsbereich. Das Material stellt die Weise dar, wie die Konstituenten des Kunstwerkes im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeit bestimmt werden; es steht für die Bedeutung der einzelnen „gestaltbaren“ Elemente des Werkes im Rahmen 16 17 18 19

Hegel, Die Philosophie der Kunst, S. 434. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 314. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 315. Adorno, Drei Studien zu Hegel, S. 265.

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des Produktionsprozesses. Wäre dies nicht der Fall, könnten Aussagen, wie sie in der Philosophie der neuen Musik zu finden sind, wenig Sinn ergeben. So erscheint beispielsweise in Bergs Wozzeck „der C-Dur-Dreiklang, sooft von Geld die Rede ist. Die Wirkung ist die des pointiert Banalen und zugleich Obsoleten. Die kleine C-Dur-Münze wird als falsch denunziert“.20 In diesem Sinne teilt das Kunstwerk seine semantische Struktur mit einer anderen sozialen Gestaltung, von der es sich jedoch hinsichtlich seiner Ziele distanziert, nämlich der Ware. Mit dem Ausdruck „sedimentierter Geist“, der zur Beschreibung des Materials verwendet wird, verweist Adorno auf jenes „sinnlich übersinnliche Ding“ in Marx‘ Beschreibung der Ware, das „sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf [stellt] und aus seinem Holzkopf Grillen [entwickelt], viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne“. Und da man Adorno nicht zu einem Spiritualisten machen kann, der an die Existenz von so etwas wie eine Seele der Objekte glaubt, muss man zugeben, dass das, was das Material gegen seinen Erzeuger bewegt und es zu einem Zwang macht, das sein muss, was Marx wie folgt beschreibt: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt“.21 Diese allgemeine Erklärung zum Material gilt auch für literarisches Material. Wenn es um die Dekadenz des künstlerischen Materials geht, stellt Adorno fest, dass „[m]it den Kategorien […] auch Materialien ihre apriorische Selbstverständlichkeit verloren [haben], so die Worte der Dichtung”.22 Auch Literatur hat Materialien, und auch literarische Materialien unterliegen historischen Prozessen, etwa dem Verlust der Selbstverständlichkeit. Adorno erwähnt Oscar Wildes Roman als ein Beispiel, der das Scheitern jedes antihistorischen Versuchs illustriert, dem verfallenen Material wieder einen autonomen Sinn zu geben: „Nicht länger überlegen der stofflich rohen Anhäufung aller möglichen edlen Materialien in Wildes Dorian Gray, welche die Interieurs des piekfeinen Ästhetizismus Antiquitätenhandlungen und Versteigerungsstätten anähneln und damit eben dem verhaßten Kommerz“.23 Nicht nur Worte sind demzufolge das Material der Literatur, sondern auch die Bilder, die sie hervorrufen, und ihre phantasmagorische Plastizität. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Material der Literatur nicht aus Gegenständen, Formen, Farben, Klängen oder Steinen besteht, sondern 20 21 22 23

Adorno, Philosophie der neuen Musik, S. 60, Fußnote. Marx, Das Kapital, S. 86. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 32. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 23–24.

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aus der Menge der Darstellungen, auf die sich der Autor stützt und die er mit Hilfe von Worten abruft. Jenseits von Adornos strenger Definition könnte man sagen, dass das Material von Prousts Recherche zum Beispiel der problematische Kontakt und die spannungsgeladene Differenz zwischen der Außenwelt und ihrer Sedimentation in der Erinnerung ist. Deshalb definiert Adorno die Recherche als die Vereinigung von Realismus und Psychologismus im Roman, weil „[d]er Anfang der Proustschen Recherche als Versuch zu interpretieren ist, den Scheincharakter zu überlisten: in die Monade des Kunstwerks unmerklich, ohne gewaltsame Setzung seiner Formimmanenz hineinzugeleiten und ohne die Vorspiegelung eines allgegenwärtigen und allwissenden Erzählers“.24 Es geht um ein geschichtliches Material, ein Material, das ein Jahrhundert früher nicht zur Verfügung gestanden hätte, als öffentliche Räume noch nicht so eng mit der Innerlichkeit ihrer Bewohner verbunden waren. Ähnlich ist Kafkas Material der Abhub der Welt, das, was der Produktionsprozess zurücklässt und in die Ecke wirft. „Kafka versündigt sich gegen eine althergebrachte Spielregel, indem er Kunst aus nichts anderem fertigt als aus dem Kehricht der Realität”; seine Welt wird von „Doppelgängern bevölkert, Wiederkehrern, Pojatzen, chassidischen Tänzern”, „der Geruch [ist] der von ungelüfteten Betten, die Farbe das Rot von Matratzen, deren Überzüge abhanden kamen“.25 Das Material von Thomas Mann ist schließlich die Reflexion selbst, die ironische Distanz des Autors, der beim Schreiben und Produzieren darüber nachdenkt, was Tun bedeutet. Der Grund, warum Adorno gerade auf dem Begriff „Material“ besteht, hat daher weniger mit der dinglichen Beschaffenheit von Kunstwerken, insbesondere von literarischen, zu tun, als vielmehr mit der spezifischen Form des Widerstands, den die Darstellungen dem sie bearbeitenden Autor entgegensetzen. Der Autor wählt zwar, mit welchen Materialien er seinen Text gestaltet, aber die vorhandenen Darstellungen drängen sich ihm streng genommen auf. Literarisches Material ist sozusagen eine Figur der Naturgeschichte. Es ist ein sozialer und geschichtlicher Sinn, der seine eigene natürliche Starrheit entwickelt, obwohl diese Natürlichkeit auch historisch und damit zumindest prinzipiell vergänglich ist. Und das Kunstwerk hat im Gegensatz zu anderen kulturellen Gestaltungen wie der Ware eine Besonderheit – einen Doppelcharakter, wie Adorno es nennt –, indem der Kunstgenuss eine mögliche Befriedung jener naturgeschichtlichen Konfiguration anzubieten vermag. Dies läuft darauf hinaus, dass das Kunstwerk eine formale und damit versöhnliche Antwort auf die Spannung zwischen Geschichte und Natur gibt. Gerade durch 24 25

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 157. Adorno, Aufzeichnungen zu Kafka, S. 266 (GS 10.1).

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die Konfiguration des Materials in einer ästhetischen Form zeigt das Kunstwerk, dass eine gegebene historische Sedimentation von Machtverhältnissen auch anders entwickelt werden könnte und dass die mythische und natürliche Starrheit der Geschichte zumindest im Prinzip aufgelöst werden kann: „Die geschichtliche Bahn von Kunst als Vergeistigung ist eine der Kritik am Mythos sowohl wie eine zu seiner Rettung: wessen die Imagination eingedenkt, das wird in seiner Möglichkeit von dieser bekräftigt. Solche Doppelbewegung des Geistes in der Kunst beschreibt eher deren im Begriff liegende Urgeschichte als die empirische“ (Adorno, GS 7, S. 180). Aus all diesen Gründen spricht der Ästhetik-Forscher Dino Formaggio, der sich in seinen Texten oft auf Adorno beruft, vom Kunstwerk als von einer „Verflüssigung der Bedeutung“26. Das literarische Werk erfüllt das, was Adorno als „die Anforderungen des Materials“ konzipiert – Anforderungen, die sich direkt aus dem Produktionsprozess ergeben –, indem das Werk sie formal regelt, kristallisiert, befriedet; dies ist der Grund, warum Adorno Kunst als „Freiheit inmitten der Unfreiheit“ definiert (Adorno, GS 11, S. 600). Und genau das ist die literarische Form, das heißt, die befriedete Organisation des Materials. 3.

Das Material und die Form

Aus diesem Verständnis des Begriffs des literarischen Materials ergibt sich meines Erachtens ein thematisches Merkmal von Adornos Ästhetik. Das thematische Element, das ich hier anspreche, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Das zuvor skizzierte Verständnis des literarischen Materials und vor allem seines Verhältnisses zum Formbegriff lässt sich meines Erachtens mit Gewinn in eine der lebendigsten literarischen Debatten der letzten dreißig Jahre einbinden, da es geeignete Interpretationswerkzeuge für das liefert, was gegenwärtig unter dem Stichwort des postmodernen Romans verstanden wird. Um diese These zu erläutern, muss die Form des Romans allerdings genau beschrieben werden. Die Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts arbeitete eifrig an einer theoretischen Definition der Form des Romans. Bekanntlich argumentierte Bachtin, dass die Form des Romans zu identifizieren bedeutet, seine Unvollständigkeit anzuerkennen, das heißt, den Roman als eine Gattung in fieri und ohne Kanon zu betrachten: „historisch aktiv sind nur einzelne seiner Muster, jedoch kein Gattungskanon als solcher”27. Adorno war stark von Lukács Theorie des Romans und von seinem gescheiterten Projekt, die Form 26 27

Formaggio, La „morte dell’arte“ e l’Estetica, S. 136. Bachtin, Epos und Roman, S. 191.

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des Romans geschichtsphilosophisch zu definieren, beeinflusst. Den Begriff „Form des Romans“ zu definieren, erscheint alles in allem als ein mühsames Unterfangen. Mein Vorschlag ist es, schrittweise vorzugehen, d. h. von der ästhetischen Form im Allgemeinen zum Roman als Genre überzugehen. Die bereits erwähnte Definition des Formbegriffs – als sedimentierter Inhalt – kann auch anders formuliert werden. Die künstlerische Form steht in der Tat für eine präzise Antwort auf eine Reihe von Aufforderungen, die durch die von den Künstlern ausgewählten Materialien vorgegeben sind. Davon ausgehend kann ein weiteres Verständnis dafür gewonnen werden, was „Form“ in der Ästhetik Adornos bedeutet. Dazu schreibt er in Ästhetische Theorie: „Erstaunlich, wie wenig diese Kategorie von der Ästhetik reflektiert ward, wie sehr sie ihr, als das Unterscheidende der Kunst, unproblematisch gegeben dünkte”.28 Die Form ist nach Adorno eindeutig das, was die Kunst von jeder anderen Art von Produkten unterscheidet, insbesondere von wissenschaftlichen und konzeptuellen. Form ist in der Tat „die objektive Organisation eines jeglichen innerhalb eines Kunstwerks Erscheinenden zum stimmig Beredten“.29 Mit anderen Worten ist die Form das Merkmal, das das Kunstwerk als vollen Ausdruck der Bedeutung definieren kann, abgesehen von seiner konzeptionellen Kommunikation. Die Form ermöglicht es, dass das Kunstwerk, im Bereich der Mimesis zu wirken und nicht nur in dem der Begriffe. Die Form eines spezifischen Kunstwerks ist also das, was dieses als Sedimentation eines bestimmten Inhalts qualifiziert und es als das ausweist, was es ist. Sie ist das, was es zu diesem besonderen Kunstwerk macht und zu keinem anderen. Sie ist das, was die Eigentümlichkeit und zugleich die Exemplarität jedes Werkes ausmacht und das, was dafür sorgt, dass zum Beispiel Virginia Woolf Die Fahrt zum Leuchtturm nicht Joyces Ulysses ist. Als solche kann die Form nicht begrifflich definiert werden, da eine begriffliche Definition eines nicht-begrifflichen Merkmals dessen Substanz verfälschen würde. In dieser Hinsicht ist die Form der Kunst „jegliche[s] innerhalb eines Kunstwerks Erscheinenden“.30 Ausgehend von dem, was wir bisher gesehen haben, ist die Form im Hinblick auf ihre Beziehung zum Material die gesetzmäßige Dimension, die bewirkt, dass die Materialien innerhalb des Kunstwerks miteinander verbunden werden. In Adornos Worten ausgedrückt, ist die Form die „objektive Organisation“, das „immanente Gesetz“ der Materialen. Das ausgeprägte Spannungsfeld der Form sorgt dafür, dass die Materialien in einem bestimmten Raum nach 28 29 30

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 188. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 192. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 216.

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einem bestimmten Zusammenhang geordnet werden. Die Metapher des Spannungsfeldes kann in diesem Zusammenhang besonders hilfreich sein: So wie Eisenspäne, einmal auf ein von einem Magnetfeld durchzogenes Blatt Papier gelegt, eine bestimmte kohärente Konfiguration annehmen, so werden die Materialien des Kunstwerks in der Form gemäß einer gewissen Kohärenz gesammelt. Das heißt, so wie nicht jeder metallische Werkstoff vom Magnetfeld angezogen wird, wird auch nicht jeder historische Werkstoff von einer bestimmten Form angezogen. Aber jene Materialien, die von ihr angezogen werden, sind aufgrund der sie durchdringenden formalen Spannung unweigerlich miteinander verbunden und werden so zu literarischen Materialien. Unter Berücksichtigung dieser Definition ist es möglich, sich einem genaueren Verständnis des Begriffs der literarischen Form anzunähern, vorausgesetzt, dass es nicht darum geht, ein einzelnes Werk zu isolieren, sondern einen breiteren Formbegriff zu erfassen, wie z. B. den der literarischen Gattung. Im Essay Die Kunst und die Künste kritisiert Adorno einerseits das Festhalten an einer normativen Konzeption der Kunstgattung, andererseits wendet er sich gegen deren endgültige Ablehnung. Weder Klassizismus noch Nominalismus, so Adorno, erklären zufriedenstellend das Verhältnis zwischen einem Kunstwerk und seiner Gattung, da jedes Kunstwerk zwar seine eigene Gattung überschreiten kann, aber es auch, wenn auch nur durch Opposition, zu dessen Definition beiträgt.31 „Die bündige Disjunktion von Nominalismus und Universalismus gilt nicht”, schreibt Adorno in der Ästhetischen Theorie.32 Der Grund dafür liegt darin, dass jedes einzelne Werk, wenn es seine Individualität bis zum Äußersten treiben und sich völlig von der Gattung absetzen würde, keine Verbindung zu anderen literarischen Werken herstellen könnte und an Verständlichkeit verlieren würde. Wie Adorno schreibt, bewahrt „die Gattung […] die Authentizität der einzelnen Gebilde in sich auf“.33 Die Gattung ist also nicht als normativer Kanon zu verstehen, nach dem jedes Werk produziert wird, sondern im Gegenteil als ein allgemeines Gesetz, das erklärt, warum verschiedene Werke nebeneinander gesetzt werden können. Dies ist in Bezug auf den Begriff des Materials zu verstehen, insofern „das substantielle Moment der Gattungen und Formen […] seinen Ort in den geschichtlichen Bedürfnissen ihrer Materialien“ hat.34 Aus dieser Perspektive steht das Genre in der Tat für die literarischen Werke, die eine Antwort auf ein gemeinsames Problem

31 32 33 34

Adorno, Die Kunst und die Künste, S. 432–453. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 300. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 299. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 298.

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darstellen oder die nach einer zusammenhängenden Spannung organisiert sind. Das hat die Gattung mit dem Begriff der Form gemeinsam. Diese formale und gesetzmäßige Gültigkeit der Gattung lässt sich exemplarisch an den drei klassischen literarischen Gattungen, nämlich Drama, Lyrik und Roman, verdeutlichen. Es ist sehr schwierig, heute wie auch zu Adornos Zeit zu argumentieren, dass irgendetwas davon in reiner Form vorhanden ist. Szondi hat gezeigt, dass das moderne Drama parasitär zur epischen Form des Romans ist35. Allerdings ist die Unterscheidung zwischen Drama und Roman nicht von der Hand zu weisen. Im Drama, so könnte man sagen, findet sich ein vorherrschendes formales Gesetz, das sich von dem der Lyrik unterscheidet, so wie sich Letztere vom epischen Prinzip des Romans abgrenzt. Eine deutliche Tendenz, Gattungen nach formalen Gesetzen zu beurteilen, lässt sich in Adornos Aufsätzen über Poesie und Theater erkennen – zum Beispiel über Hölderlin und über Becketts Endgame. Tatsächlich definiert die Sprache selbst die Lyrik, ihre strukturelle Anordnung, wie Adornos Studie über Hölderlins Parataxis beweist. In diesem Zusammenhang liest man z. B.: „Musikhaft ist die Verwandlung der Sprache in eine Reihung, deren Elemente anders sich verknüpfen als im Urteil“.36 Umgekehrt fällt die Aufmerksamkeit bei der Betrachtung von Becketts Text eher auf die Verkettung von Handlungen oder besser auf die Abwesenheit von Verkettung, insofern das Drama aus den Handlungen besteht, die sich vor den Augen des Betrachters abspielen. Wie Adorno in seinem Essay Versuch, das Endspiel zu verstehen feststellt: „die Handlung muß durch die eigene organisierte Sinnlosigkeit dem sich anbilden, was in dem Wahrheitsgehalt von Dramatik überhaupt sich zutrug“.37 Das heißt nicht, dass die Lyrik handlungslos ist oder dass im Drama nicht auf die Sprache geachtet wird. Es bedeutet vielmehr, dass in dem einen wie in dem anderen zwei verschiedene formale Gesetze herrschen: in der Lyrik die syntaktische Aneinanderreihung der Sprachelemente, im Drama die Entwicklung durch Handlungen. Etwas Ähnliches geschieht in Bezug auf die Form des Romans – „der nominalistischen und insofern paradoxen Form par excellence“.38 Adorno macht unmissverständlich klar, wie diese Gattung zu verstehen ist. In den Aufsätzen Über epische Naivität und Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman schlägt er vor, dass das formale Gesetz, das den Roman definiert, das Gesetz des Ichs ist, also das, was für Szondi das moderne Drama in die 35 36 37 38

Szondi, Theorie des modernen Dramas, S. 16–20. Adorno, Noten zur Literatur, S. 472. Adorno, Noten zur Literatur, S. 283. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 300.

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Nähe der Erzählform bringt: das epische Ich. „Die Aufgabe, […] einiges über den gegenwärtigen Stand des Romans als Form zusammenzudrängen, zwingt dazu, sei’s auch gewaltsam, ein Moment herauszugreifen“, schreibt Adorno, und „das soll die Stellung des Erzählers sein“.39 Das erzählende „Ich“ ist das angenommene Subjekt, auf dem das Fundament der Welt des Romans ruht, die tragende Struktur, the guarantor for the text; es definiert seine Materialien und versammelt diese um seinen gesetzesähnlichen Kern. Dem Roman entspricht der Aktivität des Erzählens einer Geschichte, und das ist alles, was von dem mythischen Bild einer ursprünglichen Erzählung übriggeblieben ist. In der Tat kann im Roman alles fehlen, außer einem präzisen Erzählpakt mit den Lesern, die beim Öffnen des Buches das „so war es“ akzeptieren, das der Erzähler ihnen vorsetzt. Die gesetzmäßige und verbindliche Kraft des erzählenden Ich-Prinzips wird vollends deutlich, sobald seine Krise im modernen Roman erkannt wird. Im klassischen bürgerlichen Roman „[lüftet] der Erzähler […] einen Vorhang“ und „[soll] der Leser […] Geschehenes mitvollziehen, als wäre er leibhaft zugegen“.40 Umgekehrt ist in dem aus der Erfahrung der Avangarden hervorgehendem Roman des Modernismus, in dem „jener immanente Anspruch, den der Autor unabdingbar erhebt: daß er genau wisse, wie es zugegangen sei, will ausgewiesen werden“.41 Dabei ist die wesentliche Abweichung gerade im formalen Gesetz des epischen Ichs zu sehen, d. h. in der Art und Weise, wie die literarischen Materialien um den gesetzmäßigen Kern des Romans organisiert sind. In dieser Hinsicht lässt sich mit Adornos Ausführungen so etwas wie eine allgemeine Form des Romans umreißen, nach der der Roman durch die Menge der literarischen Materialien identifiziert wird, die um ein erzählendes Ich versammelt sind, was der Garant für ihre Übereinstimmung ist. Das heißt, dass dies das Spannungsfeld begründet, das dem literarischen Material eine sinnvolle Konfiguration verleiht. 4.

Der postmoderne Roman und die Krise der Form

Wenn man von zeitgenössischen postmodernen Romanen spricht, bezieht man sich auf eine unbestimmte Menge von Werken, die jedoch einige hervorstechende Merkmale gemeinsam haben, wie die Fragmentierung der Handlung, eine beträchtliche Länge, Verweise auf die Massenkultur und jenen Ton 39 40 41

Adorno, Noten zur Literatur, S. 41. Adorno, Noten zur Literatur, S. 42. Adorno, Noten zur Literatur, S. 43.

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obsessiver Paranoia gegenüber der Welt und der Technologie, den James Wood als „hysterischen Realismus“ bezeichnet hat.42 Die wohl bekanntesten Namen und Werke, die in dieses Genre fallen, sind Gravity’s Rainbow, geschrieben 1973 von Thomas Pychon, DeLillos Meisterwerk Underworld aus dem Jahr 1997 und Infinite Jest, das ein Jahr zuvor von Wallace veröffentlicht wurde. Zu dieser Gruppe könnte man auch 2666 von Roberto Bolaño (2004) und White Teeth von Zadie Smith (2000) rechnen. Die Literaturkritik hat mehrere Versuche unternommen, eine Definition für diese Romane anzubieten. Die heterogenen Ergebnisse dieser Debatte haben zu widersprüchlichen Kategorisierungsvorschlägen geführt. Friedrich Karl hat z. B. die  Kategorie „Mega-Novel“ vorgeschlagen,43 LeClair stattdessen die der „sistems novel“,44 während Stefano Ercolino in letzter Zeit das Konzept des „maximalistischen Romans“ entwickelt hat,45 das sich auf den damit verbundenen Begriff des „Welt-Textes“ stützt.46 Der Beitrag, den Adornos Argumente in diesem Zusammenhang leisten können, ist jedoch rein philosophischer und ästhetischer Natur. Im Gegensatz zu Kategorien wie der Mega-Novel und systems novel hat die Kategorie des postmodernen Romans trotz ihrer Vagheit zwei Vorteile: ihre Kommunizierbarkeit und den Bezug zu einem historischen Kontext sowie zu einem allgemeinen kulturellen Milieu. Seine Wirksamkeit in der Kommunikation wird durch die Tatsache bewiesen, dass jeder, der diesen Debatten auch nur annähernd nahesteht, bei einem kurzen Hinweis auf den postmodernen Roman sofort weiß, wovon man spricht. Die Bindung an einen historischen Kontext hat zudem den Vorteil, auf eine gewisse gemeinsame kulturelle Empfänglichkeit hinzuweisen. Die Kategorie des postmodernen Romans kann nach der vorgebrachten Perspektive auf der Grundlage desselben gnoseologischen Schemas behandelt werden, das zuvor auf den Begriff der Gattung angewandt wurde, obwohl sie nicht mit diesem gleichgesetzt werden kann. Zur Form des postmodernen Romans gehören dann jene Romane, die, wenn man sie unter die Lupe nimmt, auf dieselben Probleme zu reagieren und formale Antworten auf die Probleme zu geben scheinen, die auch anderen Romanen, die in diese Form fallen, gemeinsam sind; diese formale Zugehörigkeit kann jedoch nicht abstrakt im Voraus festgelegt werden, sondern muss jedes Mal durch Kritik hergestellt werden. Dabei ist zu bedenken, dass bei geschichtlich geprägten Kategorien die Frage nach dem ersten Element, das 42 43 44 45 46

Wood, Human, all too Inhuman (21/12/2021 nachgeschlagen). Karl, American Fiction 1980–2000, S. 1962. LeClair, The Art of Excess, S. 1–31. Ercolino, The Maximalist Novel, S. 1–10. Moretti, Modern Epic, S. 1–3.

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unter diese Kategorie fällt, ebenso sinnlos ist wie die Frage nach der ersten Komödie oder dem ersten Roman. Es geht also darum zu verstehen, auf welche Probleme der postmoderne Roman reagiert und durch welche Antworten er auf sie wirkt. Da wir die Struktur des epischen Ichs – oder besser gesagt, die Art und Weise, wie das erzählende Ich sein eigenes Gesetz artikuliert – als formales Prinzip des Romans identifiziert haben, wird die Aufmerksamkeit genau auf diese literarische Gestalt fallen müssen. Man wird also nach dem erzählenden Ich als dem gesetzmäßigen Zentrum, um das die literarischen Materialien angeordnet sind, suchen müssen. Der Leser des postmodernen Romans steht in dieser Hinsicht jedoch sofort vor einem Problem: Einerseits ist die Präsenz des Erzählers unbestreitbar lästig; es wird seine Virtuosität zur Schau gestellt, manchmal sogar mit einem direkten Augenzwinkern an die Leserschaft; andererseits herrscht ein ebenso unleugbarer Eindruck von Chaos vor. Der Erzähler des postmodernen Romans ist nämlich wie der Wallace von Infinite Jest, der einen Roman von über tausend Seiten mit zweihundert Seiten Fußnoten konstruiert, besessen von dem Drang, das, was er beobachtet, ironisch zu kommentieren. Und es ist auch der Pynchon von Gravity’s Rainbow, der es sich nicht verkneifen kann, den Leser mit einem Augenzwinkern anzustecken und Zweifel daran aufkommen zu lassen, ob er es wirklich ernst meint. Gerade diese Eigenschaft, also die Fähigkeit, ungeheure, auf ironischem Zynismus basierende Erzählstrukturen aufzubauen, ist oft als Ausweis einer erzählerischen Allmacht dargestellt worden. Typisch für das epische Ich des postmodernen Erzählers ist aber auch die Tendenz zur Auflösung. Alles im Roman neigt dazu, sich aufzulösen: Slothrop, der Protagonist von Pynchons Gravity’s Rainbow, löst sich auf; die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion in Wallaces Infinite Jest löst sich auf; die Handlung im Allgemeinen löst sich auf und die Einheit der Erzählung selbst löst sich auf. Schließlich, und das ist bei Underworld der Fall, löst sich auch der Erzähler auf. Ohne Manierismus schreibt DeLillo einen Roman, in dem der Erzähler ständig von der ersten in die dritte Person wechselt und damit ein ausgeprägtes Bedürfnis verrät, über seine eigene Individuation hinauszugehen. Der Erzähler wird von der Welt verdrängt wie der Sammler von Sporttrophäen, der in einem Keller lebt, umgeben von seinen Objekten, und der seinen Zustand untröstlich mit den Worten kommentiert, es sei einfach „the revenge of popular culture on those who take it too seriously“47. Aber vorausgesetzt, dass das epische Ich die gesetzmäßige Einheit des Romans ist, wie kann dieser Riss behoben werden? Was hält den Roman zusammen? Bei der Lektüre von Underworld könnte man sagen, dass das 47

DeLillo, Underworld, S. 323.

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Prinzip der Einheit auf die andere Seite des erzählerischen Horizonts gerückt ist. Es ist nicht mehr das Subjekt, das die Welt des Romans beherrscht, sondern das Objekt: in diesem Fall ein Baseball, ein nutzloses, vielleicht irreales Stück Schrott aus der Unterhaltungsindustrie, das die Geheimnisse eines halben Jahrhunderts amerikanischer Geschichte in seiner eigenen unsinnigen Parabel sammelt. Dem Erzähler des postmodernen Romans bleibt also nichts anderes übrig, als tatenlos zuzusehen, die Führungsrolle aufzugeben, diese Abdankung hinter Zynismus zu verstecken und sich als übermächtiges Subjekt der übermächtigen geschichtlichen Welt zur Verfügung zu stellen. Der Erzähler des klassischen Romans – so Adorno – konnte noch den Vorhang einer als geordnet bekannten Welt aufziehen, während der modernistische Erzähler wie ein Regisseur war, der den Schauspielern nicht traute und befürchtete, sie könnten die Rolle vergessen haben. Dieser Metapher folgend, öffnet der Erzähler des postmodernen Romans den Vorhang zu einer Welt, die er nicht kennt und von der er im Nachhinein vorgibt, dass sie für ihn einen Sinn hat, während er sich ständig beim Publikum entschuldigt. Mehr als ein Regisseur scheint dieser Erzähler dann die Verkörperung eines von Walter Benjamin sehr geschätzten Bildes zu sein, das dieser in seinem Text Über den Begriff der Geschichte entfaltet, nämlich des Bildes des Engels der Geschichte: „Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann“.48 Dieser Exkurs über den postmodernen Roman erlaubt uns zu klären, wie Adorno die Funktion der Exemplarität von Literatur versteht. Die Literatur exemplifiziert die Wirklichkeit nicht in dem Moment, in dem sie eine mehr oder weniger passende Kopie von ihr anbietet, und auch nicht in dem Moment, in dem sie Modelle für ethisches Handeln hervorbringt, wie es die mittelalterlichen exempla taten. Vielmehr exemplifiziert die Literatur die Wirklichkeit durch ihre eigene ästhetische Form. Wie jedes andere Kulturprodukt ist auch die Literatur ein Ausdruck der Spannungen, die die Gesellschaft, in der sie entsteht, konstituieren. Im Gegensatz zu anderen kulturellen Formen – Religion, Philosophie, Recht, Warenproduktion, usw. – drückt die Literatur die gesellschaftliche Wirklichkeit mit den Mitteln der Ästhetik aus, das heißt, sie macht sie genießbar. Auf diese Weise exemplifiziert sie die Brüche der Realität 48

Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 697–698.

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in einer gelungenen, versöhnten Form und zeigt, wie echte Verzweiflung im Licht der Hoffnung ausgedrückt werden kann.

Literatur

Adorno, T. W.: Drei Studien zu Hegel. In: Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997. Adorno, T. W.: Ästhetische Theorie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997. Adorno, T.  W.: Philosophie der neuen Musik. In: Gesammelte Schriften, Bd.  12, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997. Adorno, T. W.: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 254–287. Adorno, T.  W.: Die Kunst und die Künste. In: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 432–453. Adorno, T. W.: Noten zur Literatur. In: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997. Aristoteles: Poetik. In: Werke, Bd. 5, Berlin 2008. Bachtin, M.: Epos und Roman. In: Konturen und Perspektiven: zum Menschenbild in der Gegenwartsliteratur der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik, hg. v. A. Hiersche u. E. Kowalski, Berlin 1969. Benjamin, W.: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1974. DeLillo, D.: Underworld, New York 1997. Ercolino, S.: The Maximalist Novel. From Thomas Pynchon’s Gravity’s Rainbow to Roberto Bolaño’s 2666, New York/London/NewDelhi/Sydney 2014. Formaggio, D.: La „morte dell’arte“ e l’Estetica, Bologna 1983. Hegel, G. W. F.: Die Philosophie der Kunst, Nachschrift Hotho 1823. In: Gesammelte Werke, Bd. 28.1, hg. v. N. Hebing, Hamburg 2015. Karl, F.  R.: American Fictions 1980–2000. Whose America is it Anyway?, Philadelphia 2001. Lamarque, P.: The Philosophy of Literature, Malden 2009. LeClair, T.: The Art of Excess. Mastery in Contemporary American Fiction, Urbana 1989. Marx, K.: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. In: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1972. Moretti, F.: Modern Epic. The World-System from Goethe to García Marquez, London 1996. Lacoue-Labarthe, P.  und  Nancy, J.-L.: L’absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand, Paris 1978.

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Platon: Politeia. In: Werke, Bd. 4, Darmstadt 2019. Szondi, P.: Theorie des modernen Dramas. In: Schriften, Bd. I, hg. v. J. Bollock, Frankfurt a. M. 1978. Tatarkiewicz, W.: History of Aesthetics, Paris 1974. Wood, J.: Human, All Too Inhuman. In: The New Republic (https://newrepublic.com/ article/61361/human-inhuman).

II. Teil Die wissenschaftstheoretische Bedeutung des Exemplarischen

Das Exemplarische als Schema bei Wittgenstein Ein Modell für die Humanwissenschaften? Silvana Borutti In den Philosophischen Untersuchungen entwickelt Wittgenstein seine Auffassung der deskriptiven Methode der Philosophie, indem er eine Bedeutungskonstellation in Anspruch nimmt, die in den semantischen Bereich des ‚Exemplarischen‘ einzubetten ist. In meinem Beitrag möchte ich zeigen, wie Wittgenstein durch die Einführung und die Diskussion des Begriffs des Exemplarischen, der im Zentrum seiner neuen sprachphilosophischen Überlegungen steht, Argumente entwickelt, die sich auf eine wesentliche Frage innerhalb der Epistemologie der Humanwissenschaften beziehen: die Frage nach einem der kognitiven und argumentativen Struktur der Humanwissenschaften und ihren Gegenständen angemessenen Begriff vom Begriff, d. h. nach dem, was den Phänomenen der Humanwissenschaften eine Form verleiht. In welchem Sinne ‚angemessen‘? Um meine Lesart des Formbegriffs in den Humanwissenschaften bei Wittgenstein zu erläutern, halte ich es für sinnvoll, zunächst den historischen Hintergrund kurz zu rekonstruieren, vor dem die Frage nach dem epistemologischen Status dieser Wissenschaften entstanden ist. Innerhalb dieses Kontextes ergibt sich in der Tat das Problem einer nicht gesetzesartigen Form, d. h. einer Form, die nicht den Anspruch erhebt, universell zu gelten, sondern die auf konkrete Individuen in ihrem allgemeinen Sinn anwendbar ist. 1.

Der historische Hintergrund der Frage nach dem epistemologischen Status der Geisteswissenschaften: Windelbands Fehlschluss

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts positioniert sich die deutsche historische Schule gegen den positivistischen Anspruch, eine einheitliche Begründungsmethode der Wissenschaften zu etablieren, und stellt mit Entschiedenheit die Frage nach dem autonomen Status der Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften. Es geht dabei primär darum, das Problem der geschichtlichen Erkenntnis und des Verstehens des Individualsinnes aus dem Modell der Naturwissenschaften herauszulösen und einen autonomen methodologischen Bereich für die Wissenschaften der historisch-kulturellen Gegenstände zu

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_007

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identifizieren. Zur Kennzeichnung der historiographischen Methode wird dabei das Paradigma des Verstehens verwendet, das der wissenschaftlichen Methode des Erklärens mit ihrem vereinheitlichenden Anspruch entgegengesetzt wird. Nach Wilhelm Diltheys Formulierung soll der Rekurs auf das Paradigma des Verstehens die Frage beantworten, wie sich die Identität des Menschen (und seiner eigenen Leistungen) als konkretes historisches Wesen – d. h. als ein Wesen, das der Selbsterkenntnis fähig ist und dessen Wissen einem historischen Horizont zugehört – in einer nicht-naturalistischen und nichtreduktiven Perspektive begreifen lässt.1 Zur Erläuterung eines zentralen Aspekts der Epistemologie der historisch-kulturellen Wissenschaften erweist sich Wilhelm Windelbands Begriff der ‚idiographischen Wissenschaften‘ als besonders aussagekräftig. Was für meine Analyse vor allem wichtig ist, ist der in diesem Paradigma enthaltene Problemtyp. Ich möchte zeigen, dass einige Aspekte der Auffassung vom Begriff, die Wittgenstein durch die Entfaltung des Themas des Exemplarischen herausarbeitet, besser verstanden werden können, wenn wir auf das hinweisen, was ich ‚Windelbands Fehlschluss‘ nennen möchte. Um welchen Fehlschluss handelt es sich? Windelband formuliert die Frage nach dem Status der Geisteswissenschaften auf Basis der neukantianischen Kritik der Erkenntnis. Er fragt nämlich nach den Regeln der Erkenntnis von Individuen und singulären Ereignissen unter einem formalen und methodologischen Gesichtspunkt. Gegen Diltheys ontologische These – nach der wir geschichtliche Wesen verstehen, weil wir selbst geschichtlich sind – behauptet er in Geschichte und Naturwissenschaft, dass der Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf keine Unterscheidung von Gegenstand und Inhalt der Erfahrung zurückzuführen ist, sondern auf eine Unterscheidung der Methode. Jeder Bereich der Erkenntnis und der Erfahrung muss nach seinen eigenen Regeln bemessen werden. Mit anderen Worten müssen der Gültigkeitsanspruch und die logisch-formalen Ziele in jedem Erkenntnisbereich überprüft werden. In neukantianischer Hinsicht führt Windelband die verschiedenen Gegenstandstypen auf unterschiedliche Objektivationstypen zurück: die Logik des Gesetzes einerseits und die Logik des Partikulären andererseits. Die Naturwissenschaften gruppieren sich um die logische Identität dessen, was sie suchen, d. h. um ein Tatsachengesetz, das in einem der logischen Form nach allgemeinen und notwendigen Urteil ausgedrückt wird (einem apodiktischen, universellen und überzeitlichen Urteil). Die Geisteswissenschaften gruppieren sich um die logische Gleichheit des Urteils, das ein bestimmtes Geschehen bzw. ein Ereignis behauptet: „ein einzelnes in der Zeit begrenzter 1 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Vorrede, Erstes Buch, S. 15–20.

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Wirklichkeit“.2 Windelband stellt somit den nomothetischen Wissenschaften oder den Wissenschaften des Allgemeinen, d. h. dessen, was notwendig und unveränderbar ist, die idiographischen Wissenschaften gegenüber oder die Wissenschaften des Partikulären, d. h. dessen, was geschichtlich und veränderbar ist. Für das Partikuläre gibt Windelband die folgenden Beispiele: „ein einzelnes Ereignis oder […] eine zusammenhängende Reihe von Taten oder Geschichten, […] das Wesen und Leben eines einzelnen Mannes oder eines ganzen Volkes, […] die Eigenart und die Entwicklung einer Sprache, einer Religion, einer Rechtsordnung“.3 Diese werden in ihrer Besonderheit und „geschichtlich bestimmte[n] Gestalt“ betrachtet.4 Die Unterscheidung ist dabei keine inhaltliche, sondern eine methodologische: Derselbe Gegenstand, zum Beispiel die Sprache, kann entweder aus einer nomothetischen Perspektive oder in seinem geschichtlichen Charakter betrachtet werden. Die Geisteswissenschaften konzentrieren sich auf den Bereich des Singulären, d. h. auf das, was Windelband im Gegensatz zum ‚nomos‘ – dem allgemeinen Gesetz – ‚idion‘ nennt. Es gilt nun, diese Gegenüberstellung genauer zu analysieren. Um es kurz zu sagen: Mit der Gegenüberstellung der Wissenschaften des Allgemeinen und der Wissenschaften des Partikulären und des Unwiederholbaren verbindet Windelband das Paradigma des logisch-formalen Gegensatzes universal/ partikulär mit dem Paradigma des Gegensatzes nomos/idion, als ob sich diese Korrelation durch ein Verhältnis folgender Art zusammenfassen ließe: Das Universale verhält sich zum Partikulären wie der nomos zum idion. Doch sind beide Paradigmen eigentlich nicht kommensurabel. Genauer gesagt, stimmen die Begriffe nicht genau überein. Das erste Paradigma setzt eine logischextensionale Auffassung der Form voraus: Dadurch, dass es der Universalität des Gesetzes die Partikularität des Einzelfalls entgegensetzt, geht es von einem Begriff des Begriffs als Klasse indifferenter Individuen aus, die bestimmte Eigenschaften teilen. Im Gegensatz dazu enthält das zweite Paradigma einen intensionalen Begriff, das idion. Dadurch, dass Windelband das von den Geisteswissenschaften untersuchte Partikuläre mit dem Prädikat ‚idion‘ charakterisiert, wirft er grundsätzlich das Problem eines Paradigmas auf, das nicht dem Gegensatz universal/partikulär entspricht. In der Gegenüberstellung nomos/idion verweist idion weniger auf ein singuläres Individuum als Extension oder Denotation (Bedeutung) als vielmehr auf das Eigene des Singulären, auf sein Individuationsprinzip, auf 2 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 144. 3 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 144. 4 Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 145.

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seine Regel, auf seine spezifische Zeitlichkeit – und damit auf einen interpretativen, nicht extensionalen, sondern intensionalen Begriff der Form. Wie Ricœur gezeigt hat5, lässt sich das Problem der Form des Partikulären nicht auf die Gegenüberstellung zwischen dem Partikulären und dem Allgemeinen zurückführen: In den Geisteswissenschaften darf das einzelne Ereignis nicht als ein logisch Partikuläres, d. h. als das Gegenteil vom Allgemeinen innerhalb eines extensionalen Paradigmas, gedacht werden. Mit dem Begriff des idion bietet Windelband zwar einen intensionalen Begriff und somit einen nichtlogischen Formbegriff an, der in der Lage ist, das Individuelle in einer Form der Allgemeinheit zu denken. Gleichwohl handelt es sich um einen Fehlschluss, insofern sein idiographisches Paradigma auf einem Verhältnis der Gegenüberstellung und Umkehrung gegenüber der nomologischen Perspektive beharrt. Der Begriff des idion – d.  h. der eigenen Form des Partikulären – leitet die Suche nach einem Modell, das in der Lage ist, den noetischen Status individueller Ereignisse in den historisch-kulturellen Wissenschaften zu durchdenken. Ohne eine formale Struktur, die das Allgemeine im Individuum ergreift, gäbe es kein Wissen von besonderen Individuen, die Subjekte oder Ereignisse und nicht bloß Partikuläres sind. Mit Hilfe von Begriffen Wittgensteins möchte ich Argumente skizzieren, die es ermöglichen, diese Frage neu zu durchdenken: Welcher Begriff vom Begriff gilt für die Bedeutungsanalyse und welcher als Form für die Humanwissenschaften? Und in welchem Sinne steht das Exemplarische für Wittgenstein im Zentrum einer Neufassung des Formbegriffs innerhalb eines Bereichs, in dem gerade die Bedeutungen hinterfragt werden? 2.

Wittgensteins Antiessentialismus: Die Form der Sprache ‚beschreiben‘

In meiner Erörterung der philosophischen Bedeutung des Exemplarischen bei Wittgenstein möchte ich mich zwei einander korrelierenden Aspekten zuwenden: der philosophischen Tätigkeit, verstanden als Beschreibung und Erkennen der Form, und der methodologischen Funktion von Beispielen bei der Beschreibung der Form. In der Tat glaube ich, dass die Entwicklung des Begriffs des Exemplarischen als Werkzeug zum Verständnis von Bedeutungen eng mit der Klärung der Idee der Form in der Sprache verbunden ist. Die Idee der Form wird von Wittgenstein ab den 1930er Jahren von den essentialistischen Aspekten befreit, die noch in seinem ersten und zu Lebzeiten einzigen 5 Ricœur, Temps et récit, I, S. 161 f.

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veröffentlichten Werk, dem Tractatus logico-philosophicus, enthalten sind. In den Philosophischen Untersuchungen erkennt Wittgenstein an, dass die Idee des Begriffs als allgemeine Form den eigentlichen Streitpunkt in seiner frühen Perspektive auf die Sprache ausmacht. Rückblickend schreibt er über seinen eigenen Fehler: „Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache.“6 Das Bild, das ihn gefangen hielt und unter dessen Anleitung er die Sprache betrachtete, war die Idee der Verfügbarkeit einer „allgemeine[n] Form des Satzes“7, die eine einheitliche und daher essentialistische Sprachauffassung impliziert: eine allgemeine Form, unter der sprachliche Phänomene zu subsumieren sind. Die neue Auffassung der philosophischen Analyse, die Wittgenstein in den 30er Jahren entwickelt, ist von großer epistemologischer Bedeutung: Es handelt sich dabei um eine Beschreibungstätigkeit und genauer um die Beschreibung der möglichen Formen der Sprache. Aussagekräftig sind in diesem Zusammenhang einige Stellen im Teil Philosophie des Big Typescript (1932/33), die auch in den Untersuchungen (1936–1949) wiederaufgenommen werden. Dort lesen wir, dass die philosophische Beschreibung Klärung ist oder „übersichtliche Darstellung der grammatischen Tatsachen“.8 Sie ist keine Erklärung. Die Philosophie stellt keine theoretischen Hypothesen auf, die empirisch nach einer hypothetisch-deduktiven Methode zu testen wären; sie stellt vielmehr mögliche Beispiele dar: Die Philosophie darf den wirklichen /tatsächlichen/ Gebrauch der Sprache/ […] in keiner Weise antasten, sie kann ihn […] am Ende also nur beschreiben.9 Welcher Art ist unsere Untersuchung? Untersuche ich die Fälle, die ich als Beispiele anführe, auf ihre Wahrscheinlichkeit? oder Tatsächlichkeit? Nein, ich führe nur an, was möglich ist, gebe also grammatische Beispiele.10

Wichtig dabei ist, dass die Beschreibung durch „grammatische Beispiele“ nicht als Beschreibung eines empirisch-faktischen Sprachgebrauchs zu verstehen ist, sondern als Beschreibung des möglichen Gebrauchs, d. h. des Gebrauchs, den Wittgenstein „grammatisch“ nennt, der durch seine „Form“ und wirkende Regel eine bestimmte Funktion in der Sprache hat. Es ist so, als ob Wittgenstein sagen würde: Wie ist es überhaupt möglich, dass Sprache bedeutsam ist? Im Rückgriff auf dieselbe Begrifflichkeit schreibt er in der Philosophischen 6 7 8 9 10

Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, I, § 115 (PU). PU, I, §§ 65 und 114. Wittgenstein, Big Typescript, § 89, S. 414 (BT). BT, § 89, S. 417. BT, § 90, S. 425.

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Grammatik (1932–34): „an ihr interessiert uns nicht die Wahrheit, sondern ihre Form […]. Ich beschreibe nur die Sprache und erkläre nichts.“11 Philosophie ist also keine Beschreibung der Realität, sondern der Möglichkeit der Phänomene, d. h. ihrer Regel: „Es ist uns, als müßten wir die Erscheinungen durch-schauen: unsere Untersuchung aber richtet sich nicht auf die Erscheinungen, sondern auf die ‚Möglichkeiten‘ der Erscheinungen.“12 Die Beschreibung sprachlicher Möglichkeiten macht deutlich, dass die Aufgabe der Philosophie für den späten Wittgenstein eine bestimmte nicht-logischformale Auffassung vom Begriff erfordert. Zur gleichen Zeit, in der Wittgenstein die traditionelle Auffassung des Begriffs als eine Klasse von Objekten mit gemeinsamen Eigenschaften, die durch induktive Abstraktion gefunden werden, kritisiert, beschäftigt er sich auch mit dem Begriff des Spiels. Dieser wird als exemplarisch für das Verständnis der Funktionsweise von Sprache angesehen (und eigentlich können wir ihn als ‚das Exemplarische‘ schlechthin bezeichnen). Wie Wittgenstein im Blauen Buch (1933/34) schreibt, beruht das „Streben nach Allgemeinheit“13 auf Missverständnissen und unpassenden Auffassungen vom Begriff: nämlich der Idee, dass Begriffe auf gemeinsame Eigenschaften verweisen, die jedes Seiende teilt, auf das bestimmte allgemeine Termini angewendet werden, wie z. B. ‚Spiel‘; der Idee, dass das Verständnis eines allgemeinen Begriffs wie ‚Blatt‘ auf einem allgemeinen Bild eines Blattes beruht, das sich von Bildern einzelner Blätter unterscheidet und mit dem Wort korreliert ist; der Idee, dass die allgemeine Vorstellung von ‚Blatt‘ ein mentaler Zustand ist. Der Wunsch nach Verallgemeinerung hängt auch mit dem Wert zusammen, der der wissenschaftlichen Erklärungsmethode beigemessen wird, die die Behandlung verschiedener Themen auf „die kleinstmögliche Anzahl primitiver Naturgesetze“ reduzieren will. Allerdings betont Wittgenstein: „Ich möchte hier sagen, daß es niemals unser Anliegen sein kann, irgendetwas auf irgendetwas zurückzuführen oder irgendetwas zu erklären. Philosophie ist wirklich ‚rein deskriptiv‘“.14 In den Untersuchungen erläutert Wittgenstein seine anti-essentialistische Sichtweise der Analyse von Bedeutungen mit Hilfe einer Gegenüberstellung der Methode der Beschreibung und der Erklärung: Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Problemen. Diese 11 12 13 14

Wittgenstein, Philosophische Grammatik, II, § 30 (PG). PU, § 90. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, S. 37 (BIB). Wittgenstein, Das Blaue Buch, S. 39 (BlB).

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sind freilich keine empirischen, sondern sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird: entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen.15

Es kann keine ‚allgemeine‘ Konzeption von Sprache geben: Philosophie beruht auf keinem hypothetisch-deduktiven Wissen, d. h., sie formuliert keine Hypothesen auf der Suche nach einer Theorie oder einem Gesetz, das die empirischen Phänomene erfasst. Philosophie ist vielmehr eine Beschreibung, die die Funktionsweise der Sprache erkennbar macht. Die philosophische Beschreibung erhellt die ‚Form‘ der Spracherfahrung, die Wittgenstein als ‚Grammatik‘ bezeichnet. Kehren wir nun zu der Frage zurück: Was ist das für eine Auffassung der Form, also des Begriffs? Wittgenstein verdichtet die grundlegenden Aspekte der philosophischen Beschreibung, indem er diese als „übersichtliche Darstellung“ versteht: Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen. – Unserer Grammatik fehlt es an Übersichtlichkeit. – Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘. Daher die Wichtigkeit des Findens und des Erfindens von Zwischengliedern.16

Die Beschreibung ist Darstellung, die die Form dadurch sichtbar macht, dass sie durch Vergleiche Zusammenhänge aufweist. Einer solchen Auffassung der Philosophie als Klärung entspricht eine immanente Auffassung des Symbolismus: „einen Satz verstehen, heißt, seinen Inhalt erfassen; und der Inhalt des Satzes ist im Satz.“17 Die Form, die eine Sprache zur Sprache macht und auf diese Weise der Erfahrung einen Sinn gibt, ist der Erfahrung selbst immanent und hat ein ästhetisches, d. h. ein erscheinendes Leben: Die Form zeigt sich.18 Die Sprachform zeigt sich in einer komplexen Einstellung, in der Einstellung, etwas augenblicklich zu erkennen, „etwas, was schon offen zutage liegt und was durch Ordnen übersichtlich wird.“19 Mit anderen Worten handelt es sich um die Einstellung, die uns ermöglicht, sinnliche Zusammenhänge zu erkennen, die einen Sinn bilden. Der Sinn liegt nicht in der Ordnung der Dinge, sondern in 15 16 17 18

19

PU, I, § 109. PU, I, § 122. Wittgenstein, Das Braune Buch, S. 257 (BrB). Vgl. dazu Gargani, Wittgenstein, S. 118. PU, I, § 122. Das bei Wittgenstein konstante anti-metalinguistische Thema des „SehenLassens“ tritt bereits im Tractatus mit dem semantischen Feld des Zeigens im Gegensatz zum Sagen auf. Später wird es im Zusammenhang mit dem Thema der übersichtlichen Darstellung noch vertieft. PU, I, § 92.

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der Möglichkeit und in der Verknüpfung, d. h. in der Form. Bezeichnenderweise schlägt Wittgenstein vor, das semantische Feld von ‚übersichtlich‘ ins Englische wie folgt zu übersetzen: „something which […] becomes transparent – I mean capable of being […] all seen at a glance“.20 Dieser Übersetzungsversuch weist darauf hin, dass ‚Übersicht‘ das Sehen von Verknüpfungen bedeutet oder ‚Aspekte‘ sehen aufgrund der Ordnung eines synoptischen Vergleichs. 3.

Die Form als Konfiguration

Ich möchte nun auf die Art und Weise eingehen, wie die übersichtliche Darstellung die Form – d.  h. eine mögliche Bedeutungskonfiguration – hervorbringt. Gerade in dem soeben skizzierten Verfahren erweist sich nämlich die Rolle der Beispiele als entscheidend. Die Darstellung lässt die Form „vor dem Hintergrund einer Gruppe möglicher Variationen“21, durch die Erfindung von Verbindungen und Zwischengliedern, sehen. Es ist sowohl bekannt als auch bedeutend, dass dieses nicht erklärende, sondern beschreibende methodologische Verfahren von Goethes und Spenglers Morphologie inspiriert ist.22 Dieses Verfahren bringt etwas zum Vorschein, das man nicht bemerkt, weil „man es immer vor Augen hat“.23 Wittgenstein selbst weist explizit sowohl auf Goethes anti-theoretische und anti-fundamentalistische Einstellung hin24 als auch auf Spenglers morphologische Methode in seinem Vergleich der Zivilisationen. Höchst relevant für den Begriff der übersichtlichen Darstellung sind aber vor allem die Wege, die Wittgenstein für die Erfindung von Vergleichen nahelegt. Der Vergleich, betont er, ist die Entdeckung von Bedeutungen dank des Überganges durch „Zwischenglieder“, d. h. durch formale Verbindungen, die Bedeutungen vor unseren Augen entstehen lassen. Aber könnte es nicht sein, daß Pflanzen in allen Einzelheiten beschrieben worden wären, und nun erst jemand daherkäme, der Analogien in ihrem Baue sieht, die man früher nicht gesehen hatte? Daß er also eine neue Ordnung in diesen Beschreibungen herstellt. Er sagt z.  B.: „Vergleiche nicht diesen Teil 20 21 22 23 24

Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition, Ts 226R, § 100 (WN). Zu „Übersicht“ vgl. Baker, Wittgenstein Methods, Kap. 1. Andronico, Antropologia e metodo morfologico, S. 189. Vgl. Schulte, Chor und Gesetz, und Andronico, Antropologia e metodo morfologico, Kap. II. PU, I, § 129. So wird Goethe zitiert: „Man suche nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre, (Goethe)“. Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, I, § 889 (BPP).

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mit diesem; sondern vielmehr mit jenem! (Goethe wollte so etwas tun.) […] dennoch aber könnte die neue Anordnung auch der wissenschaftlichen Untersuchung eine neue Richtung geben. Er sagt: „Sieh es so an!“ – und das kann nun verschiedenerlei Vorteile und Folgen haben.25

Wittgenstein spezifiziert, dass die Erfindung von Vergleichen auf Kriterien unterschiedlicher Art beruht.26 So vergleicht er zum Beispiel im  § 527 der Philosophischen Untersuchungen das Verstehen eines Satzes mit dem Verstehen eines Musikstücks auf Basis von Kriterien wie Tempo, Farbe, Rhythmus. Diese präzisieren und konfigurieren zugleich den Begriff der Form und die Weise, wie diese erkannt werden kann. Durch solche inneren Ähnlichkeitsrelationen begreifen wir Sprachspiele als „Urphänomene“.27 Vergleichen ist kein bloßes Sehen (primäres, retinales Sehen), sondern ‚Sehen als‘, Sehen nach einem Kriterium, das alternative Aspekte der Dinge aufdeckt. ‚Sehen als‘ heißt nicht, Eigenschaften in den Gegenständen sehen, sondern deren sinnhafte Beziehungen/Verbindungen sehen. Ich sehe ein Gesicht, dann sehe ich ein anderes, das dem ersten ähnlich ist. Erst dann kann ich die Physiognomie des ersten Gesichts sehen, dessen relevanten Merkmale, also dessen Form, die Wittgenstein ‚Aspekt‘ nennt.28 Ein Aspekt tritt auf, d.  h., er zeigt sich, wenn wir Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Gestalten sehen. ‚Aspekt‘ ist die sich zeigende Form, die sich (in der Materie) im Augenblick darstellt: Er ist keine logische Form, sondern eine Form mit einem ästhetischen bzw. erscheinenden Leben (darauf weist auch die Etymologie von ‚Aspekt‘ als ad-spicio hin). Wir könnten sogar ‚Aspekt‘ mit dem griechischen eidos in Verbindung bringen, denn eidos meint eine wahrnehmbare Erscheinung, die in sich selbst eine ideale Intentionalität hat. ‚Einen Aspekt sehen‘ heißt, ‚auf eine neue Weise sehen‘, jedoch nicht, eine neue Vorgehensweise zu erlernen. Wittgenstein spricht z.  B. von einer ästhetischen Erfahrung, in der man anderen nicht so sehr eine bestimmte Art und Weise vermittelt, ein Gedicht zu lesen, (also eine normative Angabe macht), sondern die Fähigkeit, einen Weg zu finden, um das Gedicht zu lesen – eine Art Switch, der es erlaubt, die Kohärenz eines Rhythmus zu erfahren, die 25 26 27 28

BPP, I, § 950. Vgl. Wittgenstein, Lectures on Aesthetics, IV, 6 (LA). PU, I, §§ 654 und 655. „Ich betrachte ein Gesicht, auf einmal bemerke ich seine Ähnlichkeit mit einem andern. Ich sehe, daß es sich nicht geändert hat; und sehe es doch anders. Diese Erfahrung nenne ich ‚das Bemerken eines Aspekts‘“, PU, II, S. 518. „[…] aber was ich im Aufleuchten des Aspekts wahrnehme, ist nicht eine Eigenschaft des Objekts, es ist eine interne Relation zwischen ihm und anderen Objekten“, PU, II, S. 549.

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Fähigkeit also, eine Möglichkeit des Lesens und damit einen neuen Aspekt zu erfassen.29 Oft verwendet Wittgenstein die Metapher der Physiognomie, um von der Form zu sprechen, die wir in den Phänomenen sehen. Wir sehen keine Linien und keine einzelnen Details, die wir dann zusammensetzen. Vielmehr sehen wir sofort einen Ausdruck, eine Bedeutung; wir sehen nicht das Ding, sondern das ‚Wie‘, das ‚Gesicht‘ des Dings. Die Physiognomie des Gesichts verweist uns auf eine Auffassung von Form als Komposition, d. h. als eine auf die Zusammensetzung von Einzelteilen nicht reduzierbare Sinnkonfiguration. Dieses ‚Einschreiben in ein Wie‘ ist ein Dichten. In Ms-115, 30 des Wittgenstein-Nachlasses lesen wir: „(Die Darstellung der Philosophie kann nur gedichtet werden.)“ Die Darstellung, d. h. die beschreibende Darstellung der Philosophie, ist das Verstehen in der Form des Dichtens. Wittgenstein erläutert dies wirkungsvoll in folgendem Passus: Wir reden vom Verstehen eines Satzes in dem Sinne, in welchem er durch einen andern ersetzt werden kann, der das Gleiche sagt; aber auch in dem Sinne, in welchem er durch keinen andern ersetzt werden kann. (So wenig wie ein musikalisches Thema durch ein anderes.) Im einen Fall ist der Gedanke des Satzes, was verschiedenen Sätzen gemeinsam ist; im andern, etwas, was nur diese Worte, in diese Stellungen, ausdrücken. (Verstehen eines Gedichts.)30

Damit meint Wittgenstein, dass Verstehen kein Extrahieren der Form aus einem Ganzen durch Verallgemeinerung ist. Verstehen bedeutet vielmehr, die Form in einer spezifischen Zusammensetzung zu zeigen, die das Besondere durch-schauen lässt. Es handelt sich also um kein Verstehen eines bestimmten Inhalts, sondern um ein ‚dichterisches‘ Verstehen, das uns das Ganze auf eine bestimmte Weise sehen lässt. Die Form hat die Allgemeinheit des konfigurativen Schemas, d. h. der Kompositionsregel. 4.

Exemplarität und Normativität

Ich komme nun zur Bedeutung und Funktion der Exemplarität in der Methode der Bedeutungsbeschreibung, die Wittgenstein ‚übersichtliche Darstellung‘ nennt. Es gilt hervorzuheben, dass dieser Ausdruck zwar allgemein die philosophische Tätigkeit bezeichnet, gleichwohl aber nicht auf eine 29 30

Wittgenstein, From a Lecture Belonging to a Course of Lectures on Description, S.  40 (LD). PU, I, § 531.

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einzige Methode beschränkt ist. Die Methoden, mit denen die Aufgabe der Philosophie erfüllt wird, sind unterschiedlich, denn es gibt kein einheitliches Wesen der Philosophie, das einem einzigartigen wahren Verstehen unterliegen würde. „Sondern es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. – Es werden Probleme gelöst […], nicht ein Problem. Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.“31 Die Methode der übersichtlichen Darstellung impliziert eine Auffassung des Begriffs, die kohärent mit der Methode der Exemplifizierung ist: Der „begriffliche Apparat“ hat für Wittgenstein „einen paradigmatischen Charakter“.32 Beispiele sind nämlich nicht bloße Illustrationen des Allgemeinen, die durch allgemeine Definitionen ersetzbar wären. Was zählt, ist vielmehr die Art der Verwendung bzw. die Art und Weise, wie das Beispiel in einem Kontext funktioniert: „etwas wird mehr oder weniger richtig im Hinblick auf bestimmte Zwecke erklärt.“33 Mit anderen Worten: Beispiele orientieren uns beim Erkennen von Kontexten und formalen Zusammenhängen innerhalb eines gegebenen Anwendungskontextes: Und gerade so erklärt man etwa, was ein Spiel ist. Man gibt Beispiele und will, daß sie in einem gewissen Sinn verstanden werden. – Aber mit diesem Ausdruck meine ich nicht: er solle nun in diesen Beispielen das Gemeinsame sehen, welches ich – aus irgend einem Grunde – nicht aussprechen konnte. Sondern: er solle diese Beispiele nun in bestimmter Weise verwenden. Das Exemplifizieren ist hier nicht ein indirektes Mittel der Erklärung, – in Ermanglung eines Bessern. […] So spielen wir eben das Spiel. (Ich meine das Sprachspiel mit dem Wort „Spiel“).34

Was für eine Allgemeinheit bietet das Spiel des Beispiel-Gebens? Exemplarität wird von Wittgenstein mit Hilfe der folgenden Begriffskonstellation eingeführt: ‚Muster‘, ‚Modell‘, ‚Schema‘, ‚Typ‘, ‚Beispiel‘, ‚Bild‘, ‚Vorbild‘, ‚Paradigma‘ usw. Jeder Begriff ist Teil von Argumenten, die denselben Zweck haben: hervorzuheben, wie ein Beispiel den Begriff – oder die Allgemeinheit, die einem Individuum seinen Sinn gibt – darstellen kann. Dies hängt von der Art und Weise ab, wie das Beispiel verwendet wird: Aber wie schaut denn das Bild eines Blattes aus, das keine bestimmte Form zeigt, sondern ‚das, was allen Blattformen gemeinsam ist‘? Welchen Farbton hat das 31 32 33 34

PU, I, § 133. Vgl. Piana, Commenti a Wittgenstein, S. 57. Piana, Commenti a Wittgenstein, S. 72. PU, I, § 71.

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Silvana Borutti ‚Muster in meinem Geiste‘ der Farbe Grün – dessen, was allen Tönen von Grün gemeinsam ist? „Aber könnte es nicht solche ‚allgemeine‘ Muster eben? Etwa ein Blattschema, oder ein Muster von reinem Grün?“ – Gewiss! Aber, daß dieses Schema als Schema verstanden wird, und nicht als die Form eines bestimmten Blattes, und daß ein Täfelchen von reinem Grün als Muster alles dessen verstanden wird, was grünlich ist, und nicht als Muster für reines Grün – das liegt wieder in der Art der Anwendung dieser Muster.35

Das ‚allgemeine Muster‘ ist weder ein im Geist gespeichertes Bild noch ist Allgemeinheit eine besondere Betrachtungsweise des Musters36 – das wäre eine psychologische Erfahrung (ähnlich wie die abstrakte und von Berkeley als unmöglich betrachtete allgemeine Idee eines Dreiecks, d.  h. eines Dreiecks, das weder rechtwinklig noch spitzwinklig noch stumpfwinklig ist, sondern das all das gleichzeitig ist). Nur der Gebrauch – d.  h., wie etwas gebraucht wird, und nicht, wie es gesehen wird – verleiht dem Beispiel seine Allgemeinheit.37 Das Beispiel wirkt als ein ‚allgemeines Muster‘, wenn es als ein Schema genommen wird38, d. h., wenn es die Verknüpfungen zwischen den Teilen in einem Gegenstand aufweist und daher eine Antizipation und ein Verständnis seiner möglichen Fälle erlaubt. Wir können sagen, dass das musterhafte Individuum die Form antizipiert, d. h. das Schema der möglichen Fälle oder besser die Regel, die Fälle möglich oder unmöglich macht. Indem ich Beispiele für Spiele verschiedener Art beschreibe, „zeige“ ich, so Wittgenstein, „wie man nach Analogie dieser auf alle möglichen Arten andere Spiele konstruieren kann; sage, daß ich das und das wohl kaum mehr ein Spiel nennen würde; und dergleichen mehr“.39 Mit dem Begriff des Schemas können wir meiner Ansicht nach die verschiedenen Begriffe, die Wittgenstein für Exemplarität verwendet, vereinheitlichen. Der Verweis auf den kantischen Begriff des Schemas als Werk der Einbildungskraft ist dabei nicht abwegig: Das Schema realisiert den Begriff – bzw. ermöglicht dessen Anwendung – nicht als mentales Bild, sondern als „Vorstellung einer Methode“, „Vorstellung […] von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen“.40 Analogerweise demonstriert das Schema für Wittgenstein die Anwendungsregel.

35 36 37 38 39 40

PU, I, § 73. PU, I, § 74. Vgl. Baker, Hacker, Wittgenstein, S. 166. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass Kursivierung bei Wittgenstein eine argumentative Funktion hat. Vgl. dazu. Baker, Italics in Wittgenstein. PU, I, § 75. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 140, B 179 (KrV).

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Das ‚Schema‘ als das, was die ‚Form‘ – das Allgemeine des Partikulären – aufweist, führt uns zurück zu dem, was Windelband mit dem Begriff des idion meinte: Die Singularität reicht nicht aus, um das Ding oder Ereignis zu charakterisieren, die vielmehr ihre Bedeutung erst durch eine formalimaginative Gestaltung erhalten. Es ist bemerkenswert, dass Wittgenstein den Begriff der Aspektblindheit als Bezeichnung für den Zustand von jemandem einführt, der weder das Schema eines Würfels als Würfel noch den Würfel als Schema einer Schachtel sehen kann: „Der ‚Aspektblinde‘ wird zu Bildern überhaupt ein anderes Verhältnis haben als wir.“41 Er gebraucht sie anders und sieht nicht, dass die Schemata eine innere, ideale und formale Relation aufweisen, die partikuläre Gegenstände miteinander verbindet. Es geht hier also um die Idee einer Form, die nicht begrifflich, nicht abstrakt, nicht logisch-formal, sondern imaginativ und schematisierend ist. Beispiele-Geben ist eine nicht-essentialistische Methode. Diese ist besonders dazu geeignet, Bedeutungen und Begriffsfelder zu verstehen, die keine einheitlichen Klassen von Elementen ausmachen, sondern sich aus Netzwerken von Ähnlichkeiten ergeben. Beispiele oder Muster42 sind Gegenstände, die andere Gegenstände innerhalb ihres Bedeutungsfeldes anziehen und dadurch ihre Form aufweisen. Von dieser Art ist der Spielbegriff, dessen Merkmale durch die Variation von Beispielen erfasst werden können: Betrachte z.  B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. […] schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z. B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. […] Sind sie alle ‚unterhaltend‘? […] Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? […] Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. […] Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.43

Ein Begriff wie ‚Spiel‘ oder ‚Schmerz‘ ist eine Vielzahl von verwandten und aufeinander bezogenen Konfigurationen, sogenannten ‚Familienähnlichkeiten‘, die durch Beispiele verdeutlicht werden. Jedes Beispiel wirkt, indem es einen Aspekt bzw. eine Physiognomie hervorhebt, die innere Beziehungen 41 42 43

PU, II, S. 552; vgl. BPP, I, §§ 202–206 und 242. PU, I, § 73. PU, I, § 66.

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in einem semantischen Feld aufzeigt. Es erweist sich also als exemplarisch für den Vorgang bei der Analyse von Bedeutungen: „Die Behandlung aller dieser Erscheinungen des Seelenlebens ist mir nicht darum wichtig, weil’s mir auf Vollständigkeit ankommt. Sondern, weil jede für mich auf die richtige Behandlung aller ein Licht wirft.“44 Auf diese Weise werden philosophische Probleme dadurch aufgelöst, dass andere Möglichkeiten aufgezeigt werden und der Versuchung widerstanden wird, ein eindeutiges und notwendiges „es muss so sein“ einzuführen. Die Methode der übersichtlichen Darstellung lehrt uns, „das Vorbild als das [zu nehmen, S.  B.], was es ist, als Vergleichsobjekt […] und nicht als Vorurteil, dem die Wirklichkeit entsprechen müsse. (Der Dogmatismus, in den wir beim Philosophieren so leicht verfallen.)“45 Können wir Wittgensteins Konzeption des Beispiels mit Prototypentheorien oder mit anderen Studien über Kategorisierungsprozesse vergleichen? Die Prototypensemantik46 lehnt sowohl die formallogischen Auffassungen der Kategorien ab, die Objektklassen bestimmen, als auch die Hypothese über Bestandteile, die die strukturelle Semantik begründen. Stattdessen führt sie den Begriff des „besten Vertreters“ einer Kategorie ein.47 Die Prototypen sind eigentlich Wahrnehmungsreferenten, die als ‚beste Beispiele‘ wirken: Sie weisen gemeinsame Merkmale auf, die die zumeist geteilten Eigenschaften konstituieren. So verstanden ist der Prototyp im Grunde ein kognitives Bild, das die typischen Eigenschaften eines begrifflichen Feldes zusammenfasst; dabei bleibt aber das prototypische Modell an eine Reihe von diskreten Merkmalen gebunden, die induktiv auf der Struktur der Welt beruhen.48 Auch wenn Wittgenstein auf Familienähnlichkeiten zurückgreift, um den Grad der Prototypizität zu bestimmen, lässt sich diese Auffassung nicht ganz auf seine Konzeption der Beispiele zurückführen. Die Frage nach der kognitiven Genese von Begriffen würde Stellungnahmen implizieren, die Wittgenstein ablehnt: sowohl psychologistische oder mentalistische Annahmen49 als auch eine Auffassung, gemäß der Denken als unkörperlicher Prozess verstanden wird. Ein Begriffsfeld ist für Wittgenstein kein natürlicher Bereich, innerhalb dessen wir das beste Beispiel suchen (d.  h. ein Kategorienmitglied, das die 44 45 46 47 48 49

Wittgenstein, Zettel, § 465 (Z). PU, I, § 131. Vgl. Rosch, Lloyd (Hg.), Cognition and Categorization. Für eine umfassende Rekonstruktion der Prototypentheorie vgl. Passerini Glazel, La forza normativa del tipo, Kap. 3. Vgl. Gerace, Osservazioni sui processi di categorizzazione, S. 147. Vgl. PU, I, §§ 330 und 332.

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wesentlichen Eigenschaften enthält)50; vielmehr ist etwas ein Beispiel, wenn es Familienähnlichkeiten enthüllt und uns befähigt, in der Welt sinnvoll zu leben. Begriffe sind die Regel, mit der wir Worte gebrauchen – und sie sind offene Regel, nicht bestimmende.51 Sie sind Instrumente der Sprache, Mittel, Paradigmen unserer Spiele; sie sind keine Referenten, sondern „Darstellungsweisen“: „Dieses Muster [‚Sepia‘] ist ein Instrument der Sprache, mit der wir Farbaussagen machen. Es ist in diesem Spiel nicht Dargestelltes, sondern Mittel der Darstellung“.52 Die Muster sind nicht darum bedeutend, weil sie Weltelemente sind, sondern weil sie Weisen sind, durch die wir die Welt bedeutend machen: Sie sind Paradigmen, die das Leben ermöglichen. Die Frage, ob Wittgensteins Anti-Realismus auf eine Form des konventionalistischen Relativismus reduzierbar ist, möchte ich hier nicht weiter verfolgen. Eine Antwort auf diese Frage sollte jedoch auf Wittgensteins eigentümlichen Pragmatismus Bezug nehmen, der seiner Behauptung zugrunde liegt, dass es sinnlos wäre, von dem in Paris erhaltenen Urmeter zu behaupten oder zu leugnen, er sei einen Meter lang53: Muster sind keine Teile der Welt, sondern Anweisungen, die uns ermöglichen, in einer gemessenen oder farbigen Welt zu leben.54 Hierin liegt auch die Normativität der Gegenstände, die als Muster verwendet werden: Sie sind Regeln, d. h. Regelungen einer Lebensform. Sie sind ontologisch beliebige Regeln, die aber für uns pragmatisch notwendig sind. Wenn wir das Sprachspiel als ‚Exemplar‘ der Sprache betrachten, können wir in ihm die Wirkung der ursprünglichen Struktur des Konsenses und der Integration zwischen Sprache und Handlung sehen, an die Wittgenstein in den Untersuchungen denkt. Sein pragmatisches Modell suggeriert, dass Spiele und Regeln keine gegebene, auf konventionellen Regeln beruhende Gemeinschaft voraussetzen, sondern eine mögliche Gemeinschaft begründen.55

50 51 52 53 54

55

Voltolini, Guida alla lettura delle Ricerche filosofiche, S.  45, Fußnote 13, betont, dass unscharfe Begriffe bei Wittgenstein Bedeutungsbereiche sind, die nicht graduell in zentrale und periphere prototypische Glieder aufgeteilt werden können. Voltolini, Guida alla lettura delle Ricerche filosofiche, S. 38 f. PU, I, § 50. PU, I, § 50. „W.’s point is merely that objects, when being used as samples, have a normative role; they belong to the means of measuring, not to what is measured“, Baker, Hacker, Wittgenstein, S. 130. Für eine überzeugende Diskussion der Frage nach dem Urmeter vgl. Gert, Knowing that the standard metre is one metre long. Vgl. dazu Borutti, Regole, regolarità e intersoggettività, S. 133.

112 5.

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Begriffe für die Humanwissenschaften

Zu Beginn dieses Beitrages habe ich mit Bezug auf Windelbands Gegenüberstellung von nomothetischen und idiographischen Wissenschaften das Problem einer Auffassung vom Begriff aufgeworfen, die der kognitiven und argumentativen Struktur der Humanwissenschaften und ihren spezifischen Gegenständen angemessen ist. Welche Begriffsauffassung kann die Form partikulärer Ereignisse verstehen lassen? Die Analyse von Wittgensteins Verständnis der philosophischen Begrifflichkeit ermöglicht mir nun, zusammenfassend die folgenden Überlegungen anzustellen. Wittgenstein wendet sich gegen eine essentialistische Analyse sprachlicher Phänomene, d. h. gegen die Suche nach einer allgemeinen Form und gegen die Reduktion von Bedeutungen auf bekannte Merkmale, die Klassen mit Hilfe von Eigenschaften bestimmen. Auf der Suche nach einer nicht-essentialistischen Form führt er demgegenüber die Methode der Beschreibung oder übersichtlichen Darstellung ein, die als eine imaginative und analogische Darstellung des Allgemeinen durch Beispiele verstanden wird. Die philosophische Betrachtung von sprachlichen Phänomenen ist keine Darstellung und Rückführung von Ereignissen auf Gesetze. Es ist vielmehr eine Betrachtung, die eine Art Empfindlichkeit für die kontextuelle Form erarbeiten muss, die mit den Konturen ihrer bestimmten Unterschiede verbunden ist. Diese Form lässt sich durch keine logisch-formale Haltung erfassen, sondern nur durch eine analogische und ästhetische Herangehensweise. Wittgenstein entfaltet eine Opposition zwischen einer auf das ‚Sehen‘ verflachten Idee der Erkenntnis, die als passive Kontemplation verstanden wird und daher dem Mythos der unmittelbaren Sinnesdaten verpflichtet ist56, und einer Idee der Erkenntnis, deren Aufgabe eher darin besteht, die Form dadurch ‚sehen zu lassen‘, dass sie Netzwerke von Ähnlichkeiten im Kontinuum der Wahrnehmung zum Vorschein bringt.57 Ausgehend vom semantischen Feld des Darstellens und der Idee der nicht-repräsentativen und nicht-gesetzmäßigen, sondern konfigurativen Form, entwickelt Wittgenstein eine Auffassung der Erkenntnis in den Humanwissenschaften, die keine Erklärung und deduktive Argumentation ist, sondern Klärung durch synoptisches Sehen sowie Erfindung von Gleichnissen und neuen Sichtweisen. Wie oben erwähnt, setzt das Verstehen von Bedeutungen eine ästhetische Einstellung voraus. Die Analyse semantischer Felder ist nicht einfach das 56 57

Wittgenstein, Über Gewissheit, § 90 (ÜG). „Der Begriff des Vorstellens ist eher der eines Tuns, als eines Empfangens. Das Vorstellen könnte man einen schöpferischen Akt nennen.“, Z, § 637.

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Klassifizieren und Sammeln von Verwendungskontexten, sondern das Erscheinenlassen der Form durch die Erfindung des Möglichen, das Aufzeigen der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Beispielen. Man geht also nicht von einer abstrahierenden Induktion aus, d. h. von einer Suche nach gemeinsamen Merkmalen einer Klasse, sondern von Differenzierungen, Analogien und Kontrasten. Die Analysen zu offenen Begriffen wie ‚Spiel‘, ‚Farbe‘ und ‚Schmerz‘ in den Untersuchungen zielen darauf ab, ein durch die Einbildungskraft unterstütztes Verfahren nuancierter Exemplifizierung darzustellen, das sich als adäquat für die Untersuchung der Bedeutungsphänomene erweist. Die Beispiele bieten differenzierte Darstellungen der Bedeutungen unserer Begriffe – wie etwa ‚hoffen‘, ‚heucheln‘, ‚wissen‘ – durch ‚grammatikalische Äußerungen‘, die nicht metasprachlich über Sprachregeln sprechen, sondern diese bei der Arbeit zeigen: Man kann sich ein Tier zornig, furchtsam, traurig, freudig, erschrocken vorstellen. Aber hoffend? Und warum nicht? Der Hund glaubt, sein Herr sei an der Tür. Aber kann er auch glauben, sein Herr werde übermorgen kommen? – Und was kann er nun nicht? […] Kann nur hoffen, wer sprechen kann?58 Ein Kind muß viel lernen, ehe es sich verstellen kann. (Ein Hund kann nicht heucheln, aber er kann auch nicht aufrichtig sein.)59 Warum kann ein Hund nicht Schmerzen heucheln? Ist er zu ehrlich?60 Glaubt das Kind, daß es Milch gibt? Oder weiß es, daß es Milch gibt? Weiß die Katze, daß es eine Maus gibt?61

Wittgensteins Beispiele entwickeln kontrastierende Szenarien, die die Entgrenzung unserer Sprachspiele imaginativ durch die desorientierende Erfindung von Lebensformen wie Hund, Kind, Katze aufzeigen. Mit Hilfe des ‚Als-ob‘ der Beispiele zeigt sich die allgemeine Form des Singulären durch ein analoges und differenziertes Zusammensetzen, das ein Beziehungsgeflecht und damit eine Physiognomie erscheinen lässt. All das geschieht gemäß einer nicht-formalistischen Betrachtung der Form, die statt als Gesetz und Klasse als Ordnung und Konfiguration verstanden wird. Aus der Sicht der inferenziellen Logik ist die Bewegung einer formalen Synthese, die als Konstruktion des Formlosen durch eine Neuorientierung der Sichtweise verstanden werden kann, weder deduktiv noch induktiv. Es handelt sich 58 59 60 61

PU, II, S. 489. PU, II, S. 577. PU, I, § 250. ÜG, § 478.

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vielmehr – um mit Pierce zu sprechen62 – um eine abduktive Inferenz. Denn Phänomene werden durch ein ‚Als-ob‘ oder durch eine Konfigurationshypothese verständlich. Unter Abduktion versteht Peirce nämlich ein indirektes inferenzielles Verfahren, das uns erlaubt, das Gegebene in eine kohärente Struktur zu fassen, indem es durch hypothetische Muster organisiert wird. Der abduktive Prozess geht von einer Reihe von unerklärlichen Fakten aus, in die er eingreift, um eine Interpretation durch Sichtweisen oder Muster zu entwerfen. Der Übergang von den Prämissen (d. h. einer Reihe von Phänomenen, die keinen Sinn ergeben) zur Schlussfolgerung (d.  h. der Akzeptanz einer konfigurierenden Hypothese, die jene Phänomene organisiert) wird in der Tat durch eine ikonische Beziehung, ein ‚Als-ob‘ oder ein ‚Sehen-als‘, d. h. letztlich durch ein Durchschauen der Phänomene unterstützt. Das ‚Sehen-als‘, das Wittgenstein als Dichten interpretiert ist der abduktiven Erfindung von Hypothesen analog: Tatsächlich ist das ‚Sehen-als‘ weder eine verallgemeinernde Induktion aus Daten noch eine Deduktion aus einem formalen Kalkül; es ist vielmehr das Sehen eines Modells, das sich gerade deshalb aufdrängt, weil es eine Ordnung des Gegebenen bietet. Die strukturierende Inferenz berücksichtigt angesichts der verfügbaren Informationen, welche Konsequenzen von der Annahme einer gegebenen Hypothese abhängen, um mit einem indirekten Verfahren auf die Hypothese zurückzugehen, die jene Informationen am besten erklärt, d. h., die die beste Konfiguration der Elemente darbietet.63 In diesem Sinne können wir in Wittgensteins sogenannter übersichtlicher Darstellung durch Beispiele die argumentative Dimension der imaginativen Inferenz und die ästhetische Dimension des Blicks ineinander verschränkt und integriert sehen. Diese Art der Inferenz beschreibt gut die nicht-assoziative und nicht-verallgemeinernde, sondern kompositorische und konfigurative Denkweise, die beim Verstehen von Bedeutung in den Humanwissenschaften als kulturhistorischen Wissenschaften zum Tragen kommt.

Abkürzungen von Wittgensteins Werken

WN: Wittgenstein’s Nachlass. The Bergen Electronic Edition, Oxford 2000. BT: The Big Typescript, hg. v. M. Nedo. Frankfurt a. M. 2020. BlB: Das Blaue Buch, hg. v. R. Rhees. In: Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984. 62 63

Vgl. Peirce, Minute Logic. Thagard führt diese Inferenz auf den Begriff „explanatory coherence“ zurück. Vgl. Thagard, Conceptual Revolutions, Kap. II, III, IV.

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BrB: Das Braune Buch, hg. v. R. Rhees. In: Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984. PG: Philosophische Grammatik, hg. v. R. Rhees. In: Werkausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1984. PU: Philosophische Untersuchungen, hg. v. J. Schulte. In: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984. BPP: Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie, hg. v. G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright. In: Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1984. Z: Zettel, hg. v. G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright. In: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984. UG: Über Gewissheit, hg. v. G. E. M. Anscombe u. G. H. von Wright. In: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984. LA: Lectures on Aesthetics. In: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology, and Religious Belief, hg. v. C. Barrett. Berkeley. Los Angeles 1967, S. 1–40. LD: From a Lecture Belonging to a Course of Lectures on Description, In: Lectures and Conversations on Aesthetics, Psychology, and Religious Belief, hg. v. C.  Barrett. Berkeley, Los Angeles 1967, S. 37–40.



Literatur

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Silvana Borutti

Peirce, Ch. S.: Minute Logic. In: Collected Papers of Ch. S. Peirce, hg. v. Ch. Hartshorne u. P. Weiss, Cambridge, Bd. 2, §§ 84–96. Passerini Glazel, L.: La forza normativa del tipo. Pragmatica dell’atto giuridico e teoria della categorizzazione, Macerata 2005. Piana, G.: Commenti a Wittgenstein. In: Opere Complete, Bd. 17, Wroclaw 2013. Ricœur, P.: Temps et récit, Bd. 1, Paris 1983. Rosch, E., Lloyd, B. B. (Hg.): Cognition and Categorization, Hillsdale 1978. Schulte, J.: Chor und Gesetz. In: Grazer Philosophische Studien 21, 1984, S. 1–32. Thagard, P.: Conceptual Revolutions, Princeton 1992. Voltolini, A.: Guida alla lettura delle Ricerche filosofiche di Wittgenstein, Roma, Bari 1998. Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft. Strasburger Rektoratsrede. In: Präludien. Aufsätze und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte, Bd. 2, Tübingen 51914, S. 136–160.

Noch immer magistra vitae?

Das Exemplarische in der Geschichtsschreibung Karl-Heinz Lembeck plena exemplorum est historia Cicero1

1.

Geschichte als Forschung und als Darstellung

Das Exemplarische geschichtlicher Erfahrung, historiographisch dokumentiert, wird seit den Anfängen der Geschichtsschreibung unter dem einst von Cicero2 eingeführten Begriff der historia magistra vitae verhandelt. Seit Aufklärungszeiten geschah das aber vor allem außerhalb der Geschichtswissenschaft selbst; das Stichwort geriet jenseits der historiographischen Profession nämlich mehr und mehr zu einer Art Populärlegitimation für den historischen Stellenwert politischen Handelns.3 Im Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft jedoch ist der Gedanke der Historie als vitae magistra längst obsolet. Parallel zu dieser Abwendung verschob sich etwa zeitgleich, also seit Mitte des 18. Jahrhunderts, der Geschichtsbegriff im Deutschen vom bis dahin üblichen Gebrauch im Plural hin zum Singular. Mit ‚Geschichte‘ war nun offenbar etwas anderes gemeint als ehemals mit dem Begriff der Historie; denn ‚Geschichte‘ sollte seither vor allem die ‚Sache selbst‘, also das historische Ereignis, „wie es eigentlich gewesen“4, bedeuten, weniger aber dessen Darstellung.5 Unter solcher ‚Geschichte‘ im Kollektivsingular wird dann die Summe all jener individuellen Ereignisse verstanden, die überhaupt Gegenstand historischer Rekonstruktion und Beschreibung werden können. Aus derlei Singularitäten, die einfach nur ‚geschehen‘ sind, nun aber ‚Lehren‘ ziehen zu wollen, sie also

1 Cicero, De divinatione, I,50. 2 Cicero, De oratore, II,9. 3 Beispielhaft dafür ist bis heute vielleicht Helmut Kohl, langjähriger Bundeskanzler, der bekanntlich nicht müde wurde, bei jeder sich bietenden Gelegenheit daran zu erinnern, was uns die Geschichte lehre – vor allem dann, wenn es um die Rechtfertigung oder auch nur die Feier eigener Entscheidungen ging. 4 Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, S. VI. 5 All dies hat in überzeugender Form Reinhard Koselleck analysiert: Koselleck, Historia Magistra Vitae. Vgl. auch Koselleck, Stempel, Geschichte – Ereignis und Erzählung.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_008

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als exemplarisch zu verstehen, wäre dieser Logik zufolge ein aussichtsloses Unterfangen. Dieses neuzeitliche Geschichtsverständnis wirkt sich nun nicht zuletzt in einem Problem aus, mit dem die Geschichtswissenschaft bis heute kämpft. Es besteht in dem nur scheinbar trivialen Umstand, dass sie die so verstandene Geschichte nicht nur erforschen, sondern auch noch über sie berichten soll. Die mit dieser Doppelaufgabe verbundene Schwierigkeit wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, dass ein solcher Bericht sich in der Regel als Erzählung gestaltet. Eine Erzählung ist neben vielem vor allem sinnfundiert, ihr ‚Plot‘ wird dementsprechend als Sinngestalt artikuliert. Jedoch bilden Sinnfragen nicht unbedingt die leitenden Motive der Geschichtsschreibung, da sie deren objektiven Anspruch zu konterkarieren drohen, der ja ausschließlich in der vermeintlich faktentreuen Seriosität des Berichts über jene individuellen Ereignisse gewährleistet ist, die in ihrer Summe ‚die‘ Geschichte ausmachen. Historiker sehen Sinnfragen darum gerne als außerwissenschaftlich an, die Geschichtswissenschaft hat sie zu meiden. Dennoch sind solche Fragen offenbar unumgänglich, wenn man die historiographische Praxis betrachtet, in der Geschichte vorzugsweise in literarischer Form erzählt wird; denn dann ist narrativer Sinn ja geradezu konstitutiv für historische Plausibilität. So tut sich offenbar ein Graben auf zwischen der geschichtstheoretischen Debatte und einem vielfach positivistisch gefärbten Selbstverständnis in der Geschichtsforschung. Hier ist man überzeugt, Geschichtswissenschaft solle nur beschreiben, analysieren und erklären, mit der Sprachhandlung der Erzählung solle sie hingegen möglichst wenig zu tun haben; dort aber wird dann zu Recht die Frage gestellt, was an einem solchen Selbstverständnis überhaupt noch spezifisch ‚historisch‘ zu nennen wäre. Müsste man nicht vielmehr jene drei Charakteristika selbst als Aspekte historischer Erzählungen begreifen?6 Und man wird dabei nicht allein an der Rehabilitation eines Geschichtsbegriffs im Plural mitarbeiten, sondern auch wieder über die Rolle des Exemplarischen als eines meta-narrativen Hintergrunds von Geschichtserzählungen nachdenken müssen. Denn das Exemplarische in der Geschichte ist ja vor allem erzählstrategisch einschlägig; und in genau dieser strategischen Rolle wird es als individuelle Manifestation eines Allgemeinen gern mit normativem Anspruch aufgeladen. Ein solcher Anspruch lässt sich jedoch, wie man zugeben muss, schwerlich aus geschichtswissenschaftlich internen Motiven herleiten; vielmehr bildet gerade er das umstrittene Moment, welches die historische Erzählung zu desavouieren droht. Geschichtsforschung will eben nicht belehren, sondern 6 Wie es z. B. Jörn Rüsen vorschlägt: Rüsen, Historik, Bd. 1, bes. S. 109 ff.

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‚bloß‘ forschen. Wird solch ‚bescheidenes‘ Selbstverständnis nun durch den erzählenden Charakter der Geschichtsschreibung gefährdet? Ist vermeintlich Exemplarisches in der Geschichte das Gegenteil dessen, worum es der Geschichtsschreibung eigentlich geht? Um solche Fragen zu entscheiden, muss die Erzählung als unvermeidliche Grundlage historischer Darstellung irgendwie legitimiert werden. Solche Legitimation wird dann nicht zuletzt im Verweis auf den notwendigen Erfahrungsbezug der Erzählung gefunden, der seinerseits gerade durch die szientifische Methodologisierung der historischen Forschung zu gewährleisten ist. Folglich findet man dann den eigentlichen Beitrag der Geschichte als Wissenschaft im selben Milieu, das vermeintlich auch der erzählten Geschichte ihren Wahrheitsgehalt sichert: in den sogenannten „historischen Fakten“. Nun ist dieser Fokus auf eine methodologische Disziplinierung der histo­ rischen Forschung gewiss gut begründet; aber er bleibt eben an extra- und pränarrativen Quellen historischen Wissens orientiert und dürfte daher kaum hinreichen, um eine Rehabilitation der historischen Erzählung zu erwirken. Jene vermeintlichen Tatsachen haben nämlich für sich gar keinen narrativen Status, sie sind im strengen Sinne sinnfrei; ihren Sinn erhalten sie erst durch eine interpretierende Verbindung mit anderen Tatsachen, verteilt über die historische Zeit.7 Die Erzählung tut also etwas zur ‚Geschichte selbst‘ hinzu; daher das Misstrauen gegen den narrativen Aspekt der historiographischen Praxis.8 Aus diesem Grund wird man versuchen müssen, besagten Erfahrungsbezug der Geschichtsschreibung noch anders und vor allem elementarer zu sichern. Und ein Vorschlag wäre diesbezüglich, solche weitere Legitimierung in der Prüfung des Geltungsgehalts nicht erst positiv-methodologischer, sondern bereits vorwissenschaftlich einflussreicher Quellen der Erzählung wie etwa der (individuellen oder kollektiven) Erinnerung zu suchen. Jörn Rüsen hat in seinen Grundzügen einer Historik9 einen einschlägigen, im Fachmilieu aber auch umstrittenen Beitrag zur Rückführung der historischen Erkenntnis auf ihre lebensweltlichen Fundamente geliefert, indem er jenen unvermeidlich literarischen Charakter der Geschichtsschreibung als Ausdruck für deren „kommunikative Prägnanz“ wertet, worin sich ein zentrales Motiv historischen Wissens spiegelt: „Im historischen Diskurs wird historisches Wissen zu einem Faktor der Deutungskultur, zu einem Medium von Sozialisation und 7 Vgl. Rüsen, Historische Sinnbildung durch Erzählen, S.  529 f.; vgl. auch die Übersicht bei Rüsen, Historik, Bd. 1, S. 85 ff. 8 Einschlägig für solche Skepsis bspw. Kocka, Zurück zur Erzählung? 9 Bd.  1: Historische Vernunft (1983); Bd.  2: Rekonstruktion der Vergangenheit (1986); Bd.  3: Lebendige Geschichte (1989). – Eine überarbeitete Fassung der geschichtstheoretischen Thesen findet sich in Rüsen, Historik.

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Individuierung.“ Die historische Erzählung vermag diese Funktion nun „auf lebendig eingängige Weise“10 zu erfüllen, da in ihr nicht nur die Vergangenheit rekonstruiert, sondern zugleich die Gegenwart auf eine mögliche Zukunft hin gedeutet wird. Dergestalt wird dem schlichten Nacheinander der Ereignisse die inhaltliche Fülle humaner Zeitordnungen zugesprochen, die zwar im historischen Subjekt zentriert bleiben, aber dennoch über es hinausweisen. Rüsens anthropologischer Versuch11, eine Ordnung der Spielarten narrativer Sinnbildungsmuster im historischen Diskurs zu entdecken, identifiziert vier kategoriale Dimensionen der erzählerischen Darstellung: die traditionale, die exemplarische, die kritische und die genetische Form.12 Traditionales Erzählen hat vor allem bewahrenden Charakter, es stiftet Identitäten mit Blick auf das immerzu Gültige im historischen Geschehen. Solches Erzählen ist auf die vorweggenommene Stabilisierung der Zukunft durch Rekurs auf die Stabilitäten der Vergangenheit aus. – Exemplarisches Erzählen anerkennt Veränderungsprozesse im historischen Zeitverlauf, die freilich nur die Variabilität der geschilderten Einzelgeschehnisse betreffen. Diese werden dabei jedoch als beispielhafte Varianten überzeitlicher Regeln verstanden, um deren Artikulation es der Darstellung eigentlich geht. Die historische Urteilskraft generiert aus Einzelfällen allgemeine Regeln, und die historische Darstellung konkretisiert diese vice versa an Einzelfällen. Die Geschichte ‚lehrt‘ demnach vor allem „Regelkompetenz“13 für die Gestaltung der Zukunft. – Die kritische Erzählung spricht demgegenüber „die Sprache der Gegenbeispiele“, weil sie in subversiver Manier die Plausibilität gegebener historischer Deutungsmuster grundsätzlich zu erschüttern sucht.14 Rüsen erkennt darin Versuche „angestrengter Distanzierung“15, da alle kritische Emanzipation von dem leben muss, wogegen sie sich wendet: Historische Identität wird via negationis gebildet, läuft deshalb aber auch Gefahr, mit der Verabschiedung historisch bewährter Regeln ohne Alternative zu bleiben. – Der genetische Typ erzählender Sinnstiftung schließlich findet in der Entwicklung historischer Regularitäten selbst sein zentrales Muster. Es geht darin um die Darstellung gerichteter Veränderung von Normen, um dergestalt zu einer Fortschreibung solcher Richtung beizutragen. Die Anerkennung des Formenwechsels historischer Geltungsgestalten führt nicht in relativistische Resignation, sondern sie eröffnet eine Möglichkeit 10 11 12 13 14 15

Rüsen, Historik, Bd. 3, S. 25. „Erzählen ist eine anthropologisch universelle Kulturpraxis der Zeitdeutung.“ Rüsen, Historische Sinnbildung durch Erzählen, S. 501. Vgl. Rüsen, Historik, Bd. 3, S. 39 ff. Rüsen, Historik, Bd. 3, S. 47. Rüsen, Historik, Bd. 3, S. 50. Rüsen, Historik, Bd. 3, S. 52.

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identischen Selbstseins im Wechsel: „Die Erinnerung daran, was man war und wie man zu dem geworden ist, was man ist, macht es plausibel, anders werden zu können.“16 Diese narrativen Sinnbildungstypen finden sich in historischen Erzählungen natürlich nicht in Reinform, sondern sind in der Regel in komplexen Gestalten miteinander verzahnt. Dabei lassen sich aber Trends zu Vereinheitlichung und Einfachheit beobachten, will sagen: Die orientierenden Sinngestalten – die mehr oder weniger ‚großen‘ Erzählungen – bleiben so lange beharrlich und anerkannt, bis die Summe der positiv gewonnenen historischen Daten Veränderungen induzieren, denen besagte Gestalten nicht mehr zu genügen vermögen. Dementsprechend lösen solche Erzählungen einander ab. Besagte Beharrlichkeit jedoch erklärt andererseits, dass selbst in Zeiten augenscheinlicher Veränderungen des Alltags viele Dinge der Lebenswelt noch immer mit Hilfe exemplarisch strukturierter Regeln verarbeitet werden können und tatsächlich verarbeitet werden. Und selbst wenn diese Regeln keine Anerkennung mehr finden, werden sie durch andere ersetzt – deren Andersheit jedoch erst auf der Folie der ehemaligen Wirksamkeit überwundener Regeln deutlich wird, mithin im historischen Bewusstsein nach wie vor ‚exemplarisch‘ herleitbar ist. Daraus folgt, dass exemplarische Sinnbildungsstrategie in der historischen Erzählung nicht notwendig auf ‚ewige‘ Regel-Gültigkeit referieren muss, sondern sich mit der Darstellung mittelfristig stabiler Geltungsbestände begnügen kann. Die exemplarische Erzählung referiert in diesem Fall also allgemein geltende Handlungsregeln, die die erzählten Ereignisse durchherrschen, die einander gleichwohl historisch abzuwechseln vermögen. Exemplarisch bleibt ihre narrative Darstellung dennoch, weil das Dargestellte darin zumindest den Anspruch erhebt, über sich selbst hinauszuweisen.17 Was macht nun solch exemplarische Erzählung als historische Darstellung aber überzeugend? Inwieweit ist sie als notwendige Ergänzung schierer Aufzählung vermeintlicher ‚Fakten‘, deren Tatsächlichkeitsgehalt durch den Bezug auf historische ‚Reste‘ gewährleistet sein soll, erst konstitutiv für eine Geschichte, die uns etwas angeht? Und angehen muss uns Geschichte etwas, einfach weil sie sich als das Milieu erweist, in dem der menschliche Weltgestaltungsauftrag sich erfüllt. Daher muss es der historischen Deutung darum gehen, die jeweilige Besonderheit eines historischen Ereignisses so herauszuarbeiten, „daß sie im Zeitverlauf hervortritt und daß dadurch die Besonderheit 16 17

Rüsen, Historik, Bd. 3, S. 55. Vgl. dazu A.  Körber, Jörn Rüsens anthropologische Begründung, bes. S.  4 f. – Körber erläutert hier auch einige kritische Modifikationsvorschläge, die das Modell Rüsens inzwischen erfahren hat. Darauf ist an dieser Stelle nicht weiter einzugehen.

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der gegenwärtigen Situation verständlich wird und Handeln in ihr orientiert werden kann.“18 Handeln, das auf die Gestaltung der Zukunft abzielt, wird demnach über die exemplarische Besonderheit der historischen Situation auf seine eigenen spezifischen Bedingtheiten aufmerksam. Die Schilderung solcher Besonderheiten hat nicht zuletzt also präskriptiven Charakter für die Gegenwart: „Erfahrungen der Vergangenheit sind ohne normative Absichten auf Zukunft historisch blind; normative Absichten auf Zukunft sind ohne Erfahrungen der Vergangenheit historisch leer“.19 Das sind wohl starke Thesen, die es unter Historikern verständlicherweise schwer haben. Denn sie stehen deutlich im Licht eines Verständnisses von Geschichte, wonach diese sich als Milieu einer auf Zukunft angelegten Gestaltungskompetenz des Menschen zeigt. Und damit stiften sie vor allem Zweifel daran, dass ein Kollektivsingular ‚Geschichte‘, der jeglichen Plural zu konsumieren droht, überhaupt eine gute Fassung dessen ist, worum Geschichtsschreibung sich bemühen sollte. Vielmehr vermögen jene Thesen eine bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts prominente Auffassung zu rehabilitieren, der zufolge Geschichte als Erfahrung nicht in vermeintlich objektiven Gegebenheiten ‚da‘ ist, welche dann als ‚Quellen‘ dieser Geschichte zu dienen hätten. Sie ist vielmehr in der Subjektivität des Geschichtsbewusstseins angelegt, und dies schon deshalb, weil solche Subjektivität stets historisch verumständete Subjektivität ist. Darüber hatte seinerzeit bereits Dilthey aufgeklärt: dass das historische Subjekt längst mitten in der Geschichte, also seiner Geschichte steht, bevor es sich diesem seinem eigenen Bedingungsgefüge reflexiv zuwendet. Solche Zuwendung ist dann jedoch notwendig, denn sie dient der kulturellen Konstruktion von ‚Geschichte‘ als eines nicht mehr kontingenten Elements sinnhafter Orientierung in einer Gegenwart, die zugleich und unvermeidlich Vergangenheit ist. ‚Geschichte‘ im Sinne des Kollektivsingulars stellt daher bestenfalls eine hypostasierte und darum lebensferne Form jener ‚Geschichten‘ im Plural dar, die das historische Subjekt eigentlich betreffen. Wenn nun diese Subjektverwiesenheit der Geschichte gegen das vorherr­ schende Selbstverständnis geschichtswissenschaftlicher Forschung betont wird, dann schließt sich die Frage an, wieweit das individuelle Bewusstsein überhaupt Anknüpfungspunkte für Geschichte kennt, um besagte überindividuell ‚große‘ Geschichte als zukunfts- und handlungsrelevanten Maßstab fruchtbar werden zu lassen. Ist womöglich das Stilmittel exemplarischer Erzählung genau dafür aufschlussreich? Was gilt es aber, im Exemplarischen zu verstehen? Und auf welches menschliche Vermögen kann sich die Hoffnung 18 19

Rüsen, Historische Sinnbildung durch Erzählen, S. 533. Rüsen, Die vier Typen, S. 229.

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berufen, dass dieses Mittel elementar ist für die Rekonstruktion von Geschichte? Nicht erst Rüsen argumentiert in diesem Zusammenhang anthropologisch. Bereits viel früher finden sich in der engeren geschichtstheoretischen Diskussion vergleichbare Vorschläge. Als beispielhaft dafür kann etwa der Geschichtsbegriff des Göttinger Althistorikers Alfred Heuß gelten, der Mitte des 20. Jahrhunderts die Neigung zu notorischer Historisierung in der Nachkriegsgesellschaft als verhängnisvolles Selbstmissverständnis diagnostiziert. Heuß macht dafür vor allem einen fatalen „Hang zum Antiquarischen“ in der zeitgenössischen Geschichtsforschung verantwortlich, der mit dem Verlust eines zentralen konstitutiven Moments der Geschichte einhergeht: mit einem eklatanten Mangel an Aufmerksamkeit auf die individuelle Erinnerung.20 Inzwischen gibt es die seinerzeit noch vermisste Diskussion21; und parallel dazu hat auch der narrativistische Diskurs an Fahrt aufgenommen. Beide Diskurse aber gehören zusammen, wie deren Entwicklung bis heute bestätigt. Und sie werden um einen zusätzlichen, prominenten Aspekt ergänzt: um die Diskussion zum sogenannten kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft oder einer Nation und dessen Verhältnis zur individuellen Erinnerung. Daran interessiert uns vor allem eine Beobachtung: Institutionen wie Nationen oder Staaten ‚erinnern‘ sich immer nur im Medium kulturell manifestierter Gedächtnisgestalten, die sie sich ‚machen‘ und in memorialen Zeichen und Symbolen, Texten und Bildern dokumentieren. Und es ist gerade die Geschichtsschreibung, die solche Dokumente archiviert, aber auch selber liefert. Doch stellt sich die Frage, ob daraus eine essentielle Differenz zum Phänomen individueller Erinnerung namentlich deswegen folgt, weil es sich beim kollektiven Gedächtnis um ein „Gedächtnis der Auswahl“ handelt, das deshalb in strukturierten Erzählungen terminiert, während demgegenüber die individuelle Erinnerung „bruchstückhaft fragmentiert“ bleibt.22 Und hieße das gar, dass Letztere nicht auf Erzählung angewiesen oder einfach nur ‚schlecht‘ zu erzählen wäre? Natürlich ist das gerade Gegenteil der Fall. Und selbst wenn man geneigt ist, solchen Differenzierungen ein gewisses Recht einzuräumen, ist damit das Problem des Verhältnisses zwischen beiden Erinnerungsformen mitnichten erledigt; vielmehr wird es nun erst virulent, 20 21

22

Heuß, Verlust. – Vgl. dazu ausführlicher: Lembeck, Geschichte zwischen Erinnerung und Phantasie, bes. S. 216–219. Zu den Protagonisten dieser Debatte um ‚Geschichte als Erinnerung‘ zählen Clemens Wischermann (Wischermann, Die Legitimität) und Katja Patzel-Mattern (Patzel-Mattern, Geschichte im Zeichen der Erinnerung). Einen Überblick zur Diskussion (jedenfalls bis 2001) liefert Bergenthum, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. – Vgl. auch Lembeck, Geschichte und Erinnerung. Assmann, Kollektives Gedächtnis, S. 26.

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zumal man auch zweifeln darf, ob das Konzept der ‚Auswahl‘ dem Verständnis von ‚Fragmentierung‘ so einfach gegenübergestellt werden kann. Jedenfalls kann ich einen derart strikten Unterschied nicht erkennen und weiß dabei die geschichtsphilosophische Tradition auf meiner Seite. 2.

Die Rolle der Erinnerung und das Exemplarische in der Geschichte

Die Rolle individueller wie kollektiver Erinnerung für die Geschichtswissenschaft ist bekanntlich nicht erst in den letzten 30 Jahren diskutiert geworden. Die Debatte ist schon deutlich älter und kann u.  a. mit Namen wie Dilthey oder Bergson in Verbindung gebracht werden. Dabei wird bereits früh die geschichtskonstitutive Rolle des Menschen in den Blick genommen. Namentlich bei Dilthey geschieht das in besonders herausfordernder Manier, wenn er etwa die autobiographische Erzählung zum Kern der historischen Rekonstruktionsarbeit erklärt.23 Die Autobiographie wird sogar als besonders authentische Form von Geschichtsschreibung verstanden, weil das historische Subjekt darin als Protagonist, Quelle und Berichterstatter zugleich fungiert und weil dennoch die damit verbundene ‚Intimität‘ des historischen Zugriffs keine autistische Anmaßung ist, sondern an Bedeutungszusammenhängen orientiert bleibt, die allesamt unter dem anthropologisch-praktischen Primat dessen stehen, was Henri Bergson zur selben Zeit als „Aufmerksamkeit auf das Leben“ bezeichnet hat.24 Dilthey spricht gar davon, dass sich hier im Medium der Selbstlebensbeschreibung das „Leben selbst“ am Ende auf sein eigenes Bedingungsgefüge besinnt.25 Dieser universalhistorische Ansatz droht jedoch, die Rolle des Individuums für die historische Reflexion wieder in ähnlicher Weise zu neutralisieren, wie es gegenwärtig mit Blick auf die These von der Dominanz kollektiver Erinnerungsformen geschieht. Die Annahme, dass die individuelle Erinnerung auf Hintergründe verweist, von denen sie anonym zehrt, ist beiden Ansätzen gemeinsam. Für beide gilt in gewisser Hinsicht, dass das in der individuellen Erinnerung beschriebene Leben des Individuums nur eine Art Schlaglicht auf jenes Ordnungsmilieu wirft, in welchem es sich abspielt. Aber was hilft es, dieses Milieu als das des „Lebens selbst“ zu bezeichnen? Wirken nicht vielmehr spezifische Erzählschemata so maßgebend auf die Elaboration von Erinnerungen ein, dass die Ordnung des erzählten wie zu erzählenden Geschehens weniger als eine Funktion des 23 24 25

Vgl. dazu schon Lembeck, Selbstbiographie. Bergson, Materie und Gedächtnis, S. 169. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt, S. 200.

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Lebens denn als eine des Erzählens zu verstehen ist?26 Diese zweite Alternative würde dann der These von der strukturierten ‚Auswahl‘ des Kollektivgedächtnisses offenbar näher stehen, während die erste eine eher mysteriöse Einheit zwischen individuellem Erlebnis und überindividuellem Leben zu behaupten scheint. Die aktuelle Debatte sieht darin natürlich eine zentrale Problematik der lebensphilosophischen Konzepte, weil sie angeblich zur spekulativen Aufhebung der Differenz zwischen der individuellen Intimität des Verstehens und der Anonymität kollektiver Normen neigen.27 Ich möchte hier jedoch mit Blick auf die Struktur der historischen Erzählung die Vermutung wagen, dass auch die zweite Alternative keineswegs eine klare Trennung zwischen individuellem Verstehen und kollektiver Normativität befördert, sondern dass sich vielmehr zeigen lässt, dass jede Erzählordnung gerade für eine Verschränkung kollektiver mit individuellen Erinnerungsstrategien spricht. Auch der folgende Blick auf die Rolle des Exemplarischen in der historischen Erzählung kann das bestätigen. Jede solche Erzählung sucht eine Darstellung der Welt als beherrschbare historische Sinngestalt zu liefern, weil nur in dieser Form Geschichte überhaupt als Gegenstand thematisch werden kann. Ich halte diese Feststellung für unbestreitbar, allen Unkenrufen aus den Gefilden der historiographischen Praxis zum Trotz. Auch die wissenschaftliche Rekonstruktion der Geschichte muss sich auf Erinnerungstechniken und kollektive Gedächtnisbestände berufen, die über die Validität besagter Sinngestalt mitentscheiden. Doch auch wenn deren Geltungsanspruch gegenüber einer im individuellen Erinnerungsvollzug gestifteten Sinngestalt natürlich ein anderer ist, sind beide Erinnerungsmodi nicht so scharf voneinander trennbar, wie mancher behauptet.28 Ein erstes wichtiges Indiz dafür, dass besagte Verschränkung individueller mit kollektiver Erinnerung in historischen Erzählperspektiven vorliegt, liefert der Charakter der erzählten Erinnerung als schematisch gebundener Rekonstruktion. Die Rekonstruktion der Geschichte in jeder Form von Erinnerung terminiert stets in einer sinnhaft strukturierten Erzählung, die sich eines in der Erfahrung angesammelten Sets von universal anwendbaren Schemata bedient, welche die Richtung der Erzählung steuern. Die sogenannte 26 27 28

Vgl. Markus, ‚Schreiben heißt: sich selber lesen‘, S. 162 f. Vgl. die Darstellung bei Patzel-Mattern, Jenseits des Wissens, S. 155 f. Wie stark dabei die Skepsis gegen die Rolle der individuellen Erinnerung für die Historiographie ist, zeigt kurz und knapp ein Statement von Jan Assmann: „Man muss sich nur darüber klar werden, dass Erinnerung nichts mit Geschichtswissenschaft zu tun hat.“ Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 77.

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„allgemeine Besonderheit“29 der individuell erinnerten Geschichte gewinnt ihr Profil also nur durch ihre Referenz auf ein allgemeines Erzählschema, das ebenso als Maßstab der Erinnerung wie als narrativer Strukturhintergrund fungiert. Hier besteht offensichtlich eine Nähe zu dem, was in der Geschichtsschreibung auch als ‚individueller Begriff‘ auftaucht, dessen Allgemeinheit eine je anschaulich bedingte bleibt (‚Drittes Reich‘, ‚Holocaust‘, aber auch ‚Wirtschaftswunder‘, ‚Europa‘ etc.). Vereinfachungen unter einer jeweils leitenden Anschauung, welche anhand exemplarischer ‚Fälle‘ gewährleistet werden, sind Kennzeichen entsprechender Geschichtserzählungen. Und natürlich sieht man daran auch, dass solche exemplarischen Besonderheiten des historischen Geschehens präskriptiven Charakter sowohl in positivem wie negativem Sinn tragen können: Ihre Zukunftsorientierung kann innovativ wie prohibitiv gelesen werden. Eine einschlägige Sorge lautet hier, dass derartige Rekonstruktionen, ganz gleich, ob sie als ‚Empfehlung‘ oder ‚Warnung‘ verstanden werden, insbesondere dort, wo sie auf Formen individueller Erinnerung referieren, sich also etwa auf Zeitzeugen berufen, schon wegen der perspektivischen Verzerrung solcher Zeugnisse historisch weniger wertvoll seien. Sie summierten eben bloß individuelle, aber nicht kultur- und kollektivgeschichtlich belastbare Lesarten des Geschehens. Allerdings wird Erinnerung ja in keinem Fall beliebig konstruiert, auch nicht bezüglich einer vermeintlich ‚privaten‘ Lebensgeschichte. Denn auch solche Rekonstruktionen orientieren sich an dem in der ursprünglichen Erlebnissituation bereits sinnhaft Gestalteten.30 Recht anschauliche Beispiele für eine solche Durchdringung individueller mit kollektiven Erinnerungsgestalten liefern z.  B.  einige  Interviews, die Harald Welzer im Rahmen einer Mehrgenerationenstudie zur ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein‘ in deutschen Familien geführt hat. Nur ein Beispiel soll hier zitiert werden, das mir zu zeigen scheint, wie sich ‚normative‘ kollektive Erinnerung und individuelle Erinnerung durchkreuzen. Doris Daum (Pseudonym), Jahrgang 1934, erzählt aus ihren Erinnerungen zum Kriegsende: „Naja, und den einen Tag, da wollten die Russen, die kamen ja einfach rein und haben die Frauen vergewaltigt. Und da hatten wir grad so viel Kinder zum Spielen gehabt, da ist er abgehauen. Die haben ja kein Pardon genommen, ob da Kinder drum rum waren, die haben die Frauen genommen und […] Da isser abgedampft, weil soviel Kinder da waren.31 29 30 31

Bruner, Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, S. 54 ff. Vgl. Rosenthal, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 72 ff. Welzer, Unser Papa war in Stalingrad, S. 88. Siehe auch Welzer, Moller, Tschuggnall, ‚Opa war kein Nazi.‘

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Welzer sieht die Überzeugungskraft derartiger, auf den ersten Blick kontraevidenter Geschichten abhängig von der „wahrheitsverbürgende[n] Situation des Familiengesprächs“. Doch kann man hier natürlich auch die generelle Auskunft (zum Verhalten der russischen Soldaten: „Die haben ja kein Pardon genommen“) in aufschlussreichem Konflikt mit der individuellen Erinnerung an das konkrete Geschehen („da ist er abgehauen […] Da isser abgedampft“) als Indiz für eine am Ende geschichtskonstituierende Verquickung dessen, ‚was zu erwarten war‘, mit dem, was als Geschehen erinnert wird, ansehen. Historische Zeugenschaft ist womöglich gerade dadurch qualifiziert, dass hier in einer Erinnerung beide Dimensionen des historischen Gedächtnisses im lebendigen Konflikt miteinander auftreten. Und beide möglichen resultierenden Geschichtsversionen können durchaus exemplarisch in Hinsicht auf ganz verschiedene Allgemeinheitsmuster gelesen werden: hier das typisierende, erwartungsprägende Urteil über einen ‚Menschenschlag‘, ‚den‘ russischen Soldaten – dort das grundlegende Bild einer Person als zu verantwortlicher Handlung fähiger Instanz. Beide Geschichten lohnen die Erzählung vor allem dann, wenn sie innerhalb einer einzigen auftauchen und dergestalt gewissermaßen von doppelter Exemplarität zeugen. Die rekonstruktionsleitenden Schemata referieren auf bereits geprägte Sinngestalten des ursprünglichen Erlebens und Erlebniszusammenhangs und sind also keineswegs beliebig. In der Gestalt kulturellen Gedächtnisses treten sie sogar stets mit normativem Anspruch auf.32 Natürlich ist der Niederschlag derartiger Erlebniszusammenhänge in kulturellen Kontexten stabiler als in individuellen, zumal es diese ohne jene wohl gar nicht gäbe. Überdies stehen kulturhistorisch manifeste Sinnmuster nicht nur mit individuellen, sondern stets auch mit ihresgleichen in Konkurrenz. Entscheidungen innerhalb solcher Konkurrenzen sind dann den aktuellen Herausforderungen der je individuel­ len Zukunftsorientierung geschuldet. Sie variieren entsprechend über die Zeit, was zu dem Gemeinplatz führt, dass Geschichte immer neu geschrieben werden muss. Mit anderen Worten: Gerade die Konkurrenz zwischen alter­ nativen Erzählungen führt zwar häufig zur Dominanz einer der Partialerzäh­ lungen im Gesamttext einer gesellschaftlich-historischen Konstellation – aber kompetitive Teilerzählungen bleiben darin dennoch lebendig und wirksam. Sie sind hinsichtlich ihrer je bestimmenden Grundsätze dann besonders gut als exemplarische Erzählungen – siehe oben – wiederzugeben. Damit zur zweiten und für unser Thema, die Rolle des Exemplarischen in der Geschichtsschreibung, vielleicht wichtigeren Beobachtung, die mit dem fiktiven Charakter der historischen Erzählung qua Erzählung zusammenhängt. 32

Assmann, Erinnern, um dazuzugehören, S. 52.

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Wenn die historische Wirklichkeit auf einem lebensweltlichen Zusammenhang von Deutungen und Sinngebungen basiert, die in gesellschaftliche Erzählungen einfließen, wie besonders die Geschichtswissenschaften sie liefern, dann eben deshalb, weil jedes fiktional berichtete Geschehen – und das ist in der Historiographie wohl nicht anders als in der Literatur – eben aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Singulären längst verloren hat. Vielmehr steht es, zur exemplarischen Gestalt eines Besonderen geworden, stets im Schatten eines allgemeinen Sinns. Und eben daraus ergibt sich nun eine eigentümliche Paradoxie: Hat die historische Erzählung – bereits als Erzählung – einen das Exemplarische betonenden Charakter dergestalt, dass im Besonderen die allgemeine Regel heraussticht und als normative Handlungsempfehlung gelesen werden kann, so dokumentiert sich im Einzelfall also eine Art individuelles Allgemeines. Insofern jedoch besagter Einzelfall seinen Exempel-Charakter erst dadurch erhält, dass er am allgemeinen Sinn teilhat und derart für eine Orientierungs-Regel steht, ist er gerade kein Besonderes mehr. Genau besehen könnte es also gar keine exemplarischen Einzelfälle geben, da jeder ‚Fall‘ eben Fall einer Art ist. Aus diesem Bezug gewinnt er ja erst seinen ggf. normativen Anspruch. Die Paradoxalität der Rede vom exemplarischen Einzelfall wird hier also daran deutlich, dass das Exemplarische wohl über sich selbst hinausweisen, der Fall aber gerade auf sein Besonderes hin betrachtet werden soll. Ein wirklich „radikal singuläre[r] Einzelfall“ könnte darum nie exemplarisch sein, sondern wäre allenfalls „Beispiel für eine Sphäre vollkommener Beispiellosigkeit“.33 Bezeugen aporetisch wirkende Feststellungen wie diese nun einen Gewinn oder einen Verlust für die Geschichtsforschung? Die historiographische Praxis vermutet Letzteres und möchte eben deshalb den fiktiven Charakter der Erzählung mithilfe besagter szientifischer Orientierung überwinden. Ich wüsste allerdings nicht, wie das gelingen könnte. Denn die geschilderten Beobachtungen betonen doch vor allem die zentrale Rolle des Erzählers solch sinnstiftender Erzählungen, ganz unabhängig vom Modus oder Grad ihrer szientifischen Begründung. Sie tun das nicht zuletzt dadurch, dass sie Plausibilität und folglich auch mögliche Exemplarität von Einzelerzählungen nicht bereits im Gehalt des Erzählten, sondern in der Entscheidung des Erzählers verorten. Wenn exemplarisches Handeln nämlich als vorbildhaft verstanden werden soll, dann kann dies infolge der genannten Paradoxie nicht aus ihm selbst heraus begründet werden; über seinen Vorbildcharakter wird vielmehr erst im Prozess der Nachbildung entschieden! Erst von der Gegenwart 33

Willer, Ruchatz, Literatur und Exemplarität, S. 10. – Zum Verhältnis des Exempels zum Fall vgl. bereits Lipps, Beispiel, Exempel, Fall, bes. S. 46 ff.

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her wird über normative Funktionen des Vergangenen entschieden. So wird Geschichtsforschung zur narrativ gestützten Verhältnisbestimmung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, weil in ihr eine Kontinuitätsfiktion die zentrale Rolle spielt. Die historische Erzählung verbildlicht jene historische Kontinuität. Sie bedient sich dafür dessen, was man als ‚gebundene Phantasie‘ bezeichnen könnte.34 Die historische Vergegenwärtigung bewegt sich in Vorstellungen, die ihrerseits ein Milieu von „Nichtgegenwärtigem“ erschließen. Doch dieses Nichtgegenwärtige geht in eine Vorstellung ein, die ein Bild des historischen Gegenstandes im Modus einer ‚Quasi-Präsenz‘ entwirft. Historische Veranschaulichung trägt somit den Charakter einer Vergegenwärtigung bildhafter Vorstellungen eines Nichtgegenwärtigen; sie gründet in dem, was man seit je „historische Einbildungskraft“ genannt hat. Zwar bleibt dabei berücksichtigt, dass es sich um Bilder einer vergangenen Wirklichkeit handeln soll, dass also auch das ein-bildende Bewusstsein ein „setzendes“ ist. Aber es handelt sich eben um ein Bewusstsein zweiter Ordnung. Die in der Bildvorstellung liegende Vergangenheitsanschauung ist nur Quasi-Anschauung mit „Als-ob-Charakter“; sie ist Versuch der Sichtbarmachung eines uneinholbar Abwesenden.35 Wenn man diesen Hinweisen nachgeht, zeigt sich, dass die Phantasie als Neutralitätsmodifikation von Wirklichkeitserfahrung Perspektiven eröffnet, die es zwar erlauben, über den okkasionell gesetzten Horizont praktischer Erfahrungsmöglichkeiten hinaus eine Quasi-Wirklichkeit – für die Vergangenheit wie für die Zukunft – zu fingieren, die dabei aber gleichwohl an die Gegebenheiten der Gegenwartswelt gebunden bleiben. Die historische Veranschaulichung bewegt sich demnach im Reich von Quasi-Positionen, aber es bleiben dies nach wie vor solche des Historikers als Erzählers. Mit Blick auf die Bedingungen der Erzählung, die eine quasi-positionale Vergegenwärtigung historischer Welten hier übernehmen soll, muss das Spiel der Einbildungskraft demnach bestimmten Regeln folgen. Dazu gehört neben dem Umweg über das Bildbewusstsein auch die Bindung der Fiktion an die die kulturellen Narrative beherrschenden Allgemeinheiten. Gebunden wird die historische Phantasie also einerseits durch eben jene Zeugnisse, die uns in Erzählungen, Berichten, Beschreibungen, bildhaften Ansichten Bedeutsamkeitsstrukturen der histo­ rischen Welt vermitteln; gebunden wird sie andererseits aber auch durch die normativen Verständnisbedingungen des Gegenwartsdiskurses, die sich in 34 35

Vgl. schon Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik. Vgl. zu diesem Modell Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, z. B. S. 153, 448, 469. Vgl. zum Folgenden auch Lembeck, Metamorphosen des Historischen Apriori, S. 193–208.

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„nomologischem Erfahrungswissen“36 niedergeschlagen haben, also durch Geltungsannahmen, die, insbesondere wenn es um politische Geschichtsschreibung geht, gerade auch auf anthropologische Motive referieren. Phantasie und historische Wirklichkeit bleiben einander zwar prinzipiell fremd, dennoch trägt jene dazu bei, die Kontinuitäts-Brücke zwischen dem Bewusstsein der je eigenen Gegenwart und der ins Präteritum verschobenen Geschichte eines Kollektivs zu schlagen, indem sie Wissensformen im Modus des Als-ob ‚schöpferisch‘ miteinander zu konfundieren vermag, die faktisch so vielleicht nie miteinander konfundiert waren. Das historische Bewusstsein kann sich seiner Ausgangssituation zunächst nur im Medium der erinnernden Selbsterfahrung vergewissern. Dieser Vergewisserungsakt vermittelt ihm aber bereits jenes ‚nomologische Wissen‘ um Motivationsstruktur, Interessenlage, mittelfristig stabile Verhaltensregularitäten und Entscheidungsnormalitäten, die im Horizont einer je historisch orientierten Gegenwart den Blick in die kollektive Vergangenheit immer schon justiert haben. Historische Vergegenwärtigung gelingt dann freilich nur so gut, wie die explikative Kraft jenes nomologischen Wissens reicht, das es uns erlaubt, so zu tun, als ob ein historischer Protagonist sich sozialen, kulturellen und anthropologischen Standards gemäß verhalten hätte, und zwar genau solchen, die wir einander auch in einer historischen Gegenwart zuzuschreiben bereit sind. Mit anderen Worten: Auch als Historiker müssen wir Regeln des Verhaltens und damit des Geschehens unterstellen, die wir den stabilisierenden Fiktionen des reflexiven Selbst entliehen haben, in die es sich in seiner anschaulich gegebenen kulturellen Gegenwart immer schon verstrickt findet. Und die daraus resultierende Geschichte, die gar nicht die unsere ist, von der wir aber so tun müssen, als ob sie unsere sein könnte, erzählen wir dann. Wenn wir uns dabei des Stilmittels exemplarischer Erzählung bedienen, dann allerdings tun wir das stets mit der Legitimation nomologischen Wissens: Jene ‚Lehren‘ der Geschichte sind dann eben solche, die wir mit Blick auf unsere eigenen Gegenwartskonditionen erwarten dürfen. Deshalb steht zu vermuten, dass die Auswahl geeigneter Beispiele in der historischen Erzählung in der Regel weniger von einem sich ‚natürlich‘ anbietenden normativen Vorbildcharakter des Ereignisses als vielmehr von seinem aus Gegenwartserwartungen gewonnenen Nachahmungswert ausgeht – weshalb es auch kein Wunder ist, dass historische Erzählungen exemplarischen Charakters immer auch legitimatorische Funktion haben. Die normative Kraft exemplarischer Erzählungen erklärt sich

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Weber, S. 276 f.

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nicht zuletzt von hier her. Nicht wir also lernen aus der Geschichte, die Geschichte ‚lernt‘ gewissermaßen von uns! Gute Beispiele finden sich dafür genug.37 Weil in diesem Prozess weder das ontologische Wissen dasselbe bleibt – es hat sich mit unserer Erzählung schon wieder verwandelt – noch jener nomologische Standard tatsächlich mehr als ein Ausdruck des bloß mittelfristig stabilen Selbstverständnisses eines Gegenwartssubjekts ist, erzählen wir das vermeintlich Selbe dann immer wieder neu. Und weil wir schließlich über das, was geschehen ist, so berichten, wie es aufgrund unserer Annahmen hätte geschehen können, scheint dergestalt der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen und damit zugleich der von Aristoteles bis Kant postulierte Unterschied zwischen dem Geschichtsschreiber und dem Dichter hinfällig zu werden. Es gibt vielmehr gute Gründe anzunehmen, dass „auch Klio dichtet“, wie der deutsche Titel des bekannten Buches von Hayden White lautet.38 Dessen Analyse der historiographischen Tropologie und sein Konzept der figurativen Imagination in der Geschichtsschreibung wirken, so umstritten beides ist, auf Philosophen daher durchaus charmant.

Literatur

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Willer und Ruchatz unterscheiden aufschlussreich zwischen Belegbeispielen, Ausgangsbeispielen und normativen Beispielen und konstatieren von Letzteren, dass diese sich in der Moderne charakteristisch verschoben und die ihnen ehemals zugesprochene allgemeine Verbindlichkeit dabei zusehends verloren hätten: „Mit der Aufkündigung der Allgemeinverbindlichkeit reicht es nicht mehr aus zu beobachten, was als exemplarisch präsentiert wird; vielmehr wird es aufschlussreicher zu prüfen, was als Beispiel de facto nachgeahmt wird.“ Willer, Ruchatz, Literatur und Exemplarität, S. 26, vgl. S. 29. Vgl. White, Auch Klio dichtet, bes. S. 64–160.

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Noch immer magistra vitae?

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Ist das eine Depression?

Von kategorialen Kriterien, Prototypen und Beispielen in der psychiatrischen Diagnostik Zeno Van Duppen Die Psychiatrie ist eine Disziplin der Ungewissheit. Psychiaterinnen und Psychiater begegnen Menschen, die von den unterschiedlichsten Erfahrungen berichten, von innerfamiliären Spannungen und Burn-out-Gefühlen bis hin zu Wahrnehmungsstörungen und auffälligen Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen. Dabei bleibt das Verständnis dieser Symptome, Anzeichen und Phänomene auf Seiten des Psychiaters begrenzt: Diese Erfahrungen sind in einem eigentümlichen Sinne erstpersonal. Wie es sich anfühlt, sie zu haben, kann der Psychiater trotz der Vermittlungsversuche der Patienten nur begrenzt erfassen. Und manchmal wird dieses Erleben sogar für den Patienten selbst unzugänglich, z. B. bei der Katatonie oder im Delirium. Nichtsdestoweniger ist es der Psychiater, der danach eine psychische Erkrankung diagnostiziert und über die Notwendigkeit sowie über die Art der Behandlung entscheidet. Trotz jahrelanger klinischer Ausbildung und Erfahrung bleibt der Zugang des Psychiaters zu den Krankheiten seiner Patienten in einem gewissen Sinne subjektiv. Das, was ein Psychiater in den Berichten seiner Patienten entdecken wird, kann z. B. von den eigenen Vorerfahrungen abhängen. Und dasselbe gilt für die Weise, wie eine Psychiaterin den Patienten zuhört, ihre Ängste und Sorgen gewichtet, interpretiert usw. In der Tat, obwohl die psychiatrische Ausbildung einen evidenzbasierten Ansatz verfolgt, ist es offensichtlich, dass persönliche Einflüsse auf Seiten der Ärztin ihr Verständnis der Patientin und ihrer Symptome beeinflussen werden. Dieser Umstand bedingt die Möglichkeit von Irrtümern und Fehlern beim Versuch, die wahre Natur des vorliegenden Leidens zu erfassen. Die revolutionäre Entwicklung der evidenzbasierten Medizin in den 1990er Jahren hat nichts Grundlegendes an dieser Situation geändert.1 Zwar hat die evidenzbasierte Medizin durch eine logische Evidenzhierarchie mit randomisierten kontrollierten Studien und Meta-Analysen an ihrer Spitze zu einem enormen Wachstum psychiatrischen Wissens geführt. Dies hat sicherlich die Fachärztinnen bei ihren Entscheidungen über die Wirksamkeit bestimmter therapeutischer Interventionen unterstützt. Aber gerade durch 1 Rosenberg, Donald, Evidence based medicine.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_009

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diese Entwicklungen wurde auch deutlich, dass die Psychiatrie – entgegen mancher Hoffnungen2 – sich nicht vollständig objektivieren lässt. Der Bezug auf die Subjektivität und die damit verbundene Form der Ungewissheit konnte durch den Bezug auf messbare Daten nicht beseitigt werden. Dies hat einige dazu verleitet, die Psychiatrie als unwissenschaftlich abzutun, was entweder die Nichtanerkennung ihres wissenschaftlichen Status oder die Angleichung ihrer Methodologie und Ausrichtung an die Wissenschaftlichkeit anderer medizinischer Disziplinen mit sich brachte.3 Zwischen diesen Extrempositionen liegt die Vorstellung, dass die Psy­ chiatrie mit Menschen und deren unumgänglicher Komplexität zu tun hat. Angesichts der oben erwähnten Unhintergehbarkeit der erstpersonalen Erfahrung der Patienten ist es für Psychiaterinnen selbst erforderlich, gerade diese Erfahrung in das Zentrum ihrer Untersuchung zu stellen. Daran sollen sich Psychiaterinnen orientieren, wenn sie etwa eine Diagnose über eine bestimmte Krankheit erstellen. Es geht dabei nicht nur um eine Klassifizierung, sondern um das Verständnis des kranken Zustands und um Überlegungen, die die Frage wirksamer Interventionen betreffen.4 In diesem Sinne ist die Subjektivität der Erfahrung sowohl seitens der Patientinnen als auch seitens der Psychiaterinnen unhintergehbar. Denn gerade die Irreduzibilität der erstpersonalen Erfahrung der Patienten auf objektive Kriterien und Maßstäbe erfordert seitens der Psychiaterin einen Zugang, der auf Basis der eigenen Urteilskraft jeden individuellen Fall interpretiert. Das bedeutet allerdings nicht, jeden Bezug auf standardisierte und allgemein anerkannte diagnostische Kriterien zu verwerfen. Im Gegenteil: Ungeachtet der notwendig persönlichen und subjektiven Seite, die den Wesenskern psychiatrischen Tuns ausmacht, benötigen Psychiaterinnen objektive Kriterien bei der Diagnose, um zu entscheiden, woran Menschen leiden, und bei der Therapie, um nach wirksamen Behandlungsmöglichkeiten zu suchen. Damit stellt sich die Frage, was diese Verbindung aus Subjektivität und Objektivität – bspw. einer persönlichen Erzählung eines Patienten und den Erkenntnissen aus randomisierten kontrollierten Studien – für Medizinstudentinnen und -studenten und deren Kenntnisse um Diagnosen und Therapien psychischer Erkrankungen bedeutet. Wie können Studierende Wissen und Fähigkeiten erwerben, um auch in kritischen Notfall- und Gefahrensituationen die richtigen klinischen Entscheidungen zu treffen, die oft nicht nur Patientinnen selbst, sondern auch deren Umfeld betreffen? Wie 2 Falkum, Phronesis and techne. 3 Gupta, Psychiatry and Evidence-Based Psychiatry. 4 Thomas et al., The limits of evidence-based medicine in psychiatry.

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können Behandelnde die Beschwerden von Patienten richtig einschätzen und konkrete Diagnosen daraus ableiten? Wie kann die Behandelnde herausfinden, ob das, was die Patientin ihr erzählt, eher als Symptom einer schweren depressiven Episode (Major Depressive Disorder – MDD), einer Borderline Persönlichkeitsstörung oder einer substanzinduzierten Psychose zu klassifizieren ist? Auf der Grundlage welchen Wissens können derartige Entscheidungen getroffen werden, wenn die Evidenz der Psychiatrie immer schon subjektiver Natur ist? In diesem Beitrag möchte ich versuchen, diese Fragen zu beantworten, indem ich beleuchte, wie kategoriale Kriterien, Prototypen und Beispiele innerhalb der Psychiatrie sowohl in der Ausbildung als auch in der klinischen Praxis verwendet werden. Der erste Abschnitt diskutiert das Beispiel der ebenso berühmten wie umstrittenen Diagnose der therapieresistenten Depression (Treatment Resistent Depression – TRD). Es handelt sich dabei um eine besonders schwere Form der Depression, die gerade die Komplexität einer scheinbar einzelnen, klar abgrenzbaren psychischen Erkrankung aufzeigt und uns ermöglicht, die Folgen dieser Komplexität für die psychiatrische Diagnose einzuschätzen. Im zweiten Abschnitt beleuchte ich, wie psychische Erkrankungen Studierenden der Medizin und Psychiatrie vermittelt werden. Dabei wird deutlich, wie theoretisches Wissen und Erfahrungswissen miteinander in Konflikt geraten können, wenn ein theoretisch abgeleiteter Prototyp einem Beispiel aus dem klinischen Alltag widerspricht. Der dritte Abschnitt befasst sich mit einem verwandten Problem: Wie kann eine Behandelnde die idiosynkratrische Erzählung einer bestimmten Patientin, die neben ihr im Behandlungsraum sitzt, mit dem komplexen Wissensvorrat in Verbindung bringen, der sich aus der evidenzbasierten Medizin sowie allen möglichen Spielarten wissenschaftlicher Einsichten und psychiatrischer Theorien ableitet? Wie kann man das Einzigartige, die reale Person, mit dem Allgemeinen, den Zahlen und Fakten objektiven Wissens, verbinden? Alle drei Abschnitte sind vorwiegend deskriptiv. Sie zielen darauf, Überlegungen aus der klinischen Praxis mit den philosophischen Betrachtungen des vorliegenden Bandes in ein Gespräch zu bringen. Abschließend werde ich diskutieren, wie die Verwendung von Beispielen und Prototypen in der Psychiatrie zentrale Aspekte des epistemologischen Status dieser Disziplin erschließt. Anstatt die Psychiatrie als ein defizitäres wissenschaftliches Fachgebiet zu begreifen, plädiere ich dafür, sie in der Tradition Wittgensteins als ein Sprachspiel oder ein Arrangement von Sprachspielen zu verstehen, das es uns ermöglicht, auf der Grundlage horizontaler Verbindungen statt vertikaler Reduktionen, auf eine bestimmte Art und Weise zu denken und zu handeln.

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Der Fall der therapieresistenten Depression

Die therapieresistente Depression kann als eine Form der Depression (genauer der schweren depressiven Störung bzw. MDD) beschrieben werden, bei der sich trotz adäquater Therapieversuche keine zufriedenstellende Wirkung erreichen lässt. Sie wird als schwere und unter Umständen lebensbedrohliche Erkrankung betrachtet. Dennoch wird der Begriff der therapieresistenten Depression derzeit sowohl von klinischen Psychiatern als auch von Forschenden aus diesem Bereich5 immer wieder kritisiert. Obwohl die Bezeichnung einer therapieresistenten Depression zunächst einfach und nachvollziehbar scheint, um die Erkrankung zu charakterisieren, ist sie letztendlich nicht eindeutig. Je nachdem, welche Kriterien man genau verwendet, kommt man in der Tat zu verschiedenartigen Typen der therapieresistenten Depression. Wie ist dies möglich? Wenn wir verstehen wollen, was eine therapieresistente Depression ist, müssen wir zunächst wissen, was überhaupt eine Depression ist. Nach DSM56 spricht man von einer schweren Depression (MDD), wenn eine Patientin aus einem Kriterienkatalog mindestens fünf von neun Symptomen aufweist, darunter depressive Verstimmung oder Verlust von Interesse und Freude (Anhedonie), Gewichtsverlust oder -zunahme, Hypersomnie oder Asomnie usw. Die Depression ist damit eine der größten Ursachen für Arbeitsunfähigkeit weltweit.7 Bei der Depression handelt es sich jedoch nicht um eine einzelne Erkrankung, sondern um eine unbestimmte Anzahl von individuellen Patientenprofilen und Symptomkombinationen. Sogar das Kategoriensystem des DSM-5 ermöglicht theoretisch die Identifikation von 227 einzigartigen Depressionsprofilen. Jedes dieser Profile erfüllt dabei die genannte Klassifikationsbedingung von fünf aus neun Symptomen, auch wenn zwischen ihnen eine erhebliche Symptomvariation bestehen kann. Tatsächlich sind viele dieser Kriterien zusammengesetzt und beinhalten unterschiedliche oder kontrastierende Symptome, wie Interesse (bezogen auf die antizipatorischhedonische Funktion) oder Freude (bezogen auf die konsumatorischhedonische Funktion), verstärkten oder verminderten Appetit, verstärktes oder vermindertes Schlafbedürfnis, psychomotorische Unruhe bzw. Verlangsamung usw. Berücksichtigt man diese Unterschiede in Schlafbedürfnis, Appetit und psychomotorischer Aktivität, so kann man sogar 945 unterschiedliche Profile ausmachen. Dass diese Zahlen keine rein theoretische Spielerei 5 Demyttenaere, Van Duppen, The impact of treatment-resistant depression. 6 American Psychiatric Association, Diagnostic and statistical manual. 7 World Health Organization, Depression and other common mental disorders.

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sind, haben Fried und Nesse zeigen können.8 In einer Gruppe von 3707 ambulant behandelten Patientinnen und Patienten mit diagnostizierter Depression konnten sie 1030 unterschiedliche Symptomprofile nachweisen. Darüber hinaus werden im klinischen Alltag viele Patienten, die unter einer Depression oder therapieresistenten Depression leiden, mit zusätzlichen Angstgefühlen, schmerzhaften somatischen Symptomen oder kognitiven Symptomen vorstellig, die nicht im Katalog der DSM-Kriterien enthalten sind. Dies deutet darauf hin, dass eine der häufigsten und bekanntesten psychischen Erkrankungen kaum als eine einzelne Störung definiert werden kann. Man könnte sich darüber hinaus Patientinnen mit völlig unterschiedlicher Symptomatik vorstellen, die dennoch an derselben psychischen Erkrankung leiden – oder mit derselben psychiatrischen Erkrankung diagnostiziert werden – und daher auch gleich behandelt werden. Aus diesem Grund gilt es, bei der Beschäftigung mit der therapieresistenten Depression einerseits die Heterogenität der schweren Depression (MDD) im Blick zu behalten und andererseits zu berücksichtigen, dass es in diesem Fall eine Art Widerstand bei der Behandlung gibt. Obwohl die therapieresistente Depression durch das Ausbleiben eines zufriedenstellenden Therapieerfolgs gekennzeichnet ist, gibt es keine allgemeine Übereinstimmung hinsichtlich dessen, was als Erfolg definiert wird. Die Standarddefinition der am häufigsten verwendeten Messung für Erfolg, Ansprechen und Remission verlangt eine Verbesserung um 50 Prozent im Vergleich zur Ausgangslage und mindestens dreiwöchige Symptomfreiheit. Das bedeutet, dass bei der Einschätzung der Diagnose Bewertungsinstrumente nötig sind, mit denen die Symptome hinsichtlich ihrer Schwere quantifiziert werden können. Diese Instrumente sind jedoch – wie man bereits vermuten kann – sehr unterschiedlicher Natur. Die therapieresistente Depression ist darüber hinaus bereits per definitionem schwerer ausgeprägt als eine einfache Depression (MDD) und daher sind schon kleine Veränderungen im Hinblick auf die Ansprechrate oder klinischen Verbesserungen hochgradig relevant, z. B. wenn dadurch das Suizidrisiko signifikant verringert werden kann.9 Hinzu kommt, dass Faktoren wie die Behandlungsdauer oder die Art und Weise der Behandlung nicht berücksichtigt oder willkürlich eingeführt werden.10 Schließlich werden Begleiterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen und mögliche Kontextfaktoren nicht 8 9 10

Fried, Nesse, Depression is not a consistent syndrome. Olin et al., Mortality and suicide risk. Fekadu et al., A multidimensional too to quantify treatment resistance; Petersen et al., Testing of antidepressant treatment resistance; Ruhé et al., Staging methods for treatment resistant depression; Souery et al., Clinical factors associated with treatment resistance.

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bedacht. Was daher unter einer therapieresistenten Depression verstanden wird, scheint nicht nur vom hochgradig heterogenen Begriff der Depression (MDD) abzuhängen, sondern auch von einer Vielzahl an Faktoren, die alle das Therapieergebnis beeinflussen können. Folglich ist es von vornherein nicht trivial, zu behaupten, dass es so etwas wie eine therapieresistente Depression als eigenständige psychische Erkrankung gibt. Wie in der Einleitung bereits angesprochen, beziehen sich alle diese Faktoren auf objektive Messgrößen und Definitionen, während die subjektive Seite psychischer Erkrankungen vernachlässigt wird. Dabei handelt es sich nicht einfach nur um eine ethische Forderung bezüglich des Vorranges der Patientenerfahrung, sondern ironischerweise um eine objektive Gegebenheit: Bei der Durchführung von drei placebo-kontrollierten Augmentationsstudien11, in denen mittels Neuroleptika Depressionen behandelt wurden, fanden alle drei erwähnten Studien signifikant größere Verbesserungen der Symptomatik, wenn Beobachter diese einschätzen sollten, aber nicht, wenn die Patientinnen und Patienten selbst danach gefragt wurden. Ob eine Behandlung wirkt oder nicht, kann daher aus der Perspektive von Ärztin oder Patient unterschiedlich bewertet werden. Dementsprechend kann eine Diagnose wie die der therapieresistenten Depression im einen Fall vorliegen, in einem anderen aber auch nicht. Selbst in kontrollierten Studiendesigns beeinflussen viele hochgradig persönliche Faktoren auf Seiten der Patientin und des Arztes die Behandlungsergebnisse. Sowohl im Falle pharmakologischer wie psychotherapeutischer Intervention wirken sich Erwartungen, Hoffnungen und Überzeugungen von Patienten und Ärztin signifikant auf das Resultat der Therapie aus.12 Auch psychosoziale Merkmale wie Arbeitslosigkeit und Beruf, Alter oder Wohnsituation im Fall der Depression (MDD) bzw. Bildungserfolg und soziale Unterstützung im Fall der therapieresistenten Depression stellen signifikante Erklärungsgrößen im Hinblick auf den Erfolg der Behandlung13 und damit auf das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen einer therapieresistenten Depression dar. Was bedeuten diese Einsichten mit Blick auf das Thema der Exemplarität? Obwohl die therapieresistente Depression eine schwere psychische Erkran­ kung darstellt, die in ihren Auswirkungen die ökonomischen Kosten weit überwiegt, und obwohl sie einen gut erforschten Einfluss auf Patienten, Umfeld, 11 12 13

Berman et al., Aripiprazole augmentation in major depressive disorder; Berman et al., The efficacy and safety of aripiprazole as adjunctive therapy; Marcus et al., The efficacy and safety of aripiprazole as adjunctive therapy. Demyttenaere et al., Satisfaction With Medication. Fekadu et al., Prediction of longer-term outcome of treatment-resistant depression.

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erhöhte Mortalität (sowohl suizidal als auch nicht-suizidal) und damit verbundene Stigmata hat14, bleibt es eine Herausforderung, eine einheitliche Definition zu finden, die alle Patientenprofile, Symptome und Anzeichen – kurz: alle Probleme, unter denen die Betroffenen leiden – umfasst. Wie können also Therapierende eine spezifische Konstellation von Symptomen, eines Narrativs einer länger andauernden Depression, eines Verlusts von Hoffnung und Zukunftsperspektiven und einer Geschichte erfolgloser Behandlungsversuche korrekt als einen Fall therapieresistenter Depression erkennen? Wie können Therapierende dieses Narrativ und jene Symptome und Anzeichen verwenden, um zwischen einer Depression (MDD), einer therapieresistenten Depression und anderen psychischen Erkrankungen, die möglicherweise überlappende Symptome aufweisen, zu unterscheiden? Gibt es für die Behandelnden eine Möglichkeit herauszufinden, ob der eine Patient an einer therapieresistenten Depression leidet und der andere nicht – d. h. ein Kriterium, mit dem jeweils herauszufinden ist, wie eine Person (eine Patientin, ein Patient) zu behandeln ist – mit der Folge, dass er oder sie deshalb anders zu behandeln wäre? Wie kann dies möglich sein, wenn nicht einmal die diagnostischen Instrumente darin übereinstimmen, was sie tatsächlich messen? Es scheint, dass die derzeitigen psychiatrischen Klassifikationssysteme die Behandelnden nicht dazu befähigen, eine therapieresistente Depression klar zu diagnostizieren, und man könnte argumentieren, dass der kategoriale Ansatz des DSM-5 die Komplexität und Unschärfe der Diagnose aufgrund der oben dargestellten Heterogenität sogar noch erhöht. Das Kategoriensystem bietet zwar die Möglichkeit der Klassifikation und Kategorisierung, aber es sollte nicht als klinisches Instrument zum Aufstellen einer Diagnose verwendet werden. Man könnte sogar daran zweifeln, ob man Forschungsdesigns dieses Diagnosesystem weiterhin verwenden sollte. Diese Frage kann ich im Rahmen dieses Kapitels jedoch nicht beantworten.15 Nachdem die Schwierigkeiten des Konzepts der therapieresistenten Depression die Komplexität psychiatrischer Konstrukte illustriert haben, möchte ich stattdessen die Frage in den Blick nehmen, ob es eine alternative Art von Wissen gibt, welche es uns erlaubt, die Symptome und Erfahrungen von Patientinnen und Patienten adäquat zu bewerten, um zu Diagnosen und Therapien lege artis zu gelangen.

14 15

Demyttenaere, Van Duppen, The impact of treatment-resistant depression. Vgl. hierzu Insel et al., Research domain criteria.

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Diagnostische Kriterien, Prototypen und Beispiele in der psychiatrischen Ausbildung

Erfreulicherweise ist man in der Psychiatrie nicht auf das Auswendiglernen und Anwenden der DSM-5-Kriterien beschränkt. Im Gegenteil, die psychiatrische Wissenschaft umfasst eine umfangreiche Spannweite an Wissen, Hypothesen und Ideen, von den frühen und präzisen Beobachtungen Kraeplins16 und Bleulers17, über die psychoanalytischen Theorien18 und die Phänomenologie19, bis hin zur zeitgenössischen Neurowissenschaft. Einige dieser Ansätze sind zu Recht bestritten, abgelehnt oder anderweitig zurückgewiesen worden, andere tragen jedoch wesentlich zur Ausbildung angehender Psychiater bei. Es ist unmöglich, alle Ideen und Theorien, die derzeit als valide oder nützlich erachtet werden, zu kennen. Dies könnte erklären, weshalb in einem Fall ein Psychiater die depressiven Gefühle einer Patientin als Symptome einer zugrundeliegenden neuronalen Erkrankung betrachten kann, die durch ein chemisches Ungleichgewicht ausgelöst wurde, während ein anderer sie möglicherweise als eine Dekompensation des Typus melancholicus begreift, einen Persönlichkeitstyp, welchen der Phänomenologe Hubertus Tellenbach20 beschrieben hat. Wenn das Kategoriensystem des DSM-5 daher nur eine schwache Grundlage dafür liefert, zu bestimmen, was die in Frage stehenden psychischen Erkrankungen sind und wie sie erkannt und diagnostiziert werden können, und wenn der Wissensvorrat der Psychiatrie so vielfältig ist, wie können Studierende und Behandelnde mit solchen Erkrankungen so vertraut werden, dass sie diese Störungen erkennen, diagnostizieren und behandeln können? Mit anderen Worten: Wie lernt man die spezifischen Symptome, Anzeichen und Phänomene eines Patienten als diese oder jene psychische Erkrankung zu erkennen? Ein Großteil der psychiatrischen Ausbildung ist dem Einprägen aller mentaler Erkrankungen gewidmet; hierfür wird nahezu weltweit das System des DSM-5 verwendet. Daher sind die Studierenden mit den Unterscheidungen zwischen großen Klassen von Erkrankungen (z. B. zwischen dem Schizophreniespektrum und anderen psychotischen Störungen einerseits und den depressiven Störungen, Angststörungen usw. andererseits) vertraut und 16 17 18 19 20

Kraepelin, Psychiatrie. Bleuler, Textbook of Psychiatry. Freud, Mourning and melancholia. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Tellenbach, Melancholie.

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wissen, welche konkreten Störungen unter solche Klassen subsumiert werden. So enthält die Klasse „Schizophreniespektrum und andere psychotische Störungen“ beispielsweise die Schizophrenie, schizoaffektive Störungen, wahnhafte Störungen usw. Für jede Störung werden die jeweiligen Ein- und Ausschlusskriterien beschrieben. Trotzdem beginnen die Studierenden oft erst einen Eindruck davon zu entwickeln, wie eine Depression oder Psychose ‚aussieht‘, nachdem sie zum ersten Mal mit realen Patienten in Berührung gekommen sind, z. B. in  Patientengesprächen, in denen Patienten ihre Krankheitsgeschichte erzählen. Die medizinische und psychiatrische Ausbildung erfolgt sowohl theoretisch als auch praktisch und die Abschnitte klinischer Praxis, in denen die Studierenden medizinisches Personal in ihrem Arbeitsalltag begleiten, bieten eine erste Gelegenheit um herauszufinden, ob das theoretische Wissen ihnen tatsächlich dabei hilft, tentative Diagnosen zu stellen oder Hypothesen darüber anzustellen, wie man die Symptome und Narrative der Patientinnen am besten verstehen kann. Interessanterweise verwenden nur wenige Behandelnde das Kategorienmodell des DSM-5 bei der tatsächlichen Diagnose im Klinikalltag, obwohl es als Grundlage hierfür dienen soll. Statt dieses Kategorienmodells, so wird argumentiert21, verwenden die Behandelnden eher ein Prototypenmodell. Anstatt alle Symptome der unterschiedlichen DSM-5-Erkrankungen zu überprüfen, werden bei diesem Modell eher Untersuchungen für bestimmte Zwecke nach dem Prinzip „reicht aus“ angestellt, z. B. um herauszufinden, ob bei einer Patientin eine bestimmte Psychotherapie oder pharmakologische Behandlung in Frage kommt. Die Prototypendiagnose hat laut Westen den Vorteil, dass diese der Art und Weise entspricht, in der Menschen denken und klassifizieren, wenn sie mit komplexen und neuen Stimuli konfrontiert werden, z. B. einem konkreten Patienten. Anstatt eine Liste von Symptomen abzuhaken, werten sie aus, inwieweit ein Fall einem mentalen Modell oder Prototypen entspricht, der auf prominenten oder signifikanten Beispielen potentiell relevanter diagnostischer Kategorien beruht. Im Prototypenmodell sind Exemplare die eigentlichen oder konkreten Entitäten, die eine diagnostische Kategorie ausmachen, beispielsweise unterschiedliche, aber eindeutige klinische Fälle einer Depression (MDD). Der Prototyp ist die abstrakte Entität, die, basierend auf tatsächlichen Beispielen, umschreibt, wie eine Depression ‚aussieht‘. In den Kognitionswissenschaften

21

Westen, Prototype diagnosis of psychiatric syndromes.

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wird diese Art der Beurteilung und alltäglichen Entscheidungsfindung als „to satisfice“ bezeichnet (eine Verbindung aus satisfy und suffice).22 Nur wenn die Übereinstimmung nicht gut genug ist, erfolgt ein Rückbezug auf kategoriale Größen, wie sie z. B. im  Fall bestimmter Symptome einer relevanten DSM-Kategorie gegeben sind. Aus dieser Perspektive lässt sich allerdings nicht klären, wie sich die Übereinstimmung zwischen einem Fall und dem Prototyp etabliert. Behandelnde können daher Patienten befragen, Ähnlichkeiten mit dem Prototyp, der sich aus den Exemplaren ergibt, feststellen und einschätzen, ob diese Übereinstimmung groß genug ist. Eine Patientin, die einen Interessensverlust an Dingen feststellt, die sie für gewöhnlich sehr gerne tut, Einschlafschwierigkeiten durch vermehrtes Grübeln, gefühlten Konzentrationsverlust beim Lesen oder Fernsehen und ein Gefühl von Apathie bis hin zur Gefühllosigkeit an sich bemerkt, könnte die Behandelnde möglicherweise an ähnliche Fälle erinnern, die vor einiger Zeit auf einer Konferenz oder im Rahmen der Supervision vorgestellt wurden und die einen Prototypen der Depression formen. Sie könnte dann herausfinden wollen, ob darüber hinaus psychotische oder schwere nihilistische Symptome vorliegen, um bspw. eine psychotische Depression auszuschließen. Damit würde der Prototypenansatz mit dem Kategorienansatz des DSM-5 ergänzt. Ein Beispiel für diesen Prototypenansatz im Bereich der psychiatrischen Forschung lässt sich bei Parnas in seiner Diskussion des Wesens oder der Gestalt der Schizophrenie finden.23 Er führt an, dass es eine phänomenologische Eigentümlichkeit und Typik, „eine prototypische ‚Washeit‘ oder phänomenologische Kerngestalt“24 sei, die es uns erlaubt, bestimmte Narrative und Phänomene als schizophren zu identifizieren. Diese Kerneigenschaften sind keine dynamischen Zustände, sondern Wesenszüge, die einen postulierten phänomenologischen Kern repräsentieren. Das auf der Annahme eines phänomenologischen Kerns aufbauende Argument ist zirkelhaft: Der phänomenologische Kern der Schizophrenie ist das, was im Herzen der Selbstbeschreibung von Menschen mit Schizophrenie gefunden werden kann. Darüber hinaus scheint es problematisch anzunehmen, dass alle psychischen Erkrankungen tatsächlich einen solchen phänomenologischen Kern besitzen. Diese Annahme würde zu einer völlig anderen diagnostischen Klassifikation führen, basierend auf (angeblich) weniger oberflächlichen, objektivierbaren Symptomen, und auf dem, was als 22 23 24

Folstein, Van Petten, Multidimensional rule; Rosch, Mervis, Family resemblances. Parnas, The core Gestalt of schizophrenia. Parnas, The core Gestalt of schizophrenia, S. 68.

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Kreis phänomenologischer Kernmerkmale betrachtet wird. Doch löst dieser Vorschlag nicht das Problem, dass das Singuläre und Besondere als ein Beispiel des Allgemeinen erkannt werden muss. Wie Westen25 illustriert, könnte es sein, dass Behandelnde in Wirklichkeit spezifische psychische Erkrankungen erkennen, indem sie sie unbewusst mit Prototypen und wirkmächtigen Beispielen in Verbindung bringen, die auf irgendeine Weise signifikante Exemplare der jeweiligen diagnostischen Kategorie geworden sind. Damit stellt sich die Frage, was schließlich dazu führt, dass jene Beispiele als solche erlebt werden, die vor anderen Fällen ausgezeichnet sind und auf die die Behandelnden im klinischen Alltag oft unbewusst und ohne explizit darüber zu reflektieren zurückgreifen. Es ist wichtig zu betonen, dass der gesamte hier vorgestellte Prozess dynamisch abläuft, insofern es die einzelnen Exemplare sind, die sich verändern können, und dass Behandelnde sehr viel besser in der Bestimmung einzelner Erkrankungen werden können, während sie gleichzeitig durch ihre gewonnenen Einsichten für die Behandlung anderer Erkrankungen ungeeigneter werden. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die detaillierte Diskussion eines bestimmten klinischen Falls im Kollegenkreis oder die Lektüre eines veröffentlichten Therapiereports eine Verlagerung der jeweiligen Wahrnehmung der zugrundeliegenden Störung bewirkt, die bei einer Person diagnostiziert wurde, und in denen sich damit auch die Fähigkeit entwickelt, bestimmte Patientinnen und Patienten zu begreifen, verstehen und diagnostizieren. Dies alles verdeutlicht, dass sich über die Ausbildung von Studierenden und Behandelnden hinweg, aber auch im Verlauf eines beruflichen Werdegangs, die Exemplare und Prototypen verändern können – genauso wie das Wissen um psychische Erkrankungen Gegenstand eines beständigen Wandels ist. Wie wir noch sehen werden, führt dies zu einer dynamischen und zugleich vorsichtigen Perspektive auf den ‚Wesenskern‘ psychischer Erkrankungen, selbst wenn man, wie im Fall der Schizophrenie26, diesen Kern als phänomenologisch valide betrachtet. Das hat wiederum Implikationen für die klinische Arbeit und Forschung zur Folge – und dafür, wie die Psychiatrie als solche verstanden wird.

25 26

Vgl. auch Westen et al., A prototype approach to personality disorder diagnosis. Parnas, Henriksen, Disordered self in the schizophrenia spectrum.

146 3.

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Vom Patienten zur Evidenz und wieder zurück

Hat eine Studentin oder Ärztin einmal genug klinische Erfahrung gesammelt und damit eine implizite Ordnung an Beispielen und Prototypen verschiedener psychischer Erkrankungen generiert, sollte sie dazu in der Lage sein, im Erscheinungsbild einer Patientin oder eines Patienten diese oder jene psychische Erkrankung zu erkennen. Und dennoch, selbst wenn sie das Narrativ, die Erscheinung und Symptome korrekterweise bspw. als Depression identifizieren kann, wie kann sie die Informationen, die sie erhalten, und die Beobachtungen, die sie gemacht hat, mit dem allgemeinen Korpus des psychiatrischen Wissens verknüpfen? Wie ist es ihr möglich, das Singuläre, die reale Person, mit den allgemeinen objektiven Kategorien, die sich aus statistischen Messungen und Generalisierungen ergeben, zu verbinden? Es scheint, dass die Psychiaterin in den einzelnen Fällen sich auf eine Art vor-wissenschaftliches Wissen beruft, um zwei Ebenen der Ungewissheit zu integrieren. Die erste Ebene (neben der inhärenten Ungewissheit, die ich in der Einleitung bereits angesprochen habe) bezieht sich darauf, wie das Singuläre und Konkrete der klinischen Begegnung mit einer realen Person mit dem Allgemeinen, d. h. mit dem Wissen um Therapieerfolge bei dieser oder jener Erkrankung, verbunden werden kann. Die zweite Ebene der Ungewissheit bezieht sich dagegen darauf, wie verschiedene Formen psychiatrischen Wissens (bspw. phänomenologische Einsichten zur Depression, die Schlussfolgerungen einer Meta-Analyse zur Effektivität von Antidepressivamedikation bei Depressionen) und theoretisches Wissen (etwa um Neurotransmission und Gehirnfunktion) so miteinander in Einklang gebracht werden können, dass funktionierende klinische Interventionen möglich werden. Es scheint, als wäre dies mehr eine Form impliziten Wissens27 und eines „knowing-how“28 als ein evidenzbasiertes Wissen. Die Anerkennung eines Krankheitsbildes impliziert eine Form des ‚Wissens, wie‘, nicht eines ‚Wissens, dass‘, und beinhaltet Spontaneität und Kreativität. Dieses Wissen mag daher eher mit einer Kunst als mit einer Schlussfolgerung verwandt sein; aber es ist dennoch von der Kunst u. a. durch seine pragmatische und zielorientierte Ausrichtung unterschieden. Das Korpus psychiatrischen Wissens, auf das ich bereits mehrfach zu sprechen gekommen bin, kann als Flickenteppich betrachtet werden: eine Verbindung verschiedener Wissenstypen, die aus unterschiedlichen Quellen, wie z. B. der evidenzbasierten Medizin, aber auch psychotherapeutischen 27 28

Polanyi, The tacit dimension. Ryle, Knowing How and Knowing That.

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Theorien, Einsichten erfahrenerer Ärzte, neurowissenschaftlichen Hypothesen usw., herrühren.29 Diese Wissensarten können sich sogar widersprechen oder bestimmte Facetten derselben Krankheit hervorheben, die ein jeweils anderer ‚Flicken‘ nicht beleuchten würde. Dennoch versucht die Behandelnde, diese Wissensflicken implizit miteinander zu verbinden, um schließlich die Individualität des konkreten, einzigartigen Patienten zu verstehen und ihn angemessen zu behandeln. Statt sich dabei nur evidenzbasiert auf ein allgemeines Wissenssystem gleichsam vertikal zu beziehen, scheint der Psychiater vielmehr horizontal die verschiedenen Aspekte – singuläre wie allgemeine – miteinander zu verbinden. Im klinischen Alltag stellen Behandelnde ständig kreative Verbindungen zwischen diesen Wissensflicken einerseits und dem allgemeinen Wissenskorpus andererseits her, um sich der Einzigartigkeit jeder Patientin und jedes Patienten anzunähern. Dieser Prozess läuft ganz selbstverständlich auf kreative Art und Weise, weil er sich nicht auf eine festgelegte Prozedur berufen kann, sondern eine Ausübung der Urteilskraft benötigt. Diese muss die Besonderheit jeder Situation mit ihren sozialen und lebensgeschichtlichen Komponenten erfassen. In gewissem Sinne macht der Psychiater dabei von allen Arten des Wissens (praktischen, theoretischen und experimentellen Wissens) so Gebrauch, dass man seine Arbeit am besten als pragmatisch beschreiben kann. Denn die Psychiatrie bleibt an erster Stelle eine Praxis: Sie zielt darauf ab, echten Menschen mit echten psychischen Beschwerden und Leiden zu helfen, sie zu unterstützen und zu beraten. 4.

Fazit: Psychiatrie als Sprachspiel?

Die Psychiatrie ist eine Disziplin inhärenter Ungewissheit, angefangen bei der Patientenvorstellung in der Klinik bis hin zum Diagnosesystem, wie wir am Beispiel der therapieresistenten Depression gesehen haben. Das Kategoriensystem des DSM-5 scheint für die Behandelnden letztendlich eine untergeordnete Rolle im tatsächlich ablaufenden Diagnoseprozess zu spielen, kann aber für unerfahrene Studierende und Ärzte hilfreich sein. Das Prototypenmodell scheint dagegen besser zu beschreiben, wie Behandelnde in Wirklichkeit psychische Erkrankungen diagnostizieren. Es hat sich gezeigt, dass – entgegen den Bemühungen, die Psychiatrie über eine immer weiter an Bedeutung gewinnende evidenzbasierte Medizin zu ‚objektivieren‘ – die klinische Psychiatrie ohne eine kreative, implizite Verbindung, die mehr 29

Van Duppen, Vandenberghe, Evidence based medicine.

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mit einer Kunst als mit Schlussfolgerungen gemein hat, nicht funktionieren kann. Was folgt nun aus diesen Beobachtungen? Bedeutet dies etwa, dass die Psychiatrie auf Sand gebaut ist, wenn es darum geht, Menschen in Not zu diagnostizieren und zu behandeln? Dies wäre in der Tat der Fall, wenn man von der Psychiatrie erwarten würde, dass sie wie eine Naturwissenschaft funktioniert, in der jede Einsicht und Entscheidung auf grundlegenderen und objektivierbaren Evidenzen aufbauen muss. Aufgrund der psychischen Erkrankungen inhärenten Subjektivität und Komplexität kann dies jedoch nicht der Fall sein. Es ist aber dennoch möglich, adäquate und valide Diagnosen zu stellen und auf effektive und nutzbringende Weise zu behandeln. Ebenso wichtig ist allerdings anzumerken, dass die Validität psychiatrischer Diagnostik – jedenfalls in der hier vorgestellten Perspektive – keine objektive und allgemeingültige Wahrheit andeutet, die vollständig dem entsprechen würde, was ‚da draußen‘ zu finden wäre. Die Psychiatrie kann ihrem Wesen nach nicht den Anspruch erheben, ein objektives und adäquates Wissen zu sein, das unabhängig von unseren Wahrnehmungen und Urteilen ist oder von dem, was wir in die Welt hineinlegen. Ihre Objektivität lässt sich mit Hilfe von Husserls Diskussion der Objektivität als intersubjektive Gültigkeit verstehen.30 Man könnte sagen, dass das, was Husserl als transzendentale Intersubjektivität bezeichnet, den gesamten Prozess fundiert, in dem man lernt, wie psychiatrische Fälle als diese oder jene Krankheiten zu erkennen sind.31 Psychiatrisches Wissen setzt unsere Erfahrungen und Urteile über die Welt voraus, die durch das intersubjektive Netzwerk geformt werden, in dem wir aufwachsen, ausgebildet werden und in dem wir handeln und durch eine gemeinsame Sprache und geteilte Aktivitäten verbunden werden. Doch es setzt auch voraus, dass wir in der Lage sind, die Perspektive anderer einzunehmen, die eben aus einem anderen lebensweltlichen Umfeld ihr Wissen entwickelt haben. Gerade aus diesem Grund sind der Austausch und die Konfrontation mit anderen Ansätzen zum psychiatrischen Wissen von großer Bedeutung, weil sie einerseits die Verbundenheit zur Lebenswelt beibehalten, andererseits aber offen für andere lebensweltliche Perspektiven sind. Die Verschiedenheit der Perspektiven auf eine Erkrankung soll nicht einfach nivelliert werden. Vielmehr ist es die Herausforderung, aus den Differenzen selbst eine Form von Wissen zu erarbeiten, die der Einzigartigkeit jeder Patientin angemessen ist.

30 31

Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, S. 107, 109. Van Duppen, The intersubjective dimension of schizophrenia.

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Hierin lässt sich auch eine Verwandtschaft zu dem erkennen, was Wittgenstein Sprachspiele nennt32 oder, genauer gesagt, eine komplexe Anordnung von Sprachspielen, bei der die Psychiatrie als Disziplin aus einer Vielzahl kleinerer, spezialisierter Subdisziplinen besteht, die an verschiedenen Orten und mit unterschiedlichen Hintergrundannahmen betrieben werden. Vor dem Hintergrund intersubjektiver Gültigkeit und transzendentaler Intersubjektivität können wir nun annehmen, dass dieses Netzwerk horizontaler Verbindungen, die das Wissen und know-how psychiatrischer Praxis ausmachen, mit Wittgensteins Netz von Sätzen33 in Verbindung steht und darüber hinaus die Gültigkeit empirischer Sätze (bspw. Aussagen über die Objektivität der Depression als realer Entität) von unserem Referenzrahmen abhängt. Psychiatrisch formuliert: Empirische Sätze haben innerhalb eines spezifischen Sprachspiels ihre Gültigkeit. Wie ich bereits beschrieben habe, darf man dabei nicht vergessen, dass das Sprachspiel unvorhersehbar bleibt34 und nicht auf bestimmten Gewissheiten oder Evidenzen beruht, sondern auf einer unbegründeten Art zu handeln.35 Psychische Erkrankungen als solche identifizieren, sie voneinander unterscheiden und schließlich auch adäquat behandeln zu können, bedeutet, dass man sich die Regeln des Sprachspiels angeeignet hat, was rein praktisch und ohne das Erlernen expliziter Regeln geschieht.36 Das ‚Wissen, wie‘ scheint damit in der Psychiatrie mindestens genauso relevant zu sein wie das ‚Wissen, dass‘. Das ‚Wissen, wie‘ ist praktisch ausgerichtet, es handelt sich um ein Wissen, das nicht vertikal aufgebaut ist, d. h. nicht auf Gründe rekurriert, sondern horizontal verbunden und verbindend ist. Psychiatrisches Wissen und psychiatrische Praxis können in der Tat als Sprachspiele verstanden werden, in denen Laien und Studierende zunächst die impliziten Spielregeln noch nicht fassen können. Selbst wenn sie die expliziten Regeln bereits kennen, z. B. welche psychischen Erkrankungen es nach DSM-5 gibt, kann es sein, dass sie noch nicht verstehen, wann diese angemessen oder sinnvoll zu verwenden sind, um zu einer richtigen Diagnose zu gelangen. Dafür sind Erfahrung und Urteilskraft nötig. Wie oben beschrieben, handelt es sich dabei nicht nur um einen dynamischen Lernprozess, sondern um einen dynamischen Gesamtprozess, bei dem auch das gesamte Sprachspiel selbst verändert werden kann. Davon betroffen ist auch die gesamte Praxis und alles Handeln, das mit diesem Referenzrahmen in Verbindung steht. Wie 32 33 34 35 36

Wittgenstein, On Certainty. Wittgenstein, On Certainty, §225. Wittgenstein, On Certainty, §559. Wittgenstein, On Certainty, §110. Wittgenstein, On Certainty, §95.

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Wittgenstein formuliert: „Wenn sich die Sprachspiele ändern, ändern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutung der Wörter.“37 Man könnte hier an die vielfältigen, zeitweise gültigen Auffassungen der Depression in der Geschichte der Psychiatrie denken – als Ungleichgewicht der Körpersäfte, als Erkrankung des Gehirns, als Manifestation sozialer Spannungen, als Trauer über tatsächlichen oder symbolischen Verlust, als Fehler in kognitiven Abläufen usw. –, die dann zu entsprechenden Behandlungsmethoden und Interpretationen von Forschungsergebnissen geführt haben. Das psychiatrische Sprachspiel ist nicht unveränderlich. Es ist keine feststehende Wahrheit, sondern wird hin und wieder ein Stück weit neu erfunden, wenn es mit Elementen konfrontiert wird, die es nicht integrieren kann, wie z. B. mit neuen Erkenntnissen aus neurowissenschaftlichen Studien oder mit veränderten soziologischen Einschätzungen. Berühmte Beispiele dieser Prozesse sind der Ein- bzw. Ausschluss von Homosexualität und posttraumatischer Belastungsstörung in die diagnostischen Klassifikationssysteme.38 Durch eine Analyse der Verfahren, wie Behandelnde tatsächlich psychische Erkrankungen erkennen und diagnostizieren lernen und in der Folge über angemessene Behandlungsmöglichkeiten nachdenken, habe ich zu zeigen versucht, wie die der psychiatrischen Praxis inhärente Ungewissheit die Besonderheit dieser praxisorientierten Wissensform ausmacht. Psychiatrisches Wissen hat mehr mit dem horizontalen Aspekt eines Sprachspiels als mit dem vertikalen und fundamentalen der Naturwissenschaften gemein. Diese Einsicht ist wichtig, da die Psychiatrie ein medizinisches Gebiet ist, dessen Ziel es ist, Menschen mit psychischen Leiden zu helfen und sie unterstützend zu behandeln. Daher ist die Frage, wie wir erkennen und diagnostizieren oder worauf wir unsere Expertise aufbauen, nicht nur eine epistemologische, sondern immer auch eine ethische.

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Wenn das Exemplarische das Einzige ist Überlegungen aus der Physik Michael Esfeld 1.

Ontologie: Der Ort als das Exemplarische in der Physik

Das Exemplarische in der Physik ist gedacht als etwas, das als Beispiel herausgegriffen wird, weil an ihm etwas allgemein Geltendes leicht verständlich dargestellt werden kann – sowohl was die Ontologie betrifft (also die Annahmen darüber, was in der Natur existiert) als auch was die dynamischen Gesetze betrifft (also die Gesetze für die Zeitentwicklung dessen, was in der Natur existiert). Dieser Beitrag zeigt jedoch auf, dass die Idee, etwas als Beispiel herauszugreifen, um an ihm etwas allgemein Geltendes darzustellen, häufig nicht zum Ziel führt: Neben dem als exemplarisch Herausgegriffenen gibt es gar keine weiteren Fälle, die unter das, was man für allgemein geltend hält, fallen. Das, was als Beispiel herausgestellt wird, umfasst also bereits den gesamten Gegenstandsbereich der betreffenden Theorie. Dementsprechend gilt: Wenn man einen weiteren Fall findet neben dem ursprünglich als exemplarisch herausgestellten Fall, dann passt dieser nicht mehr in die ursprüngliche Theorie, sondern erfordert einen Theorienwechsel. Um diese These zu belegen, geht dieser Beitrag zunächst auf die Ontologie ein (dieser Abschnitt) und dann auf mehrere Formen der Dynamik, nämlich Newtons Mechanik (Abschnitt 2), die klassische Feldtheorie (Abschnitt 3) und Einsteins Theorie der Gravitation (Abschnitt 4). Beginnen wir mit einer Überlegung aus der Quantenmechanik, die ohne Fachkenntnisse nachvollziehbar ist. In der Standarddarstellung der Quantenmechanik, wie man sie in den meisten Physik-Lehrbüchern findet, werden die Eigenschaften, welche die Theorie physikalischen Systemen zuspricht, als Observablen bezeichnet (weil sie messbar und damit beobachtbar sind) und mathematisch durch Operatoren dargestellt. Eine der Merkwürdigkeiten der Quantenmechanik ist, dass ein physikalisches System nie für alle Observablen, die für es definiert sind, zugleich Werte haben kann. Man kann leicht nachvollziehen, dass man nicht alle Observablen zugleich messen kann, also nicht auf einen Schlag für alle Observablen feststellen kann, welche Werte sie haben. Aber in der Quantenmechanik ist es so, dass definitive numerische Werte für alle Observablen eines Systems gar nicht zusammen existieren können.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_010

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Dieses Resultat wird durch das Theorem von Simon Kochen und Ernst Specker bewiesen.1 Dieses Theorem weist nach, dass es keine Theorie geben kann, die allen Observablen eines Systems zu jeder Zeit definitive numerische Werte zuspricht (auch wenn wir diese Werte nicht kennen sollten, es sich also um so genannte verborgene Parameter handelt). Eine solche Theorie führt notwendigerweise zu einem Widerspruch mit den statistischen Voraussagen für Messergebnisse der Quantenmechanik. Da diese Voraussagen bestens bestätigt sind, wäre es vergebliche Mühe, sich auf eine solche Theorie einzulassen. Specker liefert eine leicht zugängliche Darstellung dessen, was später in diesem Theorem ausgearbeitet ist; Held bietet eine Diskussion der Literatur und des Forschungsstandes zu diesem Theorem.2 Das Theorem von Kochen und Specker lässt uns nicht völlig im Dunkeln darüber, wie die Natur beschaffen ist, wenn die Quantenmechanik recht hat mit ihren Voraussagen von Messergebnissen. Dieses Theorem lässt es zu, dass wir eine Observable herausheben und diese als Eigenschaft den Objekten in der Natur als solchen selbst zusprechen, so dass diese Eigenschaft für jedes Objekt zu jeder Zeit einen bestimmten Wert hat, auch wenn wir diesen Wert de facto nicht immer kennen und vielleicht auch gar nicht immer messen können.3 Wenn wir so etwas tun, gehen wir über die Standarddarstellung der Quantenmechanik, wie man sie in den meisten Physik-Lehrbüchern findet, hinaus: Die Wellenfunktion, die Quantensystemen zugesprochen wird, und ihre Zeitentwicklung sind nicht so beschaffen, dass sie eine Observable zur beständigen Eigenschaft von Quantensystemen erhebten und dieser immer einen Wert zusprechen. Wenn wir dieses tun, gehen wir also über die Information hinaus, welche die Wellenfunktion enthält. Von der Wellenfunktion aus betrachtet führen wir einen zusätzlichen Parameter ein, der allerdings nicht verborgen sein muss (bzw. nur insofern verborgen ist, als sein Wert nicht in der Information enthalten ist, welche die Wellenfunktion bietet). Und wenn die statistischen Voraussagen der Quantenmechanik richtig sind, dann werden wir durch einen solchen Schritt keine zusätzlichen Informationen über die Statistik von Messergebnissen gewinnen. Die Motivation, dieses zu tun, ist dementsprechend nicht, die Quantenmechanik operationell zu verbessern. Die Motivation ist, dem Verständnis dessen näherzukommen, wie die Natur beschaffen ist, wenn die Quantenmechanik richtig ist. Wenn man einmal wählen darf – und nur einmal wählen darf –, welche Observable würde man auswählen und in den Status einer beständigen 1 Kochen, Specker, The problem of hidden variables in quantum mechanics. 2 Held, The Kochen-Specker theorem. 3 Siehe dazu Lazarovici, Observables and unobservables in quantum mechanics.

Wenn das Exemplarische das Einzige ist

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Eigenschaft eines physikalischen Systems erheben, die mithin immer einen bestimmten Wert hat? Die Antwort fällt nicht schwer: Man würde den Ort auswählen. Der Ort ist das Exemplarische schlechthin in der Physik in dem Sinne, dass, wenn man ein herausragendes Beispiel sucht, an dem man illustrieren kann, was Physik ist und tut, die Wahl auf den Ort fällt. Dafür gibt es zunächst einen einfachen operationellen Grund: Alle Messergebnisse werden als definite Orte diskreter Objekte registriert, zum Beispiel als Zeigeranzeigen, Punkte auf einem Schirm oder Anzeigen auf dem Bildschirm eines Computers. Alle Zeugnisse von Messungen, die wir durchführen und in der Vergangenheit durchgeführt haben, bestehen in solchen Punkteverteilungen, was auch immer die gemessene Observable sein mag. Sogar im Fall der 2016 durch LIGO (Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory) entdeckten Gravitationswellen besteht das gesamte experimentelle Zeugnis in der Beobachtung der Veränderung der relativen Lagen diskreter Objekte, die letztlich punktförmig sind. Diese Veränderung wird mathematisch in Begriffen einer Welle beschrieben, die durch das Gravitationsfeld zieht; aber beobachtet werden die Orte diskreter Objekte und deren Veränderung. Die herausgehobene Stellung des Ortes geht über diese operationelle Bedeutung hinaus und reicht in die Ontologie hinein. Wenn eine Theorie die Verteilung der Materie im Raum über die Zeit hinweg (mithin die gesamte raum-zeitliche Verteilung der Materie), also gemäß dem heutigen Wissensstand die Verteilung der Fermionen in Raum und Zeit richtig darstellt4, dann hat sie alles richtig dargestellt, was jemals wissenschaftlich überprüft werden kann. Betrachten wir zwei Theorien, die in ihren Aussagen über die raumzeitliche Verteilung der Materie übereinstimmen. Was diese Theorien über die Welt aussagen, das ist dann durch keine wissenschaftlichen Mittel voneinander unterscheidbar, was auch immer diese Theorien über die Orte hinaus sonst noch aussagen und worin sie verschieden sein mögen – alles dieses sind Unterschiede, die keinen Unterschied machen.5 Ebenso gilt: Zwei mögliche Welten, in denen die raum-zeitliche Verteilung der Materie gleich ist, sind empirisch ununterscheidbar. Übereinstimmung in der raum-zeitlichen Verteilung der Materie bedeutet lediglich Übereinstimmung in den relativen Lagen diskreter Objekte, die allein durch diese Lagen gekennzeichnet sind. Welche Eigenschaften auch immer eine Theorie diesen Objekten über ihre relativen Lagen hinaus zusprechen mag (wie zum Beispiel eine Masse, Ladung usw.) und was auch immer eine Theorie sonst noch in der Raum-Zeit als existierend ansetzen mag (wie zum Beispiel 4 Siehe Bell, Speakable and unspeakable in quantum mechanics, S. 175. 5 Vgl. auch Maudlin, Philosophy of physics, S. 49 f.

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Felder oder Wellen – oder auch Wellenfunktionen), alles dieses ist wissenschaftlicher Untersuchung nur in Form der Veränderung der relativen Lagen diskreter Objekte zugänglich. Die Theorie repräsentiert diese Veränderungen dann so, dass sie den Objekten Massen, Ladungen, Wellenfunktionen usw. zuordnet. Ned Hall bringt diesen Sachverhalt so zum Ausdruck: […] das primäre Ziel der Physik – ihr Geschäft erster Ordnung, sozusagen – ist es, Bewegungen zu erklären, oder allgemeiner gesagt, die Veränderung räumlicher Konfigurationen von Dingen in der Zeit. Anders ausgedrückt: Es gibt eine fundamentale Warum-Frage für die Physik: Warum befinden sich die Dinge dort, wo sie sind und wann sie es sind? Beim Versuch, diese Frage zu beantworten, kann die Physik natürlich neue physikalische Größen einführen […]6

Wir können an dieser Stelle bereits Folgendes festhalten: Der Ort ist das Exemplarische in der Physik – aber nicht in der Weise, dass er als Beispiel herausgehoben wird für eine Vielzahl von Eigenschaften von Objekten, welche die Physik untersucht und die alle auf der gleichen Stufe stehen. Der Ort ist deshalb das Exemplarische in der Physik, weil er allein empirische Unterschiede zwischen Theorien oder möglichen Welten definiert. Dementsprechend kann man mit dem Ort als der exemplarischen Eigenschaft physikalischer Systeme das notorische Messproblem der Quantenmechanik lösen bzw. gar nicht erst aufkommen lassen. Betrachten wir das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze7: Eine kleine Menge einer radioaktiven Substanz wird von der Wellenfunktion der Quantenmechanik so dargestellt, dass sie sich in einem Zustand der Überlagerung (Superposition) von „kein Atom zerfallen“ und „ein Atom zerfallen“ befindet. Mit dieser radioaktiven Substanz ist eine Apparatur verbunden, so dass, wenn ein Atom zerfällt, folgender Mechanismus ausgelöst wird: Ein Hammer zertrümmert einen Kolben mit Blausäure. Die freigesetzte Blausäure tötet eine Katze, die mit dieser ganzen Vorrichtung in einem Stahlbehälter eingesperrt ist. Die Wellenfunktion stellt diese Situation so dar, dass der Zustand der radioaktiven Substanz mit dem Zustand der anderen Systeme in dem Stahlbehälter verschränkt ist. Der Gesamtzustand ist also eine Überlagerung von „kein Atom zerfallen, Kolben mit Blausäure unbeschädigt, Katze lebendig“ und „ein Atom zerfallen, Kolben mit Blausäure zerbrochen, Katze tot“. Das Problem ist nun, diese Theorie mit der empirischen Realität zu verbinden, in der entweder eine lebendige oder eine tote Katze beobachtet wird, aber nie eine Überlagerung von irgendetwas. Schrödinger will mit diesem 6 Hall, Humean reductionism about laws of nature, § 5.2, Übersetzung Michael Esfeld. 7 Schrödinger, Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik, S. 812.

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Gedankenexperiment zeigen, dass die naive Antwort, gemäß welcher der Prozess der Messung die Zustandsüberlagerung zu Gunsten eines definitiven Messergebnisses auflöst (so genannter Kollaps der Wellenfunktion in einer Messung), physikalischer Unsinn ist: Wenn ein Beobachter hinschaut und sieht, dass die Katze tot ist, dann hat nicht die Beobachtung die Katze getötet. Selbstverständlich kann sich eine Katze nicht in einem Zustand der Überlagerung von Lebendig- und Totsein befinden. Aber es gibt in dieser Anordnung von der radioaktiven Substanz bis hin zu der Katze nichts, von dem man in nicht willkürlicher Weise sagen könnte, dass die Zustandsverschränkung dort endet und die Wellenfunktion kollabiert. Mit anderen Worten: Eine Messung ist kein physikalisch sauber definierbarer Begriff. Messungen sind kein eigener Typ physikalischer Wechselwirkungen (wie Gravitation und Elektromagnetismus), die ein eigenes dynamisches Gesetz (Kollaps der Wellenfunktion) erfordern; und Messapparate sind keine natürliche Art von Objekten, die in der Natur selbst ausgezeichnet wären.8 Wenn man den Ort als die exemplarische Eigenschaft physikalischer Systeme anerkennt, die mithin immer einen definiten Wert hat, auch wenn die Information über diesen Wert nicht in der Wellenfunktion enthalten ist, dann ist das Problem an der Wurzel gelöst, so dass es gar nicht erst auftritt. Es gibt dann gar keine Überlagerungen in der Natur, auch nicht bei mikrophysikalischen Systemen. Die Frage, wie solche Überlagerungen im Übergang zu makroskopischen Systemen verschwinden, so dass es Messergebnisse gibt und die Theorie mit der Empirie verbunden wird, stellt sich folglich gar nicht. Die Elementarteilchen, aus denen die radioaktive Substanz in dem Experiment mit Schrödingers Katze besteht, sind immer in bestimmten Lagen, so dass jedes Atom immer entweder nicht zerfallen oder zerfallen ist. Dementsprechend ist die Katze immer in einer Teilchenkonfiguration entweder einer lebendigen oder einer toten Katze – auch wenn es Situationen gibt, in denen wir die Information darüber, ob eine gegebene Katze lebendig oder tot ist, nur durch Beobachtung erlangen können. Tim Maudlin zeigt, dass das Messproblem auf diese Weise – indem man eine Eigenschaft auswählt, der man immer einen Wert zuspricht – nur gelöst werden kann, wenn man den Ort auswählt.9 Jede Auswahl einer anderen Eigenschaft kann das Messproblem nicht lösen (ebenso wenig wie ein Wechsel der Eigenschaft, der man einen definiten Wert zuspricht, in der Zeit, wie in so genannten modalen Interpretationen der Quantenmechanik vorgeschlagen).

8 Siehe z. B. Esfeld, Das Messproblem der Quantenmechanik heute. 9 Maudlin, Three measurement problems, S. 13 f., dritte Fassung des Messproblems.

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Dennoch bleibt die Quantenphysik grundverschieden von der klassischen Physik, und zwar auch dann, wenn man den Ort auszeichnet und sich somit kein physikalisches System jemals in einem Zustand befindet, in dem Teilchenorte überlagert sind. Die in der Wellenfunktion dargestellten Zustandsverschränkungen bleiben für die Dynamik relevant. Konkret gilt dann, wenn man den Ort auszeichnet, dass die Geschwindigkeit jedes Teilchens zu jeder Zeit strikte genommen von dem Ort aller anderen Teilchen im Universum zu dieser Zeit abhängt; diese Abhängigkeit ist durch die Wellenfunktion vermittelt. Das ist die Weise, wie die notorische Nicht-Lokalität der Quantenmechanik oder deren Holismus sich in diesem Falle bemerkbar machen. Anders wäre es nicht möglich, die statistischen Voraussagen für die Verteilung von Messergebnissen, welche die Quantenmechanik liefert und welche experimentell bestens bestätigt sind, zu erreichen. Kurz gesagt: Man kann das Messproblem durch Auszeichnung des Ortes und das Zurückweisen überlagerter Zustände in der Ontologie vermeiden; aber man muss Nicht-Lokalität in der Dynamik, der Zeitentwicklung physikalischer Systeme, anerkennen, die im Formalismus stets durch verschränkte Wellenfunktionen dargestellt wird. Generell hat die Forschung zu den Grundlagen der Quantenmechanik heute folgende Ergebnisse erbracht: (i) Wenn man Messergebnisse im physikalischen Raum bzw. der Raum-Zeit anerkennt, dann muss man immer den Ort als die ausgezeichnete physikalische Eigenschaft ansetzen, wie auch immer man das Messproblem löst.10 (ii) Wenn man Messergebnisse im physikalischen Raum bzw. in der Raum-Zeit anerkennt und dementsprechend den Ort als die ausgezeichnete physikalische Eigenschaft ansetzt, dann folgt in jedem Fall, dass man den Ort der physikalischen Systeme nicht immer kennen kann (anders ausgedrückt: auch in einer Dynamik mit Kollaps der Wellenfunktion folgt, dass der Kollaps nicht immer empirisch zugänglich und in diesem Sinne „verborgen“ ist.11 (iii) Die Dynamik der Quantensysteme ist in jedem Fall nichtlokal in der Raum-Zeit; das folgt aus Bells Theorem.12 Wenn der Ort das Exemplarische in der Physik ist in der Weise, dass er die herausgehobene Eigenschaft ist, die allein empirische Unterschiede zwischen Theorien oder möglichen Welten definiert, dann stellt sich folgende Frage: Kann man eine physikalische Theorie formulieren, in welcher der Ort die einzige Eigenschaft ist, die physikalischen Systemen zugesprochen wird? 10 11 12

Siehe Allori et al., On the common structure of Bohmian mechanics and the GhirardiRimini-Weber theory. Siehe Cowan, Tumulka, Epistemology of wave function collapse in quantum physics. Siehe Bell, Speakable and unspeakable in quantum mechanics, Kap. 2, 7 und 24, für eine leicht zugängliche Darstellung sowie Goldstein et al., Bell’s theorem.

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Konkret: Wenn man in der Quantenmechanik den Ort als diejenige Eigenschaft auswählen kann, welche Quantensysteme durchgängig haben, so dass sie sich immer in bestimmten relativen Lagen zueinander befinden, kann man dann alle anderen Observablen, die in bestimmten Kontexten wie zum Beispiel bestimmten Messungen definitive Werte annehmen, auf den Ort zurückführen? Die Antwort auf diese Fragen ist, dass dieses möglich ist. Genau dieses tut nämlich die auf Louis de Broglie13 und David Bohm14 zurückgehende Fassung der Quantenmechanik, die in den 1960er Jahren von John Bell15 in der Form ausgearbeitet und verbreitet wurde, die heute als Bohm’sche Mechanik bekannt ist.16 Diese Theorie spricht den physikalischen Objekten immer einen und nur einen Ort zu; die Wellenfunktion hat lediglich den dynamischen Status, in dem Gesetz aufzutreten, das die Zeitentwicklung der Orte angibt. Alle anderen Observablen werden so konstruiert, dass sie darüber Auskunft geben, wie sich die Orte in bestimmten Messsituationen entwickeln. Selbst die klassischen Parameter Masse und Ladung sind in der Bohm’schen Mechanik auf der Ebene der Wellenfunktion angesiedelt, statt intrinsische Eigenschaften der Teilchen zu sein: Sie sind nicht dort lokalisiert, wo die Teilchen sind.17 Auf dieser Grundlage kann man aus der Bohm’schen Mechanik die statistischen Voraussagen für Messergebnisse der Quantenmechanik ableiten. Damit sind diese Voraussagen in einer Theorie verankert, welche die Frage beantwortet, wie die Natur beschaffen ist, wenn die statistischen Voraussagen der Quantenmechanik richtig sind. Für die Physik gilt somit: Der Ort ist das Exemplarische in dem Sinne, dass an ihm als Beispiel herausgestellt werden kann, was Physik ist (wovon sie handelt) und was sie tut (was sie misst). Es gibt keine weiteren physikalischen Eigenschaften, die auf der gleichen Stufe wie der Ort stehen. In einer sparsamen Ontologie genügt es, den Ort als die einzige Eigenschaft physikalischer Systeme anzusetzen. Damit kann man die gesamte Physik von der klassischen Mechanik bis zur Quantenphysik einschließlich der Quantenfeldtheorie verstehen.18

13 14 15 16 17 18

Broglie, La nouvelle dynamique des quanta. Bohm, A suggested interpretation of the quantum theory in terms of ‚hidden‘ variables. Bell, Speakable and unspeakable in quantum mechanics, Kap. 4 und 17. Siehe Dürr et al., Quantum physics without quantum philosophy. Siehe Esfeld et al., The physics and metaphysics of primitive stuff. Siehe dazu ausführlich Esfeld, Deckert, A minimalist ontology of the natural world, und für eine vertiefte Diskussion der Ontologie Esfeld, Wissenschaft und Freiheit, Kap. 1.

162 2.

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Dynamik erster Versuch: Gravitation als die exemplarische Kraft

Wenn der Ort die exemplarische Eigenschaft physikalischer Systeme ist, dann ist es, wie Ned Hall in dem Zitat im vorigen Abschnitt sagt, die zentrale Aufgabe der Physik, die Entwicklung der Orte der physikalischen Systeme darzustellen. Gegeben deren Orte, möchten wir wissen, wie die physikalischen Objekte sich bewegen, also wie sich ihre relativen Lagen zueinander verändern. Oder: Gegeben die Orte und eine Anfangsgeschwindigkeit, möchten wir wissen, wie die Geschwindigkeiten der Objekte sich entwickeln, um daraus zu ersehen, wohin sich die Objekte bewegen. Isaac Newton ist deshalb für die neuzeitliche Physik so wichtig, weil er universelle Bewegungsgesetze formuliert, die auf der Erde ebenso wie im gesamten Universum gelten und die die Grundlage für die gesamte nachfolgende Entwicklung der Physik bilden. Newtons erstes Bewegungsgesetz lautet wie folgt: Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmiggeradlinigen Bewegung, sofern er nicht durch eingedrückte Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.19

Dieses Gesetz führt einen Referenzzustand zur Beschreibung der Bewegung der Objekte ein, in Bezug auf den dann alle anderen Bewegungszustände konzipiert werden. Dieses ist der Zustand der Inertialbewegung, das heißt, der Bewegung ohne Veränderung der Geschwindigkeit oder der Richtung. Mit eingedrückten Kräften sind einwirkende Kräfte gemeint, die diesen Bewegungszustand ändern. Deren Wirkungsweise beschreibt das zweite Bewegungsgesetz: Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt.20

Das dritte Gesetz ergänzt dann, dass jeder Aktion einer Kraft auf einen Körper eine gleichartige Reaktion dieses Körpers entspricht: Der Einwirkung ist die Rückwirkung immer entgegengesetzt und gleich, oder: die Einwirkungen zweier Körper aufeinander sind immer gleich und wenden sich jeweils in die Gegenrichtung.21

Diese drei Gesetze sind allerdings nur ein Rahmen, um konkrete Bewegungsgesetze zu formulieren. Für sich genommen geben sie uns keine Informationen 19 20 21

Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 53. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 53. Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, S. 54.

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darüber, welche Bewegungen in der Natur stattfinden. Denn solange man nicht spezifiziert, welche Kräfte in der Natur wirksam sind, kann man keine Gesetze formulieren, die es erlauben, die Bewegung von Objekten zu berechnen. In der Tat ist es in der Philosophie der Physik üblich, zwischen Rahmentheorien, welche einen allgemeinen Rahmen für den Ablauf der Bewegungen in der Natur angeben, und Interaktionstheorien zu unterscheiden; Letztere beschreiben in einem gegebenen Rahmen konkrete Interaktionen.22 Die exemplarische Interaktion in diesem Rahmen ist die Gravitation. Sie ist wiederum das, was als Beispiel herausgegriffen wird, weil an ihm etwas allgemein Geltendes – die Wirkung von Kräften – leicht verständlich dargestellt werden kann. Die Anziehung der Objekte, ausgedrückt durch die Schwerkraft, ist auf der makroskopischen Ebene das auffälligste Bewegungsmuster physikalischer Systeme. Um dieses Bewegungsmuster durch ein Gesetz in dem gegebenen Rahmen zu erfassen und damit Bewegungen berechnen zu können, benutzt Newton den Parameter der Masse, differenziert in Ruhemasse und schwere Masse, deren Werte die gleichen sind und immer konstant bleiben für jedes Elementarteilchen. Wie Ernst Mach später in seinem Kommentar zu Newtons Mechanik festhält, wird die Masse eingeführt als ein Parameter, der eine dynamische Beziehung zwischen den Körpern ausdrückt durch die Rolle, die er in den Bewegungsgesetzen spielt – Widerstand gegen Beschleunigung im Fall der Ruhemasse und beschleunigte, anziehende Bewegung im Fall der schweren Masse.23 Newtons Gravitationsgesetz ist folgendermaßen beschaffen: Gegeben die Orte, die Geschwindigkeiten und die Massen aller Objekte im Universum zu einer beliebigen Zeit sowie die Gravitationskonstante, ist die gravitationelle Anziehung der Objekte zu dieser Zeit festgelegt. Daran ist zunächst auffällig, dass in der konkreten Formulierung des Kraftgesetzes der Gravitation der Kraftterm verschwindet zu Gunsten des Parameters der Masse: Durch die Massen in den relativen Lagen der Körper ist deren gravitationelle Anziehung bestimmt.24 Auf jeden Fall wäre es vollkommen verfehlt, sich Kräfte in der Newton’schen Mechanik als ein Medium vorzustellen, das durch seine Ausbreitung im Raum die Interaktion der Körper vermittelt. Dazu fehlt schlichtweg die Zeit. Die Wechselwirkung in der Newton’schen Mechanik ist instantan: Gegeben die relativen Lagen der Objekte mit ihren Massen und Anfangsgeschwindigkeiten zu einer Zeit sowie der Gravitationskonstante, ist die gravitationelle Beschleunigung der Körper zu dieser Zeit festgelegt. Es 22 23 24

Siehe jüngst Benitez, Selective realism and the framework. Mach, Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt, S. 239 f. Siehe dazu Jammer, Concepts of force, S. 244.

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bleibt folglich keine Zeit, um eine Kraft von dem einen auf den anderen Körper zu übertragen. Man spricht deshalb von Fernwirkung.25 Wenn beispielsweise die Sonne verschwände, hätte das instantan eine (verheerende) Wirkung auf die Bahn der Erde. Newton selbst hält die Fernwirkung für ein Paradoxon. Er schreibt in einem berühmten Brief an Bentley: Dass die Schwerkraft der Materie angeboren, inhärent und wesentlich ist, so dass ein Körper auf einen anderen Körper durch den leeren Raum einwirken könnte ohne die Vermittlung durch etwas anderes, durch das die Aktion oder Kraft von dem einen auf den anderen Körper übertragen wird, ist für mich eine so große Absurdität, dass ich glaube, dass kein Mensch, der in philosophischen Fragen eine kompetente Fähigkeit des Denkens hat, in sie jemals verfallen könnte.26

Eine tiefere Grundlage der Gravitation hat jedoch weder Newton noch einer seiner Nachfolger bis zum Auftreten Einsteins gefunden. Es ist im Rahmen der Newton’schen Bewegungsgesetze auch gar nicht möglich, Wechselwirkungen zu formulieren, ohne dass diese Fernwirkungen sind. Das liegt an der Raum-Zeit-Struktur, mit der diese Bewegungsgesetze verbunden sind: Diese Raum-Zeit-Struktur behandelt alle Inertialsysteme als gleichwertig für die Beschreibung der physikalischen Bewegungsabläufe, und sie lässt beliebig hohe Geschwindigkeiten zu. Dieses besagt die Invarianz, die bereits von Galilei formuliert und in den Newton’schen Bewegungsgesetzen übernommen wurde. Kurz: Wenn man eine tiefere Grundlage der Gravitation fände, dann würde die Gravitation als das Exemplarische der Newton’schen Bewegungsgesetze eben diesen Rahmen sprengen, für den sie das herausragende Beispiel ist. Noch größer wäre die Besorgnis um Fernwirkung wohl, wenn die Wirkungsweise der Gravitation exemplarisch für die Newton’schen Bewegungsgesetze in dem Sinne wäre, dass es noch weitere Fälle von Kräften (Interaktionen) auf der gleichen Stufe wie der der Gravitation gäbe. Dem ist aber nicht so. Die Gravitation ist die einzige Wechselwirkung, für die im Rahmen der Newton’schen Bewegungsgesetze ein konkretes Bewegungsgesetz formuliert ist. Auch hier zeigt sich also dasselbe wie schon beim Ort als der exemplarischen Eigenschaft: Das, was als exemplarisch angesehen wird, ist tatsächlich der einzige Fall, statt herausgehobenes Beispiel für etwas zu sein, das allgemein gültig in dem Sinne ist, dass es noch weitere gleichartige Beispiele gibt. Diese Tatsache weist auch 25 26

Für eine ausführliche Diskussion siehe Lange, An introduction to the philosophy of physics, Kap. 1. Brief an Bentley, 25. Februar 1692/93, abgedruckt in Newton, Correspondence, Brief 406, S. 253 f., Übersetzung Michael Esfeld.

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der Lösung des Paradoxons der Fernwirkung in der weiteren Geschichte der Physik den Weg. 3.

Dynamik, zweiter Versuch: Elektromagnetismus als das exemplarische Feld

Es gibt nicht nur Gravitation als die Interaktion, die auf makroskopischen Distanzen relevant ist. Es gibt auch Elektrizität und Magnetismus. Eine ausgearbeitete physikalische Theorie der elektrischen und magnetischen Wechselwirkung liegt erst seit der Maxwell-Lorentz Elektrodynamik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor. Diese Theorie spricht den Teilchen – positive oder negative – Ladungen zu, aufgrund derer sie miteinander interagieren: Gleich geladene Teilchen stoßen sich ab; entgegengesetzt geladene Teilchen ziehen sich an. Im Unterschied zur Gravitation in der Newton’schen Mechanik, die instantan über beliebige Distanzen hinweg wirkt (auch wenn ihre Wirkung mit dem Quadrat der Distanz nachlässt), wirkt die elektromagnetische Interaktion zeitlich verzögert: Ein geladenes Teilchen beeinflusst den Bewegungszustand anderer geladener Teilchen nicht instantan, sondern etwas später. Um zu wissen, wie sich ein gegebenes, geladenes Teilchen unter dem Einfluss anderer Teilchen verhält, muss man also nicht wissen, wo die anderen Teilchen zur selben Zeit sind, sondern wo sie in der Vergangenheit waren. Es gibt mithin eine maximale Geschwindigkeit für die Ausbreitung von Wirkungen. Diese ist die Lichtgeschwindigkeit, wie ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts experimentell bestätigt wurde. Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Konstante; sie ist immer gleich, unabhängig vom Bezugssystem und damit unabhängig vom Bewegungszustand der Lichtquelle. Diese Tatsache ermöglicht es, das Problem, das Newton in der Fernwirkung sieht, zu lösen: Erstens ist die elektromagnetische Wechselwirkung nicht instantan, sondern zeitlich verzögert. Das ermöglicht es nun zweitens, ein Medium im Raum zu denken, mit dessen Hilfe sich die elektromagnetische Wechselwirkung ausbreitet. Dieses Medium ist das elektromagnetische Feld. Ein geladenes Teilchen erzeugt aufgrund seiner Ladung ein Feld. Dieses Feld breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit im Raum aus. Dadurch beeinflusst eine Ladung die Bewegung anderer Ladungen, nämlich genau dann, wenn das von ihr erzeugte Feld auf andere Ladungen trifft. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, dann – und nur dann – spricht man von Nahewirkung statt Fernwirkung. Das Problem ist nun, dass Gravitation als instantane Wirkung und Elektromagnetismus als zeitlich verzögerte Wirkung nicht zusammen in derselben

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Raum-Zeit-Geometrie existieren können, wenn man alle Inertialsysteme als gleichwertig für die Beschreibung von Bewegungen ansieht (Galilei-Invarianz). Die Geometrie eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit in der Newton’schen Mechanik lässt beliebig hohe Geschwindigkeiten zu. Zeitlich verzögerte Wirkung erfordert es, eine Maximalgeschwindigkeit für die Ausbreitung von Wirkung anzusetzen, die mithin absolut und unabhängig vom Bezugssystem ist (de facto die Lichtgeschwindigkeit). Diese Konstante muss man berücksichtigen, wenn man in der Beschreibung von Bewegungen von einem zu einem anderen Bezugssystem wechselt. Das aber bedeutet, dass man die Geometrie von Raum und Zeit ändern muss. Diese Konsequenz zieht Einstein in der speziellen Relativitätstheorie von 1905. Diese Theorie baut auf zwei Postulaten auf: (1) Alle Bezugssysteme, die sich geradlinig und gleichförmig bewegen (also alle Inertialsysteme), sind äquivalent. (2) Die Lichtgeschwindigkeit ist eine Konstante, welche die Maximalgeschwindigkeit für die Ausbreitung von Wirkungen ist. Wenn man von einem Bezugssystem zu einem anderen wechselt, muss man mithin berücksichtigen, dass die Lichtgeschwindigkeit die Höchstgeschwindigkeit für die Ausbreitung von Wirkungen ist. Deshalb kann man nicht länger die Galilei-Transformationen benutzen, die in der Newton’schen Mechanik Anwendung finden, sondern muss die Lorentz-Transformationen verwenden. Diese transformieren sowohl die dreidimensionalen, räumlichen Abstände als auch das eindimensionale, zeitliche Intervall, wenn man von einem Bezugssystem zu einem anderen wechselt; sie lassen aber den vierdimensionalen, raum-zeitlichen Abstand zwischen zwei beliebigen Ereignissen unverändert. Deshalb sagt man, dass der Raum und die Zeit in der speziellen Relativitätstheorie zu einer vierdimensionalen Raum-Zeit vereinigt werden. Diese RaumZeit ist genauso absolut wie Raum und Zeit in der Newton’schen Mechanik: Man geht in der Relativitätstheorie davon aus, dass sie schlechthin existiert. Die absolute Raum-Zeit ist eine Art Behälter, in dem die Materiekonfiguration des Universums existiert. Die Bezeichnung „Relativität“ in der speziellen Relativitätstheorie bezieht sich auf die Tatsache, dass in dieser Theorie die Gleichzeitigkeit – und damit die zeitliche Ordnung der Ereignisse – relativ zur Wahl eines bestimmten Bezugssystems ist. Der Sache nach ist jedoch die Relativitätsphysik nicht relativer als die Newton’sche Physik. Es sind lediglich verschiedene Größen relativ und absolut. In der Newton’schen Physik ist jede messbare Geschwindigkeit relativ zu einem Bezugssystem, und Gleichzeitigkeit ist absolut. In der Relativitätsphysik gibt es eine absolute Geschwindigkeit (die Lichtgeschwindigkeit), und Gleichzeitigkeit ist relativ zum Bezugssystem.

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Die spezielle Relativitätstheorie ist wiederum eine Rahmentheorie ebenso wie die Theorie, die durch die drei Newton’schen Bewegungsgesetze formuliert ist. Die spezielle Relativitätstheorie liefert eine Geometrie der Raum-Zeit, innerhalb derer man dann die verschiedenen Interaktionen von Objekten, die in der Raum-Zeit lokalisiert sind, beschreiben kann. Diese Beschreibung leisten Interaktionstheorien, die im Rahmen dieser Geometrie formuliert sind, indem sie Felder in der Raum-Zeit postulieren, durch welche die betreffenden Interaktionen vermittelt werden. Die elektromagnetische Interaktion ist die exemplarische Interaktion, die gemäß diesem Schema abläuft. Die klassische Elektrodynamik von Maxwell-Lorentz ist dementsprechend die exemplarische Feldtheorie der Interaktion – wiederum in dem Sinne, dass sie als Beispiel herausgegriffen wird für etwas, das allgemein für physikalische Interaktionen gilt, von welcher Art diese auch immer sein mögen. Die Aufgabe ist dementsprechend nunmehr, die anderen Wechselwirkungen diesem Exempel folgend mathematisch darzustellen. Insbesondere gilt es, die Newton’sche Theorie der Gravitation als Fernwirkung durch eine Theorie der Gravitation als Nahewirkung abzulösen. Diese Aufgabe stellt sich Einstein; er löst sie mit der allgemeinen Relativitätstheorie 1915. Diese Theorie sprengt jedoch den Rahmen, der mit der Idee von Feldern als Medium der Interaktion in der Geometrie der Raum-Zeit der speziellen Relativitätstheorie gesetzt ist. Wiederum zeigt sich: Das Exemplarische – die elektromagnetische Wechselwirkung, herausgegriffen als Beispiel, um Nahewirkung vermittelt durch ein Feld in der Raum-Zeit zu illustrieren – erweist sich als das einzige Beispiel für diesen Rahmen, obwohl dieser als genereller Rahmen für alle physikalischen Interaktionen gedacht ist. Das ist keine schlechte Nachricht. Es ist wichtig, die beiden genannten Bedingungen, die zusammen den Übergang von Fern- zu Nahewirkung definieren, auseinanderzuhalten: Empirisch bestätigt ist die zeitlich verzögerte Wirkung der elektromagnetischen Interaktion. Das elektromagnetische Feld als Medium der Interaktion ist ein theoretisches Postulat. Man misst nie das Feld, sondern immer nur die Änderung des Bewegungszustandes geladener Teilchen in Abhängigkeit von der Präsenz anderer geladener Teilchen in der Vergangenheit. Die Existenz des Feldes im Raum anzunehmen, ist nicht unproblematisch: Das Feld, das ein geladenes Teilchen erzeugt, beeinflusst nämlich nicht nur die Bewegung anderer Teilchen, sondern wirkt auch auf das Teilchen ein, das seine Quelle ist. Diese Selbst-Interaktion des Teilchens mit dem von ihm erzeugten Feld führt dazu, dass die Energie an dem Punkt, an dem das Teilchen lokalisiert ist, unendlich wird, also die Theorie zusammenbricht und eine unsinnige Aussage macht.

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Genau genommen ist daher die Maxwell-Lorentz-Theorie der Elektrodynamik mathematisch inkonsistent: Man kann die Maxwell-Gleichungen, die beschreiben, wie geladene Teilchen das elektromagnetische Feld verändern, nicht mit der Lorentz-Kraft-Gleichung, die den Einfluss eines äußeren elektromagnetischen Feldes auf die Bewegung eines gegebenen geladenen Teilchens beschreibt, in einer mathematisch konsistenten Theorie zusammenbringen. Natürlich kann man jede dieser Gleichungen mit großem operationellen Nutzen in der Physik anwenden; aber dieser operationelle Nutzen wird durch keine konsistente Theorie gestützt. Richard Feynman schlägt in seiner Nobelpreis-Rede aufgrund dieses Sachverhaltes vor, die elektromagnetische Wechselwirkung als zeitlich verzögerte Fernwirkung zu betrachten: Ein geladenes Teilchen beeinflusst die Bewegung anderer geladener Teilchen direkt über ein raum-zeitliches Intervall hinweg.27 Wheeler und Feynman haben 1945 eine feldfreie, klassische Elektrodynamik vorgeschlagen.28 Jedenfalls kann man folgenden Schluss ziehen: Wenn man Fernwirkung für paradox hält, dann ist die Idee von Feldern in der Raum-Zeit, welche die Interaktion der Körper vermitteln, nicht geeignet, um Nahewirkung zu etablieren. Man erkauft dann den Wegfall des begrifflichen Paradoxons der Fernwirkung durch eine mathematisch inkonsistente Theorie. Insofern ist es kein Unglück, dass das Exemplarische einer solchen Nahewirkung, die elektromagnetische Wechselwirkung wie in der Maxwell-Lorentz-Theorie der klassischen Elektrodynamik dargestellt, das einzige Beispiel einer Interaktionstheorie in dem Rahmen ist, der durch lokale Felder auf einer gegebenen Geometrie der RaumZeit definiert ist. 4.

Dynamik, dritter Versuch: Gravitation als die exemplarische Rückführung der Dynamik auf die Geometrie

Gegeben die Maxwell-Lorentz-Theorie der klassischen Elektrodynamik als Interaktionstheorie und die Raum-Zeit-Geometrie der speziellen Relativitätstheorie als Rahmentheorie, ist es die Aufgabe, ein Feld der Gravitation zu finden, um die Gravitation ebenfalls als Nahewirkung darzustellen. Damit würde man die Newton’sche Theorie der Gravitation als instantaner Fernwirkung hinter sich lassen. Ein solches Feld findet Einstein in der Tat. Aber es ist kein Feld in der Raum-Zeit, sondern die Metrik der Raum-Zeit selbst. 27 28

Feynman, The development of the space-time view of quantum electrodynamics, S. 699 f. Siehe dazu Deckert, Electrodynamic absorber theory, Teil 1, (physikalisch) und Lazarovici, Against fields (philosophisch).

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Diese kann man als das metrische Feld bezeichnen. Nichtsdestoweniger wird dann, wenn man das Feld, das eine Interaktion vermittelt, mit der Geometrie der Raum-Zeit identifiziert, der Rahmen gesprengt, der mit der Geometrie der Raum-Zeit in der speziellen Relativitätstheorie gegeben ist. Die Gravitation ist also wiederum das Exemplarische im Sinne des herausgegriffenen Beispiels, aber nun für einen weiteren, neuen Rahmen, physikalische Interaktionen zu denken. Wenn das Feld der Gravitation identisch mit der Metrik der Raum-Zeit ist, dann ist die Raum-Zeit kein Hintergrund mehr – keine Bühne, auf der sich das physikalische Geschehen abspielt, sondern selbst Teil des physikalischen Geschehens. Sie verändert sich durch die Bewegung der Materie. Das heißt: Die Geometrie ist nicht mehr die euklidische einer flachen Raum-Zeit, sondern die riemannsche einer gekrümmten Raum-Zeit. Dadurch, nämlich als Interaktion zwischen der Materie und der Geometrie der Raum-Zeit, stellt Einstein die Gravitation als Nahewirkung dar. Im Standardlehrbuch von Misner, Thorne und Wheeler wird dieser Sachverhalt prägnant so ausgedrückt: Der Raum wirkt auf die Materie ein, indem er ihr sagt, wie sie sich zu bewegen hat. Ihrerseits reagiert die Materie auf den Raum, indem sie ihm sagt, wie er sich zu krümmen hat.29

Dort, wo der Unterschied zwischen den Voraussagen der Bewegungen von Körpern gemäß Newtons und gemäß Einsteins Theorie der Gravitation empirisch überprüfbar ist, hat man die Voraussagen von Einsteins Theorie in der Tat bestätigt. Die allgemeine Relativitätstheorie setzt wiederum einen neuen Rahmen, physikalische Interaktionen zu denken. Man kann diese Theorie so verstehen, dass sie die Wechselwirkung zwischen materiellen Objekten auf die Geometrie der Raum-Zeit reduziert, in der sich diese Objekte befinden (wobei diese Objekte die Geometrie beeinflussen). Für dieses Verständnis physikalischer Interaktion ist die Gravitation exemplarisch (mit der Masse der Körper als demjenigen Parameter, durch den diese die Geometrie der RaumZeit gravitationell beeinflussen). Damit ergibt sich wiederum ein Forschungsprogramm, nämlich alle Wechselwirkungen so darzustellen, dass sie auf die Geometrie der RaumZeit reduziert sind. Die Gravitation ist dann exemplarisch für alle Wechselwirkungen in dem Sinne, dass sie das herausgegriffene Beispiel für eine Mehrzahl von Interaktionen ist, die sich alle in diesem Rahmen darstellen 29

Misner et al., Gravitation, S. 5, Übersetzung Michael Esfeld.

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lassen. Mehr noch: Wenn Interaktion nichts als Geometrie der Raum-Zeit ist, dann kann man die materiellen Körper selbst als Eigenschaften der Raum-Zeit geometrisch darstellen. Die Raum-Zeit ist dann nicht nur eine Substanz, die als solche selbst existiert, wie gemäß den Rahmentheorien von Newton und Einstein (sowohl der speziellen als auch der allgemeinen Relativitätstheorie); sie ist vielmehr die einzige Substanz: Die physikalische Welt ist die Raum-Zeit mit ihrer Geometrie. Diese Position ist als Super-Substantialismus bekannt.30 Mit dem Super-Substantialismus entfällt auch das Problem, das die spezielle Relativitätstheorie als Rahmentheorie für Interaktionen, diese vermittelt durch Felder in der Raum-Zeit, plagt: Wenn sowohl die materiellen Objekte als auch deren Wechselwirkungen mit Eigenschaften der Raum-Zeit identisch sind, dann gibt es kein Problem der Selbst-Interaktion eines Teilchens mit dem von ihm erzeugten Feld; die materiellen Objekte sind dann gar nicht Gegenstände in der Raum-Zeit. Einstein hat dieses Programm als vereinigte Feldtheorie konzipiert. Wheeler hat in den 1960er Jahren versucht, es als Geometrodynamik auszuführen. Er schreibt prägnant: Ist die Raumzeit nur eine Arena, innerhalb derer sich Felder und Teilchen als „physikalische“ und „fremde“ Wesenheiten bewegen? Oder ist das vierdimensionale Kontinuum alles, was es gibt? Ist die gekrümmte, leere Geometrie eine Art magisches Baumaterial, aus dem alles in der physikalischen Welt geformt ist: (1) eine schwache Krümmung in einem Gebiet des Raumes beschreibt ein Gravitationsfeld; (2) eine gewellte Geometrie mit einer anderen Art von Krümmung irgendwo anders beschreibt ein elektromagnetisches Feld; (3) ein verknotetes Gebiet hoher Krümmung beschreibt eine Ansammlung von Ladung und Masse-Energie, die sich wie ein Teilchen bewegt? Sind Felder und Teilchen fremde Wesenheiten, die in die Geometrie eingebettet werden, oder sind sie nichts als Geometrie?31

Die Geometrodynamik als Versuch, die materiellen Gegenstände und Interaktionen auf die Geometrie der Raum-Zeit zu reduzieren, ist jedoch gescheitert. Ein Grund war, dass sie das Problem von Teilchen als Singularitäten in der Raum-Zeit nicht geometrisch lösen konnte. Sie wurde Anfang der 1970er Jahre

30 31

Siehe Lehmkuhl, The metaphysics of super-substantivalism, und für eine umfassende Position auf dieser Grundlage Rohs, Feld – Zeit – Ich. Wheeler, Curved Empty Space as the Building Material of the Physical World, S. 361, Übersetzung aus Esfeld, Einführung in die Naturphilosophie, S. 41 f.

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von Wheeler und seinen Mitarbeitern fallen gelassen.32 Die Gravitation als das Exemplarische im Sinne des herausragenden Beispiels für die Rückführung physikalischer Interaktionen auf die Geometrie der Raum-Zeit erweist sich somit wiederum als das einzige Beispiel für dieses Forschungsprogramm. 5.

Fazit

Alle hier diskutierten Fälle – sowohl in der Ontologie als auch in der Dynamik – sind so beschaffen, dass das Exemplarische nicht, wie beabsichtigt, als Beispiel herausgegriffen ist, um etwas Allgemeines zu illustrieren, von dem es noch weitere Fälle gibt. Denn es stellt sich heraus, dass es neben dem als exemplarisch Herausgegriffenen gar keine weiteren Beispiele gibt. Jedes weitere Beispiel sprengt den betreffenden Rahmen und erfordert somit eine neue Theorie. In der Ontologie gilt durchgängig, dass der Ort die exemplarische Eigenschaft physikalischer Systeme ist, auf der alles, was die Physik über die Welt aussagt, aufgebaut werden kann: Zwei Theorien oder Welten, die in den Orten der physikalischen Systeme übereinstimmen, sind empirisch ununterscheidbar. In der Dynamik ist das Exemplarische jeweils das einzige Beispiel für die Theorie, die jedoch jeweils einen allgemeinen Rahmen für alle physikalischen Interaktionen zu setzen beansprucht: Gravitation in der Newton’schen Mechanik, das elektromagnetische Feld in der klassischen Feldtheorie, die Gravitation in der Raum-Zeit-Geometrie der allgemeinen Relativitätstheorie. Natürlich bleibt es das Ziel der Physik, eine einheitliche Theorie aller Interaktionen zu erreichen, die so beschaffen ist, dass es eine Rahmentheorie gibt, innerhalb derer dann spezifische Theorien für die jeweiligen Interaktionen angesetzt sind. Aber dieses Ziel haben wir nicht erreicht. Nach dem heutigen Forschungsstand stehen sich Quantenfeldtheorie und allgemeine Relativitätstheorie gegenüber: Die eine ist auf eine nicht-lokale Dynamik mit der RaumZeit als nicht-dynamischem Hintergrund festgelegt; die andere formuliert eine lokale Dynamik durch eine als dynamisch angesetzte, gekrümmte Raum-Zeit. Es bleibt offen, ob das Ziel einer einheitlichen Rahmentheorie für die gesamte Dynamik realistisch ist. Die Geschichte der Physik zeigt jedenfalls, dass Fortschritt im Verständnis physikalischer Interaktionen durch den Wechsel der Rahmentheorie erzielt wurde, welcher jeweils dadurch erfolgte, dass eine Interaktion und deren Behandlung als die exemplarische Interaktion herausgegriffen wurde. 32

Siehe Misner et al., Gravitation, S. 1205.

172

Michael Esfeld

Literatur

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Wenn das Exemplarische das Einzige ist

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Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff Andreas Hüttemann In Adelungs Wörterbuch von 1793 wird unter dem Eintrag „Exemplar“ auf verschiedene Verwendungsweisen dieses Ausdrucks im Verlagswesen aufmerksam gemacht: Bey den Buchdruckern bedeutet Exemplar das Original einer Schrift, dasjenige, was bey dem Setzen eines Buches oder einer Schrift dem Setzer zum Muster dienet. […] Bey den Buchhändlern hingegen ist Exemplar ein Stück der ganzen Auflage, ein Buch oder eine Schrift als ein Individuum betrachtet. Ein Exemplar von Gellerts Moral. Sechs Exemplare der Deutschen Bibel.1

Ein Exemplar im Sinne der Buchsetzer ist ein konkretes Einzelding, das als Muster fungiert. Exemplare im Sinne der Buchhändler sind konkrete Einzeldinge, die dieses Muster exemplifizieren. Dieser Gegensatz zwischen dem Exemplarischen im Sinne der Buchhändler und im Sinne der Buchsetzer lässt sich auch noch im heutigen Gebrauch des Ausdrucks unterscheiden. Einerseits wird unter ‚Exemplar‘ ein Beispiel oder Exempel verstanden, ein konkretes Einzelnes, das als Fall eines bereits bestimmten Allgemeinen begriffen und zur nachträglichen Veranschaulichung des Allgemeinen verwendet werden kann. Der Rabe Helmut ist ein Exemplar der Gattung der Rabenvögel, er dient in diesem Sinne auch als Exempel, Beispiel oder Illustration dafür, dass alle Raben schwarz sind. Andererseits bezeichnet ‚Exemplar‘ ein Einzelnes, das auch in allgemeiner Bedeutung verstanden wird, weil diesem Einzelding eine Muster- oder Modellfunktion zukommt.2 Ich möchte vorschlagen, den Begriff des Exemplarischen noch etwas weiter zu differenzieren und vier Bedeutungen zu unterscheiden: 1)

Das Exemplarische im Sinne der Buchhändler: Ein Exemplar ist ein konkretes Beispiel eines Musters oder ein konkreter Anwendungsfall eines Gesetzes (konkret bedeutet in den meisten Fällen: raumzeitlich lokalisierbar).

1 Adelung, Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Eintrag „Exemplar“. 2 Vgl. dazu die Einleitung der Herausgeber.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_011

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Andreas Hüttemann

2)

Das Exemplarische als vorbildliches Beispiel: Auch hier ist ein Exemplar ein konkretes Beispiel eines Musters, ein konkreter Anwendungsfall eines Gesetzes – aber eines, an dem sich die charakteristischen Merkmale des Musters besonders deutlich erkennen lassen. Die Musterschülerin ist eine exemplarisch gute Schülerin, weil sie nicht nur eine gute Schülerin ist, sondern weil sie diejenigen Merkmale, die sie zu einer guten Schülerin machen, auf besonders deutliche Weise exemplifiziert. Das Exemplarische im Sinne des Buchsetzers: Ein Exemplar ist ein konkreter Gegenstand, der anderen Gegenständen gegenüber eine Muster-, Modell- oder Vorbildfunktion hat. Das Exemplarische als abstraktes Muster oder Modell: ein abstraktes Einzelnes, das in allgemeiner Bedeutung als Muster oder Modell verwendet werden kann, z. B. ein  Entwurf für eine größere Anzahl von Häusern. (Dieser Sinn von Exemplarität knüpft an die Verwendungsweise von ‚Exemplar‘ im Kontext der mittelalterlichen Universaliendebatte an.)

3) 4)

Im Naturgesetzbegriff, so möchte ich in diesem Aufsatz zeigen, kommen zwei dieser Bedeutungen des Exemplarischen – das Exemplarische im Sinne der Buchhändler und das Exemplarische als abstraktes Muster oder Modell – zusammen. Während die konkreten Einzelfälle, auf die das Gesetz zutrifft, Beispielfälle für das Gesetz sind (das Exemplarische im Sinne des Buchhändlers), ist das abstrakte System, das in einer Gesetzesaussage beschrieben wird, ein abstraktes Einzelnes, das in allgemeiner Bedeutung, als Muster oder Modell, verstanden wird. Im Folgenden werde ich als erstes fragen, welchen Inhalt Naturgesetzaussagen haben (Abschnitt  1). Dies ist deshalb von Bedeutung, weil eine angemessene Rekonstruktion Unterscheidungen ermöglicht, die auf zwei verschiedene Rollen des Exemplarischen in Naturgesetzaussagen hinweisen. In Abschnitt 2 werde ich zwei verschiedene Verwendungen von Generalisierungen innerhalb von Naturgesetzaussagen unterscheiden. Diese hängen eng mit den verschiedenen Begriffen des Exemplarischen zusammen (Abschnitt  3). In Abschnitt 4 werde ich ausführen, weshalb diese Unterscheidung verschiedener Bedeutungen des Exemplarischen für das Verständnis einiger Bereiche der wissenschaftlichen Praxis relevant ist. Abschnitt  5 zieht Verbindungslinien zwischen dem Begriff des Exemplarischen, dem Modellbegriff und dem Begriff des Paradigmas, der durch Thomas Kuhn prominent wurde.

Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff

1.

177

Naturgesetzaussagen3

In diesem Absatz wird es nicht um den metaphysischen Charakter von Naturgesetzen gehen4, sondern darum, welchen Inhalt Naturgesetzaussagen oder Naturgesetze (ich werde beide Begriffe synonym verwenden) ausdrücken. Galileis Fallgesetz soll hier als Ausgangspunkt für eine Betrachtung von Naturgesetzaussagen dienen. Mit dieser Entscheidung kommt schon eine Schwierigkeit ins Spiel, denn strenggenommen ist das Fallgesetz nicht wahr, sondern nur näherungsweise wahr, also falsch. Der Gesetzesbegriff setzt allerdings nach allgemeinem Verständnis Wahrheit voraus. Weder Galileis Fallgesetz noch die Newtonschen Gesetze sind also in diesem strengen Sinne Naturgesetze, bestenfalls sind die Einsteinschen Feldgleichungen geeignete Kandidaten. Für das Folgende hängt von einer strengen Betrachtung aber nichts ab und wir werden deshalb ohne Nachteil das Galileische Fallgesetz exemplarisch, d. h. als vorbildliches Muster für Naturgesetze schlechthin, betrachten. Was ist nun das Galileische Fallgesetz? Man könnte zunächst denken, es sei die Gleichung s = ½ gt2

(1)

wobei s für den zurückgelegten Weg, t für die Zeit und g für eine Konstante steht. Die Gleichsetzung von Gesetz und Gleichung führt aber zu Problemen. Üblicherweise fasst man Gesetze oder Gesetzesaussagen als diejenigen (vielleicht komplexen) Verallgemeinerungen auf, die bei Vorhersagen, Bestätigungen, Erklärungen und anderen Aspekten der wissenschaftlichen Praxis eine Rolle spielen. Mit dieser Charakterisierung einer Gesetzesaussage als Ausgangspunkt lässt sich aber als Konsequenz ableiten: Wenn eine Gesetzesaussage das ist, was in Versuchen bestätigt oder widerlegt wird (oder in den Kontexten der Erklärung, Vorhersage oder Manipulation verwendet wird), kann eine Gleichung für sich genommen kein Beispiel für ein Gesetz (oder eine Gesetzesaussage) sein. Tatsächlich nimmt z. B. niemand an, dass Galileis Gesetz durch Kugeln, die gleichmäßig auf einer horizontalen Ebene rollen, oder durch Steine, die auf dem Boden liegen, widerlegt wird, obwohl 3 Ich greife hier und im Folgenden auf Überlegungen aus Hüttemann, Minimal Metaphysics, Kapitel 1, zurück. 4 Siehe dazu Jaag, Schrenk, Naturgesetze.

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beide die Gleichung (1) nicht erfüllen. Was fehlt, ist eine Aussage über die Arten von Systemen, die durch die Gleichung repräsentiert werden sollen. Das Galileische Fallgesetz ist nicht einfach nur eine mathematische Gleichung. Es reicht auch nicht aus, hinzuzufügen, dass t die Zeit darstellt und s den Weg, den ein beliebiges Objekt zurücklegt. Das Galileische Fallgesetz ist die Behauptung, dass das Verhalten einer bestimmten Klasse von Systemen durch die obige Gleichung dargestellt werden kann. Das Galileische Fallgesetz könnte also etwa wie folgt formuliert werden: Frei fallende Körper verhalten sich gemäß der Gleichung s = ½ gt2. Ganz entsprechend ist F = ma lediglich eine mathematische Gleichung. Sie wird zu einer Gesetzesaussage, wenn behauptet wird, dass sie das Verhalten von physikalischen Systemen – in diesem Falle aller physikalischer Systeme überhaupt – darstellen soll. Auch die Schrödinger-Gleichung mit dem Coulomb-Potential ist für sich genommen keine Gesetzesaussage, d. h. sie ist nicht das, was wir bestätigen oder widerlegen. Im Gegensatz dazu ist die Behauptung „Wasserstoffatome verhalten sich gemäß der SchrödingerGleichung mit dem Coulomb-Potential“ eine Gesetzesaussage. Die Tatsache, dass Gleichungen wie s = ½ gt2 mit einer Klasse von Systemen einhergehen, für die sie relevant sein sollen, wurde auch von anderen schon festgestellt, z. B. im Rahmen der semantischen Auffassung von Theorien.5 Eine allgemeine Charakterisierung von Gesetzesaussagen könnte also folgendermaßen aussehen: (A) Alle Systeme einer bestimmten Art K verhalten sich gemäß Σ. Hier steht ‚Σ‘ – das Gesetzesprädikat – typischerweise für eine Gleichung oder eine Menge von Gleichungen. Der Ausdruck „von einer bestimmten Art K“ kann sich auf alle physikalischen Systeme beziehen, wie im Fall von Newtons zweitem Gesetz oder im Fall der bloßen Schrödinger-Gleichung. Oder es kann sich auf eine enger umschriebene Klasse von Systemen beziehen, wie z. B. frei fallende Körper oder Wasserstoffatome, wodurch sich sogenannte Systemgesetze ergeben. Es ist wichtig zu beachten, dass das Verhalten, das den fraglichen Systemen zugeschrieben wird, im Allgemeinen komplex und relational ist. Im Falle von frei fallenden Körpern stehen die Länge des Weges und die benötigte Zeit in Beziehung zueinander, und zwar nicht nur für die 5 Siehe z. B. Van  Fraassen, Laws and Symmetry, 222. Van Fraassen spricht allerdings von Theorien und nicht von Gesetzen.

Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff

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tatsächlichen Werte der Variablen, sondern für alle möglichen (oder einen begrenzten Bereich von möglichen, jedenfalls nicht nur für die tatsächlich angenommenen) Werte. Wenn man – wie in der älteren Literatur zum Naturgesetzbegriff üblich – Aussagen der Form „Alle Raben sind schwarz“ als paradigmatisch für Gesetzesaussagen nimmt, ignoriert man die komplexe Struktur, die Systemen mittels solcher Aussagen zugeschrieben werden kann. Ein weiteres Beispiel, das die Struktur von Gesetzesaussagen illustriert, ist die euklidische Geometrie. Die euklidische Geometrie ist für sich genommen eine mathematische Theorie ohne jede empirische Bedeutung. Wir erhalten eine empirisch prüfbare Behauptung (ein Gesetz), wenn wir behaupten, eine bestimmte Klasse von Systemen (in diesem Falle also: Raum-Zeiten) lasse sich hinreichend durch die euklidische Geometrie charakterisieren. Gesetzesaussagen, wie sie gerade charakterisiert wurden, spielen nicht nur in der Physik, sondern auch in anderen Disziplinen eine zentrale Rolle. So beschreiben die Lotka-Volterra-Gleichungen die zeitliche Entwicklung eines biologischen Systems, das aus zwei Populationen unterschiedlicher Arten besteht, wobei die eine eine Räuberpopulation, die andere eine Beutepopulation ist. Die relevanten Gleichungen für Beute- und Räuberpopulationen sind (1) dx/dt = x (a - by) und (2) dy/dt = - y (c - gx), wobei x die Anzahl der Beutetiere und y die Anzahl der Räuber darstellt und a, b, c und g Konstanten sind. Auch hier können wir zwischen dem System, für das die Gleichungen gelten, einerseits und den Gleichungen bzw. der Beschreibung des Verhaltens andererseits unterscheiden. 2.

Interne und externe Generalisierungen

Die Charakterisierung von Gesetzesaussagen im Sinne von (A) erlaubt es mir, eine wichtige Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Verallgemeinerungen zu machen, die auf zwei verschiedene Bedeutungen des Exemplarischen im Kontext von Naturgesetzaussagen hinweist (vgl. dazu den nächsten Abschnitt). Betrachten wir wieder das Beispiel des Galileischen Fallgesetzes: Frei fallende Körper verhalten sich gemäß der Gleichung s = ½ gt2. Auch wenn es oft keine expliziten Quantoren gibt, beinhalten Gesetzesaussagen in der Regel mindestens zwei verschiedene Arten von Verallgemeinerungen. Im Galileischen Fallgesetz können wir eine Form der Verallgemeinerung unterscheiden, die über Systeme quantifiziert (für alle x, die fallende Körper sind).

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Andreas Hüttemann

Diese Quantifizierung spezifiziert die Objekte (oder Systeme), denen mittels des Gesetzesprädikats eine bestimmte Art von Verhalten zugeschrieben wird. Neben Generalisierungen, die sich auf Objekte oder Systeme beziehen, gibt es systeminterne Generalisierungen. Diese Verallgemeinerungen beziehen sich auf die Werte der Variablen, die in der Gleichung vorkommen. Wenn wir behaupten, dass sich ein System gemäß der Gleichung s = ½ gt2 verhält, so ist damit impliziert, dass für jeden Wert von t (oder einer großen Anzahl von Werten von t) der Weg s, den der Körper zurückgelegt hat, durch s = ½ gt2 bestimmt ist. Wir können also zwei Arten von Verallgemeinerungen unterscheiden6: 1)

2)

Systeminterne Verallgemeinerungen: Verallgemeinerungen, die sich auf die Werte von Variablen beziehen. Im Fall des Galileischen Fallgesetzes lautet die systeminterne Verallgemeinerung z. B., dass die Gleichung für alle Werte der Variablen t (oder zumindest für alle Werte innerhalb eines bestimmten Bereichs) gilt. Systemexterne Verallgemeinerungen: Verallgemeinerungen, die verschiedene Systeme betreffen, so dass die Gleichung für alle Systeme einer bestimmten Art gilt (z. B. frei fallende Körper).

Im Falle der Lotka-Volterra-Gleichungen betreffen die internen Verallge­ meinerungen die Variablen x (Anzahl der Beutetiere) und y (Anzahl der Räuber), während die externen Verallgemeinerungen ökologische Systeme, bestehend aus Beute- und Räuberpopulationen, betreffen. In unserer Gesetzescharakterisierung (A) wird die systemexterne Verallgemeinerung („Alle Systeme einer bestimmten Art“) explizit erwähnt, während die systeminternen Verallgemeinerungen in Σ implizit enthalten sind. Ein Grund dafür, dass die internen Verallgemeinerungen nicht explizit gemacht werden, könnte die Tatsache sein, dass die Gesetzesgleichung in der Regel mehr als eine interne Verallgemeinerung zulässt und es der Kontext ist, der bestimmt, welche davon für die Charakterisierung eines bestimmten Phänomens relevant sind. Eine Gesetzesgleichung wie pV=νRT lässt nicht nur den Schluss zu, dass, sobald die Werte für p und V gegeben sind, die von T bestimmt sind, sondern auch, dass die Werte für p und T die für V bestimmen, usw. Die Gesetzesgleichung impliziert also mindestens drei verschiedene interne Verallgemeinerungen. Welche davon für eine bestimmte Situation relevant ist, kann von den Größen abhängen, auf die wir Einfluss nehmen wollen, oder von anderen Merkmalen, die durch den Kontext bestimmt werden. 6 Siehe Scheibe, Predication and Physical Law.

Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff

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In ähnlicher Weise ist, wenn wir behaupten, dass sich ein System gemäß der Gleichung s = ½ gt2 verhält, nicht nur impliziert, dass für jeden Wert von t der Weg s durch s = ½ gt2 bestimmt ist, sondern auch, dass für jeden Weg s die Zeit t, die der Körper zum Fallen gebraucht hat, durch t = (2s/g) bestimmt ist. Die Gesetzesaussage erlaubt uns, beide Verallgemeinerungen aufzustellen. Die Unterscheidung zwischen internen und externen Verallgemeinerungen geht mit einer Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von kontrafaktischen Konditionalaussagen einher, die Woodward und Hitchcock beschrieben haben.7 Erstens gibt es kontrafaktische Konditionalaussagen, die sich auf andere Objekte beziehen (other object counterfactuals). Beispiele für solche Aussagen sind: „Wenn b ein Rabe gewesen wäre, wäre es schwarz gewesen“ oder „Wenn b ein ideales Gas gewesen wäre, hätte es sich gemäß der Gleichung pV = νRT verhalten“. Diese Art von kontrafaktischen Konditionalaussagen stützt sich auf externe Verallgemeinerungen, d. h. Generalisierungen, die über eine Klasse von Systemen, z. B. Raben, quantifizieren. Woodward und Hitchcock kontrastieren kontrafaktische Konditionalaussagen, die sich auf andere Objekte beziehen, mit solchen, die sich auf dasselbe Objekt beziehen (same object counterfactuals). Diese beziehen sich auf ganz bestimmte Systeme, wie z. B. in der Aussage „Wenn das betrachtete ideale Gas ein Volumen V=V0 und einen Druck p=p0 gehabt hätte, wäre seine Temperatur T=T0 gewesen“. Kontrafaktische Konditionalaussagen, die sich auf dasselbe Objekt beziehen, stützen sich auf interne Verallgemeinerungen, d. h. auf Generalisierungen, die über die Werte von Variablen quantifizieren. Die Tatsache, dass Gesetzesaussagen mit internen Verallgemeinerungen einhergehen, ist ein Hinweis auf die Komplexität dessen, was Gesetzesaussagen behaupten. Nehmen wir das ideale Gasgesetz als Beispiel. Die Gesetzesaussage ist hochkomplex, weil sie ein funktionales Gesetz ist. Es impliziert eine unendliche Anzahl von Aussagen der Form „Wenn der Wert von p und der Wert von V eines bestimmten Gases so und so gewesen wären, dann wäre die Temperatur T so und so gewesen.“ Die Schrödinger-Gleichung liefert eine weitere Illustration der Komplexität von Gesetzesaussagen. Wenn wir behaupten, dass Wasserstoffatome durch die Schrödinger-Gleichung mit dem Coulomb-Potential charakterisiert werden können, umfasst das Σ in unserer kanonischen Aussage „Alle Systeme einer bestimmten Art K verhalten sich gemäß Σ“ den begrifflichen Apparat der Quantenmechanik. Wenn wir also sagen, dass sich Wasserstoffatome gemäß der Schrödinger-Gleichung mit dem Coulomb-Potential verhalten, sagen wir, dass sie sich gemäß der Quantenmechanik verhalten, in der die 7 Woodward, Hitchcock, Explanatory Generalizations, S. 20.

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Schrödinger-Gleichung über das Coulomb-Potential konkretisiert wird. Der wesentliche Punkt ist, dass Gesetzesaussagen Systemen, die bereits als von einer bestimmten Art identifiziert wurden, ein Verhalten zuschreiben, indem sie sich auf Gesetzesprädikate berufen, die typischerweise einen hochkomplexen mathematischen Apparat beinhalten. Diese Komplexität wird unsichtbar, wenn wir mit Beispielen der Art „Alle Raben sind schwarz“ arbeiten. Beispiele der letzteren Art sind irreführend, weil sie suggerieren, dass Gesetzesaussagen allein auf der Basis von externen Verallgemeinerungen analysiert werden können. Diese Annahme prägte einen Großteil der Debatte über Naturgesetze im zwanzigsten Jahrhundert. 3.

Generalisierungen und Begriffe des Exemplarischen

Die Unterscheidung interner und externer Generalisierungen und die der dazugehörigen kontrafaktischen Konditionale hängt eng mit zwei Bedeutungen des Exemplarischen zusammen. In externen Generalsierungen wird behauptet, dass eine Klasse von konkreten Einzeldingen Beispielfälle eines Musters, welches durch das Gesetzesprädikat Σ spezifiziert wird, sind – also Exemplare im Sinne der Buchhändler. In der Gesetzesaussage „Alle Wasserstoffatome verhalten sich gemäß der (fallen unter die) Schrödinger-Gleichung mit einem Coulomb-Potential“ wird von Wasserstoffatomen behauptet, dass sie ein bestimmtes Verhalten exemplifizieren, dass sie konkrete Anwendungsfälle eines Musters bzw. Prädikats sind. Ein großer Teil der Literatur zum Gesetzesbegriff des 20. Jahrhunderts hat Naturgesetze mit externen Generalsierungen der Form „Alle Raben sind schwarz“ identifiziert. Carnap schreibt beispielsweise: Unsere alltäglichen Beobachtungen wie auch die systematischeren Beobach­ tungen der Wissenschaftler führen uns zu gewissen Wiederholungen und Regelmäßigkeiten in der Welt. Dem Tag folgt stets die Nacht; die Jahreszeiten wiederholen sich in der gleichen Ordnung; Feuer fühlt sich immer heiß an; Gegenstände, die wir los lassen, fallen abwärts; usw. Die Naturgesetze sind nichts anderes als Aussagen, welche diese Regelmäßigkeiten so genau wie möglich ausdrücken.8

Naturgesetzaussagen sind hier als Generalisierungen über Beispielsfälle konzipiert und erschöpfen sich darin, konkrete Einzelfälle zusammenzufassen. Dies ist auch bei den heute noch vorherrschenden Naturgesetzkonzeptionen 8 Carnap, Philosophie der Naturwissenschaft, S. 11.

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der Fall, die an David Lewis anschließen. Naturgesetzaussagen werden hier als Generalisierungen aufgefasst, die die konkreten Einzelfälle, die unter sie fallen, auf besonders geschickte Weise zusammenfassen.9 Für ein Verständnis einiger Bereiche der wissenschaftlichen Praxis mag eine solche Analyse von Naturgesetzaussagen ausreichend sein. Ich werde hier aber für die These argumentieren, dass manche Arten von Erklärungen und der Umstand, dass Naturgesetze eine Rolle bei der Manipulation von Systemen spielen, sich auf der Grundlage der Auffassung, Naturgesetzaussagen seien wesentlich externe Generalisierungen, nicht verstehen lassen. Vielmehr ist es notwendig, die Rolle interner Generalisierungen und damit – wie gleich gezeigt wird – die Rolle des Exemplarischen im Sinne eines abstrakten Musters oder Modells genauer zu untersuchen. Das Gesetzesprädikat Σ umfasst typischerweise erstens eine Reihe physikalischer Größen, von denen manche variabel und andere konstant sind. Diese stehen zweitens zueinander in bestimmten Beziehungen, die durch mathematische Gleichungen repräsentiert werden. Drittens können die Variablen bestimmte Werte annehmen, und die internen Generalisierungen zeigen an, dass die Gleichungen für alle Werte oder für einen eingeschränkten Bereich von Variablenwerten gelten. Auf diese Weise wird ein abstraktes System festgelegt oder konstituiert, das als Modell für konkrete physikalische Systeme dienen kann. Im Fall des Galileischen Fallgesetzes haben wir die sich ändernden Größen Strecke s und Zeit t sowie eine Konstante g. Diese Größen stehen untereinander in einer Beziehung, die durch die Gleichung s = ½ gt2 zum Ausdruck gebracht wird. Schließlich drücken die internen Generalsierungen über die Werte, z. B. für die Variable s, aus, dass diese Gleichung für alle Werte von s oder nur in „Erdnähe“, also einem eingeschränkten Bereich von Variablenwerten gelten soll. Damit haben wir das abstrakte Modell eines fallenden Körpers beschrieben. Die externe Generalisierung der Naturgesetzaussage hat nun zum Inhalt, dass das Verhalten einer bestimmten Klasse realer Systeme (Steine, Bleistifte oder was auch immer sonst zu Boden fällt) sich durch das Modell charakterisieren lässt. Wir haben hier also ein Verhältnis vorliegen, das demjenigen zwischen den Exemplarbegriffen der Buchsetzer und der Buchhändler entspricht. Auf der einen Seite die konkreten Systeme, die einem Muster genügen (der Begriff des Exemplarischen im Sinne der Buchhändler), auf der anderen Seite das Muster selbst. Allerdings ist das Exemplar, Muster oder Modell hier, anders als im Falle der Buchsetzer, kein konkreter Gegenstand, sondern in zweierlei Hinsicht 9 Verschiedene Konzeptionen unterscheiden sich darin, was unter „geschickt“ zu verstehen ist. Eine genauere Darstellung findet sich bei Jaag, Schrenk, Naturgesetze, Kapitel 2.2.

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abstrakt: Erstens handelt es sich nicht um einen raumzeitlich lokalisierbaren Gegenstand, und zweitens ist das Modell nicht vollständig bestimmt. Es lässt z. B. offen, welche Farbe und Form der fallende Gegenstand besitzt. Das Modell ist also im Blick auf die realen Gegenstände, die darunter subsumiert werden, idealisierend, indem einige Merkmale gar nicht berücksichtigt und andere vereinfacht werden (der fallende Körper als Punktteilchen).10 Fassen wir zusammen: Zwei Begriffe des Exemplarischen sind bedeutsam für ein Verständnis dessen, was mit Naturgesetzen ausgesagt wird. Das Gesetzesprädikat beschreibt ein Exemplar im Sinne eines abstrakten Modells oder Musters, unter das konkrete physikalische Systeme als Exemplare im Sinne von Anwendungsfällen subsumiert werden. 4.

Modalität und die Praxis der Wissenschaften

In den Diskussionen über Naturgesetze im 20. Jahrhundert wurden Naturgesetze oft lediglich im Blick darauf betrachtet, dass in ihnen auf geschickte Weise Anwendungsfälle zusammengefasst werden. Damit gerät ein zentraler Aspekt dessen, was Naturgesetze aussagen, aus den Blick. Erst ein genauer Blick auf das Gesetzesprädikat, und damit auf das Exemplar oder Modell, das durch das Prädikat festgelegt wird, zeigt nämlich die modale Dimension des Inhalts von Naturgesetzaussagen (die ihrerseits zentral für ein Verständnis mancher Bereiche der Praxis der Wissenschaften ist), wie ich im Folgenden ausführen möchte. In diesem Abschnitt werde ich zeigen, dass die Untersuchung des Exemplarischen im Sinne eines abstrakten Musters oder Modells eine reiche modale Struktur entdecken lässt, die die Charakterisierung des Verhaltens von Systemen bestimmt. Insbesondere werde ich die folgenden Behauptungen aufstellen: 1) 2) 3)

10

Gesetzesaussagen schreiben Systemen einen Raum von möglichen Zuständen zu. Gesetze schränken die zeitliche Entwicklung von Systemen aufgrund von Gesetzesgleichungen ein. Diese modalen Dimensionen sind für das Verständnis der Praxis der Wissenschaften, insbesondere dafür, dass Naturgesetze eine wichtige Rolle bei Manipulationen und Erklärungen spielen, zentral. Zur Rolle von Idealisierungen siehe Hüttemann, Idealisierungen und das Ziel der Physik.

Das Exemplarische und der Naturgesetzbegriff

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Möglichkeitsraum Um die Rolle von internen Verallgemeinerungen in der wissenschaftlichen Praxis zu verstehen, müssen wir zwei Merkmale unterscheiden. Erstens quantifizieren interne Verallgemeinerungen über einen Bereich von Werten für Variablen, die als mögliche Anfangs- oder Randbedingungen dienen. Zweitens enthalten interne Verallgemeinerungen typischerweise eine Gesetzesgleichung. Die Gesetzesgleichung schränkt die Werte für die Variablen des Systems oder die Werte für Variablen, die die zeitliche Entwicklung der Zustände des Systems charakterisieren, ein oder bestimmt sie. Auf die Gesetzesgleichung werde ich weiter unten eingehen. Gesetze weisen Systemen durch interne Verallgemeinerungen einen Raum von möglichen Zuständen zu. Bei dynamischen Gesetzen geht man davon aus, dass die Systeme eine Menge von möglichen Anfangszuständen haben. In Bezug auf diese Zustände können wir zwei Fälle unterscheiden. Entweder umfasst der Bereich der Quantifizierung alle möglichen Zustände der betrachteten Systeme (z. B.  im  Fall von Newtons zweitem Gesetz oder der Schrödinger-Gleichung) oder, wie es bei eingeschränkteren Gesetzen der Fall ist, umfasst der Bereich der Quantifizierung nur einen eingeschränkten Bereich von Zuständen. Das Hooke’sche Gesetz gilt z. B. nur für einen begrenzten Bereich von Dehnungen von Federn. Wesentlich für unsere Untersuchung ist die Tatsache, dass wir es in beiden Fällen mit einer modalen Zuschreibung zu tun haben, denn es sind nicht nur aktuale Zustände oder das aktuale Verhalten, mit denen sich die internen Verallgemeinerungen beschäftigen. Tatsächlich sagt uns die interne Verallgemeinerung für sich genommen nicht einmal, welcher Zustand des Systems der tatsächliche (aktuale) Zustand ist. Die interne Verallgemeinerung befasst sich nur mit dem möglichen Verhalten (ob tatsächlich oder nicht tatsächlich). Die Tatsache, dass interne Verallgemeinerungen mit einem Wertebereich für Variablen einhergehen, erfordert also die Annahme, dass Gesetzesaussagen Systemen einen Raum von möglichen (und sich gegenseitig ausschließenden) Zuständen zuschreiben. Viele Naturgesetze – insbesondere die dynamischen Gesetze fundamentaler physikalischer Theorien – lassen eine große Bandbreite von Anfangsbedingungen zu. Die Tatsache, dass Gesetze mit einer Reihe von möglichen Zuständen einhergehen, ist wesentlich für die Rolle, die Naturgesetze in der wissenschaftlichen Praxis spielen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Ein Fall ist die Anwendung von Gesetzesaussagen in technischen Kontexten. Nehmen wir an, eine Ingenieurin erwägt verschiedene Möglichkeiten, eine Brücke zu bauen. Konkret wird sie verschiedene Modelle für die Brücke in Betracht ziehen: Sie wird ein Szenario S1 in Betracht ziehen, bei dem

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die Brücke mit Materialien M1 gebaut wird, und ein Szenario S2, bei dem die Brücke mit Materialien M2 gebaut wird. Zunächst wird die Ingenieurin feststellen, was gemäß z. B. der Newtonschen Mechanik der Fall wäre, wenn die Brücken gebaut würden. Außerdem wird sie feststellen, was in diesen Modellen passieren würde, wenn bestimmte Parameter variiert würden: Ob die hypothetische Brücke stabil bliebe, wenn der Verkehr von einer bestimmten Art wäre, wenn sich die Wetterbedingungen ändern würden und so weiter. Ein Wissenschaftler oder eine Ingenieurin interessiert sich also nicht nur für das, was tatsächlich der Fall ist, sondern auch für das, was nicht der Fall, aber (nomologisch) möglich ist. Allgemeiner kann man sagen, es ist für Entscheidungsfindungen konstitutiv, dass verschiedene Szenarien oder Abläufe miteinander verglichen werden. Wir stützen uns auf Naturgesetze, um zu erforschen, wie sich verschiedene Situationen entwickeln würden. Gesetze können diese Rolle nur deshalb spielen, weil sie mit einer Reihe von (möglichen) Ausgangsbedingungen einhergehen. Beschränkungen Im Vorangehenden habe ich dafür argumentiert, dass Gesetzesaussagen Systemen einen Raum von Möglichkeiten zuschreiben, und zwar aufgrund der Tatsache, dass interne Verallgemeinerungen über einen Bereich von Werten für Variablen quantifizieren, die sich gegenseitig ausschließende mögliche Zustände eines Systems darstellen. Ich möchte mich nun einem zweiten Aspekt des Exemplarischen im Sinne eines abstrakten Musters oder Modells zuwenden, der für die Untersuchung der modalen Struktur relevant ist, nämlich der Gesetzesgleichung. Gesetzesgleichungen schränken den Raum des möglichen Verhaltens von Systemen ein, indem sie Beziehungen zwischen Variablen aufstellen. Diese Einschränkungen können entweder die synchrone Ko-Possibilität von Werten von Variablen betreffen, die den Zustand eines Systems charakterisieren – wie im Fall des idealen Gasgesetzes – oder die zeitliche Entwicklung der Zustände eines Systems – wie im Fall der Schrödinger-Gleichung. Im Falle eines synchronen Gesetzes (Koexistenzgesetz), wie z. B. dem idealen Gasgesetz, ist die Menge der möglichen Werte für die Variablen p, V und T auf diejenigen beschränkt, die die Gleichung pV = νRT erfüllen. Somit sind die möglichen Zustände des Gases auf eine zweidimensionale Hyperfläche des dreidimensionalen Raums beschränkt, die durch die Variablen p, V und T erzeugt wird. Die Gesetzesgleichung gibt nicht nur Auskunft darüber, wie der tatsächliche Zustand eines Systems (falls bekannt) beschränkt ist.

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Sie sagt uns auch, wie alle möglichen Zustände des Systems eingeschränkt sind, unabhängig davon, ob diese tatsächlich realisiert sind oder nicht. Dass die Systeme eingeschränkt sind, bedeutet, dass die Zustände, die nicht auf der Hyperfläche liegen, für das System nicht zugänglich sind. Sie werden als Zustände eingestuft, die das System angesichts der Gesetzesgleichung unmöglich einnehmen kann, d. h. als nomologisch unmögliche Zustände. Der Bereich möglicher Zustände wird durch die Gesetzesgleichung also wieder eingeschränkt. Die Tatsache, dass das Gas die Gleichung des Gasgesetzes erfüllt, erlaubt es einer Wissenschaftlerin, die in der Lage ist, Druck und Volumen zu manipulieren, sicherzustellen, dass das Gas eine bestimmte Temperatur hat. In ähnlicher Weise könnte ein Ingenieur bestimmte Situationen verhindern wollen, z. B., dass ein Gas eine bestimmte Temperatur erreicht. In solchen Fällen wird er sich auf die Tatsache verlassen, dass das Gesetz besagt, dass bestimmte Kombinationen von Druck, Volumen und Temperatur nicht auftreten können; indem wir Druck und Volumen entsprechend einstellen, können wir sicherstellen, dass ein bestimmter Temperaturwert nicht eintreten wird. Das Gleiche gilt für Gesetzesgleichungen, die die zeitliche Entwicklung eines Zustands eines Systems beschreiben. Sofern wir das betrachtete System in einem bestimmten Zustand vorbereiten und sofern die betreffende Glei­ chung deterministisch ist, können wir sicherstellen, dass sich das System zu einem späteren Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand befindet, und wir können auch verhindern, dass sich das System in bestimmten anderen Zuständen befindet. Informationen darüber, was möglich ist und was nicht, werden benötigt, um zu wissen, wie man ein System so manipulieren kann, dass es einen bestimmten Zustand einnimmt oder nicht einnimmt, z. B. um sicherzustellen, dass eine Brücke bei dem erwarteten Verkehrsaufkommen nicht zusammenbricht. Im Falle der Verhinderung geht es nicht nur darum, dass bei bestimmten Kombinationen von, sagen wir, Druck und Volumen, bestimmte Werte für T einfach nicht auftreten. Es gibt einen Sinn, in dem diese Werte nicht auftreten können. Der Gebrauch, den Wissenschaftler und Ingenieure von internen Verallgemeinerungen in der wissenschaftlichen Praxis machen, ist am besten zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass interne Verallgemeinerungen modale, d. h. nomologisch notwendige Beziehungen formulieren. (Wie sich diese Beziehungen metaphysisch ausbuchstabieren lassen, ob sie beispielsweise auf nicht-modale Sachverhalte reduzierbar sind, ist eine Frage, die im Rahmen dieses Textes nicht behandelt wird.)

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Erklärungen In den vorangegangenen Abschnitten habe ich erläutert, wie die modalen Dimensionen, die mit dem Exemplarischen als abstraktem Muster oder Modell verknüpft sind, es erlauben zu verstehen, welche Rolle Naturgesetze bei Manipulationen spielen, zu denen man sich durch den Vergleich verschiedener Szenarien oder Abläufe entschließt. Ich möchte nun noch auf einen weiteren Aspekt der Wissenschaftspraxis eingehen – die Praxis des Erklärens. Erklärungen haben sicherlich manchmal die Form, die das deduktivnomologische Erklärungsmodell ihnen zuschreibt: Warum verhält sich ein System (näherungsweise) so-und-so? Weil es (näherungsweise) ein ideales Gas ist. Die Erklärung geschieht hier durch Subsumption unter das allgemeine Gesetz, dass sich alle idealen Gase so-und-so verhalten. Gemäß dem deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell besteht eine Erklärung darin, dass ein System und sein Verhalten als Anwendungsfall und in diesem Sinne als Exemplar oder Anwendungsfall des Gesetzes ausgewiesen werden. Aber nicht alle Erklärungen lassen sich auf diese Weise verständlich machen. Woodward und Hitchcock haben darauf aufmerksam gemacht, dass manche Erklärungen nicht allein deshalb erklärend sind, weil sie auf etwas hinweisen, was tatsächlich der Fall ist (dass ein Systemverhalten ein Anwendungsfall eines Gesetzes ist), sondern weil sie darüber hinaus modale Informationen liefern. Nach ihrer Darstellung können wir erklären, warum ein Gas G eine bestimmte Temperatur T0 hat, indem wir zeigen, wie die Temperatur T von dem Druck p des Gases und seinem Volumen  V abhängt, d. h. wie sich die Temperatur T ändern würde, wenn sich die Anfangs- und Randbedingungen auf verschiedene Weise ändern würden.11 Nach Woodward und Hitchcock setzen Erklärungen nicht nur Informationen über das, was tatsächlich der Fall ist (dass etwas als Anwendungsfall unter ein Gesetz fällt), sondern auch über das nomologisch mögliche, aber nicht-aktuale Verhalten von Systemen voraus. Dieses mögliche, aber nicht-aktuale Verhalten wird durch die Gesetzesgleichung und den Bereich der Quantifizierung der internen Verallgemeinerung charakterisiert. Erklärungen, die Abhängigkeitsverhältnisse beschreiben, stützen sich auf nicht-aktuale, aber nomologisch mögliche Zustände des Gases und damit auf die modale Struktur, die die Gesetzesaussagen den Systemen mittels der abstrakten Muster oder Modelle zuschreiben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Exemplarische im Sinne eines abstrakten Musters oder Modells manches unbestimmt lässt. Dies gilt nicht nur, weil das Exemplarische in diesem Sinne von manchen Zügen 11

Hitchcock, Woodward, Explanatory Generalizations, S. 4.

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der Wirklichkeit ganz absieht (z. B.  der  Farbe des Fadenpendels), sondern auch, weil es mit Variablen operiert, deren Werte nicht festgelegt sind. Das Exemplarische charakterisiert so eine Vielzahl möglicher Systeme, die sich in unterschiedlichen Zuständen befinden können. Auf diese Weise eröffnet das Exemplarische einen Raum von Möglichkeiten, der aber durch die Gesetzesgleichungen eingeschränkt wird. Die Untersuchung des Exemplarischen im Sinne eines abstrakten Musters oder Modells erlaubt einem diese modale Dimension dessen, was Naturgesetze aussagen, zu entdecken, und auf dieser Grundlage manche Bereiche der Wissenschaftspraxis zu verstehen. 5.

Exemplar, Modell, Paradigma

Abschließend noch einige kurze Bemerkungen über den Zusammenhang der Begriffe ‚Exemplar‘, ‚Modell‘ und ‚Paradigma‘: Anfangs mag es etwas überraschen, dass im Falle des Verlagswesens sowohl das Muster als auch das, was dem Muster genügt, ‚Exemplar‘ genannt wird. Man hat allerdings im Falle des Modellbegriffs eine ganz ähnliche Konstellation. Auf der einen Seite gibt es den Begriff des (idealisierenden) Modells, den ich in den vorangegangenen Abschnitten verwendet habe. Tatsächliche Systeme können als Anwendungsfälle unter ein bestimmtes idealisierendes Modell, das gewissermaßen eine vereinfachende Theorie liefert, fallen. Solche Anwendungsfälle können aber selbst wiederum als Modell verstanden werden – im Sinne des Modellbegriffs, wie er in der Semantik üblich ist. Um zu klären, mit welcher Art von Modellbegriff wir es zu tun haben, ist es hilfreich zu fragen, wofür oder in welcher Hinsicht etwas ein Modell ist. Ein idealisierendes Modell ist ein Modell für eine Reihe realer physikalischer Systeme, während die Beschreibung eines solchen Anwendungsfalls als Interpretation einer Theorie (eines idealisierenden Modells) aufgefasst werden kann, so dass die (vereinfachende) Theorie in Bezug auf die Interpretation wahr ist. Der Anwendungsfall gibt uns deshalb ein semantisches Modell. Auch das Exemplarische ist immer exemplarisch in bestimmter Hinsicht. Das Exemplar im Sinne der Buchhändler ist ein Beispiel oder Anwendungsfall eines Musters. Das Exemplarische im Sinne des Musters wiederum ist exemplarisch in Bezug auf die tatsächlichen und möglichen Anwendungsfälle. Nun gibt es neben dem semantischen und dem idealisierenden Modellbegriff noch mindestens einen weiteren, den analogischen Modellbegriff. Analogische Modelle sind Modelle für andere Phänomenbereiche. Die Hydrodynamik war z. B. im 19. Jahrhundert ein Modell für die Elektrodynamik: Das Fließen des Stromes wurde analog zum Fließen des Wassers konzipiert. Bei einem solchen

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Modell sind zwei unterschiedliche Forschungsbereiche gegeben. Einer von beiden ist gut verstanden und wohl etabliert (z. B.  die  Hydrodynamik), in dem anderen hat man zwar einige Gleichungen aufgestellt, sucht aber noch nach Erklärungen. Der erste Bereich ist für den zweiten ein Modell, wenn die Beziehungen des zweiten auf die des ersten abgebildet werden können. Die Beschreibungen, die in beiden Gebieten oder bezüglich der jeweiligen physikalischen Systeme verwandt werden, sind analog. An diesen analogischen Modellbegriff knüpft Kuhn mit seinen Überlegungen zu einer Bedeutungsfacette des Paradigmabegriffs an: Paradigmata werden als Musterbeispiele (im Englischen: „exemplar“) verstanden. Ein Musterbeispiel erlaubt einem, Situationen oder Probleme als analog oder ähnlich zu klassifizieren.12 Musterbeispiele (Exemplare) im Sinne Kuhns sind in den meisten Fällen das, was auch wir als exemplarisch beschrieben haben: abstrakte Muster oder Modelle. Allerdings ging es im vorliegenden Text darum, dass ein abstraktes Muster oder Modell, das durch die Gleichung im Fallgesetz oder im idealen Gasgesetz spezifiziert wird, ein Muster oder Modell für reale physikalische Systeme ist, während es bei den Musterbeispielen (Exemplaren) im Sinne Kuhns darum geht, dass die Beschreibung von Systemen in einem Phänomenbereich (z. B.  der  Hydrodynamik) ein Muster oder Modell und in diesem Sinne exemplarisch für die Beschreibung von Systemen in einem anderen Phänomenbereich (z. B. der Elektrodynamik) sein kann. Während im vorliegenden Text (wenn es nicht um das Exemplarische im Sinne eines Anwendungsfalls ging) das Exemplarische als ein abstraktes Modell oder Muster für reale (oder mögliche) physikalische Systeme und ihr Verhalten gedacht war, betrifft Kuhns Musterbeispiel das Verhältnis zweier (oder mehrerer) abstrakter Modelle oder Muster. Ein Modell ist demnach ein Musterbeispiel (Exemplar im Sinne Kuhns) für ein anderes Modell.

Literatur

Adelung, J. C.: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, http:// www.zeno.org/Adelung-1793/A/Exempl%C4%81r,+das (abgerufen am 26.05.2021), 1793–1801. Carnap, R.: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft. Frankfurt a. M., Berlin 1986. Hüttemann, A.: Idealisierungen und das Ziel der Physik, Berlin 1997. 12

Vgl. dazu den Beitrag von Michael Esfeld in diesem Band, sowie Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 199–203.

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Hüttemann, A.: A Minimal Metaphysics for Scientific Practice, Cambridge 2021. Jaag, S., Schrenk, M.: Naturgesetze, Berlin 2020. Kuhn, T.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1976. Scheibe, E.: Predication and Physical Law. In: Topoi 10, 1991, S. 3–12. Van Fraassen, B.: Laws and Symmetry, Oxford 1989. Woodward, J., Hitchcock, J.: Explanatory Generalizations, Part  I, A Counterfactual Account. In: Nous 37, 2003, S. 1–24.

Warum ist Eis kein Wasser auf der Zwillingserde? Zu den paradigmatischen Beispielen bei Kuhn Felice Masi In den letzten dreißig Jahren hat die Erforschung von Begriffen, Konzeptionen und deren Unterschieden an Bedeutung gewonnen.1 Dieser Bereich ist disziplinenübergreifend, denn er beinhaltet Diskussionen der Logik (über die Definition von Begriffen), der Philosophie des Geistes (über die Analyse von Begriffsbildungsprozessen) und der Erkenntnistheorie (über die Untersuchung der Bildung und Veränderung von Begriffssystemen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen stammen die besten Analysen des Begriffs ‚Beispiel‘ aus diesem Foschungsbereich. Aus der Perspektive der von Goodman inspirierten Definition des Beispiels scheinen allerdings die Theorien, die in diesem Bereich aufgestellt wurden, insofern mangelhaft, als sie Beispiele weder als Instanziierung von Eigenschaften noch als Referenten verstehen. Laut Goodman2 ist Exemplifikation nämlich „possession plus reference“: Ein rotes Stoffstück exemplifiziert das Rotsein, weil es die Eigenschaft hat (possession), rot zu sein, und kann sich daher auf das allgemeine Prädikat ‚ist rot‘ beziehen (reference). Das Stoffstück exemplifiziert daher das Prädikat ‚ist rot‘ nur, insofern dieses Prädikat allen Individuen zugeschrieben werden kann, die die Eigenschaft ‚rot zu sein‘ ebenso besitzen wie das Stoffstück. Exemplifikation (E) ist daher eine Relation (R) zwischen einem Muster (s) und dem, worauf es sich bezieht (das Prädikat p) – unter der Voraussetzung, dass das Muster die Eigenschaft (P) besitzt. Schematisch: sRp . sP Das Beispiel ist mit anderen Worten ein singulärer Terminus, der ein refe­ren­ tielles Verhalten sui generis hat: Er bezieht sich auf ein allgemeines Prädikat, weil er die Eigenschaft besitzt, die dieses Prädikat ausdrückt. Diese Definition E

1 Üblicherweise lässt man den Zeitraum von dreißig Jahren, auf den ich mich beziehe, mit J.  Fodors  Veröffentlichung Concepts: Where Cognitive Science Went Wrong im Jahr 1998 beginnen. Dabei handelt es sich zwar nicht um das Werk, in dem ‚Begriff‘ und ‚Konzeption‘ zum ersten Mal diskutiert werden. Dennoch bahnt geraden dieses Werk eine Reihe von Studien an, in denen sich die einschlägigen Disziplinen (Logik, Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes) intensiv mit dieser Unterscheidung auseinandersetzen. 2 Goodman, The Languages of Art, S. 53.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_012

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setzt kein Ähnlichkeitsverhältnis voraus, nach dem das Prädikat eine Ähnlichkeitsklasse wäre und die singulären Termini (d. h. die Beispiele) ihre Elemente wären. Auf diese Weise nimmt Goodman von der Tradition Abstand, die das Beispiel und die Exemplifizierung nach dem Kriterium der Ähnlichkeit definiert, und behauptet stattdessen, dass Beispiele die Fähigkeit der Referenz haben. Nach traditionellem Verständnis exemplifiziert etwas eine Klasse, indem es Ähnlichkeiten zu anderen Individuen, die dieser Klasse angehören, aufweist. Diese Auffassung führt aber zu logischen Fehlschlüssen, die Goodman zurecht kritisiert.3 Denn wie lässt sich auf eine nicht willkürliche Weise feststellen, in welcher Hinsicht Individuen ähnlich sind? Und lässt sich der minimale Grad der Ähnlichkeit bestimmen, um mit Recht zwei oder mehr Individuen als ähnlich zu betrachten? Goodmans eigene Bestimmung der Exemplifizierung ist allerdings ihrerseits hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit eingeschränkt: Sie gilt nämlich nur, wenn das, was exemplifiziert wird, allgemeine oder abstrakte Prädikate sind. Ferner gilt sie nur, wenn das Allgemeine aktuell vereinzelt ist und angezeigt werden kann. Das bedeutet nicht, dass das Individuum, das als Beispiel dient, etwas Wahrnehmares oder Vorstellbares sein muss. In Übereinstimmung mit dem Kalkül der Individuen und mit seinem Nominalismus löst Goodman das Problem der Allgemeinheit, indem er Allgemeinheit in etwas verankert, das eine Instanz (eines Merkmals) ist und einen Bezug (zu einem Prädikat) hat. Was passiert aber, wenn man nicht am Leitfaden eines Stoffstücks den Begriff des Beispiels definiert, sondern sich an Kuhns „erfolgreichen Beispielen“ orientert oder an Beispielen, die von einer wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilt werden? Oder wenn man die Funktion des Beispiels anhand der Frage zu bestimmen versucht, die die Philosophie seit dem berühmten Dreieck Lockes quält? Damit ist nicht die Frage gemeint, was die Idee eines Dreiecks ist, sondern welche Funktion jedes einzelne Dreieck, das als Beispiel für das allgemeine Dreieck verwendet wird, hat (wenn es überhaupt eine Funktion hat). Kurzum: Wie lässt sich die Funktion der Exemplifizierung bestimmen, wenn man nicht etwa aus einem roten Stoffstücks als Exemplifikation für den roten Stoff ausgeht, sondern etwa von Phänomenen wie dem freien Fall oder einem einfachen Pendel als Beispielen für das zweite Gesetz der Dynamik ausgeht? Oder wie lässt sich die Exemplifizierung verstehen, wenn wir sagen: „Gegeben sei ein beliebiges Dreieck ABC“, ohne das Dreieck an die Tafel zu zeichnen? In allen diesen Fällen entsprechen die Beispiele nicht der oben erwähnten Regel. 3 Goodman, Seven Strictures on Similarity.

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Die Beschleunigung eines Gewichts hat weder einen Referenzbezug zum Gesetz der Dynamik noch hat sie Eigenschaften dieses Gesetztes selbst. Und ein beliebiges Dreieck könnte nicht nur nicht vorhanden sein, sondern gibt es eigentlich nicht. Natürlich könnte man einwenden, dass dies keine echten Beispiele sind. Und selbst wenn sie es wären, würden sie nur einem sehr eingeschränkten Kontext, dem wissenschaftlichen, zugehören. Kurz gesagt: Kein Dreieck ist ein Beispiel für das Dreieck so wie ein Stück Stoff ein Beispiel für Rot ist; und kein Apfel, der vom Baum fällt, exemplifiziert die Gleichung f=ma. Aber eine leere Glühbirne ist ein Beispiel für die Glühbirne, die man als Ersatz kaufen muss. Ich bin überzeugt, dass dieser Einwand voreilig ist, und ein Großteil dieses Aufsatzes ist der Darlegung der wichtigsten Gründe für diese Überzeugung gewidmet. Um die folgende Erörterung zu fokussieren, möchte ich schon jetzt eine zentrale Frage erörtern, die meines Erachtens nur beantwortet werden kann, wenn der freie Fall eines Gewichts, die Bewegung eines Pendels oder ein beliebiges Dreieck als echte Beispiele betrachtet werden. Dies lässt sich im Zusammenhang mit den Bedingungen des Gedankenexperiments der Zwillingserde erläutern, das gerade wegen der darin enthaltenen Implikationen bezüglich der Referenzfähigkeit des Beispiels eine hitzige Konfrontation zwischen Kuhn und Putnam provoziert hat. Angenommen, man bittet zwei Menschen, ein Beispiel für Wasser zu geben. Was ist der Unterschied in den Antworten, wenn einer den Wasserhahn öffnet und der andere einen Eiswürfel holt? Die Frage ist dabei nicht, ob das eine ein Beispiel ist und das andere nicht, sondern worin der Unterschied zwischen den beiden Antworten besteht und ob es Umstände gibt, unter denen die eine Antwort der anderen vorzuziehen ist. Wenn wir aber zunächst bei Goodmans Definition der Exemplifikation bleiben, so hat diese den Vorteil, dass sie sich mit Wittgensteins Auffassung der Familienähnlichkeit, mit der Rolle des Hinweises und insofern mit dem Verhältnis von Beispiel, Begriff und Allgemeinheit kritisch befasst. Goodman bezieht sich dabei auf eine Interpretation von Wittgenstein, die, wenn auch in vielen Hinsichten fragwürdig, dennoch im Zentrum der begriffstheoretischen Tradition steht, und zwar sowohl auf der logisch-epistemologischen als auch auf der geistesphilosophischen Seite. Dies bestätigt – wie wir sehen werden – sowohl die Rezeption Kuhns als auch die von Rosch oder Smith-Medin. Danach ist Wittgeinsteins Anspruch, den Begriff von ‚Begriff‘ zu rechtfertigen, auch wenn Begriffe nicht endgültig abgeschlossen sind, d. h. auch wenn die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Legitimität ihrer Verwendung nicht klar sind. Dazu braucht man nur ein Beispiel, das man zeigen kann und das ein Halo von Ähnlichkeiten ausstrahlt. Auf die Frage, was ein Spiel ist,

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kann man weder mit einer Definition antworten noch mit der Aufzhälung aller Merkmale aller Spiele. Man kann nur ein Beispiel (etwa das Schachspiel) nehmen, es mit anderen (Fußball, Verstecken usw.) vergleichen und auf die Ähnlichkeiten hinweisen.4 Goodman vermeidet das Hauptproblem der Definition des Beispiels, die auf das Kriterium der Ähnlichkeit zurückgeht, und somit ist sein Ansatz von den logical hanky-panky befreit.5 Gleichzeitig nimmt er von der allgemeinen Auffassung (die auch von Wittgenstein vertreten wird) Abstand, nach der das Beispielgeben eine Form des Zeigens ist. Nur wenn es keine Referenz gibt, auf die man verweisen kann, oder keine Eigenschaft, die instanziiert ist, gibt es kein Beispiel.6 Schon Elgin betont, dass Goodmans Begriff der Exemplifizierung nicht die Beispiele erfasst, die durch eine Konvention gebildet werden. Denn in diesen Fällen gilt die Bestimmung der „instantiation as well as reference“ nicht.7 Aber dasselbe gilt auch für alle imaginären oder kontrafaktischen Beispiele8 4 Einige Jahre davor hat Erdmann (Theorie der Typeneinteilungen, S.  15–49, 159–191) einen Vorschlag gemacht, der in eine ähnliche Richtung weist. Erdman übernimmt den Begriff ‚Typus‘ aus der Biologie und argumentiert, dass es unmöglich ist, die Bedeutung bestimmter Wörter (z. B. der Bezeichnungen von Farben) festzulegen, ohne sie einem Typus zuzuordnen, wie z. B. wenn wir für ein bestimmtes Rot ‚Zinoberrot‘ oder ‚Karminrot‘ sagen. In jedem Fall ist der verwendete Typus nichts anderes als ein Beispiel, ein individuelles Objekt, das leicht zu erkennen ist und dennoch auf anomale Weise verwendet wird, um die (im Übrigen vage) Besonderung eines Allgemeinen zu bezeichnen. Erdmanns Betrachtungen haben anscheinend auch Husserl überzeugt, der seit den Logischen Untersuchungen (Hua  19/1, S. 94 ff.) sich konstant auf Beispiele, Typen und Begriffe bezieht. 5 Goodman, Seven Strictures on Similarity. 6 Der Unterschied zwischen Instanz und Beispiel wurde im Rahmen einer phänomenologischen Theorie des Begriffs von Benoist diskutiert; vgl. Benoist, A Plea For Examples. 7 Elgin, Exemplification, Idealization, and Understanding, S. 81. 8 Beispiele, insbesondere kontrafaktische Beispiele, dürfen nicht mit sogenannten Gedankenexperimenten verwechselt werden. Die Minimalbedeutung für Letztere ist, dass sie auf jeden Fall eine bestimmte Operation beinhalten müssen. Beispiele können die mehr oder weniger implizite Prämisse einer Schlussfolgerung darstellen, wie Aristoteles schon behauptete, etwa, wenn wir sagen: „Wenn Platon [ein Beispiel für einen Mann] weise ist, dann …“, „Wenn Helena [ein Beispiel für eine Frau] schwanger ist, dann …“. Dabei drücken wir nicht jedes Mal aus, dass es sich um Beispiele handelt, sondern verwenden einfach die Subjekte (Namen) als Beispiele. Dies ist jedoch all das, was Beispiele bei Gedankenexperimenten leisten können. Ein völlig anderer Fall ist es, wenn wir an Newtons Eimer, Machs Schiff auf dem Fluss oder den bekannten Einstein-Podolsky-Rosen-Einwand gegen die Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik denken. Selbstverständlich gilt diese Klärung des Unterschieds zwischen Beispiel und Gedankenexperiment, solange man den Begriff ‚Gedankenexperiment‘ unter Kontrolle hält und ihn nicht (wie es ein großer Teil der Literatur inzwischen tut) für jede Art von Argumentation verwendet, die kein Labor benötigt, um ihre Richtigkeit zu beweisen, und die trotzdem oder gerade deshalb zu einer unbezweifelbaren und intuitiven Gewissheit gelangt.

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sowie für Beispiele, die unter ein phänomenales Modell fallen.9 Phänomenale Modelle sind entweder die Teilmenge, die die vorhergesagten Anwendungen einer Theorie umfasst, oder eine Reihe erfolgreicher Messungen bzw. Vorhersagen, für die es jedoch keine Theorie gibt (etwa Maxwells Wirbelmodelle oder eine der Black-Box-Theories).10 Objekte, die solche phänomenalen Modelle konstituieren, können durchaus als Beispiele verwendet werden, obwohl sie keine Referenz haben. Kuhns Perspektive ermöglicht es, diese Art von Beispielen und Veranschaulichungen zu betrachten. Von ihm habe ich die Fälle des freien Falls, des Pendels und des Eises übernommen: Alle gelten als erfolgreiche oder paradigmatische Beispiele. Kuhn scheint mir auch aus den folgenden Gründen einschlägig. Erstens ist er gegenüber Wittgensteins Position kritisch, vor allem in den Schriften nach The Structure of Scientific Revolutions.11 Zweitens setzt er sich mit den Kognitionswissenschaften auseinander, insbesondere mit bestimmten auf Typen basierenden Begriffstheorien. Dabei geling es ihm, auf eigentümliche Weise eine Art von typischen Effekten in der Geschichte der Wissenschaft zu beschreiben.12 Und drittens entwickelt er eine Semantik 9 10 11 12

Elgin, Exemplification, Idealization, and Understanding, S. 83–85; Nersessian, Conceptual Innovations on the Frontiers of Science, S. 471. Bunge, A General Black Box Theory. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions. Seit E. Rosch (On the Internal Structure of Perceptual and Semantic Categories) versteht man unter einem typischen Effekt erstens die hierarchische Bildung von Begriffen in einem gegebenen Vokabular mit einem Zentrum oder Fokus und einer Peripherie. Zweitens versteht man darunter im experimentellen Sinne die Relevanz der Nähe zum Fokus eines Begriffs für die Geschwindigkeit der Antwort einer Versuchsperson (etwa bei der Frage, ob der Begriff zu einer bestimmten Domäne gehört oder nicht, welche Bedeutung ein Begriff hat, was mit dem Begriff assoziiert wird usw.). So wird z.  B.  eine  Schwalbe schneller als Vogel erkannt als ein Pinguin, vorausgesetzt, die Versuchsperson ist kein Bürger von Ushuaia, bei dem das Gegenteil der Fall sein könnte. In Bezug auf diese sehr allgemeine Konzeption gibt es viele Unterschiede zwischen den Typentheoretikern, was die Erklärung dieser Effekte angeht. Wie wir sehen werden, räumen diejenigen, die die Exemplartheorie vertreten, der Unähnlichkeit mehr Gewicht ein als der Ähnlichkeit zwischen den Begriffen und entwickeln hochkomplexe statistische Instrumente, um das sprachliche Verhalten unter besonderen Umständen zu messen, wenn die erforderlichen Begriffe noch nicht vorhanden sind. Alle Typentheoretiker sind allerdings kritikanfällig, wie z. B. die bekannte Kritik Fodors (siehe oben) zeigt. Fodor betonte nämlich, dass Typentheorien nicht als Theorien von Begriffen zu betrachten sind, sondern als Theorien von Vorstellungen, weil ihnen alle wesentlichen Merkmale einer Theorie von Begriffen fehlen, nämlich: 1) sie erklären nicht das absichtliche Handeln, 2) sie erklären nicht das Scheitern des Ersatzprinzips von gleichbedeutenden Begriffen salva veritate, 3) die Begriffe, von denen sie sprechen, sind nicht kompositionell und daher weder produktiv noch systematisch, so dass sie das Problem der Turing-Maschine nicht angehen, d. h. die

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des Beispiels, die eine deutliche Kritik an den Theoretikern der direkten oder kausalen Referenz beinhaltet und das Beispiel in die lexikalischen und nichtreferentiellen Kompetenzen einbezieht.13 Im Folgenden werde ich zunächst Kuhns Konzeption des paradigmatischen Beispiels skizzieren und dabei auf seine anfänglichen Schwächen eingehen. Dann werde ich Sneed-Stegmüllers strukturalistische Version des paradigmatischen Beispiels im Sinne einer beabsichtigten Anwendung oder eines partiellen potentiellen Modells erläutern. Anschließend werde ich Kuhns Konfrontation mit Putnam thematisieren. Dabei soll die Frage diskutiert werden, ob es möglich ist, dass wir, wenn wir ‚Wasser‘ auf der Zwillingerde sagen, auch Eis meinen. Schließlich werde ich einen Vergleich mit der auf Exemplaren basierenden Begriffs- und Konzeptionstheorie anbieten.

I.

Laut Kuhn sind Beispiele, die von der wissenschaftlichen Gemeinschaft einer bestimmten Zeit (oder vom Großteil dieser Gemeinschaft) geteilt werden und die eine wissenschaftliche Theorie prägen paradigmatische Beispiele. Um diese paradigmatischen Beispiele und ihre Funktion für die Wissenschaftstheorie zu beleuchten, führt Kuhn den Begriff der disziplinären Matrix (Dm) ein. Eine disziplinäre Matrix (Dm) besteht aus: (i) symbolischen Verallgemeinerungen (SV) – d. h. den verwendeten Prinzipien, Gesetzen und Formeln; (ii) Modellen (M) – d. h. Anwendungen, Messungen und Vorhersagen; und schließlich (iii) Exemplaren (E) – d. h. dem Teil der Modelle, der besonders erfolgreich ist und als Hauptinterpretation der SV dient.14 Das Hauptproblem dabei besteht in der Darstellung der Funktion des Beispiels durch die wenig erfolgreiche Metapher des Gestaltwechsels, d. h. des Wechsels von einer Wahrnehmungskonfiguration zu einer anderen bei mehrdeutigen Figuren (wie z. B. beim Hase-Entenkopf-Bild, beim Kanizsa-Dreieck oder den Rubin-Bildern).15 Kuhn spricht sogar von einer Computersimulation

13 14 15

Frage, wie ein endliches System von Operationen oder eine endliche Grammatik eine Unendlichkeit von Kombinationen hervorbringen kann, 4) die Begriffe, die sie untersuchen, sind nicht öffentlich, 5) sie haben keine kausale Wirksamkeit, und 6) sie haben weder normative noch semantische Eigenschaften. Vgl. Marconi, Lexical Competence. Kuhn, Second Thoughts on Paradigms. Vgl. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, S. 116 ff.

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der Art und Weise, wie das Vorwissen in die Beispiele einfließt, um herauszufinden, wie sie zwischen den (allen gemeinsamen) Stimuli und den (für jede wissenschaftliche Situation unterschiedlichen) Daten stehen würden.16 Der wichtigste Einwand gegen diese Strategie betrifft die viel diskutierte StimulusOntologie und beruht auf der Beobachtung einer gewissen Inkonsistenz in Kuhns Konzeption wissenschaftlicher Erfahrung.17 Diese Konzeption setzt einerseits die Annahme voraus, dass Reize in jeder Epoche gleich sind, andererseits aber nutzt sie das Instrument des Gestaltwechsels, der im Übergang zwischen zwei Wahrnehmungen (bzw. zwei Wahrnehmungsepochen) stattfindet und nicht durch Reize erklärt werden kann.18 Darüber hinaus ist die Verbindung von Stimulus-Ontologien und theoretischem Holismus für eine erkenntnistheoretische Aporie anfällig: Wenn die Unterscheidung zwischen Konfigurationen oder Interpretationen nur auf der Ebene der sinnlichen Daten oder Wahrnehmungen stattfindet, dann wäre der Stimulus (selbst wenn er indirekt durch ein Experiment zugänglich wäre) immer derselbe. Worauf würde sich aber dann der Gestaltwechsel beziehen? Schließlich wurde darauf hingewiesen, dass die Beschreibung des Gestaltwechsels auf die Erfahrung eines ‚isolierten‘ psychischen Subjekts zurückgeht und dass es unmöglich ist, diese Beschreibung auf eine ganze wissenschaftliche Gemeinschaft zu übertragen. Mit anderen Worten lässt sich der Gestaltwechsel nicht als ein historisierbares, öffentliches oder sprachliches Ereignis betrachten. Laut Neressian war sich Kuhn dieser Probleme bewusst und sah, dass dadurch noch weniger klar ist, wie zwei Theorien inkommensurabel sein können.19 Gerade diese Einsicht überzeugte ihn, eine Strategie zu verfolgen, die sich auf die kategoriale begriffliche Kompetenz und nicht nur auf die Sprache und die Äußerungen stützt.20 So widmete er sich mehr und mehr der Kognitionswissenschaft, insbesondere der Kategorisierung.21

16 17 18 19 20 21

Kuhn, Postscript, S. 173 ff. Hoyningen-Huene, Die Wissenschaftsphilosophie Th. Kuhns, S. 56 ff. Der Hauptfehler, vor dem sich der Gestaltforscher hüten sollte, ist nach Kanizsa gerade die Auffassung des Reizes, die unvergleichbare Objekte wie den Reiz und das Wahrgenommene zusammenbringt. Neressian, Kuhn, Conceptual Change, and Cognitive Science, S. 185. Kuhn, Dubbing and Redubbing, S. 315. In der Begriffslehre wird eine Kategorie als die Erweiterung eines Begriffs verstanden (d. h. im Falle des Begriffs ‚Vogel‘ ist ‚Schwalbe‘ eine Kategorie); die Kategorisierung bezeichnet also den umgekehrten Prozess der Begriffsbildung: Ersterer besteht darin, die Elemente zu erkennen, die zur Erweiterung eines Begriffs gehören, und Letzterer darin, die semantische Einheit des Begriffs oder die Bedingungen seines Besitzes und seiner Verwendung zu bestimmen.

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Aus diesem Grund ist es angebracht Affinitäten und Unterschiede zu einer der typbasierten Konzepttheorien, nämlich der Exemplartheorie, zu betrachten.22 Das Ergebnis von Kuhns Auseinandersetzung mit der Gestaltwechsel-Metapher war eine Verschiebung in der Untersuchung von begrifflichen Schematransformationen. Diese wurden nicht als eine Menge von Überzeugungen verstanden, sondern als „[eine Menge] einer bestimmten Funktionsweise eines mentalen Moduls, die Voraussetzung für das Haben von Überzeugungen ist, einer Funktionsweise, die zugleich die Menge der vorstellbaren Überzeugungen liefert und einschränkt, die man begreifen kann.“23 Wie aber lassen sich erfolgreiche Beispiele durch dieses mentale Modul erklären, angenommen, dass das mentale Modul von einer Gemeinschaft geteilt wird und es ermöglicht, Ähnlichkeiten zwischen anscheinend unterschiedlichen Problemen zu erkennen?24 Ferner ist dieses mentale Modul ein Mechanismus der Begriffsbildung und Kategorisierung, der im Lexikon gespeichert und somit für alle, die ihn teilen, verfügbar ist. Der erste Schritt besteht darin, Beispiele besonders durchlässig zu machen. Das bedeutet, sie auf Basis ihrer Affinität mit den symbolischen Verallgemeinerungen (in Bezug auf ihren automatischen Gebrauch und ihren Abkürzungswert in experimentellen und rechnerischen Routinen) und Modellen (oder vielmehr Teilmodellen, die SV-Interpretationen von Klassen von Phänomenen liefern) zu wählen. Masterman identifiziert bei Kuhn einundzwanzig Bedeutungen von Paradigma.25 Dabei schließt er diejenigen Bedeutungen aus, die zu einer metaphysischen oder metaparadigmatischen und soziologischen Konzeption beitragen, und beschränkt sich auf die Klasse, die das Paradigma bestimmt als „ein Artefakt, das zum Lösen von Rätseln verwendet werden kann.“26 In Anlehnung an ein Gespräch mit Kuhn27, bezeichtet Masterman das Paradigma auch als das, was verwendet wird, wenn es keine Theorie gibt. Die Klasse der Artefakte oder Konstrukt-Paradigmen umfasst Lehrbücher, Analogien, technische und konzeptionelle Hilfsmittel, geeignete Instrumente und Apparate und schließlich das anomale Kartenspiel im Experiment von Bruner und Postman.28 Letztere verwenden den Begriff ‚Paradigma‘ im Titel ihrer Arbeit über die Wahrnehmung von Inkongruenz. In diesem Experiment, das Kuhn als Modell für den Prozess der wissenschaftlichen Entdeckung 22 23 24 25 26 27 28

Vgl. Smith und Medin, Categories and Concepts. Kuhn, Metaphor in Science, S. 94. Kuhn, Second Thoughts on Paradigms, S. 306. Vgl. Mastermann, The Nature of Paradigm. Masterman, The Nature of Paradigm, S. 59. Baltas, Gavroglu und Kindi, A Discussion with Th. Kuhn, S. 300. Bruner und Postman, On the Perception of Incongruity.

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betrachtete, wurde nachgewiesen, dass die Entdeckung von Anomalien in einigen der Spielkarten, die von den Versuchspersonen beobachtet wurden, nur in wenigen Fällen und selbst bei verlängerter Beobachtungszeit nur mit großem Zögern erfolgte. Bruner-Postman wollte zeigen, dass es sich bei der Wahrnehmung immer um eingestellte Organismen handelt, d. h. nicht um indifferente oder anoetische.29 Bei jeder psychischen Leistung werden die für die aktuellen Bedürfnisse und Erwartungen relevanten Wahrnehmungen maximiert, während die feindlichen oder irrelevanten minimiert werden. Auf diese Weise zeigt sich, wie der erste typische Effekt des paradigmatischen oder exemplarischen Beispiels darin besteht, als epistemologisches Hindernis zu fungieren.30 Und zwar aufgrund seiner Eigenschaften der Undeformierbarkeit, des Mangels an Allgemeinheit und der zugrundeliegenden Logik der Analogie.31 Zwei der bekanntesten Beispiele bei Kuhn sind (i) der Prozess des Lernens des zweiten Gesetzes der Mechanik und (ii) die Anweisungen, die ein Kind, Johnny, von seinem Vater erhält, um zwischen Schwänen, Gänsen und Enten zu unterscheiden.32 Im ersten Fall ist f=ma eine symbolische Generalisierung oder der Entwurf einer solchen Generalisierung, deren symbolische Interpretation sich je nach Anwendung ändert. Das Verständnis des Gesetzes und der Begriffe, die darin in einer bestimmten Beziehung erscheinen, kann sich nicht allein aus einer syntaktischen Umwandlung ergeben. Noch kann es aus Korrespondenzregeln stammen, die durch opeationale Definitionen und notwendige und hinreichende Bedingungen vorgegeben sind. Damit ein Schüler die Bedeutung eines Gesetzes erkennen kann, muss das Gesetz durch eine Reihe von beabsichtigten Anwendungen dargestellt werden. Bei der Verwendung von f=ma in Bezug auf den freien Fall muss man die Formulierung präzisieren mg=md2s/dt; ebenso für das Pendel: mgSinθ= − md2s/dt. Für ein Paar harmonischer Oszillatoren wird sie in zwei Gleichungen umgewandelt, von denen die erste lautet: m1d2s1+k1s1=k2 (d+s2-s1). Nur wenn das Gesetz in einen Bereich von Analogien umgewandelt wird, kann es erlernt werden. Umgekehrt müssen die paradigmatischen Beispiele wegfallen und ersetzt werden, wenn das Gesetz in Fällen mit zuverlässigen Ergebnissen nicht umgestaltet werden kann. Der Raum der Ersetzung (d. h. der Raum, um ein Beispiel durch ein anderes zu ersetzen) und somit der tolerierten Entfernung (d. h. die zulässige Entfernung vom Hauptbeispiel) zu den paradigmatischen Beispielen ist 29 30 31 32

Bruner und Postman, On the Perception of Incongruity, S. 206. Vgl. Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Masterman, The Nature of Paradigm, S. 79. Kuhn, Second Thoughts on Paradigms, S. 298–300, 310–318.

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stattdessen das eigentliche Thema des zweiten von Kuhn gewählten Falles. Das Problem, auf das der angehende Wissenschaftler und sein Vater bei der Unterscheidung der Wasservögel im Park stoßen, besteht darin, die Grenzen ihrer jeweiligen Gruppen, um die bekannten Exemplare herum nicht zu eng zu ziehen. Auf diese Weise simulieren sie die Bildung des Vokabulars und der Taxonomie. Denn, wenn ich keinen Spielraum für andere Enten lasse als die, die ich bereits gesehen habe, riskiere ich, anomale Individuen einfach nicht zu erkennen, oder sie mit Individuen einer anderen Art zu verwechseln. Um diese Warnung zu befolgen, reicht es jedoch nicht aus, die Ostension zu ersetzen. Man kann nicht nur auf den Exemplaren Labels anbringen oder korrigieren ohne ein aus einer Definition abgeleitetes Erkennungs- und Entscheidungskriterium. Vor allem muss eine Leerstelle verbleiben, die im Übrigen je nach Dichte der Sammlung variiert. Bei Kuhn wird dieser Raum als der Rand eines feature space definiert, der die Grundlage für das erforderliche Wissen über die Bedeutung bildet, um Sprache und Welt miteinander zu verbinden33, d. h. als der Rand des „Netzwerk von Ähnlichkeiten, durch das sich Begriffe mit der Natur verbinden.“34 Kuhn betont insbesondere die Unzulänglichkeit der Ostension zur Sättigung der Definitionslücken natürlicher Arten im Unterschied zu Eigennamen, bei denen die semantische Kontinuität und referentielle Starrheit durch die ‚Biographie‘ des Benannten (d. h. aus der Geschichte des bereits erworbenen Wissens über das Objekt, das mit dem Eigennamen gekennzeichnet ist) gewährleistet wird. Zwecks der Betonung dieses Unterschiedes kommt Kuhn auf die von ihm selbst behauptete Analogie zwischen seinen Paradigmen und Wittgensteins Familienähnlichkeiten zurück und beabsichtigt dabei, einen angemessenen Begriff der Vagheit neu zu definieren.35 Um es in der Semantik möglicher Welten auszudrücken: Da eine Welt aller möglichen Daten – d. h. die einzige Welt, in der man behaupten könnte, notwendige und hinreichende Bedingungen für die Definition eines Begriffs zu besitzen – im Kontext der wissenschaftlichen Forschung nicht zugänglich ist, ist es nach Kuhn völlig überflüssig zu bemerken, dass ein epistemisches Szenario wie das von Johnny vager oder verwirrender ist als andere. Johnny – das Kind, das nach Kuhn mit seinem Vater in einem Park spazieren geht – wäre in der Tat nicht unklug, wenn er bemerkt, dass die weiße Farbe ein stabiles Merkmal von den Schwänen ist, die er gesehen hat, sich auf eine allgemeine

33 34 35

Kuhn, Metaphor in Science, S. 201. Kuhn, Metaphor in Science, S. 203. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, S. 62 ff.

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Behauptung wie „alle Schwäne sind weiß“ festlegt.36 Und er könnte dies tun, indem er diese Verallgemeinerung entweder als eine partielle Definition eines Schwans (d. h. als ein quasi-analytisches Urteil) oder als ein Gesetz (d. h. als ein quasi-synthetisches) auffasst.37 Das bedeutet, dass es nicht notwendig ist, eine Theorie für open-texture concepts zu erfinden – d. h. für solche Begriffe, die nicht nur vage sind, sondern die zudem nicht durch andere Begriffe bzw. durch Definitionen vervollständigt werden können.38 Was notwendig ist, ist stattdessen eine Theorie der Begriffe und eine Erkenntnistheorie, in der Vagheit irgendwie spezifiziert werden kann.

II.

Diese Bemerkungen zur Unbestimmtheit paradigmatischer Beispiele waren auch eine Antwort auf Stegmüllers Einwände.39 Kuhn war allerdings insgesamt mit dem Formalismus der strukturalistischen Version des Wissenschaftsbegriffs nie ganz einverstanden. Vor allem teilte er nicht Sneed-Stegmüllers Überzeugung, dass Partialmodelle (d. h. Anwendungen einer Theorie) nicht nur der nichttheoretische Inhalt der Theorie, sondern auch ein neutraler Boden für den intertheoretischen Vergleich sind, d. h. für den Vergleich zwischen verschiedenen Theorien. In dieser Auffassung sah er nämlich eine unverhüllte Wiederbelebung des primitiven Reduktionismus des logischen Neoempirismus, d. h. des Anspruchs – den Quine als das zweite Dogma des Empirismus bezeichnete –, alle verifizierbaren Aussagen (bzw. alle synthetischen Aussagen) auf Grundaussagen zurückzführen, die auf Beobachtung gründen. Unter der Lupe von Sneed-Stegmüllers Interpretation lässt sich die Bezie­ hung zwischen Standardbeispielen, symbolischen Verallgemeinerungen und Modellen besser einschätzen. Kuhn entwarf folgende Schematisierung des Unterschieds zwischen disziplinärer Matrix (Dm) und Theorie (T): [Dm (Gs, M, E)]≠T. Das heißt, eine disziplinäre Matrix (die der breiteren Bedeutung von ‚Paradigma‘ entspricht) unterscheidet sich von der Theorie in ihrer Gesamtheit und 36 37 38 39

Kuhn, Second Thoughts on Paradigms, S. 317–318. Kuhn, Second Thoughts on Paradigms, S. 318. Vgl. Waismann, Verifiability; Shapiro, Vagueness, Open-Texture, and Retrievability. Stegmüller, Theorie und Erfahrung, S.  195–207; vgl. Kuhn, Theory Change as Structure Change.

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besteht aus symbolischen Verallgemeinerungen (der Menge an Prinzipien und Formeln, die das gemeinsame und implizite Fachwissen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft ausmachen), Modellen (d. h. Gruppen von beabsichtigten Anwendungen) und erfolgreichen Beispielen. Dabei enthielt die Theorie die disziplinäre Matrix, die von Balzer perfek­ tioniert wurde.40 Diese Theorie grenzte zunächst einen theoretischen Kern (K) ab, der durch potentielle Modelle gestaltet war (Mp), d. h. die intendierten Anwendungen, durch Mpp, die potentiellen Teilmodelle, die mit den paradigmatischen Beispielen identifiziert werden, und durch innertheoretische Verbindungen (Q): K=. Eine solche Formulierung kann auch grafisch durch ein Bild mit zwei Ebenen, einer theoretischen und einer nicht-theoretischen, veranschaulicht werden, aus denen die Teilmenge r̄ (M), die den von K gewählten Teil von Mpp als die Klasse aller nicht-theoretisch beschreibbaren Welten bezeichnet, entsteht:

Abb. 11.1 Disziplinäre Matrix (Balzer, Empirische Theorien, S. 287)

Nehmen wir den durch r̄ (M) repräsentierten Rest als die Teilmenge der paradigmatischen Beispiele (I0) der gemeinten Anwendungen (I) von K, dann können wir die empirische Theorie (T) als die Menge des Kerns, von gemeinten Anwendungen und paradigmatischen Beispielen bezeichnen – angenommen, dass die paradigmatischen Beispiele Teile der gemeinten Anwendungen sind. Bei Kuhn und seiner strukturalistischen Interpretation besteht das Problem nicht mehr darin, eine Theorie zu beschreiben oder zu definieren, sondern darin, die sinnvolle Handlung des Wissenschaftlers oder des Lernenden in der Wissenschaft rational zu rekonstruieren. Das Ziel ist mit anderen Worten zu verstehen, was es bedeutet, die Theorie T zu akzeptieren. Vor diesem 40

Balzer, Empirische Theorien, S. 286; vgl. Balzer, Moulines und Sneed, An Architectonic for Science.

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Hintergrund könnten wir sagen, dass jemand (p) die Theorie T zum Zeitpunkt t behauptet (annimmt, für wahr hält), wenn und nur wenn p glaubt, dass es angemessen ist, jene Anwendungen zu wählen, die als Interpretationen des theoretischen Netwerkes auf der Grundlage des Kerns verstanden werden. Mit anderen Worten: p unterstützt die Theorie T, wenn er glaubt, dass I∈A (N*). Dabei ist I die gemeinte Anwendung, A der Wahloperator und N* das theoretische Netz auf der Grundlage des theoretischen Kerns K.41 Diese Formalisierung hat den Vorteil, die vermeintliche Unbestimmtheit der beabsichtigten Anwendungen von der Bestimmbarkeit der paradigmatischen Beispiele abzugrenzen. Die minimalen paradigmatischen Beispiele (I0) – d. h. diejenigen, die nicht fehlen dürfen, wenn die Annahme einer bestimmten Theorie gerechtfertigt sein muss – können nämlich ausführlich beschrieben und ihre Grenzen genau festgelegt werden. Da die paradigmatischen Beispiele jedoch gemeinsame Merkmale aufweisen, die zwar notwendig, aber nicht hinreichend sind, können wir mehrere Sätze von gemeinten Anwendungen (I) ableiten, so dass I1 ≠ I2 ≠ I3 und so weiter. Daher ist nach Stegmüller die Wahl der I’s immun gegen eine potentielle Falsifikation42 – und zwar sowohl weil eine solche Wahl von der Theorie gewollt wäre als auch weil sie auf zwei verschiedene Weisen erfolgen könnte: Die erste ist die der Erweiterung der intendierten Anwendungen, die zweite die der Spezifizierung des theoretischen Kerns K.43 Kuhn ist allerdings mit dem Ergebnis nicht einverstanden, dass man die intensionale Vagheit von I über den Umfang von I0 spezifizieren kann, indem man die Liste der paradigmatischen Beispiele als Ersatz für eine neutrale Beobachtungssprache nimmt, die nichttheoretische und von verschiedenen Theorien geteilte Begriffe enthält.44 Das bedeutet, dass erfolgreiche Beispiele Gemeinsamkeiten darstellen, die ihren Ursprung in unterschiedlichen oder widersprüchlichen Theorien haben, d. h. sowohl in der gemeinsamen als auch in der wissenschaftlichen Erfahrung. Die Bedeutung dieser Meinungsverschiedenheit für die Definition des Beispiels lässt sich besser durch

41 42 43 44

Stegmüller, Accidental Theory Change. Stegmüller, Theorie und Erfahrung, S. 207 ff. Stegmüller, Accidental Theory Change, S. 276 ff. Kuhn, Theory-Change as Structure Change, S. 185.

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die Betrachtung von Kuhns Kritik an Putnam-Kripkes kausaler Semantik einschätzen.45

III.

Kuhn (1990) übernimmt Putnams Begriff des Stereotyps nicht.46 Der soziale und kulturelle Charakter des Stereotyps – d. h. die Tatsache, dass es Teil des gewöhnlichen Wortschatzes einer Sprachgemeinschaft ist – erlaubt es Putnam zu zeigen, dass Bedeutungen nicht im Kopf sind und dass sie einen kausal rekonstruierbaren Bezug haben. Das Stereotyp ist eine konventionelle und ungenaue Vorstellung, die „das einzige Element der Wahrheit in der ‚concept‘ theory“47 enthält. Dieser Begriff weist allerdings aufgrund des Beharrens auf intentionalen Charakteren, normalen Mitgliedern und Worterwerb eine Ähnlichkeit mit Kuhns eigenen Standardbeispielen auf. Kuhn greift hier das bekannte Gedankenexperiment der Zwillingserde auf. Nehmen wir an, dass es im Solarsystem einen Planeten gibt, der dem unseren sehr ähnlich ist, und dass seine Bewohner eine farblose, geschmacklose Flüssigkeit namens ‚Wasser‘ zum Waschen und Durstlöschen verwenden, deren Zusammensetzung jedoch nicht H2O, sondern XYZ ist. Stellen wir uns weiter vor, dass sich ein Bewohner der Erde und ein Bewohner der Zwillingserde begegnen, dass beide Englisch sprechen, dass der eine den anderen um Wasser bittet und dass dieser sozusagen richtig ‚antwortet‘, indem er ihm ein Glas Wasser anbietet. Nun, befinden sich der Bewohner der Erde und der Bewohner der Zwillingserde, die zwar wissen, was ‚Wasser‘ bedeutet, sich aber des Unterschieds zwischen der chemischen Zusammensetzung (des Wassers der Erde und des Wassers der Zwillingserde) nicht bewusst sind, in der gleichen Situation wie die Bewohner der Erde, die vor 1750 lebten, d. h. vor der Entdeckung der chemischen Zusammensetzung des Wassers? Oder wären die Erdbewohner, die vor 1750 lebten, die Kinder und die Bewohner der Zwillingserde, die sich auf unserem Planeten befanden, in der gleichen Situation, d. h. sie wüssten, was Wasser ist, ohne seine chemische Zusammensetzung zu kennen? Die Frage dabei ist, 45

46 47

Eine weitere Ebene, auf der die Distanz zwischen Kuhn und der strukturalistischen Fassung von Sneed-Stegmüller deutlich wird, ist die unterschiedliche Interpretation des Ramsey-Eliminativismus, die sich aus dem Fall der Beziehung zwischen dem zweiten Gesetz der Mechanik und seinen Anwendungen ableiten lässt. Siehe Ramsey, Theories; Baltas, Gavroglu und Kindi, A Discussion with Th. Kuhn, S.  318 und Majer, Ramsey’s Conception of Theories. Vgl. Putnam, The Meaning of „Meaning“, S. 131–193; vgl. Riesigl, Stereotyp, S. 51, 105–125. Putnam, The Meaning of „Meaning“, S. 250.

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ob der Begriff ‚Wasser‘ dasselbe natürliche Element auf unserer Erde wie auf der Zwillingserde bezeichnet – und zwar im Jahr 2021 wie im Jahr 1750 und für einen Chemiker wie für ein Kind, auch wenn die Bewohner der Zwillingserde, die Menschen vor 1750 und die Kinder nicht wissen, dass Wasser H2O ist. Putnams Antwort ist affirmativ, denn das Wesentliche am Wasser in jeder möglichen Welt besteht gerade in seiner chemischen Zusammensetzung. Kuhn weicht von dieser Antwort ab, indem er betont, dass die Anerkennung verschiedener Aggregatzustände von Wasser auf die chemische Revolution von 1780 zurückgeht. Davor war der Unterschied zwischen Feststoffen, Flüssigkeiten und Gasen eine Sache der Chemie und nicht der Physik. Würde dies auch für die Bewohner der Zwillingserde und für Kinder gelten – d. h. wenn diese auch Wasser nur als Flüssigkeit betrachteten –, dann wäre es schwierig zu argumentieren, dass sie alle dasselbe meinen, wenn sie von ‚Wasser‘ sprechen. Mit anderen Worten: Wenn für Kinder und Bewohner der Zwillingserde Eis kein Wasser wäre, dann würde ‚Wasser‘ für sie nicht dasselbe natürliche Element bezeichnen, das wir mit diesem Wort bezeichnen. Daher ist ‚Wasser‘ nicht semantisch starr, etwa dank der symbolischen Verallgemeinerung, die seine Zusammensetzung ausdrückt. Der Begriff ‚Wasser‘ kann vielmehr seine Bedeutung nur anhand eines paradigmatischen Beispiels, nämlich Eis, fixieren, wobei dieses Beispiel eine Ressource des vorliegenden wissenschaftlichen Lexikons ist. Die Leistung, die der Verweis auf ein Beispiel erbringen würde, würde also nicht unter die referentielle Kompetenz fallen, sondern eben unter die lexikalische Kompetenz, und gleichzeitig wäre die Darstellung des Beispiels keine Ostension bzw. kein Vor-Augen-Stellen, sondern eine Darstellung innerhalb eines Lexikons. Voraussetzung für die Identifizierung von ‚Wasser‘ mit ‚H2O‘ ist, dass man dasselbe chemische Element in verschiedenen Aggregatzuständen erkennt. Wenn und nur wenn Wasserdampf und Eis auch Wasser sind, dann kann ‚Wasser‘ in ‚H2O‘ umbenannt werden; diese lexikalische Umbenennung macht das Beispiel erst möglich. Das heißt, wenn und nur wenn Wasserdampf und Eis ebenfalls paradigmatische Beispiele für Wasser sind, dann ist ‚Wasser‘ = ‚H2O‘ und nur dann bezeichnet ‚H2O‘ alle Exemplare von Wasser. H2O ist also ein Knoten im Begriffssystem, und solange dieses System besteht, entspricht dem Substantiv ‚Wasser‘, das das natürliche Element kategorisiert, gerade dieser Knoten.48 Die Referenz von ‚H2O‘ ist eine Funktion des Begriffssystems; der Bezug eines Begriffs auf den Referenten wird durch eine Ressource des Begriffssystems gewährleistet, nämlich das von einer Gemeinschaft geteilte Beispiel. Dasselbe gilt für ‚Kraft‘ und ‚Masse‘, die in der 48

Kuhn, Dubbing and Redubbing, S. 314–315.

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Aussage des zweiten Hauptsatzes der Mechanik auftauchen: Auch sie können nur zusammen mit den anderen in der Theorie verwendeten Begriffen gelernt werden.49 D. h. sie können nicht in irgendeinem Gebrauch gelernt werden, sondern in einem bestimmten Gebrauch oder in einer bestimmten Übung: die der Beispielfindung. Dies ist auch der Sinn von Kuhns These, dass ein großer Teil der wissenschaftlichen Ausbildung darin besteht, zu lehren, wie man von partiellen potentiellen Modellen, d. h. Beispielen (I0), zu partiellen Modellen, d. h. beabsichtigten Anwendungen (I), gelangt.50 Ein solcher Übergang wird dadurch erreicht, dass man bestimmte beabsichtigte Anwendungen der Theorie sieht (to see), wenn man bestimmte Beispiele betrachtet (to look at). Diese Beispiele sind weder Elemente einer Beobachtungssprache noch Objekte der Welt an sich, sondern, um die Begriffe von Hoyningen-Huene zu verwenden, Erscheinungen des Lexikons empirischer Begriffe oder Stücke der Erscheinungswelt.51 Die hiermit suggerierte Übernahme der kantischen Terminologie beant­ wortet jedoch nicht die weitere, ebenfalls an Kant angelehnte Frage, nämlich, ob – nach van Fraassens Unterscheidung von Phänomen und Erscheinung52 – erfolgreiche Beispiele Phänomene, d. h. beobachtbare Entitäten, oder Erscheinungen, d. h. der Inhalt von Beobachtungen und das Ergebnis von Messungen, sind. Sankt-Elms Feuer, die Verbrennung und das Polarlicht sind Phänomene, während der Ausdruck ‚roter Planet‘ für Mars eine Erscheinung bezeichnet. Was sind dann Eis und Wasserdampf im Vergleich zu Wasser? Was sind der freie Fall, das einfache Pendel oder ein Paar harmonische Oszillatoren im Vergleich zur symbolischen Verallgemeinerung, dass die Kraft gleich dem Produkt aus Masse mal Beschleunigung ist? Und wenn wir die elektromagnetische Induktion von Faraday oder den Lichtpunkt, der im Mittelpunkt des Streits zwischen Fresnel und Poisson steht, als neue Phänomene definieren können53, als I0, dessen entsprechende Menge  I gefunden werden muss, können wir dann sagen, dass die Beispiele Phänomene sind und dass die beabsichtigten Anwendungen Erscheinungen sind? Wenn dies der Fall wäre, d. h. wenn die sehr eigentümliche lexikalische Darstellung anhand von Beispielen es ermöglichen würde, von den Phänome­ nen zu den Erscheinungen überzugehen und so die angemessensten und 49 50 51 52 53

Kuhn, Dubbing and Redubbing, S. 313. Kuhn, Second Thoughts on Paradigms, S. 306. Hoyningen-Huene, Die Wissenschaftsphilosophie Th. Kuhns, S. 62. van Fraassen, Scientific Representation, S. 283 ff. van Fraassen, Scientific Representation, S. 95, 98.

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vernünftigsten Erscheinungen für die Phänomene zu finden, dann wäre eine genauere Spezifizierung jenes mentalen Moduls nützlich, das Kuhn für die Grundlage unserer Überzeugungen hält und von dem er glaubt, es sei für den Gestaltwechsel verantwortlich. Würde diese Präzisierung hingegen nicht gelten, dann bliebe Kuhns Auffassung von Standardbeispielen unvollständig oder zweideutig. Das bisher Gesagte rekapitulierend, lassen sich drei verschiedene, kaum miteinander zu vereinbarende Bedeutungen des Begriffs ‚Beispiel‘ unterscheiden: eine kognitive (die Kategorisierung betreffend), eine epistemologische (die Transformation der Begriffe durch Beispiele betreffend) und eine semantische (die lexikalische und nicht referentielle Kompetenz betreffend). Keiner dieser drei Begriffe ist referenziell, und keiner der drei Begriffe bezeichnet eine Instanz dessen, worauf er sich bezieht. Aber das reicht immer noch nicht aus, um Kuhns Begriff des Beispiels kohärent zu machen. Es könnte daher sinnvoll sein, eine der auf Typen basierenden Begriffstheorien (oder besser gesagt: Kategorisierungstheorien) aufzugreifen, die ausgiebig Gebrauch von Exemplaren macht.

IV.

Es mag naheliegend erscheinen, Kuhns paradigmatische Beispiele der theorytheory von Gopnik-Meltzoff54 nebeneinanderzustellen, denn sie teilen die Analogie zwischen Kind und Wissenschaftler, die globalen Auswirkungen der lokalen Unübersetzbarkeit zwischen den Vokabularen zweier Theorien und die Überzeugung, dass die Referenz eine Funktion der gemeinsamen Struktur des Vokabulars ist.55 Dieser Analogie entsprechend hat ein Begriff nur im Verhältnis zu anderen Begriffen und nur aufgrund der Schlussfolgerungen, in die er einbezogen werden kann, eine Bedeutung. Mit anderen Worten bedeutet ‚Wasser‘ nur dann Wasser, wenn ‚Eis‘ einen physikalischen Aggregatzustand von Wasser bedeutet, d. h. wenn ich etwa anerkenne, dass ich in festes Wasser beiße, wenn ich ein Eis esse, und mich dementsprechend beeilen muss, damit es nicht schmilzt. Dennoch scheint es mir angemessener, an die von SmithMedin56 begründete und dann u. a. von Nosofsky57 verfeinerte Exemplartheorie zu erinnern, denn sie beinhaltet Folgendes: 54 55 56 57

Vgl. Gopnik und Meltzoff, Words, Thoughts, and Theories. Kuhn, Dubbing and Redubbing, S. 316. Smith und Medin, Categories and Concepts. Nosofsky, The generalized context model.

210 a)

b) c) d)

e)

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Exemplare sind implizite Erinnerungen einzelner Mitglieder einer Kategorie58 oder Fälle, in denen etwas auf eine bestimmte Weise gelabelt wurde, im Gegensatz zu Prototypen, die aus zusammenfassenden und einheitlichen, merkmalsbasierten, vernetzten Beschreibungen bestehen, für die inferentielle Rollen gelten59; Exemplare repräsentieren eine Vielzahl von Merkmalen, die andere Mitglieder der Kategorie nicht immer haben, während Prototypen die wenigen Merkmale enthalten, die alle Mitglieder der Kategorie haben60; Exemplare finden in der Lehre Anwendung, wenn es nur wenige Fälle gibt oder eine Lernschwierigkeit besteht, während Prototypen bei natürlichen Kategorien besser gelingen61; Exemplare sind besonders effektiv bei verstreuten Kategorien62, ad hoc unklaren Fällen, disjunkten Konzepten, wenn die Relevanz des Kontextes die Anwendung einer Strategie erfordert oder wenn Gegenbeispiele gebildet werden; bei Exemplaren ist das Maß der Unähnlichkeit entscheidend63 und liefert gute Ergebnisse bei der Identifizierung von Ausreißern.64

Darüber hinaus stellt Smith-Medin bei ihrer Einführung heraus, in welchem Kontext die Exemplartheorie geeignet ist und in welchem die klassische Sichtweise und die Prototypentheorie. Die Definition durch notwendige und 58

59 60 61 62 63 64

In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, an die Ausnahmen zu erinnern, die J. Prinz (Furnishing the Mind, S. 71) gegen die Exemplartheorie vorbringt, und zwar auf der Grundlage neuropsychologischer Beweise für die Unfähigkeit, im Kategorisierungstraining verwendete Exemplare zu erkennen. Allen und Brooks (Specializing the operation of an explicit rule) unterstreichen die Rolle des impliziten Gedächtnisses bei der Speicherung von Beispielen: Ein solches Gedächtnis sei nicht-thematisch, nicht-langfristig, basiere auf irrelevanten Wahrnehmungsinformationen und sei unabhängig vom echten kategorialen Gedächtnis (Murphy, The Big Book of Concepts, S. 86). Nichtsdestoweniger könnte es Veränderungen in der Aufmerksamkeit gegenüber konzeptionellen Neuerungen in direktem Verhältnis zur Entfernung von den Exemplaren erklären und somit bei konzeptioneller Veränderungsblindheit nützlich sein. Machery, Doing without Concepts, S. 35. Murphy, The Big Book of Concepts, S. 73. Murphy, Is There an Exemplar Theory of Concepts?, S. 1035–1036. Machery, Doing without Concepts, S.  98; Nosofsky, Similarity scaling and cognitive process models. Nosofsky, Attention. Prinz, Furnishing the Mind, S. 65. Nosofsky (The generalized context model, S. 22) entwickelt ein komplexes Berechnungsinstrument zur Berechnung des Abstands (d) zwischen Probe und Fall, wobei jede Probe (j) und jeder Fall (i) einzelne Punkte in einem M-dimensionalen psychologischen Raum darstellen. Dabei bestimmt r die Form der Abstandsmetrik und wm stellt den Aufmerksamkeitsparameter dar.

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hinreichende Bedingungen (klassische Sichtweise) ist für linear trennbare Begriffe wie den geometrischen Begriff des Quadrats geeignet, bei dem die definierenden Eigenschaften als Kriterien dienen. Dabei lassen sich Prototypen etwa auf Tassen oder Stühle anwenden, d. h. auf Gegenstände, deren Merkmale sich stark verändern können. Demgegenüber reagieren Exemplare auf Schwierigkeiten wie die des Erkennens und der Klassifizierung von suizidalen psychiatrischen Patienten.65 Daraus lässt sich ein Schaubild ableiten, das die Unterschiede gut wiedergibt und von den möglichen Antworten auf die Frage ausgeht, ob ein Begriff einheitlich repräsentiert wird oder nicht66: Unitary Representation? no Exemplar View

yes Properties True of All Members? no

Probabilistic View

yes Classical View

Wenn ich nicht über eine einheitliche Repräsentation oder auch nur über eine mehr oder weniger partielle Teilmenge ihrer Instanzen verfüge, kann ich auf eine Art partieller Information zurückgreifen, die den Selektionskontext für die Auswahl von Exemplaren bildet, und es ist nicht sicher, dass nur notwendige Elemente zur Bildung dieses Kontextes beitragen.67

V.

Können diese Exemplare dann das mentale Modul bilden, das Kuhn sich als Grundlage für seine Auswahl der Exemplare vorstellte? Diese Frage lässt keine einfache Antwort zu. Denn selbst wenn diese Exemplare für Kuhns Denkmodul zutreffend wären, müssten Exemplare den beiden verbleibenden Bedeutungen des paradigmatischen Beispiels, der epistemologischen und der semantischen Bedeutung, standhalten. Der vorgeschlagene Vergleich scheint vor allem hilfreich, um zu verstehen, was im Topf der Begriffstheorie, der Erkenntnistheorie und der Logik kocht, wenn sie mit dem Begriff des Beispiels umgehen. 65 66 67

Smith und Medin, Categories and Concepts, S. 3. Smith und Medin, Categories and Concepts, S. 4. Smith and Medin, Categories and Concepts, S. 159.

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Warum ist Eis kein Wasser auf der Zwillingserde?

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III. Teil Die praktisch-orientierende Bedeutung des Exemplarischen

Vorbilder – und wie man ihnen folgen soll Exemplarität in Ciceros praktischer Philosophie Jörn Müller Die historische und literaturwissenschaftliche Forschung hat sich in den letzten Jahren sehr ausgiebig der Analyse von Exemplarität im antiken Rom angenommen.1 Es besteht ein genereller Konsens, dass Exemplarität ein pervasives Phänomen der römischen Kultur darstellt, dessen genaue Deutung aber durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Während in der älteren Forschung die Berufung auf exempla insbesondere in der politischen Sphäre eher als ein traditionalistisches und strukturell konservatives Moment charakterisiert wurde, betonen neuere Arbeiten in bewusster Kontrapunktierung den flexiblen und geradezu kreativen Umgang, der in Rom mit exemplarischen Taten und Personen gepflegt wurde; denn dieser schloss trotz der permanenten Berufung auf die vorbildliche Sitte der Vorfahren (mos maiorum) Neuerungen in keiner Weise aus, sondern integrierte sie vielmehr bewusst in den gesellschaftlichen und moralischen Diskurs der Res Publica Romana und erreichte gerade dadurch eine nachhaltige Regulierungs- und Stabilisierungsleistung.2 Als hauptsächlicher Protagonist dieser „Roman exemplarity“, die for­ schungstechnisch seit einigen Jahren en vogue ist, gilt zu Recht Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.). In seinen 64 erhaltenen gerichtlichen und politischen Reden finden sich nicht weniger als 1431 Beispiele3, und er bietet auch immer wieder Reflexionen zum richtigen Umgang mit exempla, die sich über alle seine Schriften hinweg (also auch in seinen Briefen und Dialogen bzw. Traktaten) finden lassen.4 Die überwiegend (kultur-)historisch und altphilologisch orientierte Erforschung von Cicero als Quelle für unser Verständnis von altrömischer Exemplarität hat den philosophischen Dimensionen seines Denkens in diesem Bereich allerdings verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit 1 Vgl. exemplarisch hierzu die beiden 2018 erschienenen Monographien von Langlands, Exemplary Ethics, und Roller, Models. 2 Vgl. Hölleskamp, Exempla; Haltenhoff, Institutionalisierte Geschichten; Braun, Fingierte Stabilität. 3 Vgl. Bücher, Verargumentierte Geschichte, mit genauer statistischer Auswertung. 4 Die umfangreichste Darstellung unter Berücksichtigung aller Werkgruppen bietet van der Blom, Role Models. Zur Exemplarität in Ciceros Reden vgl. Bücher, Verargumentierte Geschichte, S. 152–315; zu seinen Briefen: Oppermann, Funktion.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_013

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zukommen lassen.5 Der vorliegende Beitrag möchte diese Leerstelle füllen, und zwar v. a. mit Blick auf die praktische Philosophie Ciceros, also seine Darlegungen im Bereich der Ethik und Politik. Hier lässt sich m. E. zeigen, dass Cicero ein vielfältig differenziertes und philosophisch ansprechendes Bild von Exemplarität zeichnet, das im Blick auf sein Verständnis von Exemplarität als Vorbildhaftigkeit auch noch für den gegenwärtigen Diskurs anschlussfähig zu sein vermag. Um dieses reiche Material und Potenzial zumindest ansatzweise auszuloten, werde ich wie folgt vorgehen: Zuerst wird die rhetorische Fundierung des exemplum als ‚Argumentationswerkzeug‘ bei Cicero ins Visier genommen (§ 1); daran schließt sich eine ausführlichere Analyse seiner Staatsschrift De re publica an, in der Rom als politisches Modell charakterisiert und der Anteil verschiedener römischer Staatsmänner an dessen historischer Entwicklung in der zu Grunde gelegten Struktur von Exemplarität als Vorbildhaftigkeit untersucht wird (§§  2–3). Hiernach wird diskutiert, welche Konsequenzen sich daraus für die römische exempla-Ethik und das Konzept des moralischen Lernens als ‚Nachahmung‘ ergeben (§ 4). Abschließend soll dann der Beitrag Ciceros zum Verständnis von Exemplarität in der praktischen Philosophie noch einmal pointiert akzentuiert werden (§ 5): Meine These lautet hier, dass Cicero zeigt, wie man an (und d. h. nicht: aus) historischen Vorbildern lernen soll. Meine Darstellung stützt sich dabei wesentlich auf die theoretischen Schriften von Cicero, die sich mit Rhetorik und Philosophie befassen, wobei ich in einem das ciceronianische Werk umspannenden Bogen mit seiner Erstlingsschrift De inventione beginne (in § 1) und mit seinem letzten Traktat De officiis ende (in  § 4). Auch wenn sich dabei höchst verschiedene Facetten von Exemplarität zeigen werden, gehe ich nach meinem Studium der Texte nicht davon aus, dass Ciceros Verständnis dieses Phänomens und seiner philosophischen Bedeutung sich im Laufe der Zeit grundlegend geändert hat.6 1.

Das Exemplarische als Illustratives: der Gebrauch von exempla in der Rhetorik

In seinem Rhetorik-Handbuch De inventione (entstanden um 85 v. Chr.) verortet Cicero den Terminus des exemplum in eher technischer Manier im Kontext des 5 Eine Ausnahme bildet v. a. Langlands, Roman exemplarity; s. u., § 4. 6 Contra: Gildenhard, Paideia Romana, 142 f., der meint, dass Cicero den exempla in seinen späteren philosophischen Schriften (insbesondere in den Tusculanae Disputationes) zunehmend den Rücken zugekehrt habe.

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Aufbaus von Reden. Um eine Argumentation glaubwürdig bzw. überzeugungskräftig zu machen und so zu ihrer Beweiskraft beizutragen (confirmatio), kann sich der Redner des Vergleichs bedienen, um eine Ähnlichkeit zu markieren. Es gibt drei Arten des Vergleichbaren (comparabile), nämlich das Bild (imago), das Gleichnis (collatio) und das Beispiel (exemplum). Letzteres bestimmt er im Umriss wie folgt: „Ein Beispiel ist das, was eine Sache durch die Autorität (auctoritas) oder den Fall eines Menschen oder eines Geschäfts bekräftigt oder entkräftet.“7 Damit bewegt sich Cicero weitgehend in den Bahnen, die bereits durch die aristotelische Rhetorik vorgezeichnet sind.8 Das exemplum wird als oratorisches Werkzeug zur Überzeugung der Hörerschaft beschrieben9, wobei verschiedene Merkmale eine wesentliche Rolle spielen.10 Um die übergeordnete Argumentation persuasiv wirkungsvoll zu unterstützen, muss das Beispiel zwei Anforderungen erfüllen.11 Zum einen soll es die Hörerschaft erfreuen. Das heißt nicht, dass es ein erbauliches Beispiel sein muss (natürlich gibt es auch negative exempla), sondern dass es qua Zugehörigkeit zum kulturellen Gedächtnis einen entsprechenden Wiedererkennungswert für die Hörer haben sollte, an dem sie sich erfreuen. Zum anderen muss das exemplum über eine höchstmögliche auctoritas verfügen.12 Dabei handelt es sich um ein Schlüsselkonzept nicht nur der Gesellschaftsordnung Roms, sondern auch der genuin römischen Philosophie (im Unterschied zur griechischen).13 Es geht im Falle der exempla nicht nur um den sozialen Status der angeführten Personen, sondern v.  a. um deren

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8 9 10 11

12 13

Vgl. Cic. inv. 1.49. Hier und nachfolgend verwende ich – teils in leicht modifizierter Form – die Übersetzungen aus den im Literaturverzeichnis angeführten zweisprachigen Textausgaben. Die Werktitel Ciceros und anderer antiker Autoren folgen den gängigen Abkürzungen und sind in der Bibliographie bei der jeweiligen Schrift noch einmal aufgeschlüsselt. – Zum Argumentieren auf der Basis von Ähnlichkeit (similitudo) vgl. auch Cic. Top. 41–45. Vgl. Arist. Rhet. 1.2, 1356a35–b34. Vgl. zum Exemplarischen in der Rhetorik auch den Beitrag von Markus Heuft in diesem Band. Vgl. auch Cic. part. 49; Or. 120. Vgl. zum Folgenden ausführlicher: Bücher, Verargumentierte Geschichte, S. 152–161; van der Blom, Role Models, S. 65–77; Roller, Models, Kap. 1. Vgl. auch Ciceros eigene Reflexion in Cic. Verr. 2.3.209: „[…] exempla ex vetere memoria, ex monumentis ac litteris, plena dignitatis, plena antiquitatis; haec enim plurimum solent et auctoritatis habere ad probandum et iucunditatis ad audiendum.“ Zur Rolle der Emotionalität vgl. auch Cic. inv. 2.19 u. 25. In dieser Bezugnahme auf auctoritas sieht Stemmler, Auctoritas, S.  150–168, auch den charakteristischen Unterschied zwischen dem exemplum der römischen und dem paradeigma der griechischen Rhetoriktheorie. Vgl. Erler, Auctoritas.

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Glaubwürdigkeit als beispielhafte Instanz.14 Das Schlüsselkonzept ist hier die historische Beglaubigung: Cicero lehnt deshalb fingierte Beispiele tendenziell ab15 und schreibt generell älteren exempla eine höhere Beweiskraft zu als neueren16: Je älter, desto besser – wobei Cicero mythische Figuren und Fabeln, die bis ins vorgeschichtliche Dunkel hineinreichen, als eher ungeeignet für die exemplarische Beweisführung ansieht, weil ihr Wirklichkeitsgehalt nicht gesichert ist. Mit anderen Worten: Beispiele müssen real sein, um persuasiv angemessen zu wirken. Damit wird dem Faktischen potenziell eine normative Kraft zugeschrieben, von der die historischen Beispiele in besonderer Weise zehren: Exempla funktionieren hier wesentlich als „verargumentierte Geschichte“.17 Hinzu kommt, dass Cicero in der Tendenz römische Beispiele gegenüber griechischen bevorzugt; auch hier liegt der Grund wesentlich in der höheren auctoritas und Persuasivität der exempla aus dem eigenen Kulturkreis.18 Für die Verwendung von exempla im rhetorischen Bereich, ob es sich nun um juristische Präzedenzfälle oder um historische Beispiele von Personen und ihren res gestae handelt19, lässt sich dabei festhalten, dass ein primär illustrativer Gebrauch vorherrscht. Das Individuelle exemplifiziert und veranschaulicht ein allgemeineres Prinzip, etwa ein konkretes situatives Handeln eine Tugend (oder ein bestimmter Fall ein allgemeineres Rechtsprinzip). Das lateinische Wort exemplum geht etymologisch auf eximere zurück, was so viel wie „herausgreifen“ bedeutet. Dieses Herausgreifen ist gerade im Blick auf die persuasive Absicht des Redners nicht beliebig – denn ein schlecht gewähltes Beispiel erfreut und überzeugt die Hörerschaft eben nicht –, aber es hinterlässt doch den Eindruck der Austauschbarkeit: Man hätte problemlos auch andere exempla zur Verfügung gehabt. Cicero operiert in seinen Reden z. B. gerne mit Dreier-Listen von Namen, die als stock examples fungieren, und tendiert insgesamt zur Beispielhäufung. Oft wird im Falle von historischen Personen dann auch nur der Name genannt, ohne dass weitere Erläuterungen dazu erfolgen, warum das im vorliegenden Fall ein passendes Beispiel ist.20 Die rhetorische 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. hierzu van der Blom, Role Models, S.124–128. Vgl. Bücher, Verargumentierte Geschichte, S. 154, und Langlands, Exemplary Ethics, S. 92. Vgl. Cic. part. 96 und van der Blom, Role Models, S. 114. Bücher, Verargumentierte Geschichte. Cicero empfiehlt hierbei, Griechen eher als vorbildhafte Beispiele für Gelehrsamkeit (in Rhetorik und Philosophie), seine Landsleute hingegen im Blick auf ihre Tugend (virtus) zu betrachten; vgl. Cic. De orat. 3.137. Zu exempla als moralischen Vorbildern vgl. unten, § 5. Zu dieser Unterscheidung vgl. van der Blom, Role Models, S. 67 f. Zu dieser Typisierung von exempla im Rahmen listenartiger Aufzählungen bei Cicero vgl. Bücher, Verargumentierte Geschichte, S. 159.

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Passgenauigkeit wird in Abhängigkeit vom Zielpublikum weitgehend vorausgesetzt; es geht beim Gebrauch des Beispiels nicht um die Vermittlung einer vertieften Einsicht in das allgemeine Prinzip, sondern nur um dessen persuasiv wirksame Instanziierung. Im rein oratorischen Bereich geht dem exemplum somit eine heuristische und epistemische Funktion ab, die ihm bei Cicero in anderen Kontexten aber durchaus zukommt, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden. 2.

Das Exemplarische als Paradigmatisches: Rom als Modell in Ciceros politischer Philosophie

Als historische Beispiele werden von Cicero meistens berühmte Persönlichkeiten und deren denkwürdige Taten (res gestae) in Anschlag gebracht. Aber im Rahmen seiner politischen Philosophie entwickelt Cicero auch ein signifikantes institutionelles exemplum, bei dem sich eine andere Art von Exemplarität zeigt als im Rahmen der Rhetorik: In seinem ca. 54–51 v. Chr. entstandenen staatsphilosophischen Dialog De re publica (= rep.) beschäftigt er sich in den beiden ersten Büchern mit der Frage nach der besten Verfassung des Staates (optimus status civitatis). Dabei wird in zwei Schritten vorgegangen: In rep. I wird eine vergleichende Betrachtung zwischen den bereits in der griechischen Philosophie diskutierten Verfassungsformen von Demokratie, Aristokratie und Monarchie angestellt, mit dem Resultat, dass keine von diesen dreien für sich die beste Staatsform darstellt, sondern eine vierte, die aus ihnen gemischt ist.21 Das ist die bekannte Theorie der constitutio mixta, wie sie u. a. von Polybios entwickelt worden ist, und zwar mit spezifischem Blick auf das römische Staatswesen.22 Daran schließt sich in rep. II eine ‚Archäologie‘ der Res Publica Romana an, in der die verschiedenen Stationen ihrer historischen Genese von den Anfängen bei Romulus bis zur valerianisch-horatianischen Gesetzgebung (449 v. Chr.) nachgezeichnet werden.23 Der Hauptredner Scipio begründet diese Vorgehensweise so, dass er den römischen Staat als exemplum darstellen wolle, um hierauf seine ganze Rede zu beziehen, die er über die beste Staatsverfassung halten will.24 In der Forschung ist allerdings umstritten, wie diese Form von Exemplarität nun genauer zu deuten ist. Hier stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Deutungsoptionen gegenüber: 21 22 23 24

Vgl. Cic. rep. 1.45 u. 54; 2.41. Vgl. Polyb. Hist. 6. Eine gute Übersicht und Analyse zur Archäologie in rep. II bietet Ferrary, L’archéologie. Vgl. Cic. rep. 1.70.

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(a) In der älteren (deutschsprachigen) Forschung wurde tendenziell eine idealisierende bzw. platonisierende Deutung bevorzugt. Cicero spricht später nämlich auch explizit vom exemplar formaque rei publicae,25 und die Rede von der forma des Staates weckt Assoziationen an eine platonische Idee bzw. an den Idealstaat der Politeia (deren Titel ja auch von Cicero ‚imitiert‘ wird). In dieser Lesart ‚ideisiert‘ (K. Büchner) Cicero den römischen Staat, d.  h., er deutet ihn auf eine apriorische platonische Idee hin, indem er ihn als reale Manifestation der von Platon bloß postulierten Kallipolis stilisiert.26 Damit wäre Rom das historisch sedimentierte exemplar einer allgemeineren abstrakten Idee, die sich in ihm realisiert und die als normatives Vorbild für jede Art von Staatlichkeit zu denken ist. (b) In genauer Entgegensetzung dazu hat sich in der neueren (angelsächsischen) Forschung (v. a. bei J. G. F. Powell) eine anti-idealisierende und deflationäre Interpretation ausgebildet. Dieser zufolge ist die Archäologie des römischen Staates in rep. II nur als ein exemplum im oben in § 1 beschriebenen rhetorischen Sinne zu verstehen, also als ein höchst illustrativer Beleg für eine allgemeinere These, die schon in Buch I entwickelt worden ist: Die constitutio mixta sei als type die beste Staatsverfassung, und das werde am römischen Staat als token anschaulich exemplifiziert, ohne dass damit eine paradigmatische Idee (im Sinne der platonischen Ideenlehre) bzw. eine normative Vorbildhaftigkeit verknüpft sei. Auch das Darstellungsprinzip innerhalb der Archäologie sei im Wesentlichen exemplarisch, sodass die Konzepte abstrakter Staatstheorie anhand der historischen Gestalten und ihres Handelns einfach praxisnah illustriert würden.27 Zum Verständnis des Sinns von Exemplarität, den Cicero hier für Rom ins Spiel bringt, greifen allerdings m. E.  beide  Ansätze auf je eigene Weise zu kurz. Der deflationäre Ansatz nimmt nicht ernst genug, dass Scipio die römische Verfassungsentwicklung gegenüber anderen antiken Beispielen der constitutio mixta (z. B. Sparta und Karthago) noch einmal in besonderer 25 26 27

Cic. rep. 2.22 (für den Zitatzusammenhang im ‚Methodenkapitel‘ s. u. das nächste längere Zitat im Haupttext, S. 224). Vgl. Pöschl, Römischer Staat, S. 98–103; Büchner, Cicero, S. 50–55 u. S. 188–191. Vgl. Powell (Cicero’s Laws; Philosophising), der ‚exemplary‘ im Wesentlichen mit ‚illustrative‘ gleichsetzt. Sein Gesamttenor lautet: „The treatment of history of Rome in book 2, then, is not ideal but exemplary, and exemplary not primarily in the sense of providing an example for someone to follow (or as it might be to avoid), but in the sense of providing practical instances of the things predicted by the theory.“ (Powell, Cicero’s Laws, S. 29).

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Weise auszeichnet. Ein textliches Indiz dafür, worin dieses Surplus im Falle Roms besteht, findet sich im Hinweis Scipios, dass die spartanischen und karthagischen Verfassungen zwar gemischt (mixta), aber auf keine Weise ausgeglichen (temperata nullo modo) gewesen seien.28 Mit anderen Worten: Es ist eine spezifische Mischung, die für die herausragende Qualität (also für die innenpolitische Kontinuität und die außenpolitische Durchsetzungsfähigkeit) des römischen Staates verantwortlich ist.29 Scipio will insgesamt klären, was (a) der optimus status civitatis ist und (b) wie er beschaffen ist30 – und er argumentiert eben nicht bloß dafür, dass Rom das faktisch beste Gemeinwesen im Vergleich zu allen anderen real existierenden Staaten ist: Eine solche komparativische Lesart reicht nicht aus, wie besonders deutlich wird, wenn Scipio statuiert, dass „es in unserem Gemeinwesen etwas Besonderes gibt, so dass es darüber hinaus nichts Vortrefflicheres geben kann (quod proprium sit in nostra re publica, quo nihil possit esse praeclarius)“.31 Die Optimalität Roms ist also in einem starken superlativischen und absoluten Sinne gemeint. Rom kann deshalb aber auch nicht bloß ein besonders gut geeignetes und anschauliches ‚Beispiel‘ für die allgemeine Superiorität der constitutio mixta sein, für die theoretisch in rep. I argumentiert wurde (wie Powell meint). Vielmehr zeigt sich erst an der römischen Staatsentwicklung selbst, was eine im absolut bestmöglichen Sinne gelungene Mischverfassung überhaupt ist. Im Unterschied zu Polybios versteht Cicero die Überlegenheit des römischen Staates gegenüber den griechischen Konkurrenten nicht bloß als eine realpolitische, sondern als eine normative Angelegenheit. Diese Analyse scheint das Pendel nun in Richtung der idealisierenden bzw. platonisierenden Deutung ausschlagen zu lassen. Doch dagegen spricht wiederum, wie Scipios Vorgehensweise im sog. ‚Methodenkapitel‘ charak­te­ risiert wird:

28 29

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Vgl. Cic. rep. 2.42. Die Idee ist hier, in groben Zügen, dass institutionell und zwischen den verschiedenen politischen Schichten eine gerechte Gleichmäßigkeit (aequabilitas) von Macht (potestas), Ansehen (auctoritas) und Freiheit (libertas) vorliegt, wobei sie sich nicht so sehr wechselseitig hemmen bzw. kontrollieren (im Sinne von konstitutionellen ‚checks and balances‘), sondern eher von innen her jeweils schon so moderiert sind, dass es zu keinen exzessiven Konflikten kommt und die gesellschaftsübergreifende Eintracht (concordia: Cic. rep. 2.54) erhalten bleibt. Da an dieser Stelle keine ausführlichere inhaltliche Analyse des Textes zu leisten ist, sei ersatzweise auf meine Darstellung in Müller, Ciceros Archäologie, verwiesen. Vgl. Cic. rep. 1.70. Cic. rep. 2.41.

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Jörn Müller Darauf Laelius: Wir sehen es und auch, dass du auf einem neuen Weg in die Erörterungen getreten bist, der sich nirgends in den Büchern der Griechen findet. Denn jener Geistesfürst, den niemand im Schreiben übertraf, nahm sich einen Platz, um auf ihm einen Staat nach seinem Gutdünken aufzurichten, der vielleicht von seinem Standpunkt aus vorzüglich ist, aber dem Leben der Menschen und ihren Sitten entrückt; die übrigen (reliqui) haben ohne jede feste vorbildhafte Form eines Gemeinwesens (sine ullo certo exemplari formaque rei publicae) über die Arten und die Grundbegriffe der Staaten Erörterungen geführt; du bist dabei, scheint mir, beides zu tun: Du hast es nämlich so angelegt, dass du lieber anderen zuschreiben willst, was du selber findest, als es selbst ausdenken ( fingere), wie es Sokrates bei Platon macht […] und dass du nicht in einer umherschweifenden Rede die Gedanken vorträgst, sondern in einer, die fest an ein bestimmtes Gemeinwesen verhaftet ist (defixa in una re publica).32

Scipios Rede bewegt sich somit zwischen einem abstrakten Staatskonstruk­ tivismus à la Platon und einer bloß generischen bzw. klassifikatorischen Verfassungsanalyse im Stil der aristotelischen Politik bzw. des Peripatos (das sind die reliqui im Text oben). Signifikant ist dabei die auch an anderer Stelle wiederholte Kritik an der realitätsfernen Fiktionalität der platonischen Kallipolis.33 Denn auch wenn Platon zumindest nur mit einem einzigen exemplar operiert (was Cicero hier offensichtlich zu goutieren weiß34), vermindert dessen Ahistorizität nämlich, wie schon oben in § 1 deutlich wurde, die Glaubwürdigkeit und Autorität (auctoritas) des exemplum nachhaltig. Rom ist gerade in seiner historischen Einmaligkeit geeignet, als eine Art Muster für den besten Zustand des Staates bzw. seiner Verfassung zu fungieren – und nicht, weil es eine überzeitliche (platonische) Idee instanziiert. Gezeigt werden soll somit nicht zuletzt, dass ein konkretes historisches Modell ein besserer praktischer Maßstab ist als ein am geistigen Reißbrett konstruierter Idealstaat. Man deutet deshalb Ciceros Verständnis von Exemplarität an dieser Stelle m. E. falsch, wenn man annimmt – wie die immer noch einflussreichen oben genannten Deutungen es nahelegen –, dass Cicero die griechische Staatsphilosophie quasi in seine Archäologie des römischen Staates in rep. II ‚hineingelesen‘ habe, sodass das Surplus des Exemplarischen nur in der anschaulichen 32

33 34

Cic. rep. 2,21f. Siehe hierzu Lieberg, Methodenkapitel, v. a. seine einleuchtenden Überlegungen zum Ausdruck exemplar formaque rei publicae, den er als Hendiadyoin auffasst, im Sinne von „vorbildliche (musterhafte, eben exemplarische) Staatsform“ (S. 15); ebenso Atkins, Cicero, S. 58 („model constitutional form“). Hier habe ich die Übersetzung Büchners entsprechend modifiziert. Zum fiktiven Charakter der platonischen Staatslehre vgl. auch Cic. rep. 2.3 u. 2.52. In Ciceros Rhetorik findet sich hingegen die Idee, dass man in Ermangelung eines einzigen realen Vorbilds, das in jeder Hinsicht zu befriedigen vermag, ggf. auf verschiedene Muster zurückgreifen sollte, um aus ihnen ein vollständiges Gesamtbild zu synthetisieren; vgl. Cic. inv. 2.1–5 und Langlands, Exemplary Ethics, S. 96 f.

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Realisierung einer abstrakten Begrifflichkeit zu suchen sei. Cicero sieht das römische Staatswesen vielmehr als das modellhaft Exemplarische an, an dem sich wesentliche Elemente der politischen Philosophie erst ‚ablesen‘ lassen: Ich aber, wofern ich es erreichen kann, werde mit denselben Prinzipien, die jener [scil. Platon, J. M.] sah, nicht an einem Schattenbild vom Staat (in umbra et imagine), sondern an dem umfangreichsten Gemeinwesen (amplissima re publica) danach streben, dass ich wie mit einer Wünschelrute die Ursache eines jeglichen Gutes und Übels im Staate zu berühren scheine.35

Die ‚Prinzipien‘ (rationes), die Cicero hier ins Spiel bringt, verdanken sich nicht einer im Staat wirksamen Vernunft in ihrer universalen Erkennbarkeit36, sondern einer ebenso theoretisch informierten wie erfahrungsgetränkten Analyse des singulären konkreten exemplum. Die hierbei angenommene Form von paradigmatischer Exemplarität ist hermeneutisch äußerst fruchtbar, denn sie ermöglicht es, über das schon vorhandene Theoriegerüst zur constitutio mixta hinaus genuin römische Elemente wie auctoritas und praktische Erfahrung (usus) in die politische Philosophie einzubringen, für die es bei den griechischen Vorgängern kein Pendant gab. Scipio betont zwar, dass es für die Definition, also für die rein begriffliche Fassung des bestmöglichen Staates keines realen exemplum bedurft hätte, aber nur an einem wirklichen Gegenstand lassen sich in concreto die verschiedenen Qualitäten in ihrem Wechselspiel ablesen, die der Staat in seiner bestmöglichen, und d.  h. bei Cicero: gerechten und dauerhaften Gestalt zu entwickeln hat.37 Das Allgemeine kann hier nur in konkreter Form adäquat erfasst werden. Darin liegt die methodische Pointe, Rom bewusst als prototypisches exemplum der politischen Philosophie zu stilisieren: Insofern das römische Staatswesen den optimus status civitatis in historischer Realität darstellt, ist es gerade nicht das Resultat einer ihm vorausliegenden Blaupause, sondern selbst ein vorbildhaftes Modell, dem auch eine klare Normativität für andere Staaten innewohnt.38 Hier wird also keineswegs das konkrete (römische) exemplum

35

36 37 38

Cic. rep. 2.52. Vgl. auch Cic. rep. 1.2: „Nichts nämlich wird von den Philosophen gesagt, soweit es wenigstens richtig und rühmlich gesagt wird, was nicht von denen ans Licht gefördert und bestärkt worden wäre, von denen in den Staaten die Rechtsansprüche geordnet wurden.“ So Büchner, Cicero, S.  43 f. (in einer schon fast hegelianisch wirkenden Lektüre von Cicero). Vgl. Cic. rep. 2.66. Zur Modellhaftigkeit des römischen Staats bei Cicero vgl. Asmis, Model, S. 391–400, und Atkins, Cicero, S. 56–61.

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der abstrakten (griechischen) Idee untergeordnet39, sondern umgekehrt das, was ein idealer Gehalt sein könnte, aus einem paradigmatischen Individuum erschlossen. Damit liefert Cicero zugleich selbst ein modellhaftes Exempel dafür, wie eine genuin römische politische Philosophie, die nicht bloß an den Rockschößen der vorherigen griechischen Staatstheorie hängen will, in neuartiger Weise vorgehen kann, um zu eigenen Resultaten zu kommen.40 Der Status Roms als exemplum in der politischen Philosophie Ciceros ist somit vieldeutig. Erkennbar ist Rom ein paradigmatischer Fall einer constitutio mixta, also ein Vorzeigebeispiel, an dem sich nicht nur der Sprachgebrauch und das Verständnis dieses Konzepts orientieren sollten, sondern auch Legislatoren und Staatsmänner, die einen Staat bestmöglich einrichten wollen. In gewisser Weise ist Rom damit aber auch prototypisch, denn es ist zwar nicht notwendigerweise die erste Mischverfassung, aber in der Art und Weise, wie die Prinzipien dieser Verfassungsform bestmöglich realisiert sind, doch zugleich etwas Erstes und Neues. Das Exemplarische nimmt hier also die semantischen Tönungen des Paradigmatischen und Prototypischen an. 3.

Das Exemplarische als Vorbildhaftes: Die Vorfahren als Quelle von Normativität

Auch wenn Cicero die Neuartigkeit des methodischen Vorgehens in der politischen Philosophie betont41, zielt das keineswegs auf eine inhaltliche Revolution der normativen Parameter in der Staatstheorie. Vielmehr wird durchgängig betont, „dass bei weitem der beste Zustand des Staates der sei, den unsere Vorfahren (maiores nostri) uns hinterlassen haben“.42 Im Anschluss an das Geschichtswerk Origines von Cato d. Ä. stellt Scipio in rep. II das Werden des römischen Staates als eine Art kollektiver Leistung dar, die sich nicht – wie bei den griechischen Poleis – dem Kraftakt eines einzelnen Stadtgründers 39

40 41 42

Gegen Gotter, der als Ergebnis seiner platonisierenden Lektüre konstatiert, Cicero wolle „der (griechischen) Philosophie eine wesentliche Funktion für die res publica einräumen“, was in „die Ablösung des exemplum durch die philosophische Deduktion“ münde (Gotter, Ontologie, S. 173). Vgl. hierzu Woolf, Cicero, S. 97 f., sowie meine weiterführenden Überlegungen in Müller, Ciceros Archäologie. Vgl. die Formulierung im ‚Methodenkapitel‘: „ratione […] nova“ (Cic. rep. 2.21). Cic. rep. 1.34. Vgl. ebd., 1.70: „Keines von allen Staatswesen ist nach Verfassung, Ordnung, Zucht zu vergleichen mit dem, was uns unsere Väter, schon damals von den Vorfahren (maiores) überkommen, hinterlassen haben“. Dementsprechend betont Scipio, dass er in seiner Rede nichts Neues, sondern Altbekanntes zur Sprache bringt. Vgl. auch ebd., 1.13 u. 17.

Vorbilder – und wie man ihnen folgen soll

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und Nomotheten verdankt: Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, sondern über mehrere Generationen hinweg von zahlreichen Herrschern und Staatsmännern evolutionär entwickelt.43 Auch darin liegt die herausragende Stabilität des römischen Staatsmodells begründet. Die geschichtliche Narration in der Archäologie ist nach Scipios Auskunft kein historiographischer Selbstzweck, sondern ein bewusst gewähltes Medium für eine exemplarische Darstellung: „[I]n berühmten Personen und Zeiten zeichne ich scharf Beispiele (exempla) von Menschen und Dingen, nach denen sich meine übrige Rede richten kann“.44 Exemplarität im Sinne von Vorbildhaftigkeit wird hier zum Strukturprinzip der Darstellung, beginnend mit Cato d. Ä., der schon in rep. I, 1 als eine Art exemplarisches ‚role model‘ der Tugendhaftigkeit charakterisiert wird. In rep. wimmelt es geradezu von positiven, aber durchaus auch von negativen exempla für politisches Handeln.45 Der im obigen Zitat anklingende Verweis auf ‚unsere Vorfahren‘ (maiores nostri) als Ursprung der bestmöglichen Staatsverfassung verdeutlicht dabei, dass der Rekurs auf exemplarische auctoritates insbesondere im römischen Kontext mit seiner starken Traditionsorientierung eine unmittelbare normative Kraft entfaltet.46 Die Berufung auf die Sitte der Vorfahren (mos maiorum), die Cicero in Anlehnung an einen Vers des Dichters Ennius auch explizit als Erfolgs- und Stabilitätsfaktor des römischen Staates ins Spiel bringt (moribus antiquis res stat Romana virisque)47, ist eine nicht nur bei Cicero immer wieder auftauchende Legitimationsfigur für politisches Handeln in der eigenen Gegenwart. Die Konstitution dieses mos maiorum als Quelle von Normativität und Werten im alten Rom darf man sich aber gerade nicht als eine Sammlung von althergebrachten Regeln und Grundsätzen vorstellen, die sich ggf. auch kodifizieren ließen; vielmehr wird die ‚Sitte der Vorfahren‘ wesentlich über handlungsorientierte Beispiele aus der Vergangenheit konstruiert, sodass Exemplarität hier keineswegs abstrakte Normen oder Prinzipien illustriert 43 44 45

46 47

Vgl. Cic. rep. 2.2 f. u. 37. Cic. rep. 2.55. Das negative exemplum par excellence ist Tarquinius Superbus, der letzte etruskische König Roms, der sich durch ungerechte Herrschaft zum Tyrannen entwickelte und so seinen Sturz sowie das Ende des römischen Königtums provozierte; vgl. Cic. rep. 2.44–48 u. 51. Hölleskamp, Exempla, S. 312, versteht im Kontext des mos maiorum die exempla zu Recht als „musterhaft-vorbildlich, nachahmenswert und geradezu als Handlungsanweisungen für die Zukunft verbindlich“. Cic. rep. 5.1. Zur Stabilität des mos maiorum vgl. Cic. rep. 2.7; als wesentliche Kritik an Platons Staatskonstruktivismus wird auch angeführt, dass die platonische Kallipolis „dem Leben der Menschen und ihren Sitten (mores) entrückt“ ist (Cic. rep. 2.21).

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bzw. veranschaulicht, sondern selbst in ihrer verallgemeinerbaren Singularität wertsetzend ist.48 Ist also das bewährte Alte qua Anciennität das eindeutig exemplarisch Vorbildhafte, das man einfach nur imitieren bzw. reproduzieren muss, um den besten Zustand des Staates zu erhalten?49 Das würde der normativen Vorbildlichkeit des Exemplarischen im politischen Feld geradezu zwangsläufig einen rein konservativen bzw. traditionalistischen Anstrich verleihen. Die umfangreiche institutionentheoretische Forschung der letzten Jahre zu Begriff und Funktion des römischen mos maiorum weist allerdings genau in die entgegengesetzte Richtung: Betont wird hier v. a. die Fluidität und Flexibilität, die dem Rekurs auf die Sitten der Vorfahren in Rom strukturell eingeschrieben ist.50 Diese Vieldeutigkeit hängt keineswegs nur mit den jeweiligen Argumentationsabsichten zusammen, die z.  B.  ein  Redner bei der Anführung historischer exempla jeweils verfolgte, sondern zeigt, dass man die von Cicero selbst artikulierte Idee der „Geschichte als Lehrerin des Lebens (historia magistra vitae)“51 nicht zu simplifiziert auffassen sollte52: Exemplarische geschichtliche Zusammenhänge und der mos maiorum sind zwar im römischen Verständnis unverkennbar eine normative Ressource – nicht nur für die Tagespolitik, sondern auch für die von Cicero in rep. präsentierte politische Philosophie –, liefern aber gerade keine starre und bloß von den Nachfahren zu kopierende Blaupause für adäquates Handeln.53 Die Weisheit der Vorfahren (sapientia maiorum)54 darf dementsprechend auch nicht als kodifizierbares Regelwissen verstanden werden, das bloß auf die Gegenwart ‚anzuwenden‘ ist. Dies bestätigt auch Ciceros Charakterisierung der exemplarischen Herrscher und Staatsmänner in seiner Archäologie. Das Erfolgsrezept des römischen 48 49 50

51 52 53

54

Vgl. hierzu die instruktiven Arbeiten von Haltenhoff: Wertbegriff; Institutionalisierte Geschichten; Römische Werte, zur Konstitution und Geltung römischer Werte. In Pro Sestio 143 zählt Cicero eine Reihe von staatstragenden Persönlichkeiten der Vergangenheit auf, denen es „nachzueifern“ (imitari) gilt. Vgl. hierzu Braun, Fingierte Stabilität; Bettetini, Mos maiorum; van der Blom, Role Models, S. 12–25, sowie die Beiträge zu Braun/Haltenhoff/Mutschler, Moribus antiquis, und Linke/ Stemmler, Mos maiorum. Zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung bis Cicero vgl. Blösel, Mos maiorum. Vgl. Cic. De orat. 2.35. Siehe hierzu auch den Beitrag von Karl-Heinz Lembeck zu diesem Band. Zu Ciceros differenziertem philosophischem Verständnis von Geschichte als „exemplary past“ vgl. Fox, Cicero’s Philosophy. Vgl. Haltenhoff, Institutionalisierte Geschichten, S. 216: „Der mos maiorum ist nicht, was er ein für allemal ist, sondern er ist stets auch das Resultat einer Interpretation. Diese mag etwa darin sichtbar werden, daß herkömmliche exempla umgedeutet werden oder verschwinden und sich umgekehrt neue etablieren.“ Cic. rep. 2.30.

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Staates liegt nicht allein in seinem modellhaften institutionellen Rahmen (s. o., § 2), sondern auch in der Weise, in der die führenden politischen Persönlichkeiten diesen geschaffen, gestaltet und ausgefüllt haben. Gerade weil Rom als Staat nicht – wie Pallas Athene in der griechischen Mythologie – in voller Rüstung geboren wurde, sondern sich über Jahrhunderte hinweg zum optimus status civitatis entwickelt hat, bietet die ciceronianische Archäologie eine „Geschichte bewusst eingeführter Neuerungen“, bei denen die römischen Staatsmänner ggf. auch hochgradig innovativ waren, soweit es die jeweilige Situation erforderte.55 Zentral an diesem Gedanken der Situativität ist, dass die exemplarischen politischen Persönlichkeiten eben nicht rein situationsbestimmt, sondern selbst situationsbestimmend agieren.56 Ihr Handeln bewegt sich in einem Spannungsverhältnis von Kontinuität und Wandel der res publica, insofern sie den mos maiorum nicht bloß replizieren, sondern ihn ihrerseits fortschreiben und damit in vorbildhaft-exemplarischer Weise entwickeln.57 Dazu bedarf es aber nicht bloß der Kenntnisse von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung von Staaten, wie sie die politische Philosophie der Griechen geliefert hat58, sondern mindestens ebenso sehr – wenn nicht sogar in höherem Maße – einer erfahrungsgetränkten Urteilskraft, die angemessen auf unvorhersehbare politische Entwicklungen zu reagieren vermag: Insofern Cicero in der politischen Geschichte dem unberechenbaren Faktor der Kontingenz ein nachhaltiges Gewicht einräumt59, besteht die Weisheit des Politikers v. a. in einer rational fundierten Entscheidungsfähigkeit und nicht in einer blinden Orientierung an abstrakten Prinzipien oder an starren Vorbildern.60 Letzteres wäre in der Krise der römischen Republik, die zu Ciceros Lebzeiten ihren Kulminationspunkt erreicht, definitiv kein konstruktiver Lösungsansatz.61 Deshalb empfiehlt Cicero dem Politiker auch das Studium der Geschichte zwecks Schärfung der praktischen Urteilskraft für regelmäßig auftretende 55 56 57 58 59 60 61

Braun, Fingierte Stabilität, S. 126. Vgl. ähnlich: Haltenhoff, Wertbegriff, S. 24. Vgl. die Überlegungen von van der Blom, Role Models, zum „paradox of consistency and change“ in rep.: „This paradox was apparent in Cicero’s references to the maiores and mos maiorum, and it seems to be built into Cicero’s notion of exemplarity“ (ebd., S. 19). Zu diesem Element der civilis prudentia vgl. Cic. rep. 1.45. Vgl. hierzu insgesamt: Atkins, Cicero. Siehe Cic. rep. 2.57: „Aber häufig siegt doch die Natur der öffentlichen Angelegenheiten selber über die Vernunft (sed tamen vincit ipsa rerum publicarum natura saepe rationem).“ Vgl. hierzu Sauer, Philosophie, der Ciceros Verwendung von ratio in rep. in die Nähe der aristotelischen Klugheit (phronêsis) rückt. Vgl. in diesem Sinne auch Woolf, Cicero, S. 108.

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Muster. Hier bedarf es keiner streng nomologischen Gesetzeshypothesen62, sondern eher der Fähigkeit zur Bildung von praktisch verwertbaren Faustregeln, die sich bewährt haben. Die Geschichte ist hier eine wertvolle Ressource für den praktischen Staatsmann wie auch für eine an den realen Phänomenen orientierte politische Philosophie: Denn die Beschäftigung mit ihren exempla ermöglicht der Urteilskraft erst eine Herausformung allgemeinerer Modelle, die zwar nicht immer ausnahmslos in der Praxis zutreffen mögen, aber zumindest – um eine aristotelische Idee ins Spiel zu bringen – hôs epi to poly, also ‚in den meisten Fällen‘. Über diese Urteilskompetenz wird der tutor et procurator rei publicae auf jeden Fall in hohem Maße verfügen.63 Cicero hatte als Alternativtitel für rep. auch an De optimo cive gedacht, und die Fokussierung auf exemplarische Persönlichkeiten in Scipios Rede hat die Funktion, diesem Konzept des vorbildhaften Bürgers Konturen zu verleihen, aber eben nicht in einer rein illustrativen Funktion: Cicero lässt sich zwar durchaus im allgemeinen Sinne zum Konzept des „Beschützers und Betreuers des Staatswesens (tutor et procurator rei publicae)“64 aus, aber dessen Qualitäten – insbesondere seine Voraussicht (providentia)65 – werden durch die Beispiele in der Archäologie erst richtig sichtbar, sodass das exemplum hier auch eine ostensiv-epistemische Funktion besitzt. Dieser weise Staatsmann ist keineswegs ein bloßes Ideal (im platonisierenden Sinne)66, sondern bereits in der römischen Geschichte manifestiert, z. B. in Gestalt des Tyrannenmörders und Begründers der Senatsherrschaft, Lucius Brutus. Letztlich ist auch der Hauptredner selbst, Scipio Aemilianus, als ein solches reales Vorbild gezeichnet67: Denn er vereint auf nahezu einzigartige Weise griechische Bildung mit 62

63 64 65 66 67

Bezeichnenderweise lehnt Cicero die von Platon formulierte Idee eines gesetzmäßigen Kreislaufs (anakyklôsis) der Verfassungsformen ab und ersetzt sie durch die flexiblere Metapher des Ballspiels, bei dem es auch einmal ungeordnet zugehen kann; vgl. Cic. rep. 1.65–69. Vgl. hierzu Cic. rep. 1.45. Vgl. hierzu Cic. rep. 2.51, wo diese Figur auch als rector et gubernator civitatis bezeichnet wird. Zu Ciceros Idealvorstellung des Staatsmanns vgl. insgesamt Zarecki, Cicero’s Ideal Statesman. Vgl. Cic. rep. 2.2f.5–10.12.22.30. Gegen Pöschl, Römischer Staat, S. 117 f., der hier v. a. eine Folie des platonischen Wächterstandes sieht. Wahre exempla müssen bei Cicero aber immer real sein; s. o., § 1. Powell, Philosophising, S.  265, dehnt das auf alle Diskutanten in rep. aus: „The Roman characters in the dialogue, idealised as they are, provide exemplars of what true Roman politicians should be like.“ Contra: Sauer, Römische Exempla-Ethik, S, 85, der meint, die Dialogpersonen seien nicht selbst wertsetzende exempla, sondern „vielmehr Modelle, wie man als „Römer“ philosophieren bzw. eine Entscheidung über ein Problem griechischer Philosophie herbeiführen kann.“ Exemplarität ist also auch in dieser zurückhaltenderen Deutung noch im Spiel.

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politischer Erfahrung (usus), und gerade diese Symbiose von Theorie und Praxis macht ihn wohl für Cicero nicht nur zu einem allgemein-römischen, sondern auch zu seinem eigenen persönlichen Vorbild.68 4.

Das Exemplarische als kreativ Nachzuahmendes: Moralisches Lernen an exempla

Die Erforschung von exempla in der römischen Kultur im Allgemeinen und bei Cicero im Besonderen hat sich in den letzten Jahren v. a. auf deren moralischdidaktische Funktion fokussiert.69 Dies hat zu diversen Neubewertungen der als für die römischen Sittenvorstellungen typisch betrachteten exempla-Ethik geführt, für die traditionell angenommen wurde, dass solche exempla in Rom in erster Linie als veranschaulichende und nicht-ambivalente Personifikationen von an ihnen verdeutlichten Werten und Tugenden fungierten, die es durch Imitation nachzuahmen galt. In deutlicher Differenzierung von diesem simplifizierten Moralismus ist dabei zum einen herausgearbeitet worden, dass ethische exempla in der römischen Kultur und Literatur keineswegs nur illustrativ verwendet wurden (und damit als austauschbar galten), sondern dass sie in ihrer Partikularität selbst als normkonstituierend betrachtet wurden.70 Dies korreliert mit dem neuen, deutlich flexibleren Verständnis des mos maiorum (vgl. oben, § 3) sowie mit der generellen Handlungsgebundenheit römischer Wertvorstellungen, die theoretischen Abstraktionen eher abhold ist.71 Für die ethischen exempla ist daraus die Schlussfolgerung gezogen worden, dass man sie eher in Kategorien der Situationsethik als in Form allgemeiner Präzepte oder gar universalistischer Moralprinzipien verstehen sollte, wofür sich u. a. in Ciceros letzter Schrift De officiis (= off.), die insgesamt einen stark kasuistischen Anstrich hat, überzeugendes Demonstrationsmaterial finden lässt.72 68 69 70

71 72

Zu Ciceros persönlichen Rollenvorbildern vgl. van der Blom, Role Models, insbes. S. 263– 270 zu Scipio Aemilianus. Dies ist der Schwerpunkt der Untersuchungen von van der Blom, Role Models, und Langlands, Exemplary Ethics. Vgl. hierzu Roller, Models, S.  12, der hier in Abgrenzung von einem typischen bzw. illustrativen Gebrauch von „injunctive use“ spricht: „Alternatively, speakers or authors may adduce exempla injunctively, to urge a particular course of action they regard as efficacious or morally correct under the circumstances, or to furnish a moral standard for their audiences to adopt as their own when evaluating the actions of others. […] Typicality is not essential here, and indeed the ‚model‘ case may be highly distinctive“. Vgl. Haltenhoff, Römische Werte, S. 95: „Die Geltung römischer Werte beruht nicht auf der Objektivität eines idealen Apriori.“ Vgl. hierzu Langlands, Roman Exempla.

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Diese durchaus überzeugenden Befunde werfen allerdings zwei Probleme auf, welche die Frage nach der Möglichkeit moralischen Lernens betreffen: (1) Die situationsethische Lesart der exempla, die auf deren Unbestimmtheit (‚indeterminacy‘) und flexible Interpretation abhebt73, scheint ein Lernen aus dem Vorbild maximal zu erschweren: Denn wenn selbst ein und dasselbe Beispiel für ganz unterschiedliche moralische Vorstellungen in Anschlag gebracht werden kann, liefert es doch gerade nicht mehr das, was man sich von einem moralischen Vorbild erhofft, dem man nacheifern bzw. das man imitieren möchte, nämlich eine eindeutige Handlungsanleitung. Gerade die Singularität der dargestellten Situation in ihrer Vielschichtigkeit lässt ja einen verallgemeinernden Transfer von ‚historischen‘ Vorbildern kaum zu. (2) Die beschriebene Schwierigkeit hängt eng mit einem anderen Phänomen zusammen, das Cicero selbst problematisiert. Er weist nämlich ausdrücklich darauf hin, dass man bei der Wahl eines nachzuahmenden Vorbilds besonders auf der Hut sein muss, und zwar sowohl in Bezug auf die jeweilige Person selbst als auch hinsichtlich der jeweiligen Momente, die man an ihr nachahmen sollte.74 Das verlangt v. a. einer oder einem ggf. noch unerfahrenen Lernenden schon viel (möglicherweise: zu viel) ab, zumal Cicero tendenziell vor einer blinden Nachahmung der eigenen Eltern und Vorfahren warnt.75 Hinzu kommt, dass er in off. aus der Personenrelativität und Situativität moralischer Entscheidungen explizit folgende Schlussfolgerung zieht: „[N]iemand sollte sich von dem Irrtum leiten lassen, dass er glaubt, wenn Sokrates oder Aristippos etwas gegen die Sitte oder Gepflogenheit der Bürgerschaft getan oder gesprochen haben, auch er dazu berechtigt sei.“76 Den Hintergrund für diese Überlegung bildet die sog. Vier-Personen-Lehre in off. 1, der zufolge moralische Pflichten sich nicht nur aus der allgemeinen – d. h. bei allen Menschen gleichen – Person (persona communis), sondern auch aus der individuellen Persönlichkeit (persona propria) ergeben.77 Für Cato d.  J. war nach der Niederlage gegen Caesar bei Utica der Freitod die richtige moralische Option, aber das heißt nicht, dass ein anderes Individuum mit einer eigenen persona propria in einer vergleichbaren Situation genau dasselbe tun sollte.78 73 74 75 76 77 78

Vgl. van der Blom, Role Models, S. 103–107, sowie Langlands, Exemplary Ethics, Kap. 5 u. 7. Vgl. Cic. De orat. 2.90–92. Vgl. Cic. off. 1.115–119. Cic. off. 1.148. Vgl. Cic. off. 1.107–125, sowie Gill, Personhood, und van der Blom, Role Models, S. 83–87. Vgl. Cic. off. 1.112.

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Cicero empfiehlt deshalb in off. grundsätzlich, dass man sich im Sinne der Selbsterkenntnis der eigenen individuellen Natur möglichst bewusst sein bzw. werden sollte, um die jeweils angemessenen Entscheidungen zu treffen: Es ist kontraproduktiv, Vorbildern bzw. Zielen zu folgen, die man nicht erreichen kann, insofern man „über der Nachahmung der Natur anderer seine eigene außer Acht lässt“.79 Inwiefern können bei moralischen Lernprozessen dieser Art nun ethische exempla in ihrer endemischen Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit von Nutzen sein? Die Antwort lautet, dass gerade nicht die bloß imitierende Nachahmung, sondern eben die kritische und kreative Auseinandersetzung mit ihnen einen wesentlichen Beitrag zur Schulung des moralischen Urteilsvermögens leistet.80 Cicero diskutiert z.  B. in off. 3 das höchst ambivalente Beispiel von Atilius Regulus.81 In einer bloß auf moralische Imitation abzielenden exempla-Ethik kann dieser als schlichte Personifikation der Tugend der Treue ( fides) verstanden werden; unter Ciceros Lupe wird der Fall aber deutlich ambivalenter, insofern er im Spannungsfeld des Verhältnisses von Sittlichkeit (honestum) und Nutzen (utile), das Cicero in dieser Schrift insgesamt reflektiert, dargestellt und bewertet wird. Die Auseinandersetzung mit diesem konkreten exemplum führt somit zu einer am Einzelfall und seiner Besonderheit orientierten – und damit hinreichend kontextsensitiven – moralischen Wahrnehmung, an der trotzdem allgemeinere Kategorien der sittlichen Bewertung andocken und geschult werden können. Man soll aus der kritischen Beschäftigung mit diesem Beispiel nicht lernen, in einer vergleichbaren Situation genau dasselbe zu tun wie Regulus (oder sich in anderen Situationen zu fragen, was Regulus nun tun würde), sondern eine geschärfte Wahrnehmungs- und Urteilskraft entwickeln, die gewissermaßen eine reflektierte Nachahmung von Regulus’ Urteilen und Handeln in einer konkreten anderen Situation und unter Würdigung der eigenen Person (s. o.) erlaubt, die aber durchaus im Lichte von allgemeiner fassbaren Kategorien vollzogen, legitimiert und bewertet wird.82 Dann ist moralische ‚Nachahmung‘ auf 79 80 81

82

Cic. off. 1.111. Vgl. Langlands, Exemplary Ethics, Kap. 12 („Controversial thinking through exempla“). Vgl. Cic. off. 3.99–115 sowie Langlands, Roman Exempla, S. 105–110. Regulus war ein römi­ scher Konsul, der von den Karthagern im zweiten Punischen Krieg gefangengenommen und nach Rom geschickt wurde, um den Austausch von Kriegsgefangenen auszuhandeln. Er empfahl dem Senat allerdings, die karthagischen Gefangenen nicht im Austausch für seine eigene Freiheit freizulassen, und kehrte danach, wie er es den Karthagern versprochen hatte, zu ihnen zurück, um von ihnen nach Darstellung der römischen Quellen grausam zu Tode gefoltert zu werden (römische exempla sind nicht selten eine recht blutrünstige Angelegenheit). Vgl. Langlands, Roman Exempla, S. 105, zu der durch exempla geschulten „ethical skill“: „The Roman ethical system places a particular burden on readers of exempla as moral

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der Basis der Auseinandersetzung mit exempla keine starre Imitation, sondern ein kritischer und kreativer Prozess, der autonome praktische Deliberation erfordert. Neben die motivationale Funktion, die Vorbilder besitzen, insofern sie zu ihrer Nachahmung anspornen, tritt somit auch eine distinkte epistemische Funktion im Blick auf ein exemplarisch vermitteltes praktisches Wissen. In diesem differenzierten Verständnis von „exemplary wisdom“ (R.  Langlands) und exemplarischem Lernen (vgl. auch unten,  §  5), das sich nicht zuletzt aus Ciceros an seinen Sohn gerichteten moralischen Erörterung in off. gewinnen lässt, sind zwei weiterführende Potenziale angelegt, die hier nur angedeutet werden können: (i) In philosophiehistorischer Sicht ist bemerkenswert, dass sich beim römischen Stoiker Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) zum einen eine nachhaltige Kritik an der konventionellen römischen exempla-Ethik findet, die aber gerade nicht dazu führt, diese einfach über Bord gehen zu lassen: Stattdessen arbeitet Seneca an einem modifizierten Konzept von ‚stoischer Exemplarität‘83, das sich mit der Idee situationsorientierter Vorschriften (praecepta) vermitteln lässt.84 Hier wäre ein weiterer Abgleich mit dem bei Cicero vorhandenen Material fruchtbar, um die Frage nach Funktion und Gehalt einer philosophisch informierten römischen exempla-Ethik und dem damit verbundenen Verständnis von praktischem Wissen grundlegend aufzurollen.85 (ii) In systematischer Perspektive hat R. Langlands angeregt, dass auch die gegenwärtige ‚virtue ethics‘ von einer intensiveren Beschäftigung mit diesem Modell profitieren könnte.86 Sie sieht die römische exemplaEthik grundsätzlich als anschlussfähig für ein aristotelisch imprägniertes Konzept von Klugheit bzw. moralischer Urteilskraft, die nicht nur in ihrer Genese, sondern auch in ihrer epistemischen Struktur auf die

83 84 85 86

agents: in reading an exemplum, they need to understand the particular circumstances that made it the right act for that exemplary figure at that moment, and also to recognize to what extent it is appropriate for them to identify with that particular figure. Indeed, in any given situation, they need to recognize who they are, what the significant aspects of their own particular context are, and what action is therefore appropriate for them at the moment.“ Zum moralischen Lernen anhand von exempla vgl. ausführlich Langlands, Exemplary Ethics, Kap. 2 u. 4, sowie ihre zwei neueren Artikel: Aemulatio; Roman exemplary ethics. Zu Senecas Kritik (in ep. 94 f. u. 120) und seiner Alternative einer ‚Stoic exemplarity‘ vgl. Roller, Precept(or); Models, Kap. 8. Vgl. hierzu Inwood, Rules, bes. S. 123–130 zu Ciceros off. Ansätze hierzu finden sich z. B. bei Sauer, Römische Exempla-Ethik. Vgl. hierzu die Überlegungen von Langlands, Roman exemplarity.

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kritische Auseinandersetzung mit ethischen Beispielen angewiesen ist. Von diesem Boden aus lässt sich über ein adäquates Konzept des exemplarischen ethischen Lernens ebenso nachdenken wie über den Ansatz einer ‚exemplarist moral theory‘, wie er jüngst von L.  Zagzebski vorgelegt worden ist.87 5.

Fazit

Exempla erfüllen bei Cicero unterschiedliche Funktionen, sodass das jeweils darin artikulierte Verständnis von Exemplarität durchaus variiert.88 Was alle jedoch strukturell miteinander verbindet, ist das grundsätzlich in ihnen deutlich werdende und hermeneutisch fruchtbare Spannungsverhältnis von Individualität und Typus.89 Für die praktische Philosophie Ciceros lässt sich festhalten, dass normative Gehalte bei ihm von singulären exempla aus erschlossen werden, sodass ein rein illustrativer Einsatz, wie er im rhetorischen Kontext dominant ist, in den Hintergrund tritt. Hier herrscht ein paradigmatischnormativer Gebrauch vor, der auf eine römische Konzeption von Exemplarität in der praktischen Philosophie als Vermittlung des Konkreten und des Allgemeinen verweist, für die Ciceros Überlegungen ihrerseits als exemplarisch gelten können. Die verschiedenen Konnotationen von Exemplarität, die in seinen Werken dabei mitschwingen, also das Modellhaft-Paradigmatische und Prototypische (§ 2), das Vorbildliche (§ 3) und das (kreativ) Nachzuahmende (§ 4), weisen untereinander viele Übergänge auf und sind eher in der Analyse als in den Texten selbst trennscharf voneinander abzugrenzen. Was diese praktischen exempla aber insgesamt miteinander verbindet, ist meiner Wahrnehmung nach zweierlei: zum einen Ciceros Akzent auf der realen Existenz des jeweiligen exemplum, das eben nicht bloß erdacht oder vorgestellt sein darf (wie z. B. Platons Kallipolis); damit hängt auch die Historizität des Exemplarischen zusammen, die ihm erst seine Autorität (auctoritas) verleiht. Zum anderen kristallisiert sich sowohl in der politischen Philosophie als auch in der Ethik eine Art Lernmuster heraus: Die Staatsklugheit der Politiker kann ebenso wie die moralische Kompetenz der Bürger an historischen exempla geschult werden, sodass letztere gelingendes praktisches Handeln ermöglichen. Dazu ist aber keine blinde Imitation geeignet, sondern ein ebenso kritischer wie kreativer Umgang mit dem exemplarischen Material, 87 88 89

Vgl. Zagzebski, Moral Theory. Vgl. hierzu auch van der Blom, Role Models., S. 66 f. Zu dieser „dual ontology of examples“ vgl. Roller, Models, Kap. 1, bes. S. 15 f.

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der durchaus auch zu politischen und ethischen Innovationen führen kann. Ciceros Formel der Geschichte als Lehrerin des Lebens ist teilweise so gedeutet worden, dass damit die Empfehlung ausgesprochen werde, aus der Geschichte zu lernen, also Handlungen in der Gegenwart und der Zukunft unmittelbar aus ihr ‚abzuleiten‘. Ciceros Umgang mit dem Exemplarischen in der praktischen Philosophie verdeutlicht, dass das nicht die Substanz seiner Überlegungen trifft. In Abwandlung dieser Formel und in Anwendung auf das vorbildlich Exemplarische ließe es sich besser wie folgt formulieren: Cicero demonstriert, wie man nicht aus, sondern wie man am Vorbild lernen kann und soll.90

Literatur

I. Antike Literatur

Aristoteles, Ars rhetorica, hg. v. R. Kassel. Berlin 1976. [= Rhet.] Marcus Tullius Cicero: De inventione (Über die Auffindung des Stoffes). Lateinisch/ deutsch, hg. u. übers. v. T. Nüßlein. Düsseldorf/Zürich 1998. [= inv.] –: De officiis (Vom pflichtgemäßen Handeln). Lateinisch/deutsch, übers., hg. u. komm. v. H. Gunermann, Stuttgart 2007. [= off.] –: De oratore (Über den Redner). Lateinisch/deutsch, hg. u. übers. v. H. Merklin, Stuttgart 2016. [= De orat.] –: De re publica (Vom Gemeinwesen). Lateinisch/deutsch, übers. u. hg. v. K.  Büchner. Stuttgart 1979. [= rep.] –: Orator (Der Redner). Lateinisch/deutsch, hg. u. übers. v. H. Merklin. Stuttgart 2008. [= Or.] –: Reden gegen Verres. Lateinisch/deutsch, übers. v. G. Krüger, hg. v. M. Giebel, Stuttgart 2020. [= Verr.] –: Topica. Lateinisch/deutsch, hg., übers. u. erl. v. K.  Bayer. Zürich/München 1993 [= Top.] Polybios: Die Verfassung der römischen Republik. Historien. VI. Buch, übers. v. K. F. Eisen, hg. v. K. Brodersen. Stuttgart 2012. [= Hist.] Seneca: Ad Lucilium Epistulae Morales LXX-CXXIV, [CXXV] / An Lucilius. Briefe über Ethik 70–124, [125], übers. v. M. Rosenbach, Darmstadt 1999. [= ep.]

II. Forschungsliteratur

Asmis, E.: A New Kind of Model: Cicero’s Roman Constitution in De re publica. In: The American Journal of Philology 126, 2005, S. 377–416.

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Vgl. zu diesem Konzept von „Lernen an der Geschichte“ Dreßler, Historische Bildung.

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Atkins, J.: Cicero on Politics and the Limits of Reason: The Republic and Laws, Cambridge 2013. Bettetini, M.: mos, mores und mos maiorum: Die Erfindung der „Sittlichkeit“ in der römischen Kultur. In: Moribus antiquis res stat Romana, hg. v. M.  Braun et  al., München/Leipzig 2000, S. 303–352. Blösel, W.: Die Geschichte des Begriffes mos maiorum von den Anfängen bis zu Cicero. In: Mos maiorum, hg. v. B. Linke/M. Stemmler. Stuttgart 2000, S. 25–97. Braun, M./Haltenhoff, A./Mutschler, F.  H. (Hg.): Moribus antiquis res stat Romana, Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr. München/Leipzig 2000. Braun, M.: Fingierte Stabilität. Zum Umgang der Römer mit dem mos maiorum. In: Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, hg. v. S. Müller. Köln 2001, S. 121–129. Bücher, F.: Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik, Stuttgart 2006. Büchner, K.: Marcus Tullius Cicero: De re publica. Kommentar, Heidelberg 1984. Dreßler, J.: Vom Sinn des Lernens an der Geschichte. Historische Bildung in schultheoretischer Sicht, Stuttgart 2012. Erler, M.: Mulier tam imperiosae auctoritatis (Boeth. Cons.  1,1,13). Auctoritas und philosophia in römischer und griechischer Philosophie. In: Freiheit und Geschichte. Festschrift für Theo Kobusch zum 70. Geburtstag, hg. v. J. Müller/C. Rode. Münster 2018, S. 39–57. Ferrary, J.-L.: L’archéologie du De re publica (2, 2, 4–37, 63): Cicéron entre Polybe et Platon. In: The Journal of Roman Studies 74, 1984, S. 87–98. Fox, M.: Cicero’s Philosophy of History, Oxford 2007. Gildenhard, I.: Paideia Romana. Cicero’s Tusculan Disputations, Cambridge 2007. Gill, C.: Personhood and Personality: The Four-personae Theory in Cicero, de Officiis I. In: Oxford Studies in Ancient Philosophy 6, 1988, S. 169–199. Gotter, U.: Ontologie versus exemplum: Griechische Philosophie als politisches Argument in der späten römischen Republik. In: Philosophie und Lebenswelt in der Antike, hg. v. K. Piepenbrink. Darmstadt 2003, S. 165–185. Haltenhoff, A.: Wertbegriff und Wertbegriffe. In: Moribus antiquis res stat Romana, hg. v. M. Braun et al. München/Leipzig 2000, S. 15–29. –: Institutionalisierte Geschichten. Wesen und Wirken des literarischen exemplum im alten Rom. In: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. G.  Melville. Köln 2001, S. 213–217. –: Römische Werte in neuer Sicht? Konzeptionelle Perspektiven innerhalb und außerhalb der Fachgrenzen. In: Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft, hg. v. A. Haltenhoff/A. Heil/F.-H. Mutschler. München/Leipzig 2005, S. 81–105.

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Jörn Müller

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Vorbilder – und wie man ihnen folgen soll

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Der Einzelfall, die Regel und das Problem der praktischen Urteilskraft Christoph Horn Möglicherweise assoziiert man mit dem Begriff der Exemplarität als erstes einen ‚Paradigmatismus‘. Denn das lateinische Wort exemplar entspricht dem griechischen Ausdruck paradeigma. Beide bezeichnen ein Vorbild, Muster oder einen Inbegriff (auch wenn man im Deutschen oft fälschlich so spricht, als wäre ein ‚Exemplar‘ ein Einzelding, z. B. eine einzelne Buchkopie). Die Begriffe ‚Paradigmatismus‘ und ‚Exemplarismus‘ bezeichnen bekanntlich Platons Position einer Ideenkonzeption, wie er sie in den mittleren Dialogen eingeführt hat; Ideen sind für Platon begriffliche Universalien und reine Sachgehalte, die die namensgleichen Eigenschaften von Phänomenen der sinnlich wahrnehmbaren Welt erklären sollen. Dabei spielt der Begriff einer formalen oder paradigmatischen Ursache eine zentrale Rolle: Platonische Ideen verursachen die homonymen Eigenschaften sinnlich wahrnehmbarer Objekte oder Prozesse im Sinn einer ‚Formursächlichkeit‘. Allerdings braucht man ‚Exemplarität‘ nicht so eng und anspruchsvoll zu verstehen. Man kann den Begriff der Exemplarität auch mit dem allgemeineren Problem der Urteilskraft und ihren unterschiedlichen Arbeitsweisen in Zusammenhang bringen. Das Exemplarische ist dann generell das, woran man etwas misst, festmacht oder bestimmt: ein Orientierungspunkt, eine Landmarke. Ihm kommt eine kriteriologische Funktion im Feld des ZuBeurteilenden zu. Entsprechend bezeichnet Urteilskraft das epistemische Vermögen, mit dem man in einem unbestimmten Feld irgendwie zu sachgerechten, angemessenen und begründeten Bestimmungen gelangen kann. Es mag so sein, dass man dafür auf ewig-ideale und vollkommene platonische Ideen oder auf göttliche Intuitionen zurückgreifen muss. Aber vielleicht genügen auch Alltagsregeln und Binsenweisheiten, Vorbildfiguren und Vergleichsfälle, Erfahrungssedimente und ad hoc-Regeln, das ‚Bauchgefühl‘, Konventionen oder willkürliche normierende Festlegungen. Prominente Beispiele dafür, wie die Urteilskraft arbeitet, liefern das ästhetische, moralische, politische oder das juridische Urteil: Aufgrund welcher Eigenschaften sollte ein Kunstwerk von uns als schön, erhaben, gelungen, eindrucksvoll oder als missraten, verfehlt, abstoßend beurteilt werden? Welche Handlungen können als moralisch geboten, verboten, zulässig, empfehlenswert oder als ausnahmsweise erlaubt gelten und weshalb? Wie ist ein

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_014

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strafrechtlicher Fall zu bewerten, und mit welchem Strafmaß ist er zu versehen? Ähnlich gelagert sind Fälle aus Medizin oder Politik: Wie gelangt man von den Symptomen von Patienten zu einem angemessenen medizinischen Befund, wie von einem Faktenknäuel zu einer verantwortlichen politischen Entscheidung? Ich behandle im Folgenden das Thema ‚Exemplarität‘ aus der Perspektive der praktischen Urteilskraft, der Klugheit (phronêsis bzw. prudentia), und zwar aus einer philosophiehistorischen Perspektive. Meine Stationen hierbei sind Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant und Heidegger.

I.

Für Platon ist die Welt der sinnlichen Erfahrung durch Ideen strukturiert: Alles wahrnehmbare Schöne geht auf die Idee des Schönen zurück. Ebenso ist unser Erkennen durch unseren Zugang zur Idee des Schönen bestimmt: Wir nehmen etwas als schön wahr aufgrund der Idee des Schönen. Es liegt daher nahe zu meinen, Platon habe sein ideentheoretisches Modell für problemlos und allgemein anwendbar gehalten. Wann immer wir für ein Urteil – sei dieses ästhetisch, moralisch, politisch oder juridisch – nach einem Maßstab suchen, bräuchten wir einfach nur auf die entsprechende Idee zurückzugreifen, die das Gegenstandsfeld organisiert. Doch dem ist nicht so. Im Spätdialog Politikos finden wir vielmehr, bezogen auf die fallgerechte Formulierung staatlicher Gesetze, die folgende problematisierende Passage: Fremder aus Elea: Auf gewisse Weise ist nun wohl offenbar, dass zur königlichen Kunst die gesetzgebende gehört; das Beste aber ist, wenn nicht die Gesetze Macht haben, sondern der mit Einsicht begabte königliche Mann. Weißt du weshalb? Der jüngere Sokrates: Sage, wieso du das meinst. Fremder: Weil das Gesetz nicht imstande ist, das für Alle Zuträglichste und Gerechteste genau zu umfassen und so das wirklich Beste zu befehlen. Denn die Unähnlichkeiten der Menschen und der Handlungen, und dass niemals irgendetwas sozusagen Ruhe hält in den menschlichen Dingen, dies gestattet nicht, dass irgendeine Kunst etwas für alle und zu aller Zeit einfach darstelle. Das geben wir doch wohl zu? Sokrates: Wie sollten wir nicht! Fremder: Das Gesetz aber sehen wir doch, dass es eben hiernach strebt, wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch, der nichts will anders als nach seiner eigenen Anordnung tun und auch niemanden weiter anfragen lassen, auch nicht, wenn jemandem auf etwas Neues und Besseres gekommen ist – außer der Ordnung, die er selbst festgestellt hat.

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Sokrates: Richtig. Genau so, wie du jetzt gesagt hast, macht es das Gesetz mit uns Allen. Fremder: Unmöglich also kann sich zu dem niemals Einfachen das richtig verhalten, was durchaus einfach ist. Sokrates: So scheint es.1

In dem zitierten Text geht es Platon darum, wie man juridische Gesetze so formulieren kann, dass sie die Einzelfälle richtig erfassen. Es ist aber nicht leicht zu sagen, worin Platon das eigentliche Problem sieht. Sicher, Gesetze können unter konkreten Umständen zu hart sein oder nicht hart genug ausfallen, zu unpräzise oder zu weitgefasst sein; sie können die persönliche Problemsituation des Täters zu wenig beachten oder auch die eigentümliche Motivlage der Täterin sträflich ignorieren. Man muss daher jeden Einzelfall in den Blick nehmen. Aber gegeben diese unumstrittene Tatsache: Wie interpretiert Platon die Sachlage? Meint er, dass er wegen der fehlenden gesetzesförmigen Verallgemeinerbarkeit seine Ideenkonzeption aufgeben muss? Zumindest sagt der Text, dass Gesetze stets ungenügend seien, weil es ihnen nicht gelinge, die „Unähnlichkeiten der Menschen und der Handlungen“ einzufangen; denn, so unser Text, „niemals hält etwas Ruhe in den menschlichen Dingen“. Folglich könne es keine Kunst oder Kompetenz (technê) geben, die imstande sei, eine solche Komplexität auf einfache Formeln zu bringen. Das Gesetz erweist sich, so Platon weiter, gegenüber der fluktuierenden Vielfalt menschlicher Gegebenheiten als starr und despotisch; es verhält sich „wie ein selbstgefälliger und ungelehriger Mensch, der nichts will anders als nach seiner eigenen Anordnung tun und auch niemanden weiter anfragen lassen“. Sobald jemand zu einer tiefergehenden Einsicht gelangt, reagiert das Gesetz darauf mit Ablehnung. Wie das Zitat belegt, betont Platon im Politikos unverändert (in Fortführung seiner Lehre von der Philosophenherrschaft in der Politeia), dass es das Wissen des Individuums ist, was die Voraussetzung für eine vorzügliche normative Ausstattung eines Staates darstellt.2 Somit bleibt es dabei, dass der bestmögliche Staat nicht der gesetzesorientierte, sondern derjenige ist, der von einem „königlichen, mit Einsicht begabten Mann“ (andra ton meta phronêseôs basilikon)3 regiert wird. Aber verfügt dieser über Ideenwissen? Oder hat er vielleicht lediglich Erfahrungs- oder Gebrauchswissen? Man könnte so argumentieren: Verträte Platon weiterhin das Modell des Ideenwissens, dann müsste er behaupten, dass sich Einzelvorkommnisse stets als Fälle von Regeln 1 Platon, Politikos, 294a6-c9. 2 Vgl. Platon, Politikos, 292e f. 3 Platon, Politikos, 294a8.

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formulieren lassen. Nun betont er aber stattdessen die personale Urteilskraft herausragender Individuen. Verfügen diese dann eher über einen besonderen ‚moralischen Sinn‘ oder eine ‚moralische Wahrnehmungsfähigkeit‘? Grundsätzlich stellt sich hier die Frage: Wie ermöglicht personale Urteilskraft eine Orientierung im Feld des Unbestimmten? Gemäß einem generalistischen Bild der Urteilskraft geht es darum, einen allgemeinen Standpunkt, eine Norm oder Regel, und einen besonderen Sachverhalt aufeinander zu beziehen – wobei diese subsumierende Verknüpfung von Allgemeinem und Besonderem ihrerseits gravierende Fragen aufwirft (dass auch sie nicht selbstverständlich ist, werden wir bei Kant sehen). Ich bezeichne dieses Vorgehen als einen Applikationismus, weil es die Rolle der Urteilskraft als fallgerechte Applikationsfähigkeit in Bezug auf allgemeine Regeln beschreibt. Dagegen beruht einem partikularistischen Bild der Urteilskraft zufolge das Bestimmen nicht auf Regelanwendung, sondern auf einer Wahrnehmung der Einzelmerkmale einer Situation, die von der urteilsfähigen Persönlichkeit erfasst werden, wobei man im Hintergrund eine Art ‚Geschmack’, einen ‚besonderen Sinn für‘ oder ein ‚Angemessenheitsgefühl‘ annehmen muss. Platons Standpunkt kann auf den ersten Blick sowohl generalistisch als auch partikularistisch interpretiert werden. Ich denke aber nicht, dass ein Partikularismus für ihn ernsthaft in Betracht kommt. An der zitierten Stelle aus dem Politikos meint Platon, wie ich glaube, lediglich, dass sich Ideenwissen nicht in einfachen Formulierungen auf die sinnliche Wirklichkeit anwenden lässt. Auch noch so detaillierte Gesetzesformulierungen werden der Komplexität der menschlichen Handlungsrealität nicht gerecht. Das Problem liegt, so betrachtet, gar nicht bei den Ideen, sondern in der sinnlichen Wirklichkeit. Diese wird von Platon als instabil und fließend angesehen. Hinzu kommt, dass Ideen nur für wenige Individuen erreichbar sein sollen, sich also nicht einfach jedermann zugänglich machen lassen. Dennoch, grundsätzlich verteidigt Platon weiterhin die Vorstellung von der Erreichbarkeit von Ideenwissen und seiner prinzipiellen politisch-juridischen Nutzbarkeit.4 Wir sehen an dieser Stelle soviel: Sogar die Annahme einer Ideentheorie löst das Problem der Urteilskraft nicht schlagartig. Es bleibt selbst dann schwierig zu sagen, wie sich Ideen und die sinnlich erfassbare Welt denn richtig zusammenbringen lassen. Es ist dieses Problem, das Platon im Politikos entdeckt zu haben scheint.

4 Zu diesen Thesen vgl. Horn, Epieikeia bei Platon und Aristoteles; Ruling With (and Without) Laws. Eine kritische Perspektive auf den Partikularismus formuliert schon Gesang, Der Streit um den moralischen Partikularismus.

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II.

Kommen wir damit zu Aristoteles, mit Blick auf den die Interpretationskontroverse zwischen Generalismus und Partikularismus wesentlich ernsthafter geführt worden ist. Dabei stehen sich die beiden Positionen eines regelbasierten Generalismus und eines wahrnehmungsbasierten Partikularismus gegenüber. Die letztgenannte Position wird oft verbunden mit einer positiven Bezugnahme auf Aristoteles’ Begriff der phronêsis – wobei diese als situative Urteilskraft oder als Gespür für die ‚morally relevant features of a given situation‘ verstanden wird. Partikularismus bezeichnet dabei die metaethische Auffassung, dass moralische Urteile sich stets nur in Bezug auf Einzelfälle formulieren lassen, denen dann – ähnlich wie in der angelsächsischen case law-Tradition in der Rechtsprechung – ein exemplarischer Charakter für die Beurteilung eines aktuell vorliegenden Falls zugesprochen wird. Nach partikularistischer Auffassung muss jedes moralische Urteil, um adäquat sein zu können, an den zahllosen Aspekten orientiert sein, welche für eine bestimmte Situation spezifisch kennzeichnend sind. Man kann dies als einen Situationismus bezeichnen. Zwischen Einzelfällen ist dann allenfalls Ähnlichkeit konstatierbar, nicht aber die für Generalisierbarkeit konstitutive Gleichheit. Gemäß der ‚Inkommensurabilitätsthese‘ des Partikularismus ist praktische Vernunft bei jeder Handlung vor neue, nicht antizipierbare Herausforderungen des Urteilens gestellt. Partikularismus kann einerseits als ontologische These verstanden werden; dann bedeutet er eine Bestreitung der Existenz allgemeiner Prinzipien innerhalb der praktischen Deliberation. Oder er betrifft Fragen der moralischen Entscheidungsfindung; dann wendet er sich gegen die Unflexibilität und mangelnde Passgenauigkeit allgemeiner Prinzipien. Oder er bezieht sich auf die Begründungsebene moralischer Urteile; dann macht er sich dafür stark, dass Begründungen legitimerweise situationsrelativ sein können (oder gar müssen). Wichtige Vertreter sind gegenwärtig John McDowell, David Wiggins, Jonathan Dancy oder David McNaughton. McDowell geht soweit, mit Wittgenstein zu behaupten, moralisches Handeln brauche keineswegs regel- oder prinzipienorientiert zu sein. Auf Aristoteles bezogen haben etwa McDowell, Wiggins und Nicholas White pro-partikularistisch argumentiert.5

5 McDowell,  J.: Virtue and Reason; White, Ethical Particularism in Aristotle. Wiggins, Incommensurability. Eine umfassende Analyse und kritische Diskussion bietet Hoffmann, Der Standard des Guten bei Aristoteles. Vgl. auch Elm, Klugheit und Erfahrung bei Aristoteles und Horn Epieikeia.

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Ein Punkt, auf den sich die partikularistische Lesart scheinbar stützen kann, ist Aristoteles’ Hervorhebung der ‚Normfigur‘, also des phronimos, spoudaios oder kalos kagathos. Aristoteles beschreibt mit ihm nicht einfach ein personales Ideal, dem man nacheifern sollte; er liefert vielmehr ein personales Kriterium. Der phronimos bildet den Maßstab und die Richtschnur (kanôn kai metron)6 korrekten Verhaltens. Hinzu kommt noch, dass Aristoteles mit der (von Platon stammenden) Formel hôs epi to poly (ut in pluribus) zu sagen scheint, Regeln könnten allenfalls für die Mehrzahl von Fällen gelten (‚Daumenregeln‘). Träfe dies zu, so würde er das Regelmodell ganz grundsätzlich in Frage stellen. Doch so interessant die partikularistische Herausforderung an eine tra­di­ tionell generalistische Lesart auch zu sein scheint, sie ist doch aus mehreren Gründen auch für Aristoteles unplausibel. In Rhetorik  I 1–2 etwa betont Aristoteles ausdrücklich den Wert des Gesetzes; er hält ein Verfahren, das Generalisierungen vornimmt und den gegebenen Einzelfall unter Regeln subsumiert (oder aber im Sinn eines Applikationismus Regeln auf Fälle anwendet), offenbar grundsätzlich für legitim. Dies wird auch durch die folgende Passage aus Politik III 16 unterstützt: Auch jetzt können über einige Dinge die Beamten souverän entscheiden, wie etwa der Richter dort, wo das Gesetz es nicht leisten kann. Wo das Gesetz aber genügt, da bezweifelt keiner, dass nicht das Gesetz am besten regiert und entscheidet. Da man aber das eine im Gesetz fassen kann und das andere nicht, so entsteht eben daraus die Schwierigkeit und die Frage, ob eher das vollkommene Gesetz regieren solle oder der vollkommene Mensch. Denn unmöglich ist es, über jene Dinge Gesetze zu erlassen, über die die Regierenden sich zu beraten pflegen. Man bestreitet denn auch nicht, dass ein Mensch in diesen Dingen entscheiden solle, sondern nur, dass es bloß einer sei und nicht viele.7

Wie das Zitat belegt, vertritt Aristoteles durchaus einen Applikationismus, also die Vorstellung, eine allgemein formulierte Rechtsregel könne auf eine bestimmte Anzahl von Fällen passenderweise angewandt werden. Mehr noch, er verteidigt (wie schon Platon in den Nomoi) die Auffassung, dass allgemeine Regeln den angemessenen Normalfall juridischer Urteilsfindung bilden sollten. Dass er darüber hinaus Gesetze für unvollständig und für interpretationsbedürftig hält, heißt nur, dass der konkrete Einzelfall nicht immer durch die bestehenden Gesetze eingefangen wird; es impliziert hingegen nicht, dass sich die Rechtsrealität überhaupt nicht durch Regeln abbilden ließe. Hätte der Gesetzgeber diesen und jenen Fall vorhergesehen, so hätte er ein Gesetz dafür formuliert – und zwar selbstverständlich erneut in Regelform. 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik III 4, 1113a33. 7 Aristoteles, Politik, 1287b15-25.

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Dass gegebene Regeln unzulänglich sind, liegt somit lediglich an der unvorhersehbar komplexen Realität, nicht an der Regelform als solcher. Zusätzliche Einwände gegen eine partikularistische Lesart der aristo­te­lis­ chen Moralphilosophie ergeben sich besonders aus zwei Punkten. Erstens verfügt Aristoteles bekanntlich über eine ganze Reihe von moralischen Regeln des generalistischen Typs, die er zweifellos affirmativ einsetzt. Terence Irwin hat eine Liste von diesen zusammengestellt.8 Beispielsweise zählen dazu Regeln wie ‚Jeder Mensch ist mit allen seinen Handlungen an der eudaimonia als seinem letzten Ziel orientiert‘ oder ‚Moralische Tugenden müssen immer auf die Mitte zwischen den Extremen von Übermaß und Mangel zielen‘. Aus Politik III  9 und III  12 kennen wir den aristotelischen Gerechtigkeitsgrundsatz, wonach gleiche Fälle gleich und ungleiche Fälle ungleich zu behandeln sind. Zweitens kann man mit Georgios Anagnostopoulos darauf verweisen, dass sogar die platonisch-aristotelische Formel hôs epi to poly eindeutige generalistische Implikationen aufweist.9 Sie besagt ja eben, dass eine Regel gültig für die Mehrzahl der Fälle ist, nicht, dass die Fall-Regel-Beziehung insgesamt aufgehoben wäre. Regularität wird von Aristoteles zudem dadurch nobilitiert, dass er in den Einleitungskapiteln der Metaphysik (A 1–2) das Wissen um das Allgemeine sowie um Prinzipien und Ursachen klar gegenüber der Kenntnis des Partikularen (der empeiria) auszeichnet. Die Kenntnis des Einzelfalls gilt als klar defizitär gegenüber dem Wissen des Allgemeinen. Daher ist auch Billigkeit (epieikeia) nicht als unmittelbare, aisthêsis-basierte Erfassung des Einzelnen zu verstehen, sondern als Wissen des Allgemeinen, das die einsichtsvolle Normfigur in den geltenden Gesetzen nur unzulänglich wiedergegeben sieht. Aristoteles spricht sich klar gegen eine Überschätzung des Personalismus und gegen einen Situationismus aus, wie auch aus dem folgenden Zitat deutlich wird: Weil nämlich das Überzeugende für jemand Bestimmtes überzeugend ist – das eine ist unmittelbar durch sich selbst überzeugend und glaubhaft, das andere aber dadurch, dass es durch Derartiges bewiesen zu sein scheint – und weil keine Kunst auf das den Einzelfall Betreffende abzielt, wie die Heilkunst nicht darauf abzielt, was für Sokrates das Gesunde ist oder für Kallias, sondern darauf, was für den so und so Beschaffenen oder für die so und so Beschaffenen (gesund ist) – dies nämlich ist kunstgemäß, was den Einzelfall hingegen betrifft, ist unendlich und nicht wissenschaftlich erfassbar.10 8 9 10

Irwin, Ethics as Inexact Science, S. 111. Anagnostopoulos, Aristotle on the Goals and Exactness of Ethics. Aristoteles, Rhetorik I 2, 1356b28–1357a1.

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Der Einzelfall ist nach Aristoteles gar nicht theoretisch erfassbar; nur die geeignete Generalisierung schafft hier Abhilfe. Der Text ist offenbar nicht pro-partikularistisch zu verstehen, sondern pro-generalistisch. Wissen und Wissenschaft gibt es nur vom Allgemeinen; auch Ethik ist für Aristoteles eine Wissenschaft – wenn auch bekanntermaßen eine, die weniger ‚Genauigkeit‘ und strenge Allgemeinheit zulässt. Aristoteles’ normativer Personalismus – sein Lob der Normfigur – geht also offenkundig nicht so weit, dass es den guten Sinn des geschriebenen Gesetzes mindern würde. Falls es gut erlassene Gesetze gibt, soll man, so Aristoteles, Individuen möglichst wenig Spielraum für subjektive Entscheidungen lassen. Denn Personen mit einer entwickelten phronêsis sind selten. So erklärt sich, warum Aristoteles in Politik III  16 die Vernünftigkeit der Gesetzesordnung betont, denn das Gesetz ist, wie er ausdrücklich sagt, „die Vernunft ohne ein [für Menschen typisches, C. H.] Begehren“ (aneu orexeôs nous).11 Auch für Aristoteles sehen wir somit, dass Urteilskraft als personale Eigenschaft die Allgemeinheit der Regelform nicht überflüssig macht, sondern diese ergänzt.

III.

Wenn man sich mit der Tugendethik bei Thomas von Aquin – und besonders seiner Deutung der aristotelischen phronêsis, in der lateinischen Übersetzung als prudentia, beschäftigt, liegt es nahe, noch eine weitere Theorievariante der Urteilskraft hervorzuheben: nämlich diejenige Form des politisch-sozialen Kontextualismus, die den Geschichts- oder Traditionsbezug von moralischen Akteuren nachdrücklich akzentuiert. Innerhalb der kontinentalen Tradition denkt man in diesem Zusammenhang besonders an Heideggers phronêsisInterpretation (mehr dazu in V). Für Interpreten dieser Richtung verbinden sich die Vorteile eines geschichtlich-traditionell gewendeten Kontextualismus mit einer zweiten Gruppe von Vorteilen: mit den Vorzügen eines epistemischen Kontextualismus. Darunter verstehe ich die Ansicht, dass moralische Überzeugungen oder Urteile nicht nur im Sinn der Herkunftsgemeinschaft kontextrelativ seien, sondern auch bezüglich ihrer Erkenntnisart: Betont wird zum einen die hic et nunc-Orientierung einer angemessenen praktischen Vernunft und zum anderen ihre Fähigkeit zu (kontextuell verstandenen) ut in pluribusUrteilen. Da beides (angeblich) von der Klugheit geleistet wird, erhält diese 11

Aristoteles, Politik III.16, 1287a32.

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in solchen Interpretationen eine erhebliche Bedeutung. Der Klugheitsbegriff steht dabei für Aspekte wie Kulturrelativität, Orientierung an zeittypischen Normfiguren (für das Mittelalter etwa: Kleriker, Adlige, Ritter), Situationsangemessenheit, die Wahl des rechten Augenblicks, den Einzelfallbezug und für eine Regelbildung auf niedriger Allgemeinheitsstufe; generell gesprochen: für eine lebensweltnahe Flexibilität anstelle eines abstrakten, prinzipiengeleiteten Universalismus. Während jedoch die Heidegger-Tradition den Hauptakzent darauf legt, dass die phronêsis die charakteristisch menschliche Existenzform einer praktischen Selbstfürsorge beschreibt, findet sich bei Alasdair MacIntyre eine knappe Interpretation des Begriffs, die auf eine kommunitaristische Pointe abzielt.12 Nach ihr stellt die phronêsis insofern die zentrale Tugend dar, als sie alle anderen Tugenden zu einem umfassenden Handlungswissen integriert. Worauf es dabei ankommt, ist, dass MacIntyre den fundamentalen Zusammenhang von Gemeinschaft und Charakter betont: zum einen im Sinn der für den Tugenderwerb konstitutiven Herkunftsgemeinschaft, zum anderen im Sinn des durch die Tugend gewährleisteten Aspekts der sozialen Rollenerfüllung. Fasst man Klugheit als eine stark kontextuelle Rationalitätsform auf, dann scheint es folgerichtig, den handlungsteleologischen Eudämonismus, wie Thomas ihn aus der antiken, stoisch-peripatetischen Tradition übernimmt, für bloßes Beiwerk zu halten und von der prudentia-Konzeption prinzipiell abzulösen. Getrennt von der Teleologie betrachtet stellt die Klugheit ein Vermögen der kontextsensitiven Lebensorientierung dar, das in einer gemeinschaftsbezo­ genen Praxis erworben wird und von ihr her seinen Sinn erhält. MacIntyres eher skizzenhafte Interpretation des Thomas wird in einer klaren und konzisen Form etwa durch Daniel M. Nelson verteidigt.13 Nelson zeichnet ein Bild von Thomas’ Ethik, in dem die Tugend im Mittelpunkt steht, nicht die Orientierung an grundlegenden abstrakten Prinzipien. Damit wendet er sich gegen das vorherrschende naturrechtlich orientierte Interpretationsschema. Nach Nelson ist zwar die prinzipielle Finalisierung menschlichen Handelns auf das letzte Ziel des Glücks nicht zu bestreiten. Während aber die naturrechtlichen Interpreten daraus ableiten wollen, Thomas habe eine im letzten Handlungsziel verankerte Prinzipienethik vertreten, plädiert er für die Lesart, es gehe Thomas nur um das Abstecken eines allgemeinen Zielhorizonts, innerhalb dessen es zu einem freien Spiel der situationsrelativen Klugheit komme. Nach Nelson zählt Thomas also nicht nur eine durch die 12 13

MacInytre, Der Verlust der Tugend, Kap. 12. Nelson, The Priority of Prudence.

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prudentia geleistete Mittelwahl, sondern überdies eine freie Festlegung untergeordneter Teilziele zu den Aufgaben der Klugheit. Nur die Grundausrichtung des Willens sei im Sinn einer Letztzielorientierung jedes Akteurs determiniert, nicht aber die Wahl einer Lebensform und zentraler Lebensumstände. Hier bestehe ein erheblicher Freiraum für die kontextsensitiv verfahrende Klugheit. In welchem Sinn kann ein Akteur etwas wissen, das er selbst erst durch Handeln hervorbringen soll? Von Wissen kann man nur da sprechen, wo etwas wahr oder falsch sein kann: mit Blick auf Sachverhalte. Da Thomas nun aber eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt, nach welcher Wahrheit als Übereinstimmung eines realen Sachverhalts und eines mentalen (oder sprachlichen) Phänomens zu verstehen ist (adaequatio rei et intellectus), scheint es für ihn nur theoretische, aber keine praktische Wahrheit geben zu können. Zumindest muss er wie jeder moralische Realist erklären können, in welchem Sinn die deliberative Akteurperspektive mit ihrer Geist-auf-Welt-Ausrichtung (im Unterschied zu einer theoretischen Welt-auf-Geist-Ausrichtung) zu Wahrheit gelangen kann. Auf diese Schwierigkeit antwortet der Nelson’sche Thomas nicht wie derjenige der Naturrechtler, nämlich dass dem Individuum zahlreiche handlungsleitende Prinzipien göttlichen Ursprungs unmittelbar ins Herz eingeschrieben seien. Er beruft sich vielmehr auf Thomas’ Feststellung, unser Willen sei zwar auf das eine (letzte) Gute festgelegt, nicht aber auf die vielen untergeordneten Güter. Nelson versteht dieses Modell dahingehend, dass sein Akzent einerseits auf einer Grundorientierung des Akteurs liegt, welche alles Handeln am letzten Ziel des Menschen ausrichtet, und andererseits auf einem freien, situations- und kontextrelativen Tugenderwerb, der kontingente Voraussetzungen aller Art zulasse, subjektive Präferenzen gestatte und der auf Erfahrung, Gewöhnung und Übung im jeweiligen sozialen Kontext beruhe. Das Gesamtziel einer gelingenden Lebensführung werde auf dem Weg über die Wahl von Subzielen erreicht, und für diese gelte lediglich ein schwaches Verträglichkeits- und Eignungskriterium, so dass sich ein Spielraum bei der Ausfüllung der eudämonistischen Zielanforderung ergebe. Allerdings sollen für den Akteur die Anforderungen der Tugend maßgeblich sein, aber diese seien stets kontextuell bestimmt. Zu den Indizien, die Nelson für seine Sichtweise anführt, gehört etwa, dass Thomas die irrtümliche Wahl eines vermeintlichen Guts (apparens bonum) anstelle eines wirklichen bonum als einen Fall von verfehlter Charakterbildung versteht, nicht als Fall eines Verstoßes gegen eine abstrakte Regel. Thomas schildert falsches Wahlverhalten als Konsequenz der Etablierung schlechter persönlicher Gewohnheiten und Laster. Weiter argumentiert Nelson damit, dass Thomas den Kontextbedingungen, den Außenumständen eines Akts, eine bemerkenswert weitreichende Rolle bei der Handlungsbewertung zuerkennt. So heißt es etwa bei Thomas:

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Eine Handlung aber wird in ein rechtes Verhältnis zum (letzten) Ziel gebracht, indem sie diesem irgendwie angemessen gemacht wird, und dies geschieht durch die erforderlichen Umstände.14

Thomas beschreibt hier die Tätigkeit der Klugheit. Sie blickt einerseits auf das Ziel und andererseits auf die Kontextbedingungen und passt ihre Handlungswahl diesen beiden Parametern an. Hingegen ist hier nicht davon die Rede, dass sie sich an abstrakten Regeln orientiert. Nelson zufolge wird an dieser Stelle gezeigt, dass die Umstände jeder Handlung eine konstitutive Rolle bei ihrer Artzugehörigkeit und daher auch bei ihrer Bewertung spielen. An Thomas’ eigenem Beispiel illustriert: Ein Diebstahl, der „an einem heiligen Ort“ stattfindet, erhält dadurch eine völlig andere Dimension; er bildet ein Sakrileg, d. h. er stellt eine eher religiös denn moralisch zu bewertende Fehlhandlung dar.15 Allgemein gesprochen sind die Umfeldfaktoren für die Handlungsbewertung von fundamentaler Bedeutung. Ohne Klugheit gelingt einem Akteur nicht einmal die Bestimmung der Handlungsart, also z. B. die  Zuordnung eines Vorgangs zur Gruppe aller Diebstähle oder aller Sakrilegien. Die Klugheit operationalisiert also die allgemeine Zielvorgabe, ist dabei aber auf sich selbst und ihre Kontextsensitivität angewiesen. Nelsons Deutung bleibt jedoch zu sehr an der Oberfläche. Folgt man hingegen den naturrechtlichen Interpretationen, so ergeben sich die einzelnen Naturrechtsforderungen aus der Zielorientierung des Akteurs. Demnach löst Thomas das Problem, wie es praktische Wahrheit geben kann, dadurch, dass er als diejenige Größe, an der man Wahrheit qua Übereinstimmung ablesen kann, den Willen (voluntas) angibt. Unter dem Willen versteht er eine vernünftige Strebenstendenz, einen appetitus rationalis, nämlich genau die für sämtliche Akteure von vornherein bestehende Glücksausrichtung, welche alle unsere Handlungen auf das Kriterium der Zieltauglichkeit festlegt. Der Wille weist nun Eigenschaften auf, die ihn als Parallelgröße zum Intellekt erscheinen lassen: Er bildet im Bereich des Appetitiven das Äquivalent zu dem, was der Intellekt im Bereich des Epistemischen leistet; die voluntas ist in ihrer Objektausrichtung ebenso irrtumsfrei wie der intellectus in seinem Bereich. Nach Thomas besteht zwischen theoretischer und praktischer Verstandestätigkeit folgende Analogie: Ebenso wie „seiend“ oder „Eines“ als erste, nicht-komplexe Begriffe (primae conceptiones incomplexae) dem Verstand immer schon bekannt seien, verhalte es sich mit dem Begriff des Guten; auch er soll unmittelbar bekannt sein und sich daher zur Konstitution erster 14 15

Thomas, Summa theologiae I–II 7, 2 c. Thomas, Summa theologiae I–II 18, 10.

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Verstandesprinzipien eignen. Dabei überträgt Thomas Aristoteles’ Wissenschaftstheorie aus Analytika posteriora II 19 auf den Bereich der Ethik. Nach Thomas lassen sich aus unserer Zielorientierung mithin erste Prinzipien (prima principia) des Wollens herleiten. Und zwar behauptet er, es gebe Grundsätze rationalen Handelns, die den ersten Prinzipien der theoretischen Vernunft analog seien. Mit den ersten Prinzipien sind Regeln gemeint, nach denen Bestimmtes um seiner selbst willen (per se oder propter se) gewollt und nach denen anderes um seiner selbst willen verworfen werden müsse. Diese Regeln sollen durch einen apriorischen Vernunftakt, durch die sogenannte Synderesis, erfasst werden; für Thomas sind sie daher in jedem Menschen „auf unauslöschliche Weise“ präsent. Unter der Synderesis versteht Thomas den Umstand, dass eine Reihe von Geboten, nämlich das Naturrecht, unserem Intellekt immer schon innewohnt. Die allgemeinste dieser von der Synderesis erfassten Regeln lautet, man müsse Gutes ausführen und verfolgen, Schlechtes dagegen meiden (bonum est faciendum et prosequendum, et malum vitandum). Sie entspricht in ihrem grundlegenden Charakter der Rolle, die der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch für die theoretische Vernunft besitzt. Weitere von Thomas explizit genannte Forderungen des Naturrechts bestehen im Gebot der Selbsterhaltung, in den Regeln des Ehe- und Familienlebens sowie in der Bemühung um die Wahrheit, darunter der Gotteserkenntnis, sowie um ein funktionierendes Gemeinschaftsleben. Alle Menschen sind nach Thomas in letzter Konsequenz auf das perfekte Glück ausgerichtet, das in einer gottnahen Existenzform bestehen soll. Unter Ewigkeitsbedingungen besteht ein göttliches Gesetz, das er als lex aeterna bezeichnet. Ebenso wie Menschen unter irdischen Bedingungen wenig über Gott wissen, gilt auch, dass sie das ewige Gesetz nur im Umriss präsent haben. Und dabei handelt es sich um das Naturrecht, unter dem er diejenige Partizipationsform versteht, in der endliche rationale Lebewesen am ewigen Gesetz teilhaben. Mithin stellt das Naturrecht zwar eine Mangelform des ewigen Gesetzes dar, besitzt aber dennoch für alle Menschen unbedingte Geltung. Die ersten praktischen Prinzipien weisen Universalität und Notwendigkeit auf. Von ihnen heißt es analog zu den primae conceptiones incomplexae aus der theoretischen Philosophie, sie seien an sich bekannt (per se nota) und unbeweisbar (indemonstrabilia). Solche Kennzeichnungen legen es nahe, Thomas ein intuitionistisches Prinzipienverständnis zu unterstellen; dies wäre allerdings eine Fehldeutung. Die Behauptung, erste Verstandesprinzipien seien selbstverständlich, also weder beweisbar noch beweisbedürftig, bedeutet vielmehr, dass sie Aussagen sind, in denen der Prädikatterm den Subjektterm erläutert; den definitorischen Gehalt des Subjekts zu verstehen, schließt ein Verständnis des Aussageprädikats bereits notwendig ein.

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Unsere deliberativen Urteile sind nach Thomas folglich immer schon in unserem Willen verwurzelt, d. h. in unserer appetitiv-rationalen Ausrichtung auf das letzte Ziel. Doch welche Regeln und Einzelwertungen ergeben sich aus der Tatsache, dass wir in letzter Konsequenz glücklich sein wollen? Thomas deutet das durch die ersten Prinzipien konstituierte natürliche oder notwendige Wollen als formale Sinnbedingung aller konkreten Volitionen und damit als Grundgerüst rationalen Handelns. Anders gesagt, die Vorstellung eines natürlichen bzw. notwendigen Wollens enthält zumindest Ausschlusskriterien für ein sinnloses oder verfehltes Wollen; die höherstufigen notwendigen Willensakte bilden die Bedingungen der Möglichkeit angemessener Handlungswahl. Auf diese Weise verfügt Thomas neben der zuvor skizzierten Strebenstheorie, die auf einem formal-funktionalen bonum-Begriff basiert, wenigstens über negative Bewertungsmaßstäbe für die Angemessenheit von Handlungen. An dieser Stelle kommt nun die prudentia ins Spiel. Thomas äußert sich explizit zum Verhältnis von Klugheit und Synderesis: Man muss konstatieren, dass das Ziel nicht in dem Sinn zu den moralischen Tugenden gehört, dass diese sich selbst ihr Ziel vorgäben, sondern insofern sie zu dem von der natürlichen Vernunft vorgegebenen Ziel hinstreben. Dabei werden sie durch die Klugheit unterstützt, die ihnen den Weg bereitet, indem sie Vorkehrungen mit Blick auf die Mittel trifft. Daraus ergibt sich, dass die Klugheit edler als die moralischen Tugenden ist und diese bewegt. Die Synderesis wiederum bewegt die Klugheit, ebenso wie die Vernunft das Wissen von den Prinzipien anleitet.16

Die Tugenden orientieren sich am festgelegten Ziel menschlichen Handelns. Hierbei ist es die Klugheit, die die Tugenden anleitet und konkretisiert. Andererseits agiert sie selbst nach Maßgabe der Synderesis, des Prinzipienwissens. Heißt das nun, dass sie selbst über inhaltlich fixiertes Prinzipienwissen verfügt – und nicht nur über eine allgemeine Zielvorgabe? Die Kontroverse zwischen einer tugendethisch-kontextualistischen und naturrechtlichen Thomas-Deutung spitzt sich auf die Frage zu, wie präzise jene Vorgaben sind, die sich aus der umfassenden Zielorientierung eines Akteurs ergeben. Zu der Frage, in welcher Verbindung die Klugheit mit dem Prinzipienwissen steht, sagt Thomas: Die Klugheit umfasst die Erkenntnis sowohl des Allgemeinen als auch des Einzelnen im Bereich der Handlungen, wobei der Kluge auf letztere die allgemeinen Prinzipien anwendet. Was nun die allgemeine Erkenntnis anlangt, so 16

Thomas, Summa theologiae II–II 47, 6 ad 3.

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Christoph Horn gilt dasselbe sowohl für die Klugheit als auch für die spekulative Wissenschaft. Denn die ersten allgemeinen Prinzipien beider sind von Natur aus bekannt. […] Die anderen, die nachgeordneten allgemeinen Prinzipien, seien es die der spekulativen oder die der praktischen Vernunft, besitzt man nicht von Natur aus, sondern erwirbt sie auf dem Weg der Erfahrung oder durch Lernen.17

Nach Thomas beruht Klugheit auf einer doppelten Erkenntnis: der des Allgemeinen und der des Einzelnen. Sie impliziert zum einen ein allgemeines Prinzipienwissen, zum anderen eine Operationalisierungskompetenz. Wäh­ rend das Prinzipienwissen feststeht („von Natur aus bekannt ist“), ist seine Umsetzung oder Ausführung kontextabhängig. Die Klugheit verfügt hierzu über ein aus der Erfahrung gewonnenes, sekundäres Prinzipienwissen. Das weist klar darauf hin, dass Nelsons Deutung verfehlt ist; Thomas nimmt sowohl ein Prinzipienwissen der prudentia an als auch eine darauf fundierte Herausbildung sekundärer Prinzipien. Entscheidend ist der Satz: prudentia includit cognitionem et universalium et singularium operabilium, ad quae prudens universalia principia applicat. Die Klugheit bezieht das allgemeine Prinzipienwissen auf die von ihr selbständig gebildeten Grundsätze. Weiter heißt es Was nun die besondere Erkenntnis dessen betrifft, worauf sich das Handeln richtet, so muss man wiederum unterscheiden. Denn das Handeln betrifft etwas entweder als Ziel oder als Mittel zum Ziel. Die rechten Ziele des menschlichen Lebens sind aber festgelegt. Und darum kann es im Hinblick auf diese Ziele eine natürliche Neigung (inclinatio naturalis) geben. In diesem Sinne wurde gesagt, dass einige Menschen aus naturhafter Veranlagung gewisse Tugenden besitzen, durch die sie auf die rechten Ziele hingeneigt werden; und in der Folge haben sie auch von Natur aus das rechte Urteil über solche Ziele. Aber die Mittel zum Ziel sind nicht bestimmt; ihre vielfältige Verschiedenheit wird durch die Verschiedenheit der Personen und Aufgaben begründet. Und darum kann eine solche Erkenntnis, weil die Neigung der Natur sich immer auf etwas Bestimmtes richtet, dem Menschen nicht von Natur aus innewohnen, obwohl der eine aus natürlicher Veranlagung geeigneter ist zur Unterscheidung solcher Dinge als ein anderer, wie es auch gilt bezüglich der Schlussfolgerungen im Bereich der spekulativen Wissenschaften. Weil nun die Klugheit nicht auf die Ziele gerichtet ist, sondern auf die Mittel zum Ziel, darum ist die Klugheit nicht natürlich.18

Auf das handlungstheoretisch-moralische Prinzipienwissen richtet sich unsere inclinatio naturalis. Die Klugheit dagegen hat keinen natürlichen Ursprung, sondern ist erworben. Denn die Unterschiedlichkeit der Situationen, in denen sie als Kompetenz der Mittelwahl zu agieren hat, ist zu groß, um sie auf 17 18

Thomas, Summa theologiae II–II 47, 15 c. Thomas, Summa theologiae II–II 47, 15 c.

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einige wenige Prinzipien reduzieren zu können. Nach Thomas kann jemand günstigere Anlagen für die prudentia besitzen als ein anderer, doch ändert dies nichts daran, dass sie aus der Erfahrung gewonnen ist. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Klugheit ein freies Vermögen wäre, das dem Akteur eine selbstständige Lebensorientierung ermöglichen würde. Vielmehr agiert sie erst aufgrund der inclinatio naturalis und ist nicht von ihr unabhängig. Hieran zeigt sich, dass es irrig ist, in ihr ein starkes Kontextprinzip zu vermuten. Damit von Klugheit „einfachhin“19 die Rede sein kann, muss eine permanente Orientierung am letzten Ziel aufrecht erhalten werden. Wir können resümieren, dass Thomas der prudentia tatsächlich einen außerordentlichen Rang beimisst. Dennoch entlässt er sie nicht aus dem Theorierahmen des handlungsteleologischen Eudämonismus. Die Klugheit ist ein Umsetzungs- oder Operationalisierungsvermögen, keine frei agierende Urteilskraft, die aufgrund ihrer Kontextbindung Regeln allererst erfinden würde. Statt Regeln zu erfinden, wendet sie Regeln an. Dies bestätigt sich daran, wie Thomas das Vorgehen der Klugheit im Handlungskontext beschreibt: Sie vermittelt, wie er sagt, zwischen dem „höchsten (Vermögen) der Seele“, der Vernunft, und ihrem niedrigsten, der körperlichen Aktivität; ihre Aufgabe besteht hier in der Ausführung der „mittleren Stufen, über welche man geordnet hinabsteigen muss“ (gradus autem medii per quos oportet ordinate desendere).20

IV.

Mit Sicherheit der prominenteste Beitrag zur Theoriegeschichte der Urteilskraft stammt von Kant. In der Kritik der reinen Vernunft beschreibt er Urteilskraft zum einen als eine natürliche Fähigkeit, die sämtliche (‚unverbildeten’) Menschen besitzen sollen: Über ‚Mutterwitz‘ – so Kants Ausdruck – oder gesunden Menschenverstand verfügen alle, die nicht dekadent oder korrumpiert sind. Urteilskraft kann aber auch als ein besonderes Talent gedeutet werden, eine Gabe oder Anlage, etwas, das nur wenige besitzen – ohne dass es hierfür nennenswerte Trainingschancen gäbe; sie ist dann soviel wie ‚Geschmack’, ‚Takt‘ oder ein spezifischer ‚Sinn für’. Urteilskraft kann schließlich als ein Kondensat von Erfahrungen interpretiert werden (‚erfahrungsgesättigte Urteilskraft’) mit der Möglichkeit von Training und Übung. Doch in welcher präzisen Leistung besteht die Urteilskraft? In der ersten Kritik heißt es dazu: 19 20

Wie es in Thomas, Summa theologiae, II–II 47, 13 hieß. Thomas, Summa theologiae II–II 53, 3 c.

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Christoph Horn Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urtheilskraft das Vermögen unter Regeln zu  subsumiren,  d.  i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht. Die allgemeine Logik enthält gar keine Vorschriften für die Urtheilskraft, und kann sie auch nicht enthalten. Denn da sie von allem Inhalte der Erkennt­ nis abstrahiert;  so bleibt ihr nichts übrig, als das Geschäfte, die blosse Form der Erkenntnis in Begriffen, Urtheilen  und Schlüssen analytisch aus einander zu setzen, und dadurch formale Regeln alles Verstandesgebrauchs zu Stande zu bringen. Wollte sie nun allgemein zeigen, wie man unter diese Regeln subsumiren, d.  i. unterscheiden sollte, ob etwas darunter stehe oder nicht, so könnte dieses nicht anders, als wieder durch eine Regel geschehen. Diese aber erfordert eben darum, weil sie eine Regel ist, aufs neue eine Unterweisung der Urtheilskraft, und so zeigt sich, daß zwar der Verstand einer Belehrung und Ausrüstung durch Regeln fähig, Urtheilskraft aber ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will.21

Mithilfe der Urteilskraft subsumieren wir das Besondere unter eine allgemeine Regel. Eine solche Subsumptionsfähigkeit muss es geben, weil sonst ein infiniter Regress der Regelanwendung entstünde: Es bräuchte eine Regel für die Regelanwendung und dann wieder eine Regel für diese Regel usw. Dass neben der Subsumption allerdings auch der Fall auftreten kann, dass zu gegebenen Einzelfällen Regeln überhaupt erst gefunden, gesetzt oder erfunden werden, ist eine Innovation aus der Kritik der Urteilskraft. Dort sagt Kant: Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert (auch, wenn sie, als transzendentale Urteilskraft, a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.22

Die bestimmende Urteilskraft wird von der reflektierenden Urteilskraft näherhin wie folgt unterschieden: Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können. Allein es sind so mannigfaltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori gibt, weil dieselben nur auf 21 22

Kant, Kritik der reinen Vernunft, KrV A132-4/B171-4. Kant, Kritik der Urteilskraft AA V 179.

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die Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, daß dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar, als empirische, nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heißen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert) aus einem, wenngleich uns unbekannten, Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen, als notwendig angesehen werden müssen. – Die reflektierende Urteilskraft, die von dem Besondern in der Natur zum Allgemeinen aufzusteigen die Obliegenheit hat, bedarf also eines Prinzips, welches sie nicht von der Erfahrung entlehnen kann, weil es eben die Einheit aller empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen, aber höheren Prinzipien, und also die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben unter einander, begründen soll. Ein solches transzendentales Prinzip kann also die reflektierende Urteilskraft sich nur selbst als Gesetz geben, nicht anderwärts hernehmen (weil sie sonst bestimmende Urteilskraft sein würde), noch der Natur vorschreiben; weil die Reflexion über die Gesetze der Natur sich nach der Natur, und diese sich nicht nach den Bedingungen richtet, nach welchen wir einen in Ansehung dieser ganz zufälligen Begriff von ihr zu erwerben trachten.23

Die verschiedenen Deutungen der Antithese von bestimmender und reflek­ tierender Urteilskraft können hier außer Betracht bleiben.24 Klar ist aber aus dem Zitat, dass die reflektierende Urteilskraft nicht einfach auf a priori gegebene Gesetze zurückgreifen, sondern diese „sich selbst geben“ muss. Was heißt dies nun für die praktische Perspektive? In praktischer Hinsicht ist es für Kant klar, dass wir subsumieren, nicht Regeln (er)finden. Moralische Pflichten wie das Lügenverbot oder das Verbot, ein Depositum für sich zu behalten, gelten streng für alle Einzelfälle. Erst im ästhetischen Geschmacksurteil besteht Raum für eine Regelsetzung, wie sie nach Kant durch das Genie geschieht.25 Dennoch liegt in Kants Behandlung der Urteilskraft eine interessante praktische Komponente – zumindest, wenn Hannah Arendt mit ihrem nachgelassenen Manuskript zum Problem des Urteilens recht haben sollte. In der abschließenden Vorlesung ihrer Lectures on Kant’s Political Philosophy betont Arendt, dass Kant den Kern des Urteilens in unserem ‚Gemeinsinn‘ (sensus communis) sieht und ihn damit letztlich an das Ideal einer einheitlichen Gemeinschaft aller Menschen bindet. Für den interessantesten Punkt bei Kant erklärt sie aber dessen Verweis auf das Exemplarische: Aber Kants zweite und meiner Meinung nach weitaus wertvollere Lösung ist die exemplarische Gültigkeit. („So sind Beispiele der Gängelwagen der Urteilskraft.“) Was besagt das? Jedes besondere Ding – zum Beispiel ein Tisch – hat 23 24 25

Kant, Kritik der Urteilskraft AA V 179–180. Eine pointiert hermeneutische Interpretation stammt etwa von Wieland, Urteil und Gefühl. Dazu kritisch Bartuschat, Rezension zu W. Wieland. Kant, Kritik der Urteilskraft AA V §§ 46–50.

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Christoph Horn einen entsprechenden Begriff, mittels dessen wir den Tisch als Tisch erkennen. Man kann diesen als eine „platonische“ Idee oder ein kantisches Schema betrachten, d. h. man hat eine schematische oder rein formale Tischgestalt vor Augen, der jeder Tisch irgendwie entsprechen muss. Oder man geht umgekehrt von den vielen Tischen aus, die man in seinem Leben gesehen hat, entkleidet sie aller sekundären Eigenschaften, und übrig bleibt ein Tisch im Allgemeinen, der die minimalen Eigenschaften enthält, die allen Tischen gemeinsam sind: der abstrakte Tisch. Es bleibt (aber) noch eine Möglichkeit übrig, die in Urteile einfließt, die keine Erkenntnisse sind: Man kann einem Tisch begegnen oder an einen Tisch denken, den man für den bestmöglichen Tisch hält, und diesen Tisch als Beispiel dafür nehmen, wie Tische eigentlich sein sollten: der exemplarische Tisch („Exempel“ (example) kommt von eximere, „etwas Bestimmtes herausgreifen“). Dieses Exemplar (exemplar) ist und bleibt ein Besonderes, das gerade in seiner ganzen Besonderheit das Allgemeine offenbart, das sonst nicht bestimmt werden könnte. Mut ist wie Achilles. Usw.26

Nach Arendts Interpretation will Kant ausdrücken, dass wir in unserem theoretischen, besonders aber praktischen Weltverhältnis auf ‚Exemplarisches‘ zurückgreifen. Dieses unterscheidet sich sowohl von platonischen Ideen wie von kantischen Schemata, indem es einfach einen markanten, herausragenden Einzelfall herausgreift und ihn als Paradigma hinstellt: So kann ein bestimmter Tisch zum Paradigma des Tischs überhaupt werden und ‚Tapferkeit ist wie Achilleus‘. Arendt weist hier auf den Punkt hin, dass das Exemplarische wesentlich weniger bedeuten kann als die Vorstellung eines Inbegriffs oder einen optimalen Instantiierung: Gemeint sein kann einfach das Typische. Sie beruft sich hierfür auf eine Bemerkung Kants in der ersten Kritik, wo er sagt: „So sind Beispiele der Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen derjenige, dem es am natürlichen Talent derselben mangelt, niemals entbehren kann.“27 Das Exemplarische ist hier bloß noch das Markante – und dies unabhängig davon, ob ihm eine höhere philosophische Bedeutung zugrunde liegt oder nicht. Dies verweist auf eine lebensweltlich-kontextualistische Theorie des Exemplarischen, diesmal aber mit einem Heidegger’schen Hintergrund.

V.

Im Jahr 1922 schrieb der junge Martin Heidegger einen Text, der den Titel Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneu­ tischen Situation) trägt, jedoch unter der Bezeichnung ‚Natorp-Bericht‘ in 26 27

Arendt, Lectures on Kant’s Political Philosophy, S. 76. Kant, Kritik der reinen Vernunft, KrV A 134/B 174.

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die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Das Typoskript galt lange als verschollen, wurde allerdings in nennenswerten Partien von Hans-Ulrich Lessing wiederaufgefunden und im Jahr 1989 im Dilthey-Jahrbuch publiziert; weitere wichtige Teile hat man Anfang der 1990er Jahr im Marbacher Literaturarchiv entdeckt, so dass der Natorp-Bericht heute wieder fast vollständig vorliegt. Der Text diente ursprünglich als Beurteilungsmaterial, mit dem Heidegger – damals noch als Privatdozent in Freiburg i. Br. tätig – als potentieller Extraordinarius an der Universität Marburg (und überdies für eine Professur an der Universität Göttingen) eingeschätzt werden sollte. Paul Natorp hatte sich an Edmund Husserl gewandt und ihn darum gebeten, ihn umfassend über seinen ehemaligen Assistenten sowie dessen Publikationspläne bzw. publikationsfähige Manuskripte zu informieren. Heidegger scheint schon zu diesem Zeitpunkt einen fast legendären Ruf als akademischer Lehrer und als Phänomenologe mit dem Arbeitsgebiet der älteren Philosophiegeschichte genossen zu haben, ohne dass er seit seiner Habilitation etwas Greifbares veröffentlicht hätte. Für die Theorie der praktischen Urteilskraft ist Heideggers Text deshalb von so erheblicher Bedeutung, weil er die Seinsweise des Menschen zur Grundlage eines angemessenen Verständnisses unserer Weltbeziehung machen will. Heideggers von Aristoteles inspirierte Position ist folgende: Die führende Frage der Interpretation muß sein: als welche Gegenständlichkeit welchen Seinscharakters ist das Menschsein, das ‚im Leben Sein‘ erfahren und ausgelegt? Welches ist der Sinn von Dasein, in dem die Lebensauslegung den Gegenstand Mensch im vorhinein ansetzt? Kurz, in welcher Seinsvorhabe steht diese Gegenständlichkeit? Ferner: Wie ist dieses Sein des Menschen begrifflich expliziert, welches ist der phänomenale Boden der Explikation und welche Seinskategorien erwachsen als Explikate des so Gesehenen?28

Heideggers Antwort besteht darin, dass Menschsein durch die Tatsache geprägt ist, dass uns die Welt der Gegenstände ursprünglich nicht im theoretischen Erfassen begegnet, sondern in einem „herstellenden, verrichtenden und gebrauchenden Umgang“. Im weiteren Textverlauf heißt es: Ist der Seinssinn, der das Sein des menschlichen Lebens letztlich charakterisiert, aus einer reinen Grunderfahrung eben dieses Gegenstandes und seines Seins genuine geschöpft, oder ist menschliches Leben als ein Seiendes innerhalb eines umgreifenden Seinsfeldes genommen, beziehungsweise einem für es als archontisch angesetzten Seinssinn unterworfen? Was besagt überhaupt Sein für Aristoteles, wie ist es zugänglich faßbar und bestimmbar? Das Gegenstandsfeld, das den ursprünglichen Seinssinn hergibt, ist das der hergestellten, umgänglich 28

Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, 372–374.

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Christoph Horn in Gebrauch genommenen Gegenstände. Nicht also das Seinsfeld der Dinge als einer theoretisch sachhaft erfaßten Gegenstandsart, sondern die begegnende Welt im herstellenden, verrichtenden und gebrauchenden Umgang ist das Worauf, auf das die ursprüngliche Seinserfahrung abzielt. Das in der Umgangsbewegtheit des Herstellens (poiêsis) Fertiggewordene, zu seinem für eine Gebrauchstendenz verfügbaren Vorhandensein Gekommene, ist das, was ist. Sein besagt Hergestelltsein, und, als Hergestelltes, auf eine Umgangstendenz relativ Bedeutsames, Verfügbarsein. Sofern es Gegenstand des Umsehens oder sogar des eigenläufigen hinsehenden Erfassens ist, wird das Seiende angesprochen auf sein Aussehen (eidos). Das hinsehende Erfassen expliziert sich im An- und Besprechen (legein). Das angesprochene Was des Gegenstandes (logos) und sein Aussehen (eidos) sind in gewisser Weise dasselbe. Das besagt aber, das im logos Angesprochene als solches ist das eigentlich Seiende. Das legein bringt in seinem Anspruchsgegenstand das Seiende in seiner aussehensmäßigen Seinshaftigkeit (ousia) zur Verwahrung. Ousia hat aber die ursprüngliche, bei Aristoteles selbst noch und auch späterhin wirksame Bedeutung des Hausstands, Besitzstands, des umweltlich zu Gebrauch Verfügbaren. Es bedeutet die Habe. Was am Seienden als sein Sein in umgangsmäßige Verwahrung kommt, was es als Habe charakterisiert, ist sein Hergestelltsein. In der Herstellung kommt der Umgangsgegenstand zu seinem Aussehen.29

Das Umgehen mit alltäglichen Gegenständen bildet die fundamentale ontologische Bestimmung von Menschsein. Sie hängt nach Heidegger unmittelbar mit dem zusammen, was Aristoteles als phronêsis beschreibt: das Bezogensein auf die Praxis. In Heideggers späterer Vorlesung über Platons Sophistes, heißt es: Um zu sehen, inwiefern phronêsis und sophia ihrer Struktur nach unterschieden sind, ist wichtig: die phronêsis ist ein alêtheuein, aber so, daß es in sich selbst auf die praxis bezogen ist. ‚In sich selbst‘ besagt: die praxis ist nicht etwas, was daneben liegt, was nachher kommt, wie in der technê das ergon, sondern jeder Schritt des alêtheuein der phronêsis ist auf das prakton orientiert. Dementsprechend ist die Art des Vollzugs des alêtheuein in der phronêsis eine andere als in der sophia. Aristoteles hat diesen Zusammenhang in den letzten Kapiteln des VI. Buches der Nikomachischen Ethik von Kap. 8 an auseinandergelegt.30

Heideggers Pointe mit Blick auf die phronêsis ist also, dass diese ihre eigene Weise des Weltbezugs und des Wahrmachens von Urteilen eröffnet. Das theoretische Weltverhältnis ist demgegenüber bloß abgeleitet oder ‚abkünftig‘. Urteilskraft ist so betrachtet wesentlich mehr als nur der ‚gesunde Menschenverstand‘ (common sense). Es ist die ursprüngliche Form des Bezogenseins auf die Welt – auch wenn Heidegger Aristoteles vorhält, dieser selbst habe letztlich 29 30

Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, 372–374. Heidegger, Platons Sophistes, S. 138–139.

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die phronêsis verfehlt, indem er sie fälschlich gegenüber der theoretischen sophia zurückgestellt habe. Heidegger gibt damit eine originelle Antwort auf die Frage nach der Situierung der Urteilskraft und des Exemplarischen: Zentral ist demnach nicht einfach die Fähigkeit, Subsumptionen von Fällen unter Regeln vorzu­nehmen (z. B. im ‚Praktischen Syllogismus’); ebenso wenig besteht der entscheidende Punkt im Empfinden von Angemessenheit und Unangemessenheit, Ausge­ glichenheit und Proportionalität (Geschmack, Stil, Takt, Feingefühl) oder im Erkennen von Mustern, Regularitäten und Gesetzmäßigkeiten. Die Orientie­ rung an exemplarischen Fällen, die aufgrund von Ähnlichkeitsrelationen ausgewählt werden, liegt für Heidegger vielmehr in unserem ursprünglichen Kontext- oder Horizontwissen begründet, in einer praktischen Erschlossenheit von Welt. Wie unser Durchgang durch die fünf historischen Positionen zur prak­ tischen Deliberation zeigt, kann die Bezugnahme auf das Exemplarische äußerst unterschiedlich interpretiert werden. Während Platon, Aristoteles und Thomas letztlich ein Regularitätsmodell im Sinn eines Applikationismus vertreten, steht Heidegger klar für einen Partikularismus und Situationismus, dessen Rahmen sich aus der Erschlossenheit einer (geschichtlich so und so verfassten) Welt ergibt. Kant nimmt eine Mittelposition ein; er vertritt einerseits klar ein Anwendungsmodell, bei dem allgemeine Regeln auf Einzelfälle appliziert werden, und lässt doch andererseits Raum dafür, dass man Regeln setzen oder erfinden kann, um ein unbestimmtes Feld zum Gegenstand der Beurteilung machen zu können. Der praktischen Philosophie der Gegenwart bietet sich hier – etwa in den neueren Ansätzen einer Tugendethik – noch immer ein spannendes Forschungsfeld, bei dem auch die personalen Aspekte und das bloß Beispielhafte im Sinne Arendts Berücksichtigung verdienen.

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Christoph Horn

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Der ethisch-politische Widerhall beispielhaften Philosophierens Wittgensteins Verortung in der radikalen Demokratietheorie Chantal Mouffes Matthias Flatscher 1.

Das Beispiel als „philosophisches“ Pluraletantum

Das Beispiel stellt die Philosophie vor große Herausforderungen. Folgt man nämlich Aristoteles, besteht die Eigenheit der Philosophie darin, auf die „Erkenntnis des Allgemeinen“1 gerichtet zu sein und sich gerade nicht mit dem Besonderen auseinanderzusetzen. Innerhalb dieser Logik fungiert das Exemplarische lediglich als Veranschaulichung des Universalen. Doch bereits in dieser didaktisch-illustrativen Funktion erweist sich das Beispiel als weit mehr als der letztlich zu vernachlässigende Einzelfall. Das Allgemeine wäre nämlich ohne das konkrete Exemplum nicht einsehbar. Es hängt von der Auswahl des „guten“ Beispiels ab, ob und wie ein Universales in den Blick genommen werden kann. Damit oszilliert das Beispiel nicht nur in einer merkwürdigen Art und Weise zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, sondern verkehrt die darin veranschlagte Hierarchie. An dieser Schraube lässt sich weiter drehen: Fasst man nämlich das Exemplarische nicht bloß als Vehikel zum Allgemeinen, sondern geradezu als „paradigmatischen“ Ausdruck desselben – wie etwa Bob Dylan als den SingerSongwriter –verkompliziert sich die Sache noch mehr, wird doch die bewährte Rangordnung zwischen dem Universalen und Partikularen abermals – und wohl noch nachhaltiger – erschüttert. Das Exemplarische lässt es weder zu, von seiner spezifischen Eigenheit zu abstrahieren, noch – so die erste These dieses Textes – ist es als Beispiel solitär; es ist immer schon mehr oder anderes als bloß dieser Prototyp. Kein Beispiel ruht in sich. Es verweist, ganz im Gegenteil, in seiner Überdeterminiertheit stets auf weitere (mögliche) Exempla. Mit anderen Worten: Das Vermögen des Beispiels besteht nicht nur darin, das Universale als ein an das Exemplarische unlösbar Rückgebundenes erscheinen zu lassen und damit – wie Matthias Kroß richtig hervorhebt – den „Allgemeinheitsanspruch schlichtweg zu dementieren“2; zugleich ist jedes Beispiel immer 1 Aristoteles, An. post. 87b. 2 Kroß, Philosophieren in Beispielen, S. 170.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_015

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auch das Gegenbeispiel zu dem, was es exemplarisch zu machen versucht, da es das Denken in Form von Gegen-Beispielen über sich hinaustreibt. So kann Bob Dylan zwar prototypisch als der Singer-Songwriter angeführt werden, aber nicht ohne eine Reihe von Assoziationen wachzurufen – von Joni Mitchell, Laura Nyro, Patti Smith, Jacques Brel oder Leonard Cohen bis hin zu Suzanne Vega, Paolo Conte, Franco Battiato und Tracy Chapman –, die die Exklusivität dieses einen Beispiels subversiv unterwandern. Sowohl die Etymologie des griechischen Terminus paradeigma (von para „neben“ sowie deiknymi „zeigen“) als auch jene des deutschen Wortes „Beispiel“ (vom althochdeutschen spel für „Erzählung“ oder „Rede“ und bī für „neben“) zeigt diese Dehiszenz des Sinns an, durch die im konkreten Beispiel Nebenräume für weitere Exempla aufklaffen und somit auf eine offene Zahl an Supplementen verwiesen wird. So hält auch Aristoteles in seiner Rhetorik fest, dass das Beispiel „weder wie ein Teil zum Ganzen noch wie das Ganze zu einem Teil oder das Ganze zu einem Ganzen, sondern wie ein Teil zu einem Teil, Ähnliches zu Ähnlichem“3 verstanden werden müsse. Gerade diese Logik einer offenen Pluralität, die einen rastlos vom einem zum anderen wandern lässt, wird in den nachfolgenden Überlegungen eingängig thematisiert. Dabei ist entscheidend, dass das Beispiel nicht bloß potentiell nennbare Addenda mit sich führt, wie es das Zitat von Aristoteles suggeriert, sondern durch die Suche nach weiteren und vielleicht geeigneteren Beispielen auch Formen des Ein- und Widerspruchs. Stets können andere Exempla genannt werden, um die Reichweite und die Grenzen des jeweiligen Beispiels zu problematisieren. Kurz: Das Beispiel ist ein „philosophisches“ Pluraletantum; es stellt seine eigene Kontingenz zur Schau und evoziert zugleich den Konflikt. In der Philosophiegeschichte ist niemand intensiver dieser produktiven Unruhe des Beispiels nachgegangen als Ludwig Wittgenstein.4 Gerade in seinem Spätwerk gerät sein Denken im Geben von Beispielen in Bewegung. Wittgenstein reflektiert in Abgrenzung zur traditionellen Metaphysik über die Produktivität des Exemplarischen und vollzieht geradezu performativ ein „Philosophieren in Beispielen“5. So kritisiert er nicht nur sich selbst dafür, dass er in seinem Frühwerk „keine Beispiele für die Elementarsätze oder 3 Aristoteles, Rhet. 1357b. 4 Der Frage der Exemplarität bei Wittgenstein sind allein im deutschen Sprachraum bereits mehrere Studien nachgegangen: Demuth, Beispiele und Sinngestalten. Kroß, Philosophieren in Beispielen. Macho, „Wer aber diese Begriffe noch nicht besitzt, den werde ich die Worte durch Beispiel und Übung gebrauchen lehren“. Munz, Zum methodischen und inhaltlichen Status von Ludwig Wittgensteins Beispielgebrauch. Niehaus, Wittgensteins Beispiele. 5 Diese passende Charakterisierung des Wittgenstein’schen Spätwerks übernehme ich von Kroß, Philosophieren in Beispielen.

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Grundelemente angeführt“6 hat, sondern bezichtigt darüber hinaus die philosophische Tradition einer „einseitige[n] Diät“, bei der man das „Denken nur mit einer Art von Beispielen nährt“7 – ein Umstand, den man als Leser*in quer durch unterschiedliche Strömungen der Philosophiegeschichte bis in die Gegenwart verfolgen kann. Immer wieder huscht ein Häschen begleitet von einem „Gavagai“ durch sprachanalytische Texte8 und stets sind es in der Phänomenologie die beiden sich berührenden Hände,9 die dabei helfen, die Spezifität der Leiblichkeit zu thematisieren. Problematisierungen dieser Exempla oder gar Gegenbeispiele finden sich in dieser Literatur kaum. Wittgenstein trägt hingegen in seinem Spätwerk mit Beispielen einer offenen Pluralität Rechnung, indem er auf erfrischende Weise seine Reflexionen in ungewohnter Weise konkretisiert. Und er macht die Leser*innen gerade durch die kontrastive Reihung von höchst unterschiedlichen Exempla darauf aufmerksam, welche heterogen-pluralen Räume Beispiele zu erschließen in der Lage sind. Wittgenstein lockt die Leser*innen im Beispielgeben aus der Reserve, um das noch bei Aristoteles nahtlose Voranschreiten von einer Ähnlichkeit zur anderen ins Stocken geraten zu lassen. So finden sich bei Wittgenstein nicht so sehr ungewöhnliche Exempla als – wie noch im Detail in Verbindung mit der oben angeführten These gezeigt wird – vor allem irritierende Wendungen und überraschende Brüche in seinen Beispielketten. Wittgenstein problematisiert seine eigenen Beispiele in dem Moment, da er sie anführt. Er weckt ein Bewusstsein dafür, dass jedes Exemplum tendenziös ist – und somit verworfen werden kann, da das Denken nicht mit einer einfachen Kost abzuspeisen sein wird. Diese horizonterweiternde wie horizontunterbrechende Dimension des Wittgenstein’schen Beispielgebens macht ihn in einer besonderen Weise attraktiv für die Politische Theorie. Wittgenstein selbst stellt jedoch bekanntlich keine expliziten Reflexionen über das Politische an, was angesichts seiner Teilnahme an den beiden Weltkriegen als Frontsoldat und Sanitäter sowie der erzwungenen Annahme der britischen Staatsbürgerschaft aufgrund seiner jüdischen Herkunft mehr als verwunderlich ist. Dennoch üben seine Texte seit Jahrzehnten mit ihrer Verschränkung von Pluralität, Kontingenz und Konfliktualität einen besonderen Reiz auf die Politische Theorie aus. Gerne wird Wittgenstein als Gewährsmann für die Rückbindung an konkrete Verhältnisse und die unkontrollierbare Offenheit derselben angeführt. Quer durch

6 7 8 9

Wittgenstein, Vorlesungen 1930–1935, S. 157. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 593. Vgl. Kertscher, Gavagai. Vgl. Bedorf, Der Händedruck.

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unterschiedliche Ansätze – von Hannah Pitkin10 über Jean-François Lyotard11, Stanley Cavell12 und Amartya Sen13 bis hin zu James Tully14, David Owen15 oder Linda Zerilli16 – finden sich Spuren intensiver Auseinandersetzung mit seinen Überlegungen in politiktheoretischer Hinsicht.17 Auch in den radikaldemokratischen Ausführungen von Chantal Mouffe spielen Wittgensteins Reflexio­ nen eine tragende Rolle, und zwar, um den Bruch mit einer universalistisch konzipierten Rationalität und die theoretisch nicht letztbegründbare Dimen­ sion von Lebensformen hervorzuheben. Mein Text geht nun der Frage nach, inwiefern für Mouffe das Wittgenstein’sche Beispielgeben ein politisches respektive demokratisches Potential enthält und in einem von scheinbarer Alternativlosigkeit geprägten Zeitalter die neoliberale Hegemonie aufzubrechen in der Lage ist. Dabei wird sich zeigen, dass Mouffe die Überlegungen Wittgensteins nicht nur aus dem epistemologischen Rahmen löst und in das Feld des Politischen transponiert, sondern für eine „Ethik der Demokratie“ fruchtbar macht. Dieser letzte Punkt mag überraschen, da Mouffe sonst größte Vorbehalte gegenüber jeglichem „Ethizismus“ anmeldet und auf die Eigenständigkeit des Poltischen in seiner antagonistisch-agonistischen Dimension pocht. In Rückgriff auf Wittgensteins „Philosophieren in Beispielen“ gewinnt Mouffe nun nicht nur ein spezifisches Verständnis einer sich widerstreitenden Pluralität, sondern nähert sich in Abgrenzung zu Habermas und Rawls einem neuen Verständnis von Normativität an. Um diesem Vorhaben nachzukommen, untergliedert sich der Aufsatz in drei Teile. Zunächst wird Wittgensteins Verständnis der Produktivität des Beispiels in Abgrenzung zu metaphysischen Inblicknahmen der Exemplarität nachgezeichnet (2).18 Im Anschluss daran stelle ich die Wittgenstein10 11 12 13 14 15 16 17

18

Vgl. Pitkin, Wittgenstein and Justice. Vgl. Lyotard, Le différend. Vgl. Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome. Vgl. Sen, Sraffa, Wittgenstein and Gramsci. Vgl. Tully, Situated Creatively: Wittgenstein and Political Philosophy. Vgl. Owen, Genealogy as perspicuous representation; Havercroft,  J. / Owen,  D.: Soulblindness, police orders and Black Lives Matter: Wittgenstein, Cavell, and Rancière. Vgl. Zerilli, L.: ‚The Machine as Symbol‘. Einen instruktiven Überblick der politischen Wittgenstein-Rezeption bieten die Monographie von Robinson (Wittgenstein and Political Theory), der Sammelband von Heyes (The Grammar of Politics. Wittgenstein and Political Philosophy) und der auf die Radikaldemokratie zugespitzte Überblicksartikel von Vogelmann (Ludwig Wittgenstein). Kurioserweise wird dieses produktive Weiterdenken Wittgenstein’scher Motive in der Wittgenstein-„Philosophologie“ weitgehend ignoriert. In diesem Abschnitt rekurriere ich auf Überlegungen, die ich bereits in folgendem Artikel vorgelegt habe: Flatscher, Das Denken in Fallbeispielen im Spätwerk von Ludwig Wittgenstein. Vgl. auch: Flatscher, Logos und Lethe, S. 141–161.

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Interpretation von Mouffe vor, indem ich sie aus dem Blickwinkel eines „Philosophierens in Beispielen“ auf eine demokratische Ethik hin interpretiere und das daraus resultierende Verständnis einer agonistischen Pluralität einer perspektivischen Lektüre unterziehe (3). Im finalen Abschnitt resümiere ich die vorangegangenen Überlegungen und weise auf offene Punkte hin (4). 2.

Wittgensteins beispielhaftes Philosophieren

Für Wittgenstein ist das traditionelle Philosophieren von einem Streben nach dem Allgemeinen geprägt. Dieser Grundzug der Metaphysik lässt sich seiner Auffassung nach von Platon an bis hin zu den sprachanalytischen Zugängen im 20. Jahrhundert verfolgen. Der konkrete Fall wird dort stets zugunsten des übergeordneten Allgemeinen für vernachlässigbar und irrelevant erklärt. Bewusst verabschiedet sich Wittgenstein in seinem Spätwerk von diesem Einheitsdenken, das – wie er im Blauen Buch hervorstreicht – eine „verächtliche Haltung gegenüber dem Einzelfall“19 einnimmt. Er hält die unablässige Suche nach einer essentialistischen Definition für einen der folgenschwersten methodischen Irrtümer der Philosophiegeschichte und für überaus hemmend für die offenen Erkundungsbewegungen eines Denkens, das sich in erster Linie an den alltäglichen Gegebenheiten und dem damit einhergehenden Eigensinn des konkreten Bestands zu orientieren hat. Doch was sind überhaupt die Ursachen für die Fixierung auf das Allgemeine? Es sind vor allem zwei Aspekte, die Wittgenstein anführt: Erstens weist er darauf hin, dass uns die univok gebrauchte Nomenklatur allzu schnell dazu verleitet, eine gleichsam dahinter liegende begriffliche Allgemeinheit anzunehmen und kontextuelle Differenzen geflissentlich zu ignorieren. Im zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen findet sich dazu folgender Hinweis: „Die unsägliche Verschiedenheit aller der tagtäglichen Sprachspiele kommt uns nicht zum Bewußtsein, weil die Kleider unserer Sprache alles gleichmachen.“20 Ein uniformistischer Zug der Sprache ist dafür verantwortlich, dass Differenzen systematisch ausgeblendet werden. Im Blauen Buch macht Wittgenstein jedoch deutlich, dass es nicht die Sprache an sich ist, die einen differenzierten Zugang zur Welt verstellt, sondern eine reduktionistische Auffassung von ihr: „Die Vorstellung von einem Allgemeinbegriff als einer gemeinsamen Eigenschaft seiner einzelnen Beispiele ist mit anderen primitiven, allzu einfachen

19 20

Wittgenstein, Das Blaue Buch, S. 39. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 570 (= Teil ii).

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Vorstellungen von der Struktur der Sprache verbunden.“21 Indem Wittgenstein im Gegenzug auf die gravierenden Unterschiede im Gebrauch der Sprache aufmerksam macht, versucht er, dieser Einebnung entgegenzutreten. Er rekurriert auf eine differenzsensible Verwendungsweise, die Unterschiede sehen lassen soll. In diesem Zusammenhang kommt dem Beispielgeben eine tragende Rolle zu. Als weiteren Nährboden für die permanente Überbetonung des Allge­ meinen sieht Wittgenstein zweitens die unreflektierte Orientierung am naturwissenschaftlichen Erkenntnisideal. Allzu unbedarft wird dieses als das universal anwendbare Paradigma auch innerhalb des philosophischen Diskurses angenommen; aufgrund der Forderung nach objektiver und rationaler Exaktheit führt dieser Methodenuniversalismus dazu, dass die Vielfalt der einzelnen Fälle und die Mannigfaltigkeit der Kontexte außer Acht gelassen werden, wie Wittgenstein abermals im Blauen Buch prägnant herausarbeitet: [I]n der Mathematik ist es die Methode, die Behandlung verschiedener Probleme mittels einer Verallgemeinerung zu vereinheitlichen. Philosophen haben ständig die naturwissenschaftliche Methode vor Augen und sind in unwiderstehlicher Versuchung, Fragen nach der Art der Naturwissenschaften zu stellen und zu beantworten. Diese Tendenz ist die eigentliche Quelle der Metaphysik und führt den Philosophen in vollständiges Dunkel.22

Was gemeinhin unter dem Allgemeinen verstanden wird, ist nach Wittgenstein also maßgeblich durch das mathematisch-naturwissenschaftliche Vorbild geprägt. Dort steht das einzelne Beispiel, wie in der Einleitung kurz skizziert, lediglich für eine nachträgliche Veranschaulichung von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Diese Kritik am szientistischen Methodenuniversalismus darf jedoch nicht als generelle Diskreditierung der Mathematik oder der Naturwissenschaft verstanden werden; vielmehr sind es die Verabsolutierung dieser Herangehensweise und die unbedarfte Adaption dieses Verfahrens für die Philosophie, die Wittgenstein zurückweist. Damit kritisiert er auch sich selbst, wollte er in seinem Frühwerk doch die Philosophie auf die Funktion einer Schiedsrichterin einschränken, die mit sprachanalytischen Mitteln über sinnvolle und unsinnige Sätze zu urteilen hat.23 Indem er in seinem Spätwerk nun zeigt, dass durch die Universalisierung des messenden Verfahrens und der formalen 21 22 23

Wittgenstein, Das Blaue Buch, S. 37 f. Wittgenstein, Das Blaue Buch, S. 39. So heißt es im Frühwerk: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas

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Logik Blindheiten entstehen, wendet er sich gegen den gravierenden Irrtum, diesen Zugang für den einzig maßgeblichen zu halten. Wittgenstein erteilt der gemeinhin etablierten Vorstellung, dass allgemeine Begrifflichkeiten über Abstraktionsprozesse, im Weglassen aller singulären Eigenheiten, gewonnen werden könnten, eine dezidierte Absage. Tatsächlich stellt die Forderung nach abstrakten Wesenheiten für Wittgenstein überhaupt keine didaktische oder denkerische Notwendigkeit dar. Im Gegensatz zur reduktionistischen Logik, zwangsläufig eine Extrapolation des Besonderen in Hinblick auf das Allgemeine vorzunehmen, versucht er, ein Denken zu forcieren, das ohne den Rekurs auf umfassende Universalia auskommt. So hält er im Big Typescript unmissverständlich fest: „Ich will sagen: Die Frage ‚was ist  …‘ bezieht sich nicht auf einen besonderen – praktischen – Fall, sondern wir fragen sie von unserem Schreibtisch aus.“24 Die seit Platon immer wieder gestellte Frage nach dem eigentlichen Wesen von etwas entspringt einer am Reißbrett entworfenen Philosophie und verkennt die konkreten Phänomene in ihrer lebensweltlichen Reichhaltigkeit. Diesem essentialistischen Gestus hält Wittgenstein gezielt ein Denken in Beispielen entgegen: Würden wir also nach dem Wesen der Strafe gefragt, oder nach dem Wesen der Revolution, oder nach dem Wesen des Wissens, oder des kulturellen Verfalls, oder des Sinnes für Musik, – so würden wir nun nicht versuchen, ein Gemeinsames aller Fälle anzugeben, – das, was sie alle eigentlich sind, – also ein Ideal, das in ihnen allen enthalten ist; sondern statt dessen Beispiele, gleichsam Zentren der Variation.25

Es ist somit weder notwendig noch sinnvoll, von einem allgemeinen Begriff oder von einem alle Einzelfälle subsumierenden Wesen zu sprechen. Es gibt keine übergeordnete Sphäre von Essenzen, die alle konkreten Fälle umfasst. Wie etwas jeweils verstanden werden kann, wird nach Wittgenstein mittels greifbarer Beispiele hinreichend einsichtig. Diese Art von Erklärung rekurriert weder auf mathematische Exaktheit noch beansprucht sie definitorische Vollständigkeit. Vielmehr ist das, was unter diesem oder jenem verstanden werden kann, immer nur aus spezifischen Kontexten eruierbar. Das Verhältnis zwischen Begriff und Beispiel wird, wie Wittgenstein in der Philosophischen Grammatik lapidar festhält, dadurch verkehrt und in neue Grenzen gesetzt: „Ich würde den Begriff durch Beispiele erklären. – Also geht mein Begriff,

24 25

Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.“ (Wittgenstein, Tractatus logico-phisophicus, 6.53) Wittgenstein, The Big Typescript, S. 415 f. Wittgenstein, Das Blaue Buch, S. 190.

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soweit die Beispiele gehen.“26 Was sich hier andeutet, ist, dass Wittgenstein das „Philosophieren in Beispielen“ als einen programmatischen Gegenentwurf zum zuvor skizzierten Essentialismus der Philosophie versteht. Durch die Zurückweisung des Strebens nach Allgemeinheiten erwächst für Wittgenstein dem philosophischen Denken kein Nachteil. Vielmehr wird dadurch die Fülle der mannigfaltigen Beziehungen allererst ersichtlich. Folgerichtig betont er in einer Vorlesung aus den 1930ern, dass „das Anführen von Beispielen kein Verfahren zweiter Wahl“27 sei, sondern die einzige Möglichkeit, den tatsächlichen Unterschieden gerecht zu werden: Wie diese Vorstellung [des Begriffs ‚Satz‘ (M.  F.)] verwendet wird, das ist durch Beispiele erklärt worden, und die Beispiele sind keine umständliche Beschreibungsweise des Gebrauchs. […] Das Wort ‚Satz‘ wird ebenso erklärt wie ‚Spiel‘ und ‚Sinn‘, nämlich indem man Beispiele zusammenstellt. Die Beispiele vermitteln eine hinlänglich klare Vorstellung.28

Wittgenstein rekurriert hier nicht auf das Beispiel im Singular, sondern auf eine Pluralität an Beispielen. Gerade die Sprache kann nicht auf eine privilegierte Form zurückgeführt werden – und insbesondere die im Anschluss an Aristoteles vorgenommene Fokussierung der idealen Sprachkonzeption der analytischen Philosophie auf den Behauptungssatz stellt für Wittgenstein eine fehlgeleitete Verkürzung dar. Sämtliche Hypostasierungen verkennen die im Alltag um sich greifende Vielfalt der Sprache, die nicht auf ein Wesen reduzierbar ist. So kann nicht ein Sprechakt grundlegend für alle anderen sein. Um der Rückführung auf eine maßgebliche Satzart entgegenzutreten, führt Wittgenstein in einer berühmten Passage der Philosophischen Untersuchungen eine Vielzahl von eigenständigen Weisen der Sprache an: Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen.29

Mit dem Hinweis auf eine stets mögliche Veränderbarkeit unterstreicht Wittgenstein, dass es sich bei seiner Auflistung um eine offene Reihe handelt, 26 27 28 29

Wittgenstein, Philosophische Grammatik, S. 112. Wittgenstein, Vorlesungen 1930–1935, S. 269. Wittgenstein, Vorlesungen 1930–1935, S. 269. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 23.

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die allein schon aufgrund der der Sprache innewohnenden Diachronizität nicht abzuschließen ist. Diese Pluralität wird von seiner Seite nun nicht einfach behauptet, sondern vielmehr mittels Beispiele gezeigt: Befehlen, und nach Befehlen handeln – Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen – Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – Berichten eines Hergangs –
 Über den Hergang Vermutungen anstellen – Eine Hypothese aufstellen und prüfen – Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – Eine Geschichte erfinden; und lesen – Theater spielen – Reigen singen – Rätsel raten – Einen Witz machen; erzählen – Ein angewandtes Rechenexempel lösen – Aus einer Sprache in die andere übersetzen – Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.30

Auf den ersten Blick wirkt diese immer wieder zitierte, aber kaum näher analysierte Aufzählung ganz unterschiedlicher Sprachspiele, die allesamt aus dem Alltag bekannt sind, so lose wie plausibel. Die angeführten Beispiele zeigen eine Unzahl verschiedener Fälle, wobei eine hierarchische Reihung vorzunehmen oder einen Schlusspunkt zu setzen nicht möglich ist. Ein zweiter Blick macht darüber hinaus deutlich – und dieser Aspekt wird oft übersehen –, dass die von Wittgenstein beispielhaft angeführten Sprachspiele weder auf verbale Äußerungen beschränkt sind noch gemeinhin zu Satzarten oder Sprechakten gezählt werden. Mit der doch ungewohnten Beispielkette – denn was hat „[e]in angewandtes Rechenexempel lösen“ oder „Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme“ mit Sätzen im herkömmlichen Sinn zu tun? – torpediert Wittgenstein gezielt etablierte Denkgewohnheiten. Seine Beispiele lassen sich nicht mehr nahtlos im Sinne der von Aristoteles skizzierten Analogiebildung eingliedern. Im Gegenteil, das kontrastive Anführen ganz unterschiedlicher Beispiele bricht mit dem Horizont des Erwarteten. Oder anders gewendet: Wittgensteins Text fordert die Leser*innen mit der Nennung diverser Beispiele auf, mit der Kontingenz der Exempla auch deren Widerständigkeit zu tradierten Denkgewohnheiten zu bedenken. Die sich zeigende Pluralität ist nicht eine bloße Erweiterung, sondern trägt konfligierende Momente in sich. 30

Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 23.

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Als Fazit kann festgehalten werden: Mit dem Aufweis einer Pluralität an Sprachspielen macht Wittgenstein offensichtlich, dass Sprache nicht auf eine privilegierte Form reduziert werden kann, sondern sich in höchst unterschiedlicher Weise als rückgebunden an konkrete Handlungsvollzüge erweist. Die Suche nach einer gemeinsamen Essenz wird als ein missgeleitetes philosophisches Streben nach dem Allgemeinen zurückgewiesen, um im Gegenzug für ein „Philosophieren in Beispielen“ zu argumentieren, dessen Produktivität gerade darin besteht, keinen Schlusspunkt setzen zu müssen, sondern mit der offenen Vielzahl an Sprachspielen, die sich überschneiden und kreuzen, aber auch wechselseitig herausfordern und in Frage stellen, umzugehen. Ein solches Denken ist in der Lage, Widersprüchlichkeiten auszuhalten und den Reichtum der Welt anzuerkennen. Tatsächlich verweist Wittgenstein nicht nur auf die Vielfalt an Sprachspielen im Alltag, sondern, davon ausgehend, auch auf eine Heterogenität von Lebensformen, die jeweils höchst diverse Existenzmöglichkeiten auf konsistente, aber miteinander unvereinbare Weise zum Ausdruck bringen. Um dieses Aufeinanderprallen zu veranschaulichen, greift Wittgenstein nicht auf Unterschiede innerhalb einer uns vertrauten Lebenswelt zurück, sondern führt beispielhaft das Aufeinandertreffen mit anderen Kulturen und Religionen an. Ein religiöser Glaube basiert seiner Auffassung nach „nicht auf Tatsachen, auf denen unsere gewöhnlichen Alltagsüberzeugen normalerweise beruhen“31. Dies versucht Wittgenstein anhand der Rede vom „Jüngsten Gericht“ zu verdeutlichen: „In einem Sinn verstehe ich alles“32, zugleich sieht er sich jedoch – da er nicht daran glaubt und ihm letztlich der Sinn dieser Rede verschlossen bleibt – außer Stande, diesen Sätzen zu „widersprechen“33 und ihre (In-)Korrektheit darzulegen. Hierbei handelt es sich nicht einfach um ein Problem sprachlicher Natur. Die Sätze entziehen sich Wittgensteins Verständnis in einer weit fundamentaleren Weise, da sie auf einer „völlig anderen Ebene“34 angesiedelt sind. Wittgenstein sieht sich nicht in der Lage, am Sinn der Sätze zu partizipieren und konstatiert trocken: „Meine gewöhnliche Sprachfähigkeit läßt mich im Stich.“35 Dort, wo sich tatsächlich Gräben des Verstehens auftun, können wir mit etablierten Deutungsmustern dem Unverständnis nicht beikommen. Und doch wird den anderen Lebensformen ein – wie auch immer gearteter – Sinn zugebilligt. Es handelt sich nicht um Unwahres 31 32 33 34 35

Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 76. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 78. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 78. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 79. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 78.

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oder Unsinniges, sondern um Nichtverstehbares – mit einer eigenen Typik und Regelstruktur. Wittgenstein insistiert darauf, diese Differenzen „völlig unterschiedliche[r] Denkweisen“36 nicht zu verwischen, und ist bemüht, Unvereinbares als solches stehen zu lassen, ohne auf eine hermeneutische Geste der Vermittlung oder einen transzendentalen Maßstab zurückgreifen. Damit widersteht er der Versuchung, das Nichtverständliche in den eigenen Auslegungshorizont zu integrieren; er beharrt auf der Kluft zwischen diversen Bereichen, die nicht mittels einer nachsichtigen Verständigung überbrückt zu werden vermag. Wittgenstein zieht aus diesen Einsichten weitreichende Konsequenzen: Wir haben es nicht mit einer einzigen oder einer richtigen Auffassung von Welt respektive Wirklichkeit zu tun. Die Diversität lässt sich nicht vor dem Hintergrund eines Maßstabes betrachten, der für sich die alleinige Deutungshoheit beanspruchen könnte. So verweist Wittgenstein in einer Vorlesung aus dem Jahr 1931/32 auf unterschiedliche „Denkstile“, etwa was die Entstehung der Welt anbelangt, die – ohne aufeinander zurückgeführt werden zu können – in ihrer Heterogenität stehen bleiben: „Gott, das ist der eine Stil, der Nebelfleck ist der andere. Der Stil verschafft uns Befriedigung, aber der eine Stil ist nicht rationaler als der andere.“37 Wittgenstein versucht dergestalt zu verdeutlichen, dass jedes Verstehen an einen Kontext gebunden ist und keine universale Gültigkeit beanspruchen darf. In dieser Hinsicht übt Wittgenstein Kritik an logozentristischen Verkürzungen. Mit etwaigen Einwänden geht er in einer Vorlesung auf ironische Weise um: „‚Wittgenstein versucht, die Vernunft zu unterminieren‘ und das wäre nicht einmal falsch. An diesem Punkt stellen sich tatsächlich diese Fragen.“38 Wittgenstein weist nicht nur auf die irreduzible Heterogenität von Lebensformen – oder Weltbildern, wie er sich in Über Gewißheit ausdrückt – hin, sondern macht zugleich auf die Uneinholbarkeit des eigenen Selbstverständnisses aufmerksam. Für ihn fällt das einzelne Subjekt nicht eine bewusste oder freie Entscheidung für oder wider eine Lebensform. Stattdessen findet es sich immer schon in selbstverständlichen lebensweltlichen Praktiken und in von einer Sprachgemeinschaft getragenen, nicht weiter befragten „Grundanschauungen“39 wieder. Denn nur innerhalb eines solchen Rahmens kann von richtig oder falsch, adäquat oder unangemessen gesprochen werden. Dieses „Bezugssystem“40 fungiert quasi 36 37 38 39 40

Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 78. Wittgenstein, Vorlesungen 1930–1935, S. 124. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 88. Wittgenstein, Über Gewißheit, § 238. Wittgenstein, Über Gewißheit, § 83.

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als „Achse“41, um die sich alle Verstehens- und Handlungsvollzüge drehen, und bildet so den Rahmen, in dem wir uns über uns selbst und mit anderen verständigen. Mit der Anerkenntnis eines jeder Veri- oder Falsifikation vorausliegenden Weltbildes geht auch dessen theoretische Unbegründbarkeit einher. Um dies zu verdeutlichen, rekurriert Wittgenstein auf die Differenz von (weltbildimmanentem) Wissen und (weltbildkonstitutiver) Gewissheit. Während Wissen immer unvollständig, korrekturbedürftig oder einfach falsch sein kann und daher für weitere Begründungsversuche offen ist, fungiert die Gewissheit als konstitutive Voraussetzung für alles Wissen und Verstehen und bedarf keiner weiteren Begründung. Ja, mehr noch: Eine letztgültige Erklärung oder Begründung erweist sich gleichermaßen als unmöglich und sinnlos. Anfragen, die vermeintliche Evidenzen der Gewissheit betreffen, haben keinen Platz in Diskussionen. Diese sind nicht weiter zu begründen und werden als Voraussetzungen schlichtweg unhinterfragt anerkannt. Alles Wissen, Begründen, Infragestellen und Bezweifeln findet somit immer schon „innerhalb eines Systems“42 statt. Einem anderen Weltbild von außen her Fehler, Lücken oder mangelnde Stringenz vorzuwerfen, ist für Wittgenstein daher nicht zulässig: „Ob etwas ein Fehler ist oder nicht – es ist ein Fehler in einem bestimmten System. Genauso wie etwas ein Fehler in einem bestimmten Spiel ist und nicht in einem anderen.“43 Wittgenstein betont in diesem Zusammenhang, dass jede theoretische Legitimation des eigenen Verstehenshorizontes scheitert, da stets auf Grundlagen zurückgegriffen werden muss, die allererst bewiesen werden sollen. Die eigene Faktizität ist daher nicht noch einmal auf ihre Korrektheit hin zu überprüfen. Alle Bemühungen, Rechenschaft über unser Wissen, über die angewandte strenge Methodik und die scheinbar unhintergehbare Vernünftigkeit abzulegen, stoßen hier laut Wittgenstein an ihre Grenzen. Man kann die Voraussetzungen seiner Begründung nicht ihrerseits begründen, ohne eine petitio principii zu begehen. Das Bedürfnis nach einer letzten Erklärung entlarvt Wittgenstein als Erblast unseres rationalen Weltbildes: „Erinnere dich, daß wir manchmal Erklärungen fordern nicht ihres Inhalts, sondern der Form der Erklärung wegen. Unsere Forderung ist eine architektonische; die Erklärung eine Art Scheingesims, das nichts trägt.“44 Der Rekurs auf die Gegebenheit des Weltbildes ist die „letzte“ Aussage, die getätigt werden kann. Worum es hier geht, ist die Einsicht in das notwendige 41 42 43 44

Wittgenstein, Über Gewißheit, § 152. Wittgenstein, Über Gewißheit, § 105. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche, S. 82. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 217 (Herv. M. F.).

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Scheitern jeder rationalen oder theoretischen Letztbegründung und die Akzeptanz der eigenen Kontingenz: „Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glauben.“45 Die tragenden Sätze des Weltbildes können nicht legitimiert werden. Und das Subjekt hat sie nicht aufgrund rationaler Überlegungen akzeptiert, sondern sie wurden von ihm hingenommen wie der gesamte Kontext, in dem es sozialisiert wurde. Das Verlangen einer Letztbegründung muss so zugunsten des Lebens, der gemeinsamen Praxis, in der wir uns – je schon von anderen abgerichtet – vorfinden, zurückgewiesen werden. Offen bleibt hier, welche Konsequenzen aus dieser „transzendentalen Obdachlosigkeit“ zu ziehen sind. Der Rekurs auf die funktionierende Praxis suggeriert ein planes Fortschreiben derselben. Metaphysische Fragen zu ersten Gründen und obersten Ursachen brauchen nicht mehr gestellt zu werden. Aber kehren Fragen dieser Art – wenn auch in gewandelter Form – nicht wieder, wenn man die Erfahrung einer heterogenen Pluralität ernst nimmt? Schließlich kann die Konfrontation mit anderen Lebensformen und Weltbildern – und darauf macht Wittgenstein auch aufmerksam – zu einer radikalen Infragestellung des eigenen Bezugssystems führen. Müssen daher nicht vielleicht umfassendere Konsequenzen für das eigene Selbstverständnis gezogen werden, die sehr wohl die eigene Praxis tangieren und verwandeln? Diesen Fragen geht die Politiktheoretikerin Chantal Mouffe in einer umfassenden Weise nach, indem sie aus der praxeologischen Ausrichtung und dem Aufweis einer irreduziblen Pluralität demokratietheoretische Konsequenzen zieht. Wie diese in concreto aussehen, soll in einem nächsten Schritt skizziert werden. 3.

Die Adaption Wittgensteins für die Politische Theorie bei Chantal Mouffe

In ihren Arbeiten nimmt Mouffe bereitwillig Anleihen beim Wittgenstein’schen Werk. Obwohl sich Spuren dieser Auseinandersetzung verstreut in ihrem gesamten Œuvre finden,46 lässt sich die Stoßrichtung ihrer Rezeption am deutlichsten am programmatischen Beitrag „Wittgenstein, Political Theory, and Democracy“ ablesen. In diesem Artikel greift Mouffe nicht nur auf eine 45 46

Wittgenstein, Über Gewißheit, § 253. Neben den zahlreichen namentlichen Erwähnungen Wittgensteins, worüber die Indices der englischsprachigen Originalpublikationen bereitwillig Auskunft geben, ist der gemeinsam mit Ludwig Nagl herausgegebene Sammelband The Legacy of Wittgenstein: Pragmatism or Deconstruction zu nennen, der die Beiträge einer 1999 in London stattgefunden Konferenz versammelt.

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durch Wittgenstein vermittelte „neue Art der Theoretisierung des Politischen“47 zurück, die das liberale respektive deliberative Paradigma kritisch befragt, sondern sie deutet zugleich an, wie Wittgensteins Ausführungen für eine „‚radikal-pluralistische-demokratische‘ Perspektive“48 fruchtbar gemacht werden können. Eingebettet sind diese Überlegungen in die Aufsatzsammlung The Democratic Paradox (2000), in der Mouffe eine zusammenhängende Erklärung für die damals vorherrschenden und mittlerweile zum Teil weiter fortgeschrittenen Verhältnisse einer postpolitischen Apathie, des Niedergangs der europäischen Sozialdemokratie und des Aufstiegs eines Populismus der Rechten liefert. Nach ihrem Dafürhalten ist der von der Sozialdemokratie verfolgte „dritte Weg“ dafür verantwortlich,49 dass die Wahlmöglichkeiten aus dem breiten Spektrum politischer Positionierungen zugunsten einer neoliberalen Gouvernementalität der Alternativlosigkeit verdrängt wurden und sich weite Teile der Arbeiter*innen gerade von den angestammten Parteien nicht mehr vertreten sehen. Als Folge davon kehrt die sozialistische Stammwähler*innenschaft entweder der Politik enttäuscht den Rücken oder schließt sich rechten Parteien an, die es verstehen, das durch die Politik der „neuen Mitte“ entstandene Machtvakuum mit ihren Themen zu füllen.50 Um diesen Tendenzen Einhalt zu gebieten, plädiert Mouffe für ein neues Verständnis eines „agonistischen Pluralismus“51 bzw. eines „agonistischen Demokratiemodells“52. In diesem Zusammenhang muss das in ihren Augen die Demokratie bestimmende Spannungsverhältnis von Freiheit und Gleichheit erneut ins Bewusstsein gehoben und in Folge zur Diskussion gestellt werden. Während das liberale Paradigma mit der Betonung der individuellen Freiheitsund Menschenrechte hegemoniale Deutungshoheit für sich reklamiert, sind laut Mouffe die aus der antiken Demokratietheorie überlieferten Werte von Gleichheit und Volkssouveränität im Rahmen der modernen rechtstaatlichen Umsetzung sukzessive ins Hintertreffen geraten. Ihr theoretisches wie 47 48 49

50 51 52

Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 69. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 84. Mouffe arbeitet sich in diesem Zusammenhang kritisch an den Überlegungen von Anthony Giddens ab, der in The Third Way. The Renewal of Social Democracy Überlegungen vorgelegt hat, die für die europäische Sozialdemokratie rund um Tony Blair und Gerhard Schröder leitend wurden. Sie nahmen kapitalistische Verhältnisse als gegeben hin und setzten dem neoliberalen Umbau europäischer Wohlfahrtsstaaten sowie der daraus resultierenden Prekarisierung sämtlicher Arbeits- und Lebensbereiche nichts entgegen. Vgl. die instruktive Einführung von Oppelt, Der Kampf gegen Hegemonien vermag ein Menschenherz auszufüllen. Mouffe, Für ein agonistisches Demokratiemodell, S. 102. Mouffe, Für ein agonistisches Demokratiemodell, S. 85.

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praktisches Anliegen besteht nun darin, Demokratie aus der paradoxen Verschränkung von Freiheit und Gleichheit in der Weise neu zu begreifen, dass eine tiefgreifende Demokratisierung gegenwärtiger Verhältnisse möglich wird, die sämtliche Arenen des sozialen Zusammenlebens umfasst. Das kann nur dann gelingen, wenn diese beiden heterogenen Prinzipien für neue Ausverhandlungen offen stehen – ohne allerdings das inhärente Spannungsmoment zu negieren oder aufzulösen. Gerade Wittgensteins Spätwerk fungiert in den Augen Mouffes als probates Mittel, um diese notwendige Repolitisierung loszutreten. Seine Überlegungen zur irreduziblen Vielfalt von Sprachspielen und Lebensformen sollen einem Politikbegriff entgegentreten, der entweder auf einer auf Nutzenmaximierung bedachten Rationalität oder auf einer vernunftbasierten Deliberation gründet. Dabei fällt auf, dass Mouffe in ihrer Lektüre Wittgensteins – entgegen ihrer sonstigen Kritik an einem an der Ethik orientierten Politikverständnis53 – in operativer Weise auf Termini wie „Gerechtigkeit“ und „Verantwortung“ zurückgreift. Komplementär (aber und eben nicht konträr) zu einem politischen Antagonismus verweist Mouffe auf Wittgensteins Einsichten bezüglich einer pluralen Gestaltungsmöglichkeit des sozialen Zusammenseins und entwickelt im Anschluss daran eine „Ethik der Demokratie“54. Diese von Mouffe lediglich angedeuteten Überlegungen werde ich mit dem zuvor ausgearbeiteten Philosophieren in Beispielen grundieren, um daraus ihr spezifisches Verständnis von Normativität zu gewinnen. Bevor auf Mouffes Adaption Wittgensteins eingegangen wird, muss der Hintergrund ihres radikaldemokratischen Projekts nachgezeichnet werden. Dabei wird deutlich, welche Lücke sie mit einer an Wittgenstein angelehnten demokratischen Ethik zu schließen versucht.55 In ihrem gemeinsam mit Ernesto Laclau vorgelegten Buch Hegemony and Socialist Strategy entwickelt Mouffe eine politische Ontologie radikaler Negativität, um neue Kollektivierungs- und Politisierungsformen – gerade vor dem Hintergrund der Neuen Sozialen Bewegungen – auch theoretisch zu fassen. In Fortführung 53 54 55

Vgl. Mouffe, Für ein agonistisches Demokratiemodell, S. 101. Vgl. hierzu die abschließenden Bemerkungen von Mouffe, Fazit: Die Ethik der Demokratie. Vollständigkeitshalber muss betont werden, dass die Frage nach einer demokratischen Ethik bei Mouffe nur in The Democratic Paradox verhandelt wird und in ihren nachfolgenden Werken wie On the Political (2005) und Agonistics. Thinking the World Politically (2013) ebenso wenig eine tragende Rolle spielt wie im jüngst erschienen For a Left Populism (2018). Zudem tauchen Fragen der Verantwortung und Gerechtigkeit bei Mouffe zwar in ihrer Wittgenstein-Lektüre auf, Wittgenstein selbst spielt aber in ihren finalen Überlegungen in „Die Ethik der Demokratie“ keine Rolle mehr. Eine systematische Ausarbeitung einer demokratischen Ethik hat Marchart, Die politische Differenz, S. 329–365, vorgelegt.

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poststrukturalistischer Einsichten machen die beiden geltend, dass sich (soziopolitische) Identitäten nur über differentielle Relationen konstituieren.56 Die Einsicht in die diskursive Verfasstheit des Sozialen führt zur Annahme, dass jede Gesellschaft von inneren Spaltungen durchzogen bleibt und eine vollständige Totalisierung derselben genauso ein unmögliches Unterfangen darstellt wie eine restlos inkludierende Ordnung. Die Gesellschaft besitzt folglich weder eine ihr gleichsam „wesenhafte“ Gestalt noch einen „letzten“ Grund. Vielmehr verweisen die beiden Autor*innen darauf, dass die Möglichkeiten, soziale Beziehungen und damit gesellschaftliche Verhältnisse zu formieren, kontingent sind und daher prinzipiell für Restrukturierungen offen bleiben.57 Damit verabschieden Laclau und Mouffe nicht nur einen orthodoxmarxistischen Revolutionismus, der eine Überwindung des Klassenkampfes in Aussicht stellt, sondern entwickeln ein produktives Verständnis von Konflikt, das nicht mehr auf einem geschichtsteleologischen Ökonomismus und vorgegebenen Klassenidentitäten beruht, sondern mit der Inblicknahme unterschiedlicher sozialer Kämpfe dem „irreduziblen Pluralismus“58 gegenwärtiger Gesellschaften Rechnung zu tragen vermag. Sozio-politische Ordnungen erhalten ihre Stabilität immer nur vorübergehend aufgrund hegemonialer Kräfteverhältnisse in Abgrenzung zu einem „konstitutiven Außen“59 und müssen daher als Ausdruck bestimmter Machtkonstellationen verstanden werden. Sie sind aus politischen Kämpfen hervorgegangen und auch bereits etablierte Strukturen lassen sich stets von neuem politisieren. Reartikulationen dieser Art trennen das diskursive Feld in unterschiedliche 56 57

58 59

So halten Laclau/Mouffe fest, dass „identities are pureley relational, this is but another way of saying that there is no identity which can be fully constituted“ (Laclau/Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, S. 111). Präzise bringt Marchart das intrinsische Verhältnis von Kontingenz und Konflikt auf den Punkt: „[D]a jede soziale (und politische) Ordnung kontingent ist, also auch immer anders strukturiert sein könnte, ist sie umkämpft. Und umgekehrt: im Konflikt um die Ausgestaltung jeder Ordnung gibt sich deren Kontingenz zu erkennen.“ (Marchart, Für einen parteilichen Universalismus, S. 349) Vgl. Laclau / Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, S. 139. Dieses „Außen“ wird nur dann in seiner konstitutiven Dimension gefasst, wenn es als prinzipiell nicht in den Diskurs integrierbar und zu diesem in einem radikal negatorischen Verhältnis stehend verstanden wird; damit wird der diskursive Zusammenhang nicht nur hervorgebracht, sondern zugleich bedroht. Den Clou dieser poststrukturalistischdiskurstheoretischen Inblicknahme des Politischen beschreibt Marchart präzise: „Im Unterschied zu simplistischeren Konflikt- und Freund/Feind-Theorien beschreibt die Kategorie des Antagonismus also kein positives Verhältnis zwischen zwei einander gegenüberstehenden Kräften, sondern ein unmögliches Verhältnis, in dem die Identität einer hegemonialen Kraft auf eine äußere Instanz verwiesen bleibt, von der sie zugleich in ihrem Inneren disloziert wird.“ (Marchart, Äquivalenz und Autonomie, S. 14)

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Lager, indem sich Allianzen mittels so genannter Äquivalenzketten bilden und eine gegenhegemoniale Kraft entfalten können. Der Clou dieser Überlegungen besteht darin, dass sich diese Bündnisse rein negativistisch über eine geteilte Opposition bestimmen, ohne ihre inhärente Vielfalt zu verlieren. Gegen eine essentialistisch konzipierte und an vorgegebene Identitäten rückgebundene Politik plädieren Laclau und Mouffe dafür, die Heterogenität nicht auf einen Wesenskern zu reduzieren, sondern ihre Stoßkraft gerade in Abgrenzung zur bestehenden Hegemonie und in ihrer Pluralität zur Entfaltung zur bringen. Auch wenn Laclau und Mouffe vornehmlich (queer-)feministische, antirassistische, ökologische und pazifistische Bestrebungen im Auge haben, die eine Allianz gegen die kapitalistisch-neoliberale Ordnung schmieden könnten, ist es wichtig festzuhalten, dass aus der Einsicht in die negative Ontologie des Sozialen und dem Verweis auf gegenhegemoniale Mobilisierungslogiken mittels Äquivalenzketten nicht per se ein progressives politisches Projekt folgt. Der Herausforderung, der sich Mouffe in ihren Werken im Anschluss an Hegemony and Socialist Strategy vornehmlich stellt, ist die Ausarbeitung der theoretischen wie praktischen Frage, wie sich das Ausfechten der Kämpfe um Hegemonie demokratisch bestreiten lässt, ohne in einer traditionellen Weise auf normative Prinzipien zurückgreifen zu müssen.60 Eine demokratische Bearbeitung der Kontingenz und Konfliktualität findet nach Mouffe nun genau dann statt, wenn der jeder Gesellschaftsordnung inhärente Antagonismus gezähmt wird. Im daraus resultierenden Agonismus werden die politischen Kontrahenten nicht mehr als zu eliminierende Feinde betrachtet, sondern als legitime und zu respektierende Gegner*innen.61 Diese teilen einen symbolischen Raum, der sich neben dem Gewaltverzicht durch die „gemeinsame Bindung an ethisch-politische[] Prinzipien“62 – in Form von Gleichheit und Freiheit für alle – auszeichnet. Doch widerspricht sich Mouffe hier nicht selbst? Kehrt an dieser Stelle der zuvor schroff zurückgewiesene Fundamentalismus nicht über die Hintertür zurück, indem aufs Neue von ethisch-politischen Prinzipien die Rede ist? Es ist entscheidend zu sehen, dass für Mouffe diese Grundwerte nicht normativistisch am Reißbrett konzipiert werden, sondern historisch kontingent sind und eine Streitgeschichte mit sich führen – sich also signifikant von zeitenthobenen und kontextlosen Grundsätzen unterscheiden. Die Prinzipien, die Mouffe im Sinn hat, ergeben sich für sie geschichtlich einerseits aus der antiken Konzeption von Demokratie, die 60 61 62

Dem vermeintlichen Normativitätsdefizit von Laclau (und Mouffe) wird an anderer Stelle (Critchley, Is There a Normative Deficit in the Theory of Hegemony?) nachgegangen. Vgl. Mouffe, Einführung. Das demokratische Paradox, S. 29–30. Mouffe, Für ein agonistisches Demokratiemodell, S. 103.

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unter den Werten der Gleichheit und Selbstregierung firmiert, und andererseits aus dem Erbe der bürgerlichen Revolution in Form von Freiheit und Menschenrechten. Die Bindung an Grundwerte – und auf diesen weiteren Aspekt kommt es Mouffe besonders an – wird allerdings weder im Sinne eines „übergreifenden Konsens“63 vorausgesetzt noch mittels eines „eigentümlich zwanglosen Zwang[s] des besseren, weil einleuchtenderen Arguments“64 in einem deliberativen Verfahren hergestellt, sondern konflikthaft ausgetragen.65 Anders formuliert: Nach Mouffe besteht der Konsens über die Bindung an Freiheit und Gleichheit nicht positiv in einem hypothetischen Urzustand (Rawls) oder in einem zu erzielenden Konsens (Habermas), sondern rein negativ im Dissens über diese Grundwerte und deren Verhältnisbestimmung. Denn was Freiheit und Gleichheit für alle besagt, ist alles andere als ausgemacht und wird in demokratischen Aushandlungsprozessen allererst zur Diskussion gestellt. Dieser „konflikthafte Konsens“ erfordert einerseits eine andere Konzeption des Politischen und andererseits eine radikale Veränderung des Selbstverständnisses in Hinblick auf ein „demokratisches Ethos“66. Um diese spezifisch demokratische Haltung in den Blick zu bekommen, greift Mouffe auf Wittgenstein zurück. Sie verfolgt in ihrer Lektüre ein doppeltes Vorhaben: Zum einen schafft sie in Rekurs auf Wittgensteins Verständnis von Praxis ein Bewusstsein von Kontingenz, das theoretischen Letztbegründungsversuchen deren Grenzen aufzeigt; zum anderen gewinnt sie aus ihrer Lesart Wittgensteins eine ethische Dimension von Konfliktualität, die Andersheit weder unter universale Prinzipien subsumiert noch antagonistisch zu eliminieren trachtet, sondern den demokratischen Raum einer sich widerstreitenden Pluralität eröffnet und offen hält. Gerade mit der Inblicknahme dieser „normativen“ Überlegungen erweitert Mouffe die zuvor skizzierte Transformation des Antagonismus in einen Agonismus um einen zentralen Aspekt. Beide Punkte sollen nun deutlich gemacht werden: (1) Wittgenstein erweist sich für Mouffe zunächst als Gewährsmann, um eine kritische Auseinandersetzung mit dem rationalistischen Paradigma 63 64

65 66

Rawls, Politischer Liberalismus, S.  219–265. Für eine subtilere Rawls-Lektüre plädiert Ebeling, Wenn der Spaten sich zurückbiegt, bes. S. 248–249. Habermas, Vorlesungen zu einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie (1970/71), S. 116. Mouffe schießt mitunter scharf, aber leider auch sehr undifferenziert auf Habermas. Insofern ich hier die Stoßrichtung von Mouffes Überlegungen rekonstruiere, kann das Urteil gegenüber Habermas nicht ausgewogener ausfallen. Vgl. hierzu die umsichtige Rekonstruktion des Habermas’schen Ansatzes unter radikaldemokratischen Vorzeichen von Nonhoff, Jürgen Habermas. Vgl. Mouffe, Agonistik, S. 8. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 76.

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voranzutreiben, da dieses ihrer Auffassung nach eine kritische Reflexion auf die eigene (historische und kulturelle) Bedingtheit hintertreibt. So zeigt Mouffe mit Hilfe von Wittgenstein auf, dass der von Habermas und Rawls propagierte Prozeduralismus „immer schon die Akzeptanz bestimmter Werte voraussetzt“67 und damit gerade nicht in der Lage ist, diese aus sich heraus zu rechtfertigen. Im Gegensatz zum Liberalismus, der von einer invarianten Vernunftkonzeption ausgeht und auf der Grundlage rationaler Prinzipien einen allgemeingültigen Konsens erzielen will, führt Mouffe mit Wittgenstein ins Treffen, dass auch die Verfahren einer vernunftbasierten Deliberation bereits an etablierte Praktiken rückgebunden sind, die auf „spezifischen historischen, kulturellen und geographischen Existenzbedingungen“68 fußen. Das, was als „rational“ gilt und worin das „bessere“ Argument besteht, ist ja nicht vom Himmel gefallen oder eine reine Kopfgeburt bestimmter Philosophierender, sondern selbst wiederum das Produkt einer komplexen und umkämpften Geschichte. Um die von Rawls und Habermas aus den Augen verlorenen Voraussetzungen sowie vielfachen Ein- und Ausgrenzungen zu thematisieren, zitiert sie aus den Philosophischen Untersuchungen: „Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmungen der Meinungen, sondern der Lebensform.“69 Durch diesen Hinweis auf die Wittgenstein’sche Lebensform können die Vorbedingungen von Geltungsansprüchen in den Blick genommen werden. Diese artikulieren nicht transkulturelle und überzeitliche Rationalitätsstandards, sondern sind je schon eingebettet in historisch kontingente Gebräuche und sedimentierte Gepflogenheiten.70 Mit Wittgenstein wird daher auch Mouffe nicht müde zu betonen, dass das Geben von Gründen an Grenzen kommt und auf sozial verankerten Handlungsroutinen aufruht: „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Felsen angelangt und mein Spaten biegt sich zurück. Ich bin dann geneigt zu sagen: ‚So handle ich eben.‘“71 So wie es keine sprachnackte Vernunft gibt, die den Sprachgebrauch mittels Konventionen zu regeln in der Lage wäre, kann auch die eigene Lebensform nicht in einem theoretischen Verfahren begründet werden. Sie bildet vielmehr den überkommenen Hintergrund, innerhalb dessen Kriterien und Normen zum Tragen kommen. Man kann nur innerhalb eines überlieferten Horizonts agieren. Und wiewohl man ihn transformieren oder gegen ihn anrennen kann, er lässt sich 67 68 69 70 71

Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 76. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 71. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 241. Mouffe zitiert diesen Paragraphen in Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 75. Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 198. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 217.

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nicht frei wählen oder auf einem neutralen Boden evaluieren. Gerade die von Wittgenstein angeführten Beispiele, die auf eine Pluralität von Sprachspielen, Lebensformen, Weltbildern und damit Bezugssystemen hinweisen, verdeutlichen, dass die Rückführung auf ein einheitliches Fundament der breiten Varianz soziopolitischer Ordnungen ebenso wenig nachkommt wie der inhärenten Vielfältigkeit demokratischer Ausprägungen. Das letzte Wort haben damit nicht theoretisch-rationale Rechtfertigungen, sondern die sozial sedimentierten und heterogenen Praktiken einer Lebensform. Mouffe richtet sich somit gegen eine rationalistische Bewältigung poli­ tischer Konflikte unter dem Gesichtspunkt vermeintlicher Neutralität. Die Bezugnahme auf vernunftbasierte und universal geltende Prinzipien bein­ haltet in ihren Augen – gleichermaßen naiv wie präpotent – eine „rationale und moralische Überlegenheit der westlichen Moderne“72. Mouffe bleibt jedoch nicht bei der Kritik an der (eurozentrischen) Verabsolutierung dieser Vorgehensweise stehen. Die Pointe ist gerade, dass die von ihr dadurch in Aussicht gestellte Selbstrelativierung der eigenen Lebensform es nicht zulässt, sich der Frage nach der „gerechte[n] politische[n] Ordnung“73 zu entschlagen. Denn erst vor dem Hintergrund einer Problematisierung jeder Form der transzendentalen Verankerung und einer Inblicknahme ihrer inhärenten Genealogie kann die Frage nach der Legitimität einer politischen Ordnung überhaupt erst Gegenstand politischer Debatten werden. Ein „vernunftproduzierter Einverstand“74 verkennt laut Mouffe nicht nur den zuvor skizzierten unüberwindbaren Antagonismus soziopolitischer Machtverhältnisse und die Kontingenz des eigenen Denk- und Handlungsraums, sondern führt geradewegs zur politischen Apathie, da Konflikte unweigerlich als vermeintlich gelöst respektive lösbar angesehen werden. Politik findet dagegen ihrer Ansicht nach nur dort statt, wo der Streithandel über unterschiedliche Auffassungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt möglich ist. Die Fragen, in welcher Weise Gründungsversuche in Auseinandersetzung mit anderen Alternativen Geltungsansprüche erheben dürfen und wie Emanzipationsprozesse aussehen könnten, werden daher von Mouffe nicht einfach ausgeblendet. Im Gegenteil, sie können angesichts der Zurückweisung

72

73 74

Mouffe, Agonistik, 17. Mit dieser kritischen Inblicknahme eurozentristischer Tendenzen innerhalb demokratietheoretischer Debatten reagiert Mouffe auch auf an sie herangetragene Vorwürfe aus postkolonialer Perspektive. Vgl. Dhaliwal, Can the Subaltern Vote? Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 71. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 78 („Einverstand“ ist im engl. Original auf dt.).

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eines letzten Grundes allererst angemessen gestellt und demokratisch verhandelt werden: Wir kommen so zu dem Schluss, dass Demokratie keine Wahrheitstheorie und keine Konzepte wie Unbedingtheit und universelle Gültigkeit benötigt, sondern eine Vielfalt von Praktiken und pragmatischen Spielzügen, um Menschen davon zu überzeugen, die Bandbreite ihrer Verpflichtungen gegenüber anderen zu erweitern und eine inklusivere Gesellschaft aufzubauen.75

Doch was ist mit dieser Perspektivenverlagerung vom vernünftigen Einvernehmen hin zu sozio-kulturell geteilten Überzeugungen eigentlich gewonnen? Wie lässt sich mit der Hinwendung zu einer „Vielfalt von Praktiken“ dennoch eine „inklusivere“ und damit in normativer Hinsicht auch „gerechtere“ Gesellschaft formieren, ohne den sozio-politischen Dissens damit zu überwinden und einer vollständigen Integration das Wort zu reden? Wie kann aus der Einsicht in den Vorrang der Praxis und in die radikale Kontingenz gesellschaftlicher Formationen eine demokratische Lebensform gewonnen werden? (2) Um auf diese Fragen und damit auf den oben genannten zweiten Punkt einzugehen, kehrt Mouffe abermals zu Wittgenstein zurück, um in Anschluss an seine Ausführungen eigene Überlegungen zu einer demokratischen Ethik anzustellen. In diesem Zusammenhang betont sie ausgehend von Wittgensteins Philosophieren in Beispielen und seinem Verständnis von Pluralismus, dass die Demokratie ganz „unterschiedliche Formen“76 annehmen kann. Analog zur Unmöglichkeit, Sprachspiele auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, lassen sich auch demokratische Praktiken nicht auf ein spezifisches Regelsetting reduzieren oder auf eine eigentliche Spielart eingrenzen. Mouffe geht es in Anlehnung an Wittgenstein darum, die irreduzible Vielheit, der „das Befolgen demokratischer Regeln eingeschrieben sein kann“77, in den Blick zu bekommen. Demokratie lebt von einem lebendigen und offenen Pluralismus, der in unterschiedlicher Weise – zum Teil auch in starker Abweichung und in wechselseitigem Widerspruch – um die Umsetzung demokratischer Verhältnisse ringt. Das „Ethos der Demokratie“78 besteht gerade in dieser 75 76 77 78

Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 74. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 80. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 80. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 76. Der Übergang von einem Ethos zu einer Ethik der Demokratie ist bei Mouffe fließend. Sie unterzieht keinen der Termini einer eingehenden Begriffsanalyse – auch nicht, soweit ich ihr Œuvre überblicke, an einer anderen Stelle. Ein umfassender Rekurs auf ein Ethos der Demokratie respektive der Pluralisierung findet sich im Kontext der anglo-amerikanischen Variante der agonistischen Demokratietheorie bei William Connolly oder James Tully. Den beiden

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Anerkennung der inhärenten Pluralität der demokratischen Lebensform, in der man den Streit um Freiheit und Gleichheit nicht auf eine maßgebliche Form einschränkt, sondern die Koexistenz unterschiedlicher Interpretationen und Ausprägungen akzeptiert. Mit dieser Haltung, andere Auffassungen neben sich gelten zu lassen, geht für Mouffe auch eine permanente Revision im Namen etwaiger Ausschlüsse innerhalb der bestehenden Ordnung einher. So betont sie in Anlehnung an Cavells Wittgensteinlektüre,79 dass die Inanspruchnahme einer offenen Pluralität zugleich die Frage aufwirft, ob innerhalb des vorherrschenden Diskurses nicht bestimmte Stimmen „von Beginn an ausgeschlossen“80 werden. Diese Form der kritischen Selbstreflexion, die einer „Reabsorption von Alterität“81 Einhalt zu gebieten versucht, beinhaltet eine „Verantwortung“82 gegenüber marginalisierten Positionen und erörtert, inwiefern die bestehende Ordnung dem Anderen „Gerechtigkeit“83 widerfahren lässt. Die Einsicht Wittgensteins, dass das Exemplarische stets einen Raum für Anderes entfaltet und daher kein Beispiel in der Lage ist, Letztgültigkeit für sich zu reklamieren, erhält bei Mouffe vor dem Hintergrund der Selbstrelativierung oder Selbstinfragestellung eine ethische Schlagseite im Politischen. Das Fehlen einer sicheren Grundlage lässt sich insofern demokratisch lesbar machen, als mit der Akzeptanz der eigenen Kontingenz eine kritische Reflexion auf die In- und Exklusionslogiken jedes Gemeinwesens einhergeht. Jede soziale Ordnung bleibt dadurch einer – wie Mouffe im Schlusssatz ihres Buches The Democratic Paradox festhält – „nie endenden Befragung des Politischen durch das Ethische“84 ausgesetzt. Gerade in diesem Punkt kommt meiner Auffassung zufolge die demokratische Dimension eines Philosophierens in Beispielen voll zum Tragen. Die von Mouffe in Aussicht gestellte demokratische Ethik beinhaltet die Möglichkeit, sich selbst nur als ein Beispiel – neben und unter anderen – zu verstehen. Diese Selbstrelativierung beinhaltet die Chance, sich von den eigenen Überzeugungen ein Stück weit zu entbinden, um auch andere Positionen – gleichsam als Gegenbeispiele – gelten zu lassen und ihnen insofern gerecht zu werden, als ihnen Gehör geschenkt und zugestanden wird,

79 80 81 82 83 84

Autoren wirft Mouffe jedoch vor, einen „Agonismus ohne Antagonismus“ (Mouffe, Agonistik, S. 32) zu vertreten. Vgl. Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome, xxxviii. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 82. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S.  83 und Mouffe, Fazit. Die Ethik der Demokratie, S. 125. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 83. Mouffe, Wittgenstein, Politische Theorie und Demokratie, S. 82. Mouffe, Fazit. Die Ethik der Demokratie, S. 134.

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im Recht sein zu können. Demokratie findet nur dann statt, wenn bei allem leidenschaftlichen Verfechten der eigenen Position diese dennoch als nur eine neben vielen möglichen verstanden wird. Oder anders gewendet: Die Identifizierung mit dem demokratischen Projekt vollzieht sich paradoxerweise nur unter den Vorzeichen einer potentiellen Des-Identifizierung und Revision des eigenen Standpunkts. Mit der Betonung der kritischen Selbstinfragestellung der bestehenden Ordnung geht für Mouffe nicht ein Hamlet’sches Zaudern einher, das jedes kraftvolle Eintreten für die Demokratie verhindert. Ebenso ist die Vorstellung einer restlos befriedeten Ordnung oder eines konfliktfreien living happily together ihrem Denken fremd. Mouffes Pochen auf die Vielgestaltigkeit des demokratischen Raums darf nicht als devotes Tolerieren von allen anderen politischen Auffassungen missverstanden werden. Vielmehr macht sie deutlich, dass es in ihrer Konzeption einer agonistischen Demokratie weder um den „unendlichen Versuch, den anderen anzuerkennen“85, noch um eine einträchtige Harmonie einer „Pluralität ohne Antagonismus“86 respektive einer (auch nicht potentiell) restlos inklusiven Ordnung geht. Das Feld des Politischen bleibt für Mouffe irreduzibel von Herrschaft und Gewalt, Ein- und Ausschlüssen durchzogen. In dezidierter Abgrenzung zu Spielarten einer „postmodernen“ Ethik87, die sich naiv um die Andersheit sorgt und dem Antagonismus des Politischen keinerlei Beachtung schenkt, gilt es für Mouffe, dort entschieden politisch einzuschreiten, wo dieser Pluralismus bedroht wird. So schreibt sie in Agonistics: „Um eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie man politisch handeln sollte, ist der Augenblick der Entscheidung unumgänglich, und das erfordert das Ziehen von Grenzen, die Festlegung eines Raumes der In- bzw. Exklusion.“88 Nicht allem und jedem wird daher im agonistischen Pluralismus Rechnung getragen. Veränderungen zugunsten demokratischer(er) Verhältnisse finden nur dann statt, wenn man darum weiß, dass das hegemoniale Ringen in einem „durchmachteten“ Feld und mit ungleichen Waffen, wenn auch im Namen 85 86 87

88

Mouffe, Fazit. Die Ethik der Demokratie, S. 125 (Herv. M. F.). Mouffe, Fazit. Die Ethik der Demokratie, S. 129. Wen Mouffe unter diese Kategorie subsumieren möchte, wird aus ihren Texten nicht ganz klar. Verfechter*innen einer entpolitisierten Ethik, die sich an „Levinas, Arendt, Heidegger oder selbst Nietzsche“ orientieren, negieren in ihren Augen den – immer auch durch Zwang und Gewalt geprägten – Antagonismus im Agonismus zugunsten eines „unendlichen Versuchs, den Anderen anzuerkennen“ (Mouffe, Fazit. Die Ethik der Demokratie S. 125) und enthalten sich so jeder Form von politischer Entscheidung respektive eines Eintretens für eine bestimmte politische Position. Ich komme in der Conclusio nochmals auf dieses in meinen Augen entschieden zu kurz greifende Verständnis von Alterität zurück. Mouffe, Agonistik, S. 37.

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von Freiheit und Gleichheit, stattfindet und Entscheidungen – auch die der Exklusion – unabdingbar sind. Mouffe selbst verweist dabei immer wieder auf die Notwendigkeit, Entdemokratisierungstendenzen eines konsensbasierten Universalismus, der unterschwellig abweichende Stimmen zum Schweigen bringt, und einer neoliberalen Ordnung, in der die Logik des Marktes politische Gestaltungsfähigkeit zurückdrängt, einen Riegel vorzuschieben; in einem ungleich größeren Ausmaß sind jedoch –vom Prozess der Neoliberalisierung mitunter evozierte – rechte Uniformitätspolitiken zu bekämpfen, die jede gesellschaftliche Diversität zu eliminieren versuchen. Im Gegensatz zu diesen bringt Mouffe eine sich widerstreitende Pluralität als konstitutives Moment für die Demokratie in Anschlag: Mobilisierung erfordert Politisierung, aber Politisierung kann es nicht ohne konfliktvolle Darstellung der Welt mit gegnerischen Lagern geben, mit denen die Menschen sich identifizieren können; einer Darstellung der Welt, die die politische Mobilisierung von Leidenschaften innerhalb des Spektrums des demokratischen Prozesses zuläßt.89

Damit sich die Bindung an geteilte ethisch-politische Werte reproduzieren und eine gewaltsublimierende Transformation eines antagonistischen in einen agonistischen Streithandel vollziehen kann, ist ein permanentes Ausverhandeln des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit erforderlich. Der kontinuierliche Austrag dieses Streits ist jedoch nur dann möglich, wenn es tatsächlich eine Pluralität miteinander konfligierender Projekte gibt, die eine differente Auslegung dieser Prinzipien vertreten und eine leidenschaftliche Identifikation mit anderen Positionen erlauben. So hält Mouffe in On the Political unmissverständlich fest: „In einer pluralistischen Demokratie sind solche Meinungsverschiedenheiten nicht nur legitim, sondern notwendig.“90 Wird der Konflikt still gestellt oder auf eine einheitliche Auffassung reduziert, implodiert auch der heterogene Raum der Demokratie. Daher gilt es – und hierin besteht die demokratiepolitische Pointe ihres Verständnisses der aus Wittgensteins Philosophieren in Beispielen gewonnenen Einsicht in die irreduzible Vielheit – jenen entschieden entgegenzutreten, die eine für die Demokratie konstitutive Pluralität zu eliminieren trachten. Demokratie gibt es nur im offenen Streit um ihre Gestaltung – oder gar nicht.

89 90

Mouffe, Über das Politische, S. 35. Mouffe, Über das Politische, S. 43.

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4.

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Conclusio

Das von Wittgenstein anvisierte heuristische Merkmal des Beispiels liegt – wie die Nachzeichnung seiner Überlegungen ergeben hat – darin, dass dieses sich gerade nicht als ein Equilibrium zwischen den beiden Extrempositionen der Allgemeinheit einerseits und des Einzelfalls andererseits erweist. Im Gegensatz zu einem vermittelnden Ausgleich oder einer rein illustrativen Funktion eröffnet das Beispiel in seiner spezifischen Singularität den Raum für weitere Möglichkeiten. Das Beispiel demonstriert, dass keine Gegebenheit nur hinsichtlich einer einzigen Sichtweise betrachtet werden kann. Stets lassen sich andere – zum Teil auch widerstreitende – Perspektivierungen in Form von Gegenbeispielen vornehmen. Diese beunruhigende Offenheit, die es zulässt, nicht nur (quantitativ) anderes, sondern auch (qualitativ) anders zu sehen, verschiebt in einer markanten Weise die dichotomische Gegenüberstellung zwischen Universalem und Partikulärem. Das Beispiel überbietet das Faktische des Einzelfalls und unterwandert zugleich das Streben nach einer Essenz. Immer impliziert das Beispiel eine Andersheit, die nicht auf den Begriff zu bringen ist, da es einen Abstand zu definitorischen Umgrenzungen und zu finalen Ordnungsschemata schafft. Der darin aufklaffende Riss ist – wenn man ein Philosophieren in Beispielen ernst nimmt – nicht mehr zu schließen, sodass das daraus entstandene Irritationspotential stets als Über- und Herausforderung lesbar bleibt. Die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele, die mittels einer Auflistung von Beispielen sichtbar wird, wird somit nicht von einer sicheren Warte aus proklamiert. Vielmehr nimmt Wittgenstein sich und sein Denken selbst in diese Bewegtheit und Unabschließbarkeit des Beispielgebens mit hinein. Es gibt – wie Schneider zurecht betont – kein „integratives Ober-Sprachspiel“91 als umfassende „Über-Ordnung“92. Die Philosophie fungiert gerade nicht als universaler Maßstab, durch den sich die unterschiedlichen Sprachspiele begutachten und reglementieren lassen, sondern ist selbst nur beispielhaft gegeben. Das im Beispiel explizierte Wissen kann gerade nicht eine regulative Funktion ausüben, sondern lediglich – wie jedes andere Beispiel eines Sprachspiels auch – den Blick auf die Flut von Möglichkeiten und auf die stets erweiterbare Reihe von Beispielen lenken. Auch Wittgensteins Beschreibungen können somit keine unwiderrufliche Gültigkeit beanspruchen; er räumt ihnen die Möglichkeit ein, erweitert, verändert oder verworfen zu werden. Nichts

91 92

Schneider, Offene Grenzen, zerfaserte Ränder, S. 142. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 97.

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ist unumstößlich; alles kann aus anderen Blickwinkeln wieder anders wahrgenommen werden. Bei Mouffes politiktheoretisch gewendeter Wittgenstein-Lektüre habe ich – neben der Zurückweisung eines rationalen Universalismus und dem Vorrang sedimentierter Praktiken innerhalb der Lebensformen gegenüber theoretischen Legitimationsstrategien – vor allem diese aus einem „Philosophieren in Beispielen“ resultierende Dimension der Selbstrelativierung fruchtbar zu machen versucht. Der von Mouffe immer wieder proklamierte Transfer von einem (sozialontologischen) Antagonismus zu einem (demokratischen) Agonismus impliziert nicht nur, einen umfassenden Gewaltverzicht und die Verlagerung des Kampfes auf eine symbolische Ebene, sondern beinhaltet auch eine kritische Selbstreflexion der eigenen Position und des bestehenden Diskurses.93 Auffallend ist, dass ihre operative Terminologie eine ethische Färbung aufweist und sie die Verantwortung gegenüber subalternen Stimmen ebenso betont wie die Frage einer gerechteren Ordnung. In diesem Zusammenhang betont sie mehrmals, dass sie einer „Reabsorption von Alterität“94 entschieden entgegen treten möchte. Ihre Kritik richtet sich dabei einerseits gegen normativistische Theorien Habermas’scher und Rawl’scher Provenienz, deren Universalismus alles Einzelne unter einem rational einsehbaren Allgemeinen zu subsumieren droht, andererseits gegen eine entpolitisierte Form eines Ethizismus, dem es nur mehr um die Andersheit des Anderen geht, ohne politische Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen. So zentral dieser Aspekt ist, so unausgegoren erscheint mir zugleich dieses Verständnis von Andersheit. Alterität wird von Mouffe als marginalisierte Position gefasst, der auch Gerechtigkeit widerfahren soll. Ihre unterschwellige – da nicht namentlich greifbare – Kritik an Levinas verkennt grundlegend, dass dort das Verhältnis zur Alterität weder ein äußerliches ist noch auf einen 93

94

An dieser Stelle verzichte ich auf eine nähere Auseinandersetzung mit der von prominenter Seite vorgetragenen Kritik, dass das agonistische Demokratiemodell letztlich im liberalen Paradigma verbleibt. So moniert etwa Žižek: „Ich behaupte, dass Laclaus und Mouffes ‚radikale Demokratie‘ einer bloßen ‚Radikalisierung‘ dieses liberaldemokratischen Imaginären allzu nahe kommt und innerhalb dieses Horizonts verweilt.“ (Žižek, Die Stellung halten, S.  406). Dem möchte ich zumindest entgegenhalten, dass Mouffe, obwohl sie an der liberalen Institutionalisierung festhält, ihr inhärentes demokratisches Versprechen dahingehend zu mobilisieren sucht, dass Grundelemente des Liberalismus (z. B.  das  Recht auf Privateigentum) einer Revision unterzogen und mit dem Paradigma der Gleichheit in ein produktives Spannungsverhältnis gesetzt werden. Die Rede von liberalen „Eingemeindungsversuchen“ (vgl. Rezpka / Straßenberger, Für einen konfliktiven Liberalismus) möchte ich daher zumindest mit einem Fragezeichen versehen. Mouffe, Fazit. Die Ethik der Demokratie, S. 125.

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(identifizierbaren) Anderen reduziert werden kann. Im „vor-ursprünglichen“ Appell des Anderen erfährt sich das Subjekt nach Levinas immer schon von den Ansprüchen anderer Anderer heimgesucht, angesichts deren Konfliktualität es – gleichermaßen dringlich wie unmöglich – eine Antwort finden und ein Urteil fällen muss, das sowohl dem einen Anderen als auch allen anderen Anderen Gerechtigkeit widerfahren lässt.95 Was Levinas somit geltend macht, ist, dass die Aporie von Singularität und Universalität den Kern des Gerechtigkeitsbegriffs bildet und sich in allen ethisch-politischen Konflikten stets aufs Neue wiederfindet – und gerade nicht, wie Mouffe es sehen möchte, in der Sphäre des Ethischen verharrt. Mouffe versucht, eine andere Antwort auf die Notwendigkeit zu geben, Entscheidungen zu fällen. Der bloße Aufweis von Mannigfaltigkeit ist zu wenig, sodass Mouffe in einer politischen Relektüre der Wittgenstein’schen Überlegungen zur Irreduziblität von Sprachspielen auf eine normative Dimension der agonistischen Pluralität respektive Demokratie verweist. Die von ihr in Aussicht gestellte Pluralität darf nicht als buntes Neben- und Miteinander verstanden werden, in der alles gleich gültig und letztlich gleichgültig wird. Vielmehr zeigt sie auf, dass die Demokratie als plurale nicht nur von der variablen Ausbuchstabierung des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit lebt, sondern ebenso von der ausdrücklichen Affirmation von Pluralität. Überall dort, wo diese in ihrer Offenheit negiert wird, muss im Namen der Demokratie für diese eingetreten und sie erstritten werden. Pluralität ist damit nicht nur eine inhärent streitbare Vielheit, sondern muss im Namen der Demokratie stets auch erkämpft werden. Mit dieser Auffassung von Demokratie als agonistische Pluralität verändert sich auch das Verständnis von Kontingenz und Konflikt: Sie werden nicht nur aufgrund der Unmöglichkeit einer theoretisch-rationalen Letztbegründung hingenommen – diesen Anschein erweckt Wittgenstein mitunter –, sondern vielmehr politisch in der Weise affirmiert, dass sie als konstitutiv für Demokratie gefasst werden. Um die der eigenen transzendentalen Obdachlosigkeit inhärente Pluralität zu bejahen, müssen demokratische Institutionen divergenten Positionen in der Weise einen Raum geben, dass keine der unterschiedlichen Parteien – die eigene Kontingenz anerkennend und bejahend – den Ort der Macht dauerhaft besetzen kann, um so die eigene Interpretation von Freiheit und Gleichheit zu verabsolutieren.96 Eine agonistisch-plurale 95 96

Diesen Überlegungen bin ich an anderen Stellen ausführlich nachgegangen: Flatscher, Das Verhältnis zwischen dem Ethischen und Politischen sowie Flatscher / Seitz, The Ethico-Political Turn of Phenomenology. Vgl. Mouffe, Agonistik, S. 17.

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Demokratiekonzeption akzeptiert mit der irreduziblen Pluralität die eigene Unabgeschlossenheit und Imperfektion. Sie bleibt daher, wie Mouffe es in den Worten Derridas formuliert, dauerhaft „im Kommen“.97 Was Mouffe und Wittgenstein nur ansatzweise verfolgen, ist die der Dehiszens des Beispielgebens inhärente Zukunftsoffenheit, die selbst in unsere Gegenwart hereinsteht. Diese arbeitet jeder pessimistischen Absage an eine Gestaltbarkeit der Gegenwart entgegen. Hic et nunc gilt es, durch die Suche nach neuen Beispielen, Metaphern und Bildern die Veränderbarkeit gegenwärtiger Verhältnisse präfigurativ vorwegzunehmen, um in einer experimentellen Weise bereits in der Gegenwart so zu handeln, als ob ein enthierarchisierter und diskriminierungsfreier Zustand einer sich widerstreitenden und vielschichtig pluralen Gesellschaft bereits eingetreten wäre. Es geht darum, diese Möglichkeit immer wieder aufs Neue der Zukunft beispielhaft zu entreißen.

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Exemplarität in Politik und Recht Alessandro Ferrara Von Exemplarität könnte nichts weiter entfernt sein als Exemplifizierung. Wenn wir etwas als Beispiel oder Fall von etwas anderem bezeichnen, operieren wir innerhalb eines vorab bestimmten Kreises von inerten Begriffen: Wir wissen im Vorhinein, wovon das Exemplifizierende ein Beispiel liefert. Wir können unsere Beispiele dann unbegrenzt auswählen oder vervielfältigen, wie es uns für die jeweilige Lage passend erscheint. Ähnlich einer toten Metapher inspiriert das exemplifizierende Beispiel niemanden und hat lediglich praktischen Nutzen. Das Exemplarische hingegen übt eine normative Kraft sui generis aus, die sich von der Kraft gerechtfertigter Überzeugungen über die Welt und gerechtfertigter Normen darüber, wie die Welt sein sollte, unterscheidet. Exemplarität beruht auf einer außergewöhnlichen Koinzidenz von Faktizität und Geltung: Exemplarisch ist, was so ist, wie es sein sollte.1 Während das Exemplifizierende ersetzbar ist – eine Vielzahl von Sofas der verschiedensten Formen kann dasjenige exemplifizieren, was wir als ‚Sofa‘ bezeichnen – ist das Exemplarische zugleich normativ und singulär, einzigartig: Es geht über seinen Ursprungskontext hinaus, indem es ‚inspirierend‘ statt ‚zwingend‘ ist, es erschließt neue Dimensionen, derer wir uns bislang nicht bewusst waren und bietet uns in seiner positiven Form eine besondere Art des Wohlgefallens, die, wie Kant in §23 seiner Kritik der Urteilskraft ausführt,2 mit einem „Gefühl der Beförderung des Lebens“ oder des menschlichen Gedeihens, verknüpft ist. Die Exemplarität erschließt neue Dimensionen, weil sie – um weiter in kantischen Begriffen zu reden – nur der bloß reflektierenden Urteilskraft zugänglich ist: Das ‚Etwas‘, auf das sich das Exemplarische bezieht, ist im Vorhinein nicht bekannt und kann nur in der ‚Reflexion‘ darauf identifiziert werden, was das Exemplarische uns zeigt. Drei allgemeine Anmerkungen zur Exemplarität sollen erwähnt werden, bevor wir zu spezifischen Aspekten der Exemplarität in Politik und Recht übergehen. Erstens ist die Exemplarität nicht exklusiv der Reflexion auf Kunst oder Naturschönheit vorbehalten. Sie deutet auf eine Eigenschaft hin, die Begriffe * Der vorliegende Artikel ist eine erweiterte und teilweise modifizierte Fassung von A. Ferrara “Exemplarity in the Public Realm”, in Law & Literature (special issue on Exemplarity and its Normativity, guest-edited by Angela Condello and Alessandro Ferrara), 2018, Vol. 30, n. 3, pp. 387–399. Dieses Material liegt hier mit Genehmigung des Verlegers in Übersetzung vor. 1 Vgl. Ferrara, The Force, S. 3. 2 Kant, Kritik der Urteilskraft AA 05, 244.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_016

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wie ‚Schönheit‘, ‚Integrität‘, ‚Charisma‘, ‚Aura‘, ‚Perfektion‘ oder ‚Authentizität‘ – typisch für viele verschiedenartige Untersuchungsgebiete (beispielsweise Ästhetik, politische Theorie und Sozialphilosophie, Rechtsphilosophie und Jurisprudenz sowie Moralphilosophie) – allesamt einzufangen versuchen: nämlich die Bezugnahme auf das gelegentliche, außergewöhnliche und inspirierende Verschmelzen dessen, was ist, mit dem, was sein sollte, auf eine Kongruenz eines symbolischen Objekts mit sich selbst, die nicht auf Widerspruchslosigkeit oder auch nur auf Kohärenz reduziert werden kann. Zweitens, wenn wir stattdessen die Ästhetik in einem weiteren Sinne als eine Reflexion auf das Exemplarische auslegen, können wir nachvollziehen, warum in einem philosophischen Horizont, der zugleich auch von der linguistischen Wende bestimmt ist, eine ‚Ästhetik des Exemplarischen‘, mutatis mutandis, die Rolle spielen könnte, die Kant der Physik Newtons zuschrieb. In diesem Horizont sind Herausforderungen, die von der linguistischen Wende gestellt wurden (die Unmöglichkeit der isolierten Beurteilung des Regelfolgens; die Indeterminiertheit der Übersetzung; das Hinterfragen der Gegensätze von analytisch und synthetisch, Fakten und Werten; die Verwurzelung von Bedeutung im Sprachgebrauch, etc.), bislang ignoriert oder umgangen, nicht aber eigentlich bewältigt.3 Newtons Physik stellte für Kant einen Bruch mit einem vormodernen philosophischen Horizont dar, in dem Gewissheit nur mit formalen Disziplinen wie Logik und Mathematik assoziiert wurde, und läutete eine revolutionäre Möglichkeit ein, Erfahrung und Gewissheit miteinander zu verbinden – „synthetisches Urteil a priori“ war der formale Ausdruck, um die Überbrückung dieser vermeintlich unüberbrückbaren Kluft zu bezeichnen. Auf ähnliche Weise kann uns eine ‚Ästhetik des Exemplarischen‘ zeigen, wie man eine andere Kluft überbrückt, die von Wittgensteins Variante der linguistischen Wende eröffnet wurde und sich gleichermaßen der Versöhnung entzieht. Es handelt sich um die Kluft zwischen dem Vermögen der Kontextüberschreitung einerseits, das wir von unseren epistemischen und normativen Auffassungen einfordern, und der Kontextgebundenheit andererseits, die dem Rahmen der Bedeutung, der Praktiken und Sprachspiele innewohnt, in denen diese normativen Auffassungen formuliert und begriffen werden. In den Philosophischen Untersuchungen argumentiert Wittgenstein dafür, dass Beschreibungen des Regelfolgens letztendlich auf einen harten Felsen stoßen – nämlich die Faktizität einer Lebensform –, an dem sich der Spaten 3 Sogar die maßgebliche genealogische Rekonstruktion des Lernprozesses der postmetaphysischen westlichen, die jüngst von Jürgen Habermas veröffentlicht wurde, bietet keine vollständige Lösung dieser Probleme. Vgl. Habermas, Geschichte der Philosophie; hierzu Ferrara, Controversy.

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der philosophischen Reflexion unerbittlich zurückbiegt, „weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen“.4 Ähnlich wie Humes Argument gegen die Möglichkeit einer „privaten Verursachung“5 argumentiert Wittgenstein gegen die Möglichkeit der privaten Befolgung einer Regel und damit für eine detranszendentalisierte Konzeption der Vernunft. Er schließt verschiedene Hypothesen (aus der Mathematik und verschiedenen Bereichen der Wahrnehmung) nacheinander aus, die die Existenz einer beobachtbaren Tatsache in der Welt voraussetzen, anhand derer ein Beobachter allein feststellen könnte, ob ein Akteur einer Regel folgt oder nicht. In allen diesen Fällen führt die fehlgeleitete Suche nach einem faktischen Prüfstein, der das letztgültige Urteil eines einzelnen Beobachters bezüglich der Einhaltung einer Regel rechtfertigen könnte, zur paradoxen Unmöglichkeit, eine tatsächliche von einer bloß vermeintlichen Regelbefolgung zu unterscheiden. Dieses Paradox lässt sich nicht durch die Postulierung einer noch grundlegenderen Regel entschärfen. Die Befolgung einer solchen angeblichen Regel würde nämlich nicht die Behauptung eines einzelnen Beobachters rechtfertigen können, dass die Regel wirklich respektiert wurde. Ein solcher Versuch hätte lediglich die Wiederholung der skeptischen Einwände auf der Ebene der höheren, umfassenderen Regel zur Folge und zöge so einen unendlichen Regress nach sich. Der unendliche Regress kann nur vermieden werden, indem wir anerkennen, dass uns an einem gewissen Punkt die ‚grundlegenderen Regeln‘ ausgehen und wir einen praktisch, von Gebräuchen bestimmten, harten Felsen erreichen, der unseren philosophischen, transzendentalen, Vorannahmen rekonstruierenden Spaten daran hindert, weiter zu graben, und an dem er sich zurückbiegt. Diese basale Regel erinnert an Kelsens unausgesprochene, transzendental vorausgesetzte „Grundnorm“. Wie diese müsste sie den unendlichen Regress immer höherer gesetzesbegründender Normen beenden.6 Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Wittgensteins basale Regel für so viele Praktiken oder Sprachspiele wie untersucht reproduziert wird. Daher lässt sich eigentlich die Idee einer basalen Regel nicht mehr begründen: Sie wird „blind“ befolgt.7 Die Normativität einer Regel und unser Urteil über ihre Befolgung beruhen auf der gewohnheitsmäßigen Annahme grundlegender praxiskonstituierender Regeln durch eine Gemeinschaft von Teilnehmern.

4 5 6 7

Wittgenstein, Untersuchungen, § 202, S. 134. Vgl. Hume, An Inquiry, S. 66–68. Kelsen, Rechtslehre, §34, a, S. 347–349. Wittgenstein, Untersuchungen, § 219.

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Dieser neue philosophische Horizont wirft das zuvor unbekannte Problem auf, die kontextübersteigende Qualität von Wahrheit und Gerechtigkeit in einem Sinne auszudrücken, der nicht unvereinbar mit Wittgensteins Konzep­ tion des Eingebettetseins der regelbasierten Normativität in pluralen Lebensformen ist. Bezüglich des öffentlichen Raums von Recht und Politik werde ich mich im zweiten Abschnitt mit Rawls’ wegweisendem Ansatz zur Normativität der Gerechtigkeit befassen. Die allgemeinere philosophische Pointe dabei ist, dass die Normativität des Exemplarischen – zuvor der ästhetischen Betrachtung vorbehalten – eine Lösung des Problems der Normativität der Gerechtigkeit bieten kann. Denn die Normativität des Exemplarischen bindet ihr kontextübersteigendes Vermögen nicht an allgemeinen Begriffen, Prinzipien oder Axiomen, die spezifische Fälle durch Übersetzung vorgeblich subsumieren, wobei immer das Risiko besteht, dass etwas verloren geht. Die Normativität des Exemplarischen stammt, wie in diesem ersten Abschnitt dargelegt, aus einer anderen Quelle und hängt nicht in so entscheidendem Maße von der Übersetzung ab. Drittens sind das Beispiel und das Exemplarische in komplexer Weise aufeinander bezogen. Wir haben bereits festgehalten, dass wir im Fall der reinen Exemplifikation schon wissen, was exemplifiziert wird und dass das ‚Vorkommnis‘ oder das ‚Beispiel‘ bloße Veranschaulichung sind, so wie die Zeichnungen eines Kinderbuchs. Im Fall der reinen Exemplarität ist das Exemplarische dagegen ‚für sich selbst ein Gesetz‘, type und token zugleich. Aber über diese Extremfälle hinaus erstreckt sich ein ausgedehntes und großenteils unkartiertes Territorium der Zwischenstufen, in dem man Fälle von tugendhaftem Verhalten, best practices in Beruf und Gewerbe, staatsmännischer Führung in der Politik, Tapferkeit im Kampf, elterlicher Fürsorge oder treuer Freundschaft finden kann. Diese sind irgendwo zwischen Exemplifikation und Exemplarität zu verorten, d. h. zwischen bloßer Subsumtion und vollständig reflektierender Qualität.8 Derartige Verhaltensweisen können häufig nur auf der Basis einer Art von Urteil begriffen werden – eines orientierten reflektierenden Urteils – das ebenfalls gewissermaßen ‚zwischen‘

8 Beispiele dieser Art versteht Arendt fälschlicherweise als vollkommen reflektierend, wenn sie die Funktion von Beispielen mit derjenigen von Schemata vergleicht und behauptet, dass man, „wenn man ein Grieche wäre“ und jemandem Tapferkeit zuspräche, „man in ‚den Tiefen seines Gemüts‘ das Beispiel des Achilles“ hätte, genau wie wir, „wenn wir von jemandem sagen, dass er gut ist, […] in unserem Gedächtnis das Beispiel des hl. Franziskus oder des Jesus von Nazareth“ haben. Vgl. Arendt, Das Urteilen, S.  111. Für eine kritische Diskussion dieser Position vgl. Ferrara, The Force, S. 49–61.

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den kantischen Idealtypen von bestimmendem und reflektierendem Urteil steht.9 Bei anderen Gelegenheiten jedoch ist die Exemplarität des Exemplarischen so rein und innovativ, dass wir sie zunächst in nur unbestimmter Weise spüren, indem wir versuchsweise die Analogie mit vergangenen Erfahrungen heranziehen. Erst im Anschluss gelingt es uns, die so kraftvoll in der vorliegenden Sache oder Handlung reflektierte, neue normative Dimension zu identifizieren. Die Exemplarität in diesem Fall im Vollsinne zu erfassen, setzt voraus, dass wir ad hoc das Prinzip formulieren, von dem das Exemplarische eine Instanz darstellt. Politische Revolutionen, die Gründung neuer Religionen, stilbegründende Kunstwerke sind oft von dieser Art: Mit ein und derselben Geste eröffnen sie neue Perspektiven auf das Existierende und neue Dimensionen der Normativität. Die Kraft, mit der sie jedermann anregen, ihren Lehren zu folgen, beruht auf reiner Selbstkongruenz: darauf, dass etwas zugleich als Gründungsmoment wie auch als erste Anwendung einer Norm erscheint, die zuvor nicht existiert hat. In diesem Sinne ist die Exemplarität gewissermaßen normatives Bootstrapping – der Baron von Münchhausen stellt hiervon eine banale Illustration dar. Viele philosophische Fragen stellen sich an diesem Punkt: Was ermöglicht es der Exemplarität einer Sache, die Grenzen ihres eigenen, beschränkten Ursprungskontexts zu übersteigen und einen Gebrauch in Umfeldern zu inspirieren, die auf vielfältige Weise vom Ursprungskontext unterschieden sind? Exemplare werden interpretiert. Doch wie verhält sich ihre normative Kraft zur Interpretation? Wie soll man sich die abstoßende Kraft von negativ Exemplarischem vorstellen? Diese Fragen müssen wir hier allerdings beiseitelassen,10 um uns stattdessen auf drei Gebiete zu konzentrieren, an denen die Exemplarität im öffentlichen Rahmen eine entscheidende und fundamentale Rolle spielt. Der erste findet sich in der Idee des Vernünftigen als eines Standards der öffentlichen Vernunft; der zweite in der Vorstellung von Meilensteingesetzen (landmark statutes) und der dritte in den verschiedenartigen Manifestationen des Vermögens der öffentlichen Exemplarität, neue Dimensionen zu erschließen.

9

10

Für eine Darstellung des orientierten reflektierenden Urteils vgl. Makkreel, Imagination, S.  155–157. Über die Relevanz dieses Begriffs für eine Rekonstruktion des paradigmendefinierenden Begriffs eines sensus communis vgl. Ferrara, The Force, S. 31–34. Für eine Anwendung des orientierten reflektierenden Urteils auf Fragen der Gerechtigkeit vgl. Ferrara, Justice, S. 193–194 und 201. Für einige Reflexionen über diese Themen vgl. Ferrara, The Force, S. 23–34, 50–61 und 80–98.

300 1.

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Die Normativität des Vernünftigen

Die Konzeption einer öffentlichen Vernunft ist einer der wichtigsten Beiträge von John Rawls’ Werk nach A Theory of Justice. In Political Liberalism wird die öffentliche Vernunft gemeinsam mit der Vorstellung einer ‚politischen Gerechtigkeitskonzeption‘ eingeführt, um zu erklären, wie eine gerechte und stabile Gesellschaft langfristig existieren kann, obwohl ihre Bürger hochgradig verschiedene und möglicherweise gegensätzliche Vorstellungen davon haben, was die praktische Vernunft von ihnen verlangt, und wie Ideen wie diejenigen der legitimen Regierung, der politischen Verpflichtung und der Gerechtigkeit über diese Spaltungen hinweg wirken können.11 Um dieses Ziel zu erreichen, wird die öffentliche Vernunft als eine Form des Argumentierens verstanden, die sich mit Angelegenheiten der Grundstruktur der Gesellschaft und ihren wesentlichen Verfassungsinhalten befasst. Sie geht von Prämissen aus, die von allen Teilnehmern akzeptiert werden, im Gegensatz zu Argumentationen, deren Grundlage darin besteht, was innerhalb der Bürgerschaft partikulare Gruppen im Rekurs auf ihr (allgemeines) Verständnis des Guten als ‚die ganze Wahrheit‘ betrachten. Der Maßstab der öffentlichen Vernunft sind weder die Rationalität noch die Prinzipien, welche die praktische Vernunft voraussetzt. Ihr Maßstab ist vielmehr die Vernünftigkeit. Wie sollen wir also die Normativität des Vernünftigen verstehen? Rawls erläutert die Bedeutung des Vernünftigen hauptsächlich unter Bezugnahme auf das, was ‚vernünftige Bürger‘ akzeptieren würden. Es handelt sich dabei um jene Bürger, die willens sind, an einem System der fairen Kooperation teilzunehmen und die Bürden des Urteilens hinzunehmen.12 Für meine Zwecke ist es allerdings sinnvoll, zwischen drei Hinsichten zu unterscheiden, in denen das Prädikat vernünftig auf Argumente im öffentlichen Rahmen angewandt werden kann. Diese drei Hinsichten sind auf einer Skala zunehmender normativer Kraft angeordnet. Im ersten Sinne bedeutet die ‚Vernünftigkeit‘ eines Arguments schlicht, dass es ein Thema aus dem Gebiet der öffentlichen Vernunft betrifft, dass seine Vertreter die ‚Bürden des Urteilens‘ anerkennen und dass es Prämissen beinhaltet, die man vertretbarerweise als von allen Bürgern geteilt ansehen kann. Zu wissen, dass ein Argument in diesem grundlegenden Sinne vernünftig ist, bedeutet für Rawls nicht notwendigerweise, dass das Argument für

11 12

Zur „politischen Konzeption von Gerechtigkeit“ vgl. Rawls, Liberalismus, S.  76–81. Zur öffentlichen Vernunft vgl. ebd., S. 212–254, außerdem: Rawls, Nochmals, S. 165–218. Vgl. Rawls, Liberalismus, S. 120–132.

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irgendjemanden bindend ist – tatsächlich kann das Argument aus logischer oder empirischer Sicht sogar fehlerhaft sein. In einer zweiten Hinsicht bedeutet die ‚Vernünftigkeit‘ eines Arguments, dass es in den Zuständigkeitsbereich der öffentlichen Vernunft fällt und gleichzeitig schlüssig ist. Die Schlussfolgerungen folgen dementsprechend aus den geteilten Prämissen. Wie aber sollen wir diese Relation des ‚Folgens‘ interpretieren? Sollen wir sie als Relation der logischen Implikation verstehen? Oder sollen wir eine schwächere Lesart vorziehen, gemäß der es um eine bloße Widerspruchsfreiheit geht, sodass die öffentliche Vernunft lediglich forderte, dass die neue Schlussfolgerung ‚nicht inkompatibel‘ mit den geteilten Prämissen ist? Rawls hat dieser Frage nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, jedoch wirken beide Interpretationen aus verschiedenen Gründen unplausibel. Sollte die Relation zwischen a) den geteilten Wahrheiten, von denen wir ausgehen, und b) den Schlussfolgerungen, zu denen wir gelangen, im Sinne logischer Implikationen oder auch nur im Sinne der Widerspruchsfreiheit verstanden werden, würde die öffentliche Vernunft ihrer intersubjektiven Natur beraubt: Ihre Schlussfolgerungen entsprächen den logischen Inferenzen, die ein Computer ermitteln könnte, indem er die beiden Listen von Aussagen der geteilten Wahrheiten und der behaupteten Schlussfolgerungen miteinander abgliche. Ein vollständig intersubjektives Verständnis der öffentlichen Vernunft macht anscheinend einen breiteren Blickwinkel auf die ‚Kompatibilität‘ mit geteilten Wahrheiten nötig: Die ‚Kompatibilität‘ muss nämlich so verstanden werden, dass alle Bürger, denen die Ausgangswahrheiten gemeinsam sind, auch willens sind, den Schlussfolgerungen zuzustimmen – wobei solche ‚Willigkeit‘ nicht a priori gewusst werden kann. Zudem kann es in jeder öffentlichen Kontroverse mehrere, konkurrierende Argumente geben, die allesamt vernünftig im ersten oder zweiten Sinne des Begriffes sind. Dies führt mich zur Annahme, dass ein drittes Verständnis des Vernünftigen, gleich einem unsichtbaren Planeten, irgendwie Rawls Gedanken zu dieser Thematik beeinflussen muss. Dieses Verständnis würde ermöglichen das Modell einer öffentlichen Vernunft sinnvoll zu verstehen, die uns hilft, politische Kontroversen zu entscheiden, indem sie eine normative Kraft ausübt. Dieser dritte Sinn des Vernünftigen kann rekonstruiert werden, indem man sich mit der Frage danach befasst, was es für ein Argument bedeutet, vernünftiger als ein anderes zu sein, oder sogar am vernünftigsten. Einen solchen Gedanke deutet Rawls etwa bei der Rechtfertigung seiner politischen Konzeption der Gerechtigkeit „als Fairness“ an. Diese soll nicht in ihrem „Wahrsein bezüglich einer vorgängigen, uns vorgegebenen Ordnung“ gesucht werden, sondern in der Erkenntnis, dass „diese Lehre in Anbetracht unserer Geschichte und der in unser Leben eingebetteten Traditionen die

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vernünftigste für uns ist“.13 Die Frage nach der Bedeutung dieses Ausdrucks – „die vernünftigste Lehre für uns“ – ist meiner Ansicht nach diejenige, die am deutlichsten jene eigentümliche Art von Normativität hervorhebt, die das Vernünftige voraussetzt und die wir noch zu entschlüsseln haben. Der normative Gehalt, den das vernünftigste Argument impliziert, kann als eine besondere Art von praktischer Verpflichtung charakterisiert werden – die Verpflichtung dazu, die überlegene Vernünftigkeit dieses Argumentes anzuerkennen. Unter Voraussetzung unseres gemeinsamen Bekenntnisses zu p zeigt uns das vernünftigste Argument, dass wir nicht anders können, als uns auch zu q zu verpflichten. Es muss nun aufgezeigt werden, was dieser Ausdruck, ‚nicht anders können‘, bedeutet und warum er mit einem Gefühl von Unabweisbarkeit („irrecusability“)14 assoziiert wird. Das Wesen dieser neuen Verpflichtung wird weniger durch die Normativität der Prinzipienanwendung als durch die Normativität des bloßen reflektierenden Urteils herausgestellt. Dies ist ein Urteil im Dienste der Erfüllung einer Identität – eine Art des Urteils, die paradigmatisch in Luthers Bekenntnis „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ zum Ausdruck kommt. Vom vernünftigsten Argument überzeugt zu werden, bedeutet, Luthers Standpunkt einzunehmen, wobei Luthers Einstellung auf die berühmteste Bestätigung der Idee hinausläuft, dass – wie es Christine Korsgaard treffend formuliert hat – „Normativität sich von unserem Selbstverständnis (self-conception) ableitet“,15 letztendlich aber von einer reflektierenden Bestätigung dieses Selbstverständnisses. Im Zuge ihrer Erläuterung dessen, was es bedeutet, dass eine Person aus einem moralischen Grund handelt, betrachtet Korsgaard in The Sources of Normativity die Identität nicht nur als eine empirische Quelle von Selektivität bezüglich der Wünsche erster Ordnung, sondern ebenso als eine normative Quelle. Die Verpflichtungsdimension des ‚ich kann nicht anders‘ bleibt zumindest von einigen Gründen abhängig, die nicht allein eigentümlichmeine sind, sondern in irgendeinem Sinne ‚akteursneutral‘. Diese Neutralität macht die Haltung des ‚ich kann nicht anders‘ letztendlich irreduzibel auf die Beliebigkeit einer hypothetischen Haltung des ‚ich will nicht anders‘. Die Akteursneutralität wiederum wird von Korsgaard vermittels zweier Gradienten von Universalität ausgelegt, die zwei Ebenen der Identität des Handelnden entsprechen: der individualisierten „praktischen Identität“ des einzelnen 13 14 15

Rawls, Konstruktivismus, S.  85. Der Ausdruck „für uns die vernünftigste“ taucht, unter Bezugnahme auf Rawls Gerechtigkeitskonzeption, auch auf in Rawls, Liberalismus, S. 97. Über das Konzept der Unabweisbarkeit und seine Untermauerung einer die Authentizität bewahrenden Normativität, vgl. Ferrara/Michelman, Legitimation, S. 67–72. Korsgaard, Normativity, S. 249.

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Handelnden einerseits und der „moralischen Identität“ andererseits, die einen von allen moralischen Akteuren geteilten Motivationskern konstituiert.16 Die normative Dimension der „praktischen Identität“ besteht darin, dass das Aufgreifen eines bestimmten Handlungsgrundes bedeutet, den Anspruch zu erheben, dass jeder dasselbe tun müsste, wenn er in einer analogen Situation wäre. Kehren wir zur öffentlichen Vernunft zurück, so können wir die Vernünftigkeit des vernünftigsten Arguments als eine Normativität verstehen, die auf dem Wege des reflektierenden Urteils von einer bestimmten Beschreibung ausgeht, in deren Sinne ‚wir uns wertschätzen‘. Das ‚wir‘ steht hier für die politische Gemeinschaft, zu der die konkurrierenden Parteien zugestandenermaßen gehören. Dann stammt die praktische Verpflichtung, unter Voraussetzung einer geteilten Prämisse p auch q zu akzeptieren, nicht aus logischen oder der Situation vorgängigen moralischen Prinzipien, wie es in Modellen der Fall wäre, die auf bestimmenden Urteilen basieren, sondern aus den Forderungen, die die innere Integrität oder Authentizität der politischen Identität, die wir als Bürger mit unseren Gegnern teilen, zugunsten ihres eigenen Gedeihens erhebt. Wenn wir allgemeine Prinzipien wie das Prinzip des gleichen Respekts oder das Diskursprinzip oder jedwedes andere Prinzip als normative Elemente ansprechen wollen, deren Reichweite über unsere eigene, gesonderte Identität hinausgeht, können wir dies sicherlich tun. Entscheidend aber ist, dass die Rolle solcher Prinzipien wiederum als eine Orientierung unseres reflektierenden Urteils in der Einschätzung dessen verstanden werden muss, was die beste Fortführung der von uns geteilten Wahrheiten darstellt. Das tatsächliche normative Gewicht wird dabei, wie auch im ästhetischen Urteil, von unserem Urteil darüber getragen, was sich in die bereits etablierte, singuläre Normativität einer symbolischen Ganzheit einfügen oder nicht einfügen kann, also in den Nomos einer politischen Gemeinschaft.17 Einen Vorläufer dieser exemplarischen, die Einzigartigkeit bejahenden und die Authentizität bewahrenden Normativität des ‚Vernünftigsten‘ stellt Rousseaus Schilderung der Funktion des Gesetzgebers im Gesellschaftsvertrag dar. In Kapitel  8 von Buch II des Gesellschaftsvertrags soll der Gesetzgeber, der die Bürger berät, die neue Gesetze erwägen, nicht auf „an sich gute Gesetze“18 abzielen, sondern auf Gesetze, die zu den Menschen passen, die ihnen letztendlich unterworfen sind. Rousseau gibt bezüglich der verfassungsgebenden Macht der Bürger unmissverständlich zu verstehen, dass sie diese 16 17 18

Vgl. ebd., S. 100–102 und 120–125. Vgl. Cover, The Supreme Court. Rousseau, Gesellschaftsvertrag, S. 36.

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nicht gebrauchen sollen, um (Verfassungs-) Gesetze hervorzubringen, zu deren Achtung sie nicht fähig sein können. Dies bedeutet nicht, dass die Auswahl der Grundstrukturen prinzipienlos ist oder sich rein prudentiellen Erwägungen bzw. den Präferenzen des Verfassungsgebers verdankt. Vielmehr bedeutet es, dass die Bürger eine Balance finden sollen zwischen der optimalen Umsetzung ihrer Prinzipien19 und den historischen Erfahrungen sowie der politischen Kultur oder den politischen Kulturen des zu konstituierenden Volkes. Rawls bietet weitergehend das „Überlegungsgleichgewicht“ als methodologisches Mittel an, um näher zu ergründen, wann eine solche Balance erreicht ist.20 Das Vernünftigste ist also eines der Äquivalente im politischen Raum dessen, was das Exemplarische im Kontext der Ästhetik darstellt. Wir nennen dasjenige ‚am vernünftigsten‘, was im Lichte des bestehenden Kontexts am besten zu den geteilten Wahrheiten passt, die unseren Ausgangspunkt bilden – genau wie wir als exemplarisch dasjenige künstlerische Element, Mittel, diejenige Repräsentation oder Lösung bezeichnen, die im Lichte gewisser kontextueller Einschränkungen am besten zu den ästhetischen Intentionen passt, die dem jeweiligen kreativen Prozess seinen Impuls geben. Zusammenfassend ist die normative Kraft des Vernünftigsten nicht die Kraft der Prinzipien der praktischen Vernunft – was die öffentliche Vernunft gegenüber der praktischen überflüssig machen oder sie auf ein Mundstück der praktischen Vernunft im öffentlichen Rahmen reduzieren würde. Vielmehr ist sie die Kraft der Exemplarität, die auf uns Einfluss ausübt durch das, was wir sind, durch unser Selbstbild. Die reflektierende Zustimmung zu dem, was vernünftig ist, geht nur am Anfang von unserem eingeschränkten Selbstbild aus. Erhellende Beiträge anderer können dieses Selbstbild immer transformieren, indem sie neue, bislang nicht in Erwägung gezogene Alternativen aufzeigen. Diese andere Facette der Exemplarität jedoch soll hier nicht weiter untersucht werden; stattdessen wollen wir uns dem zweiten Bereich zuwenden, in dem die Exemplarität in Politik und Recht wirksam ist: der Rolle von sogenannten „Meilensteingesetzen“, die ich anhand des Beispiels der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten im zwanzigsten Jahrhundert näher betrachten möchte.

19

20

Diese wird für Rousseau vom Ziel des Gesellschaftsvertrags angeleitet, Persönlichkeit und Eigentum jedes Vertragspartners zu schützen und ihm gleichzeitig die Freiheit, die er zuvor genoss, zu lassen; für Rawls wird sie von der Gerechtigkeit als Fairness geleitet. Ebd. Buch I, Kapitel 6, S. 12–14. Vgl. Rawls, Gerechtigkeit, S. 68–70.

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2.

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Die Verfassungsmäßigkeit von Meilensteingesetzen und die Beziehung der Verfassung zum Kontext

Bruce Ackerman hat die Verfassungslehre um ein Werk bereichert, dessen Besonderheit in seiner ausgeklügelten Verwicklung von Theorie und Geschichte besteht. Beginnend mit We the People. Foundations,21 repräsentiert Ackerman ein wegweisendes dualistisches Verständnis der Demokratie. Dieses stellt einen originellen dritten Weg zwischen zwei Demokratiekonzeptionen dar: einer Schumpeter folgenden Sicht der Demokratie als einem Wahlritual zur Ermächtigung neuer Eliten einerseits und dem romantischen Mythos der aktiven Selbstregierung einer Wählerschaft in Millionengröße andererseits. Ackermans Sichtweise – nach der die Volkssouveränität nur auf der Ebene der höheren Gesetzgebung zu ihrem vollen Ausdruck kommt, wohingegen bei der Tätigkeit der geteilten Staatsgewalten der Souverän schweigt – wurde in der Folgezeit noch um eine Rekonstruktion der ‚Verfassungsmomente‘ – Gründung ( founding), Rekonstruktion (reconstruction) und New Deal – in der Geschichte der Vereinigten Staaten erweitert.22 Bei jedem dieser Verfassungsmomente lief eine ‚unkonventionelle Anpassung‘ auf Modifizierungen der Verfassungsordnung hinaus, die jedoch nie einer wirklichen ‚Revolution‘ gleichkamen. Die ‚Unkonventionalität‘ dieser ‚unkonventionellen Anpassung‘ besteht in einem Akt des ‚normativen Bootstrappings‘, der sich am besten im Sinne eines exemplarischen Bildes der Normativität, im Gegensatz zu einem prinzipienbasierten, rechtfertigen lässt.23 Im neuen Kapitel, dass der soeben geschilderten Verfassungsgeschichte durch The Civil Rights Revolution24 hinzugefügt wurde, stellt sich die scheinbare Ausnahme des New Deals, eines Verfassungsmoments ohne Zusatzartikel, als ein stabileres Muster heraus, das für das gesamte 20. Jahrhundert typisch war und voraussichtlich auch weit in das 21. Jahrhundert hinein bestimmend sein wird. Die Verfassungspolitik nimmt nicht mehr die kanonische Form des fünften Artikels der US-Verfassung an: Die lebendige Verfassung oder 21 22 23

24

Ackerman, Foundations. Ackerman, Transformations. In jüngerer Zeit ist Ackerman dazu übergegangen, die Originalität der Verfassungserfahrung der vereinigten Staaten im Lichte einer großflächigen, vergleichenden Rekonstruktion von „unkonventionellen Anpassungen“ verschiedener regimewechselnder Prozesse der Verfassungsgebung in Italien, Frankreich, Indien, Südafrika, Polen, Israel und dem Iran neu einzuschätzen. Vgl. Ackerman, Revolutionary constitutions, S.  361–403. Für eine breite Auswahl an Kommentaren und Ackermans Antwort, vgl. Albert, Revolutionary Constitutionalism. Ackerman, Civil Rights Revolution.

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la constitution materielle hat zur Obsoleszenz eines wichtigen Aspekts der formalen Verfassung geführt. Das neue Muster könnte mit Stille oder Trägheit in Verfassungsfragen verwechselt werden, was Ackerman zufolge aber eine falsche Schlussfolgerung wäre. Es sind schlicht und ergreifend der präsidentielle Aktivismus (der Präsident ist kein Beteiligter des Verfassungsänderungsprozesses, wie er in Artikel  5 bestimmt ist) und der ausgedehnte Zeitraum, den die Verabschiedung eines formellen Zusatzartikels einnimmt, die die relevanten politischen Akteure dazu geführt haben, andere Mittel zur Verwirklichung von Veränderungen verfassungsmäßiger Bedeutung zu wählen. Ackemans These ist, dass wir die rights revolution der Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts übersähen, wenn wir nur die formal beschlossenen Zusatzartikel betrachten würden. Was sollten wir uns stattdessen ansehen? Ackerman meint, dass ein Verfassungswandel über die formelle Abänderung der Verfassung hinaus auch von parteienübergreifend befürworteten „Meilensteingesetzen“ sowie durch exemplarische Fälle, die vom Supreme Court entschieden werden, bewirkt werden kann. Zu jenen Meilensteingesetzen gehören unter anderem: der Civil Rights Act von 196425; der Voting Rights Act von 196526; der Fair Housing Act von 196827. Unter den exemplarischen Supreme CourtFällen sind Brown v. Board of Education (1954), der die Rassentrennung im Schulsystem aufhob, und Loving v. Virginia (1967), der jegliche Gesetzgebung niederriss, die die gemischtrassige Ehe verbot. Sobald wir die Vorstellung akzeptieren, dass die Verfassungsgesetzgebung des 20. Jahrhunderts nicht mehr dem formalen Weg nach Artikel  5 der USVerfassung folgt, betrifft eine der Fragen, die sich nach Ackermans Interpretation aufdrängen, das Wesen von Meilensteingesetzen. Was genau macht ein Gesetz zu einem Meilensteingesetz? Was ist diese Verfassungsmäßigkeit? Es scheint keine eindeutige prozedurale oder subsumierende Antwort gegeben werden zu können, sondern nur eine interpretierende Antwort, die sich auf die Exemplarität stützt. Ein Meilensteingesetz ist ein solches, das 25

26 27

Dieses Gesetz dehnte die von der Brown v. Board of Education-Entscheidung initiierte Neuinterpretation der Equal Protection Clause des vierzehnten Zusatzartikels auf öffentliche Beherbergung in Hotels, Verpflegung in Restaurants sowie ArbeitgeberArbeitnehmer-Verhältnisse aus und verbot die Diskriminierung auf Basis von „Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft“. Dieses Gesetz richtete sich gegen Diskriminierung durch Kopfsteuern und andere Barrieren gegen die Teilnahme der afroamerikanischen Bevölkerung an Wahlen. Dieses Gesetz machte es illegal, bei Verkauf oder Vermietung von Wohnraum auf Basis der Rasse zu diskriminieren (indem man die Käuflichkeit einschränkt oder bedrückende Auflagen macht), und dehnte auf diese Weise die Reichweite der Equal Protection Clause auch auf Marktbeziehungen zwischen Privatbürgern und die Nutzung von Privateigentum aus.

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direkt die Grundrechte und die Freiheit und Gleichheit von Bürgern betrifft, jene Rechte, die aus einer Verfassung diese bestimmte Verfassung machen. In diesem Sinne können auch formale Verfassungsänderungen der Grundsätzlichkeit ermangeln: Ein Kandidat für solchen Mangel ist der 18. Zusatzartikel, der 1919 die Prohibition einführte und vierzehn Jahre später, 1933, wieder aufgehoben wurde. Für die Erörterung der Exemplarität im öffentlichen Rahmen ist folgende Beobachtung von erheblicher Bedeutung: Wenn ein gewöhnliches Gesetz wegen seiner Grundsätzlichkeit von verfassungsmäßiger Relevanz sein kann und es einer formalen Verfassungsänderung nicht möglich ist, den Kriterien für Verfassungsmäßigkeit zu entsprechen (und es verdient, als eine Regulierung von Sachbereichen angesehen zu werden, die dem gewöhnlichen Gesetz angemessener wären), dann scheinen ‚Verfassungsmäßigkeit‘ oder ‚verfassungsmäßige Relevanz‘ kaum einer prozeduralen Definition oder einer strengen Subsumtion unter allgemeine Konzepte zugänglich zu sein und eher eine Angelegenheit der Interpretation darzustellen. Bei einer Interpretation wiederum geht es darum, einem Narrativ zu entsprechen. Ein Verfassungsnarrativ hat einige fixe Referenzpunkte – in diesem Fall die Bedeutung von ‚gleichem Schutz durch das Gesetz‘ – aber diese Bedeutung kann so weit schwanken wie die Distanz von Plessy, als 1896 die Gleichheitsklausel des 14. Zusatzartikels so interpretiert wurde, dass sie Rassenpolitik im Sinne des Grundsatzes separate but equal erlaubte, bis zur Zerschlagung der Segregation mit Brown 1954. Verfassungsmäßigkeit scheint weiterhin Überparteilichkeit vorauszusetzen, eine Konvergenz oder einen ‚übergreifenden Konsens‘: Ein Statut wird grundsätzlich, wenn seine Verabschiedung, die zunächst von manchen als Realisierung der Versprechung der Verfassung begrüßt und von anderen als Verrat an dieser Versprechung verabscheut wird, schließlich sowohl von Unterstützern als auch von ehemaligen Gegnern in irgendeinem Sinne als Schritt vorwärts in Bezug auf ein bestimmtes vorhergehendes Verfassungsdilemma anerkannt wird.28 Diese Konvergenz kann nicht im Sinne eines bloßen Aggregats von Vorlieben angesehen werden, wie etwa bei Haushaltsbewilligungsgesetzen (budget-appropriation laws). Auch kann sie nicht als eine logische Implikation des Verfassungstextes im strikten Sinne verstanden werden. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes kann nur als eine exemplarische Entwicklung eines bestimmten Kerns der Verfassung qua Projekt begriffen werden. Sie kann nicht anders aufgefasst werden als eine kreative, im Gegensatz zu einer stumpfen oder einfallslosen Art, die Szene eines Dramas auf die Bühne zu bringen, die 28

Ackerman, Civil Rights Revolution, S. 46.

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Handlung eines Romans zu entwickeln, ein bestimmtes Quartett zu spielen. Indem ein Meilensteingesetz eine situierte Entwicklung der Verfassung darstellt, bringt es jenen Kern der Verfassung mit einem veränderten Kontext in Kontakt, und bereichert die lebendige Verfassung. In der Tat muss eine Verfassung zu Zeit und Kontext in Beziehung gesetzt werden. Die Schwierigkeit liegt darin, dass man eine Balance zwischen zwei gleichermaßen unhaltbaren Extremen finden muss. Einerseits würde vollständige Fixiertheit die Verfassung dazu verdammen, eine Tyrannei der Vergangenheit über die Gegenwart auszuüben, der Toten über die Lebenden, der Ansichten des 18. Jahrhunderts bezüglich der Menschenwürde oder dessen, was ‚grausame oder ungewöhnliche Strafen‘ ausmacht, über unsere Ansichten, die von zweihundert Jahren weiterer Geschichte geprägt wurden. Andererseits liefe die vollständige Anpassung der Verfassung an die dominanten Ansichten einer bestimmten Zeit darauf hinaus, keine Verfassung zu haben, sondern lediglich eine reine Reflexion des Willens der jeweiligen Mehrheit. Die Idee ist, dass der Supreme Court, während er die Vorurteile der Vergangenheit auftaut, sich der Festschreibung der derzeitigen Vorurteile enthalten und einen Raum der Offenheit für einen ‚vernünftigen Pluralismus‘ der zeitgenössischen Ansichten bewahren soll. Ackermans Buch zeichnet nach, wie der Supreme Court diesen schwierigen Balanceakt von Brown bis Loving vollzogen hat, und wie die drei Gesetze zwischen diesen Entscheidungen erfolgreich eine neue Substanz in den Grundsatz des ‚gleichen Schutzes‘ durch das Gesetz eingeschrieben haben. Die Faktizität des Kontexts allerdings betritt, dessen ungeachtet, an irgendeinem Punkt die Bühne. Dreizehn Jahre trennen Brown (1954) von Loving (1967). Diese Jahre sind eine Grauzone, in der der gleiche Schutz zu einem bestimmten Zeitpunkt bedeutete, dass ein afroamerikanischer Bürger ein gleiches Recht auf Schulbesuch, Wahlteilnahme, Bedienung in Restaurants und Unterbringung in Hotels hatte, darauf, mit jedem anderen in öffentlichen Verkehrsmitteln zusammenzusitzen, ein Haus zu mieten oder zu kaufen, aber nicht, eine weiße Person zu heiraten. In dieser Grauzone kreuzte sich das Recht mit der Politik. Demnach spielt die Kontingenz nicht nur innerhalb der Pluralität legitimer Interpretationen bezüglich dessen, was den Anforderungen der Kohärenz genügt, eine Rolle, sondern auch in demjenigen Urteil, das uns zur Auswahl einer Frage führt, um ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Zum Beispiel wird über Attorney General John Mitchell berichtet, dass er die Verlängerung des Voting Rights Acts 1970 mit dem Slogan „Das Wahlrecht ist keine regionale Angelegenheit“29 unterstützt habe, also dass es nicht 29

Zitiert nach Ackerman, Civil Rights Revolution, S. 166.

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der Entscheidung lokaler Mehrheiten überlassen werden dürfe. Die nationale Einheitlichkeit war durch den verfassungsrechtlichen Status der Angelegenheit geboten, so wie die nationale Einheitlichkeit von Präsident Lincoln beim Verbot der Sklaverei ein Jahrhundert zuvor als nicht verhandelbar angesehen wurde. Jedoch kann man sich fragen, warum die Todesstrafe im Gegensatz zu Sklaverei und Wahlrecht bis zur heutigen Zeit als eine Angelegenheit verstanden wird, in der regionale Variationen zulässig sind, abgesehen von der Frage nach dem Wert der Institution ‚Todesstrafe‘ selbst. Die politischphilosophische Pointe ist, dass vor der Feststellung, ob etwas – Sklaverei, Abtreibung, die Todesstrafe, gemischtrassische Ehe, Euthanasie, gleichgeschlechtliche Ehe – Verfassungsprinzipien aktualisiert oder verletzt, das Urteil von Kontingenz beeinflusst wird, ob lokalmehrheitliche Variation, mit anderen Worten vernünftige Meinungsverschiedenheit, statthaft ist oder ob, um erneut die Worte von Attorney General Mitchell zu verwenden, die betreffende Angelegenheit „keine regionale Angelegenheit“ ist. Wie sollen wir uns des unliebsamen Schmittschen Geists erwehren, der uns ins Ohr flüstert, dass „Souverän ist, wer darüber entscheidet, was eine regionale oder nicht-regionale Angelegenheit ist“?30 Es scheinen mir zwei unterschiedliche Wege möglich, auf diese Problematik einzugehen und so eine Balance von Verfassung und Kontext zu finden. In rechtspositivistischer Lesart erklärt nichts anderes als die faktische Durchsetzung der einen oder der anderen Wahrnehmung dessen, „was keine regionale Angelegenheit ist“, warum Loving nach Brown noch dreizehn Jahre zu warten hatte, und warum die Todesstrafe bis zum heutigen Tage eine „regionale Angelegenheit“ ist. In normativer Lesart können wir stattdessen ein Gefühl dafür entwickeln, welche Angelegenheiten eine Neubetrachtung der derzeitigen Interpretation der Verfassung veranlassen sollten, auch wenn der politische Weg zu solcher Neubetrachtung sich als ungangbar steil erweisen sollte. Das ‚Sollen‘ kann natürlich sehr unterschiedlich interpretiert werden. Unter seinen verschiedenen möglichen Bedeutungen ist die exemplarische Version die überzeugendste: Die Aufeinanderfolge von ‚Verfassungsmomenten‘ formt ein einzigartiges Narrativ über die ‚Transformationen‘, die ‚We the People‘ durchgemacht haben. Wir streiten über die ästhetische Qualität literarischer Narrative, weil wir das Gefühl haben, es gäbe bessere und schlechtere Arten, bestimmte ursprüngliche Bedeutungskonfigurationen weiterzuentwickeln. Eine ähnliche Intuition liegt auch unserer Wahrnehmung zugrunde, dass 30

Frank I. Michelman hat diese Schmittsche Sichtweise geistreich in liberal-demokratischer Zielrichtung reformuliert als „Souverän sind diejenigen, in denen die höhere Rechtsprechung ruht“, in Ferrara/Michelman, Legitimation, S. 30.

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ein bestimmtes menschliches Leben, relativ zu den Bindungen seines Kontexts, besser gelebt wurde als andere. Die Autorität der Verfassung über die historische Zeit hinweg kann auf nicht allzu unähnliche Weise verstanden werden. Sie beruht auf dem Vermögen zeitgenössischer Interpreten, die Lücke zwischen Prinzip und Kontext zu überbrücken, ohne eines von beiden zu opfern, und das politische Leben des kollektiven Subjekts zu bereichern (im Gegensatz zum Verarmen-Lassen oder Stagnieren), dessen Souveränität in der ‚lebendigen Verfassung‘ reflektiert ist. In dieser exemplarisch-normativen Sichtweise sind Fehler möglich. So können Normen zur Verfassungsangelegenheit gemacht werden, die am besten ‚regional‘ lokalen Mehrheiten zur Entscheidung überlassen werden sollten (etwa die Prohibition), oder ‚nichtregionale Angelegenheiten‘ nicht als solche anerkannt werden (etwa die Todesstrafe) – aber Theoretiker, die über die Verfassungsgeschichte reflektieren, haben so eine Richtschnur (oder einen Leitpfad), obgleich sicherlich kein Kriterium für eine Subsumtion, um die Verlaufsrichtung und das letztendliche Ergebnis von Verfassungsmomenten zu kritisieren. 3.

Vier Arten der Exemplarität im öffentlichen Raum

Zuletzt sollten wir festhalten, dass wir, wenn wir uns mit der Exemplarität befassen, uns immer der unterschiedlichen Formen bewusst sein müssen, die sie in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens annehmen kann. So hat die Exemplarität im künstlerischen Bereich für Wiederholung weit weniger Raum als die Exemplarität im öffentlichen Rahmen. Exemplarität im Reich der Moral übt eine intrinsische Anziehung auf jede Person aus, die mit ihr in Kontakt kommt – sie drängt mich, in gleicher Weise zu handeln, oder mich zu rechtfertigen, zunächst schon vor mir selbst, warum ich nicht wie ein Held, ein guter Bürger oder ein mutiger Mitmensch handeln sollte. Ein solcher Appell ist nahezu abwesend, wenn wir uns etwa Formen der Exemplarität zuwenden, die mit Exzellenz in physischer Aktivität zu tun haben: Ich kann die außergewöhnliche Exemplarität eines kreativen Kunstspringers oder jedes anderen Athleten bewundern, ohne mich auch nur im geringsten Maße aufgerufen zu fühlen, seiner Leistung nachzueifern. Im Bereich religiöser Erfahrung wird die Exemplarität Heiligkeit genannt, ruft ‚Hingebung‘ hervor und ist in der katholischen Kirche an einen verrechtlichten Prozess der ‚Kanonisierung‘ gebunden, der – anders als im künstlerischen Bereich – die Einzigartigkeit des exemplarischen Lebens eines jeden Heiligen mit einem bindenden Urteil für

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alle Gläubigen verknüpft. Was also sind die auszeichnenden Merkmale der Exemplarität im Bereich von Politik und Recht? Allgemein betrachtet ist die politische und rechtliche Exemplarität jene Form, die am wenigsten an Wiederholung leidet. Man denke z. B. an die lebhaften Emotionen, die der Arabische Frühling vor zehn Jahren erregt hat: das Gefühl der Öffnung des politischen Lebens einer ganzen Region, die zuvor von semi-diktatorischen Herrschern oder Wahloligarchien regiert wurden – einige säkular, einige militant religiös. Dabei kann man bemerken, wie der n-te Demokratisierungsprozess, der in kontextuell einzigartigen Formen die n-te Instanziierung der „Regierung der Regierten“ im Sinne Lincolns verspricht, nicht weniger fähig ist, die Reaktion hervorzurufen, die typischerweise mit der Exemplarität verbunden wird – nämlich das kantische Gefühl einer „Beförderung“, in unserem Fall des politischen Lebens für alle.31 Das gleiche geschah beim Fall der Berliner Mauer, dem Sturz des Apartheidregimes in Südafrika oder dem Ende der lateinamerikanischen Diktaturen der 1970er und 80er Jahre. Nach dieser Anmerkung können vier Unterarten der Exemplarität unterschieden werden, die im öffentlichen Rahmen angetroffen werden. In Ermangelung eines besseren Begriffes kann die erste Art der Exemplarität die Exemplarität der Tat oder der Einzelhandlung genannt werden. Als Luther am 10. Dezember des Jahres 1520 öffentlich die Bulle Exsurge Domine von Papst Leo  X. verbrannte, was seine Exkommunikation aufgrund seiner theologischen Fehltritte zur Folge hatte, war dies eine noch nie dagewesene Handlung, die eine ganz neue Perspektive auf das Christsein eröffnete und sich von einer Tradition ehrerbietigen Gehorsams der päpstlichen Autorität gegenüber lossagte. Anders verhielt es sich, als Thomas Morus, der sich der Aussicht auf einen Verratsprozess mit anschließender Hinrichtung bewusst war, sich weigerte, den von Heinrich VIII. geforderten Eid zu schwören, der ihn zur Gefolgschaft in der Zurückweisung des Katholizismus durch den König und zur Anerkennung seiner Ehe mit Ann Boleyn verpflichtet hätte. Morus’ Handlungsweise eröffnete keine neuen Dimensionen des öffentlichen Lebens, bot jedoch eine glänzende und heroische Iteration moralischer Integrität: Die Tatsache, dass eine solche Handlung ein Fall von öffentlicher Integrität ist, mindert nicht ihre Fähigkeit, uns zur Frage zu veranlassen, ob wir selbst bereit sind, für unsere Integrität einzustehen. Um ein Ereignis aus der jüngeren Geschichte zu nennen, als sich in Montgomery Rosa Parks am ersten Dezember 1955 weigerte, ihren Sitzplatz in einem Bus einem weißen 31

Vgl. oben, Fußnote 3.

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Passagier zu überlassen, wobei sie sich der Möglichkeit von Verhaftung und Anklage aussetzte, machte dieser eine exemplarische Akt des Widerstands eine ganze Dimension von Ungerechtigkeit sichtbar, die eine Dekade später zur Verabschiedung des Civil Rights Acts beitragen sollte. In einem zweiten Sinne kann Exemplarität mehr eine Eigenschaft der Persönlichkeit eines Akteurs als die einer einzelnen Handlung sein. Der anhaltende politische Aktivismus Martin Luther Kings und insbesondere seine berühmte „I have a dream“-Rede liefern ein Beispiel der Exemplarität in diesem Sinne: Wir nehmen hier die Exemplarität einer Führerpersönlichkeit wahr, die fähig ist, den Kampf für die Bürgerrechte der Afroamerikaner auf gewaltlose Weise auszutragen. Ähnlich wirkt auf uns die Exemplarität der politischen Persönlichkeiten Mahatma Gandhis und Nelson Mandelas in ihrem jeweiligen indischen und südafrikanischen Kontext. Auch in diesen Fällen besteht die Exemplarität in einer bestimmten Art und Weise, eine langwierige Schlacht gegen überwältigende Kräfte zu führen. Man bemerke hier die Abwesenheit von Transitivität. Akteure, deren Persönlichkeit keineswegs exemplarisch ist, sind in der Lage, exemplarische Handlungen zu vollziehen – die Lebensgeschichten vieler Heiliger zeigen diese Charakteristik, und in der Politik handeln viele gewaltlos Demonstrierende exemplarisch, ohne dass ihre Persönlichkeit Exemplarität in irgendeinem Sinne hätte. Umgekehrt können Akteure, deren Persönlichkeit als exemplarisch anerkannt wird, es an exemplarischen Handlungen fehlen lassen. Die Exemplarität der Persönlichkeit wird in der Politik Charisma genannt, und es ist beinahe überflüssig, an Webers berühmte Definition des Charismas als Glaube an die ‚Außeralltäglichkeit‘ einer Person zu erinnern, wobei die ‚Außeralltäglichkeit‘ mit der Exemplarität die Eigenschaften teilt, über das Maß des Gewöhnlichen hinauszugehen, so noch nie dagewesen oder zumindest der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden zu sein oder wenigstens, dies aber auf jeden Fall, selten zu sein. Es könnte so scheinen, als könne eine Führerpersönlichkeit kein Charisma innehaben, wenn sie nicht klar belegt hat, außergewöhnliche Handlungen vollziehen zu können; aber manchmal beruht das Charisma – insbesondere in seiner psychologischen Erscheinungsform, wie es bei Richard Sennett beschrieben wird32 – eher auf der Wahrnehmung eines zukünftigen Potentials als auf vergangenen Leistungen. So können wir charismatische Führer beobachten (etwa Silvio Berlusconi oder Matteo Renzi), die recht gewöhnliche und wenig aufregende Handlungen vollziehen – eine Beobachtung, die sich mir als Zeuge der italienischen Politik in den letzten zwanzig Jahren als recht naheliegend aufdrängt, in denen ein Wiederaufleben charismatischer Führungspersönlichkeiten zu verzeichnen ist, die aber nicht 32

Vgl. Sennett, Public Man, S. 4.

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in dem Maße exemplarische Handlungen hervorgebracht haben, das man vielleicht erwarten würde. In einem dritten Sinne kann Exemplarität als Qualität abstrakter Entitäten auftreten, wie etwa rechtlicher Begriffe oder in den oben angesprochenen Fällen von Meilensteingesetzen wie dem Civil Rights Act oder dem Fair Housing Act. Diese Form von Exemplarität auf dem Gebiet des Rechts lässt sich in Gestalt des „Rechts auf Privatsphäre“ beobachten. Die ursprüngliche Formulierung eines „Rechts auf Privatsphäre“ als verschieden vom Recht auf Integrität des Rufs oder dem Recht auf Eigentum fand 1890 statt, als die Richter Warren und Brandeis für den Schutz des allgemeinen Rechts, ‚alleingelassen zu werden‘, oder auf ‚Privatsphäre‘ seitens des Staats mit der Begründung eintraten, dass jeder ein Recht auf den Schutz der Bedingungen der Unversehrtheit seiner Persönlichkeit habe. Erst in der Zeit zwischen 1940 und 1960 jedoch, nach mehr als vier Jahrzehnten einer erhitzten rechtlichen Debatte, erlangte das Prinzip des Rechts auf Privatsphäre nach und nach verbreitete Akzeptanz, und zwar nicht nur auf Basis eines normativen Verständnisses der Idee der Integrität der Persönlichkeit – wie es Warren und Brandeis bereits angeregt hatten –, sondern auch auf der Grundlage eines grundsätzlicheren Rechts auf den Schutz jener intimer Beziehungen, die das soziale „Netzwerk von Zugehörigkeiten“ konstituieren, innerhalb dessen es uns allein vorstellbar ist, die Kohärenz unserer Identität zu wahren, sowie auf der Grundlage eines Rechtes darauf, „seine jeweilige Einzigartigkeit zu entwickeln“.33 Die Bejahung dieser wegweisenden Idee, die inzwischen in der im Vertrag von Lissabon enthaltenen Charta der Grundrechte der Europäischen Union quasi in die Verfassung aufgenommen wurde34, erfolgte wohl nicht, weil sie sich aus vorher existierenden Rechtsbegriffen herleitete. Dies wäre eine Diskontinuität, die dem Konzept des ‚Privatlebens‘ seinen rechtlichen Stellenwert nimmt. Stattdessen geht jene Idee auf ihre beispielhafte Fähigkeit zurück, eine neue Dimension der Bedeutung des Schutzes der Würde der Person zu erschließen und das Recht dazu zu führen, erstmals Überlegungen über das eigene Selbstverständnis in seinen Geltungsbereich aufzunehmen. In einem vierten Sinne können wir die Kraft der Exemplarität schließlich als verknüpft mit einer ganzen Verfassungsordnung auffassen, verstanden als eine lebendige Verfassung. Man muss sich nur für einen Moment daran erinnern, wie die erste Wahl Präsident Obamas 2008 alle europäischen Zuschauer sofort in die gleiche Lage versetzte wie die angedachten Leser von Tocquevilles 33 34

Vgl. Warren/Brandeis, The Right to Privacy; Fried, Privacy; Gernstein, Intimacy and Privacy, S. 265–271, sowie Bloustein, Privacy, S. 188. Vgl. Europäische Union, Charta.

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Über die Demokratie in Amerika. Wie unsere Vorgänger erregte es unsere Bewunderung, dass es dort irgendwie möglich war, das Gleichheitsprinzip in einer so exemplarisch vollständigen Weise zu implementieren, wie sie hier, diesseits des Atlantiks, über ein Jahrzehnt später noch eine bloße politische Utopie bleibt. Der exemplarische Wesenszug, der unsere Vorstellungskraft ergreift und uns inspiriert, ist nicht so sehr ein neuartiges Prinzip – wir wissen genau, welches Prinzip durch die Wahl Präsident Obamas verwirklicht wurde. Exemplarisch ist vielmehr die außergewöhnliche Geschwindigkeit, mit der sich eine Verfassungsordnung als fähig erwiesen hat, die Rassengleichheit aus einem umkämpften Terrain in eine Realität zu überführen, die sich in der höchsten Exekutivinstitution durchsetzte. Denn noch in den 1950er und 60er Jahren lehnten große Teile der Wählerschaft die Aufhebung der Rassentrennung, gleiches Wahlrecht, gleiche Behandlung bei der Vergabe von Wohnraum und gemischtrassige Ehen ab, und griffen in Little Rock 1957 weiße Eltern, unterstützt durch die Gleichgültigkeit mitschuldiger lokaler Autoritäten, afroamerikanische Kinder an, die versuchten, vom Recht auf desegregierte Schulen Gebrauch zu machen, das drei Jahre zuvor mit Brown gewährt worden war. Wenn man solch einen historischen Gesamthintergrund berücksichtigt, ragt die Exemplarität des Verfassungssystems und des politischen Prozesses der Vereinigten Staaten unvergleichlich über jegliche anderen politischen Prozesse hinaus, außer vielleicht die Präsidentschaft Mandelas in Südafrika, obwohl uns der Name George Floyd an die Fragilität und Unsicherheit dieser Errungenschaft gemahnt. Die Idee einer Verfassungsordnung führt uns schließlich zur Beziehung der Verfassung selbst zur Exemplarität. Eine Verfassung ist eine Matrix, die die Einheit, nicht die Einheitlichkeit, der normativen Ordnung gewährleistet, die dem Leben einer politischen Gemeinschaft zugrunde liegt.35 Sie stellt außerdem eine symbolische Sammlung der höchsten ‚politischen Werte‘ dar, die das gemeinsame Leben der Bürger orientieren und es vom demokratischen Leben anderer politischer Gemeinschaften unterscheidbar machen. In diesem Sinne argumentiert Dieter Grimm, dass „eine Verfassung Erwartungen unterliegt, die sich weit über ihre normativ-regulierende Funktion hinaus erstrecken“, dass die Bürger von ihr erwarten, „die Gesellschaft zu vereinigen, die sie als ein Gemeinwesen konstituiert hat“ und „den grundsätzlichen Konsens“ zu gewährleisten, „der für den gesellschaftlichen Zusammenhalt vonnöten ist“.36 Wenn Grimm die integrative Funktion von der normativen Funktion einer 35 36

Vgl. Grimm, Integration by constitution, S.  143–157. Vgl. außerdem Balkin, Living Originalism, S. 69–70. Grimm, Constitutionalism, S. 144.

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Verfassung unterscheidet, dann verknüpft er eine Dimension von Authentizität und Exemplarität mit der Verfassung. Dabei hinterfragt er die Annahme, dass die integrative Funktion schon durch die bloß anhaltende Existenz und legale Verbindlichkeit einer Verfassung erfüllt werden könnte, indem er die gegensätzlichen Fälle der Weimarer Verfassung und derjenigen der Vereinigten Staaten kontrastiert.37 Ein Gesetz kann seine Einhaltung bewirken, aber nicht eine Identifikation mit ihm hervorbringen: „Eine Norm, die von einer Verfassung verlangte, einen integrativen Effekt zu haben, wäre eine Norm ohne regulativen Wert“38 so wie ein Gesetz, das von Ehepartnern die gegenseitige Liebe einforderte. Verfassungen, die eine von anerkannter Exemplarität getrennte normative Funktion ausüben, sind letztendlich schwache Verfas­ sungen, die dem Risiko ausgesetzt sind, von kontingenten historischen Umständen hinweggeschwemmt zu werden. Natürlich werden diese vier distinkten Formen der Exemplarität im Gebiet der Politik und des Rechtes rein analytisch unterschieden. Doch können wir konkret beobachten, wie die Exemplarität diese Grenzen überschreitet und wie laufend rechtliche und politische Durchbrüche von charismatischen Persönlichkeiten innerhalb von Verfassungsordnungen vorgenommen werden, die selbst als exemplarisch betrachtet werden. Zusammenfassend kann die transformative Wirkung der Einbeziehung von Exemplarität in unser Verständnis von politischer und rechtlicher Normativität nicht überschätzt werden. Seit der Antike hat die normativ motivierte westliche politische Philosophie die beste Form der Regierung, die Gerechtigkeit von Normen oder die Angemessenheit von Verhaltensweisen oder Einzelhandlungen als Instanziierungen von vorgängigen ‚Rechtsgrundsätzen‘ verstanden. Erst nachdem letztbegründende Modelle von Normativität in der Folge der linguistischen Wende ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten, haben diejenigen, die skeptisch geworden sind, begonnen, die ‚ästhetische Analogie‘ ernst zu nehmen. Sie verstanden nämlich, dass die Fähigkeit optimaler Regierungsformen, gerechter Normen und richtiger Handlungen, andere zu inspirieren, die sich außerhalb ihrer Kontexte befinden, an die Exemplarität von einzigartigen historischen Erfahrungen gebunden ist. Das steht in Analogie zur Wertschätzung der Fähigkeit innovativer Kunstwerke, die dank ihrer internen und außergewöhnlichen Selbstkongruenz über ihren ursprünglichen Kontext hinaus etwas mitteilen. Natürlich ist die ‚ästhetische Analogie‘ nur ein Ausgangspunkt: Die Arbeit, die Funktionsweise der Exemplarität im

37 38

Vgl. ebd., S. 145. Ebd., S. 145–146.

316

Alessandro Ferrara

politischen und rechtlichen Bereich im Einzelnen zu beschreiben, liegt noch weitgehend vor uns.

Literatur

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Exemplarität in Politik und Recht

317

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Das Exemplarische und die öffentliche Meinung Christian Bermes

I.

Das von Husserl angestoßene phänomenologische Projekt einer Rehabilitie­ rung der Doxa bedeutet letztlich nichts anderes als eine Wiederbesinnung auf das Exemplarische. Die Lebenswelt lässt sich als dasjenige Ordnen und die­ jenige Ordnung beschreiben, in der das Exemplarische nicht nur seinen Platz hat, sondern in der das Exemplarische als Sinnressource ebenso in Funktion ist. An anderer Stelle bin ich dieser Überlegung im Rahmen einer Philosophie der Doxa detailliert nachgegangen und habe sie mit einigen Konfusionen in aktuellen Debatten, in denen allzu leichtfertig mit dem Konzept der Meinung umgegangen wird, in Beziehung gesetzt.1 Leitend war dabei die explizierende Neuformulierung der Husserlschen Intentionalität im Ausgang vom Exemplarischen als In-Szene-setzen unter den Bedingungen einer teilnehmenden Erprobung von Aspektivität. Die folgenden Überlegungen bauen auf diesem Gedankengang auf und greifen darauf zurück. Auch populäre Zeitdiagnosen, nach denen beispielsweise das Allgemeine aus dem Blick geraten sei und nur noch das Singuläre in der gesellschaft­ lichen Verständigung eine Rolle spiele,2 können erst dann überzeugen, wenn die Funktion des Exemplarischen in seiner nicht reduzierbaren und eigen­ ständigen Rolle einer besonderen Allgemeinheit resp. allgemeinen Besonder­ heit in den Blick gerät. Dies trifft auch auf die Rolle und die Funktion der öffentlichen Meinung zu. Was auch immer man unter einer öffentlichen Meinung verstehen will, sie ist als Meinung durch ihren Charakter des Exemplarischen ausgezeichnet und ihr Geltungscharakter lässt sich im Sinne einer ‚exemplarischen Gültigkeit‘ explizieren – ein Topos, den Kant in der Kritik der Urteilskraft nutzt und der von Arendt für die Politische Philosophie neu ausgelegt wurde. Im Folgenden steht somit das Exemplarische öffentlicher Meinungen und die exemplarische Gültigkeit als Geltungsform öffentlicher Meinungen im Fokus. Im Hintergrund steht die Überzeugung, dass sich die Frage nach der Doxa nur vermittels einer philosophischen Explikation des Exemplarischen klären lässt, und die These, dass das Verständnis von öffentlicher Meinung 1 Bermes, Meinungskrise und Meinungsbildung, Kap III und IV. 2 Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten.

© Brill mentis, 2022 | doi:10.30965/9783969752388_017

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Christian Bermes

an das Verständnis der Doxa und somit des Exemplarischen gekoppelt bleibt. Das gegenwärtige Unbehagen gegenüber Meinungen, die entweder rasch verteufelt werden oder denen blind nachgelaufen wird, kann demnach auch anders verstanden werden, nämlich als ein Ausweichen vor der Bedeutung des Exemplarischen. Freilich ist das diskursive Terrain um den Status und die Funktion öffent­ licher Meinungen komplex, man könnte auch sagen, verworren und höchst kommentarbedürftig.3 Mit dem Konzept verbinden sich u. a. die Vorstellung von mehr oder weniger festen bzw. flüssigen Überzeugungen, die eine Gesell­ schaft und deren Zusammenhalt konstituieren, die Idee von mehr oder weniger rational begründeten Interessen, die sich in der Öffentlichkeit in einem dis­ kursiven Prozess herausbilden und in das politische System Eingang finden, oder auch – und keineswegs zuletzt – die Ergebnisse der Demoskopie als einer Meinungsmodellierung nach statistischen Methoden. Die Grenzen zwischen diesen Optionen sind keineswegs immer klar, erst recht nicht, wenn in der Öffentlichkeit die öffentliche Meinung zum Thema wird.

II.

An der Karriere der Demoskopie im 20. Jahrhundert gibt es keinen Zweifel,4 auch nicht an ihrer Kritik. Die „planmäßige Erforschung politischer Meinungen auf der Grundlage repräsentativer Umfragen“ ist keineswegs mehr „ein Novum“, wie Hennis noch 1957 feststellen konnte, um kritisch mit diesem Befund ins Gericht zu gehen.5 „Aus 40% Ja’s, 35% Nein’s und einem Rest ‚Ich weiß nicht‘ besteht keine öffentliche Meinung.“6 Das seinerzeit Neue, das frei­ lich bereits seinen historischen Vorlauf in der Entwicklung quantifizierender Sozialwissenschaften hatte, konnte damals immerhin noch irritieren, in der Gegenwart hat es seine Novität verloren. Die sogenannte Meinungsforschung ist allgegenwärtig und auch nicht mehr auf den im engeren Sinne politischen Bereich beschränkt. Ohne Meinungsumfragen lässt sich nicht nur kein Staat mehr machen, es lässt sich – diesen Eindruck könnte man zumindest gewinnen – kaum noch ein Leben führen. Dabei stellen sich eigentümliche Umwertungen ein. Kirchen orientieren sich an Umfragen, um ihre ‚Dienst­ leistung‘ besser an ihr Kirchenvolk zu bringen, Universitäten suchen in 3 4 5 6

Sarcinelli, Öffentliche Meinung, S. 680–689. Kruke, Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Hennis, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, S.7. Ebd., S. 33.

Das Exemplarische und die öffentliche Meinung

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Meinungsumfragen Halt, um ihre ‚Marke‘ zu platzieren und sich als ‚Transfer­ unternehmen‘ zu verkaufen, Milchproduzenten testen in Meinungsumfragen das ‚Image‘ ihres Produkts und Autohäuser beauftragen Institute, um aus der Meinung ihrer Kunden zum letzten Reparaturtermin Rückschlüsse, welche auch immer, zu ziehen. Bourdieu hat ähnlich wie Hennis den Finger in die Wunde gelegt, indem er auf die Verzerrungen aufmerksam macht, die dem Ansatz von Meinungs­ umfragen zugrunde liegen. Denn fraglich ist nicht nur, ob jedermann, wie unterstellt, tatsächlich ‚eine Meinung habe‘, die der Umfrage angeboten und zur Verfügung gestellt werden könne. Denn in den meisten Fällen ‚hat‘ man vielleicht gar keine Meinung, was sich durchaus pittoresk mit All­ tagserfahrungen illustrieren lässt. Bauer schildert etwa folgenden Fall, der unabhängig von den Konsequenzen, die er daraus zieht und die eigens kritisch zu diskutieren wären, für sich stehen kann: „Als ich einmal unversehens in eine Meinungsumfrage geraten war, reagierte der Interviewer ungehalten, als ich ihm erklärte, ich habe zur Präimplantationsdiagnostik keine Meinung, weil ich darüber noch nie ernsthaft nachgedacht hätte und ohnehin nicht betroffen sei. Aber ich müsse doch wenigstens eine Meinung haben, meinte er.“7 Doch nicht nur die propagierte Meinungsunterstellung spielt eine Rolle, es ist auch die praktizierte Meinungsnivellierung, auf die Bourdieu hinweist und die darin besteht, dass alle Meinungen in den Meinungserhebungen als gleich­ wertig angesehen werden. Werden Meinungen vom Meinen entkoppelt, gibt es keine Unterschiede mehr, was die Gefahr in sich birgt, dass alles mit ihnen möglich ist. Schließlich ist es der schlicht vorausgesetzte Frage- und Problem­ universalismus, der von Bourdieu angeführt wird, demgemäß alle Befragten mit derselben Frage konfrontiert werden, womit die „Hypothese impliziert“ wird, „dass es einen Konsensus über die Probleme gibt, anders gesagt, ein Ein­ verständnis über die frag-würdigen Fragen.“8 Bourdieus Worte sind deutlich. Seine Auseinandersetzung mit den Metho­ den und Praktiken der Meinungsforschung zeigt ihm die „Kluft zwischen der Intention des Befragers und den außerscholastischen Sorgen der Befragten“.9 Aber nicht nur dies, er erkennt in der Meinungsforschung nichts anderes als ein gefährliches Spiel des täuschenden und fortwährenden Selbstbetrugs. Die Meinungsforschung schreibt gleichsam den Spielplan für die Platonische Höhle und führt dort Regie. „Die Verfälschungen, die sich aus der undurch­ schauten Befragung durch Doxosophen – jene scheinbaren Erforscher 7 Bauer, Die Vereindeutigung der Welt, S. 89. 8 Bourdieu, Soziologische Fragen, S. 212. 9 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 620 ff.

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Christian Bermes

des Scheins, die andere ‚Halbgebildete‘ wie Journalisten oder Politiker nur täuschen, weil sie sich selbst täuschen – ergeben, werden letztlich durch diese Kluft verursacht.“10 Das Resultat kommt in einem Vortragstitel Bourdieus deut­ lich zum Ausdruck: „Die öffentliche Meinung gibt es nicht.“11 Aus systemtheoretischer Perspektive hat Luhmann nicht minder deut­ lich, wenn auch mit anderen Argumenten, kritisch auf die Hypostasierung einer substantialisierten öffentlichen Meinung als ‚Heiliger Geist des Systems‘ hingewiesen, wobei er der Spiegelmetapher aber einiges abgewinnt. „Die öffentliche Meinung ist zugleich ein Medium der Meinungsbildung. Sie ist der Heilige Geist des Systems. Sie ist das, was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird. Man kann sie als einen durch die öffentliche Kommunikation selbsterzeugten Schein ansehen, als eine Art Spiegel, in dem die Kommunikation sich selber spiegelt.“12

III.

Im Unterschied zu der demoskopisch modellierten öffentlichen Meinung im Singular ist es weniger problematisch, von verschiedenen diskursiv und praktisch eingebundenen öffentlichen Meinungen im Plural zu sprechen, die nebeneinanderstehen, durchaus unterschiedliche Themen betreffen, keines­ wegs auf einen Bereich beschränkt sind und sich auch nicht gegenseitig vertreten. Zwar werden die Frage nach der öffentlichen Meinung und das Themenfeld der unterschiedlichen öffentlichen Meinungen schnell auf eine im weitesten Sinne politische Sphäre bezogen, doch dies ist nicht zwingend. Eine solche Verengung ist sogar eher irreführend, denn nicht immer ist etwas politisch zu erwägen, zu verhandeln oder auch zu entscheiden, wenn von öffentlichen Meinungen die Rede ist. Die Themen beispielsweise reichen von dem Bau einer Umgehungsstraße, über die Öffnungszeiten von Bibliotheken bis hin zum Umgang mit historischen Monumenten. Aber auch anderes, wie etwa die Aufstellung der Fußballnationalmannschaft, die neueste NetflixSerie, der gerade verschickte Tweet eines Schauspielers oder Präsidenten, ein soeben veröffentlichter Roman, die Architektur eines neuen Opernhauses oder die Wahl eines Kirchenoberhauptes können Thema von öffentlichen Meinungen sein. 10 11 12

Bourdieu, Meditationen, S. 77. Bourdieu, Soziologische Fragen, S. 212–213. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, S. 286.

Das Exemplarische und die öffentliche Meinung

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Es ist keineswegs damit in jedem Fall verbunden und vorgegeben, dass die Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung stets auch unter der Prä­ misse einer Entscheidung stehen müsse, der sich andere anschließen oder von der andere überzeugt werden müssten und die notwendig zu politischen Handlungen oder Ergebnissen führt. Eine solche Entscheidungsvorgabe mag für einige Aktivisten vielleicht im wörtlichen Sinne von Interesse sein, doch es ist nicht der öffentlichen Meinung als solcher eingeschrieben. Viel dürfte schon gewonnen sein, wenn das Problem der öffentlichen Meinung von der Anmaßung eines fortwährenden ‚öffentlichen‘ Entscheidungsdrucks frei­ gestellt wird. Nicht immer muss mit ihr etwas um- oder durchgesetzt werden, im Vordergrund steht vielmehr zunächst, an der öffentlichen Meinung ein Bild zu gewinnen und sich von ihr ein Bild zu machen. Ein aufgeklärt nüchterner Blick auf die Öffentlichkeit und die öffentliche Meinungsbildung als einen „rhetorischen Naturzustand“ und „deliberativen Wildwuchs“ kann auch heute noch hilfreich sein, um in und mit der Öffentlichkeit zuerst einmal ein „Verständigungsforum“ intakt zu halten, das „ohne demokratieethisches Rousseau-Rouge, ohne diskursethischen Lip-Gloss, ohne idealistisches Makeup“ auskommt.13

IV.

Die Kritik an der observierten und statistisch aufbereiteten öffentlichen Meinung ist keineswegs neu. Arendt hat schon sehr früh darauf aufmerksam gemacht, dass die öffentliche Meinung gerade das verstellt, wovon eigentlich die Rede ist – nämlich die Verschränkung von Meinen und Meinung als Doxa: „So sehr die Meinung an die Öffentlichkeit drängt, so wenig kann sie sich je in Uniformität bezeugen. In der ‚öffentlichen Meinung‘ verliert die Meinung gerade ihren Meinungscharakter.“14 Ist von der öffentlichen Meinung die Rede, so liegt die Versuchung nahe, das damit verbundene Problem zu lösen, indem das Öffentliche oder die Öffentlichkeit zum Thema wird. Die Vermutung scheint darin zu bestehen, dass schon irgendwie klar ist, was die oder eine öffentliche Meinung sein kann, wenn geklärt ist, was Öffentlichkeit bedeutet. Doch genau hier dürfte eines der Probleme liegen. Wenn von der öffentlichen Meinung im Singular oder von den öffentlichen Meinungen im Plural die Rede ist, so handelt es sich zuerst 13 14

Kersting, Demokratie und öffentlicher Vernunftgebrauch, S. 95 f. Arendt, Denktagebuch, S. 548.

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und zunächst um Meinungen. Was immer auch öffentliche Meinungen sein mögen, worin sie bestehen, wie sie zustande kommen und wie sie sich zeigen bzw. artikulieren, es sind Meinungen, mit denen wir konfrontiert sind. Die öffentliche Meinung ist mithin zunächst das Problem einer Philosophie der Doxa. Arendts Hinweis lässt sich genau in diesem Sinne verstehen, und Bourdieus Kritik an der Meinungsforschung macht auf nichts anderes aufmerksam. Denn die institutionalisierten Formen der Meinungsforschung etablieren eine Differenz zwischen auf der einen Seite den privaten Meinungen und auf der anderen Seite der statistisch aufbereiteten jeweiligen öffentlichen Meinung, die durchaus als eine Krisis gelesen und verstanden werden kann. Die subjektiven, individuellen oder privaten Meinungen, die sich von der jeweilig öffentlichen Meinung unterscheiden, der ein alleiniger Objektivitätsanspruch unterstellt wird, stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Krisis ist offensichtlich und betrifft die sozialwissenschaftliche Patentierung der öffentlichen Meinung im Sinne eines ‚Ideenkleids‘, die Husserl 1936 für die vermessenden Praktiken der „geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung“ der Lebens­ welt im Bereich der Naturwissenschaften diagnostiziert hat: Das Ideenkleid ‚Mathematik und mathematische Naturwissenschaft‘, oder dafür das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befasst alles, was wie den Wissenschaftlern so den Gebildeten als die ‚objektiv wirklich und wahre‘ Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist – dazu da, um die innerhalb des lebensweltlich wirklich Erfahrenen und Erfahrbaren ursprünglich allein möglichen rohen Voraussichten durch ‚wissenschaftliche‘ im Progressus in infinitum zu verbessern: die Ideenverkleidung macht es, dass der eigentliche Sinn der Methode, der Formeln, der ‚Theorien‘ unverständlich blieb und bei der naiven Entstehung der Methode, niemals verstanden wurde.15

Man könnte es auch anders ausdrücken: Das Ideenkleid der öffentlichen Meinung vertritt etwas, wofür inzwischen die Worte fehlen – die Doxa und mit ihr das Exemplarische.

15

Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno­me­ nologie, S. 52.

Das Exemplarische und die öffentliche Meinung



325

V.

Auf dem bekannten Bild Magrittes La trahison des images ist eine Pfeife zu sehen, unter der der geschriebene bzw. gezeichnete Satz Ceci n’est pas une pipe zu lesen ist. Das Bild hat zu zahlreichen Interpretationen Anlass gegeben.16 Mit der öffentlichen Meinung sieht es nicht anders aus. Fast überall, wo sie begegnet oder wo sie vermutet wird, begleitet sie der Hinweis, dass es eigent­ lich nicht die öffentliche Meinung sei, mit der man gerade konfrontiert werde. Sie sei beispielsweise etwas anderes als dasjenige, was in der Demoskopie statistisch modelliert dargestellt und veröffentlicht werde, sie falle nicht mit dem zusammen, was in den verschiedensten Medien wort- und bildreich zum Ausdruck komme, und sie sei schließlich und letztlich auch gar keine Meinung. Die vielfältig anzutreffende Kritik an der öffentlichen Meinung könnte mit einer leichten Modifikation auch so überschrieben werden, wie Magritte sein Bild untertitelt, nämlich als La trahison des opinions, also als Ver­ rat der Meinungen in und durch das Bild der öffentlichen Meinung. Zwei Positionen stehen sich fast unversöhnlich gegenüber. Entweder wird in der öffentlichen Meinung eine, wenn nicht die ausgezeichnete und ein­ zige, zentrale kommunikative Vermittlungsinstanz moderner liberaler Gesell­ schaften gesehen, in der sich nicht mehr einfach nur ein Wille, sondern eine in und durch Kommunikation aufgeklärte Rationalität ausdrückt, die aufgrund ihrer inneren Entstehungslogik und unter den entsprechenden Rahmenbedingungen allgemeingültige Verbindlichkeit beanspruchen kann. In diesem Sinne ist die öffentliche Meinung zu unterscheiden von einer Instrumentalisierung und Mobilisierung des gesellschaftlichen Meinungshaus­ halts zur Lenkung und Steuerung von Interessen, bei der Meinungen geschickt orchestriert werden, um Wünsche zu wecken oder Vorteile zu erzielen. Oder aber die öffentliche Meinung wird grundsätzlich in Frage gestellt, weil angesichts der Fliehkräfte moderner Kommunikation, die durch die Ent­ wicklung neuer technischer Medien an Kraft und Stärke gewonnen haben, die Idee der öffentlichen Meinung ihre bindende und zentrierende Kraft verloren habe. So wenig es noch sinnvoll sei, von der Öffentlichkeit als einem einheit­ lichen Gebilde zu sprechen, – da an die Stelle einer Öffentlichkeit, eine Viel­ zahl von ‚Öffentlichkeiten‘ getreten sei, die untereinander um Aufmerksamkeit konkurrieren – so wenig könne es noch sinnvoll sein, von der öffentlichen Meinung im Sinne eines diskursiven Monopols zu sprechen. 16

Harris, Visuelle und verbale Mehrdeutigkeit, S. 77–91.

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Wie sich auch immer die Kritik, aber auch die Verteidigung der öffentlichen Meinung konkret darstellt, sie ist durch eine gewisse Alternativlosigkeit in dem Sinne ausgezeichnet, dass es jeweils ums Ganze geht. Entweder wird von einer öffentlichen Meinung ausgegangen, der diese oder jene Funktion und Aufgabe zugesprochen wird, oder aber die Existenz der öffentlichen Meinung wird angezweifelt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine derartige Alternativlosigkeit der Sache der öffentlichen Meinung gerecht werden kann.

VI.

Im Zentrum nicht weniger soziologischer sowie kommunikations- bzw. medienwissenschaftlicher Ansätze steht insbesondere die Frage nach den Produktionsmechanismen der öffentlichen Meinung. Zu klären ist dann bei­ spielsweise, wie die Entwicklung von Medien und Medientechniken dazu beiträgt, auf welche unterschiedliche Art und Weise die oder eine öffentliche Meinung entstehen kann oder gestaltet wird, welche Verbreitungswege sich mit den verschiedensten Kommunikationskanälen eröffnen oder ver­ schließen. Ebenso spielen hier die Funktion und Rolle von Meinungsmachern oder Avantgarden der Meinungsinszenierung eine Rolle. Der Blick auf die Produktionsmechanismen ersetzt jedoch nicht die Thematisierung der, wie man es nennen könnte, intellektuellen Reproduktionslogik der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung bleibt eine Meinungs­ ruine, wenn sie nicht als öffentliche Meinung in den Grenzen der Doxa aufgefasst, verstanden und begriffen wird. Sie mag, und daran besteht kein Zweifel, auf diese oder jene Weise entstehen, doch als öffentliche Meinung ist sie nichts, wenn sie nicht auch als solche durch intellektuelle Leistungen als Exemplarisches und in den Grenzen des Exemplarischen geordnet wird. Es ist diese Perspektive, die aus dem Blick geraten kann, wenn der Zugang zur öffentlichen Meinung von der Explikation der Öffentlichkeit aus gesucht wird. Doch auch öffentliche Meinungen bedürfen der Einordnung, der intellektuellen Reproduktion und Einschätzung. Mit ihnen tritt etwas auf, das zu einer eigenen Stellungnahme herausfordert. Die öffentliche Meinung gibt nicht einfach etwas wieder- oder vor, an ihr muss sich vielmehr ein Urteil bilden, freilich ein Urteil spezifischer Art, das dem exemplarischen Charakter gerecht wird. Es lohnt, den Vergleich der öffentlichen Meinung mit dem Bild und der Bildwahrnehmung noch ein wenig weiter über Magritte hinaus zu verfolgen. Denn mindestens zwei Aspekte lassen zu denken geben, die auch für die Charakteristik öffentlicher Meinungen hilfreich sein können, ohne dass sie

Das Exemplarische und die öffentliche Meinung

327

direkt negiert oder aber schlicht als selbsterklärend aufgefasst, sondern in ihrer Relativität zum Problem werden. Erstens begegnet uns in Bildern nicht etwas, was sich als Ganzes in trans­ parenter Klarheit zeigt, sondern durch einen in der Bildwahrnehmung erscheinenden Widerstreit ausgezeichnet ist.17 Das Bildobjekt, dasjenige, das im Bild virtuell ‚vor Augen tritt‘, steht und gerät in einen Widerstreit mit dem Material, aus dem das Bild gefertigt ist, aber auch mit dem Gegenstand, auf den das Bild möglicherweise in der realen Wirklichkeit hinweist oder aufmerk­ sam macht. Das Bild gerät aber auch am Bildrand, am Rahmen, in Widerstreit mit der normalen, nicht-bildlichen Wirklichkeitswahrnehmung der Wand und dem Raum, in dem das Bild platziert ist. In Bildwahrnehmungen zeigen sich Erfahrungen des Widerstreits, mit denen wir allerdings recht gut umgehen können. Dabei wird der Widerstreit nicht einfach aufgelöst, überhöht, ver­ mittelt oder nivelliert, sondern in der Wahrnehmung zugelassen und wahr­ nehmend moderiert, damit das Bild ‚Bild‘ sein kann. Zweitens ist der Vergleich zum Bild deshalb von Interesse, weil Bilder nicht einfach eine allgemeine, absolute Verbindlichkeit ausdrücken, aber auch nicht bloß von beliebigem und variablem Nutzen sind. Es handelt sich hier vielmehr um eine, wie Kant es einmal ausdrückt, „exemplarische Gültigkeit“, die in der ästhetischen Erfahrung zum Ausdruck kommt.18 Arendt war es, die diesen Gedanken der exemplarischen Gültigkeit für die Politische Philosophie entdeckt, indem sie in ihren späten Untersuchungen zum politischen Urteilen die Kantische Kritik der Urteilskraft zum Ausgangspunkt für ihre Überlegungen heranzieht und nicht etwa die Kantische Moral- und Rechtsphilosophie.19 Der Bezug auf die Bildwahrnehmung im Kontext der Frage nach der öffentlichen Meinung ist freilich mit guten Gründen auch verdächtig – und dies mindestens in dreierlei Hinsicht: Erstens könnte man, besonders wenn auch noch Magrittes Surrealismus mitgedacht wird, einen ästhetischen Postmodernismus am Werk sehen wollen, der die Rationalität der öffentlichen Meinung aufs Spiel setzt und ein eigenes ästhetisches Spiel mit politischen, kommunikativen und gesellschaftlichen Fragen treibt. Das genaue Gegenteil ist allerdings der Fall. Denn eine nicht ganz unwichtige Frage besteht darin, wie wir eigentlich mit der öffentlichen Meinung konfrontiert werden: Wie ist uns die öffentliche Meinung gegeben? Und hier ist es sicher nicht irrational, darauf aufmerksam zu machen, dass wir mit der öffentlichen Meinung als Meinung konfrontiert sind. Dies wäre erst 17 18 19

Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, S. 45 ff. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 237–239. Arendt, Das Urteilen.

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dann ein Irrationalismus, wenn die Doxa so gefasst würde, dass ein solcher Bezug ohne jede Urteilskraft auskommen könnte. Eine solche These wird man jedoch kaum plausibel vertreten wollen. Zweitens könnte der Bezug auf Bild und Bildwahrnehmung so gefasst werden, dass mit ihr gleichzeitig Positionen des „gesellschaftlich Imaginären“ verbunden werden sollen, die sich an die französische soziologische und philosophische Theorietradition anschließen.20 Dies ist allerdings nicht der Fall, da sich diese Ansätze wesentlich umfassender auf das Konzept der Gesellschaft beziehen, während ich hier ausschließlich von der öffentlichen Meinung als einem Befund des Exemplarischen spreche und ihn gerade nicht universalisiere und ihn auch nicht mit Überlegungen zur Konstitution oder Konstruktion von Gesellschaft oder einer Theorie der Gesellschaft in Ver­ bindung bringe. Der Gedankengang entwickelt sich vielmehr im Ausgang von der Doxa im Sinne des Exemplarischen zur öffentlichen Meinung als einem Fall des Exemplarischen. Drittens könnte der Bezug auf die Bildwahrnehmung zu der Kritik ein­ laden, dass man mit der öffentlichen Meinung doch etwas anderes im Sinne habe als Bilder, dass es sich bei der öffentlichen Meinung keinesfalls um ein Bildphänomen, sondern um ein genuin sprachliches und kommunikatives Phänomen handele. Das ist sicherlich richtig. Doch erstens ist man auch in der Sprache nicht vor Bildern gefeit. Und zweitens könnte es kaum überzeugen, wenn geleugnet würde, dass im Falle der öffentlichen Meinung nicht immer auch schon Bilder eine Rolle spielen.

VII.

Es stellt sich mithin die Frage, was es bedeutet, sich an und von der öffentlichen Meinung ein Bild zu machen. Eine Vermutung könnte nun darin bestehen, dass es für diese Leistung eigene und unabhängige, mithin autonome, Gesetze geben könnte, die beispielsweise durch die oder eine Öffentlichkeit, die jen­ seits der Sphäre der Doxa verortet wird, verbürgt sind. Genau diese Auffassung entpuppt sich jedoch als fraglich, wenn die öffentliche Meinung als Meinung zum Thema wird. Im Falle öffentlicher Meinungen machen wir uns ein Bild von der exemplarischen Gültigkeit einer Meinung in den Grenzen desjenigen, was Exemplarisches bedeuten kann. Oder anders ausgedrückt: Das Verständnis öffentlicher Meinungen bleibt an die Beschreibungsform der Doxa gebunden. 20

Delitz, Theorien des gesellschaftlich Imaginären, S. 77–98.

Das Exemplarische und die öffentliche Meinung

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Wittgenstein kommt im §50 der Philosophischen Untersuchungen auf einen Fall zu sprechen, der auf den ersten Blick wenig bis gar nichts mit der Frage nach der öffentlichen Meinung zu tun hat. Auf den zweiten Blick aber könnte dies anders aussehen. Wittgenstein führt das Urmeter in Paris an und fragt nach seinem praktischen und epistemischen Status. Von dem Urmeter, so führt er aus, könne man nicht sagen „es sei 1 m lang, noch, es sei nicht 1 m lang“. Dem Urmeter kommt damit, so legt er weiter dar, nicht eine andere oder weitere obskure Eigenschaft zu, die es als Urmeter auszeichnet; hinweisen will er vielmehr auf „seine eigenartige Rolle im Spiel des Messens mit dem Meter­ maß“. Wittgenstein bleibt nicht beim Urmeter stehen, er dehnt seine Über­ legungen ebenso auf andere Felder aus. Direkt im Anschluss spricht er von den Farben: „Denken wir uns auf ähnliche Weise wie das Urmeter auch die Muster von Farben in Paris aufbewahrt. So erklären wir: ‚Sepia‘ heißt die Farbe des dort unter Luftabschluss aufbewahrten Ur-Sepia. Dann wird es keinen Sinn haben, von diesem Muster auszusagen, es habe diese Farbe, noch, es habe sie nicht.“21 Natürlich will Wittgenstein nicht darauf hinaus, dass unter keinen Umständen das Urmeter in Paris vermessen werden könne. Eine solche Position könnte nicht überzeugen, denn natürlich kann das Urmeter in Paris unter bestimmten Umständen auch vermessen werden, was de facto auch geschah und geschieht. Wittgenstein weist auf einen anderen Punkt hin: Das Urmeter in Paris ist sicherlich ein Beispiel für Metermaße, wie sie üblicherweise benutzt werden, aber das Beispielhafte des Beispiels ist keine Auszeichnung, die das Ding oben­ drein und zusätzlich besitzt. Das Paradigmatische des Urmeters als Beispiel ist keine Eigenschaft, die dem Urmeter zukommt oder an ihm abgelesen werden könne. Ebenso wenig handelt es sich bei dem Paradigmatischen um eine zusätzliche und eigenständige Interpretationsregel, der gemäß das Urmeter als Urmeter gedeutet wird. Das Paradigmatische zeigt sich vielmehr in der Praxis des Messens und Vermessens selbst. Bei allen nicht zu leugnenden Unterschieden zwischen Kant und Wittgen­ stein lässt sich jedoch eine Analogie erkennen, wenn sich Kant in der Kritik der Urteilskraft mit der Aufgabe konfrontiert sieht, wie sich am Kunstwerk ein verlässliches Urteil bilden lässt, „dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann“,22 das darum aber keineswegs beliebig oder willkürlich ist. Kant spricht hier von der „exemplarischen Gültigkeit“ eines ästhetischen Urteils, insofern es als „Beispiel einer allgemeinen Regel, die man nicht angeben kann, angesehen wird“ (Hervorhebung CB).23 Im Feld ästhetischen Urteilens 21 22 23

Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §50. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 203–204. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 237.

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haben wir es mit Exemplarischem zu tun, insofern das Exemplarische als paradigmatisch eingeschätzt wird. Doch für genau diese Funktion des Para­ digmatischen gibt es keine übergeordnete Regel, durch die – gleichsam als eine externe Interpretationsvorlage – das Exemplarische zum Paradigma erklärt werden könnte, sondern einzig die Idee eines Gemeinsinns als Ressource der Fundierung des Paradigmatischen. Nur unter der Voraussetzung eines solchen Gemeinsinns kann das Geschmacksurteil als exemplarisches seine para­ digmatische Funktion entfalten. Das Geschmacksurteil ist derart ein durchaus spezifisches, es „postuliert nicht jedermanns Einstimmung“, denn dies kann nur ein logisch notwendiges und allgemeines Urteil. Es „sinnet nur jedermann diese Einstimmung an, als einen Fall der Regel, in Ansehung dessen er die Bestätigung nicht von Begriffen, sondern von anderer Beitritt erwartet“.24 Arendt kommt in ihren Fragment gebliebenen Überlegungen zum Urteil, in denen sie die Kantische Kritik der Urteilskraft für die Politische Philosophie entdeckt, ebenso auf den Kantischen Topos der ‚exemplarischen Gültigkeit‘ zu sprechen.25 Die Gedankengänge Arendts sind zweifelsohne von hoher Aktuali­ tät, gleichwohl sind sie auslegungs- und interpretationsbedürftig.26 An dieser Stelle sehe ich von dem weiteren Feld der Politischen Philosophie ab und ver­ stehe sie nur mit Blick auf die Explikation des Status der öffentlichen Meinung. Das Paradigmatische der öffentlichen Meinung findet sich nicht schlicht an derselben, es liegt auch nicht in der Öffentlichkeit als Sphäre eigener, autonomer Regeln. Das Paradigmatische öffentlicher Meinungen erschließt sich aus der Doxa selbst. Wenn öffentliche Meinungen konzeptionell zum Thema werden, dann zeigen sie sich als Meinungen und damit als Fall des Exemplarischen, dessen paradigmatische Kraft selbst wieder nur von der Doxa verständlich wird. Denn das Paradigmatische steht nicht jenseits des Exemplarischen, sondern ist eine Artikulationsform desselben. Sicherlich, damit verschiebt sich die systematische Begründungslast zur Klärung des Konzepts der öffentlichen Meinung von der Öffentlichkeit auf die Doxa. Und dies macht es notwendig, noch einiges mehr zur Doxa zu sagen, sie insbesondere aus dem Dickicht so mancher Mythen und Vorurteile zu befreien.27 Doch dies lässt sich gleichzeitig als ein Akt der Aufklärung verstehen, der vor Prozessen der Selbstideologisierung schützen kann – insbesondere einer Selbstideologisierung im Namen der öffentlichen Meinung. Ein Bild von 24 25 26 27

Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 216. Arendt, Das Urteilen, S. 118f, 128 f. Vollrath, Handeln und Urteilen, S. 183–203; Herrmann, Demokratische Urteilskraft nach Arendt, S.  257–288; Esser, Politische Urteilskraft, S.  975–998; Trawny, Verstehen und Urteilen, S. 269–289. Bermes, Meinungskrise und Meinungsbildung, Kap. III.

Das Exemplarische und die öffentliche Meinung

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der öffentlichen Meinung zu gewinnen, bedeutet ihre exemplarische Gültig­ keit zu verstehen. Unter dem Titel öffentlicher Meinungen begegnen uns weder ausgehandelte Vorschriften noch abgesicherte Erkenntnisse, sondern Meinungen, die als Meinungen in den Grenzen des Exemplarischen einzu­ schätzen sind. Ohne Urteilskraft, als ein Vermögen, mit Exemplarischem adäquat umzugehen und das Exemplarische im Blick zu behalten, wird dies kaum möglich sein.

Literatur

Arendt, H.: Denktagebuch. 1950–1973. Erster Band, München / Berlin / Zürich 2002. Arendt, H.: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu ‚Vom Leben des Geistes’, München 2017. Bauer, T.: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018. Bermes, C.: Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa, Hamburg 2022. Bourdieu, P.: Soziologische Fragen, Frankfurt a. M. 1993. Bourdieu, P.: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001. Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 2014. Delitz, H.: Theorien des gesellschaftlich Imaginären. In: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 44, 2019, S. 77–98. Esser, A.  M.: Politische Urteilskraft. Zur Aktualität eines traditionellen Begriffs. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65, 2017, S. 975–998. Harris, R.: Visuelle und verbale Mehrdeutigkeit – oder: Warum ceci niemals eine Pfeife war. In: Sprache und Literatur 98, 2006, S. 77–91. Hennis, W.: Meinungsforschung und repräsentative Demokratie. Zur Kritik politischer Umfragen, Tübingen 1957. Herrmann, S.: Demokratische Urteilskraft nach Arendt. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie 6, 2019, S. 257–288. Husserl, E.: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana VI, Den Haag 1969. Husserl, E.: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925), Husserliana XXIII, Den Haag 1980. Kant, I.: Kritik der Urteilskraft, Akademie-Ausgabe Bd. V, Berlin 1968.

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Kersting, W.: Demokratie und öffentlicher Vernunftgebrauch. Kant und Habermas über Publizität und Diskurs. In: Politik als Wissenschaft. Festschrift für Wilfried Röhrich zum 70. Geburtstag, hg. v. M. Take. Berlin 2006, S. 63–96. Kruke, A.: Demoskopie in der Bundesrepublik Deutschland. Meinungsforschung, Parteien und Medien 1949–1990, Düsseldorf 2012. Luhmann, N.: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000. Reckwitz, A.: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Struktuwandet der Moderne, Berlin 2019. Sarcinelli, U.: Öffentliche Meinung. In: Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, hg. v. U. Andersen; J. Bogumil; S. Marschall & W. Woyke. Wiesbaden 2019, S. 680–689. Trawny, P.: Verstehen und Urteilen. Hannah Arendts Interpretation der Kantischen ‚Urteilskraft‘ als politisch-ethische Hermeneutik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 60, 2006, S. 269–289. Vollrath, E.: Handeln und Urteilen. Zur Problematik von Hannah Arendts Lektüre von Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ unter einer politischen Perspektive. In: Filosofski Vestnik 2, 1992, S. 183–203. Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen. In: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen, hg. v. G.  E. M.  Anscombe; R. Rhees. Frankfurt a. M. 2006, S. 225–485.

Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger Christian Bermes geboren 1968, ist Professor für Philosophie an der Rheinland-Pfälzisch Technischen Universität (RPTU). Veröffentlichungen u. a.: Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa, Hamburg 2022; Verbindlichkeit. Stärken einer schwachen Normativität (Hg.), Bielefeld 2019; Philosophie des 20. Jahrhunderts (Hg.), Stuttgart 2017; Merleau-Ponty zur Einführung, Hamburg, 3. Aufl. 2013; ‚Welt‘ als Thema der Philosophie, Hamburg 2004. Forschungsschwerpunkte: Praktische Philosophie, Philosophische Anthropologie, Phänomenologie und Sprachphilosophie. Silvana Borutti geboren 1945, ist Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität Pavia. Veröffentlichungen u. a.: Nodi della verità. Concetti e strumenti per le scienze umane, Milano 2017; We perspective on aesthetic grounds. Gemeinsinn and Übereinstimmung in Kant and Wittgenstein. In: Imagination and Social Perspectives. Approaches from Phenomenology and Psychopathology, hg. von M. Summa et al., New York/London 2017, 283–303; Translation and Interpretation. In: Issues of Interpretation. Texts, Images, Rites, hg. von C. Altini et al., Stuttgart 2018, 211–224; La dialettica identità-alterità come sfida epistemologica. In: Sull’identità, hg. von F. Remotti, Milano 2021, 117-146. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Grundlagen der Geisteswissenschaften, Bildtheorien, Übersetzungstheorien. Thomas Buchheim geboren 1957, ist Ordinarius für Philosophie, besonders Metaphysik und Ontologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Veröffentlichungen u. a.: Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986; Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992; Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994; Unser Verlangen nach Freiheit, Hamburg 2006; Mentale Verursachung (Jahrbuch-Kontroversen 1), Freiburg 2014; Aristoteles – Einführung in seine Philosophie, Freiburg 2015; Schellings Freiheitsschrift – Methode, System, Kritik (Hg.), Tübingen 2021; Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente, Testimonien, Griechisch-Deutsch (Hg.), Hamburg 1989; F.W.J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (Hg.), Hamburg 1997; Aristoteles, Über Werden und Vergehen. Übersetzung und Kommentar (Hg.), Berliner Werkausgabe,

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Darmstadt 2010; Aristoteles, Über die Seele, Griechisch-Deutsch. Übersetzung und Kommentar (Hg.), Darmstadt 2016. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik der Gegenwart, Philosophie der menschlichen Freiheit, Theorien des Lebendigen und der Person, Philosophie und Religion – ungleiche Geschwister, Frühgriechische Philosophie, Aristoteles, Leibniz, Schelling. Michael Esfeld geboren 1966, ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne und Mitglied der Leopoldina, Deutsche Nationale Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen u. a.: Wissenschaft und Freiheit. Das naturwissenschaftliche Weltbild und der Status von Personen, Frankfurt a. M. 2019; Philosophie der Physik (Hg.), Frankfurt a. M. 2012; Kausale Strukturen. Einheit und Vielfalt in der Natur und den Naturwissenschaften, hg. zus. mit C. Sachse, Frankfurt a. M. 2010; Naturphilosophie als Metaphysik der Natur, Frankfurt a. M. 2007. Forschungsschwerpunkte: Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften, Philosophie des Geistes und Philosophie der Physik. Mario Farina geboren 1982, ist Juniorprofessor für Ästhetik an der Universität IUAV in Venedig. Veröffentlichungen u. a.: Critica, simbolo e storia. La determinazione hegeliana dell’estetica, Pisa 2015; Adorno’s Aesthetics as a Literary Theory of Art, London 2020. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, deutsche klassische Philosophie, Kritische Theorie, Philosophie der Literatur. Alessandro Ferrara geboren 1953, ist Professor für Politische Philosophie an der Universität Rom Tor Vergata und lehrt Legal Theory an der Universität LUISS Guido Carli in Rom. Veröffentlichungen u. a.: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, London/New York 1998; Justice and Judgment. The Rise and the Prospect of the Judgment Model in Contemporary Political Philosophy, London 1999; The Force of the Example. Explorations in the Paradigm of Judgment, New York 2008; The Democratic Horizon. Hyperpluralism and the Renewal of Political Liberalism, New York 2014; Rousseau and Critical Theory, Boston/Leiden 2017; Legitimation by Constitution. A Dialogue on Political Liberalism (zus. mit F. I. Michelman), Oxford 2021; Sovereignty Across Generations. Constituent Power and Political Liberalism, Oxford 2023 (in Vorbereitung). Forschungsschwerpunkte: Rawls’ politischer Liberalismus und Verfassungstheorie, Rechtstheorie, ästhetische Quellen der Normativität (Authentizität, Exemplarität, Identität), Selbstverfasstheit und verfassungsgebende Gewalt, Konzeptionen der Volkssouveränität.

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Matthias Flatscher geboren 1975, ist Post-Doc Assistent im Bereich Politische Theorie am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Veröffentlichungen u. a.: Logos und Lethe. Zur phänomenologischen Sprachauffassung im Spätwerk von Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, Freiburg/München 2011; Einführung in die Sprachphilosophie (zus. mit G. Posselt), 2. erw. Aufl., Wien 2018; Institutionen des Politischen. Perspektiven der radikalen Demokratietheorie, hg. zus. mit St. Herrmann, Baden-Baden 2020. Forschungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, Politische Theorie, Demokratietheorie, klassische und nachklassische Phänomenologie, Dekonstruktion und Postfundamentalismus. Markus Heuft geboren 1960, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Sagen und Meinen. Das Sprechen als sprachphilosophisches Problem, München 2004; Sprechhandlungen verstehen. Überlegungen zu einer askriptivistischen Sprechakttheorie. In: Die Dimension des Sozialen, hg. von K. Mertens und J. Müller, Berlin/Bosten 2014, 381-396. Forschungsschwerpunkt: Philosophie des Sprechens. Christoph Horn geboren 1964, ist Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Antike an der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Plotin über Sein, Zahl und Einheit, Stuttgart/Leipzig 1995; Augustinus, München 1995; Antike Lebenskunst, München 1998; Politische Philosophie, Darmstadt 2003; Philosophie der Antike, München 2013; Nichtideale Normativität, Berlin 2014; Einführung in die Moralphilosophie, Freiburg/München 2018; Augustinus, De civitate dei (Hg.), Berlin 1997; Wörterbuch der antiken Philosophie, hg. zus. mit Ch. Rapp, München 2002; Philosophie der Gerechtigkeit. Texte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. zus. mit N. Scarano, Frankfurt a. M. 2002; Groundwork for the Metaphysics of Morals, hg. zus. mit D. Schönecker, Frankfurt a. M. 2006; Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. zus. mit C. Mieth und N. Scarano, Frankfurt a. M. 2007; Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen ‚Politik’ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, hg. zus. mit A. Neschke, Stuttgart/Weimar 2008; Platon-Handbuch. Leben–Werk–Wirkung, hg. zus. mit J. Müller und J. Söder, Stuttgart/Weimar 2009; Gründe und Zwecke. Texte zur aktuellen Handlungstheorie, hg. zus. mit G. Löhrer, Berlin 2010; Platon, Symposion (Hg.), Berlin 2011; Neoplatonism and the Philosophy of Nature, hg. zus. mit J. Wilberding, Oxford 2012; Platon, Nomoi (Gesetze) (Hg.), Berlin 2013; Space in Hellenistic Philosophy. Critical Studies in Ancient Physics, hg. zus. mit G. Ranocchia und Ch. Helmig, Berlin/New York 2014; Aristotle, Metaphysics Lambda. New Essays

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

(Hg.), Berlin/New York 2016; Säkularität und Moderne, hg. zus. mit K. Gabriel, Freiburg/München 2016; Grundriss der Geschichte der Philosophie (Ueberweg): Die Philosophie der Antike. Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike, Bde. 5.1-3, hg. zus. mit Ch. Riedweg und D. Wyrwa, Basel 2018; Körperlichkeit in der Philosophie der Spätantike/Corporeità nella filosofia tardoantica, hg. zus. mit D. Taormina und D. Walter, Baden-Baden 2020; Kant on Value, hg. zus. mit R. dos Santos, Berlin/New York 2022. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Antike (Platon, Aristoteles, Neuplatonismus) sowie Praktische Philosophie der Gegenwart (Ethik und politische Philosophie). Andreas Hüttemann geboren 1964, ist Professor für theoretische Philosophie der Neuzeit und Gegenwart an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: A Minimal Metaphysics for Scientific Practice, Cambridge 2021; Ursachen, Berlin 22018; The Problem of Radical Freedom – How Different Conceptions of Laws Affect our Accounts of Moral Practice. In: Time, Law and Free Will, hg. von A. Marmodoro, Ch. Austin und A. Roselli, Dordrecht 2022, 185–198. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsphilosophie, Metaphysik, Frühe Neuzeit. Karen Joisten geboren 1962, ist Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Kaiserslautern. Veröffentlichungen u. a.: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003; Philosophische Hermeneutik, Berlin 2009; Ethik in den Wissenschaften (Hg.), Berlin 2022; Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen (Hg.), Berlin 2007. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Technoethics for Emerging Digital Systems (TEDS), Ethik und Digitalisierung, Theoretische Philosophie (Hermeneutik, Methodenlehre, Wissenschaftstheorie), Narrative Philosophie, Anthropologie. Karl-Heinz Lembeck geboren 1955, ist Professor für Philosophie (bis 2021 an der Universität Würzburg). Veröffentlichungen u. a.: Philosophie als Zumutung? Ihre Rolle im Kanon der Wissenschaften, Würzburg 2010; Einführung in die phänomenologische Philosophie, Darmstadt 22005; Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg 1994; Gegenstand Geschichte. Geschichtswissenschaftstheorie in Husserls Phänomenologie, Dordrecht/Boston/London 1988; Sehen als Erfahrung, hg. zus. mit A. Dörpinghaus, Freiburg 2020; Paul Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme (Hg.), Göttingen 52008; Mensch – Leben – Technik. Neuere Studien zur phänomenologischen Anthropologie, hg. zus. mit J. Jonas, Würzburg 2006;

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Geschichte und Geschichten. Studien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps (Hg.), Würzburg 2004; Die Stellung des Menschen in der Kultur. Festschrift für Ernst Wolfgang Orth, hg. zus. mit Ch. Bermes und J. Jonas, Würzburg 2001; Geschichtsphilosophie (Hg.), Freiburg 2000; Edmund Husserl, Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften (Hg.), Hamburg 1986. Forschungsschwerpunkte: Theoretische Philosophie, insbes. Erkenntnistheorie, Anthropologie, Hermeneutik, Philosophie der Geisteswissenschaften, Phänomenologie und Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Felice Masi geboren 1977, ist Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Neapel Federico II. Veröffentlichungen u. a.: The Changing Faces of Space, hg. zus. mit M.T. Catena, Cham 2017; Fenomenologia empirica, Brescia 2023 (im Erscheinen). Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Epistemologie, Logik, Begriffstheorie. Karl Mertens geboren 1958, ist Professor für Philosophie an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Letztbegründung und Skepsis. Kritische Untersuchungen zum Selbstverständnis der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, Freiburg/München 1996; Shaping Actions and Intentions (Journal of the British Society for Phenomenology 53/2), hg. zus. mit L. Ryberg Ingerslev, London 2022; Exemplarity. A Pattern of Thought for Aesthetic Cognition (Discipline Filosofiche 31/1), hg. zus. mit M. Summa, Bologna 2021; Die Dimension des Sozialen. Neue philosophische Zugänge zu Fühlen, Wollen und Handeln, hg. zus. mit J. Müller, Berlin/Boston 2014; Wahrnehmen, Fühlen, Handeln. Phänomenologie im Wettstreit der Methoden, hg. zus. mit I. Günzler, Münster 2013; Esemplarità – un concetto guida per le scienze culturali? In: La filosofia della cultura: genesi e prospettive, hg. v. R. De Biase u. G. Morrone, Napoli 2020, 211–225. Forschungsschwerpunkte: Handlungstheorie, Sozialphilosophie, Erkenntnistheorie, Ethik; Phänomenologie. Jörn Müller geboren 1969, ist Professor für Philosophie an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus, Münster 2001; Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus, Leuven 2009; Cicero ethicus, hg. zus. mit G. M. Müller, Heidelberg 2020. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie in Antike und Mittelalter; normative Ethik; Handlungstheorie; Anthropologie; philosophische Psychologie.

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Verzeichnis der Beiträgerinnen und Beiträger

Michela Summa geboren 1980, ist Juniorprofessorin für Theoretische Philosophie an der Universität Würzburg. Veröffentlichungen u. a.: Body Memory, Metaphor and Movement, hg. zus. mit S. Koch und Th. Fuchs, Amsterdam 2012; SpatioTemporal Intertwining. Husserl’s Transcendental Aesthetic, Dordrecht 2014; Imagination and Social Perspectives. Approaches from Phenomenology and Psychopathology, hg. zus. mit Th. Fuchs und L. Vanzago, London/New York 2018; Modes of Intentionality. Phenomenological and Medieval Perspectives (Phänomenologische Forschungen 2/2018), hg. zus. mit J. Müller, Hamburg 2018; Exemplarity. A Pattern of Thought for Aesthetic Cognition (Discipline Filosofiche 31/1), hg. zus. mit K. Mertens, Bologna 2021; On the functions of examples in critical philosophy. Kant and Husserl. In: Why Method Matters. Phenomenology as Critique, hg. von A. S. Aldea et al., London 2022, 25–43; Double intentionality (Topoi 41), hg. zus. mit M. Klein und P. Schmidt, Basel 2022. Forschungsschwerpunkte: Wahrnehmungstheorie, Philosophie der Imagination und der Fiktion, Emotionstheorie, Sozialphilosophie, Intentionalitätstheorien und phänomenologische Psychopathologie. Zeno Van Duppen geboren 1988, ist Professor für Psychiatrie an der Universität Leuven, Psychiater und Oberarzt einer psychoanalytischen Behandlungsstation für Menschen mit Persönlichkeitsstörungen am universitären Psychiatrischen Zentrum der KU Leuven und psychoanalytischer Psychotherapeut. Veröffentlichungen u. a.: The Intersubjective Dimension of Schizophrenia. In: Philosophy, Psychiatry & Psychology, 24 (4), 399-418; Uncovering the realities of delusional experience in schizophrenia. A qualitative phenomenological study in Belgium (zus. mit J. Feyaerts, W. Kusters, S. Vanheule, I. Myin-Germeys, L. Sass). In: Lancet Psychiatry, 8 (9), 784–796; Forschungsschwerpunkte: Phänomenologische Psychopathologie, psychoanalytische Psychotherapie, Philosophie der Psychiatrie. Thomas Zingelmann geboren 1987, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bildtheorie & Phänomenologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: (Alltags-)Ästhetik, Phänomenologie, Erkenntnistheorie.