Wenn über soziale Gerechtigkeit gesprochen wird, dann soll John Rawls zufolge allein von den grundlegenden Institutionen
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German Pages 210 [209] Year 2025
Table of contents :
1. Die rawlssche Theorie
1.1 Grundlagen
1.2 Institutionen als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit
1.3 Die begrenzten Pflichten sozialer Gerechtigkeit
2. Cohens Kritik der rawlsschen Theorie
2.1 Kritik an der rawlsschen Pflichtenkonzeption
2.2 Ethos als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit
2.3 Eine Definition der Grundstruktur
3. Der Wert einer gerechten Grundstruktur
3.1 Der Einfluss der Grundstruktur auf Personen
3.2 Eine gesellschaftliche Idealentwicklung
Schlussbemerkung
Literatur
Johannes Wirtz
Das Ethos der gerechten Gesellschaft
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Johannes Wirtz Das Ethos der gerechten Gesellschaft
Johannes Wirtz
Das Ethos der gerechten Gesellschaft
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
© Velbrück Wissenschaft in der Velbrück GmbH Verlage, 2025 Meckenheimer Str. 47 · 53919 Weilerswist-Metternich [email protected] www.velbrueck.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-407-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Die rawlssche Theorie . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Institutionen als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . 1.3 Die begrenzten Pflichten sozialer Gerechtigkeit . . .
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2. Cohens Kritik der rawlsschen Theorie . . . . . . . . 2.1 Kritik an der rawlsschen Pflichtenkonzeption . . . 2.2 Ethos als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit . . . . 2.3 Eine Definition der Grundstruktur . . . . . . .
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3. Der Wert einer gerechten Grundstruktur . . . . . . . 151 3.1 Der Einfluss der Grundstruktur auf Personen . . . 152 3.2 Eine gesellschaftliche Idealentwicklung . . . . . . 163 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
Meinen Eltern
Vorwort Was bewerten wir, wenn wir von sozialer Gerechtigkeit sprechen? Die Handlungen von Einzelpersonen, Institutionen der sozialen Sicherung oder lediglich die Verfassung eines Landes? Was verlangen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit von den Bürgern einer Gesellschaft? Sollen sie jene Institutionen einrichten und aufrechterhalten oder sollen sie ihren Mitbürgern unmittelbar helfen? Und schließlich: Sind in einer wahrhaft gerechten Gesellschaft Haltungen privater Wohltätigkeit weit verbreitet? Herrscht ein bestimmtes Ethos vor? Oder sind solche Einstellungen zwar vielleicht wünschenswert, doch für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft nicht weiter von Bedeutung? Dieses Buch möchte einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisten. Dazu werden zwei zusammenhängende Thesen des amerikanischen Philosophen John Rawls expliziert und gegen die kritischen Einwände des kanadischen Philosophen Gerald A. Cohen verteidigt. Die erste These besagt, dass allein die sog. gesellschaftliche Grundstruktur (the basic structure of society) der Gegenstand der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ist. Damit ist gemeint, dass sich die Gerechtigkeit einer Gesellschaft allein an der Beschaffenheit ihrer grundlegenden Institutionen bemisst. Die zweite These besagt, dass die Pflichten sozialer Gerechtigkeit begrenzt sind: Bürger haben die Pflicht, gerechte Institutionen aufrechtzuerhalten und deren Vorschriften zu befolgen.1 Sie haben außerdem die Pflicht, ungerechte Institutionen zu reformieren. Sie haben dagegen nicht die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, durch private Wohltätigkeit oder auf andere Weise unmittelbar das Wohlergehen ihrer Mitbürger zu befördern. Die beiden Thesen werden vor dem Hintergrund der rawlsschen Theorie sozialer Gerechtigkeit diskutiert, wie er sie in seinen Hauptwerken A Theory of Justice (TJ), Political Liberalism (PL) und Justice as Fairness (JF) ausgearbeitet hat. Die rawlsschen Ausführungen bleiben teilweise vage und unvollständig. Die Thesen werden daher präzisiert und im Kontext der Theorie systematisch entfaltet. Dabei gehe ich insbesondere von den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen aus, in denen Rawls die zentralen Erfordernisse einer gerechten Gesellschaft formuliert. Diese fordern zum einen gleiche Grundrechte für jeden Bürger, zum anderen Chancengleichheit und eine Verteilung von Einkommen und Vermögen, die primär den materiell Schlechtestgestellten zugutekommt. Die beiden Thesen sollen unter Voraussetzung der Geltung dieser Grundsätze 1 Aus stilistischen Gründen benutze ich in diesem Buch allein die männliche Form des Plurals. Damit sind selbstverständlich Angehörige beider Geschlechter gemeint.
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untersucht werden. Deren Rechtfertigung wird dagegen keine Rolle spielen. Cohen hat die beiden Thesen in seinem Werk Rescuing Justice and Equality (RJE) einer tiefgreifenden Kritik unterzogen. Gegen die These von der gesellschaftlichen Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit wendet er ein, die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit sollten auch das Ethos einer Gesellschaft bewerten. Außerdem bezweifelt er, dass sich eine überzeugende Definition der gesellschaftlichen Grundstruktur entwickeln lasse. Gegen die These von den begrenzten Pflichten sozialer Gerechtigkeit wendet er ein, Bürger handelten nur dann moralisch, wenn sie durch ihr Handeln auch unmittelbar das Wohl ihrer Mitbürger beförderten. Die These der gesellschaftlichen Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit wird zu den wichtigsten Beiträgen von Rawls zur politischen Philosophie gezählt. Eine Erläuterung und Verteidigung dieser These ist daher eine naheliegende Aufgabe. Neben diesem eher akademischen Interesse lässt sich das Vorhaben aber auch ganz praktisch motivieren. Als Bürger benötigen wir eine hinreichend genaue Vorstellung vom Gegenstand sozialer Gerechtigkeit, um das Ziel einer gerechteren Gesellschaft mit Aussicht auf Erfolg verwirklichen zu können. Und wir haben als Bürger ebenfalls ein praktisches Interesse daran, unsere Rechte und Pflichten sozialer Gerechtigkeit zu kennen. Das Buch beginnt im ersten Teil mit einer Erläuterung und Rekon struktion der rawlsschen Auffassung von dem Gegenstand und den Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Damit wird der Hintergrund für die kritischen Einwände Cohens bereitgestellt. In Kapitel 1.1 werden verschiedene Aspekte der rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze interpretiert. Diese spielen im weiteren Verlauf des Buches immer wieder eine Rolle und so bietet es sich an, mein Verständnis gleich zu Anfang darzulegen. Das gilt auch für eine Adäquatheitsbedingung des rawlsschen Gerechtigkeitsideals. Dieser Adäquatheitsbedingung zufolge sollte das Gerechtigkeitsideal planvoll und kontrolliert realisierbar sein. Kapitel 1.2 geht auf die rawlssche These ein, die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft – und nur diese – seien der Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. Um den Unterschied zwischen der Bewertung von Institutionen und der Bewertung anderer Gegenstände herauszuarbeiten, wird Rawls’ Begriff der Institution erörtert. Im Ergebnis zeigt sich, dass bei der Bewertung von Institutionen ausschließlich solche Regeln bewertet werden, die von einer gewissen Anzahl an Personen über einen gewissen Zeitraum hinweg befolgt werden und die durch Sanktionsandrohungen abgesichert sind. Bei der Bewertung der Handlungen von Einzelpersonen ist das dagegen nicht notwendigerweise der Fall. In Kapitel 1.3 wird rekonstruiert, welche Pflichten sozialer Gerechtigkeit Einzelpersonen in der rawlsschen Theorie haben. Eine solche Rekonstruktion erweist sich als notwendig, 8
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da Rawls zwar eine Konzeption von Gerechtigkeitspflichten im Allgemeinen entwickelt hat, jedoch keine Konzeption der spezifischen Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Es zeigt sich, dass Einzelpersonen allein in Bezug auf die Institutionen der gesellschaftlichen Grundstruktur – im Folgenden kurz: Grundstruktur – Pflichten sozialer Gerechtigkeit haben. Aufgrund andersartiger moralischer Erwägungen können sie durchaus auch die Pflicht haben, das Wohlergehen anderer Personen unmittelbar zu befördern. Man denke etwa an die Pflichten, die Eltern gegenüber ihren Kindern haben. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Im zweiten Teil des Buches sollen die rawlsschen Thesen zum Gegenstand und zu den Pflichten sozialer Gerechtigkeit gegen die zentralen Einwände Cohens verteidigt werden. Aus darstellerischen Gründen beginne ich in Kapitel 2.1 mit dem Einwand Cohens gegen meine Rekon struktion der Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Cohens Kritik bedarf ebenfalls der Rekonstruktion, da sich sein Einwand nicht ausdrücklich gegen die rawlssche Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit richtet, sondern gegen dessen Rechtfertigung von materiellen Ungleichheiten. Meine Rekonstruktion von Cohens Einwand besagt, dass das Handeln der bessergestellten Bürger der rawlsschen Idealgesellschaft dem Handeln von Kindesentführern ähnelt. Die Bessergestellten sind nämlich nur dann bereit, sich für das Wohl ihrer schlechtestgestellten Mitbürger zu engagieren, wenn sie dafür materiell kompensiert werden. Ich entschärfe den Einwand zunächst durch den Hinweis, dass das Handeln der Bessergestellten lediglich auf der Grundlage kontroverser Wertvorstellungen als moralisch falsch bewertet werden kann. Sodann prüfe ich, inwiefern die Bessergestellten überhaupt dazu fähig sind, das materielle Wohl der Schlechtestgestellten planvoll und kontrolliert zu verbessern. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Bessergestellten nur dann dazu fähig sind, wenn in der Gesellschaft ein egalitäres Ethos herrscht. In Kapitel 2.2 setze ich mich dann mit Cohens These auseinander, nur eine solche Gesellschaft sei vollkommen gerecht, in der ein egalitäres Ethos weit verbreitet ist. Das ist der Fall, wenn die meisten Bürger die Gewohnheit haben, die materielle Lage ihrer schlechtestgestellten Mitbürger zu verbessern, etwa indem sie zu ihrem eigenen Nachteil hart arbeiten und gleichzeitig hohe Steuern zahlen. Die Forderung Cohens betrifft die Frage, was der angemessene Gegenstand sozialer Gerechtigkeit ist. Falls nämlich eine vollkommen gerechte Gesellschaft ein egalitäres Ethos umfassen muss, gehört scheinbar nicht allein die Grundstruktur, sondern auch das Ethos einer Gesellschaft zum Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. Das Kapitel hat die Aufgabe, Rawls’ Auffassung von der Grundstruktur als alleinigem Gegenstand sozialer Gerechtigkeit zu verteidigen. Die Argumentationsstrategie besteht darin zu zeigen, dass das Ethos einer Gesellschaft allein mithilfe der Institutionen der Grundstruktur planvoll und 9
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kontrolliert beeinflusst werden kann. Forderungen nach einem bestimmten Ethos können sich daher auch nur an die Grundstruktur richten. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Institutionen der Grundstruktur zwar kein egalitäres Ethos, wohl aber ein liberales Ethos befördern sollten. Kapitel 2.3 soll die rawlssche Auffassung vom Gegenstand sozialer Gerechtigkeit gegen einen weiteren Einwand Cohens verteidigen. Dieser besagt, dass sich keine überzeugende Definition der Grundstruktur entwickeln lasse. Cohen macht zwei Definitionen in Rawls’ Theorie aus, die er jeweils einer Kritik unterzieht. Die Grundstruktur bestehe zum einen in der legalen Zwangsstruktur, zum anderen in denjenigen Institutionen, die das Leben der Bürger in besonderer Weise beeinflussen. Diese Definitionen schließen Cohen zufolge aus, dass auch das Ethos einer Gesellschaft mithilfe der Grundsätze sozialer Gerechtigkeit bewertet wird. Und das sei angesichts des Inhalts der Definitionen willkürlich, denn auch das Ethos der Gesellschaft gehe mit Zwang einher und habe bedeutenden Einfluss auf das Leben der Bürger. Gegen Cohen wende ich ein, dass Rawls die Grundstruktur nicht so definiert, wie Cohen es ihm zuschreibt. Dennoch ist Cohen darin zuzustimmen, dass es einer Definition der Grundstruktur bedarf. Ich entwickle daher eine solche Definition, wobei ich eine grobe Charakterisierung der Grundstruktur von Rawls präzisiere. Die zentrale Idee besteht darin, die Grundstruktur über ihren Einfluss auf die Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern zu definieren. Mithilfe der entwickelten Definition lassen sich die Institutionen der Grundstruktur hinreichend scharf von dem Ethos der Gesellschaft abgrenzen. Im dritten Teil des Buches rekonstruiere ich zwei zentrale Argumente von Rawls, die dafür sprechen, die Grundstruktur als Gegenstand der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit anzusehen. Argumente für die Grundstruktur als Gegenstand sollen zeigen, dass ausschließlich die Institutionen der Grundstruktur gemäß den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bewertet werden sollten. Andere Institutionen sollten dagegen mithilfe anderer Prinzipien bewertet werden. Unter der Grundstruktur verstehe ich die Institutionen, die einen Einfluss auf die Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern haben. Argumente für die Grundstruktur als Gegenstand müssen daher darlegen, warum dieser Einfluss prinzipiengeleitet kontrolliert werden sollte. Beim dritten Teil handelt es sich nicht ausschließlich um eine Verteidigung der rawlsschen Auffassung vom Gegenstand sozialer Gerechtigkeit gegen Einwände Cohens. Der Teil soll auch zu einem tieferen Verständnis dieser Auffassung beitragen. Die rekonstruierten Argumente lassen sich gleichwohl als Argumente gegen den in 2.3 behandelten Einwand verstehen, eine sinnvolle Definition der Grundstruktur sei unmöglich. In Kapitel 3.1 erläutere ich zunächst Rawls’ Argument, demzufolge die Grundstruktur einen besonderen Einfluss auf das Selbstbild der Bürger habe und daher gemäß 10
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den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit gestaltet werden sollte. Institutionen, die nicht zur Grundstruktur gehören, haben jedoch ebenfalls einen Einfluss auf das Selbstbild der Bürger. Das rawlssche Argument kann aus diesem Grund nicht überzeugend darlegen, dass ausschließlich die Institutionen der Grundstruktur prinzipiengeleitet eingerichtet werden sollten. Es bedarf der Präzisierung: Die Grundstruktur hat einen bedeutenden Einfluss darauf, dass sich die Bürger als Freie und Gleiche verstehen und als solche zusammenarbeiten können. Und diesen Einfluss gilt es prinzipiengeleitet zu kontrollieren. Kapitel 3.2 rekonstruiert ein weiteres Argument, das von Rawls lediglich angedeutet wird. Meiner Rekonstruktion zufolge macht eine angemessen gestaltete Grundstruktur eine ideale Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse wahrscheinlich. Gesellschaftliche Verhältnisse entwickeln sich ideal, wenn sie die Folge von freien und fairen Übereinkünften sind. Um solche Übereinkünfte wahrscheinlich zu machen, so die Grundidee, muss die Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern angemessen kontrolliert werden. Es fragt sich, warum eine solche Idealentwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse erstrebenswert ist. Diese Frage beantworte ich durch einen Vergleich mit zwei Alternativentwürfen von Johann Gottlieb Fichte und Robert Nozick, die eine weitere resp. engere Auffassung vom Gegenstand sozialer Gerechtigkeit haben. Der Vergleich zeigt, dass die prinzipiengeleitete Kontrolle der Grundstruktur und die dadurch wahrscheinlich gemachte Idealentwicklung beiden Alternativen überlegen ist. Am Ende der Abhandlung entwickle ich ausgehend von einigen Bemerkungen von Rawls einen weiteren Grund dafür, dass eine ideale Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse erstrebenswert ist. Dabei gehe ich von dem Gedanken aus, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten dadurch gerechtfertigt werden können, dass sie für alle von Vorteil sind. Die spezifische Ausprägung solcher Ungleichheiten lässt sich jedoch nicht auf diese Weise rechtfertigen. Eine ideale Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse ist erstrebenswert, da sie der Legitimierung spezifischer Ungleichheiten dienen kann. Demnach ist eine Person in einer gerechten Gesellschaft legitimerweise schlechtergestellt als eine andere, wenn dieser Umstand eine Folge freier und fairer Übereinkünfte ist. Die Ergebnisse des Buches lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: Erstens: Unter der Voraussetzung, dass soziale Gerechtigkeit die planvolle und kontrollierte Verteilung bestimmter Güter in der gesamten Gesellschaft betrifft, kommen nur die Institutionen der Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit in Betracht. Einzelpersonen haben daher auch nur in Bezug auf diese Institutionen Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Zweitens: Allein die prinzipiengeleitete Kontrolle der Grundstruktur macht es wahrscheinlich, dass Bürger sich als Freie und Gleiche 11
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verstehen, dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren eigenen Wertvorstellungen gestalten und dass sie die spezifische Ausprägung notwendiger Ungleichheiten als legitim anerkennen. Dieses Buch ist als Dissertation an der Universität zu Köln entstanden. Ich möchte meinen Doktorvätern Wilfried Hinsch und Charles Larmore für ihre ausgezeichnete Betreuung danken. Beide haben sich ungewöhnlich viel Zeit genommen, um mir fortwährend mit detaillierten Ratschlägen behilflich zu sein. Die a.r.t.e.s. Graduiertenschule der Universität zu Köln hat es mir durch ein großzügiges Stipendium ermöglicht, mich ganz auf meine Dissertation zu konzentrieren. Für die materielle, aber auch ideelle Förderung in diesem Rahmen bin ich sehr dankbar. Jan Köster danke ich für viele inspirierende und motivierende Diskussionen während meines Studiums und meiner Promotion, die auf vielfältige Weise in dieses Buch eingegangen sind. Mein besonderer Dank gilt schließlich meiner Frau und meinen Eltern, ohne deren Unterstützung mir diese Arbeit viel weniger Freude bereitet hätte.
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1. Die rawlssche Theorie Im ersten Teil des Buches werden die rawlsschen Thesen zu Gegenstand und Pflichten sozialer Gerechtigkeit erläutert und rekonstruiert. In 1.1 sollen zunächst einige Grundlagen der rawlsschen Theorie erörtert werden. In 1.2 wird Rawls’ Begriff der Institution erläutert. In 1.3 soll schließlich die rawlssche Auffassung der Pflichten sozialer Gerechtigkeit rekonstruiert werden.
1.1 Grundlagen In diesem Kapitel zeige ich zunächst, dass eine Theorie der Gerechtigkeit allein Forderungen stellen darf, die sich prinzipiell planvoll und kontrolliert erfüllen lassen. Denn nur dann entspricht die Theorie der Aufgabe, unsere auf eine gerechtere Gesellschaft abzielenden Bemühungen zu unterstützen. Weiterhin wird die Kritik, die Cohen an dieser Adäquatheitsbedingung der rawlsschen Theorie übt, entkräftet. Schließlich werden die Gerechtigkeitsgrundsätze, in denen Rawls die zentralen Forderungen sozialer Gerechtigkeit formuliert, erläutert und interpretiert. Dabei gehe ich insbesondere auf das Differenzprinzip (difference principle) ein, das Forderungen an die Verteilung von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft stellt. Ein realisierbares Gerechtigkeitsideal Aufgaben der rawlsschen Theorie In seiner Gerechtigkeitstheorie beschreibt Rawls das Ideal einer gerechten demokratischen Gesellschaft. Dieses Gerechtigkeitsideal hat verschiedene Aufgaben.1 Es kann dabei helfen, soziale Konflikte zu lösen, die ihren Ursprung in divergierenden Ansichten darüber haben, was eine gerechte Gesellschaft ausmacht. Es kann uns dabei helfen, den politischen Status, den wir in unserer Gesellschaft haben, zu verstehen. Rawls nennt als Beispiel den politischen Status gleicher Staatsbürgerschaft (equal citizenship), den Bürger einer demokratischen Gesellschaft haben. Es kann uns weiterhin mit existierenden Institutionen versöhnen, indem es zeigt, 1 In JF §1: 1–5 skizziert Rawls vier Aufgaben der politischen Philosophie. Analog dazu werden hier die vier Aufgaben des Ideals der gerechten Gesellschaft rekonstruiert.
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dass diese unter den gegebenen Umständen vernünftig sind. Und schließlich kann uns das Ideal bei unseren praktischen Bemühungen helfen, unsere Gesellschaft zu einer gerechteren zu machen. Dabei ergibt sich das Erfordernis eines Gerechtigkeitsideals aus den Orientierungsproblemen, mit denen wir uns in solchen praktischen Bemühungen konfrontiert sehen. Denn es ist nicht klar, was genau wir tun müssen, wenn wir unsere Gesellschaft zu einer gerechteren machen wollen. Und es herrscht vor allem keine Einigkeit darüber, was die Kriterien sind, die eine Gesellschaft zu einer vollkommen gerechten oder zumindest gerechteren Gesellschaft machen.2 Diesen an Rawls’ Ausführungen angelehnten Aufgaben können wir noch hinzufügen, dass uns das Gerechtigkeitsideal darüber Aufschluss geben kann, welche Ansprüche und Pflichten wir im Namen sozialer Gerechtigkeit gegenüber unseren Mitbürgern haben. Die Realisierbarkeitsbedingung Nun ist die Redeweise von dem Ideal der gerechten Gesellschaft nicht so zu verstehen, dass Rawls eine Utopie zu formulieren sucht. Im Gegensatz zu utopischen Gesellschaftsentwürfen soll das Gerechtigkeitsideal vielmehr im Lichte der üblichen Ansichten über das Funktionieren der sozialen Welt realisierbar sein, zumindest unter recht günstigen Umständen. Rawls fragt daher: »What would a just democratic society be like under reasonably favorable but still possible historical conditions, conditions allowed by the laws and tendencies of the social world?« (JF §1.4: 4)
Das formulierte Ideal muss also die Adäquatheitsbedingung erfüllen, zumindest prinzipiell realisierbar zu ein. Wir sprechen im Folgenden auch von der Realisierbarkeitsbedingung, die wir nun kurz erläutern und ergänzen werden. Rawls gibt ein Beispiel für eine Gesellschaft unter recht günstigen Bedingungen (reasonably favorable conditions): »Germany between 1870 and 1945 is an example of a country where reasonably favorable conditions existed—economic, technological and 2 Amartya Sen hat eine prominente Kritik an der Auffassung formuliert, ein Gerechtigkeitsideal könne uns dabei helfen, unsere Gesellschaft gerechter zu machen. Vgl. Sen 2006. Simmons 2010 und Hinsch 2011 haben die rawlssche Auffassung verteidigt. A. John Simmons geht davon aus, dass die Aufgabe der rawlsschen Theorie nicht darin bestehe, unsere Gesellschaft gerechter zu machen, sondern darin, unsere Gesellschaft vollkommen gerecht zu machen. Wilfried Hinsch argumentiert dagegen überzeugend dafür, dass normative Aussagen wie »Gesellschaft A ist gerechter als Gesellschaft B« Aussagen über das Ideal einer vollkommen gerechten Gesellschaft implizieren.
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no lack of resources, an educated citizenry and more—but where the political will for a democratic regime was altogether lacking.« (JF §29.1: 101)
Es ist hier nicht weiter relevant, ob Rawls’ historische Einschätzung tatsächlich überzeugt. Wichtig ist vielmehr, dass Rawls historische Beispiele nennt, um seine Auffassung zu verdeutlichen. Das legt nahe, dass wir uns bei der Suche nach dem Gerechtigkeitsideal nicht beliebig günstige Bedingungen ausdenken dürfen. Vielmehr müssen wir im Bereich dessen bleiben, was uns aus der Geschichte bekannt ist oder was uns im Lichte der historischen Erfahrung realistisch erscheint. Das ist m.E. gemeint, wenn Rawls fordert, es müsse sich um mögliche historische Bedingungen (possible historical conditions) handeln. Simmons fasst die Realisierbarkeitsbedingung folgendermaßen zusammen: »We ask what could come into existence as a result of our choices, given the limits set by our moral and psychological natures and by facts about social institutions and how humans can live under them.«3
Dem ersten Teil des Zitats zufolge ist nur ein solches Gerechtigkeitsideal adäquat, das wir durch unsere Entscheidungen (choices) verwirklichen können. Angemessener ist es wohl, hier von Handlungen statt von Entscheidungen zu sprechen. Wir ergänzen außerdem, dass eine dem Ideal entsprechende Gesellschaft zumindest prinzipiell planvoll und kontrolliert realisierbar sein sollte. Denn der Realisierbarkeitsbedingung, wie Simmons sie versteht, ist wohl kaum Genüge getan, wenn eine gerechte Gesellschaft allein die unbeabsichtigte oder unerwartete Folge von Handlungen sein kann. Zwar spricht Rawls nicht davon, dass eine gerechte Gesellschaft als Ergebnis unserer Handlungen planvoll und kontrolliert realisierbar sein muss. Dieses Verständnis der Realisierbarkeitsbedingung erweist sich aber insbesondere angesichts einer der eben beschriebenen Aufgaben der Gerechtigkeitstheorie als angemessen. Denn das Gerechtigkeitsideal kann uns nur dann bei unseren Bemühungen, die auf eine gerechtere Gesellschaft abzielen, unterstützen, wenn es sich um ein Ideal handelt, das wir – zumindest auf lange Sicht und prinzipiell – planvoll und kontrolliert verwirklichen können.4 Diese Bedingung 3 Simmons 2010: 7. 4 Allen Buchanan verwendet in seiner Theorie der moralischen Grundlagen für das internationale Recht eine ähnliche Realisierbarkeitsbedingung. Die Forderungen des Ideals sollten erreichbar (feasible), zugänglich (accessible) und moralisch zugänglich (morally accessible) sein: »An ideal moral theory is feasible if and only if the effective implementation of its principles is compatible with human psychology, human capacities generally, the laws of nature, and the natural resources available to human beings. Obviously, a theory that fails to meet the requirement of feasibility is of no practical
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erscheint überdies für pluralistische Gesellschaften angemessen. Denn die Alternative ist ein Gerechtigkeitsideal, das allein durch göttliches Handeln, Zufall oder aber überhaupt nicht realisierbar ist. Dem zweiten Teil der zitierten Passage zufolge sollte das Ideal »die Grenzen, die durch unsere moralische und psychische Natur gezogen werden, und die Tatsachen über Institutionen und die Art und Weise, wie Menschen unter ihnen leben können« berücksichtigen. Dabei ist m.E. zu ergänzen, dass bei der Formulierung des Gerechtigkeitsideals nicht auf hochkontroverse Theorien oder Überzeugungen zurückgegriffen werden darf. Vielmehr sollte es sich um allgemein anerkannte Erklärungen und Fakten handeln: Unsere common-sense-Psychologie sagt bspw., dass Menschen sich normalerweise nicht ständig für ihre Mitmenschen aufopfern, wenn sie sich ihnen nicht persönlich verbunden fühlen. Unsere common-sense-Soziologie sagt, dass die Aufrechterhaltung institutioneller Regeln nur gelingt, wenn diese Regeln weitgehend freiwillig befolgt werden. Ein weiteres Beispiel liegt in der Auffassung, dass komplexe arbeitsteilige Abläufe normalerweise nur dann gelingen, wenn einige der involvierten Personen weisungsbefugt, andere weisungsgebunden sind, d.h. wenn sie sich in einer mehr oder weniger hierarchischen Struktur befinden.5 Die Realisierbarkeitsbedingung umfasst der hier vertretenen Auffassung zufolge drei Aspekte. Wir gehen erstens davon aus, dass günstige Bedingungen vorliegen, was z.B. natürliche Ressourcen und den Stand der technischen Entwicklung angeht. Es handelt sich gleichwohl um Bedingungen, die unserem historischen Wissen zufolge realistisch sind. Das Gerechtigkeitsideal darf zweitens nur Forderungen enthalten, die sich von solchen günstigen Bedingungen ausgehend planvoll und kontrolliert realisieren lassen. Schließlich muss die Realisierung und Aufrechterhaltung der gerechten Gesellschaft drittens mit allgemein anerkannten Tatsachen und Erklärungen der common-sense-Psychologie und -Soziologie vereinbar sein. import. […] A theory is accessible if and only if it is not only feasible, but in addition there is a practical route from where we are now to at least a reasonable approximation of the state of affairs that satisfies its principles. In other words, if an ideal theory is to be useful to us, the ideal it specifies must be accessible to us––those to whom the theory is directed. […] ideal theorizing should also satisfy the constraint of moral accessibility. Other things being equal, a theory should not only specify an ideal state of affairs that can be reached from where we are […], but also the transition from where we are to the ideal state of affairs should be achievable without unacceptable moral costs.« (Buchanan 2004: 38; Hervorhebung im Original) 5 Dieses Verständnis der Realisierbarkeitsbedingung legt nahe, dass sich das Gerechtigkeitsideal im Laufe der Zeit ändern kann, wenn sich unsere common-sense-Überzeugungen ändern.
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Cohens Kritik an der Realisierbarkeitsbedingung Cohen hat eine Kritik der rawlsschen Theorie formuliert, die wir hier als Einwand gegen die Realisierbarkeitsbedingung rekonstruieren können. Die Kritik besagt, dass es mithilfe der rawlsschen Vorgehensweise nicht möglich sei, fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien zu entwickeln. Sie richtet sich eigentlich gegen den rawlsschen Konstruktivismus (constructivism), d.h. gegen die Methode der Rechtfertigung normativer Prinzipien mithilfe des Modells vom Urzustand (original position). Unsere Rekonstruktion ändert jedoch nichts Wesentliches an Cohens Einwand und erlaubt es, diesen knapp zu behandeln, ohne auf das Modell des Urzustands eingehen zu müssen. Im Folgenden soll dafür argumentiert werden, dass Cohens Kritik im Lichte der Aufgaben der rawlsschen Theorie nicht überzeugt. Der Kritik zufolge gelingt es Rawls nicht, fundamentale Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit aufzufinden. Seine Vorgehensweise, nur Forderungen zuzulassen, die sich prinzipiell realisieren lassen, lege ihn nämlich darauf fest, Prinzipien aufzufinden, deren Inhalt von Tatsachen abhängig ist. Sämtliche Prinzipien aber, deren Inhalt von Tatsachen abhängig ist, sind Cohen zufolge keine fundamentalen Prinzipien: »[F]acts are irrelevant in the determination of fundamental principles of justice. Facts of human nature and human society […] make no difference to the very nature of justice.« (RJE: 285)
Das ist zunächst bloß eine begriffliche Festlegung. Cohen unterscheidet nämlich zwischen fundamentalen (fundamental) und angewandten Gerechtigkeitsprinzipien (applied principles of justice): »A fundamental principle of justice is here defined as a principle of justice that is not an applied principle of justice. An applied principle of justice is a principle of justice that is derived from (= affirmed on the basis of) a principle of justice together with something other than a principle of justice, such as a set of empirical facts, or a value other than justice, or a principle that is not a principle of justice.« (RJE: 279; Hervorhebungen im Original.)
Angewandte Gerechtigkeitsprinzipien werden demnach im Gegensatz zu fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien unter Bezugnahme auf Tatsachen oder Werte gerechtfertigt. Man könnte auch sagen, ein Prinzip ist von Tatsachen abhängig und damit kein fundamentales Prinzip, wenn in der Rechtfertigung des Prinzips auf Tatsachen Bezug genommen wird.6 Der Ausdruck »fundamental« ist insofern passend gewählt, da fundamentale oder fundamentalere Prinzipien zur Rechtfertigung angewandter Prinzipien verwendet werden, aber nicht vice versa. Fundamentale Prinzipien treten damit in der Rechtfertigung »früher« auf. 6 Vgl. RJE: 231.
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Ich stimme mit Cohen darin überein, dass die rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien von Tatsachen abhängig sind. Denn das Ideal der gerechten Gesellschaft und damit auch die Gerechtigkeitsprinzipien werden im Lichte der Realisierbarkeitsbedingung entwickelt. Und der Realisierbarkeitsbedingung zufolge darf das Gerechtigkeitsideal nur Forderungen umfassen, die mit nicht kontroversen Ansichten über das Funktionieren von Gesellschaften und die Natur des Menschen vereinbar sind. Die Gerechtigkeitsprinzipien sind damit von Tatsachen abhängig, nämlich unter anderem von der Tatsache, wie Gesellschaften »funktionieren«. Damit sind die Gerechtigkeitsprinzipien tatsächlich keine fundamentalen Prinzipien in Cohens Sinne. Aber ist das ein Problem? Rawls beansprucht keineswegs, fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien in Cohens Sinne aufzufinden. So verwendet Rawls – von einer einzigen Ausnahme abgesehen7 – auch nicht den Ausdruck »fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien«, sondern lediglich den Ausdruck »Gerechtigkeitsprinzipien«. Cohens Einwand beruht daher auf der Ansicht, dass die rawlssche Theorie nach Gerechtigkeitsprinzipien sucht, die in seinem Sinne fundamental sind. Nun ließe sich zwar weiter einwenden, dass philosophische Gerechtigkeitstheorien nach fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien suchen sollten. Doch auch dieser Einwand überzeugt nicht. Denn allein angewandte Gerechtigkeitsprinzipien erfüllen die oben skizzierten Aufgaben einer Gerechtigkeitstheorie. Das schließt freilich nicht aus, dass auch die Suche nach fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien im cohenschen Sinne ein lohnendes Unterfangen sein kann. Doch bei den Aufgaben, die eine Gerechtigkeitstheorie, wie Rawls sie versteht, hat, handelt es sich offensichtlich ebenfalls um bedeutsame Aufgaben. Cohens Einwand – oder zumindest meine Rekonstruktion seines Einwands – kann daher nicht überzeugend darlegen, dass es ein gravierendes Problem darstellt, die rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien als angewandte Prinzipien zu charakterisieren. Man beachte außerdem, dass sich die rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien in einem von dem cohenschen Gebrauch abweichenden Sinne durchaus als fundamental oder grundlegend bezeichnen lassen. Die Gerechtigkeitsprinzipien sind insofern fundamental, als dass es sich um besonders dringliche Forderungen handelt. Gerechtigkeitsprinzipien werden, wenn es um die Gestaltung der grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft geht, nicht mit anderen Prinzipien abgewogen, sondern genießen einen gewissen Vorrang.8 7 TJ §26: 137: »Contract theory agrees, then, with utilitarianism in holding that the fundamental principles of justice quite properly depend upon the natural facts about men in society.« 8 Darauf weist Rawls gleich zu Beginn von TJ hin: »The only thing that permits us to acquiesce in an erroneous theory is the lack of a better one;
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Schließlich sei angemerkt, dass Cohens Kritik an Rawls’ Auffassung von Gegenstand und Pflichten der sozialen Gerechtigkeit auch unabhängig von der Unterscheidung zwischen fundamentalen und angewandten Prinzipien gewichtig ist. So formuliert er diese Kritik auch ohne Anwendung seiner Unterscheidung. Die Unterscheidung wird daher in der weiteren Auseinandersetzung keine Rolle mehr spielen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit Die zentralen Forderungen der sozialen Gerechtigkeit fasst Rawls in zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen resp. Gerechtigkeitsprinzipien zusammen. Diese werden im Folgenden immer wieder eine Rolle spielen. Einige Aspekte sollen daher hier erläutert werden. Bei den Gerechtigkeitsgrundsätzen handelt es sich um Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit. Es ist für die Erläuterung der Gerechtigkeitsgrundsätze hilfreich, zunächst unser Verständnis des Begriffs der Verteilungsgerechtigkeit zu erörtern. Verteilungsgerechtigkeit Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit schreiben eine bestimmte Verteilung bestimmter Güter vor. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit schreiben eine bestimmte Verteilung bestimmter Güter in der gesamten Gesellschaft vor. Der Begriff eines Guts lässt sich zunächst sehr weit verstehen. Darunter können gegenständliche Güter wie Nahrung, Medizin oder Wohnraum fallen, aber auch Freiheitsrechte, Verwirklichungschancen oder Einkommen und Vermögen. Ebenso kommen Lust, Macht, Liebe, Freundschaft und Ähnliches als Güter in Betracht. In der rawlsschen Theorie sind nur soziale Güter für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft relevant. Soziale Güter sind solche Güter, die allein durch soziale Kooperation (social cooperation) hervorgebracht werden.9 Rawls zufolge sind jedoch nicht alle sozialen Güter für Erwägungen sozialer Gerechtigkeit relevant, sondern allein die sog. Grundgüter (primary goods). Die Grundgüter umfassen bestimmte Grundrechte und Freiheiten, mit Ämtern verbundene Privilegien, Einkommen und Vermögen sowie die soziale Basis der Selbstachtung.10 Grundgüter definiert Rawls als Güter, von denen Personen normalerweise ein gewisses Maß benötigen, um ihre moralischen Vermögen zu entwickeln und ein Leben lang analogously, an injustice is tolerable only when it is necessary to avoid an even greater injustice.« (TJ §1: 4) 9 Vgl. zur Idee der sozialen Kooperation JF §2: 5–8. 10 Eine kurze Zusammenfassung der Grundgüterliste findet sich in JF §17.2: 58f.
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auszuüben.11 Als moralische Vermögen bezeichnet Rawls den Gerechtigkeitssinn (sense of justice), also die Fähigkeit, Gerechtigkeitsgrundsätze entwickeln, »anwenden« und befolgen zu können, sowie das Vermögen zu einer Konzeption des Guten (capacity for a conception of the good). Letzteres besteht im Wesentlichen in der Fähigkeit, eine Vorstellung darüber zu entwickeln, was im menschlichen Leben Wert hat und in Übereinstimmung mit dieser Vorstellung zu leben. Zum Vermögen zu einer Konzeption des Guten gehört auch die Fähigkeit, diese Vorstellung verändern zu können. Der Grundgedanke der Rechtfertigung der Grundgüterliste besteht darin, dass Einzelpersonen ihre moralischen Vermögen nur dann entwickeln und ausüben können, wenn sie über bestimmte Güter verfügen. So sind z.B. Freiheitsrechte für die selbständige Entwicklung und Verfolgung einer Auffassung darüber, was im Leben Wert hat, zuträglich. Grundgüter sind auch hilfreich dafür, selbständig eine Meinung darüber ausbilden zu können, welche Prinzipien das Zusammenleben in einer Gesellschaft regeln sollten. Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit schreiben, wie gesagt, eine bestimmte Verteilung bestimmter Güter vor. Die rawlsschen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit schreiben demnach eine bestimmte Verteilung der Grundgüter vor, und zwar in der gesamten Gesellschaft. Der Ausdruck »Verteilung« wird hier in einem mehrdeutigen Sinne gebraucht, der nun präzisiert werden soll. Dazu unterscheiden wir zwischen einer Verteilungsstruktur und einem Verteilungsprozess. Rawls macht diese Unterscheidung nicht, sie ist aber zum Verständnis der für uns relevanten Aspekte der Gerechtigkeitsgrundsätze hilfreich. Zur Erläuterung der Unterscheidung betrachten wir das Standardbeispiel der Mutter, die Kuchen an ihre Kinder verteilt. Der Verteilungsprozess liegt hier in den Ereignissen, die dazu führen, dass jedes Kind seinen Anteil vom Kuchen erhält: So könnte die Mutter jedem Kind das Stück Kuchen reichen oder aber jedes dazu auffordern, sich ein Stück in der Küche zu holen. Dieser Verteilungsprozess kann nun bestimmten Regeln unterworfen sein – z.B. der Regel, dass alle Kinder nacheinander und in der Reihenfolge abnehmenden Alters in die Küche gehen, um sich ihr Kuchenstück zu holen. Wenn von Regeln des Verteilungsprozesses die Rede ist, sind immer normative Regeln gemeint, nicht »bloße« Regelmäßigkeiten. Wenn sich das jüngste Kind jedes Mal vordrängelt, ist damit die beispielhaft angegebene Regel nicht etwa ungültig. Das jüngste Kind handelt schlichtweg falsch resp. im Widerspruch zur Aufforderung der Mutter. Zusammenfassend können wir sagen: Der Verteilungsprozess ist 11 Vgl. JF §17.1: 57: »[Primary goods] are various social conditions and all-purpose means that are generally necessary to enable citizens adequately to develop and fully exercise their two moral powers, and to pursue their determinate conceptions of the good.«
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die Ereigniskette, aus der eine bestimmte Verteilungsstruktur resultiert. Der Verteilungsprozess kann normativen Regeln unterworfen sein. In diesem Fall sprechen wir von Regeln, Prinzipien oder Normen des Verteilungsprozesses. Die Verteilungsstruktur liegt in dem angegebenen Beispiel darin, über eine wie große Menge an Kuchen ein jedes Kind verfügt. Die Mutter könnte jedem Kind ein gleich großes Stück Kuchen geben. Sie könnte die Kuchenstücke aber auch in ihrer Größe oder Menge im Verhältnis zu einer bestimmten Eigenschaft austeilen: Das Kuchenstück des jeweiligen Kindes könnte dem Hunger, dem Alter, der Liebenswürdigkeit, der Qualität des Klavierspiels oder sonst einer Eigenschaft des Kindes entsprechen. Die Verteilungsstruktur kann normativen Regeln, wie etwa den angegebenen, unterworfen sein. Zusammenfassend können wir sagen: Die Verteilungsstruktur eines bestimmten Gutes zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gruppe besteht in der Zuordnung eines bestimmten Anteils oder einer bestimmten Menge des Gutes zu einer jeden Einzelperson oder zu einer jeden Teilgruppe.12 »Ein bestimmter Anteil« muss nicht durch absolute Zahlen ausgedrückt werden, sondern kann auch relativ, d.h. im Verhältnis zu einer anderen Gruppe oder einer anderen Einzelperson ausgedrückt werden. Z.B. Kind A verfügt über doppelt so viele Kuchenstücke wie Kind B. Eine Zuordnung von Güteranteilen zu den Einzelpersonen einer Gruppe nennen wir eine individuelle Verteilungsstruktur. Eine Zuordnung von Güteranteilen zu Teilgruppen einer Gruppe nennen wir eine kollektive Verteilungsstruktur. Die rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze Erörtern wir nun mithilfe dieser Unterscheidung die rawlsschen Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Diese umfassen einerseits Forderungen nach einer bestimmten gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstruktur der Grundfreiheiten, andererseits Forderungen nach einer bestimmten gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstruktur von Chancen und materiellen Gütern. Diese Verwendungsweise des Ausdrucks »Grundsätze sozialer Gerechtigkeit« ist nicht mit einer engeren Verwendungsweise zu verwechseln, wonach Grundsätze sozialer Gerechtigkeit allein Forderungen der Verteilung von Chancen und materiellen Gütern umfassen. Im Zweifelsfall sprechen wir im letzteren Fall von Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit im engeren Sinne. Bei Rawls finden sich beide Verwendungsweisen. Forderungen nach einer bestimmten gesamtgesellschaftlichen 12 Eine Verteilungsstruktur lässt sich damit auch als mathematische Funktion ausdrücken, also als Zuordnung von x-Werten zu y-Werten. Wir können daher auch von einer Verteilungsfunktion sprechen.
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Verteilung materieller Güter bezeichnen wir auch als Forderungen ökonomischer Gerechtigkeit. Erster Gerechtigkeitsgrundsatz Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz lautet: »Each person has the same indefeasible claim to a fully adequate scheme of equal basic liberties, which scheme is compatible with the same scheme of liberties for all[.]« (JF §13.1: 42)
Vier Aspekte sind für uns wichtig: Erstens: Wenn im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz von Freiheiten (liberties) die Rede ist, sind damit immer Grundfreiheiten resp. Grundrechte gemeint – etwa Meinungsfreiheit oder das aktive Wahlrecht. Das bedeutet freilich nicht, dass die Frage, welche Grundrechte im Lichte des Ideals der gerechten Gesellschaft zu realisieren sind, unumstritten ist. Im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz wird das nicht weiter erläutert. Rawls bemerkt jedoch, dass die geforderten Freiheiten durch eine Liste spezifiziert werden. So nennt er »freedom of thought and liberty of conscience; political liberties (for example, the right to vote and to participate in politics) and freedom of association, as well as the rights and liberties specified by the liberty and integrity (physical and psychological) of the person; and finally, the rights and liberties covered by the rule of law.« (JF §13.3: 44)
Zweitens: Die in der Liste angegebenen Rechte sind nicht als juridische Rechte, also etwa als Grundrechte einer Verfassung zu verstehen. Vielmehr handelt es sich um sog. Protorechte. Protorechte sind Bedingungen, welche die juridischen Grundrechte einer Verfassung erfüllen müssen, damit die Verfassung gerecht ist.13 Rawls verwendet den Terminus der Protorechte nicht. Jedoch geht er davon aus, dass die Grundrechte in einer gerechten Verfassung konkreter sind als die in der Liste angegebenen. Die in der Liste aufgeführten Rechte werden also nicht unmittelbar in eine Verfassung übernommen, vielmehr enthält eine gerechte Verfassung spezifischere Rechte. Insofern liegt es nahe, dass Rawls von einem ähnlichen Verhältnis ausgeht, wie es mithilfe des Ausdrucks »Protorechte« beschrieben wurde.14 13 Zur Idee der Protorechte, vgl. Hinsch 2010: 46–51. 14 Die Kriterien für eine angemessene Konkretisierung der Gerechtigkeitsgrundsätze in einer Verfassung entwickelt Rawls in der konstitutionellen Stufe (constitutional stage) des sog. Vier–Stufen–Gangs (four stage sequence), vgl. TJ §31: 171–176 und PL VIII §9: 334–340. Vgl. auch Freeman 2007: 200–209, Macleod 2014 und Mandle 2009: 76–78.
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Drittens: Es handelt sich beim ersten Gerechtigkeitsgrundsatz unserer Interpretation zufolge um ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit. Das muss hier betont werden, da vielfach von Verteilungsgerechtigkeit nur gesprochen wird, wenn es um Fragen ökonomischer Gerechtigkeit geht. Wir können dagegen mithilfe der oben erläuterten Unterscheidung sagen, dass der erste Gerechtigkeitsgrundsatz Forderungen an die Verteilungsstruktur von Grundrechten und Freiheiten formuliert. Das wird deutlich, wenn wir einige Ausdrücke hervorheben: »Each person has the same indefeasible claim to a fully adequate scheme of equal basic liberties, which scheme is compatible with the same scheme of liberties for all[.]« (JF §13.1: 42; Hervorhebungen JW)
Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz fordert im Wesentlichen, dass jeder Person das gleiche Schema angemessener Grundrechte zugeordnet wird. Es wird also in unserer Terminologie eine individuelle Verteilungsstruktur der Gleichheit gefordert. Viertens: Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz wird Rawls zufolge durch die Forderung ergänzt, den fairen Wert der gleichen politischen Freiheiten (fair value of the equal political liberties) zu sichern. Politische Freiheiten sind »bloß formal«, wenn die Bürger diese aufgrund von knappen Ressourcen nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten nutzen können. Der Wert der politischen Freiheiten ist gesichert, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: »[A]ll have a fair opportunity to hold public office and to affect the outcome of elections, and the like.« (JF §45.2: 149)
Jeder soll demnach die faire Chance haben, ein öffentliches Amt zu besetzen und den Ausgang von Wahlen zu beeinflussen. Das bedeutet unserer Interpretation zufolge, dass Bürger mit der gleichen Motivation resp. Bereitschaft und den gleichen Talenten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eine politische Position besetzen oder den Ausgang der Wahlen beeinflussen sollten.15 Zweiter Gerechtigkeitsgrundsatz Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz lautet: »Social and economic inequalities are to satisfy two conditions: first, they are to be attached to offices and positions open to all under conditions of fair equality of opportunity [the principle of fair equality of opportunity]; and second, they are to be to the greatest benefit of the least-advantaged members of society (the difference principle).« (JF §13.1: 42f.) 15 Zum rawlsschen Verständnis fairer Chancen, vgl. JF §13.2: 43f.
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Ein Beispiel für soziale Ungleichheiten sind sämtliche mit bestimmten Ämtern verbundene Privilegien. Professoren etwa haben das Privileg, für Forschungen in ihrem Gebiet regelmäßig entlohnt zu werden. Es handelt sich dabei um eine soziale Ungleichheit, da nicht jeder Bürger dieses Privileg hat. Unter ökonomischen Ungleichheiten verstehen wir hier ausschließlich Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz lässt sich in das Prinzip fairer Chancengleichheit (ChP) und das Differenzprinzip (DP) unterteilen. Das Prinzip der fairen Chancengleichheit Rawls unterscheidet zwischen formaler und fairer Chancengleichheit (formal und fair equality of opportunity).16 Formale Chancengleichheit lässt sich durch das Motto »careers open to talents«17 zusammenfassen. Damit ist m.E. gemeint, dass Ämter und Positionen in der Gesellschaft allein nach relevanten Kriterien wie Qualifikation und Erfahrung vergeben werden dürfen. Welche Kriterien relevant sind, ist freilich umstritten, und es muss sich auch nicht um einheitliche Kriterien für alle Ämter und Positionen handeln. Doch dass es irgendwelche relevanten Kriterien gibt, ist wohl nicht kontrovers. Faire Chancengleichheit erläutert Rawls folgendermaßen: »[S]upposing that there is a distribution of native endowments, those who have the same level of talent and ability and the same willingness to use these gifts should have the same prospects of success regardless of their social class of origin, the class into which they are born and develop until the age of reason. In all parts of society there are to be roughly the same prospects of culture and achievement for those similarly motivated and endowed.« (JF §13.2: 44)
Faire Chancengleichheit bedeutet unserer Interpretation zufolge, dass formale Chancengleichheit besteht und dass Personen mit der gleichen Motivation und den gleichen Talenten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eine begehrenswerte Position erreichen. Unter dem Ausdruck »Motivation« verstehen wir dabei die Bereitschaft, Anstrengungen und Entbehrungen zur Entwicklung von Talenten auf sich zu nehmen, sowie den Wunsch, eine bestimmte Position zu erreichen. Rawls spricht in der zitierten Passage nicht von begehrenswerten Positionen, sondern von Erfolg (success), Kultur (culture) und Errungenschaften (achievement). Dennoch bietet sich unsere Interpretation an: Zum einen werden begehrenswerte Positionen, d.h. Positionen, die mit Privilegien verbunden sind, 16 Vgl. JF §13.2: 43f. 17 JF § 13.2: 43.
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von Rawls zu den Grundgütern gezählt, Erfolg, Kultur und Errungenschaften dagegen nicht. Zum anderen spricht Rawls im zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz davon, dass soziale und ökonomische Ungleichheiten mit Ämtern und Positionen verknüpft sein sollten. Unserer Interpretation zufolge handelt es sich bei dem ChP um ein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit. Mithilfe unserer oben getroffenen Unterscheidung können wir die Forderung nach fairer Chancengleichheit nämlich auch folgendermaßen ausdrücken: Zum einen sollten Ämter und Positionen jedem Bürger offenstehen. Zum anderen sollte die individuelle Verteilungsstruktur von Ämtern und Positionen idealerweise der individuellen Verteilungsstruktur von Talent und Motivation resp. Bereitschaft entsprechen. Das Differenzprinzip Das DP besagt: »Social and economic inequalities […] are to be to the greatest benefit of the least-advantaged members of society[.]« (JF §13.1: 42f.)
Das DP soll nun etwas ausführlicher interpretiert werden, da Cohens Einwände sich vornehmlich auf dieses Prinzip der ökonomischen Gerechtigkeit beziehen.18 Drei Aspekte sind dabei für uns wichtig: Erstens: Das DP bewertet die Verteilungsstruktur von Vorteilen in einer Gesellschaft. Unter Vorteilen (benefit) verstehen wir dabei idealisierend allein materielle Güter. Unter materiellen Gütern wiederum verstehen wir idealisierend allein Einkommen und Vermögen. Diese Interpretation des DP ist nicht alternativlos. Sie bietet sich aber für unsere Auseinandersetzung mit Cohens Einwänden an, da Cohen sie allem Anschein nach ebenfalls vertritt.19 Wir beschränken uns der Einfachheit halber im Folgenden zumeist auf Einkommen. Zweitens: Wenn im Folgenden von den Schlechtestgestellten (worst off) resp. am wenigsten Begünstigten (least advantaged) die Rede ist, ist damit immer die Personengruppe gemeint, die in Bezug auf Einkommen und Vermögen am schlechtesten gestellt ist. Das Gleiche gilt analog für die Bessergestellten (better off) resp. Begünstigten (more advantaged). Schlechtestgestellt ist diejenige Personengruppe, die tendenziell 18 Damit ist keinesfalls eine umfassende Interpretation des DP beansprucht. Für detailliertere Interpretationen des DP vgl. Koller 1983, Parijs 2003 und Pogge 1989: 196–207. 19 Das geht aus den Beispielen Cohens hervor, insbesondere der KidnapperAnalogie und dem doctor-gardener-Beispiel. Auf die Beispiele gehe ich in 2.1 ausführlich ein. In Hinsch 2002: 8–11 wird ebenfalls diese Interpretation des DP vertreten.
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das geringste Lebenszeiteinkommen erhält. Unter Lebenszeiteinkommen verstehen wir die Summe aller Einkommen, die eine Person über ihr ganzes Leben hinweg verdient. Unter tendenziellen Lebenszeiteinkommen verstehen wir die Summe aller Einkommen, die eine Person, wenn sie einen bestimmten Karriereweg eingeschlagen hat, voraussichtlich verdienen wird.20 Drittens: Das DP sagt nichts darüber aus, was eine bestimmte Person – d.h. eine Person mit bestimmten Eigenschaften – für ein Einkommen erhalten sollte. Die am wenigsten Begünstigten sind eine Gruppe. »Mitglied« dieser Gruppe ist eine Person, wenn sie über ihr ganzes Leben hinweg tendenziell ein Einkommen in einem bestimmten Rahmen erhält.21 Es geht also allein um die tendenzielle kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen, man könnte auch sagen: um die tendenzielle Struktur von Einkommensklassen. Der Ausdruck »kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen« bezeichnet das Verhältnis zwischen Einkommensklassen oder aber eine Zuordnung von Durchschnittseinkommen zu Bevölkerungsgruppen. Ein solches Verhältnis kann in Aussagen ausgedrückt werden wie »die Bessergestellten verfügen tendenziell über ein dreimal so hohes Lebenszeiteinkommen wie die Schlechtestgestellten« oder »die untersten 50% verfügen durchschnittlich über Einkommen E1, die obersten 50% über E2«. Das DP fordert also eine bestimmte kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen. Es stellt dagegen nicht ausdrücklich Forderungen an den Verteilungsprozess. Dennoch werden in der rawlsschen Theorie solche Forderungen gestellt. Zwei Aspekte sind dabei für die Auseinandersetzung mit Cohens Einwänden wichtig: Erstens: Die Ereignisse, durch welche die dem DP entsprechende Verteilungsstruktur materieller Güter hervorgebracht werden soll, sind unzählige einzelne Transaktionen – z.B. Käufe und Verkäufe und andere Vertragsabschlüsse wie Arbeitsverträge oder Aufträge. Welche einzelnen 20 Vgl. zu dieser Interpretation Laden 2015: 215. Diese Interpretation wird auch durch Rawls selber nahegelegt, der in JF §12.4: 41 fragt: »[W]hat principles of justice are most appropriate to specify basic rights and liberties, and to regulate social and economic inequalities in citizens’ prospects over a complete life?« 21 Der Ausdruck »Mitglied« soll nicht suggerieren, eine Person wäre Mitglied einer Einkommensklasse, so wie sie etwa Mitglied eines Vereins ist. Mitglied eines Vereins wird eine Person durch ein geregeltes Beitrittsverfahren, »Mitglied« einer Merkmalsgruppe dagegen wird eine Person einfach dadurch, dass sie das jeweilige Merkmal erfüllt. Die Phrase »über ihr ganzes Leben hinweg« soll nicht suggerieren, dass eine Person von der Kindheit bis ins hohe Alter jeden Monat ein bestimmtes Einkommen erhält. Vielmehr soll damit die Summe aller Einkünfte bezeichnet werden, die eine Person in ihrem ganzen Leben tendenziell haben wird.
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Verträge dabei abgeschlossen werden, bleibt den Bürgern einer gerechten Gesellschaft selbst überlassen. Rawls geht davon aus, dass ein solches System freier Kooperation einem System der umfassenden zentralen Kontrolle des Wirtschaftslebens aus verschiedenen Gründen vorzuziehen ist. Der Hauptgrund liegt darin, dass in einem System unfreier Kooperation massive Freiheitsbeschränkungen vorgenommen werden, die mit den Interessen freier und gleicher Personen im rawlsschen Sinne nicht zu vereinbaren sind.22 Zweitens: Aus Abweichungen der Verteilungsstruktur von den Forderungen des DP ergeben sich keine individuellen Ansprüche auf Besitzstände anderer Personen, etwa derart, dass die reichste Person der ärmsten einen bestimmten Betrag zu überweisen hätte. Es wurde ja schon gesagt, dass es um tendenzielle Einkommenserwartungen geht. Wenn diese aufgrund von kaum vorhersehbaren Ursachen – etwa Umweltkatastrophen oder ökonomischen Fehleinschätzungen – frustriert werden, ergeben sich daraus keine individuellen Kompensationsansprüche. In diesem Fall sind jedoch die Regeln des Verteilungsprozesses gegebenenfalls auf eine solche Weise zu modifizieren, dass die erwartbaren Einkommen dem DP entsprechen: Wenn eine Änderung der relevanten Institutionen gemäß den besten vorhandenen Prognosen zu einer Verteilungsstruktur führt, die langfristig dem DP entspricht, so ist eine Änderung geboten. Eine Person hat also einen individuellen Anspruch auf ein solches Einkommen, wie es sich aus den einzelnen erlaubten Transaktionen, die sie tätigt, ergibt. Lebt sie in einer gerechten Gesellschaft, darf sie überdies erwarten, dass dieses Einkommen mindestens einem solchen Einkommen entspricht, wie es das DP fordert.23 Sie hat überdies im Lichte der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit einen Anspruch, in einem System von Institutionen zu leben, das nach den besten verfügbaren Prognosen dazu führt, dass eine dem DP entsprechende Verteilungsstruktur von Einkommen realisiert wird. Dabei mögen solche Prognosen in den Wirtschaftswissenschaften hochumstritten sein. Gleichwohl müssen wir von einer gewissen Prognostizierbarkeit ausgehen. Ansonsten würden sämtliche verschiedene Wirtschaftssysteme bloß zufällig zu bestimmten Verteilungsstrukturen führen. Aufgrund der Realisierbarkeitsbedingung wären Forderungen ökonomischer Gerechtigkeit jedoch dann sinnlos. Zusammenfassend: Einkommen und Vermögen werden in Übereinstimmung mit den entsprechenden institutionellen Regelungen erworben. 22 Rawls unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen freier und unfreier Kooperation. Der Sache nach findet sich die Unterscheidung aber in seiner Beschreibung fairer Kooperation, vgl. JF §2.2: 6. Auf die Unterscheidung gehe ich in 3.2 näher ein. 23 Vgl. hierzu Rawls’ Ausführungen zu »legitimen Ansprüchen und gerechtfertigten Erwartungen«, vor allem in JF§ 20.1: 72.
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Beispiele sind hier das Steuersystem oder das Vertragsrecht. Personen haben einen legitimen Anspruch auf dasjenige Einkommen und dasjenige Vermögen, das sie in Übereinstimmung mit den entsprechenden gerechten institutionellen Regeln erhalten haben. Die Regeln sind dann gerecht, wenn sie tendenziell dazu führen, dass die Verteilungsstruktur von materiellen Gütern dem DP entspricht. Verfahrensgerechtigkeit und die Verteilung materieller Güter Rawls hat die Anforderungen an den Verteilungsprozess und die Verteilungsstruktur materieller Güter auf zwei weitere Weisen erläutert: Mithilfe seiner Unterscheidung zwischen (un)vollkommener und reiner Verfahrensgerechtigkeit sowie durch eine Abgrenzung dieser Anforderungen von der Idee allokativer Gerechtigkeit. Rawls’ Ausführungen sollen nun erläutert und interpretiert werden, da sie wesentlich für das Verständnis der hier relevanten Aspekte des DP sind.24 Rawls unterscheidet verschiedene Arten der Verfahrensgerechtigkeit. Der Ausdruck »Verfahrensgerechtigkeit« ist dabei irreführend. Treffender ist die Bezeichnung »Verfahrensadäquatheit« oder »Verfahrensangemessenheit«, denn es geht m.E. um eine Bewertung der Angemessenheit eines Verfahrens.25 Wir behalten jedoch die rawlssche Terminologie bei, da sie sich inzwischen durchgesetzt hat. Vollkommene Verfahrensgerechtigkeit (perfect procedural justice) liegt vor, wenn ein Verfahren – d.h. irgendeine Art von geregeltem Prozess26 – ein völlig zuverlässiges Mittel zur Erreichung irgendeines Zweckes ist. Das Verfahren wird also genau dann als adäquat bewertet, wenn es ein absolut zuverlässiges Mittel zur Erreichung des Ergebnisses ist. Das Ergebnis selbst wird dagegen nach einem anderen Maßstab bewertet. Vollkommene Verfahrensgerechtigkeit ist lediglich ein Grenzfall unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit. Unvollkommene Verfahrensgerechtigkeit (imperfect procedural justice) liegt dann vor, wenn das Verfahren nicht völlig zuverlässig ist, um 24 Rawls’ Erörterungen zur Verfahrensgerechtigkeit und zu allokativer Gerechtigkeit finden sich in TJ §14: 76f. 25 Das geht daraus hervor, dass Rawls auch den Urzustand als einen Fall reiner Verfahrensgerechtigkeit beschreibt, vgl. TJ §20: 104, §24: 118 und PL II §5.2: 72. Das Ergebnis des Verfahrens des Urzustands sind die Gerechtigkeitsgrundsätze. Die Gerechtigkeitsgrundsätze geben den Maßstab für eine gerechte Grundstruktur an. Sie sind jedoch nicht ihrerseits gerecht oder zumindest in einem anderen Sinne gerecht als die Grundstruktur, die sie bewerten. 26 Ich spreche von einem geregelten Prozess, um den Begriff des Verfahrens möglichst weit zu fassen, es geht jedoch vornehmlich um geregelte Handlungsabläufe.
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den angestrebten Zweck zu erreichen. Als Beispiel nennt Rawls faire Gerichtsverfahren. Es kommt vor, dass Unschuldige verurteilt und Schuldige freigesprochen werden. Daher handelt es sich um ein nicht völlig zuverlässiges Verfahren. Ein weiteres Beispiel für unvollkommene Verfahren sind Kochrezepte. Die Adäquatheit eines Kochrezeptes wird allein daran gemessen, wie gut es seinen Zweck erfüllt. Dabei handelt es sich offensichtlich um ein nicht gänzlich zuverlässiges Verfahren, da auch die strikte Befolgung eines Kochrezepts nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Reine Verfahrensgerechtigkeit (pure procedural justice) liegt dagegen dann vor, wenn kein vom Verfahren unabhängiger Bewertungsmaßstab für die Adäquatheit des Ergebnisses gegeben ist.27 Rawls nennt Glücksspiele als Beispiel. Aber auch Feldspiele wie Fußball können als Beispiel dienen. Die Frage, welche Mannschaft gewonnen hat, hängt allein vom »Verfahren«, d.h. dem tatsächlich stattfindenden, regelgemäßen Spiel ab.28 Auch das Verfahren deduktiven Schließens lässt sich als ein solches reiner Verfahrensgerechtigkeit resp. -adäquatheit beschreiben: Die Wahrheit der Prämissen und die Verwendung logischer Schlussregeln garantiert im Falle gültiger Schlüsse die Wahrheit der Konklusion. Rawls fordert nun, dass der Verteilungsprozess materieller Güter in einer Gesellschaft ein solcher reiner Verfahrensgerechtigkeit sei. In JF charakterisiert er ihn auch als »reine Hintergrundverfahrensgerechtigkeit«29 (pure background procedural justice): »In a well-ordered society […] the distribution of income and wealth illustrates what we may call pure background procedural justice. The basic structure is arranged so that when everyone follows the publicly recognized rules of cooperation, and honors the claims the rules specify, the particular distributions of goods that result are acceptable as just (or at least as not unjust) whatever these distributions turn out to be.« (JF §14.2: 50) 27 TJ §14: 75: »[P]ure procedural justice obtains when there is no independent criterion for the right result: instead there is a correct or fair procedure such that the outcome is likewise correct or fair, whatever it is, provided that the procedure has been properly followed.« 28 TJ §14: 75: »A distinctive feature of pure procedural justice is that the procedure for determining the just result must actually be carried out; for in these cases there is no independent criterion by reference to which a definite outcome can be known to be just.« Man beachte jedoch, dass Rawls auch den Urzustand als einen Fall anführt, in dem reine Verfahrensgerechtigkeit realisiert wird. Beim Urzustand handelt es sich um ein Gedankenexperiment. Und in diesem Fall bleibt es unklar, was es heißt, dass das Verfahren tatsächlich ausgeführt werden muss. 29 JF (deutsch): 89.
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Gemeint ist m.E. Folgendes: Individuelle Ansprüche auf Einkommensoder Vermögensanteile sind allein unter Bezugnahme auf einen tatsächlich erfolgten Prozess rechtfertigbar. Es handelt sich um einen Fall reiner Verfahrensgerechtigkeit. Die Gerechtigkeit der individuellen Verteilungsstruktur materieller Güter, also der Zuordnung von Güteranteilen an Einzelpersonen, kann nämlich allein unter Bezugnahme auf das Verfahren, d.h. die einzelnen Transaktionen, die zu der entsprechenden Zuordnung geführt haben, bewertet werden. Gemäß der Idee der reinen Verfahrensgerechtigkeit lässt sich die Adäquatheit resp. Gerechtigkeit des Ergebnisses nicht unabhängig von dem Prozess, der zu dem Ergebnis geführt hat, bewerten: »There is no criterion for a just distribution apart from background institutions and the entitlements that arise from actually working through the procedure. It is background institutions that provide the setting for fair cooperation within which entitlements arise.« (JF §14.2: 51)
Es handelt sich um reine Hintergrundverfahrensgerechtigkeit, da die Institutionen, um die es geht, der Grundstruktur (basic structure) zugerechnet werden, deren in Hinsicht auf die Verteilung materieller Güter relevanten Teil Rawls bisweilen auch als Hintergrundinstitutionen (background institutions) bezeichnet: »The word »background« in the phrase »background procedural justice« […] is intended to indicate that certain rules must be included in the basic structure as a system of social cooperation so that this system remains fair over time, from one generation to the next.« (JF §14.3: 51)
Doch widerspricht das nicht dem zuvor Gesagten? Das DP bewertet unserer Interpretation zufolge die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen. Der Verteilungsprozess materieller Güter sollte so eingerichtet werden, dass tendenziell eine dem DP entsprechende Verteilungsstruktur realisiert wird. Betrachten wir den Verteilungsprozess auf diese Weise, handelt es sich um ein Mittel zur bestmöglichen Realisierung eines bestimmten Ergebnisses und damit um einen Fall unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit. Der scheinbare Widerspruch lässt sich beheben, indem wir zwischen zwei Fragestellungen unterscheiden. Erstens: Stellen wir uns die Frage, ob alle Einzelpersonen gerechterweise über den Güteranteil verfügen, über den sie tatsächlich verfügen, so lässt sich diese Frage nur beantworten, indem wir den tatsächlichen Verteilungsprozess betrachten. Anders ausgedrückt: Wir können fragen, ob die individuelle Verteilungsstruktur von Einkommen, die tatsächlich besteht, gerecht ist. Die individuelle Verteilungsstruktur von Einkommen ließe sich z.B. in einer Liste der Einzelpersonen und ihrer absoluten oder relativen Einkommen darstellen: Person P1 besitzt ein Einkommen E1; Person P2 besitzt ein Einkommen E2 etc. Die Gerechtigkeit der individuellen Verteilungsstruktur ist eine Frage reiner Verfahrensgerechtigkeit: Wenn alle Bürger 30
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den institutionellen Regeln gemäß handeln, dann ist die individuelle Verteilungsstruktur gerecht, worin auch immer sie besteht. Zweitens: Wir können jedoch ebenfalls fragen, ob der Prozess der Verteilung materieller Güter – und das heißt, die entsprechenden in stitutionellen Regeln der Grundstruktur – selber gerecht ist. Diese Frage können wir nur beantworten, indem wir prüfen, ob der Prozess ein geeignetes Mittel darstellt, tendenziell eine dem DP entsprechende kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen hervorzubringen. Das DP bewertet demzufolge nicht unmittelbar die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter. Es bewertet vielmehr die institutionellen Regeln der Grundstruktur im Hinblick darauf, ob sie tendenziell zu einer kollektiven Verteilungsstruktur materieller Güter führen, bei der die Position der Schlechtestgestellten möglichst gut ist. Die kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen ließe sich z.B. in einer Liste von Einkommensgruppen und deren absolutem oder relativem Einkommen darstellen: Die untersten 10% besitzen durchschnittlich ein Einkommen E1, die nächsten 10% ein Einkommen E2 etc.30 Die institutionellen Regeln der Grundstruktur stellen also im Sinne der unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit ein Mittel zur Herstellung einer dem DP entsprechenden kollektiven Verteilungsstruktur materieller Güter dar. Ist ein solches institutionelles Arrangement gegeben, ist die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter als Ergebnis unzähliger Einzeltransaktionen gerecht. Es gibt im Sinne der reinen Verfahrensgerechtigkeit keinen vom Verfahren unabhängigen Maßstab zur Bewertung der individuellen Verteilungsstruktur materieller Güter.31 Das Ergebnis sei nun noch einmal in Übersicht zusammengefasst:
30 Es ist eine schwierige Frage, die ich hier nur ansprechen möchte, wie diese Liste genau zu gestalten ist. Sollte man entsprechend der rawlsschen Idee nur zwei Gruppen – die Bessergestellten und die Schlechtestgestellten – unterscheiden? Oder sollte man die Gesellschaft in Dezile, Quartile oder Ähnliches einteilen? 31 Vgl. dazu auch Hinsch o.J.: 7–11. Dort wird darauf hingewiesen, dass die Bewertung der Verteilungsstruktur materieller Güter teils nach Maßstäben reiner und teils nach Maßstäben unvollkommener Verfahrensgerechtigkeit vorgenommen wird. Hinsch nimmt jedoch an, dass DP bewerte unmittelbar die Verteilung materieller Güter in einer Gesellschaft. Dadurch kann der Fall auftreten, dass die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter gerecht ist und damit jede Person einen Anspruch auf die Güter hat, die sie besitzt, und dass gleichzeitig die kollektive Verteilungsstruktur materieller Güter dem DP zufolge ungerecht ist. Dieses Problem umgehe ich, indem ich wie Rawls annehme, das DP bewerte allein die gesellschaftliche Grundstruktur – und zwar unter anderem im Hinblick darauf, welche kollektive Verteilungsstruktur materieller Güter sie tendenziell – und eben nicht notwendigerweise
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(1) Eine individuelle Verteilungsstruktur von Einkommen ist gerecht genau dann, wenn jede Person einen Anspruch auf das Einkommen hat, über das sie verfügt. (2) Eine Person hat einen Anspruch auf das Einkommen, über das sie verfügt, genau dann, (a) wenn sie das Einkommen im Einklang mit den geltenden institutionellen Regeln erworben hat und (b) wenn die geltenden institutionellen Regeln solche sind, die einen gerechten Verteilungsprozess ermöglichen. (3) Institutionelle Regeln ermöglichen einen gerechten Verteilungsprozess genau dann, (a) wenn sie tendenziell zu einer gerechten kollektiven Verteilungsstruktur von Einkommen führen und (b) wenn sie den Anforderungen des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes sowie des ChP entsprechen. (4) Die kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen ist gerecht genau dann, wenn sie dem DP entspricht. Allokative Gerechtigkeit und die Verteilung materieller Güter Wenden wir uns nun der Abgrenzung der Forderungen ökonomischer Gerechtigkeit von den Prinzipien allokativer Gerechtigkeit (allocative justice) zu. Prinzipien allokativer Gerechtigkeit beantworten die Frage, »how a given bundle of commodities is to be distributed, or allocated, among various individuals whose particular needs, desires, and preferences are known to us, and who have not cooperated in any way to produce those commodities.« (JF §14.1: 50)
Wir sollten demnach auf Überlegungen allokativer Gerechtigkeit zurückgreifen, wenn Güter auf Personen zu verteilen sind, welche diese Güter nicht produziert haben und deren Bedürfnisse und Wünsche wir kennen. auch faktisch – erzeugt. Vgl. dazu etwa JF §14.1: 50. Unsere Ausführungen beantworten auch die Frage, wieso es eines faktischen Verteilungsprozesses bedarf, um zu bewerten, ob die individuelle Verteilungsstruktur von Einkommen gerecht ist. Liam B. Murphy, dem die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Verteilungsstruktur noch nicht zur Verfügung stand, übersieht diesen Punkt, wenn er schreibt: »It is true that compared to a criterion of justice that distributes goods to definite individuals with known desires and preferences the difference principle is a principle of pure procedural justice. But that does not mean that a fair distribution, in the relevant sense of a distribution of primary social goods in accordance with the difference principle, can be arrived at only by the actual working of a fair social process over time.« (Murphy 1998: 287)
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Nach welchen Maßstäben wir die Güter dann gerechterweise verteilen, können wir uns anhand eines Beispiels klarmachen: Eine Großmutter möchte ihren siebzehn Enkelkindern Weihnachtsgeschenke machen. Hat sie dafür bestimmte Gegenstände reserviert, so stellt sich die Frage, welches Kind wie viele oder welche Gegenstände erhalten sollte. Das Enkelkind im Säuglingsalter wird sicher nichts mit Opas altem Motorrad anfangen können und ein älteres verarmtes Enkelkind hat eher eine Geldspritze denn die Sammlung der schönsten Gesellschaftsspiele nötig. In solchen Fällen halten wir also oftmals eine Verteilung für gerecht, bei der die Bedürfnisse und Wünsche der Personen berücksichtigt werden. Im Falle ökonomischer Gerechtigkeit geht es dagegen um die Frage, auf welche Weise die grundlegenden Regeln der wirtschaftlichen Kooperation gestaltet werden sollten. Dafür können die tatsächlichen Präferenzen, Bedürfnisse und Wünsche der Bürger Rawls zufolge kein grundlegendes Kriterium abgeben. Denn sie sind teilweise eine Folge der spezifischen Gestaltung des Institutionensystems. Rawls sagt: »[A]n economic regime […] is not only an institutional scheme for satisfying existing desires and aspirations but a way of fashioning desires and aspirations in the future.« (PL VII §5: 269)
Demnach hat ein ökonomisches System (economic regime) Einfluss auf die Wünsche und Bestrebungen (desires and aspirations) der Bürger. Wären also die Regeln der wirtschaftlichen Kooperation andere, dann würden auch andere Wünsche und Bedürfnisse aufkommen. Das DP als Prinzip ökonomischer Gerechtigkeit ist damit auf zweifache Weise von der Idee der allokativen Gerechtigkeit abzugrenzen. Es hat erstens einen anderen Gegenstand: Das DP bewertet die grundlegenden institutionellen Regeln der Gesellschaft, nach denen wir im wirtschaftlichen Bereich kooperieren. Und zweitens bewertet es nach anderen Kriterien: Die tatsächlichen Bedürfnisse, Wünsche und Präferenzen der Bürger spielen bei der Bewertung, die wir mithilfe des DP vornehmen, keine Rolle. Wir haben einige Aspekte der rawlsschen Theorie erläutert und interpretiert, die im Folgenden immer wieder eine Rolle spielen. Rawls sucht unserer Interpretation zufolge nach dem Ideal einer gerechten Gesellschaft, das sich planvoll und kontrolliert realisieren lässt. Eine Gesellschaft entspricht diesem Ideal, wenn die grundlegenden Institutionen der Gesellschaft den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechend eingerichtet sind. Die Gerechtigkeitsgrundsätze formulieren Forderungen an die Verteilungsstruktur verschiedener Güter. Mit Blick auf das DP haben wir erläutert, dass die rawlssche Theorie auch Forderungen an den Verteilungsprozess materieller Güter umfasst.
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1.2 Institutionen als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit In diesem Kapitel erörtere ich die These von Rawls, die Grundstruktur – also das System der grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft – sei der Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. Dazu wird zuerst die Redeweise von dem Gegenstand eines moralischen Prinzips erläutert. Dabei sind Gerechtigkeitsprinzipien Beispiele für moralische Prinzipien. Dann sollen beispielhaft Institutionen einer gerechten Grundstruktur angeführt werden. Eine lediglich intuitive Aufzählung von Beispielen erweist sich jedoch als unzureichend. Daher soll im weiteren Verlauf des Kapitels der Begriff der Grundstruktur näher bestimmt werden. Dazu wird zunächst der rawlssche Begriff der Institution erläutert. Anschließend wird die moralische Bewertung von Institutionen von der moralischen Bewertung der Handlungen von Einzelpersonen unterschieden. Neben Institutionen spricht Rawls auch von privaten Vereinigungen. Dazu zählen Firmen, Clubs und Vereine ebenso wie Religionsgemeinschaften. Im letzten Teil des Kapitels wird erörtert, was unter privaten Vereinigungen zu verstehen ist. Es wird außerdem geprüft, ob private Vereinigungen zur Grundstruktur gehören. Dabei zeigt sich, dass private Vereinigungen zwar nicht Teil einer gerechten Grundstruktur, wohl aber Teil einer ungerechten Grundstruktur sein können. Der Begriff der Grundstruktur sollte daher private Vereinigungen nicht definitorisch ausschließen. Der Gegenstand eines moralischen Prinzips Die Redeweise vom Gegenstand eines moralischen Prinzips ist folgendermaßen zu verstehen: Der Gegenstand eines Prinzips ist das, was wir untersuchen müssen, wenn wir wissen wollen, ob die Forderungen des Prinzips erfüllt werden oder nicht. Der Gegenstand eines Prinzips ist m.a.W. das, was dieses Prinzip bewertet. Der Gegenstand des Prinzips »Du sollst nicht töten.« sind die Handlungen von Personen, und zwar von jeder Person. Das Prinzip bewertet die Handlungen von Einzelpersonen und nicht etwa deren Gedanken, Absichten oder Haltungen. Der Gegenstand der rawlsschen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ist die Grundstruktur. Diese charakterisiert Rawls als »the way in which the main political and social institutions of society fit together into one system of social cooperation[.]« (JF §4.1: 10)
Die Grundstruktur besteht also in den grundlegenden politischen und sozialen Institutionen und diese bilden in irgendeiner Weise ein System. Wir lassen zunächst den Aspekt außer Acht, dass von einem System der sozialen Kooperation (system of social cooperation) die Rede ist. Außerdem 34
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sprechen wir im Folgenden abkürzend von dem System der grundlegenden Institutionen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bewerten also die Grundstruktur – und sonst nichts. Eine Gesellschaft ist vollkommen gerecht, wenn die Grundstruktur den Gerechtigkeitsprinzipien entsprechend eingerichtet ist. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bewerten nicht die Handlungen von Einzelpersonen und auch nicht deren Gedanken, Absichten oder Haltungen; sie bewerten auch nicht Institutionen, die nicht zur Grundstruktur gehören, wie etwa den Kunstmarkt, oder private Vereinigungen wie Firmen, Religionsgemeinschaften oder Clubs. So ist die Gerechtigkeit einer Firma Rawls zufolge nicht davon abhängig, ob ihre Lohnstruktur dem DP entspricht. Ebenso wenig ist die Gerechtigkeit einer Firma davon abhängig, ob ihre Mitglieder versuchen, die Einkommensstruktur in der Gesamtgesellschaft im Sinne des DP zu beeinflussen. Rawls formuliert es folgendermaßen: »Since justice as fairness starts with the special case of the basic structure, its principles regulate this structure and do not apply directly to or regulate internally institutions and associations within society.« (JF §4.2: 10)
Das heißt nicht, dass die Prinzipien der Gerechtigkeit völlig irrelevant sind, wenn es um die Bewertung anderer Gegenstände als den der Grundstruktur geht. Ob eine Einzelperson alles in allem richtig handelt, ist auch davon abhängig, ob sie sich an die Regeln einer gerechten Grundstruktur hält oder eine solche befördert. Die Prinzipien zur Bewertung der Handlungen von Einzelpersonen sind also nicht völlig unabhängig von den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit. Sie sind aber eben auch nicht identisch. Das Gleiche gilt für private Vereinigungen wie z.B. ein Laienorchester. Legen die Regeln des Orchesters fest, dass der Dirigent die Instrumentalisten einsperren oder körperlich bestrafen darf, wenn diese einen falschen Ton spielen, dann sind diese Regeln ungerecht. Denn Prinzipien sozialer Gerechtigkeit fordern eine Verfassung, welche jedem die gleichen Grundrechte und Freiheiten – wie etwa das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit – garantiert und die Gerechtigkeit von privaten Vereinigungen wird auch daran bemessen, ob sie gegen eine gerechte Verfassung verstoßen oder nicht. Die Gerechtigkeitsprinzipien für die Grundstruktur können also durchaus auch für die Gerechtigkeit einer privaten Vereinigung relevant sein. Es handelt sich jedoch nicht um die gleichen Prinzipien. Das ist m.E. gemeint, wenn Rawls davon spricht, dass private Vereinigungen sich innerhalb der Grundstruktur befinden: »The basic structure is the background social framework within which the activities of associations and individuals take place.« (JF §4.1: 10; Hervorhebung JW)
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Beispiele für Institutionen der Grundstruktur Rawls behauptet also, die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft seien der Gegenstand der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit. Was aber ist unter den grundlegenden politischen und sozialen Institutionen zu verstehen? Es liegt nahe, nach Institutionen zu suchen, durch welche die Forderungen der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit erfüllt werden können. Wir werden nun beispielhaft erwägen, welche Institutionen das sein könnten. Jeder Bürger hat unserer Interpretation des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes zufolge einen moralischen Anspruch auf ein System gleicher juridischer Grundfreiheiten. Diese Grundfreiheiten werden durch die Institution einer Verfassung garantiert. Die Grundfreiheiten müssen darüber hinaus mittels anderer Institutionen durchgesetzt werden. Das Justiz- und das Polizeisystem sind hierfür naheliegende Beispiele. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz umfasst das ChP und das DP. Das ChP besagt unserer Interpretation zufolge, dass formale Chancengleichheit besteht und dass gleich motivierte und talentierte Personen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eine Position erreichen, die sie erstreben. Das ChP stellt offensichtlich Anforderungen an die verschiedenen Institutionen des Bildungssystems, auch wenn Rawls diese nicht in seinen Beispielen für Institutionen der Grundstruktur nennt.32 Aber auch die Institution der Familie kann von Forderungen des ChP betroffen sein, denn die Familie ist zumindest in unserer Gesellschaft eine Institution, durch die Qualifikationsmöglichkeiten geschaffen oder behindert werden. Das DP fordert unserer Interpretation zufolge eine kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen, durch welche die Position der Schlechtestgestellten maximiert wird. Die Institutionen des Wirtschaftssystems – resp. die Struktur der Wirtschaft (structure of the economy) – und des Steuersystems sind im Lichte des DP einzurichten. Darüber hinaus muss die Institution des Vertragsrechts bestehen, um einen gerechten Verteilungsprozess von Einkommen und Vermögen zu gewährleisten. Die angegebenen Beispiele sollten eine Idee davon geben, welche Institutionen Rawls der Grundstruktur zurechnet. Es handelt sich um Institutionen, die im Bereich des Politischen und Sozialen grundlegend sind und es handelt sich wohl um Institutionen, welche die Forderungen der Gerechtigkeitsgrundsätze erfüllen können. Die bloße Aufzählung von intuitiv einleuchtenden Beispielen reicht jedoch zur Erläuterung des Begriffs der Grundstruktur nicht aus. Eine Aufgabe des Gerechtigkeitsideals 32 Rawls’ Beispiele für Institutionen der Grundstruktur finden sich in JF §4.1: 10: »The political constitution with an independent judiciary, the legally recognized forms of property, and the structure of the economy (for example, as a system of competitive markets with private property in the means of production), as well as the family in some form[.]«
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besteht nämlich darin, uns dabei zu helfen, unsere Gesellschaft gerechter zu machen. Und die Gerechtigkeit der Gesellschaft bemisst sich Rawls zufolge an der Gerechtigkeit der Grundstruktur. Um die Gerechtigkeit unserer Gesellschaft zu befördern, müssen wir möglichst genau wissen, welche Institutionen zur Grundstruktur gehören und im Lichte der Gerechtigkeitsgrundsätze reformierungsbedürftig sind. Es ist ja nicht so, als ob wir uns darüber einig seien, auf welche Weise wir unsere Gesellschaft gerechter machen können und welche Institutionen dafür zu reformieren sind. Das Gerechtigkeitsideal soll zumindest eine argumentative Grundlage für eine solche Einigkeit bieten. Dass die angegebenen Beispiele nicht diese Aufgabe des Gerechtigkeitsideals erfüllen, können wir anhand des Beispiels der Struktur der Wirtschaft darlegen. Gehören etwa einzelne Firmen zur Wirtschaftsstruktur und sind damit Teil der Grundstruktur? Rawls verneint das. Er sagt, die Struktur der Wirtschaft könne z.B. in einem »System konkurrierender Märkte mit Privateigentum an den Produktionsmitteln«33 bestehen. Das klingt, als seien mit der Wirtschaftsstruktur lediglich allgemeine Regeln der Produktion und Verteilung von Gütern gemeint, nicht aber einzelne Firmen. Aber überzeugt die rawlssche Position? Nehmen wir an, eine Firma trage einen sehr großen Anteil zum BIP eines Landes bei. Eine solche Firma hat damit auch die Möglichkeit, kontrollierten Einfluss auf die Einkommensstruktur des Landes zu nehmen. Angesichts der Forderungen des DP zur Gestaltung der Einkommensstruktur fragt es sich also, ob eine solche Firma sinnvollerweise als Teil der Grundstruktur betrachtet werden sollte oder nicht. Wir benötigen einen explizierten Begriff der Grundstruktur, um solche Fragen kriteriengeleitet beantworten zu können. Die Grundstruktur besteht aus den grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft. Ist eine Firma überhaupt eine Institution? Viele würden zögern, den Ausdruck so zu verwenden. Und wird nicht bei Rawls zunächst einmal definitorisch ausgeschlossen, dass einzelne Firmen zur Grundstruktur gehören, einfach aus dem Grund, dass sie private Vereinigungen und keine Institutionen sind? Um den Begriff der Grundstruktur zu klären und damit auch die Frage, welche Institutionen gegebenenfalls reformierungsbedürftig sind, müssen wir zunächst die rawlssche Verwendungsweise des Ausdrucks »Institution« erläutern. Im Zuge dessen werden wir auch klären, was es heißt, dass die Institutionen der Grundstruktur ein System bilden. Auf die Frage, ob private Vereinigungen zur Grundstruktur gehören können, kommen wir am Ende dieses Kapitels zurück.
33 JF (deutsch): 32.
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Der Begriff der Institution Im Folgenden gehen wir also der Frage nach, was unter einer Institution zu verstehen ist. Dabei geht es mir vorrangig darum, zu erläutern, wie Rawls den Begriff der Institution verwendet. Es ist dieser spezifischen Aufgabenstellung geschuldet, dass eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen Arbeiten zum Begriff der Institution hier nicht erforderlich und auch nicht zweckmäßig ist. Als Fachterminus lässt sich die Angemessenheit des Begriffs der Institution ja lediglich danach bewerten, ob er in Hinsicht auf die jeweilige Frage- und Aufgabenstellung zweckmäßig ist. Weithin bekannt sind etwa die Begriffsbestimmungen von John Searle, Peter L. Berger/Thomas Luckmann und vielleicht auch Hartmut Esser. Doch wir können diese hier vernachlässigen, da die angeführten Autoren gänzlich andere Fragestellungen verfolgen. Searle fragt, wie es sein kann, dass eine Welt, die nach verbreiteter Auffassung lediglich aus physischen Fakten besteht, offensichtlich auch nicht-physische Dinge wie Geld, Cocktailpartys und Regierungen – Institutionen in seinem Gebrauch des Ausdrucks – umfasst. 34 Berger/ Luckmann wollen nachweisen, dass die Wirklichkeit sozial konstruiert ist,35 den Ausdruck »Institution« verwenden sie ungefähr im Sinne von »Verhaltensmuster«.36 Esser gebraucht »Institution« als Oberbegriff für Normen, Rollen und sog. soziale Drehbücher und möchte das soziale Geschehen erklären.37 Auch das Historische Wörterbuch der Philosophie konstatiert: »Die Verwendung des Begriffs [Institution] in der wissenschaftlichen Umgangssprache ist von einer kaum präzisierbaren Allgemeinheit.«38
Eine »kaum präzisierbare Allgemeinheit« meint hier, dass sich keine einheitliche Verwendungsweise des Ausdrucks »Institution« nachweisen lässt. Die hier versuchte Erläuterung kann also kaum den Anspruch erheben, sämtliche Bedeutungen des Ausdrucks in der Wissenschaftssprache zu berücksichtigen.39 Ebenso wird nicht versucht, das »wahre« Ver34 Vgl. Searle 1996: xi. Für Beispiele und eine Erläuterung des Begriffs der institutionellen Tatsache, vgl. auch Searle 2010: 91f. 35 Berger/Luckmann 1969: 1. 36 Berger/Luckmann 1969: 58f. 37 Es verwundert daher auch nicht, dass er den Ausdruck weitaus allgemeiner definiert als Rawls: »Eine Institution sei […] eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen.« (Esser 2000: 2; Hervorhebungen im Original) 38 Dubiel 1976: 418. 39 Seumas Miller dagegen beansprucht, eine typische Definition gefunden zu haben (Miller 2014: Abs. 1). Angesichts der wenigen Beispiele sollte allerdings das Gegenteil schon deutlich geworden sein.
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ständnis von Institutionen gefunden zu haben. Letzteres Unterfangen ist insbesondere bei einem terminus technicus kaum erfolgversprechend. Nun ist der Ausdruck »Institution« auch in der Alltagssprache gebräuchlich. Hier handelt es sich wohl um das häufiger auftretende Phänomen, dass ursprünglich technische Ausdrücke aus der Wissenschaft in die Alltagssprache »herabsinken«. Insofern ist eine gewisse Vorsicht geboten, wenn man den wissenschaftlichen Gebrauch mit der alltäglichen Redeweise in Einklang zu bringen sucht. Der rawlssche Begriff der In stitution weist dennoch gewisse Übereinstimmungen mit der alltäglichen Verwendungsweise des Ausdrucks auf. Wir beschränken uns im Folgenden also darauf, den Begriff der Institution, wie Rawls ihn verwendet, näher zu erläutern. Da eine Aufgabe dieses Buches darin besteht, den rawlsschen Begriff der Grundstruktur systematisch zu entfalten, sollte eine solche Vorgehensweise einleuchten. In TJ definiert Rawls den Begriff der Institution folgendermaßen: »[B]y an institution I shall understand a public system of rules which defines offices and positions with their rights and duties, powers and immunities, and the like. These rules specify certain forms of action as permissible, others as forbidden; and they provide for certain penalties and defenses, and so on, when violations occur.« (TJ §10: 47f.)
Als Beispiele für Institutionen nennt er »games and rituals, trials and parliaments, markets and systems of property.« (TJ §10: 48)
Erläutern wir die rawlssche Definition zunächst. Dazu sechs Punkte: Erstens: Regelsystem (system of rules). Der Ausdruck »Regel« ist hier im Sinne von Handlungsvorschrift, -erlaubnis oder -verbot zu verstehen. Es geht nicht um beobachtbare Regelmäßigkeiten im menschlichen Verhalten, sondern um Vorgaben, Erlaubnisse und Verbote. Zweitens: Ämter und Positionen (offices and positions). Nicht alle Regeln, die in einer noch zu erläuternden Hinsicht ein System ausmachen, bilden Institutionen, sondern nur solche, durch die Ämter und Positionen zugewiesen werden. Der Ausdruck »Ämter und Positionen« ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen. So ist etwa das Schachspiel eine In stitution. Es gibt zwei »Ämter« – Spieler Weiß und Spieler Schwarz – mit verschiedenen Rechten und Pflichten. Weiß hat etwa im Gegensatz zu Schwarz die Pflicht, das Spiel zu eröffnen. Drittens: Öffentliches Regelsystem (public system of rules). Die Regeln einer Institution sind Gegenstand öffentlichen Wissens. Das erläutert Rawls folgendermaßen: »A person taking part in an institution knows what the rules demand of him and of the others. He also knows that the others know this and that they know that he knows this, and so on.« (TJ §10: 48) 39
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Eine Person P1, die an einer Institution teilnimmt (take part), kennt die Rechte und Pflichten, die mit ihrer Position und den Positionen der anderen Teilnehmer P2–n der Institution verbunden sind. P1 weiß überdies, dass P2–n die Rechte und Pflichten aller Positionen kennen und P2–n wissen, dass P1 die Rechte und Pflichten aller Positionen kennt etc. Dabei reicht es für die Existenz von Institutionen aus, dass die Bedingung öffentlichen Wissens zu einem gewissen Grad erfüllt ist. Es ist jedoch für das Funktionieren beinahe jeder Institution zuträglich, wenn die Bedingung öffentlichen Wissens nahezu vollständig erfüllt ist. Ein Spiel wie Fußball mag auch dann funktionieren, wenn die Teilnehmer nicht alle Regeln kennen, solange sie sich den Entscheidungen des Schiedsrichters fügen. Es ist dem Funktionieren des Spiels aber sicherlich zuträglich, wenn dessen Regeln Gegenstand öffentlichen Wissens sind. Viertens: Strafen und Gegenmaßnahmen (penalties and defenses). Als weiteres Kriterium nennt Rawls die Absicherung der Regeln durch Sanktionen. Aus zumindest zwei Gründen spielen Sanktionen eine wichtige Rolle für Institutionen: Zum einen sehen die meisten Regelsysteme, welche die anderen Kriterien für Institutionen erfüllen, de facto Sanktionen vor. Dabei kann es sich wie im Falle einer Fußballpartie im Park um einen eher diffusen sozialen Druck – wie böse Blicke, Kopfschütteln etc. – handeln oder wie im Falle von Rechtssystemen um Sanktionen, die ihrerseits durch Regeln gesteuert werden. Auch wenn es vorstellbar ist, dass Regelsysteme ohne Sanktionen befolgt werden, ist das wohl eher die Ausnahme. Zum anderen haben Institutionen auch die Funktion, unsere Erwartungen hinsichtlich des Handelns anderer Personen abzusichern. Das wird einerseits durch die Bedingung öffentlichen Wissens erreicht, andererseits durch Sanktionen. Einzelpersonen können aufgrund der öffentlich bekannten und weithin anerkannten Regeln sowie der öffentlich bekannten Sanktionsdrohungen mit einiger Sicherheit prognostizieren und zudem im normativen Sinne erwarten, dass sich ihre Mitbürger an die Regeln halten werden. Fünftens: Regelsystem (system of rules). Eine Institution wird weiterhin dadurch charakterisiert, dass ihre Regeln ein System bilden. Was macht nun den »Systemcharakter« von Institutionen aus? Rawls’ Ausführungen bleiben hier vage. Er sagt lediglich: »Various kinds of general norms are organized into a coherent scheme.« (TJ §10: 48)
Verschiedene Regeln bilden demnach ein kohärentes Ganzes (coherent scheme). Was ist jedoch das Kriterium dafür, dass verschiedene Regeln ein System resp. ein kohärentes Ganzes bilden? Ein naheliegendes Kriterium ist, dass verschiedene Regeln so gestaltet sind, dass sie zusammengenommen einen oder mehrere Zwecke erfüllen. Betrachten wir als Beispiel die Institution des Bildungssystems. Dem rawlsschen Gerechtigkeitsideal 40
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zufolge muss das Bildungssystem vornehmlich so strukturiert sein, dass es Chancengleichheit befördert. So mag es Regeln zur Schulpflicht geben, Regeln zur Ausbildung von Lehrkräften sowie Regeln, die festlegen, welche Rechte, Pflichten und Privilegien Lehrkräfte haben. Und diese Regeln mögen allesamt auf den Zweck hin ausgerichtet sein, Chancengleichheit zu befördern. Nun trifft das Kriterium der Zweckgerichtetheit zwar in vielen Fällen zu, es ist aber wohl zu stark, um als Definitionskriterium einer Institution zu dienen. Tatsächlich dürfte es nur selten der Fall sein, dass alle Regeln einer Institution auf die Erfüllung eines oder mehrerer Zwecke hin ausgerichtet sind. Das Kriterium ist auch insofern zu stark, als dass etwa die Institutionen des Bildungssystems auch dann als Institutionen der Grundstruktur bestimmbar sein sollten, wenn sie den Zweck der Beförderung von Chancengleichheit nicht erfüllen. Wenn wir nur ein vollkommen gerechtes Bildungssystem als solches identifizieren könnten, dann könnten wir ein Bildungssystem nicht dafür kritisieren, dass es keine Chancengleichheit befördert, denn wir könnten es nicht als Bildungssystem identifizieren. Bei näherer Betrachtung erweist sich sogar die rawlssche Charakterisierung von einem kohärenten Ganzen, das die verschiedenen Regeln der Institution bilden, als zu stark. Denn wir können einzelne Regeln der Institution des Bildungssystems zurechnen, auch wenn diese im Widerspruch zu anderen Regeln stehen und die Regeln insofern inkohärent sind. Die Ungerechtigkeit einer Institution kann gerade darin liegen, dass sie widersprüchliche Regeln umfasst. Der Systemcharakter von Institutionen scheint unter anderem deshalb eine wichtige Bedingung zu sein, weil wir nicht sagen können, welche Regeln zu der einen Institution gehören und welche zu einer anderen, wenn die Regeln einer Institution nicht in irgendeiner Weise aufeinander bezogen sind und dadurch eine Einheit bilden. Wir können demnach nicht angeben, inwiefern das Bildungssystem und das Rechtssystem jeweils einheitliche Institutionen sind oder zumindest sinnvollerweise als solche betrachtet und bewertet werden sollten.40 Diese Befürchtung erweist sich jedoch als Scheinproblem. Wir sind uns meistens völlig einig darüber, welche Regeln zu einer Institution gehören. Zum Bildungssystem einer Gesellschaft gehören alle Regeln, die mit Erziehung und Bildung zu tun haben. Wir benötigen also kein allgemeines Kriterium dafür, wann Institutionen ein Ganzes bilden. Es ist darüber hinaus auch nicht erforderlich, dass eine Regel einer und nur einer Institution zugerechnet 40 Ähnlich auch Miller: »[A] mere set of conventions (or norms or rules) does not constitute an institution. For example, the set of conventions comprising the convention to drive on the left, the convention to utter »Australia«, to refer to Australia, and the convention to use chopsticks does not constitute an institution.« (Miller 2014: Abs. 25; Hervorhebung im Original)
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wird. Das Vertragsrecht gehört ebenso zur Institution des Rechtssystems wie auch zur Institution des Wirtschaftssystems und kann überdies für sich als Institution betrachtet werden. Je nach Erkenntnis- oder Reformanliegen kann es sinnvoll sein, das Vertragsrecht der einen oder der anderen Institution zuzurechnen. Der Systemcharakter der Regeln einer Institution verdient noch aus einem anderen Grund Aufmerksamkeit. Die Gerechtigkeit resp. Ungerechtigkeit einer institutionellen Regel kann davon abhängig sein, welche weiteren Regeln existieren. Um die Gerechtigkeit einer institutionellen Regel zu bewerten, ist es oft erforderlich, andere Regeln der Institution oder mehrerer Institutionen miteinzubeziehen. Diesen Punkt hebt Rawls hervor, wenn er schreibt: »We may also distinguish between a single rule (or group of rules), an institution (or a major part thereof), and the basic structure of the social system as a whole. The reason for doing this is that one or several rules of an arrangement may be unjust without the institution itself being so.« (TJ §10: 50)
Rawls’ Ausführungen klingen paradox und können leicht missverstanden werden. Er nennt eine einzelne Regel gerecht unabhängig davon, ob sie Teil einer gerechten Institution ist oder nicht. So könnte man z.B. sagen, die Regel, dass der Spitzensteuersatz 70% beträgt, sei ungerecht, da dies einer Enteignung nahekomme. Dagegen könnte man die Institution des Steuersystems insgesamt gerecht nennen, da sie die Forderungen des DP erfülle. Rawls zufolge können wir also einerseits einzelne Regeln unabhängig von den Institutionen, deren Teil sie sind, bewerten, andererseits Institutionen als Ganzes und schließlich die Grundstruktur als System der grundlegenden Institutionen. Dem schließen wir uns an. Es ist jedoch auch hier wichtig hervorzuheben, dass wir nur im Falle der Bewertung der Grundstruktur von sozialer Gerechtigkeit sprechen. Die Gerechtigkeitsprinzipien zur Bewertung einzelner Regeln von Institutionen sind sicherlich nicht völlig unabhängig von den Forderungen der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit. Es handelt sich jedoch nicht notwendigerweise um dieselben Prinzipien. Auch über die Grundstruktur wird gesagt, dass deren Institutionen sich zu einem System zusammenfügten.41 Aber inwiefern bilden die In41 Auf den Systemcharakter der Grundstruktur weist Rawls vielfach hin. So erläutert er die Grundstruktur als »a public system of rules defining a scheme of activities that leads men to act together so as to produce a greater sum of benefits and assigns to each certain recognized claims to a share in the proceeds.« (TJ §14: 74); »the way in which the main political and social institutions of society fit together into one system of social cooperation« (JF §4.1: 10); »the arrangement of society’s main institutions into a unified system of social cooperation over time.« (Rawls 1999: 158); »a single social system,
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stitutionen der Grundstruktur ein solches System der sozialen Kooperation (system of social cooperation)? M.E. machen die Institutionen der Grundstruktur ein System aus, insofern sie alle zusammengenommen eine Funktion haben. Diese Funktion besteht in der Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern.42 Der Systemcharakter der Institutionen der Grundstruktur ist wichtig, weil die Grundstruktur nur als ganze gerecht oder ungerecht ist. So kann ein Bildungssystem allen Bürgern die gleichen Qualifikationsmöglichkeiten bieten und damit in unserer Interpretation Chancengleichheit befördern. Gleichzeitig mag es einzelnen Unternehmen gestattet sein, Ämter und Positionen nach Kriterien wie Hautfarbe und Geschlecht zu vergeben. Die Grundstruktur insgesamt ist damit nicht darauf ausgerichtet, Chancengleichheit zu realisieren, auch wenn einzelne Institutionen – wie hier das Bildungssystem – die Voraussetzungen dafür schaffen. Auch wenn das Bildungssystem Chancengleichheit befördert, können wir in dem Beispiel kaum von einer Gesellschaft sprechen, in der Chancengleichheit besteht. Die Grundstruktur als System von Institutionen zu betrachten, soll verhindern, für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft relevante Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Institutionen der Grundstruktur zu übersehen. Sechstens: Regelsysteme sind nur dann Institutionen, wenn sie eine gewisse Stabilität aufweisen, wenn sie also über einen gewissen Zeitraum hinweg von einer gewissen Menge an Personen öffentlich anerkannt werden.43 Ein Spiel, das sich die Teilnehmer einer Familienfeier für einen einzigen Abend ausdenken, ist in diesem Sinne noch keine Institution, höchstens die Vorform einer solchen. Die Funktion von Institutionen Gibt es eine Funktion, die alle Institutionen gemeinsam haben? M.E. lässt sich eine solche durchaus konstatieren: Alle Institutionen haben die Funktion, mehr oder weniger sichere Erwartungen über das Handeln von Personen zu schaffen. Und mehr oder weniger sichere Erwartungen sind im Allgemeinen ein dienliches Mittel zur gemeinschaftlichen Bewältigung von Aufgaben aller Art. Dabei ist hier von Erwartungen sowohl im normativen each part of which may influence the rest« (Rawls 1999: 161) (Hervorhebungen JW). 42 Auf diesen Aspekt gehe ich in 2.3 näher ein. 43 Rawls erwähnt diesen Aspekt von Institutionen nur beiläufig: »An institution exists at a certain time and place when the actions specified by it are regularly carried out in accordance with a public understanding that the system of rules defining the institution is to be followed.« (TJ §10: 48; Hervorhebung JW)
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wie auch im deskriptiven Sinne die Rede.44 Im normativen Sinne schaffen Institutionen Verhaltensstandards: Ein Polizist etwa hat sich auf bestimmte Weise zu verhalten. Wenn er im Widerspruch zu seinen Pflichten handelt, handelt er falsch. Bricht er die Regeln, denen er qua seines Amtes unterworfen ist, ist er hinsichtlich der Maßstäbe der Institution kritikwürdig.45 Im deskriptiven Sinne ermöglichen Institutionen mehr oder weniger sichere Prognosen darüber, wie die Bürger handeln werden. Ein Polizist, so prognostizieren wir, wird nicht tatenlos zusehen, wenn in seiner Nähe eine Prügelei stattfindet. Der Polizist hat qua seines Amtes die Pflicht einzuschreiten, und diese Pflicht ist durch Sanktionsandrohungen unterstützt. Es sind die Sanktionsandrohungen sowie unsere Überzeugung, dass der Polizist die Pflichten seines Amtes kennt und es idealerweise für falsch hält, ihnen nicht gemäß zu handeln, die unsere Prognose über sein Verhalten bestimmen. Darüber hinaus sind unsere Erwartungen im prognostischen Sinne freilich auch durch unsere persönlichen Erfahrungen beeinflusst.46 Normalerweise ist es für jeden Einzelnen vorteilhaft, mehr oder weniger sichere Erwartungen über das Handeln anderer zu haben. Das gilt insbesondere im Lichte der rawlsschen Konzeption moralischer Personen. Der rawlsschen Theorie zufolge umfasst die Vorstellung eines gelungenen Lebens einer jeden Person das Verfolgen von Zielen, Projekten oder Plänen. Insbesondere kooperative Ziele lassen sich ohne die Existenz von Institutionen kaum oder nur unter enormen Kosten umsetzen. Insofern ist die hier angenommene allgemeine Funktion von Institutionen auch moralisch rechtfertigbar.47 Jede Institution schafft also mehr oder weniger sichere 44 Das gilt im Besonderen, aber nicht ausschließlich für die Institution des Rechts. Uwe Wesel spricht in diesem Zusammenhang von der Ordnungsfunktion des Rechts: »Zum einen ist das Recht ein Ordnungselement. Übliches Beispiel dafür ist der Straßenverkehr. Wie man ihn im einzelnen regelt, das ist letztlich gleichgültig. Ob Linksverkehr, wie in angelsächsischen Ländern, oder Rechtsverkehr, wie auf dem europäischen Kontinent, das ist egal. Es muss nur eine bestimmte Ordnung geben, auf die man sich verlassen kann. Unser ganzes Leben beruht auf Verhaltenserwartungen. Sie müssen gesichert werden. Das ist fast immer die Funktion von Recht, nicht nur im Straßenverkehr.« (Wesel 2014: 61) 45 Sein Handeln kann natürlich in Bezug auf andere Maßstäbe lobenswert sein. 46 Ein vermeintliches Gegenbeispiel zu dieser Auffassung einer gemeinsamen Funktion aller Institutionen bietet das Pokerspiel. Der Reiz des Pokerns besteht eben darin, die Mitspieler in Hinsicht auf ihre deskriptiven Erwartungen zu täuschen. Jedoch würde das Pokern nicht funktionieren, wenn nicht eine ganze Menge anderer Erwartungen gesichert wären, vor allem die Erwartung, dass alle Mitspieler den Regeln des Pokerns gemäß spielen. Spiele im Allgemeinen funktionieren nur, wenn eine Vielzahl von Erwartungen gesichert ist. 47 Damit möchte ich natürlich nicht behaupten, dass jegliche Institution gerechtfertigt ist. Sichere Erwartungen darüber, dass der Geheimdienst mich
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rwartungen über das Verhalten der in ihr »Tätigen«, d.h. derjenigen, die E Ämter und Positionen in der jeweiligen Institution innehaben. Wir gehen hier von dem vereinfachten Fall aus, dass die Kriterien für Institutionen annähernd erfüllt sind. Denn natürlich schaffen weder Institutionen, deren Regeln nicht Gegenstand öffentlichen Wissens sind, noch Institutionen, deren Regeln inkonsistent sind oder nur halbherzig durchgesetzt werden, sichere Erwartungen im erläuterten Sinne. Trotz dieser gemeinsamen Funktion sollten Institutionen jedoch in unserem Zusammenhang nicht darüber definiert werden, dass sie sichere Erwartungen schaffen.48 Es lassen sich viele Beispiele finden, bei denen wir sichere Erwartungen über das Verhalten anderer Personen im deskriptiven wie im normativen Sinne haben, ohne dass es sich nach den obigen Kriterien um Institutionen handelt. Die Menge sicherer Erwartungen über das Verhalten anderer Personen ist größer als diejenige der Institutionen in unserem Sinne. So erwarten wir, dass Personen in unserer Umgebung nicht plötzlich anfangen, rückwärts zu gehen, Gras zu essen oder Laternen zu umarmen. Wir würden das in den meisten Fällen für falsch oder verrückt halten und auch nicht prognostizieren. Dennoch handelt es sich nicht um Institutionen im obigen Sinne, da es nichts mit der Zuweisung von Ämtern zu tun hat oder einem bestimmten Regelsystem widerspricht. Rudimentäre und komplexe Institutionen Bei den rawlsschen Kriterien handelt es sich teilweise um Idealisierungen. Im Lichte der praktischen Aufgabe des Gerechtigkeitsideals wäre es kaum sinnvoll, ein soziales Gebilde, das die obigen Kriterien nicht vollständig, aber doch zu einem gewissen Grade erfüllt, schon deshalb nicht als Institution zu bezeichnen. Auch wenn die Teilnehmer einer Institution nicht davon ausgehen, dass alle Teilnehmer alle Regeln kennen, sollten wir von einer Institution sprechen. Auch wenn also die Bedingung öffentlichen Wissens nicht vollständig erfüllt ist, handelt es sich um eine Institution. Auch im Falle von Strafen und Gegenmaßnahmen gehen wir davon aus, dass diese zwar in den meisten Institutionen vorhanden sind, doch auch ohne deren Existenz sollten wir – wenn die anderen Kriterien erfüllt sind – von einer Institution sprechen. Schließlich haben wir darauf hingewiesen, dass der »Systemcharakter« von Institutionen sich kaum mit einem einheitlichen Kriterium für alle Institutionen fassen lässt. Die foltern wird, sind kaum vorteilhaft. Auf dieser Allgemeinheitsebene können wir daher kaum mehr sagen, als dass Institutionen oftmals für alle Beteiligten vorteilhaft sind und insofern gerechtfertigt werden können. 48 Die oben in Fußnote 37 genannte Definition Essers ist dafür ein Beispiel.
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Regeln von Institutionen sind aufeinander bezogen und bilden ein kohärentes Ganzes. Jedoch gibt es auch soziale Gebilde, die inkohärente Regeln umfassen, ohne dass wir diesen den Charakter von Institutionen gleich ganz absprechen sollten. Diese »Aufweichung« des Begriffs der Institution bedeutet natürlich, dass es in vielen Einzelfällen zu begründeten Meinungsverschiedenheiten darüber kommen kann, ob ein soziales Gebilde eine Institution im Sinne der Kriterien ist. Der diesen Nachteil überwiegende Vorteil besteht jedoch darin, dass etwas als Institution kritikwürdig werden kann, das wir andernfalls nicht auf diese Weise erfassen können. Es spricht überdies einiges dafür, dass Institutionen sich oftmals aus zunächst eher konventionellen Regeln heraus bilden. Hier ein striktes Abgrenzungskriterium anzulegen, ist angesichts der Vielfalt existierender sozialer Gebilde nicht angemessen. Schließlich gehören Rawls zufolge nur Institutionen zur Grundstruktur der Gesellschaft und sind damit den Forderungen sozialer Gerechtigkeit unterworfen. Ein enger Institutionenbegriff hat den Nachteil, dass er von vornherein definitorisch den Gegenstand sozialer Gerechtigkeit zu stark einschränkt. Für unsere Zwecke ist es sinnvoll, zwischen verschiedenen Graden der Institutionalisierung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung stellt eine substantielle Modifikation des rawlsschen Begriffs der Institution dar. Dabei genügt eine grobe Unterscheidung zwischen rudimentären und komplexen Institutionen. Dazu unterscheiden wir in Anlehnung an Herbert L. A. Hart zwischen primären und sekundären Regeln einer Institution.49 Primäre Regeln einer Institution sind solche, welche die Rechte, Pflichten, Privilegien etc. eines Amtes bestimmten und damit dem Amtsinhaber Verhaltensstandards vorschreiben. Sekundäre Regeln dagegen sind Regeln zur Veränderung, Durchsetzung und Identifikation von Regeln.50 Eine Institution ist komplex, wenn sie die erläuterten sechs Kriterien weitgehend erfüllt und wenn sie außerdem sekundäre Regeln umfasst. Eine Institution ist rudimentär, wenn sie die sechs Kriterien nur zu einem geringen Grade erfüllt und außerdem keine sekundären Regeln umfasst. Vergleichend können wir auch sagen, ein soziales Gebilde sei in höherem Grade institutionalisiert, wenn es die obigen Kriterien weitgehender erfüllt als ein anderes und sekundäre Regeln umfasst. Wir können hier vorwegnehmen, dass es sich bei den Institutionen einer gerechten Grundstruktur durchgehend um komplexe Institutionen handelt. Am Beispiel des Spiels lassen sich komplexe und rudimentäre Institutionen beispielhaft unterscheiden. Betrachten wir als Beispiel für eine rudimentäre Institution das Fußballspiel, wie es auf den Uniwiesen gespielt wird. Es handelt sich dabei um ein Regelsystem, dessen Regeln 49 Vgl. Hart 2011: 101. 50 Bei den zu verändernden, durchzusetzenden oder zu identifizierenden Regeln kann es sich sowohl um primäre als auch um sekundäre Regeln handeln.
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normalerweise allen Teilnehmern bewusst sind und das verschiedene Ämter zuweist: Spieler der Mannschaft A, Spieler der Mannschaft B, Torwart, Feldspieler etc. Diese Ämter sind mit Rechten und Pflichten verbunden. Der Torwart hat das Recht, im Strafraum mit der Hand zu spielen, die Feldspieler dürfen das dagegen unter keinen Umständen. Sie werden einerseits im Falle von Pflichtverstößen bestraft und zusätzlich der öffentlichen Kritik unterworfen. Nun mag es sein, dass die Spieler auf den Uniwiesen sich vor dem Spiel nicht darüber beraten haben, ob sie »mit oder ohne Abseits« spielen. Es mag sich überdies keine Person finden, die als Schiedsrichter fungieren möchte. Einerseits ist damit die Öffentlichkeitsbedingung nicht vollständig erfüllt, andererseits ist das Amt des Schiedsrichters nicht besetzt. Entscheidungen über Regelverstöße müssen daher von den Spielern selbst gefunden werden. Überdies werden Regelverstöße, die als unsportlich gelten, bei dem Spiel auf den Uniwiesen allein durch diffusen sozialen Druck sanktioniert. Der Fußball in der Bundesliga ist dagegen ein Beispiel für eine komplexe Institution. Jedem ist völlig klar, welche Abseitsregeln gelten und das Amt des Schiedsrichters ist in jedem Fall besetzt. Überdies existieren sekundäre Regeln. Die primären Regeln werden hier und da durch geordnete Verfahren geändert, es gibt klare Kriterien zur Identifikation der Regeln und die Regeln werden nicht bloß durch diffusen sozialen Druck, sondern durch ein eigenes Gerichtswesen mit den jeweiligen Ämtern durchgesetzt. Die moralische Bewertung von Institutionen Nun, da wir den rawlsschen Begriff der Institution erläutert und modifiziert haben, kommen wir wieder auf den Unterschied in der Bewertung der Handlungen von Einzelpersonen und der Bewertung von Institutionen zu sprechen. Machen wir uns noch einmal die Unterscheidung der verschiedenen Gegenstände moralischer Prinzipien deutlich. Wenn wir uns fragen, ob eine Einzelperson einem moralischen Prinzip wie »Du sollst nicht töten.« entsprechend handelt, dann müssen wir vorrangig die Handlungen dieser Person betrachten sowie vielleicht noch die Situation, in der sie handelt.51 Wenn wir dagegen fragen, ob eine Institution irgendeinem Prinzip entspricht, dann reicht es nicht aus, die Handlungen einer einzelnen Person zu betrachten. Wir müssen vielmehr prüfen, wie eine Gruppe von Personen über einen gewissen Zeitraum hinweg 51 Um zu prüfen, ob eine Person alles in allem richtig handelt, müssen wir natürlich auch weitere Faktoren einbeziehen. Bei einer solchen Bewertung werden zumeist auch die Pflichten, die Personen gegenüber Institutionen haben, eine Rolle spielen. Wenn wir uns fragen, ob eine Person dem Prinzip »Du sollst nicht töten.« entsprechend handelt, beanspruchen wir damit jedoch nicht, die Frage zu beantworten, ob die Person alles in allem richtig handelt.
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handelt. Wenn die einzelnen Personen in der Gruppe größtenteils eine gewisse Zeit lang ein bestimmtes Regelsystem befolgen, sich gegenseitig bestimmte Positionen zuschreiben und die Regeln durch Sanktionen aufrechterhalten, dann sprechen wir von einer Institution. Wir können das Regelsystem nach moralischen Prinzipien bewerten. Damit sagen wir jedoch nicht zwingend etwas über die moralische Qualität der Handlungen der einzelnen Teilnehmer der Institution aus. Es ist m.a.W. begrifflich nicht ausgeschlossen, dass eine Institution ungerecht ist, ohne dass irgendeine der in ihr tätigen Personen gegen ihre moralischen Pflichten verstößt. Die Bewertung einer Institution ist auch nicht mit der Bewertung der Handlungen von Einzelpersonen gegenüber Institutionen zu verwechseln. Wir können eine Person dafür loben, dass sie sich nicht dem sozialen Druck beugt, der sie dazu bringen soll, in Übereinstimmung mit den Regeln einer ungerechten Institution zu handeln. Wir können Kritik an einer Person üben, die nicht den Regeln einer gerechten Institution entsprechend handelt. Wir loben oder kritisieren dann jedoch nicht die Institution, sondern eine Einzelperson, die entsprechend ihren Pflichten gegenüber einer Institution handelt oder gegen diese verstößt. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bewerten dagegen allein Institutionen und nicht das Handeln von Einzelpersonen gegenüber Institutionen. Private Vereinigungen und die Institutionen der Grundstruktur Rawls nennt in seinen Werken eine weitere soziale Kategorie, und zwar private Vereinigungen (private associations, oft auch nur associations). Wir untersuchen nun, inwiefern private Vereinigungen sich von den In stitutionen der Grundstruktur unterscheiden. Beispiele für private Verei nigungen sind »churches and universities, learned and scientific societies, and clubs and teams« (PL I §2.3: 14)
sowie »firms and labor unions[.]« (JF §26.4: 92)
Private Vereinigungen gehören Rawls zufolge nicht zur Grundstruktur, sondern befinden sich innerhalb der Grundstruktur.52 Die Unterscheidung zwischen privaten Vereinigungen, Institutionen und der Grundstruktur dürfte daher aufschlussreich für das Verständnis des Begriffs der Grundstruktur sein. Denn anscheinend lässt sich die Grundstruktur dadurch charakterisieren, dass private Vereinigungen nicht zu dieser gehören. Rawls definiert den Begriff der privaten Vereinigung in seinem Werk nicht. Wir können jedoch anhand der Kriterien für den Begriff der 52 Vgl. JF §4.1: 10.
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Institution deutlich machen, dass private Vereinigungen Institutionen im rawlsschen Sinne sind. Zwar hat Rawls das wohl nicht so gesehen, sachlich dürfte es jedoch unstrittig sein. Denn die von Rawls genannten Beispiele für private Vereinigungen fallen allesamt eindeutig unter den Begriff der Institution. Demonstrieren wir das am Beispiel einer Firma. Jede Firma weist Regeln auf. Diese sind zu einem kohärenten Ganzen geordnet, und zwar vielfach so, dass die Firma langfristig Gewinne erzielt. Die Mitglieder resp. Angestellten einer Firma besetzen überdies Ämter, die mit verschiedenen Rechten und Pflichten ausgestattet sind. Die Regeln einer Firma sind weiterhin Gegenstand öffentlichen Wissens. Für die funktionierende Kooperation innerhalb einer Firma ist das essentiell. Der Ausdruck »öffentliches Wissen« kann zu der Annahme verleiten, die Regeln einer Institution müssten allen Bürgern bekannt sein. Das ist jedoch von Rawls sicher nicht gemeint. Die Öffentlichkeitsbedingung ist nämlich schon dann erfüllt, wenn alle »Teilnehmer« einer Institution die Regeln kennen, das voneinander wissen etc.53 Auch Strafen und Gegenmaßnahmen lassen sich einer Firma zuschreiben. Das Vorenthalten einer Gehaltserhöhung ist ebenso ein Beispiel dafür wie eine Kündigung. Firmen sind schließlich stabile kooperative Unternehmen, deren Regeln üblicherweise über einen längeren Zeitraum hinweg von ihren Mitgliedern befolgt werden. Damit erfüllt eine Firma sämtliche der oben genannten Kriterien für eine Institution. Die von Rawls genannten Beispiele für private Vereinigungen legen nahe, dass alle privaten Vereinigungen komplexe Institutionen sind. Kirchen, Universitäten, Clubs etc. weisen nämlich üblicherweise sekundäre Regeln im Sinne Harts auf, d.h. Regeln zur Veränderung, Durchsetzung und Identifikation anderer Regeln. Jedoch können »inoffizielle« Religionsgemeinschaften oder auch »inoffizielle« Sportmannschaften ebenfalls als private Vereinigungen aufgefasst werden. Dabei handelt es sich um Beispiele rudimentärer Institutionen. Private Vereinigungen treten also in verschiedenen Graden der Institutionalisierung auf. Was unterscheidet private Vereinigungen von den Institutionen der Grundstruktur? Rawls sieht den Unterschied wohl darin, dass wir privaten Vereinigungen willentlich beitreten, der Grundstruktur dagegen unabhängig von unserer impliziten oder expliziten Zustimmung angehören: »[M]embership in all associations is voluntary at least in this sense: even when born into them, as in the case of religious traditions, citizens have
53 TJ §10: 48: »A person taking part in an institution knows what the rules demand of him and of the others. He also knows that the others know this and that they know that he knows this, and so on.« (Hervorhebung JW)
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a right to leave them unmolested by the coercive powers of the government.« (JF §43.4: 144)
Dagegen ist die Grundstruktur »a structure we enter only by birth and exit only by death[.]«54
Dieses Unterscheidungskriterium ist suggestiv. Clubs, Universitäten und Religionsgemeinschaften können wir beitreten und wir können sie auch wieder verlassen. Dagegen können wir den Regeln des Steuersystems legal nur dadurch entfliehen, dass wir das Land verlassen.55 Jedoch mag es zwar sein, dass wir die Institutionen der Grundstruktur insgesamt nur auf natürliche Weise betreten und verlassen können. Gilt das jedoch auch für einzelne Institutionen der Grundstruktur? Wir betreten die Institution der Familie offensichtlich durch unsere Geburt. Dass wir sie nur durch den Tod verlassen, ist weniger offensichtlich. Wir betreten die Verfassung sowie das Wirtschafts- und Erziehungssystem nur durch die Geburt. Auch das leuchtet ein, denn mit unserer Geburt befinden wir uns schlicht in einem bestimmten Wirtschafts- und Erziehungssystem und haben im besten Fall Grundrechte. Jedoch sind wir zumindest in einigen Staaten dazu berechtigt auszuwandern. Damit können wir das Wirtschaftssystem, das Erziehungssystem und auch die Institutionen, in denen unsere Grundrechte bestehen, willentlich verlassen. Die Tatsache, dass wir die Grundstruktur nur durch den Tod verlassen, ist jedoch von Rawls nicht als Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse in modernen westlichen Staaten gemeint. Sie ist vielmehr eine Idealisierung, die er aus zwei Gründen vornimmt: Erstens klammert er Probleme und Fragen der internationalen Gerechtigkeit durch die Idealisierung der geschlossenen Gesellschaft aus. Damit können wir uns auf Probleme der sozialen Gerechtigkeit, d.h. auf die Gerechtigkeit einer Gesellschaft unabhängig von anderen Gesellschaften, konzentrieren.56 Zweitens ist das Verlassen einer Gesellschaft Rawls zufolge nicht in dem gleichen Sinne willentlich, in dem wir einen Verein oder sogar eine Religionsgemeinschaft verlassen können. Das gilt selbst dann, wenn wir ein Recht auf Immigration und Emigration haben.57 Ich halte die Idealisierung der geschlossenen Gesellschaft für sinnvoll und übernehme sie im Folgenden. Während der zweite Grund vage bleibt, überzeugt gerade der erste Grund. Ein weiterer Grund für die Idealisierung ist hinzuzufügen: In einer gerechten Gesellschaft gibt es sicherlich ein Recht zur Emigration. Jedoch sollte eine gerechte Gesellschaft 54 Rawls 1999: 136. 55 Vgl. dazu auch JF §1.3: 4: »[P]olitical society is not, and cannot be, an association. We do not enter it voluntarily.« M.E. könnte man »political society« an dieser Stelle durch »the basic structure« ersetzen. 56 Vgl. PL I §2: 12 und PL IV §1: 136 Fußnote 4. 57 Vgl. PL IV §1: 136 Fußnote 4 und PL VIII §3: 301.
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so eingerichtet sein, dass prinzipiell niemand in irgendeiner Weise dazu genötigt wird zu emigrieren. Die Gestaltung ihrer grundlegenden Institutionen sollte von der Annahme geleitet sein, dass alle Bürger ihr ganzes Leben in ihr verbringen, auch wenn sie sie jederzeit verlassen dürfen. Das gilt sowohl für die Verfassung, als auch für die Familie sowie das Wirtschafts- und Erziehungssystem. Oben haben wir auch das Polizei- und Justizsystem zur Grundstruktur gerechnet. Das hat seinen Grund darin, dass die Verteilung der in den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit geforderten juridischen Grundrechte auch durch die Institutionen des Polizeisystems bestimmt ist. Personen genießen üblicherweise nur dann juridische Grundrechte, wenn diese durch ein Polizei- und Justizsystem durchgesetzt werden. Nehmen wir also an, das Polizeisystem gehöre zur Grundstruktur. Unserem üblichen Verständnis nach sollten Personen selbst darüber entscheiden, ob sie den Beruf des Polizisten ausüben oder nicht. Eine Regel des Polizeisystems besagt also, dass die Mitgliedschaft in dieser Institution nicht erzwungen werden darf. Zwar ist in einem anderen Sinne jeder Bürger Mitglied des Polizeisystems, insofern jeder sich an gewisse Gesetze halten muss, die von der Polizei nötigenfalls erzwungen werden. Polizisten haben jedoch noch weitere Rechte und Pflichten aufgrund dieser Institution und diese Rechte und Pflichten werden ihnen infolge ihres willentlichen Ergreifens dieses Berufs auferlegt. Das Gleiche gilt für einige Institutionen des Erziehungssystems. Personen sollten selbst darüber entscheiden dürfen, ob sie den Beruf des Erziehers oder Lehrers ausüben oder nicht. Damit teilen verschiedene Institutionen der Grundstruktur die Eigenschaft der willentlichen Mitgliedschaft mit privaten Vereinigungen. Das Kriterium der willentlichen Mitgliedschaft kann daher nicht zur Unterscheidung zwischen den Institutionen der Grundstruktur und privaten Vereinigungen verwendet werden.58 Private Vereinigungen teilen jedoch eine andere Eigenschaft nicht mit Institutionen wie dem Polizeisystem. Die Regeln privater Vereinigungen können von ihren Mitgliedern oder zumindest von einigen ihrer Mitglieder verändert werden. Das ist bei Institutionen wie der Polizei oder auch dem Justizsystem nicht der Fall. Wir nehmen zumindest an, dass sich das in einer gerechten demokratischen Gesellschaft so verhält. Polizeiangestellte können sich nicht dazu entschließen, die Aufgabe der Institution zu ändern, indem sie nicht mehr für Sicherheit sorgen, sondern stattdessen Konzerte veranstalten. Innerhalb von privaten Vereinigungen 58 Wie sich in 1.3 zeigt, ist dieses Verständnis der möglichen willentlichen Mitgliedschaft in Institutionen der Grundstruktur auch angesichts der Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit sinnvoll. Denn es erlaubt uns zu sagen, dass bspw. Polizisten im Gegensatz zu Bankangestellten Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit haben.
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kann es dagegen Ämter und Verfahren zur Änderung von deren Regeln geben. Überdies können private Vereinigungen von Bürgern nach ihrem Belieben gegründet werden und sie können von ihren Mitgliedern aufgelöst werden. Auch das ist im Falle von Institutionen wie der Polizei nicht der Fall. In eben diesem Sinne sind private Vereinigungen privat: Bürger können sich – in einer gerechten Gesellschaft – dazu entschließen, eine private Vereinigung zu gründen, sei es eine Firma, eine Religionsgemeinschaft oder einen Club. Innerhalb einer solchen privaten Vereinigung kann es Ämter und Verfahren geben, durch welche deren Regeln geändert und durch welche neue Regeln geschaffen werden können. Die Mitglieder einer privaten Vereinigung sind außerdem dazu fähig, die Vereinigung aufzulösen. Die Institutionen einer gerechten Grundstruktur dagegen sind in einer demokratischen Gesellschaft in folgendem Sinne öffentlich: Ihre Regeln, Ämter und Positionen können nur durch alle Bürger – resp. durch ein geeignetes System der Repräsentation – geschaffen, geändert oder abgeschafft werden.59 Zu Anfang dieses Abschnitts haben wir die Vermutung geäußert, die Grundstruktur ließe sich dadurch charakterisieren, dass private Vereinigungen dieser nicht zuzurechnen sind. Wir haben außerdem Gründe dafür genannt, eine gerechte Grundstruktur umfasse lediglich öffentliche Institutionen in dem erläuterten Sinne. Diesen Punkt werden wir in 2.3 noch weiter verfolgen. Wichtig ist hier, dass dies bei einer ungerechten Grundstruktur nicht der Fall sein muss. Private Vereinigungen können Teil einer ungerechten Grundstruktur sein. Und der Begriff der Grundstruktur sollte eine gerechte wie auch eine ungerechte Grundstruktur zu identifizieren helfen. Nehmen wir an, eine einzige Firma steuere einen so großen Teil zum BIP eines Landes bei, dass es ihr möglich ist, kontrolliert Einfluss auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen zu nehmen. Es handelt sich damit um eine Institution, die kontrolliert Einfluss auf eines der Grundgüter zu nehmen vermag. Eine solche Institution sollte zur Struktur der Wirtschaft gerechnet werden und Teil des Systems von Institutionen sein, das die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bewertet. Denn soziale Gerechtigkeit bewertet ja gerade diejenigen Institutionen, welche die langfristige Verteilung der Grundgüter beeinflussen können. Auch die Verteilung von Chancen mag durch private Bildungseinrichtungen kontrolliert beeinflusst werden. Nehmen wir an, die Qualifikation Heranwachsender werde zu einem großen Teil von einer Religionsgemeinschaft organisiert und könne von dieser frei gestaltet werden. Die Religionsgemeinschaft kann damit einen großen Einfluss auf die langfristige Verteilung von Qualifikationsmöglichkeiten in der Gesellschaft haben und sollte daher der 59 Die Öffentlichkeit der zur Grundstruktur gehörigen Institutionen ist freilich nicht damit zu verwechseln, dass sie Gegenstand öffentlichen Wissens sind.
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Grundstruktur zugerechnet werden.60 Der Begriff der Grundstruktur soll uns unter anderem dabei helfen zu bestimmen, welche Institutionen im Namen sozialer Gerechtigkeit zu reformieren sind. Private Vereinigungen sollten daher nicht per definitionem aus der Grundstruktur ausgeschlossen werden, auch wenn vieles dafür spricht, dass sie nicht Teil einer gerechten Grundstruktur sind. Wir haben nun erläutert, was unter Institutionen zu verstehen ist. Weiterhin wurde verdeutlicht, was es heißt, dass Institutionen im Gegensatz zu individuellen Handlungen der Gegenstand eines moralischen Prinzips sind. Wenn wir Institutionen moralisch bewerten wollen, reicht es nicht aus, die Handlungen von Einzelpersonen zu betrachten. Vielmehr müssen wir das Regelsystem untersuchen, dem eine Gruppe von Personen folgt. Außerdem haben wir nachgewiesen, dass private Vereinigungen Institutionen im rawlsschen Sinne sind. Damit geht einher, dass private Vereinigungen Teil der Grundstruktur sein können. Schließlich wurde die Adäquatheit dieser Begriffsbestimmungen im Lichte der praktischen Aufgabe des rawlsschen Gerechtigkeitsideals motiviert. Wir haben dagegen bisher keine Definition der Grundstruktur entwickelt, auch wenn bereits angedeutet wurde, dass die Grundstruktur in den Institutionen besteht, welche die Verteilung von Grundgütern bestimmen. Eine hinreichend genaue Definition der Grundstruktur ist jedoch erforderlich. Denn zur Unterstützung unserer Bemühungen, eine gerechte Gesellschaft zu verwirklichen, ist es in jedem Fall hilfreich zu wissen, welche Institutionen zu reformieren sind. Für eine Definition ist ein Kriterium dafür wesentlich, welche Institutionen grundlegend sind. Ein solches Kriterium und damit eine Definition entwickeln wir unten in Kapitel 2.3 in Auseinandersetzung mit Cohens Kritik am Begriff der Grundstruktur.
1.3 Die begrenzten Pflichten sozialer Gerechtigkeit In diesem Kapitel rekonstruiere ich, welche Pflichten sozialer Gerechtigkeit Einzelpersonen in der rawlsschen Theorie haben. Zwar hat Rawls vier Abschnitte in TJ den Pflichten von Einzelpersonen gewidmet (TJ §§18, 19, 51, 52), eine spezifischere Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit hat er jedoch nicht entwickelt. Ausgehend von seiner allgemeineren Pflichtenkonzeption rekonstruiere ich, worin die Pflichten sozialer Gerechtigkeit bestehen. Soziale Gerechtigkeit wird dabei im weiten 60 Damit ist übrigens nicht ausgeschlossen, dass auch in einer gerechten Gesellschaft die Bildung und Ausbildung Heranwachsender weitgehend privaten Vereinigungen überlassen ist. Voraussetzung ist lediglich, dass diese Vereinigungen Vorgaben erfüllen, durch die sichergestellt ist, dass jeder Bürger gleiche Qualifikationsmöglichkeiten hat.
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Sinne verstanden: Sie umfasst sowohl die Forderungen des ersten wie auch des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes. Das Ergebnis des Kapitels ist, dass die Pflichten sozialer Gerechtigkeit begrenzt sind: Einzelpersonen haben die Pflichten, eine gerechte Grundstruktur aufrechtzuerhalten, eine ungerechte Grundstruktur zu reformieren und die Vorschriften einer gerechten Grundstruktur zu befolgen. Als Mitglieder von Institutionen der Grundstruktur können Einzelpersonen außerdem zusätzliche Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit haben. Dagegen haben Einzelpersonen nicht die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, sich auf andere Weise um gleiche Freiheitsrechte, Chancengleichheit oder eine Einkommensstruktur, die dem DP entspricht, zu bemühen. Verpflichtungen Beginnen wir also mit der rawlsschen Konzeption der individuellen Pflichten. Rawls unterscheidet zwei Arten von Pflichten in seiner Gerechtigkeitstheorie: Natürliche Pflichten (natural duties), worunter auch die natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit fallen, und Pflichten, die wir aufgrund von willentlichen Handlungen haben. Letztere nennt Rawls Verpflichtungen (obligations). Erörtern wir zunächst, was Rawls unter Verpflichtungen versteht. Als Standardfall für Verpflichtungen betrachten wir die Pflichten, die Einzelpersonen als Mitglieder und »Amtsinhaber« privater Vereinigungen haben, also etwa in Vereinen, Clubs, Firmen oder auch Religionsgemeinschaften.61 Diese Pflichten haben sie erst nach einer die Mitgliedschaft begründenden Handlung, im Falle der Mitgliedschaft in einer Firma etwa durch das Unterschreiben eines Arbeitsvertrags. Rawls beschränkt jedoch das Schaffen von Verpflichtungen nicht auf ausdrückliche Übereinkünfte: »[All obligations] arise as a result of our voluntary acts; these acts may be the giving of express or tacit undertakings, such as promises and agreements, but they need not be, as in the case of accepting benefits.« (TJ §18: 97) 61 Die Mitglieder von Religionsgemeinschaften können freilich bestimmte religiös begründete Pflichten als natürliche Pflichten ansehen, als Pflichten also, die sie und womöglich alle Menschen unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in Institutionen haben. Vom Standpunkt der rawlsschen Gerechtigkeitskonzeption aus gesehen handelt es sich gleichwohl um Verpflichtungen. – Rawls’ Beispiel für Verpflichtungen sind die Pflichten des Politikers, die er durch seine Bekleidung eines öffentlichen Amtes hat (vgl. TJ §18: 97). Für meine Zwecke ist das Beispiel unglücklich, da es im Falle von öffentlichen Ämtern nicht offensichtlich ist, ob sie Verpflichtungen sans phrase oder Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit schaffen. Auf die Unterscheidung gehe ich weiter unten in diesem Kapitel noch ein.
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Verpflichtungen werden also durch willentliches Handeln (voluntary acts) geschaffen. Dabei hat Rawls ein weites Verständnis von willentlichen Handlungen, die Verpflichtungen schaffen. Auch das Akzeptieren von Vorteilen einer Institution zählt bereits als willentliche Handlung, die Verpflichtungen schaffen kann. Die Redeweise von der Mitgliedschaft innerhalb einer privaten Vereinigung ist damit im weiten Sinne zu verstehen. Wenn eine Person Waren in den Einkaufswagen legt, ist sie verpflichtet, diese vor Verlassen des Supermarktes zu bezahlen. Zwar würden wir normalerweise nicht davon sprechen, dass sie »Mitglied« in der privaten Vereinigung »Supermarkt« ist, doch genau auf diese Weise sind Rawls’ Begriffe der Verpflichtung und der privaten Vereinigung m.E. zu verstehen. Es entsteht jedoch nicht durch jede Handlung des Beitretens in eine private Vereinigung oder allgemeiner durch jedwedes Annehmen von Vorteilen einer Institution eine Verpflichtung, sondern nur, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Verpflichtungen können sich erstens nur durch bereits existierende Institutionen ergeben. Private Vereinigungen fallen, wie wir in Kapitel 1.2 gezeigt haben, allesamt unter den Begriff der Institution. Nimmt eine Person spontan an einem Fußballspiel im Park teil, so verpflichtet sie sich gegenüber ihren Mitspielern, regelgemäß zu spielen. So hat sie unter anderem die Rechte und Pflichten ihrer Position, z.B. die eines Feldspielers der Mannschaft A, zu übernehmen. Der Grundgedanke ist einleuchtend: Entscheidet man sich, am Fußballspiel im Park teilzunehmen, nimmt man damit die Vorteile dieser Institution an – sportliche Herausforderung, gelegentlich Freude etc. Man übernimmt jedoch gleichzeitig gewisse Pflichten. Die Vorteile einer Institution zu akzeptieren, ohne gleichzeitig die Nachteile resp. Pflichten zu übernehmen, ist unserem üblichen Verständnis zufolge unfair. Verpflichtungen beruhen daher Rawls zufolge auf dem Fairness-Grundsatz (principle of fairness).62 Dass Verpflichtungen nur innerhalb existierender Institutionen entstehen, bedeutet auch, dass wir keine Verpflichtungen gegenüber Menschen haben, mit denen wir nicht in institutionell geregelten Kooperationsbeziehungen irgendeiner Art stehen.63 Es schaffen zweitens nur solche Institutionen Verpflichtungen, die in Anbetracht der Umstände in ausreichendem Maße gerecht sind.64 Was genau es heißt, dass Institutionen gerecht sind, können wir hier offenlassen. Eine 62 Man sollte Verpflichtungen jedoch nicht über den Fairness-Grundsatz definieren. Ansonsten wären unfaire Verpflichtungen keine Verpflichtungen und nicht als solche kritisierbar. 63 Das schließt freilich nicht aus, dass wir anders geartete Pflichten gegenüber solchen Personen haben. Es handelt sich jedoch nicht um Pflichten, die wir aufgrund des Fairness-Grundsatzes haben. 64 TJ §18: 96: »Obligatory ties presuppose just institutions, or ones reasonably just in view of the circumstances.«
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Mindestbedingung besteht jedoch darin, dass sie in den Bereich des von den Gerechtigkeitsgrundsätzen Erlaubten fallen. Bestimmte Institutionen – allen voran die Verfassung – geben einen »Rahmen« vor, innerhalb dessen sich private Vereinigungen »bewegen« dürfen. Rawls erläutert nicht näher, was in ausreichendem Maße gerecht (reasonably just) bedeutet. Es leuchtet jedoch ein, dass auch solche Institutionen Verpflichtungen schaffen, die nicht vollkommen gerecht sind, jedoch zumindest so gerecht, wie wir es unter den gegebenen Umständen hoffen können. Es leuchtet ebenso ein, dass vollkommen ungerechte Institutionen keine Verpflichtungen schaffen. Wo genau die Grenze liegt zwischen Institutionen, die gerade noch gerecht genug sind und solchen, die nicht mehr gerecht genug sind, um Verpflichtungen zu schaffen, lässt sich mit einer philosophischen Theorie sozialer Gerechtigkeit vermutlich nicht bestimmen. Natürliche Pflichten Von den Verpflichtungen sind diejenigen Pflichten zu unterscheiden, die wir aufgrund der natürlichen Pflichten haben. Diese Pflichten haben Einzelpersonen unabhängig von ihren willentlichen Handlungen und unabhängig davon, ob sie die Vorteile einer Institution genießen. Natürliche Pflichten sind solche, die Personen gegenüber jeder anderen Person haben, nicht allein gegenüber solchen Personen, mit denen sie in institutionellen Kooperationsbeziehungen stehen. Ein Standardbeispiel einer natürlichen Pflicht ist die Pflicht zur Nothilfe.65 Treffen wir auf eine Person in unmittelbarer Not, so haben wir normalerweise die Pflicht, ihr zu helfen. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob wir uns vorher mit ihr auf gegenseitige Hilfe in Notsituationen geeinigt haben, unabhängig davon, ob wir mit ihr in irgendeiner Art von Kooperationsbeziehung stehen, ja unabhängig davon, ob wir sie überhaupt kennen. Wir haben die Pflicht, einer bestimmten Person in Not zu helfen aufgrund der allgemeineren natürlichen Pflicht zur Nothilfe. Uns interessiert hier im Besonderen die natürliche Pflicht der Gerechtigkeit (natural duty of justice). Rawls beschreibt diese Pflicht wie folgt: »This duty requires us to support and to comply with just institutions that exist and apply to us. It also constrains us to further just arrangements not yet established, at least when this can be done without too much cost to ourselves.« (TJ §19: 99)66 65 TJ §19: 98: »The following are examples of natural duties: the duty of helping another when he is in need or jeopardy, provided that one can do so without excessive risk or loss to oneself; the duty not to harm or injure another; and the duty not to cause unnecessary suffering.« 66 Vgl. auch TJ §51: 293f.: »From the standpoint of the theory of justice, the most important natural duty is that to support and to further just
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Die natürliche Pflicht der Gerechtigkeit umfasst also eigentlich drei Pflichten. Jede Person hat die natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit, (1) existierende gerechte Institutionen zu unterstützen, wenn diese für sie gelten; (2) die Regeln existierender gerechter Institutionen zu befolgen, wenn diese für sie gelten; (3) gerechte Institutionen zu befördern, wenn das ohne allzu große Nachteile möglich ist. Dabei ist die Unterstützung von Institutionen in (1) so zu verstehen, dass jeder die Pflicht hat, existierende gerechte Institutionen aufrechtzuerhalten. Das Befördern von Institutionen in (3) besagt, dass jeder die Pflicht hat, einen angemessenen Beitrag zur Realisierung gerechter Institutionen zu leisten. Der Zusatz »wenn diese für sie gelten« in (1) und (2) ist wichtig, da viele institutionelle Regelungen nur bedingt für alle Personen gelten: Viele Gesetze etwa gelten nur für Personen, insofern sie bestimmte Eigenschaften haben. So gelten steuerliche Regelungen zum Grundbesitz nur für Personen, die Grundstücke besitzen. Die Rechtfertigung der rawlsschen Pflichtenkonzeption Wie rechtfertigt Rawls seine Pflichtenkonzeption?67 Er beansprucht keine »letztgültige« Rechtfertigung seiner Konzeption natürlicher Pflichten. Vielmehr zeigt er die Überlegenheit seiner Konzeption gegenüber utilitaristischen Grundsätzen für individuelle Handlungen auf. Das schließt nicht aus, dass sich eine dritte Konzeption beiden Alternativen als überlegen erweist. Die Überlegenheit der rawlsschen Konzeption gegenüber der utilitaristischen misst sich an zwei Adäquatheitskriterien: Erstens soll die Pflichtenkonzeption kohärent in Bezug auf die Gerechtigkeitsgrundsätze sein.68 Diese Bedingung ist recht vage formuliert. institutions. This duty has two parts: first, we are to comply with and to do our share in just institutions when they exist and apply to us; and second, we are to assist in the establishment of just arrangements when they do not exist, at least when this can be done with little cost to ourselves.« 67 Die rawlssche Rechtfertigung setzt verschiedene kontroverse Annahmen über die Begründung von Normen voraus, insbesondere sein Modell des Urzustands (original position). Die in dieser Abhandlung vorgestellte Verteidigung der rawlsschen Thesen gegen Cohens kritische Einwände soll von diesen Annahmen unabhängig sein. Die Erläuterung der rawlsschen Rechtfertigung wird daher ebenfalls auf diese Annahmen verzichten. 68 TJ §51: 294: »Now the choice of principles for individuals is greatly simplified by the fact that the principles for institutions have already been adopted. The feasible alternatives are straightway narrowed down to those that
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Ich verstehe sie folgendermaßen: Rawls geht davon aus, dass Gerechtigkeit ein Maßstab zur Bewertung von Institutionen ist. Dann liegt es nahe, dass die natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit sich in irgendeiner Weise auf Institutionen beziehen. Die natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit fordern von jeder Person die Befolgung der Regeln gerechter Institutionen sowie deren Aufrechterhaltung und Förderung. Diese Auffassung der natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit folgt nicht etwa logisch aus der Behauptung, Gerechtigkeit sei ein Maßstab zur Bewertung von Institutionen. Aber sie stellt dennoch ein naheliegendes Komplement dieser Behauptung dar. Eine utilitaristische Pflichtenkonzeption dagegen führt dazu, dass Einzelpersonen zumindest nicht in jedem Einzelfall die Pflicht haben, den Regeln gerechter Institutionen zu folgen. Eine andere Handlungsweise könnte sich ja als nutzenmaximierend erweisen. Die Pflichten von Einzelpersonen könnten also den Forderungen gerechter Institutionen widersprechen. Widersprechende Forderungen zu vermeiden, ist ein Gebot der Kohärenz einer Theorie. Auch ein Regelutilitarismus würde sich nicht kohärent in die Theorie einfügen. Dieser könnte die Unterstützung gerechter Institutionen fordern mit der Begründung, dass dies tendenziell nutzenmaximierende Folgen hat. Die Begründung ist jedoch nicht überzeugend, da eine Gesellschaft, die nach den Prinzipien der rawlsschen Gerechtigkeitstheorie geordnet ist, eben nicht notwendigerweise nutzenmaximierend eingerichtet ist. Zweitens stützt die rawlssche Konzeption effektiver das stabile Funktionieren gerechter Institutionen als die utilitaristische Position.69 Jegliche Art der Kooperation innerhalb von Institutionen bedarf stabiler Erwartungen hinsichtlich der wahrscheinlichen Handlungen der Kooperationspartner. Die allgemeine Befolgung der natürlichen Pflichten stabilisiert auch die Erwartungen in Bezug auf das Handeln anderer Personen. Wenn ein Bürger weiß, dass sein Kooperationspartner normalerweise die natürlichen Pflichten befolgt, kann er dessen Handeln recht zuverlässig prognostizieren und sein eigenes Handeln darauf abstimmen. Wenn er dagegen weiß, dass sein Kooperationspartner utilitaristische Handlungsmaximen befolgt, so ist seine Prognose über dessen Handlungen weniger zuverlässig. Denn die Nutzenkalkulation kann je nach verfügbarem Wissen und je nach Einschätzung der Folgen einer Handlung ganz constitute a coherent conception of duty and obligation when taken together with the two principles of justice.«; TJ §51: 295: »We can define the natural duty of justice as that to support and to further the arrangements that satisfy these principles; in this way we arrive at a principle that coheres with the criteria for institutions.« (Hervorhebungen JW) 69 TJ §51: 296: »Given the value of a public and effective sense of justice, it is important that the principle defining the duties of individuals be simple and clear, and that it insure the stability of just arrangements.«
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verschieden ausfallen. Natürliche Pflichten sind dagegen weniger stark von dem verfügbaren Wissen und der Folgenabschätzung abhängig. Die oben erläuterten Kriterien, nach denen Verpflichtungen zustande kommen, nennt Rawls auch den Grundsatz der Fairness.70 Die Rechtfertigung für diesen Grundsatz ähnelt dem zuletzt angeführten Grund für die rawlssche Konzeption natürlicher Pflichten: Jede institutionell gestützte kooperative Tätigkeit kann dadurch erfolgreicher betrieben werden, dass die Beteiligten die Pflicht haben und beherzigen, den institutionellen Regeln entsprechend zu handeln.71 Natürliche Pflichten sozialer Gerechtigkeit Nun ist es auffällig, dass Rawls in seiner Charakterisierung der natürlichen Pflicht der Gerechtigkeit nicht von den Institutionen der Grundstruktur spricht, sondern schlicht von Institutionen. Die natürliche Pflicht der Gerechtigkeit bezieht sich auf alle Institutionen, nicht allein auf die Institutionen der Grundstruktur. Wir haben aufgrund der natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit die Pflichten, alle existierenden gerechten Institutionen zu unterstützen und deren Regeln zu befolgen, wenn sie für uns gelten. Wir haben außerdem die Pflicht, alle ungerechten Institutionen im Lichte von Gerechtigkeitsgrundsätzen zu reformieren.72 Eingangs haben wir nach der rawlsschen Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit gefragt. Lässt sich eine solche ausmachen oder im Geiste der rawlsschen Theorie entwickeln? Die Prinzipien sozialer 70 Vgl. TJ §18: 96: »[The principle of fairness] holds that a person is required to do his part as defined by the rules of an institution when two conditions are met: first, the institution is just (or fair), that is, it satisfies the two principles of justice; and second, one has voluntarily accepted the benefits of the arrangement or taken advantage of the opportunities it offers to further one’s interests. […] Now by definition the requirements specified by the principle of fairness are the obligations. All obligations arise in this way.« 71 Rawls formuliert diese Rechtfertigung mittels des Modells des Urzustands: »From the standpoint of the original position […] it is clearly rational for the parties to agree to the principle of fairness. This principle can be used to secure these ventures in ways consistent with freedom of choice and without unnecessarily multiplying moral requirements.« (TJ §52: 306) 72 Nun bewerten die rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze allein die Grundstruktur der Gesellschaft. Die Reform anderer Institutionen muss also im Lichte anderer Gerechtigkeitsgrundsätze geschehen als der Grundsätze sozialer Gerechtigkeit. Dabei ist freilich nicht a priori ausgeschlossen, dass für einen anderen Bereich des Sozialen zufällig die gleichen Grundsätze wie die Grundsätze sozialer Gerechtigkeit gelten. Sie sind jedoch zumindest nicht bewusst für andere Bereiche als die Grundstruktur konzipiert.
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Gerechtigkeit bewerten allein die Grundstruktur. Eine Gesellschaft ist vollkommen gerecht genau dann, wenn es die Grundstruktur ist. Es liegt nahe, dass Pflichten sozialer Gerechtigkeit solche sind, die sich in irgendeiner Weise auf die Institutionen der Grundstruktur beziehen. Rawls spricht nicht von Pflichten sozialer Gerechtigkeit, deutet aber an, dass es solche Pflichten gibt, die sich allein auf die Grundstruktur beziehen. So lautet der auf die Charakterisierung der natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit folgende Satz: »Thus if the basic structure of society is just, or as just as it is reasonable to expect in the circumstances, everyone has a natural duty to do his part in the existing scheme.« (TJ §19: 99)73
Jeder hat demnach die natürliche Pflicht, in einer gerechten Grundstruktur seine Rolle zu spielen (to do his part). Diese Formulierung lässt offen, was genau unsere Pflichten hinsichtlich einer gerechten Grundstruktur sind. Nun ist es systematisch sinnvoll, analog zu den natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit drei natürliche Pflichten sozialer Gerechtigkeit zu bestimmen. Jede Einzelperson hat die natürlichen Pflichten der sozialen Gerechtigkeit (1) eine gerechte Grundstruktur aufrechtzuerhalten; (2) die Regeln einer gerechten Grundstruktur zu befolgen, wenn diese für sie gelten; (3) zur Realisierung einer gerechten Grundstruktur beizutragen, wenn dies ohne allzu große Nachteile möglich ist. Machen wir uns anhand von Beispielen deutlich, was diese Pflichten bedeuten können. Die Pflicht, eine gerechte Grundstruktur aufrechtzuerhalten, mag zum Beispiel darin bestehen, Parteien zu wählen, die eine gerechte Verfassung sowie ein gerechtes Bildungs- und Wirtschaftssystem aufrechterhalten. Auch die Pflicht, zur Realisierung einer gerechten Grundstruktur beizutragen, kann darin bestehen, durch Engagement in Parteien oder durch entsprechendes Handeln an der Wahlurne auf eben jene Realisierung hinzuwirken. Was jedoch heißt es, die Regeln einer gerechten Grundstruktur zu befolgen? Es heißt wohl, den Forderungen der Institutionen der Grundstruktur Folge zu leisten. Erwägen wir, was 73 Vgl. auch TJ §51: 294: »From the standpoint of the theory of justice, the most important natural duty is that to support and to further just institutions. This duty has two parts: first, we are to comply with and to do our share in just institutions when they exist and apply to us; and second, we are to assist in the establishment of just arrangements when they do not exist, at least when this can be done with little cost to ourselves. It follows that if the basic structure of society is just, or as just as it is reasonable to expect in the circumstances, everyone has a natural duty to do what is required of him.«
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darunter zu verstehen ist, anhand der wenigen Beispiele, die Rawls für Institutionen der Grundstruktur gibt: »The political constitution with an independent judiciary, the legally recognized forms of property, and the structure of the economy (for example, as a system of competitive markets with private property in the means of production), as well as the family in some form[.]« (JF §4.1: 10)
Rawls nimmt an, dass verschiedene konstitutionell verbriefte Grundrechte zu der Grundstruktur einer gerechten Gesellschaft gehören. Diesen Grundrechten korrespondieren verschiedene Pflichten, und diese sind ein Beispiel für Pflichten sozialer Gerechtigkeit. So hat eine Person grob gesprochen nur dann ein Recht auf Meinungsfreiheit, wenn sie weder durch staatliche noch durch private Akteure von der Äußerung ihrer Meinung abgehalten wird. Diese Pflichten können freilich auf ganz verschiedene institutionelle Weisen ausgestaltet sein, doch handelt es sich um Pflichten der sozialen Gerechtigkeit, zumindest wenn die entsprechenden Institutionen hinreichend gerecht sind. Unter der Struktur der Wirtschaft verstehe ich die grundlegenden Institutionen der Herstellung und Verteilung von Waren. Für unsere Zwecke ist nur der Verteilungsaspekt relevant. Wir konzentrieren uns hier auf diejenigen Institutionen, die einen kon trollierbaren Einfluss auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen haben. Nehmen wir an, die Einkommensteuer gehöre zu der Struktur der Wirtschaft und diese Struktur sei hinreichend gerecht. Dann haben Einzelpersonen die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, diese Einkommensteuer zu entrichten. Die Struktur der Wirtschaft kann jedoch auch in noch allgemeineren Vorschriften liegen, etwa in dem Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln. In diesem Fall haben die Bürger die korrespondierende Pflicht sozialer Gerechtigkeit, das Privateigentum an Produktionsmitteln zu achten. Schließlich ist auch die Familie dem Zitat zufolge eine Institution der Grundstruktur. Nehmen wir an, zur Institution der Familie gehöre die Regel, dass die vorschulische Bildung von Kindern größtenteils durch die Erziehungsberechtigten sichergestellt wird. Nehmen wir weiterhin an, die Institution der Familie sei hinreichend gerecht.74 Dann haben die Erziehungsberechtigten in einer gerechten Gesellschaft die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, ihren Teil zur vorschulischen Bildung ihrer Kinder beizutragen. Nun gilt die Pflicht, gerechte Institutionen der Grundstruktur zu befolgen, Rawls zufolge nur für solche Institutionen, die existieren und für uns gelten (that exist and apply to us). Nicht alle Bürger haben die gleichen Pflichten sozialer Gerechtigkeit. So haben freilich nur Erziehungsberechtigte die eben genannte Pflicht. Das sind nur einige Beispiele dafür, dass die Grundstruktur in Institutionen besteht, deren Regeln befolgt oder gebrochen werden können. 74 Das »Amt« des Erziehungsberechtigten ist m.E. Teil der Institution Familie.
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Welche Regeln genau das sind, hängt davon ab, wie der Begriff der Grundstruktur bestimmt wird. Dass es sich jedoch um institutionelle Regeln handelt, die befolgt oder gebrochen werden können, wird schon daraus ersichtlich, dass die Grundstruktur in Institutionen besteht. In stitutionen sind, wie wir bereits erläutert haben, öffentliche Regelsysteme. Dabei handelt es sich, wie wir in Kapitel 1.2 erörtert haben, um Regeln im Sinne von Vorschriften, Erlaubnissen und Privilegien und nicht um »bloße« Regelmäßigkeiten. Die natürlichen Pflichten der sozialen Gerechtigkeit unterscheiden sich also von den natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit sans phrase allein dadurch, dass sie auf spezifische Institutionen bezogen sind, nämlich auf die Institutionen der Grundstruktur. Der Sinn einer Konzeption der natürlichen Pflichten sozialer Gerechtigkeit Wieso aber sollte man überhaupt zwischen den natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit sans phrase und den natürlichen Pflichten sozialer Gerechtigkeit unterscheiden? Der erste Grund ergibt sich aus unserer Fragestellung. Ein Anliegen dieser Abhandlung ist es, Rawls’ Auffassung der begrenzten Pflichten sozialer Gerechtigkeit gegen die kritischen Einwände Cohens zu verteidigen. Um Cohens Einwände zu prüfen, müssen wir zunächst eruieren, worin die rawlssche Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit besteht. Da Rawls eine solche Konzeption nur angedeutet hat, ist es erforderlich, diese im Geiste seiner Theorie zu entwickeln. Aber auch abseits dieser spezifischen Fragestellung lassen sich Gründe für die Unterscheidung angeben. Soziale Gerechtigkeit ist eine Idee, in deren Namen Forderungen an Einzelpersonen gestellt werden. Um diese Forderungen zu überprüfen, bedarf es einer Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Weiterhin sind moralische Entscheidungen oft damit verbunden, dass wir zwischen dem Gewicht verschiedener Prinzipien abwägen. So kann und wird es vielfach zu Konflikten zwischen den Pflichten sozialer Gerechtigkeit und anderen Pflichten der Gerechtigkeit kommen. Um solche Konflikte aufzulösen, ist es hilfreich, sie zunächst einmal möglichst klar formulieren zu können, und hier hilft die Unterscheidung. Schließlich haben die Pflichten sozialer Gerechtigkeit aus zwei Gründen oftmals einen gewissen Vorrang gegenüber anderen Pflichten der Gerechtigkeit. Erstens: Wir nehmen an, die Grundstruktur bestehe auch in denjenigen Institutionen, durch die viele Institutionen verändert, erzeugt und aufgehoben werden. Man denke hier an demokratische Gesetzgebungsverfahren.75 Die Art und Weise, auf die das Gesetzgebungsverfahren 75 Diese Annahme liegt nahe, da das Gesetzgebungsverfahren einen Einfluss darauf hat, ob die Bürger langfristig Grundrechte genießen oder nicht.
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gestaltet ist, beeinflusst offensichtlich auch die Gerechtigkeit der Gesetze. Eine gerechte Grundstruktur macht gerechte Gesetze zumindest wahrscheinlich. Die Förderung einer gerechten Grundstruktur hat insofern Vorrang vor der Förderung der Gerechtigkeit von anderen Institutionen, da jene oftmals ein adäquates Mittel ist, um diese zu erreichen. Die Grundstruktur besteht zweitens auch in Institutionen, welche die Gestaltungsmöglichkeiten von privaten Vereinigungen, wie Unternehmen, Vereinen und Religionsgemeinschaften, einschränken. Das ergibt sich schon aus dem Umstand, dass die Verfassung eine Institution der Grundstruktur ist. Keine Religionsgemeinschaft darf in einer gerechten Gesellschaft ihre Mitglieder mit Gewalt am Glaubenswechsel hindern. Kein Unternehmen darf seine Angestellten bei Vergehen mit Freiheitsentzug bestrafen. Kein Verein darf seine Mitglieder dazu verpflichten, Verbrechen zu begehen etc. Die Tatsache, dass die Grundstruktur einer Gesellschaft gerecht ist, macht es wahrscheinlich, dass auch die privaten Vereinigungen innerhalb dieser Grundstruktur gerecht sind. Die Förderung einer gerechten Grundstruktur hat Vorrang, da sie sich oftmals als adäquates Mittel zur Förderung der Gerechtigkeit anderer Institutionen erweist. Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit Wir haben zwischen den natürlichen Pflichten der Gerechtigkeit sans phrase und den natürlichen Pflichten der sozialen Gerechtigkeit unterschieden. Lässt sich eine solche Unterscheidung auch in Bezug auf Pflichten aufstellen, die sich aus dem Fairness-Grundsatz ergeben? Gibt es also neben Verpflichtungen sans phrase auch Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit? Die natürlichen Pflichten sozialer Gerechtigkeit haben wir dadurch bestimmt, dass sie sich in einer bestimmten Weise auf die Grundstruktur beziehen. Analog dazu wären Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit solche Pflichten, die wir haben, weil wir uns willentlich der Grundstruktur der Gesellschaft angeschlossen resp. weil wir deren Vorteile akzeptiert haben. Genau das wird jedoch scheinbar in der rawlsschen Theorie ausgeschlossen. So charakterisiert Rawls die Grundstruktur, wie wir schon gesehen haben, als »a structure we enter only by birth and exit only by death[.]«76 76 Rawls 1999: 136. Auch in TJ findet sich eine ähnliche Passage, die dort im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen natürlichen Pflichten und Verpflichtungen steht: »[I]t seems appropriate to distinguish between those institutions or aspects thereof which must inevitably apply to us since we are born into them and they regulate the full scope of our activity, and those that apply to us because we have freely done certain things as a rational way of advancing our ends.« (TJ §52: 302)
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Wir haben jedoch bereits in 1.2 gezeigt, dass diese Charakterisierung zwar auf die Grundstruktur insgesamt zutreffen mag, jedoch nicht für alle einzelnen Institutionen der Grundstruktur gilt. Als Beispiele für Institutionen der Grundstruktur, denen wir auch willentlich beitreten können, haben wir diejenigen Institutionen genannt, welche die Verteilung der juridischen Grundrechte bestimmen. So genießen Bürger z.B. das juridische Grundrecht der Meinungsfreiheit Rawls zufolge nur dann, wenn wirksame Institutionen zu dessen Sicherung bestehen. Zu nennen sind hier etwa ein Polizeisystem, das die Bürger wirksam davon abschreckt, andere in ihrer Meinungsäußerung zu beeinträchtigen, sowie ein Justizsystem, das den Bürgern die Möglichkeit gibt, Verletzungen ihres Rechts zu beklagen. Die Pflichten, die Polizisten zur Sicherung der Grundrechte haben, sind Beispiele für Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit. Polizisten nehmen willentlich die Vorteile der Institution Polizei in Anspruch, und ihnen werden als Mitglieder der Institution Polizei Verpflichtungen auferlegt. Dabei handelt es sich um Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit, wenn sie – wie im Falle der Sicherung der Grundrechte – als Regeln der Grundstruktur zugerechnet werden. Das Gleiche gilt für weitere Institutionen der Grundstruktur zur Sicherung der Grundrechte wie der Institution des Justizsystems. Die Verpflichtungen von Richtern können Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit sein, insofern es sich um Verpflichtungen handelt, die zur Sicherung der juridischen Grundrechte der Bürger erforderlich sind. Es mag ungewohnt klingen, Polizisten Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit zuzuschreiben. Man beachte jedoch, dass wir von sozialer Gerechtigkeit in einem weiten Sinne sprechen. Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit machen nicht nur Vorschriften zur gesamtgesellschaftlichen Verteilung von Chancen und materiellen Gütern, sondern auch zur Verteilung von Grundrechten und Freiheiten. Polizisten und Richter haben Verpflichtungen anderer Art als Personen, die z.B. in der Privatwirtschaft tätig sind, denn sie sind innerhalb von Institutionen tätig, die den Anspruch auf gewisse juridische Grundrechte erfüllen, den eine jede Person im Lichte sozialer Gerechtigkeit hat. Die Rekonstruktion der rawlsschen Konzeption der Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit artikuliert und rechtfertigt damit unser übliches Verständnis. Denn eine Person, die gegen Verpflichtungen verstößt, die ihr in einer Firma auferlegt werden, bewerten wir anders als einen Polizisten, der gegen seine Verpflichtungen verstößt. Halten wir fest: Einzelpersonen haben aufgrund der natürlichen Pflicht der Gerechtigkeit drei Pflichten sozialer Gerechtigkeit: Die Pflicht, eine gerechte Grundstruktur aufrechtzuerhalten, die Pflicht, eine ungerechte Grundstruktur im Lichte der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu reformieren und die Pflicht, die für sie geltenden Regeln einer gerechten Grundstruktur zu befolgen. Sie können außerdem weitere 64
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Verpflichtungen sozialer Gerechtigkeit haben, wenn sie wie etwa Polizisten Mitglieder von Institutionen sind, die Teil der Grundstruktur sind. Wir können nun auch deutlich machen, inwiefern die Pflichten sozialer Gerechtigkeit begrenzt sind. Einzelpersonen haben allein Pflichten sozialer Gerechtigkeit, die sich auf die Grundstruktur beziehen. Sie haben, das wurde bereits deutlich, keine Pflichten in Bezug auf andere Institutionen oder private Vereinigungen. So hat im Lichte sozialer Gerechtigkeit niemand die Pflicht, wohltätigen Vereinen oder Nichtregierungsorganisationen beizutreten oder sich in Religionsgemeinschaften zu engagieren. Weiterhin gibt es keine Pflichten sozialer Gerechtigkeit, hilfsbedürftigen Menschen zu helfen, es sei denn durch die Aufrechterhaltung und Beförderung einer gerechten Grundstruktur. Das schließt nicht aus, dass es andere Pflichten gibt, die genau das verlangen. Ich habe schon die natürliche Pflicht zur Nothilfe erwähnt. Diese ist jedoch keine Pflicht sozialer Gerechtigkeit. Unter den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit versteht Rawls Prinzipien, welche die Grundstruktur in Hinblick darauf bewerten, wie sie Freiheiten, Chancen und materielle Güter verteilt. Dass eine bestimmte Verteilung von Freiheiten besteht, heißt nichts anderes, als dass Institutionen wie die Verfassung und das Rechtssystem auf bestimmte Weise eingerichtet sind. Es besteht also eine logische Beziehung zwischen den Institutionen der Grundstruktur und der Verteilung von Freiheiten. Dagegen besteht eine kausale Beziehung zwischen den Institutionen der Grundstruktur und der Verteilung von Chancen und materiellen Gütern. Die Institutionen der Grundstruktur sind also unter anderem danach zu bewerten, auf welche Weise sie die Verteilung von Chancen sowie von Einkommen und Vermögen beeinflussen. Dieser Punkt wird in 2.3 noch ausführlicher erörtert. Die Begrenzung der Pflichten sozialer Gerechtigkeit leuchtet damit sofort ein, wenn wir den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz betrachten. Da Grundrechte nichts anderes als Institutionen der Grundstruktur sind, überzeugt die Auffassung, die Pflichten sozialer Gerechtigkeit auf die Förderung, Aufrechterhaltung und Befolgung dieser Institutionen zu beschränken. Es gibt schlicht keine andere Möglichkeit, die Grundrechte der Bürger zu sichern. Im Falle des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes ist die Begrenzung der Pflichten sozialer Gerechtigkeit dagegen weniger offensichtlich. Denn die Grundstruktur wird danach bewertet, welchen kausalen Einfluss sie auf die Verteilung von Chancen sowie Einkommen und Vermögen hat. Es stellt sich daher die Frage, wieso wir allein mithilfe der Institution der Grundstruktur auf Chancengleichheit und eine Verteilung materieller Güter, die dem DP entspricht, hinarbeiten sollten. Wieso sollten wir uns im Lichte sozialer Gerechtigkeit nicht ebenfalls in wohltätigen Vereinen engagieren oder Geld für weniger begünstigte Mitbürger spenden? Doch die rawlssche Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit sagt genau das: Wir 65
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haben nicht die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, auf irgendeine andere Weise als durch die Förderung, Aufrechterhaltung und Befolgung der Institutionen der Grundstruktur auf diejenigen Verteilungen von Freiheiten, Chancen und materiellen Gütern einzuwirken, welche die Gerechtigkeitsgrundsätze gebieten. Wie wir im folgenden Teil ausführen werden, setzt Cohens Kritik genau an diesem Punkt an.
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2. Cohens Kritik der rawlsschen Theorie Im zweiten Teil des Buches möchte ich die in 1.2 und 1.3 erläuterten und rekonstruierten Thesen von Rawls gegen kritische Einwände Cohens verteidigen. Cohen übt in RJE auf vielfache Weise Kritik an der rawlsschen Theorie. Ich möchte mich auf die drei m.E. schwerwiegendsten Einwände Cohens beschränken, welche die rawlssche Auffassung von dem Gegenstand und den Pflichten sozialer Gerechtigkeit betreffen. In 2.1 wird die These verteidigt, dass die Pflichten sozialer Gerechtigkeit auf die Unterstützung, Förderung und Befolgung der Institutionen einer gerechten Grundstruktur beschränkt sind. Meine Rekonstruktion von Cohens Kritik besagt in Kürze, dass Personen wie Kindesentführer handeln können, ohne gegen die rawlsschen Pflichten sozialer Gerechtigkeit zu verstoßen. Darauf antworte ich, dass seine Kritik auf kontroversen Wertüberzeugungen beruht. Gleichwohl wird die These Cohens nicht vollständig widerlegt. Die Auseinandersetzung führt vielmehr zu dem Ergebnis, dass das Ethos einer Gesellschaft für deren Gerechtigkeit relevant sein könnte. In 2.2 prüfe ich Cohens These, dass eine Gesellschaft nur dann vollkommen gerecht ist, wenn in ihr ein egalitäres Ethos weit verbreitet ist. Mit einem egalitären Ethos sind geteilte Haltungen und Gewohnheiten gemeint, die der Förderung der Gleichverteilung materiellen Wohlstandes dienen. Cohens These betrifft die rawlsschen Konzeptionen von Gegenstand und Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeitsprinzipien sollten Cohen zufolge auch das Ethos einer Gesellschaft bewerten. Cohens Ausführungen legen außerdem nahe, dass die Bürger einer gerechten Gesellschaft die Pflicht sozialer Gerechtigkeit haben, im Sinne eines egalitären Ethos zu handeln. Meine Antwort ist, dass ein egalitäres Ethos innerhalb einer liberalen Gesellschaft nicht generationenübergreifend aufrechterhalten werden kann. Es handelt sich damit um keine überzeugende Forderung innerhalb einer Theorie sozialer Gerechtigkeit, die ein stabiles Gerechtigkeitsideal zu formulieren sucht. 2.3 widmet sich schließlich dem Begriff der Grundstruktur. Cohen kritisiert, dass sich keine überzeugende Definition der Grundstruktur auffinden lasse. An Rawls anknüpfend entwickle ich eine solche Definition.
2.1 Kritik an der rawlsschen Pflichtenkonzeption In diesem Kapitel wende ich mich dem ersten Einwand Cohens gegen die rawlssche Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit zu. Cohen entwirft in RJE eine Analogie zwischen dem Handeln der Bessergestellten in einer dem rawlsschen Gerechtigkeitsideal entsprechenden Gesellschaft 67
COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
und dem Handeln eines Kindesentführers. Die Analogie ist Teil einer kritischen Auseinandersetzung Cohens mit der rawlsschen Rechtfertigung von Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur materieller Güter. Sie lässt sich jedoch ebenso für sich als Kritik an der rawlsschen Pflichtenkonzeption verstehen, und dabei handelt es sich m.E. um den wesentlichen Kritikpunkt. Denn hier kollidieren zwei weit verbreitete Ansichten: Zum einen die Auffassung, dass wir im Lichte sozialer Gerechtigkeit ausschließlich gewisse Institutionen reformieren und unterstützen sollten. Zum anderen die Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit den Bürgern umfassendere Pflichten auferlegt: Bspw. die Pflicht, bedürftigen Menschen unmittelbar zu helfen, die Pflicht, sich in wohltätigen Vereinen zu engagieren oder die Pflicht, hart zu arbeiten und hohe Steuern zu zahlen.1 Ich lese also die Kidnapper-Analogie, wie ich sie nennen möchte, im Folgenden weitgehend losgelöst als Kritik an der rawlsschen Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Dennoch ist es dem Verständnis dienlich, zunächst den argumentativen Zusammenhang zu skizzieren, in dem Cohen die Analogie benutzt. Cohen möchte die rawlssche Rechtfertigung der Ungleichheiten, die das DP erlaubt, einer Kritik unterziehen. Das DP bewertet unserer Interpretation zufolge Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur materieller Güter. Cohen interpretiert das DP implizit genauso: Materielle Ungleichheiten sind genau dann erlaubt, wenn die Lage der in Hinsicht auf Einkommen und Vermögen Schlechtestgestellten so gut wie möglich ist. Wie lassen sich diese Ungleichheiten rechtfertigen?2 Gewisse Ungleichheiten sind gerechtfertigt, weil sie es ermöglichen, die Position der Schlechtestgestellten zu verbessern. Eine Gleichverteilung materieller Güter ist nicht die beste aller möglichen Verteilungsoptionen. Sie führt nämlich aller Voraussicht nach dazu, dass alle Bürger über weniger materielle Güter verfügen als im Falle einer Ungleichverteilung, in der die Position der Schlechtestgestellten maximiert ist. Es gibt m.a.W. Ungleichverteilungen, die im Vergleich zu einer Gleichverteilung pareto-superior sind und die insbesondere den Schlechtestgestellten maximal zugutekommen.3 Wieso aber kann die Position der Schlechtestgestellten innerhalb eines Wirtschaftssystems, das Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen zulässt, höher sein als in einem solchen, 1 Wie wir noch sehen werden, fordert Cohen nur die zuletzt genannte Handlungsweise. Bei den anderen Beispielen handelt es sich jedoch ebenfalls um weit verbreitete Ansichten. 2 Für eine ausführlichere Darstellung der im Folgenden skizzierten »prudentiellen« Rechtfertigung von Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur von Einkommen, die in etwa dem Anreizargument entspricht, vgl. Hinsch 2002: 173. 3 Cohen übt auch Kritik an dem von ihm sog. pareto argument. Diese trifft jedoch nicht die rawlsschen Auffassungen von Gegenstand und Pflichten
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das eine Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen anstrebt? Das Zulassen von Ungleichheiten durch entsprechend gestaltete Institutionen des Wirtschaftssystems ermöglicht es, ein System von Anreizen einzuführen, durch das die Produktivität der Wirtschaft insgesamt im Vergleich zur Gleichverteilung erhöht wird.4 Zusammen mit geeigneten Maßnahmen der Umverteilung führt das zu einer Besserstellung der Schlechtestgestellten. Diese Behauptung beruht auf weithin geteilten wirtschaftswissenschaftlichen Auffassungen. Um den Punkt möglichst deutlich zu machen, sollten wir allerdings zwischen zwei Behauptungen unterscheiden: Erstens: Das Zulassen von Ungleichheiten im Wirtschaftssystem kann zu einer Verteilungsstruktur führen, bei der die Position der Schlechtestgestellten höher ist als in einem Wirtschaftssystem, das eine Verteilungsstruktur der Gleichheit bewirkt.5 Zweitens: Das Zulassen von Ungleichheiten im Wirtschaftssystem ermöglicht die Einführung eines Systems von Anreizen. Ein solches erhöht die Produktivität der Wirtschaft insgesamt und führt zusammen mit geeigneten Maßnahmen der Umverteilung zur Besserstellung der Schlechtestgestellten.6 Rawls vertritt sicherlich die erste, allgemeinere Behauptung. Dagegen hält er die zweite, speziellere Behauptung lediglich für eine von mehreren möglichen Erklärungen oder eine Teilerklärung der ersten.7 Cohen
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sozialer Gerechtigkeit und kann daher in dieser Abhandlung vernachlässigt werden, vgl. RJE: 87–115. Durch meine Wortwahl möchte ich keine behavioristische Position vertreten. Ich übernehme lediglich den inzwischen üblichen Sprachgebrauch. Anreize sind hier als gute Gründe für eine Handlungsweise zu verstehen, und zwar als gute Gründe im Lichte üblicher Interessen. Zur Verdeutlichung: Rawls geht davon aus, dass die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften nahelegen, dass ein bestimmtes Wirtschaftssystem, das Ungleichheiten zulässt, allen Wirtschaftssystemen, die Ungleichheiten verbieten, hinsichtlich der Höchststellung der Schlechtestgestellten überlegen ist. Das ist eine empirische Behauptung. Das DP besagt nun, dass Ungleichheiten dann und nur dann gerechtfertigt und geboten sind, wenn sie dazu führen, die Position der Schlechtestgestellten zu maximieren. Gäbe es ein Wirtschaftssystem der Gleichverteilung, das allen Wirtschaftssystemen der Ungleichverteilung überlegen wäre, würde das DP die Einrichtung dieses Wirtschaftssystems der Gleichverteilung fordern. Hinsch zufolge ergibt sich die Form der OP-Kurve aus der empirischen Annahme, ein System von Anreizen könne zu höheren Einkommen der Schlechtestgestellten führen, vgl. JF §18.1: 62 und Hinsch 2002: 13. Dass die zweite Behauptung eine Teilerklärung der ersten ist, dazu vgl. JF §19.2: 68: »Plainly the difference principle is not egalitarian in [the sense of strict equality], since it recognizes the need for inequalities in social and economic organization, of which their role as incentives is but one.« Vgl. auch PL VII §5: 270: »[Social and economic] inequalities, we may assume,
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schreibt der zweiten Behauptung dagegen eine zentrale Aufgabe in der rawlsschen Rechtfertigung von Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur materieller Güter zu. Um des Arguments willen wollen wir Cohens Ansicht hier übernehmen. Die gesamte dargestellte Argumentation zur Rechtfertigung von Ungleichheiten bezeichnet Cohen als das Anreizargument (incentives argument). Gegen das Anreizargument formuliert Cohen nun folgenden Einwand: Anreize werden einzelnen Personen angeboten, um sie dazu zu bringen, härter zu arbeiten. Die härtere Arbeit von Einzelpersonen ist Cohen zufolge ein wesentlicher Faktor für die höhere Produktivität eines Wirtschaftssystems. Es ist Einzelpersonen jedoch ebenfalls möglich, härter zu arbeiten, ohne dass ihnen dafür Anreize angeboten werden. Es handelt sich daher lediglich um eine Entscheidung der jeweiligen Personen, nur dann härter zu arbeiten, wenn sie dadurch materielle Vorteile gegenüber ihren Mitbürgern genießen können. Anreize und damit Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen sind also, so folgert Cohen, nicht alternativlos, um die Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern. Anreize sind nur deshalb zur Produktivitätssteigerung erforderlich, weil die talentierten Reichen (talented rich) resp. die Bessergestellten sich nur dann zum härteren Arbeiten zu entschließen bereit sind, wenn sie durch Anreize dazu »verlockt« werden.8 Das bedeutet auch, dass die Bessergestellten nur dann bereit sind, den Schlechtestgestellten are inevitable, or else necessary or highly advantageous in maintaining effective social cooperation. Presumably there are various reasons for this, among which the need for incentives is but one.« In TJ äußert sich Rawls der ersten Behauptung gegenüber unbestimmter und offener für Alternativerklärungen: »The inequality in expectation is permissible only if lowering it would make the working class even more worse off. Supposedly, given the rider in the second principle concerning open positions, and the principle of liberty generally, the greater expectations allowed to entrepreneurs encourages them to do things which raise the prospects of laboring class. Their better prospects act as incentives so that the economic process is more efficient, innovation proceeds at a faster pace, and so on. I shall not consider how far these things are true. The point is that something of this kind must be argued if these inequalities are to satisfy by the difference principle.« (TJ §13: 68; Hervorhebung JW). Auch Samuel Scheffler ist nicht der Auffassung, dass Rawls Anreizen die von Cohen behauptete Rolle zuspricht, vgl. Scheffler 2010: 143. 8 Cohen spricht rhetorisch von den Reichen (rich), den talentierten Reichen (talented rich) oder schlicht von den Managern (manager). Diese bezeichnen allesamt lediglich die Einkommensgruppe der Bessergestellten. Zur Vereinfachung geht Rawls bei der Suche nach einem Verteilungsprinzip für Einkommen und Vermögen davon aus, dass es nur zwei Einkommensgruppen in der Gesellschaft gibt: Die Bessergestellten und die Schlechtestgestellten. Cohen übernimmt diese Vereinfachung. Im Folgenden werden wir schlicht
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durch ihre härtere Arbeit zu helfen, wenn sie dafür einen höheren Lohn als diese erhalten. Die Überzeugungskraft des Anreizarguments beruht Cohen zufolge auf der impliziten Annahme, dass das Handeln der Bessergestellten moralisch unproblematisch sei. Es handelt sich um eine Handlungsweise, die selbst in der dem rawlsschen Gerechtigkeitsideal entsprechenden Gesellschaft schlicht erlaubt ist. Es ist jedoch diese Annahme, aufgrund derer das Anreizargument Cohen zufolge letztlich scheitert. Die Handlungen der Bessergestellten sind nämlich keinesfalls moralisch unproblematisch. Das Anreizargument kann Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur materieller Güter nicht rechtfertigen, denn die vermeintlich gerechtfertigten Ungleichheiten sind eine Folge des moralisch falschen Handelns der Bessergestellten. Die Bessergestellten handeln moralisch falsch, d.h. sie verstoßen gegen die Pflichten sozialer Gerechtigkeit, wie sie ihnen Cohen zufolge zugeschrieben werden sollten. Mit der Kidnapper-Analogie möchte Cohen die moralische Verwerflichkeit des Handelns der Bessergestellten demonstrieren. Darstellung der Kidnapper-Analogie Zur Beschreibung der Kidnapper-Analogie fingiert Cohen folgende Situation: Nehmen wir an, die Regierung eines Staates erwäge eine Erhöhung der »Bessergestelltensteuer« von 40% auf 60%. Diese Steuererhöhung trifft alle Bessergestellten. Wird das Gesetz zur Steuererhöhung erlassen, so stehen die Bessergestellten vor zwei Handlungsalternativen: (H1) Sie können genauso hart wie vor der Steuererhöhung weiterarbeiten. (H2) Sie können im Vergleich zu ihrem Arbeitseinsatz vor der Steuererhöhung weniger engagiert arbeiten. Ergreifen die Bessergestellten die erste Alternative (H1), steigt das Steueraufkommen und durch geeignete Maßnahmen der Umverteilung kann die Position der Schlechtestgestellten verbessert werden. Ergreifen sie dagegen die zweite Alternative (H2), sinkt das Steueraufkommen und die Position der Schlechtestgestellten verschlechtert sich im Vergleich zur Ausgangslage. Rawls zufolge ist es den Bessergestellten im Lichte sozialer Gerechtigkeit erlaubt, im Sinne von (H1) oder im Sinne von (H2) zu handeln. Es ist ihnen m.a.W. freigestellt, sich für die eine oder die andere Handlungsalternative zu entscheiden. Keine der beiden Alternativen verstößt gegen die Pflichten sozialer Gerechtigkeit, von den Bessergestellten sprechen. Damit sind durchweg die Bessergestellten im rawlsschen Sinne gemeint.
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eine gerechte Grundstruktur aufrechtzuerhalten und zu befördern sowie deren Regeln zu befolgen. Zwar fordert das DP eine Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen, die den Schlechtestgestellten maximal zugutekommt. Doch dabei handelt es sich um eine Forderung an die Institutionen der Grundstruktur und nur indirekt auch an Einzelpersonen. Cohen zufolge haben die Bessergestellten dagegen die Pflicht, die Alternative (H1) zu ergreifen. Denn nur durch ein solches Handeln befördern sie eine Verteilungsstruktur materieller Güter, welche die Position der Schlechtestgestellten maximiert. Wenn sie dagegen (H2) ergreifen, handeln sie falsch. Sie verstoßen gegen die cohenschen Pflichten sozialer Gerechtigkeit.9 Die Schlechtestgestellten sind nämlich dann schlechtergestellt, als sie es sein müssten. Kommen wir nun zu der Analogie selbst. Ein Argument gegen die Erhöhung der Bessergestelltensteuer ist das folgende: »Economic inequalities are justified when they make the worst off people materially better off. […] When the top tax rate is 40 percent, (a) the talented rich produce more than they do when it is 60 percent, and (b) the worst off are, as a result, materially better off. […] Therefore, the top tax should not be raised from 40 percent to 60 percent.« (RJE: 34)
Das Argument beginnt mit der Prämisse, dass Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur materieller Güter gerechtfertigt sind, wenn sie die Position der Schlechtestgestellten (worst off) verbessern. In (a) wird sodann prognostiziert, dass die Bessergestellten produktiver arbeiten werden, wenn ihre Einkommen mit 40% besteuert werden, als wenn sie mit 60% besteuert werden. In (b) wird weiter prognostiziert, dass die Position der Schlechtestgestellten bei einer Besteuerung der Bessergestellten mit 40% besser sein wird. Es wird schließlich gefolgert, dass die Bessergestelltensteuer nicht erhöht werden sollte. Das Argument könnte beispielsweise während einer Parlamentsdebatte vorgebracht werden. Cohen zufolge handelt es sich um eine »Anwendung« des Anreizarguments. Er nennt das Argument aber auch schlicht das Anreizargument (incentives argument) und wir halten es im Folgenden ebenso.10 Es gibt nun Cohen zufolge zwei Möglichkeiten, das Anreizargument darzustellen. Normalerweise wird die Drittperson-Perspektive gewählt, wie wir es auch gerade getan haben. Es handelt sich um eine Drittperson-Perspektive, weil von 9 Zwar spricht Cohen nicht von Pflichten sozialer Gerechtigkeit, der Sache nach vertritt er aber die dargestellte Position. 10 Das sollte insofern nicht zu Missverständnissen führen, als dass das Anreiz argument in seiner »allgemeinen« Form im Folgenden keine Rolle mehr spielen wird.
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den Bessergestellten sowie von den Schlechtestgestellten in der dritten Person die Rede ist. Eine andere Möglichkeit der Darstellung des Arguments ist die interpersonale Perspektive resp. die Erstperson-Perspektive. In dieser Darstellung bringen die Bessergestellten das Argument selbst gegenüber den Schlechtestgestellten vor. Es lautet dann folgendermaßen: »Public policy should make the worst off people (in this case, as it happens, you) better off. If the top tax goes up to 60 percent, we shall work less hard, and, as a result, the position of the poor (your position) will be worse. So the top tax on our income should not be raised to 60 percent.« (RJE: 59)
Lediglich die zweite Prämisse des Arguments wird durch die Umformulierung substantiell geändert. Schon an dieser Stelle sei dabei auf eine Besonderheit dieser Prämisse hingewiesen. Die Bessergestellten sprechen über ihr zukünftiges Handeln im Falle der Steuererhöhung. Dabei bleibt in Cohens Formulierung offen, ob die Bessergestellten ihr zukünftiges Handeln prognostizieren oder ob sie eine Absichtserklärung machen.11 So lässt sich die Passage auf zwei verschiedene Weisen übersetzen: Wenn die Bessergestelltensteuer auf 60% steigt, dann wird es der Fall sein, dass wir weniger hart arbeiten. Oder: Wenn die Bessergestelltensteuer auf 60% steigt, dann beabsichtigen wir, weniger hart zu arbeiten. Im Falle der ersten Übersetzung wird das Handeln der Bessergestellten wie in der Drittperson-Perspektive als bloße Tatsache hingestellt. Im Falle der zweiten Übersetzung dagegen wird das Handeln der Bessergestellten als absichtsvolles und planbares Unterfangen dargestellt. Bevor wir nun näher auf die Umformulierung von der Erstpersonin die Drittperson-Perspektive eingehen, soll zunächst das analoge Kidnapper-Argument dargestellt werden. Wir fingieren dabei folgende Situation: Die Eltern eines entführten Kindes fragen sich, ob sie das vom Entführer geforderte Lösegeld zahlen sollten. Cohen gibt ein Argument dafür an die Hand: »Children should be with their parents. Unless they pay him, the kidnapper will not return this child to its parents. So this child’s parents should pay this kidnapper.« (RJE: 39) 11 Zu den verschiedenen hier relevanten Verwendungsweisen des Hilfsverbs »shall«, vgl. »shall, v.«. OED Online: Abschnitt 8b.
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Die erste Prämisse erhebt die Forderung, dass Kinder normalerweise bei ihren Eltern sein sollten. In der zweiten Prämisse wird eine Prognose über das wahrscheinliche Handeln des Kindesentführers aufgestellt: Dieser wird das Kind vermutlich nur dann den Eltern zurückgeben, wenn sie das geforderte Lösegeld zahlen. Aus beiden Prämissen wird gefolgert, dass die Eltern den Entführer bezahlen sollten. Auch dieses Argument lässt sich nun in die Erstperson-Perspektive bringen. Nun ist es der Kindesentführer selbst, der das Argument gegenüber den Eltern vorbringt: »Children should be with their parents. Unless you pay me, I shall not return your child. So you should pay me.« (RJE: 39)
Hier sind die zweite und die dritte Prämisse von der Umformulierung betroffen. Wiederum ist darauf hinzuweisen, dass sich die zweite Prämisse einerseits als Prognose des Kindesentführers über sein eigenes zukünftiges Handeln verstehen lässt, andererseits als Absichtserklärung. Das erste Verständnis ist jedoch offensichtlich nicht angemessen. Es ist nämlich allein der Kidnapper, der entscheidet, ob er das Kind freilässt oder nicht. Das Freilassen oder Gefangenhalten des Kindes ist eine absichtsvolle Handlung des Kindesentführers und kein bloßes Widerfahrnis, auf das er keinen Einfluss hat. Der Übersicht halber seien hier die relevanten Zitate noch einmal zusammengestellt: (1) Drittperson-Perspektive: »Children should be with their parents. Unless they pay him, the kidnapper will not return this child to its parents. So this child’s parents should pay this kidnapper.« (RJE: 39)
(2) Erstperson-Perspektive. Der Kidnapper sagt zu den Eltern: »Children should be with their parents. Unless you pay me, I shall not return your child. So you should pay me.« (RJE: 39)
(3) Drittperson-Perspektive: »Economic inequalities are justified when they make the worst off people materially better off. […] When the top tax rate is 40 percent, the talented rich produce more than they do when it is 60 percent, and (b) the worst off are, as a result, materially better off. […] Therefore, the top tax should not be raised from 40 percent to 60 percent.« (RJE: 34)
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(4) Erstperson-Perspektive. Die Bessergestellten sagen zu den Schlechtestgestellten: »Public policy should make the worst off people (in this case, as it happens, you) better off. If the top tax goes up to 60 percent, we shall work less hard, and, as a result, the position of the poor (your position) will be worse. So the top tax on our income should not be raised to 60 percent.« (RJE: 59)
Die Analogie besteht Cohen zufolge zwischen dem Kidnapper-Argument und dem Anreizargument. (1) ist analog zu (3) und (2) ist analog zu (4). Die Analogie soll zeigen, dass die Bessergestellten ebenso moralisch falsch handeln, wie es der Kidnapper tut.12 Damit wird zugleich die rawlssche Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit einer Kritik unterzogen. Denn eine Auffassung, der zufolge Personen gleichzeitig im Lichte sozialer Gerechtigkeit vollkommen gerecht und wie Kindesentführer handeln können, erscheint problematisch. Warum sollten wir nun die Argumente in der Erstperson-Perspektive darstellen? Cohen entwickelt eine Theorie, der zufolge eine Gesellschaft nur dann zugleich eine Gemeinschaft (community) ist, wenn jeder Bürger die Handlungen, die er gegenüber den existierenden Institutionen ausübt, gegenüber jedem anderen Bürger rechtfertigen kann.13 Das betrifft auch die 12 Zwar mag die Handlungsweise des Kidnappers in stärkerem Grade moralisch falsch sein als die der Bessergestellten, doch sind beide Handlungsweisen moralisch zu verurteilen. 13 Cohens Begriff der Gemeinschaft ist damit von dem rawlsschen Gemeinschaftsideal zu unterscheiden, vgl. dazu TJ §79: 456–464. Unter anderem hat die Gemeinschaft Rawls zufolge deshalb einen Wert, weil Einzelpersonen nur einen Teil ihrer angeborenen Talente und Begabungen verwirklichen und damit einen Teil ihrer »Natur« ausdrücken können. Die menschliche Natur insgesamt auszudrücken, hat jedoch ebenfalls einen Wert, der nur gemeinsam realisiert werden kann. In PL spricht Rawls dann in einem wiederum anderen Sinne von Gemeinschaft. Der Rekurs auf Ideen wie die der menschlichen Natur wird dort unterlassen, da diese Ideen als Teile umfassender Lehren nicht Grundlage einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit sein können. Gemeinschaften werden in PL als solche Vereinigungen verstanden, deren Mitglieder dieselbe umfassende Lehre unterstützen und die entsprechenden Werte zu verwirklichen suchen. In diesem Sinne ist die Gesellschaft keine Gemeinschaft: »[J]ustice as fairness does indeed abandon the ideal of political community if by that ideal is meant a political society united on one […] comprehensive doctrine. That conception of social unity is excluded by the fact of reasonable pluralism« (PL IV §7.1: 201) Statt von der Idee der politischen Gemeinschaft spricht Rawls jedoch in demselben Paragraphen vom Gut – man könnte auch sagen: Wert – der politischen Gesellschaft (the good of political society).
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Handlungen gegenüber Institutionen wie dem Steuersystem, wie sie in (3) und (4) erwähnt sind. Wir werden am Ende des Kapitels auf diese Funktion der Erstperson-Perspektive zurückkommen, wollen diese jedoch zunächst anspruchsloser als nützliches Hilfsmittel betrachten, das bei manchen Argumenten verschleierte Annahmen zum Vorschein bringt. Es handelt sich dann um ein Mittel wie etwa das Überführen von Substantiven in andere Wortarten: Die Redeweise von dem Guten, Wahren und Schönen etwa suggeriert, dass es sich bei dem Guten, Wahren und Schönen um Gegenstände handle. Abhilfe schaffen hier alternative Redeweisen wie etwa »gut handeln«, »wahre Aussagen machen«, »schöne Kunstwerke betrachten«. Wir haben schon angedeutet, was der Wechsel der Formulierung von der dritten Person zur ersten Person zum Vorschein bringt. Trägt der Kidnapper das Argument selbst vor, kann er seine eigene Handlung im Falle des Nichtbezahlens der Eltern kaum als Prognose darstellen. Es handelt sich vielmehr um absichtliches und planvolles Handeln seinerseits, aufgrund dessen die zweite Prämisse zutrifft. Es handelt sich bei der Drittperson-Perspektive in (1) um ein womöglich überzeugendes Argument, das in seiner Schlussfolgerung zu einer moralischen Forderung führt. Dagegen wird es in der Erstperson-Perspektive in (2) zu einer zynischen Bemerkung des Entführers. In der Drittperson-Perspektive gibt das Argument einen Grund dafür an die Hand, dass die Eltern den Entführer bezahlen sollten. In der Erstperson-Perspektive gibt der Entführer selbst den Eltern die moralische Empfehlung, ihn zu bezahlen. Das Handeln des Kindesentführers – Entführung, Erpressung, womöglich die Androhung, einem unschuldigen Kind Leid zuzufügen – ist unter normalen Bedingungen offensichtlich moralisch falsch. Das Argument wird als Empfehlung für moralisches Handeln absurd, wenn es vom Kidnapper selbst geäußert wird, denn er ist es ja selbst, der durch seine Handlungen dafür sorgt, dass die zweite Prämisse wahr ist.14 Es sind seine Handlungen, durch welche die Notsituation von Eltern und Kind überhaupt erst hervorgerufen wird. (2) verdeutlicht also im Gegensatz zu (1) die moralische Verwerflichkeit der Handlungen des Kidnappers und die Tatsache, dass die zweite Prämisse in (1) und (2) nur aufgrund der Handlungen und Entscheidungen des Kidnappers wahr ist. Nun zum Anreizargument. Cohen konstatiert wiederum, dass die Drittperson-Perspektive in (3) zunächst unproblematisch erscheint. Es handelt sich um ein prima facie überzeugendes Argument. Genauso wie im Fall des Kidnappers prüfen wir nun, ob verschleierte Annahmen zum Vorschein kommen, wenn das Argument in (4) von den Bessergestellten gegenüber den Schlechtestgestellten vorgetragen wird. Die zweite Prämisse ist wiederum nur deshalb wahr, weil die Bessergestellten auf bestimmte Weise handeln. Sie könnten weiterhin auf demselben Niveau 14 Vgl. RJE: 40.
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arbeiten, selbst wenn die Bessergestelltensteuer angehoben werden würde. Die Bessergestellten handeln daher scheinbar wie der Kindesentführer moralisch falsch, wenn sie nicht auch im Falle einer höheren Bessergestelltensteuer auf gleichem Niveau weiterarbeiten. Sie handeln, so scheint es, wie Kindesentführer, wenn sie nur unter der Bedingung höherer als gleicher Einkommen dazu bereit sind, härter zu arbeiten. Kritik der Analogie Prüfen wir nun, ob die behauptete Analogie zwischen dem Handeln des Kidnappers und dem der Bessergestellten tatsächlich besteht. Analogien behaupten eine Strukturgleichheit zwischen zwei Analoga. Sie behaupten also, dass einige relevante Eigenschaften der beiden Analoga gleich sind. Wenn wir prüfen wollen, ob der Kidnapper und die Bessergestellten tatsächlich analog handeln, so ist im Einzelnen zu prüfen, ob die Strukturgleichheit besteht. Wenn sich dagegen relevante Unterschiede zwischen den beiden Analoga aufweisen lassen, dann besteht die Analogie auch nicht und das Analogieargument scheitert. Im Folgenden legen wir ausführlich dar, dass die behauptete Analogie nicht zutrifft. Die beiden Analoga haben scheinbar folgende relevante Gemeinsamkeiten: Erstens: Der Kindesentführer erpresst die Eltern des Kindes genauso, wie die Bessergestellten die Schlechtestgestellten erpressen. Zweitens: Der Kidnapper und die Bessergestellten handeln gleichermaßen moralisch falsch. Drittens: Der Kidnapper und die Bessergestellten sind gleichermaßen entscheidungsfähige Akteure. Viertens: Der Kidnapper und die Bessergestellten sind gleichermaßen dazu fähig, die angedrohte Handlung auszuführen oder zu unterlassen. Handeln die Bessergestellten erpresserisch? Beginnen wir damit zu zeigen, warum es nicht einsichtig ist, dass die Bessergestellten analog zum Kidnapper erpresserisch handeln, wenn sie höhere als gleiche Löhne verlangen. Dabei lassen wir hier zunächst außer Acht, dass die Redeweise von den Bessergestellten problematisch ist, wenn man sie in analoger Weise zu einem Kindesentführer versteht. Darauf gehen wir unten näher ein. Die Bessergestellten sind in dem Beispiel nur bei einer Bessergestelltensteuer von 40% bereit, härter zu arbeiten, nicht aber im Falle einer Bessergestelltensteuer von 60%. Wir können nun zwei relevante Fälle unterscheiden: Erstens: Die Gruppe der Schlechtestgestellten ist allein im relativen Sinne schlecht gestellt. Absolut gesehen ist sie dagegen gut gestellt. Das 77
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bedeutet, es handelt sich zwar um die niedrigste Einkommensgruppe in der Gesellschaft, ihre Mitglieder leiden jedoch keine existentielle Not. Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der jeder die gleichen Grundfreiheiten hat, in der Chancengleichheit realisiert ist und in der auch die Schlechtestgestellten einen gewissen materiellen Wohlstand genießen. Eine solche Gesellschaft hat Rawls vor Augen, wenn er das Ideal der gerechten Gesellschaft beschreibt. Zweitens: Die Gruppe der Schlechtestgestellten ist nicht allein im relativen Sinne, sondern auch im absoluten Sinne schlecht gestellt. Ihre Mitglieder leiden unter existentiellen Mängeln. Cohen argumentiert zumeist von der Voraussetzung ausgehend, dass die Schlechtestgestellten im absoluten Sinne schlecht gestellt seien.15 Das ist erstaunlich, da er Rawls’ Theorie einer Kritik unterziehen möchte und dieser davon ausgeht, dass die Schlechtestgestellten in der gerechten Gesellschaft eben nicht im absoluten Sinne schlecht gestellt sind. Im zweiten Fall liegt es nahe, dass die Bessergestellten erpresserisch handeln. Wenn die Lage der Schlechtestgestellten entsprechend prekär ist und diejenige der Bessergestellten luxuriös, scheint die Analogie zwischen dem Kidnapper und den Bessergestellten, was das Erpresserische ihres jeweiligen Handelns angeht, tatsächlich zu bestehen. Die Bessergestellten handeln wie der Kidnapper erpresserisch, denn sie nutzen die miserable Verhandlungsposition der Schlechtestgestellten aus, um die institutionellen Kooperationsregeln zu ihrem Vorteil einzurichten. Die Schlechtestgestellten befinden sich ebenso wie die Eltern des entführten Kindes in einer Situation, die ihnen keine echte Alternative gegenüber dem Annehmen des Angebots der Bessergestellten lässt.16 Im ersten Fall ist es dagegen weniger einleuchtend, dass die Bessergestellten erpresserisch handeln, wenn sie sich weigern, bei einem höheren Steuersatz weiterhin härter zu arbeiten. Denn die Schlechtestgestellten befinden sich ex hypothesi nicht in einer Notsituation. Die Eltern des Kindes werden 15 Vgl. RJE: 62: »[T]he incentives argument is quite general. It should therefore apply no matter how badly off the badly off are, both absolutely and relatively to the well off. Accordingly, it is methodologically proper to evaluate it in particularly dramatic cases of its application. […] Where the worst off are not too badly off, it looks more fanatical to assign absolute priority to their claims. But the stronger the case for ameliorating the situation of the badly off is, the more discreditable […] the incentives argument is on the lips of the rich.« Vgl. auch RJE: 34: »[W]e might say that a person is an egalitarian if he applies the difference principle in circumstances in which there exist badly off (as opposed to just less well off) people[.]« 16 Freilich könnte man auch behaupten, erpresserisches Handeln setze voraus, dass der Erpressende selbst die schlechte Verhandlungsposition des Erpressten herbeigeführt habe. Wir nutzen demgegenüber einen weiteren Begriff erpresserischen Handelns.
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erpresst, denn die Alternative zur Zahlung des Lösegelds, der Tod des Kindes, ist für sie normalerweise völlig inakzeptabel. Wenn die Lage der Schlechtestgestellten demgegenüber nicht im absoluten Sinne schlecht ist, ist es ihnen ohne untragbare Kosten möglich, das Angebot der Bessergestellten abzulehnen. Sie werden daher nicht erpresst. In der gerechten Gesellschaft sind die Schlechtestgestellten nicht im absoluten Sinne schlechtgestellt. Die Analogie besteht also in Bezug auf den Aspekt des erpresserischen Handelns nicht. Handeln die Bessergestellten moralisch falsch? Betrachten wir die zweite Gemeinsamkeit: Können wir das Handeln der Bessergestellten als moralisch falsch charakterisieren und eben darin die Gemeinsamkeit mit dem Handeln des Kindesentführers sehen? Fragen wir uns zunächst, ob die Bessergestellten insofern moralisch falsch handeln, als dass sie gegen das DP verstoßen. Der rawlsschen Auffassung zufolge bewertet das DP allein die Grundstruktur, nicht aber Handlungen von Einzelpersonen. Im Lichte des DP haben Einzelpersonen zwar die Pflicht, die Grundstruktur so einzurichten, dass sie die vom DP geforderten Verteilungsstrukturen materieller Güter generiert, sie haben aber nicht die Pflicht, auf andere Weise auf solche Verteilungsstrukturen hinzuwirken. Was aber, wenn wir annehmen, dass das DP auch die Handlungen von Einzelpersonen bewertet? Sind die Handlungen der Bessergestellten dann als moralisch falsch zu bewerten? Die materielle Lage der Schlechtestgestellten würde verbessert werden, wenn die Bessergestellten bei steigender steuerlicher Belastung mit dem gleichen Engagement arbeiteten wie zuvor. Wenn wir also den Bessergestellten die Pflicht sozialer Gerechtigkeit zuschreiben, mit allen Mitteln die Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern, dann handelt es sich bei ihrer Weigerung, bei steigendem Steuerniveau weiterhin genauso hart zu arbeiten wie zuvor, um einen Verstoß gegen diese Pflicht. Cohens Argumentation weist in diese Richtung, wenn er sagt: »[The talented rich] would not need special incentives if they were themselves unambivalently committed to the [difference] principle.« (RJE: 51; Hervorhebung JW)
Den talentierten Reichen resp. den Bessergestellten müssten keine Anreize gezahlt werden, um sie zum härteren Arbeiten zu veranlassen, wenn sie intrinsisch von ihrer Pflicht sozialer Gerechtigkeit motiviert das Ziel verfolgten, die Position der Schlechtestgestellten so weit wie möglich zu verbessern. Dieses Argument ist suggestiv, geht aber am eigentlichen Beweisziel vorbei. Es soll ja mit der Kidnapper-Analogie nachgewiesen werden, 79
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dass die rawlssche Auffassung der Pflichten sozialer Gerechtigkeit nicht überzeugt. Das aber wird mit dem Argument mitnichten gezeigt, da es von einer Annahme ausgeht, die Rawls nicht teilt, der Annahme nämlich, das DP bewerte unmittelbar Handlungen von Einzelpersonen. Nun können Annahmen freilich auch dann wahr sein, wenn Rawls sie nicht teilt. In diesem Fall handelt es sich aber um eine hochkontroverse Annahme. Denn die Behauptung, Einzelpersonen sollten auch abseits der Reform und Befolgung der institutionellen Regeln der Grundstruktur versuchen, die Forderungen des DP umzusetzen, ist kaum eine weit verbreitete Ansicht. In Abwesenheit weiterer Gründe für diese Behauptung liegt es damit nahe, dass die vermeintliche Gemeinsamkeit zwischen dem Handeln des Kidnappers und dem der Bessergestellten nicht besteht. Denn es ist offensichtlich, dass der Kindesentführer moralisch falsch handelt. Dass die Bessergestellten dies ebenfalls tun, ist nicht unmittelbar einsichtig. Cohen deutet noch ein weiteres Argument dafür an, dass die Bessergestellten moralisch falsch handeln, auch wenn sie nicht erpresserisch handeln. Dazu geht er von einem anderen Gerechtigkeitsprinzip als Rawls aus.17 Damit handelt es sich freilich um eine externe Kritik der rawls schen Theorie, die für uns hier weniger relevant ist. Denn wir setzen die Gültigkeit der rawlsschen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit voraus. Dennoch soll Cohens Prinzip hier kurz angedeutet werden. Damit soll deutlich gemacht werden, dass es ihm nicht gelingt, das Handeln der Bessergestellten mithilfe nicht kontroverser Annahmen als moralisch falsch auszuweisen. Cohens Gerechtigkeitsprinzip lautet: »[T]here is injustice in distribution when inequality of goods reflects not such things as differences in the arduousness of different people’s labors, or people’s different preferences and choices with respect to income and leisure, but myriad forms of lucky and unlucky circumstance.« (RJE: 126)
Cohen sieht also in jeder Ungleichheit der Verteilung von Gütern, die auf natürliche oder soziale Zufälle, und nicht auf die Entscheidungen oder mühevollen Arbeiten der Einzelpersonen, zurückzuführen ist, eine Ungerechtigkeit.18 Die Bessergestellten handeln moralisch falsch, da sie nicht 17 Cohen unterscheidet nicht zwischen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und anderen Gerechtigkeitsprinzipien. Seine Ausführungen legen nahe, dass er von der Gültigkeit eines einzigen allgemeinen Prinzips der Verteilungsgerechtigkeit ausgeht. 18 Vgl. Cohen 1989. Dort stellt er seine Position, die später als luck egalitarianism bezeichnet wurde, am ausführlichsten dar. – Der Ausdruck »Zufälle« soll hier nicht missverstanden werden. Freilich ist es insofern kein Zufall, dass eine Person in eine bestimmte Klasse hineingeboren wird, als dass man die Ursachen dieses Ereignisses recht gut nachvollziehen kann. Es handelt
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nach einer egalitären Verteilungsstruktur streben, sondern Ungleichheiten aufrechterhalten und verschärfen, die aller Wahrscheinlichkeit nach in sozialen und natürlichen Zufällen ihre Ursache haben. Weiterhin vertritt Cohen dem Zitat zufolge das Prinzip der Verteilung nach Leistung, wobei er von einem subjektiven Leistungsbegriff ausgeht.19 Wie viel eine Person leistet, wird demnach daran gemessen, wie viele Mühen sie auf sich nimmt, wie viel Entsagung oder Anstrengung (arduousness) sie eine Arbeit kostet. Das ist wohl auch gemeint, wenn Cohen an anderer Stelle fordert, dass besonders anstrengende Arbeiten durch höhere Löhne kompensiert werden sollten.20 Auch in Bezug auf diesen Aspekt von Cohens Gerechtigkeitsbegriff handeln die Bessergestellten moralisch falsch, denn sie stabilisieren durch ihre Ablehnung der höheren Bessergestelltensteuer ein Kooperationssystem, das gerade nicht die Arbeiten kompensiert, die besonders mühevoll sind. Typischerweise handelt es sich bei den besser bezahlten Berufen um zumindest körperlich weniger mühevolle Arbeiten. Gegen die Auffassungen Cohens lassen sich gewichtige Einwände vorbringen. Diese sollen hier nur angedeutet werden, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine kontroverse Gerechtigkeitskonzeption handelt. So steht die geforderte Kompensation jeglicher sozialer und natürlicher Ungleichheiten gewaltigen »epistemischen« Schwierigkeiten gegenüber. Es ist schlicht sehr schwierig auszumachen, ob die Ursache dafür, dass eine Person ein bestimmtes Einkommen hat, in ihrer Sozialisation, in ihren natürlichen Anlagen oder in individuellem Engagement liegt. Schon ein Vergleich der Mühen, die zwei Personen auf sich nehmen, dürfte Schwierigkeiten mit sich bringen. Ein Vergleich der Anstrengungen und Entbehrungen sämtlicher Bürger potenziert diese Schwierigkeiten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die »epistemischen« Hürden prinzipiell überwindbar sind, handelt es sich innerhalb einer Gerechtigkeitstheorie, die ein realisierbares Ideal zu formulieren sucht, um eine unzulässige Forderung. Gegen das Prinzip der Verteilung von Gütern entsprechend den Mühen und Entbehrungen einer Person lassen sich ebenfalls Einwände vorbringen. Hinsch wendet gegen diese Auffassung ein, dass diejenigen besonders gut entlohnt werden müssten, die in ihrer Arbeit die größten Mühen auf sich nehmen. Diejenigen, denen sie leicht von der Hand gehe, müssten dagegen benachteiligt werden. Wer also besonders schlecht für eine Arbeit geeignet und ihr dazu besonders abgeneigt sei, müsse in hohem Maße dafür entlohnt werden.21 Auch wenn Cohens Gerechtigkeitsprinzip durchaus eine geläufige sich vielmehr um einen Zufall in dem Sinne, als dass die Geburt in eine bestimmte Klasse keine Folge der Handlungen der Person selbst darstellt. 19 Zur Unterscheidung von subjektivem und objektivem Leistungsbegriff, vgl. Hinsch 2002: 244f. 20 Vgl. RJE: 55f. 21 Vgl. Hinsch 2002: 245–247.
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Ansicht formuliert, sind die Folgen dieses Prinzips kaum mit üblichen Gerechtigkeitsvorstellungen in Einklang zu bringen.22 Bei den Einwänden handelt es sich sicher nicht um eine abschließende Widerlegung der cohenschen Auffassung. Der Grundgedanke – die Verteilungsstruktur von begehrenswerten Gütern sollte abhängig von individuellen Leistungen und unabhängig von sozialen und natürlichen Zufällen sein – ist, wie gesagt, eine vielfach vertretene Ansicht.23 Für unsere Zwecke genügt jedoch der Nachweis, dass die Strukturähnlichkeit der Analoga in Hinsicht auf die moralische Bewertung der Handlungen des Kidnappers und der Bessergestellten lediglich vor dem Hintergrund kontroverser Annahmen erkennbar ist. Der Kindesentführer handelt eindeutig moralisch falsch. Dass sich das im Fall der Bessergestellten ebenso verhält, ist nicht unmittelbar einsichtig. Die ersten beiden vermeintlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Analoga bestehen also nicht. Für unsere Frage nach den Pflichten sozialer Gerechtigkeit ist das bedeutsam. Der Einwand Cohens besagt ja, dass Personen, die allein den rawlsschen Pflichten sozialer Gerechtigkeit entsprechend handeln, gleichzeitig moralisch falsch handeln können. Die Kidnapper-Analogie sollte das zeigen, indem sie nachweist, dass Personen, die den rawlsschen Pflichten sozialer Gerechtigkeit entsprechend handeln, gleichzeitig wie ein Kindesentführer handeln können. Wir haben nun aufgezeigt, dass dieser Nachweis mitnichten erbracht wird. Können sich die Bessergestellten kollektiv zu Handlungen entscheiden? Dennoch ist Cohens Einwand damit nicht vollständig entkräftet. Denn wir haben zwar gezeigt, dass Cohens Argumente von kontroversen Annahmen ausgehen, jedoch haben wir noch nicht gezeigt, dass eine Argumentation, die nicht von kontroversen Annahmen ausgeht, unmöglich ist. Der Grundgedanke der cohenschen Auffassung erscheint ja zunächst einleuchtend: In einer gerechten Gesellschaft helfen die »Starken« den »Schwachen« nicht allein durch die pünktliche Befolgung der Regeln einer gerechten Grundstruktur, sie helfen ihnen auch auf andere Weise. Wir untersuchen daher nun die verbleibenden zwei Gemeinsamkeiten zwischen den Analoga. Die Gemeinsamkeiten sind für unsere Frage nach den Pflichten sozialer Gerechtigkeit relevant. Denn die 22 Man kann sich außerdem ausmalen, dass ein Wirtschaftssystem, das Cohens Gerechtigkeitsprinzip umzusetzen versuchte, starke Fehlanreize setzen würde. 23 Vgl. dazu auch die Idee der göttlichen Gerechtigkeit in Kersting 2000: 53– 56 sowie zu Ronald Dworkins Gerechtigkeitstheorie Kersting 2000: 172– 279 und Kymlicka 1996: 82–91.
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Kidnapper-Analogie unterstellt, dass die Bessergestellten sich dazu entscheiden können, hart zu arbeiten und damit den Schlechtestgestellten zu helfen, auch wenn eine gerechte Grundstruktur das nicht von ihnen verlangt. Sie unterstellt weiterhin, dass sie dazu fähig sind. Wenn es sich jedoch herausstellt, dass die Bessergestellten sich nicht dazu entscheiden können und dass sie auch nicht dazu fähig sind, dann können sie auch nicht die entsprechende Pflicht haben. Denn Einzelpersonen können nur zu Handlungen verpflichtet sein, zu denen sie prinzipiell in der Lage sind und für die sie sich prinzipiell entscheiden können. Vor dem Hintergrund unserer Fragestellung ist es sinnvoll, die in der Kidnapper-Analogie diskutierten Handlungen der Bessergestellten allgemeiner zu fassen. Der eigentlich interessante Streitpunkt, auf den Cohens Einwand aufmerksam macht, ist, wie gesagt, der folgende: Haben die Mitglieder einer gerechten Gesellschaft allein die Pflichten sozialer Gerechtigkeit, die Rawls ihnen zuschreibt? Haben sie also lediglich die Pflicht, eine gerechte Grundstruktur zu befördern und zu unterstützen sowie deren Regeln zu folgen? Oder aber haben sie weitergehende Pflichten? Wir fragen daher im Folgenden nicht, ob die Bessergestellten sich dazu entscheiden können und dazu in der Lage sind, ihr bisheriges Arbeitsniveau im Falle einer Steuererhöhung beizubehalten. Unsere Frage lautet vielmehr: Können die Bessergestellten sich dazu entscheiden und sind sie dazu in der Lage, die Verteilungsstruktur materieller Güter in einer Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu beeinflussen, und zwar abseits ihres Engagements für eine gerechte Grundstruktur? Die von Cohen vorgeschlagene Pflicht ist ja nur ein Beispiel dafür, wie die Bessergestellten die Verteilungsstruktur materieller Güter zugunsten der Schlechtestgestellten verändern könnten. Unsere Fragestellung ist demgegenüber allgemeiner. Dadurch können wir untersuchen, welche Möglichkeiten den Bessergestellten prinzipiell offenstehen, die materielle Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern, und welche Pflichten sie daher überhaupt haben können. Es kommt im Folgenden weiterhin nicht darauf an, ob die Bessergestellten die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne eines bestimmten Prinzips – etwa des DP oder des von Cohen vorgeschlagenen Prinzips – beeinflussen sollen. Uns geht es um die Frage, ob die Bessergestellten einen planvollen und kontrollierten Einfluss auf die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne irgendeines substantiellen Prinzips nehmen können. Wir sprechen daher im Folgenden von einem nicht näher bestimmten Prinzip, das Vorschriften über die Verteilungsstruktur materieller Güter aufstellt. Dieses Prinzip kürzen wir mit VM ab.24 24 Die Redeweise von einem planvollen Einfluss auf die Verteilungsstruktur materieller Güter impliziert genau genommen bereits, dass es um einen Einfluss im Sinne eines bestimmten Prinzips geht.
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Betrachten wir also die dritte Gemeinsamkeit. Können die Bessergestellten sich kollektiv dazu entscheiden, so zu handeln, dass sie über die Forderungen gerechter Institutionen hinaus VM realisieren, ebenso wie der Kidnapper sich dazu entscheiden kann, das Kind freizulassen? Bei den Bessergestellten handelt es sich um eine Gruppe. Es sind diejenigen Personen in einer Gesellschaft, auf die ein bestimmtes Merkmal zutrifft, etwa über ihr Leben hinweg tendenziell ein Jahreseinkommen einer bestimmten Mindesthöhe zu erhalten oder ein Vermögen im Wert einer bestimmten Mindesthöhe zu besitzen. Auf ähnliche Weise könnte man von den Blonden oder den Einäugigen sprechen. Dabei handelt es sich ebenso um Merkmalsgruppen, also um eine aufgrund von bestimmten Eigenschaften zusammengefasste Menge von Personen. Ein einzelner Bessergestellter kann sich offenkundig dazu entscheiden, die Verteilungsstruktur materieller Güter durch geeignete Handlungen im Sinne von VM zu beeinflussen. Aber die Entscheidung des einzelnen Bessergestellten hat keine kontrollierbaren Auswirkungen auf die Entscheidungen der anderen Bessergestellten. Auch die Entscheidung eines einzelnen Blonden, sich die Haare rot zu färben, hat ja keine kontrollierbaren Auswirkungen auf die anderen Blonden. Wenn wir die Bessergestellten also bloß als Merkmalsgruppe verstehen, dann können sie sich nicht kollektiv dazu entscheiden, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen. Von einer »bloßen« Merkmalsgruppe ist eine private Vereinigung zu unterscheiden. Eine private Vereinigung fällt im Gegensatz zu der Merkmalsgruppe unter den Begriff der Institution im oben erläuterten Sinne. Private Vereinigungen weisen eine mehr oder weniger hierarchische Struktur von Ämtern oder Positionen auf, durch die Kompetenzen zugewiesen werden. Die Mitglieder einer privaten Vereinigung können vielfach gemeinsame Entscheidungen treffen und sind damit kollektiv entscheidungsfähig. Sie können sich entscheiden, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Ein Wirtschaftsunternehmen kann etwa öffentlich Stellung zu einem Thema nehmen, sich für die Wissenschaft stark machen oder Sozialwohnungen bauen. Nehmen wir an, dass alle Mitglieder der Merkmalsgruppe der Bessergestellten Mitglieder in einer privaten Vereinigung, dem »Bessergestellten-Club«, sind. Der Bessergestellten-Club ist ein entscheidungsfähiger Akteur. Verstehen wir die Bessergestellten auf diese Weise, dann können sie sich kollektiv dazu entscheiden, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen. Cohen selbst versteht die Bessergestellten jedoch auf eine dritte Weise. Zum einen sind sie Mitglieder der Merkmalsgruppe der Bessergestellten. Zum anderen teilen sie ein egalitäres Ethos.25 D.h. die Bessergestellten 25 Auf den Begriff des Ethos und im Besonderen des egalitären Ethos gehe ich in 2.2 noch ausführlich ein. Für die hier verfolgten Zwecke genügt eine
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befolgen allesamt gewohnheitsmäßig egalitäre Handlungsregeln und -prinzipien, sie fühlen sich zudem gut dabei, haben negative Gefühle angesichts nicht-egalitärer Handlungen und üben sozialen Druck aus, um solche Handlungen zu verhindern. Egalitäre Handlungen sind solche, die dazu beitragen, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne eines egalitären Prinzips zu beeinflussen. Hart zu arbeiten und zugleich hohe Steuern zu zahlen, um die Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern, ist ein Beispiel für eine egalitäre Handlungsregel. Es ist bedeutsam, dass die Handlungsregeln und -prinzipien eines Ethos gewohnheitsmäßig befolgt werden. Denn das impliziert, dass sich die Bessergestellten, wenn wir sie als Ethosgruppe verstehen, nicht dazu entscheiden, im Sinne eines egalitären Ethos zu handeln. Sie tun es vielmehr einfach aus Gewohnheit. Sie entscheiden sich damit auch nicht dafür, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne eines egalitären Prinzips oder allgemeiner im Sinne von VM zu beeinflussen. Verdeutlichen wir das anhand eines Beispiels. Wir sprechen alltäglich vom Ethos der Mediziner. Nun entscheidet sich normalerweise ein Arzt nicht dazu, die Handlungsregeln des Medizinerethos zu seiner Gewohnheit zu machen. Vielmehr werden sie einfach irgendwann zu seiner Gewohnheit, wenn er sich lange genug im sozialen Umfeld der Mediziner bewegt hat. Selbst wenn wir zugestehen, dass sich Personen hin und wieder dazu entscheiden, sich einem bestimmten Ethos anzuschließen, so entscheidet sich kaum die ganze Gruppe der Mediziner für ein bestimmtes Ethos. Dazu bedürfte es der Koordination ihrer Entscheidungen, die sie qua Ethosgruppe nicht haben. Wir folgern, dass die Bessergestellten als Ethosgruppe verstanden nicht entscheidungsfähig sind. Die Analogie zwischen dem Kidnapper und den Bessergestellten besteht also in Hinsicht auf die dritte Gemeinsamkeit nur dann, wenn wir die Bessergestellten als private Vereinigung verstehen. Bevor wir prüfen, welche Bedeutung dieses Ergebnis für die Pflichten sozialer Gerechtigkeit hat, wenden wir uns zunächst der vierten Gemeinsamkeit zu. Können die Bessergestellten Einfluss auf die Verteilungsstruktur materieller Güter nehmen? Wenden wir uns nun der vierten Gemeinsamkeit zu, die in der Handlungsfähigkeit der Akteure in den Analoga liegt. Der Kidnapper ist dazu in der Lage, das Kind freizulassen. In Bezug auf die Bessergestellten kurze Beschreibung. Der Begriff des Ethos, den ich hier verwende, weicht leicht von dem Cohens ab, ohne dadurch jedoch seine argumentative Position zu schwächen.
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fragen wir: Sind die Bessergestellten fähig, die Verteilungsstruktur materieller Güter kontrolliert und planmäßig im Sinne von VM zu beeinflussen, und zwar abseits ihres Engagements für eine gerechte Grundstruktur? Es bieten sich drei Möglichkeiten an, diese Frage zu verstehen: Erstens: Ist jeder einzelne Bessergestellte fähig, die Verteilungsstruktur materieller Güter kontrolliert und planmäßig im Sinne von VM zu beeinflussen? Zweitens: Sind die Bessergestellten als Mitglieder einer privaten Vereinigung dazu fähig? Drittens: Sind die Bessergestellten dazu fähig, wenn sie alle im Sinne eines bestimmten Ethos handeln? Einzelpersonen Ich argumentiere nun für die These, dass es Einzelpersonen normalerweise nicht möglich ist, durch ihre Handlungen die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter planmäßig und kontrolliert zu beeinflussen. Während in kleinen Gemeinschaften, etwa in einer Familie, eine einzelne Person die Verteilungsstruktur materieller Güter in der Gemeinschaft beeinflussen kann, ist das bezogen auf die gesamte Gesellschaft nicht möglich.26 Untersuchen wir dazu ein weiteres Beispiel Cohens, anhand dessen sich seine Auffassung von den Pflichten sozialer Gerechtigkeit erläutern lässt. Wir bezeichnen es als das doctor-gardener-Beispiel. Nehmen wir an, VM entspreche der Gleichverteilung materieller Güter. Dabei geht Cohen davon aus, dass eine Gleichverteilung materieller Güter möglich ist, die egalitärer ist und bei der die Schlechtestgestellten zugleich bessergestellt sind als im Falle einer Verteilungsstruktur, die dem DP 26 Falls sich diese These aufrechterhalten lässt, entkräftet sie auch einen Einwand, den Murphy gegen Gerechtigkeitsauffassungen entwickelt hat, welche die Grundstruktur für den alleinigen Gegenstand sozialer Gerechtigkeit halten: »[I]f equality or well-being is the underlying concern that produces a theory of justice, why would people not be directly concerned about these things? If people have a duty to promote just institutions, why do they lack a duty to promote whatever it is that just institutions are for?« (Murphy 1998: 280). Meine Antwort auf Murphy ist hier schlicht: Die Bürger haben keine individuelle Pflicht sozialer Gerechtigkeit abseits der Beförderung einer gerechten Grundstruktur, denn sie sind nicht imstande, auf irgendeine andere Weise die gesamtgesellschaftliche kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen zu beeinflussen. Zur Unfähigkeit von Einzelpersonen, die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter planvoll zu beeinflussen, vgl. auch Pogge 2007: 31f.
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entspricht.27 Cohen fingiert nun eine Situation, in der eine Person, nennen wir sie Siglinde, vor der Entscheidung für die Ausübung des Arztoder des Gärtnerberufs steht. Sie hat folgende Präferenzordnung:28 (A) Arbeit als Ärztin bei höherem als gleichem Gehalt.29 (B) Arbeit als Gärtnerin bei gleichem Gehalt. (C) Arbeit als Ärztin bei gleichem Gehalt. Alle drei Möglichkeiten stehen ihr offen, die institutionelle Ordnung lässt ihr die freie Wahl und sie präferiert (A) gegenüber (B) und (B) gegenüber (C). Cohen behauptet nun, Siglinde habe die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, Option (C) zu wählen.30 Denn nur dadurch würde sie die gesellschaftsweite Gleichverteilung materieller Güter befördern. Siglinde hat nun freilich nicht die Pflicht, eigenständig eine gesamtgesellschaftliche Gleichverteilung zu realisieren, sondern sie hat lediglich die Pflicht, die Verteilungsstruktur in Richtung einer Gleichverteilung zu beeinflussen. Die Bessergestellten sind demnach zwar nicht als Gruppe handlungsfähig, und es ist auch keinem einzelnen Bessergestellten möglich, eigenständig eine Gleichverteilung zu realisieren, doch jeder einzelne trägt seinen Teil dazu bei. Der einzelne Bessergestellte arbeitet bei Erhöhung des Steuersatzes genauso hart wie früher. Siglinde arbeitet entgegen ihren Präferenzen für den gleichen Lohn wie alle anderen als Ärztin. Allgemeiner ausgedrückt: Jeder einzelne Bessergestellte hat die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, mit seinen Handlungen im wirtschaftlichen Bereich die Gesamtverteilung wenigstens minimal in Richtung von VM zu beeinflussen. Nun gilt es zwei relevante Fälle zu unterscheiden: 27 Vgl. dazu RJE: 97–101. 28 Vgl. RJE: 185. Vgl. auch Williams 1998: 236–238, der einen ähnlichen Fall konstruiert. 29 »Gleiches Gehalt« bedeutet hier ein Gehalt, das den cohenschen Vorstellungen eines gerechten Gehalts entspricht. 30 Cohen spricht nicht von einer Pflicht sozialer Gerechtigkeit. Diese Bezeichnung wurde hier um der Einheitlichkeit der Terminologie willen gewählt. Dass Cohen Einzelpersonen eine solche Pflicht zuschreibt, geht aus RJE: 189, 190, 196 hervor. Vgl. auch Pogge 2000: 150 und 152, wo er das bereits für denjenigen Aufsatz (Cohen 1995) diagnostiziert, aus dem das Kapitel in RJE hervorgegangen ist, und in dem das doctor-gardener-Beispiel fehlt. Pogge weist außerdem auf eine problematische Konsequenz hin, die aus Cohens Position erwächst: »If a higher pay-rate equality is better, would not a true commitment to the difference principle require the talented to work longer hours? After all, every additional hour of managerial work they agreed to perform at unit pay would produce a surplus that raises unit pay.« (Pogge 2000: 152f.) Wir könnten hinzufügen, jede Person, nicht bloß die Talentierten, müsste in einer Gesellschaft, die sich der Gleichheit in Cohens Sinne verschrieben hat, so viel arbeiten, wie sie kann.
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Erstens: Jeder einzelne Bessergestellte versucht die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, wie alle anderen Personen handeln. Zweitens: Jeder einzelne Bessergestellte versucht die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen und alle anderen Personen versuchen das ebenfalls. Wir prüfen hier zunächst nur den ersten Fall. Auf den zweiten Fall gehen wir unten im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit Cohens Forderung nach einem egalitären Ethos ein. Welche Wirkung die wirtschaftlichen Handlungen von Einzelpersonen in Bezug auf die Gesamtverteilung haben, ist davon abhängig, wie alle anderen Personen im wirtschaftlichen Bereich handeln. Das lässt sich am doctor-gardener-Beispiel veranschaulichen. Siglinde hat Cohen zufolge die Pflicht, sich für Option (C) zu entscheiden. So sollte sie in Lohnverhandlungen mit einem Krankenhaus nicht darauf hinarbeiten, einen möglichst hohen Lohn auszuhandeln, sondern sich mit einem niedrigeren Lohn zufriedengeben. Doch beeinflusst sie damit die Gesamtverteilung im Sinne einer cohenschen Gleichverteilung? Das ist davon abhängig, wie alle anderen Bürger handeln. So könnte sich z.B. Sigmund, der Krankenhausdirektor, die eingesparten Lohnkosten als Bonus auszahlen lassen. Die Wirkung des Handelns von Einzelpersonen auf die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter ist davon abhängig, wie andere – im Extremfall alle anderen – Bürger handeln. Einzelpersonen sind also nicht unabhängig vom Handeln anderer Einzelpersonen dazu imstande, die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter zu beeinflussen. Der Bill-Gates-Einwand Betrachten wir nun einen naheliegenden Einwand auf diese Schlussfolgerung, der sich zwar von Cohens Beispielen entfernt, aber in Hinsicht auf die systematische Frage relevant ist, ob Einzelpersonen imstande sind, die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter planmäßig und kontrolliert zu beeinflussen. Es wurde gezeigt, dass es keiner Einzelperson unabhängig vom Handeln anderer Einzelpersonen möglich ist, die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen der Gesellschaft zu beeinflussen. Das gilt – so der Einwand – vielleicht für Normalbürger. Doch wie verhält es sich mit einem der »Superreichen«, etwa Bill Gates? Dieser hat ein so gewaltiges Vermögen akkumuliert, dass er, verteilte er es an die schlechtestgestellten US-Amerikaner, die Vermögensverteilung der USA in dem Sinne beeinflussen würde, dass die Schlechtestgestellten bessergestellt wären. Nun ist es zwar fraglich, ob das Phänomen der Superreichen in einer Gesellschaft, die nach 88
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rawlsschen Kriterien gerecht ist, überhaupt existiert, aber lassen wir diesen Einwand für den Moment außer Acht. Nehmen wir also an, Bill Gates verfüge über ein Vermögen von ca. 70 Mrd. US-Dollar und verteile es komplett an die 12 Millionen schlechtestgestellten US-Amerikaner. Jeder Schlechtestgestellte würde dann einmalig knapp 6000 US-Dollar erhalten und wäre also etwas bessergestellt.31 Das Problem ist nun, dass eine einmalige Verteilung von Vermögenswerten die Schlechtestgestellten zwar kurzfristig besserstellen würde, dass sie jedoch nicht viel an der langfristigen Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft zu ändern vermag.32 Und es ist die langfristige Verteilungsstruktur, auf die es Rawls zufolge ankommt, wenn wir die Gerechtigkeit einer Gesellschaft bewerten.33 Bill Gates könnte daher statt der einmaligen Vermögensverteilung ein langfristigeres Arrangement anstreben, etwa durch den Aufbau von sozialen Einrichtungen wie Krankenhäusern und Obdachlosenheimen. Wir sprechen dann jedoch in einem anderen Sinne von individuellem Engagement. Bill Gates ist zwar in dem Gedankenexperiment der Financier der aufgebauten privaten Vereinigung, doch handelt es sich eben um Letzteres – eine private Vereinigung.34
31 Ob die Zahlen hier zutreffen oder nicht, spielt keine große Rolle. Das Argument würde sich auch nicht ändern, wenn Bill Gates doppelt so viel Vermögen an halb so viele Schlechtestgestellte verteilte. 32 Das bedeutet nicht, dass eine solche Handlungsweise nicht moralisch gelobt werden kann. Es handelt sich um Handlungen, die erlaubt und vielleicht sogar lobenswert sind. Wir fragen aber, ob wir zu einem solchen Handeln im Namen sozialer Gerechtigkeit verpflichtet sind, selbst wenn wir annehmen, dass die Schlechtestgestellten keine unmittelbare Not leiden. 33 Das geht daraus hervor, dass die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit die Generationen übergreifenden Regeln sozialer Kooperation bewerten. So lautet Rawls zufolge eine der fundamentalen Fragen der politischen Philosophie: »[W]hat is the most acceptable political conception of justice for specifying the fair terms of cooperation between citizens regarded as free and equal and as both reasonable and rational, and (we add) as normal and fully cooperating members of society over a complete life, from one generation to the next?« (Hervorhebung, JW) Vgl. auch JF §14.1: 50. 34 Vgl. auch Murphy 1998: 281: »What is the best thing a just American billionaire can do with the fraction of his fortune that he doesn’t really need? Donate it to the Democratic Party? Run for president or found a »third« party? Set up a political action committee to pressure members of Congress to pursue a more just welfare policy? Or might it be better for him to donate the money directly to inner-city hospitals or schools around the country (with adequate oversight, of course)?«
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COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
Private Vereinigungen Sollte Bill Gates also eine solche private Vereinigung aufbauen? Ist eine solche private Vereinigung fähig, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen? Hier stellt sich das gleiche Pro blem wie im Falle von Einzelpersonen. Eine private Vereinigung mag dazu fähig sein, jedoch allein unter der Voraussetzung, dass viele und im Extremfall alle anderen relevanten Akteure ebenfalls dieses Ziel verfolgen. So könnte eine andere wohltätige Organisation angesichts der Arbeit der »Bill-Gates-Organisation« ihr Engagement zurückfahren. Die Lage der Schlechtestgestellten mag dann unverändert sein, obwohl Bill Gates seine Organisation aufgebaut hat. Sollten also alle Bessergestellten entsprechende private Vereinigungen gründen oder gemeinsam einer einzigen privaten Vereinigung beitreten, die sich der Realisierung von VM verschreibt? Nehmen wir wie vorhin an, alle Bessergestellten seien Mitglieder einer einzigen privaten Vereinigung, nämlich des Bessergestellten-Clubs. Der Bessergestellten-Club, so wollen wir annehmen, kann seine Mitglieder wirksam zu egalitären Handlungen anhalten, etwa dazu, auch bei dem höheren Steuersatz von 60% mit gleich hohem Einsatz zu arbeiten wie bei dem niedrigeren Steuerniveau von 40%. Der Bessergestellten-Club ist damit fähig, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen. Die Bessergestellten sind folglich als Mitglieder des Bessergestellten-Clubs dazu imstande, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne von VM zu beeinflussen. Nun ist der Bessergestellten-Club eine private Vereinigung innerhalb der Grundstruktur. Im Gegensatz zur »Mitgliedschaft« in den meisten Institutionen der Grundstruktur, können die Bessergestellten selbst entscheiden, ob sie Mitglied des Bessergestellten-Clubs werden wollen, genauso wie sie selbst darüber entscheiden können, Mitglied in einer Kirche oder in einem Briefmarkensammlerverein zu werden. Eine Person wird also nicht allein dadurch Mitglied im Bessergestellten-Club, dass sie eine bestimmte Einkommensschwelle übersteigt, wie sie allein dadurch Teil der Merkmalsgruppe der Bessergestellten wird. Denn die Merkmalsgruppe der Bessergestellten ist ja keine private Vereinigung, sondern sie ist allein darüber definiert, dass sie alle Personen umfasst, die über ein bestimmtes tendenzielles Lebenszeiteinkommen verfügen. Nun ist es unwahrscheinlich, dass alle Bessergestellten das Verlangen verspüren, in den Bessergestellten-Club einzutreten. Denn sie haben von ihrer Mitgliedschaft im Lichte ihrer normalen Interessen allein Nachteile. Überdies ist es fraglich, aus welchem Grund sich jeder einzelne an Weisungen des Bessergestellten-Clubs halten sollte, wie etwa diejenige, bei Erhöhung des Steuersatzes mit dem gleichen Engagement weiterzuarbeiten. Denn auch das ist offensichtlich für jeden einzelnen 90
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Bessergestellten normalerweise unvorteilhaft und jeder einzelne Bessergestellte hat die alternative Möglichkeit, den Bessergestellten-Club zu verlassen. Man könnte freilich vorschlagen, die Mitgliedschaft im Bessergestellten-Club verpflichtend zu machen. Wer eine bestimmte Einkommensstufe erreicht, wird automatisch Mitglied im Bessergestellten-Club. Ein Austritt ist nur durch Unterschreiten der Einkommensschwelle möglich.35 Es ist jedoch fraglich, ob eine solche verpflichtende Mitgliedschaft mit dem rawlsschen Freiheitsgrundsatz vereinbar ist, da Mitgliedern der höchsten Einkommensgruppe in dem Beispiel offenbar nicht das gleiche System von Grundfreiheiten zukommt wie allen anderen. Handelt es sich bei dem Bessergestellten-Club um eine Institution mit Zwangsmitgliedschaft, so entsteht ein weiteres Problem: Institutionen schaffen Erwartungen. Die Erwartung auf Freiheits- und Gehaltseinbußen führt voraussichtlich dazu, dass Bürger das Erreichen der höchsten Gehaltsstufe zu vermeiden suchen. Das kann wiederum die Produktivität der gesamten Wirtschaft verringern und in der Folge die Position der Schlechtestgestellten verschlechtern. Schließlich ist es überhaupt nicht wünschenswert, dass alle Bessergestellten Teil einer einzigen privaten Vereinigung sind. Diese Vereinigung wäre eine solche der tendenziell mächtigsten Personen in der Gesellschaft, da Reichtum und Macht üblicherweise korrelieren. Durch eine private Vereinigung wie den Bessergestellten-Club würde sich die Machtstellung der Bessergestellten womöglich noch vergrößern.36 Die Interpretation der Bessergestellten als Mitglieder in einer privaten Vereinigung wurde hier der systematischen Vollständigkeit halber erwogen. Tatsächlich gibt es nur spärliche Hinweise darauf, dass sie Cohens Auffassung entspricht.37 Eine private Vereinigung wie der Bessergestellten-Club ist entscheidungsfähig und kann überdies Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter nehmen. Insofern teilt sie zwei Gemeinsamkeiten mit dem Analogon des Kidnappers. Dass eine solche Vereinigung entsteht, ist jedoch nicht wahrscheinlich und wohl auch nicht wünschenswert. Es ist gleichwohl nicht völlig 35 Wir lassen hier um des Argumentes willen außer Acht, dass der Bessergestellten-Club in diesem Falle wohl als Institution der Grundstruktur aufgefasst werden müsste. Das geht aus der Definition der Grundstruktur hervor, wie ich sie in 2.3 entwickle. 36 Dieser Einwand trifft auch dann zu, wenn wir davon ausgehen, dass die Bessergestellten in vielen verschiedenen privaten Vereinigungen sind, von denen jede das Ziel verfolgt, die materielle Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern. Um die Bemühungen zu koordinieren, wäre zumindest eine Art Dachorganisation erforderlich. 37 Vgl. RJE: 54. Dort vergleicht Cohen die Bessergestellten versuchsweise mit einer Kidnapper-Bande, um dem Einwand individueller Ohnmacht in Bezug auf die Verteilungsstruktur materieller Güter in der gesamten Gesellschaft zu entgehen.
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unmöglich. Unter den Bessergestellten könnte nämlich ein Ethos herrschen, dass sie dazu veranlasst, Mitglied jener privaten Vereinigung zu sein. Im nächsten Kapitel beantworte ich die Frage, ob ein solches Ethos in einer Rawls zufolge gerechten Gesellschaft entstehen kann und ob es wünschenswert ist. Ethos Wir kommen nun auf den Einwand zurück, den wir in unserer Auseinandersetzung mit der Fähigkeit von Einzelpersonen, die Verteilungsstruktur materieller Güter zu beeinflussen, noch nicht beantwortet haben. Cohens Ausführungen zielen nicht in erster Linie darauf ab, dass jede Einzelperson unabhängig davon, wie alle anderen Personen handeln, die Pflicht hat, die Gesamtverteilung in Richtung von VM zu beeinflussen. Stattdessen betont er an vielen Stellen, dass in einer gerechten Gesellschaft ein bestimmtes Ethos, und zwar ein egalitäres Ethos, verbreitet sein sollte. In einer Gesellschaft herrscht ein gesellschaftsweit geteiltes egalitäres Ethos, wenn nahezu alle Bürger gewohnheitsmäßig egalitäre Handlungsregeln befolgen, sich zudem gut dabei fühlen, angesichts nicht-egalitärer Handlungen negative Gefühle haben und sozialen Druck ausüben, um solche Handlungen zu unterbinden. Wir können hinzufügen, dass die Verbreitung des egalitären Ethos, also die Tatsache, dass die Bürger nahezu vollständig dem Ethos entsprechend handeln und fühlen, idealtypisch Gegenstand öffentlichen Wissens ist. Dieses Wissen muss kein explizites Wissen sein, sondern mag bloß in einem mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein liegen, dass der überwiegende Teil der Bürger im Sinne eines egalitären Ethos handelt und fühlt. Wir verstehen also die Bessergestellten in der Analogie als Einzelpersonen, die Teil der Merkmalsgruppe der in Bezug auf Einkommen und Vermögen Bessergestellten sind, die aber darüber hinaus ein bestimmtes Ethos teilen. Für das Anreizargument bedeutet das Folgendes: Die Bessergestellten handeln wie alle anderen Bürger üblicherweise gemäß einem egalitären Ethos. Wird nun die Bessergestelltensteuer auf 60% erhöht, begrüßen sie das und arbeiten auf gleichem Niveau weiter. Die Folge ist eine Verbesserung der Position der Schlechtestgestellten. Allgemeiner gesprochen: Die Bessergestellten nehmen planvoll und kontrolliert auf die Verteilungsstruktur materieller Güter Einfluss, indem jeder Einzelne versucht, die Verteilungsstruktur im Sinne von VM zu beeinflussen. Das tut jeder einzelne in dem sicheren Bewusstsein, dass jeder andere ebenfalls versucht, eine Güterverteilung, die VM entspricht, zu realisieren. Eine staatliche Maßnahme wie im Beispiel der Erhöhung der Bessergestelltensteuer ist nur eine der Möglichkeiten zur Koordination der Bemühungen der einzelnen Bürger. 92
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Die Interpretation der Bessergestellten als Gruppe, die ein egalitäres Ethos teilt, ist den bisherigen Einwänden nicht ausgesetzt. Selbst wenn unter den Bessergestellten ein egalitäres Ethos herrscht, befinden sie sich darum noch nicht notwendigerweise in einer privaten Vereinigung. Zwar kann das Ethos sie dazu veranlassen, einer privaten Vereinigung wie dem Bessergestellten-Club beizutreten, aber das Ethos selbst ist keine private Vereinigung. Dennoch führen die Regeln oder Vorschriften des Ethos zu einer gewissen Koordination des Handelns der Bessergestellten. Denn dadurch, dass jeder einzelne Bessergestellte sie in dem Bewusstsein befolgt, dass alle anderen sie ebenfalls befolgen, wird das Problem der Unsicherheit der Konsequenzen des Handelns einer Person in Hinsicht auf die Gesamtverteilung materieller Güter entschärft, wie es in unserer Diskussion der Fähigkeit von Einzelpersonen, die Verteilungsstruktur materieller Güter zu beeinflussen, auftrat. Die Bessergestellten sind als Ethosgruppe imstande, die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen im Sinne von VM zu beeinflussen. Verstehen wir die Bessergestellten als Ethosgruppe, so trifft die Analogie in Bezug auf die vierte Gemeinsamkeit zu. Wir haben jedoch oben bereits festgestellt, dass die Bessergestellten als Ethosgruppe verstanden nicht entscheidungsfähig sind. Die Bessergestellten können sich nicht kollektiv dazu entscheiden, im Sinne eines bestimmten Ethos zu handeln. Damit besteht die dritte Gemeinsamkeit nicht. Doch inwiefern ist diese Strukturdifferenz für unsere Frage nach den Pflichten sozialer Gerechtigkeit von Belang? Reicht die Fähigkeit der Bessergestellten, als Ethosgruppe die Verteilungsstruktur in Richtung von VM zu beeinflussen, aus, um ihnen Pflichten zuzusprechen, die über die Pflichten sozialer Gerechtigkeit in der rawlsschen Theorie hinausgehen? Welche Pflichten könnten das sein? Um diese Fragen zu beantworten, prüfe ich im nächsten Kapitel, ob das Ethos einer Gesellschaft zum Gegenstand sozialer Gerechtigkeit gehört und ob in einer gerechten Gesellschaft ein egalitäres Ethos verbreitet ist. Die Gesellschaft als Gemeinschaft Wenden wir uns nun der ursprünglichen Funktion der Umformulierung des Anreizarguments in die Erstperson-Perspektive zu. Eine Gesellschaft ist Cohen zufolge nur dann zugleich eine Gemeinschaft (community), wenn politische Projekte (policies) umfassend gerechtfertigt werden können (comprehensive justification).38 Cohen setzt voraus, dass Gemeinschaftlichkeit ein Wert ist, den eine Gesellschaft anstreben sollte, und 38 RJE: 43: »[J]ustificatory community, though something of a concocted notion, contributes […] to community in the full (adjectively unqualified)
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wir folgen ihm hierin um des Arguments willen.39 Ein politisches Projekt ist umfassend gerechtfertigt, wenn die Handlungen, welche die Bürger in Bezug auf dieses politische Projekt ausüben, ebenfalls gerechtfertigt sind. Die Erhöhung der Bessergestelltensteuer von 40% auf 60% ist ein Beispiel für ein politisches Projekt. Es gilt als umfassend gerechtfertigt, wenn die Handlungen, welche die davon betroffenen Bürger ausüben, ebenfalls gerechtfertigt sind. Handelt es sich also um ein politisches Projekt, das umfassend gerechtfertigt werden kann? Cohen schlägt folgendes Kriterium vor, dem ein Argument genügen muss, um ein bestimmtes politisches Projekt umfassend zu rechtfertigen: »[A] policy argument provides comprehensive justification only if it passes what I shall call the interpersonal test. […] The test asks whether the argument could serve as a justification of a mooted policy when uttered by any member of society to any other member. […] If, because of who is presenting it, and/or to whom it is presented, the argument cannot serve as a justification of the policy, then whether or not it passes as such under other dialogical conditions, it fails […] to provide a comprehensive justification of the policy.« (RJE: 42; Hervorhebung im Original)
Ein politisches Projekt gilt demnach nur dann als umfassend gerechtfertigt, wenn es argumentativ von jedem Bürger gegenüber jedem anderen gerechtfertigt werden kann. Und das können wir mithilfe der Umformulierung eines Arguments in die Erstperson-Perspektive prüfen. Wichtig ist, dass die Bürger dabei auch die Handlungen rechtfertigen können, die sie in Reaktion auf das politische Projekt auszuüben gedenken und welche die Argumentation für das politische Projekt berücksichtigt.40 Würde also das Anreizargument gegen eine Erhöhung der Bessergestelltensteuer den interpersonal test bestehen? Cohen sagt: »[T]he incentives argument does not serve as a justification of inequality on the lips of the talented rich, because they cannot answer a demand for justification that naturally arises when they present the argument, sense. […] A justificatory community is a set of people among whom there prevails a norm […] of comprehensive justification.« 39 RJE: 45: »In my own (here undefended) view, it diminishes the democratic character of a society if it is not a community in the present sense, since we do not make policy together if we make it in the light of what some of us do that cannot be justified to others.« (Hervorhebung im Original) Ob sich der Wert des Gemeinschaftscharakters einer Gesellschaft letztlich verteidigen lässt, können wir hier offen lassen. Trotz der Erläuterungen in RJE: 43, bleibt der Begriff der Gemeinschaft vage. 40 RJE: 44: »[A]n argument fails the interpersonal test, and is therefore inconsistent with community, if relevant agents could not justify the behavior the argument ascribes to them.« (Hervorhebung im Original)
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namely, why would you work less hard if income tax were put […] up to 60 percent?« (RJE: 43)
Demnach zählt das Anreizargument nicht als Argument gegen die Erhöhung der Bessergestelltensteuer. Denn die Bessergestellten können ihre Handlungsweise, bei einer Einkommensteuer von 40% härter zu arbeiten als bei einer solchen von 60% Cohen zufolge nicht rechtfertigen. Allgemeiner schlussfolgert Cohen: »[T]he incentives argument can justify inequality only in a society where interpersonal relations lack a communal character[.]« (RJE: 47)41
M.E. ist diese Folgerung nicht so zwingend, wie Cohen es darstellt. Denn »die« Bessergestellten können »den« Schlechtestgestellten gegenüber überhaupt nichts rechtfertigen, da sie keine organisierte Gruppe sind. Die Bessergestellten sagen: »If the top tax goes up to 60 percent, we shall work less hard[.]« (RJE: 52; Hervorhebung JW)
Für den interpersonellen Test bietet es sich an, die Passage als Absichtserklärung zu interpretieren. Eine Absichtserklärung können die Bessergestellten nur abgeben, wenn sie allesamt Mitglieder einer privaten Vereinigung, des Bessergestellten-Clubs, sind. Wir haben jedoch gezeigt, dass das weder wahrscheinlich noch wünschenswert ist. Außerdem entspricht es, wie gesagt, wohl nicht Cohens Ansicht. Es verbleibt die Möglichkeit, dass einzelne Bessergestellte Absichtserklärungen abgeben. Sehen wir uns im Lichte dieser Einsicht noch einmal das Anreizargument in der Erstperson-Perspektive an: (4) Die Bessergestellten sagen zu den Schlechtestgestellten: »Public policy should make the worst off people (in this case, as it happens, you) better off. If the top tax goes up to 60 percent, we shall work less hard, and, as a result, the position of the poor (your position) will be worse. So the top tax on our income should not be raised to 60 percent.« (RJE: 52)
Da die Bessergestellten keine kollektive Absichtserklärung abgeben können, müssen wir das Argument umformulieren: (4*) Eine bessergestellte Person, nennen wir sie Gutrune, sagt zu einer schlechtestgestellten Person, nennen wir sie Brünnhilde: Die Politik sollte die Schlechtestgestellten (also auch dich) besser stellen.
41 Man beachte, dass hier nun vom Anreizargument in seiner allgemeinen Formulierung die Rede ist, wie wir es am Anfang dieses Kapitels erörtert haben.
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COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
Wenn die Bessergestelltensteuer auf 60% erhöht wird, dann werden die Bessergestellten voraussichtlich weniger hart arbeiten, und auch ich beabsichtige, dies zu tun. Im Ergebnis wird die Position der Schlechtestgestellten (und damit auch deine) schlechter werden. Die Bessergestelltensteuer sollte daher nicht auf 60% erhöht werden.
Die Umformulierung ist auch insofern sinnvoll, da Cohens Gemeinschaftsideal besagt, dass jeder einzelne Bürger seine Reaktion auf ein politisches Projekt rechtfertigen muss. Nehmen wir an, Brünnhilde werfe Gutrune vor, dass die zweite Prämisse nur aufgrund der Handlungen Gutrunes wahr sei. Gutrune kann dann auf ihre begrenzte Fähigkeit der Beeinflussung der kollektiven Verteilungsstruktur materieller Güter verweisen. Gutrune könnte sagen: »Ob ich persönlich auf gleichem Niveau weiterarbeite oder nicht, macht für die Schlechtestgestellten insgesamt und also auch für dich gar keinen Unterschied.« Vielleicht bleiben Brünnhilde weitere Einwände gegen Gutrunes Handeln. Wichtig ist hier jedoch nur, dass das Anreizargument, wie es in (4*) formuliert wurde, nicht so offensichtlich an dem interpersonal test scheitert, wie Cohen das suggeriert. Denn das bedeutet auch, dass das rawlssche Ideal der gerechten Gesellschaft nicht klarerweise gegen das Gemeinschaftsideal Cohens verstößt. Die Beziehungen zwischen Bürgern, die lediglich den rawlsschen Pflichten sozialer Gerechtigkeit entsprechend handeln, entbehren nicht notwendigerweise des gemeinschaftlichen Charakters. Cohens Argument zeigt damit auch nicht, dass Bürger, die den rawlsschen Pflichten sozialer Gerechtigkeit folgen, moralisch falsch handeln.
2.2 Ethos als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit In diesem Kapitel prüfe ich, ob das Ethos einer Gesellschaft für deren Gerechtigkeit relevant ist. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist Cohens These, eine Gesellschaft sei nur dann vollkommen gerecht resp. vollkommen egalitär (ideal egalitarian), wenn in ihr ein egalitäres Ethos verbreitet ist: »[A]n ideal egalitarian society is […] one in which citizens act altruistically at the ballot box and with some self-restraint in everyday life, for example, when they face high taxation that tempts them to withdraw labor: there needs to be an egalitarian ethos within civil society because the state cannot eliminate as much inequality that is adverse to the worst off as the state together with the citizenry can.« (RJE: 175; Hervorhebung im Original)
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Die These betrifft die Auffassung von dem Gegenstand und auch von den Pflichten sozialer Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeitsprinzipien sollten Cohen zufolge nicht allein die grundlegenden Institutionen, sondern auch das Ethos einer Gesellschaft bewerten. Cohens Ausführungen legen außerdem nahe, dass die Bürger einer gerechten Gesellschaft die Pflicht sozialer Gerechtigkeit haben, im Sinne eines egalitären Ethos zu handeln, auch wenn er das nicht ausdrücklich fordert. In 2.1 wurde festgestellt, dass die Bessergestellten dazu fähig sind, die materielle Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern, wenn sie im Sinne eines egalitären Ethos handeln. In einer Gesellschaft, in der ein egalitäres Ethos verbreitet ist, ist damit die Lage der Schlechtestgestellten besser als in der dem rawlsschen Ideal entsprechenden Gesellschaft. Die Verteilungsstruktur materieller Güter ist darüber hinaus egalitärer als im Falle des rawlsschen Gerechtigkeitsideals. Allgemeiner wurde festgestellt, dass die Bessergestellten als Ethosgruppe dazu fähig sind, die kollektive Verteilungsstruktur materieller Güter planvoll und kontrolliert zu beeinflussen. Offen geblieben ist die Frage, ob die Bessergestellten auch im Sinne eines egalitären Ethos handeln sollten, wie Cohen es fordert. Im Lichte der Forderungen des DP scheint das geboten zu sein. Dieses erlaubt ja Ungleichheiten nur insoweit, wie sie den Schlechtestgestellten zugutekommen. Da ein egalitäres Ethos scheinbar ein aussichtsreiches Mittel ist, um die Lage der Schlechtestgestellten zu verbessern und die Verteilungsstruktur materieller Güter egalitärer zu machen, erscheint die Beschränkung des Gegenstands sozialer Gerechtigkeit auf die Grundstruktur willkürlich. Dennoch weise ich Cohens Forderung nach einem egalitären Ethos in diesem Kapitel zurück. Das Ethos einer Gesellschaft erweist sich gleichwohl als relevant für deren Gerechtigkeit. Wie sich zeigt, ändert das jedoch nichts Wesentliches an der rawlsschen These von der Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. Auch seine Pflichtenkonzeption bleibt davon unberührt. Ich erläutere also zunächst den Begriff des Ethos. Dann prüfe ich, ob sich das Ethos einer Gesellschaft planvoll und kontrolliert verändern lässt. Denn in 2.1 wurde zwar festgestellt, dass sich die Bürger nicht kollektiv entscheiden können, im Sinne eines bestimmten Ethos zu handeln. Jedoch ist damit nicht ausgeschlossen, dass sich das Ethos der Gesellschaft auf andere Weise beeinflussen lässt. Es zeigt sich, dass das Ethos der Gesellschaft allein mithilfe der Institutionen der Grundstruktur planvoll und kontrolliert beeinflusst werden kann. Im weiteren Verlauf zeige ich dann, dass die Verbreitung eines egalitären Ethos gleichwohl nicht durch die Institutionen der Grundstruktur gefördert werden darf. Dagegen ist es durchaus eine Aufgabe der Institutionen der Grundstruktur, ein liberales Ethos zu fördern. Schließlich weise ich nach, dass auch private Vereinigungen im Lichte sozialer Gerechtigkeit kein egalitäres Ethos fördern müssen. 97
COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
Der Einfluss auf das Ethos einer Gesellschaft Der Begriff des Ethos Erläutern wir also zunächst den Begriff des Ethos. Cohen definiert: »[T]he ethos of a society is the set of sentiments and attitudes in virtue of which its normal practices and informal pressures are what they are.« (RJE: 144)
Ein Ethos besteht demnach darin, dass die Bürger bestimmte Haltungen und Gefühle teilen. Interpretierend können wir hinzufügen, dass die Haltungen und Gefühle bei einzelnen Personen in Reaktion oder Antizipation auf bestimmte eigene oder fremde Handlungsweisen hervorgerufen werden und sie zur Ausübung von sozialem Druck veranlassen. Man beachte, dass Cohen von dem Ethos einer Gesellschaft spricht. Er scheint daher davon auszugehen, dass alle oder zumindest ein Großteil der Bürger bestimmte Haltungen und Gefühle teilen. Weiterhin sind die Praktiken (practices), von denen er spricht, nicht Teil des Ethos, sondern sie werden durch das Ethos aufrechterhalten. Demgegenüber sollen hier zwei Änderungen vorgenommen werden, welche die Redeweise erleichtern und die folgende Diskussion ermöglichen, ohne Cohens Forderung nach einem egalitären Ethos substantiell zu berühren. Erstens unterscheiden wir zwischen dem Ethos einer Gruppe und einem gesellschaftsweit geteilten Ethos. Bei ersterem handelt es sich um die heute übliche Verwendungsweise des Ausdrucks. So spricht man vom Ethos der Mediziner oder vom Ethos der Soldaten.42 Daher sprechen wir bisweilen auch von einer Vielzahl von Ethe, während Cohen nur von dem Ethos einer Gesellschaft spricht. Beides schließt sich nicht aus. Wir sprechen von dem Ethos der Gesellschaft, um auf die Prinzipien, Gefühle etc. zu verweisen, die von nahezu allen Bürgern geteilt werden.43 Zweitens betrachten wir den informellen sozialen Druck (informal pressures) sowie die Praktiken, die durch entsprechende Haltungen und Gefühle aufrechterhalten werden, als Teil eines Ethos. Cohen erläutert nicht, was er unter Praktiken versteht. Wir verstehen darunter Handlungsprinzipien, Handlungsregeln und Handlungsgewohnheiten. Wenn 42 Vgl. Reiner 1972: 812f.: »In kulturanthropologischer Betrachtung bezeichnet [Ethos] die »Gesamtheit der von der Mehrheit einer ethnisch abgrenzbaren Gruppe geglaubten Auffassungen über wesentliche Angelegenheiten« [...], wobei die Wirksamkeit des [Ethos] vom Clan und Stamm eines »Naturvolkes« zur modernen Großgesellschaft hin abfällt, und eigentlich fast nur noch die bestimmende, feste Grundhaltung irgendeines Berufsstandes, z.B. das »[Ethos] des Arztes«, verlangt und positiv gewertet wird[.]« 43 Wir entscheiden uns hier für den Plural »Ethe« statt »Ethea«.
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wir also vom Ethos einer Gruppe von Personen sprechen, dann bezeichnen wir damit nicht allein deren Gefühle und Haltungen, sondern auch die Gewohnheiten, Prinzipien und Handlungsregeln, welche durch bestimmte Gefühle und Haltungen aufrechterhalten werden. M.E. entspricht das der alltäglichen Verwendungsweise des Ausdrucks. Wir können beispielsweise sagen, dass lange Schichten dem Ethos der Mediziner entsprechen. Damit meinen wir normalerweise nicht alleine, dass Mediziner Gefühle und Haltungen teilen, die sie zum langen Arbeiten veranlassen. Wir meinen damit auch, dass sie die Gewohnheit haben, lange zu arbeiten, und dass sie entsprechende Prinzipien für richtig halten. Wir verstehen also den Ausdruck »Ethos« folgendermaßen: Ein Ethos besteht in bestimmten Prinzipien und Handlungsregeln, die von einer Gruppe oder im Grenzfall von allen Bürgern gewohnheitsmäßig befolgt werden. Diese Handlungsregeln werden durch bestimmte Haltungen und Gefühle aufrechterhalten, unter anderem, indem sie zur Ausübung sozialen Drucks veranlassen. In einer Gesellschaft findet bspw. ein demokratisches Ethos weite Verbreitung, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung demokratische Handlungsregeln gewohnheitsmäßig befolgt, sich zudem gut dabei fühlt, angesichts undemokratischer Handlungen negative Gefühle hat und sozialen Druck ausübt, um solche Handlungen zu verhindern.44 Analog findet in einer Gesellschaft ein egalitäres Ethos weite Verbreitung, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung egalitäre Handlungsregeln befolgt, sich zudem gut dabei fühlt, angesichts nicht-egalitärer Handlungen negative Gefühle hat und sozialen Druck ausübt, um solche Handlungen zu verhindern. Cohen zufolge ist es schwierig, die Regeln und Prinzipien eines egalitären Ethos zu bestimmen.45 Aus der Kidnapper-Analogie geht jedoch hervor, dass Personen, die im Sinne eines egalitären Ethos handeln, in Lohnverhandlungen keine übermäßigen Löhne fordern und sich umverteilenden Steuern nicht entwinden, sondern diese vielmehr bejahen und auch dann hart arbeiten, wenn eine solche Handlungsweise nicht zu ihrem eigenen Vorteil ist. Damit befördern sie eine egalitäre Verteilungsstruktur materieller Güter. Diese ist egalitärer und die Lage der Schlechtestgestellten ist besser als in einer Gesellschaft, in der allein die Grundstruktur dem DP entsprechend eingerichtet ist. Das doctor-gardener-Beispiel zeigt außerdem, dass Personen, deren Handlungen durch ein 44 Worin genau solche demokratischen Handlungsregeln bestehen, ist hier nicht weiter relevant. Beispiele wären die Regel, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, selbst wenn man zur unterlegenen Partei gehört, oder eine offene Diskussion zwischen allen Betroffenen zu fördern, bevor weitreichende Entscheidungen getroffen werden. 45 RJE: 22.
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egalitäres Ethos geleitet sind, dazu tendieren, einen solchen Beruf zu wählen, der eine egalitäre Verteilungsstruktur materieller Güter befördert.46 Lässt sich das Ethos einer Gesellschaft beeinflussen? Wir wenden uns nun der Frage zu, inwiefern die Bürger das Ethos der Gesellschaft planmäßig und kontrolliert beeinflussen können. Das ist aus drei Gründen relevant. Erstens suchen wir nach einem Gerechtigkeitsideal, das die Realisierbarkeitsbedingung erfüllt. Das bedeutet unter anderem, dass sämtliche Forderungen des Gerechtigkeitsideals sich prinzipiell planmäßig und kontrolliert verwirklichen lassen müssen. Wenn sich das Ethos einer Gesellschaft nicht planmäßig und kontrolliert beeinflussen lässt, kann ein bestimmtes Ethos demnach auch nicht zu den Forderungen sozialer Gerechtigkeit gehören. Zweitens ist es für die Bestimmung des Gegenstands sozialer Gerechtigkeit relevant, auf welche Weise sich das womöglich geforderte Ethos realisieren lässt. Wenn sich diese Forderung, wie ich zu zeigen versuche, nur mithilfe der Institutionen der Grundstruktur erfüllen lässt, dann können auch allein diese der Gegenstand der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit sein. Drittens ist es auch für die Bestimmung der Pflichten sozialer Gerechtigkeit relevant, auf welche Weise sich das Ethos einer Gesellschaft beeinflussen lässt. Wenn ein bestimmtes Ethos zu den Forderungen sozialer Gerechtigkeit zählt und wenn ein solches nur durch die Institutionen der Grundstruktur gefördert werden kann, dann liegt es nahe, dass sich auch die Pflichten sozialer Gerechtigkeit allein auf die Grundstruktur beziehen. Sind die Bürger also dazu fähig, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu verändern? Es bieten sich drei Möglichkeiten an, diese Frage zu verstehen. Erstens: Sind die Bürger als einzelne Personen dazu fähig, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu verändern, und zwar unabhängig von den Handlungen der anderen Bürger? Zweitens: Sind die Bürger als Mitglieder privater Vereinigungen dazu fähig, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu verändern? Drittens: Sind die Bürger dazu fähig, das Ethos der Gesellschaft mithilfe der Institutionen der Grundstruktur planvoll und kontrolliert zu verändern? 46 Andrew Williams unterscheidet zwischen einem engen Ethos (narrow ethos) und einem weiten Ethos (wide ethos). Letzteres entspricht der Art und Weise, wie wir das egalitäre Ethos beschrieben haben, ersteres schließt dagegen aus, dass auch die Berufswahl durch ein solches Ethos geleitet wird. Williams gibt systematische Gründe für das wide ethos an. Vgl. Williams 1998: 235–238. M.E. entspricht ein solches auch eher Cohens Anliegen.
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Einzelpersonen Prüfen wir also zunächst, ob Einzelpersonen dazu fähig sind, das Ethos der Gesellschaft planmäßig und kontrolliert zu verändern. Wir fragen, ob Einzelpersonen dazu fähig sind unabhängig von den Handlungen anderer Einzelpersonen, unabhängig von ihrem Engagement innerhalb von privaten Vereinigungen und unabhängig von ihrem Engagement für die Veränderung grundlegender Institutionen. Cohen zufolge verändert sich das Ethos einer Gesellschaft üblicherweise durch die individuelle Änderung von Gewohnheiten und Haltungen. Das geht aus einem seiner Beispiele hervor, in dem es um die Verteilung der Aufgaben im Haushalt bei Ehepaaren geht. Offensichtlich hat hier in westlichen Gesellschaften eine Veränderung des Ethos stattgefunden. Während bis vor wenigen Jahrzehnten eine »klassische« Aufgabenverteilung die Regel war, ist es heute nicht unüblich, dass beide Partner Aufgaben im Haushalt übernehmen. Es handelt sich um die Veränderung eines Ethos, denn wir gehen davon aus, dass Personen verschiedene Prinzipien und Handlungsregeln für richtig halten, welche die eheliche Aufgabenverteilung betreffen. Personen haben außerdem damit zusammenhängende Gewohnheiten, Gefühle und Haltungen. Cohen behauptet nun, das Ethos habe sich verändert, weil einige Ehemänner aufgrund von feministischer Kritik angefangen hätten, anders zu handeln: »It is a plain empirical fact that some husbands are capable of revising their behavior, since some husbands have done so, in response to feminist criticism. These husbands, we could say, were moral pioneers. They made a path that becomes easier and easier to follow as more and more people follow it, until social pressures are so altered that it becomes harder to stick to sexist ways than to abandon them. That is a central way in which a social ethos changes.« (RJE: 142; Hervorhebung JW)
Cohen beschreibt die Veränderung eines Ethos damit als einen Vorgang, der nicht durch institutionelle Reformen, sondern vielmehr durch individuelle Handlungen ausgelöst wird.47 Einzelpersonen ändern ihre Gewohnheiten und tragen damit dazu bei, dass andere ihre Erwartungen verändern, auf welche Weise »man« sich üblicherweise verhält. Schließlich ändern auch die anderen ihre Gewohnheiten. Oder, wie Cohen es ausdrückt: »Expectations determine behavior, behavior determines expectations, which determine behavior, and so on.« (RJE: 142) 47 Einzelpersonen handeln in dem Beispiel zwar innerhalb der Institution der Ehe, aber im Bereich dessen, was die Regeln der Institution weder gebieten noch verbieten, vgl. RJE: 374–377.
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Untersuchen wir nun Cohens Vorschlag der Veränderung eines Ethos. Zunächst erscheint es schwierig, sein Modell zu überprüfen. Zwar lassen sich in Bezug auf die Verteilung der Aufgaben im Haushalt innerhalb der Ehe sicherlich moralische Pioniere (moral pioneers) ausmachen. Welche Wirkung dieses individuell von der Norm abweichende Handeln auf die gesellschaftsweit geteilten Haltungen, Gefühle und Überzeugungen hat, ist jedoch kaum überprüfbar. Dagegen ist die Auffassung, das Ethos der Gesellschaft ließe sich kontrolliert und planmäßig durch individuell abweichendes Handeln verändern, mit einem schwerwiegenden und m.E. vernichtenden Einwand konfrontiert. Individuell abweichendes Handeln kann offensichtlich ebenso zur Veränderung wie zur Festigung eines Ethos beitragen. Zur Festigung kann es bspw. beitragen, indem der Abweichler sozialem Druck ausgesetzt oder gar bestraft wird. Dadurch werden weitere potentielle Abweichler abgeschreckt und von ihrem Vorhaben abgebracht, es dem ersten Abweichler gleichzutun. Nun behauptet Cohen in der zitierten Passage genau besehen nicht, Einzelpersonen seien fähig, das Ethos einer Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu verändern. Vielmehr behauptet er, individuell abweichendes Handeln sei die übliche Art und Weise, wie sich ein Ethos ändere. Die Bezeichnung der Abweichler als moralische Pioniere zeigt jedoch, dass sie Cohen zufolge moralisch lobenswert handeln. Und es liegt nahe, dass die moralische Vorzugswürdigkeit ihrer Handlungen darin begründet liegt, dass sie das Ethos der Gesellschaft gerechter machen. Für unsere systematische Fragestellung ist es letztlich nicht relevant, ob Cohen diese Position nun vertritt oder nicht. Wir können festhalten, dass sich ein Ethos nicht planmäßig und kontrolliert verändern lässt, indem Einzelpersonen schlicht damit beginnen, anderen Prinzipien und Handlungsregeln gemäß zu handeln. Denn es geht um die planvolle und kontrollierte Änderung des Ethos der gesamten Gesellschaft. Die Auffassung, durch individuell abweichendes Handeln ließe sich das Ethos der gesamten Gesellschaft planvoll und kontrolliert ändern, erscheint abwegig. Das Ethos der Gesellschaft kann nämlich dadurch ebenso verändert, wie gefestigt werden. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass das Ethos der Gesellschaft dadurch schlicht überhaupt nicht tangiert wird. Der Papst-Einwand In 2.1 haben wir gefragt, inwiefern es Einzelpersonen möglich ist, die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu beeinflussen. Nachdem wir diese Frage für den »Normalbürger« negativ beantwortet hatten, haben wir diskutiert, ob es nicht einem »Superreichen«, wie etwa Bill Gates, möglich ist, die Vermögensstruktur in der gesamten Bevölkerung zu beeinflussen. Analog 102
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zu dem Bill-Gates-Einwand können wir nun einen Papst-Einwand formulieren: Zwar ist es dem Normalbürger unter üblichen Umständen nicht möglich, das Ethos der Gesellschaft zu beeinflussen, aber der Papst oder vergleichbare charismatische Personen sind dazu fähig. Der Papst könnte z.B. die Christenheit belehren, nur Menschen, die gemäß den Prinzipien und Handlungsregeln eines egalitären Ethos handelten, seien wahrhaft christliche Menschen. Gegen den Papst-Einwand sollen nun drei Argumente formuliert werden, die nicht allein auf den Papst, sondern ebenso auf andere Ausnahmepersönlichkeiten zutreffen. Erstens: Der Papst handelt keineswegs als Einzelperson unabhängig von anderen Personen, sondern verbreitet seine Botschaft über ein dichtes institutionelles Netz verschiedener kirchlicher Einrichtungen – Kirchen, konfessionelle Schulen, Jugendgruppen oder auch karitative Organisationen. Das Handeln des Papstes ist daher als ein solches innerhalb einer privaten Vereinigung zu verstehen. Der Papst ist mithin Inhaber eines Amtes innerhalb einer privaten Vereinigung, nämlich der katholischen Kirche. Zweitens: Als Forderung sozialer Gerechtigkeit muss ein Ethos generationenübergreifend aufrechterhalten werden können. Einer charismatischen Einzelperson ist es normalerweise nicht möglich, planvoll, kontrolliert und langfristig auf die Veränderung eines Ethos hinzuwirken. Drittens: Liberale Gesellschaften zeichnen sich Rawls zufolge durch eine Pluralität von Weltanschauungen aus. Auf diese Annahme gehen wir weiter unten noch ausführlicher ein. Hier genügt die Feststellung, dass es selbst charismatischen Personen unter diesen Umständen kaum möglich ist, ihre Weltanschauung in der gesamten Gesellschaft zu verbreiten. Die Vielzahl von Weltanschauungen impliziert auch, dass in liberalen Gesellschaft eine Vielzahl verschiedener Ethe verbreitet ist. Auch eine charismatische Persönlichkeit kann daher kaum einen kontrollierten Einfluss auf die Gewohnheiten, Haltungen und Gefühle aller Bürger ausüben. Historische Ereignisse Cohen erwähnt beiläufig eine weitere Möglichkeit, wie sich das Ethos einer Gesellschaft verändern kann. So können besondere historische Ereignisse zur Veränderung des Ethos einer Gesellschaft führen. Cohen führt beispielhaft das Ethos an, das im und nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien weite Verbreitung fand: Aufgrund der Notlage, in der sich die Nation befand, herrschte die allgemeine Haltung vor, dass jeder nach Kräften seinen Beitrag zu leisten habe.48 Diese Art der Veränderung eines Ethos ist jedoch insofern zufällig, als dass sie nicht das Ergebnis 48 Vgl. RJE: 142f., 219, 353.
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planerischen Handelns ist, sondern vielmehr eine unvorhergesehene Nebenfolge des Zusammenspiels unzähliger Handlungen.49 Offensichtlich sind historische Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg, aber auch weniger dramatische historische Entwicklungen, damit kein geeignetes Mittel, um ein egalitäres Ethos planvoll und kontrolliert zu etablieren. Da wir nach den Forderungen eines Gerechtigkeitsideals fragen, das prinzipiell planvoll und kontrolliert realisierbar ist, können wir diese Art der Veränderung eines Ethos daher hier beiseitelassen. Ein Gerechtigkeitsideal sollte zudem nicht auf höchst spezifische historische Konstellationen angewiesen sein. Denn wäre das der Fall, so wäre der Anwendungsrahmen des Gerechtigkeitsideals soweit eingeschränkt, dass es nur noch in einer solchen historischen Konstellation seine Funktion erfüllen kann, einen Zustand zu beschreiben, den es handelnd zu verwirklichen gilt.50 Private Vereinigungen Ist es den Bürgern möglich, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu verändern, wenn sie sich in privaten Vereinigungen engagieren? Sind m.a.W. private Vereinigungen dazu fähig, das Ethos einer Gesellschaft zu verändern, und zwar ohne gegen die institutionellen Vorschriften einer gerechten Grundstruktur zu verstoßen? Ein naheliegendes Beispiel für private Vereinigungen, die scheinbar das Ethos einer Gesellschaft beeinflussen können, sind Religionsgemeinschaften.51 Und 49 Damit soll nicht behauptet werden, historische Ereignisse könnten mit den Mitteln historischer Forschung nicht erklärt oder verstanden werden. 50 Es ist allerdings eine Überlegung wert, inwiefern auch Rawls’ Gerechtigkeitsideal von bestimmten historischen Voraussetzungen abhängig ist. Zu nennen wäre hier etwa die Entwicklung kapitalistischen Wirtschaftens, ohne die vermutlich die erforderlichen Produktionskapazitäten nicht zur Verfügung stünden, die erforderlich sind, um einem jeden ein solches Grundgüterbündel zukommen zu lassen, dass ein jeder imstande ist, moralische Person zu werden. Selbst wenn man den Anwendungsbereich des rawlsschen Ideals in der Weise einschränkt, dass es nur für moderne Gesellschaften auf einem bestimmten technischen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand gilt, bleibt der Anwendungsbereich dennoch groß genug. Denn dieser Entwicklungsstand wird zumindest von vielen westlichen Gesellschaften im Laufe des 19. Jh. erreicht. 51 Die klassische Untersuchung über den Einfluss von Religionsgemeinschaften auf das Ethos einer Gesellschaft ist Max Webers Protestantische Ethik (Weber 2006). Dort sucht er nachzuweisen, dass das Arbeits- und Investitionsverhalten der Mitglieder einer Gesellschaft in der Frühen Neuzeit davon abhängig ist, welche Religion in einer Gesellschaft vorherrscht. Während in katholisch dominierten Regionen ein Ethos herrscht, bei dem Arbeit allein dem Zweck des Broterwerbs resp. Lebensunterhalts dient, wird in
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tatsächlich mag es Zeiten gegeben haben, in denen etwa die katholische Kirche erfolgreich in der ganzen Gesellschaft ein christliches Ethos verbreitet hat. Doch trifft das auf moderne liberale Gesellschaften nicht mehr zu. Diese zeichnen sich nämlich durch eine Pluralität verschiedener vernünftiger Weltanschauungen resp. umfassender Lehren (comprehensive doctrines) aus. Die Existenz einer Vielzahl von Weltanschauungen, die einander widersprechen und gleichwohl jeweils vernünftig sein können, ist eine der Grundvoraussetzungen der späteren rawlsschen Philosophie. Er spricht von dem Faktum des vernünftigen Pluralismus.52 Wir können davon ausgehen, dass ein solcher Pluralismus in liberalen Gesellschaften auch im Bereich der verschiedenen Ethe anzutreffen ist. Rawls zufolge enthalten umfassende Lehren nämlich »conceptions of what is of value in human life, and ideals of personal character, as well as ideals of friendship and of familial and associational relationships, and much else that is to inform our conduct, and in the limit to our life as a whole.« (PL I §2.2: 13)
Gerade die Redeweise von Idealen des persönlichen Charakters (ideals of personal character) legt nahe, dass auch Haltungen und Gewohnheiten protestantischen Regionen produktive Tätigkeit als Tugend und Müßiggang als Laster angesehen. Dieses protestantische Ethos fördert in doppelter Hinsicht die Entstehung kapitalistischer Produktionsweisen: Die stetige Betriebsamkeit und das Verbot des Genusses von Reichtum fördert zum einen die Akkumulation von Kapital. Die Tatsache, dass auch unproduktiv »herumliegender« Reichtum als Laster angesehen wird, fördert zudem die Investitionsbereitschaft in protestantischen Regionen. Wir können hier offenlassen, inwieweit Webers Thesen aus Sicht der gegenwärtigen Forschung noch zutreffen. Eine gewisse Ironie besteht nämlich darin, dass die protestantischen Eliten mit dem von ihnen unterstützten Ethos keinesfalls bezweckt haben, eine kapitalistische Wirtschaftsweise zu etablieren. Sie haben diese Wirtschaftsweise kaum planmäßig und kontrolliert eingeführt. Im Gegenteil, Weber deutet einen Zusammenhang an zwischen der Entwicklung des Kapitalismus und dem Rückgang der strengen, alle Lebensbereiche umfassenden Religiosität. Bleibt noch zu bemerken, dass die von Weber untersuchten Gesellschaften des 16. und 17. Jh. keine liberalen Gesellschaften sind. Der Staat garantiert in diesen Gesellschaften nicht Grundrechte wie die Meinungsfreiheit. Aus diesem Grund ist es den Staats- und Religionsführern in der Frühen Neuzeit möglich, die Entstehung eines vernünftigen Pluralismus in den Gesellschaften zu verhindern. Die Religionsgemeinschaften dominieren in der Frühen Neuzeit außerdem das Bildungswesen. Auch wenn die Übernahme von Bildungsaufgaben durch Religionsgemeinschaften prinzipiell in einer dem rawlsschen Gerechtigkeitsideal entsprechenden Gesellschaft nicht ausgeschlossen ist, muss auf irgendeine Weise gewährleistet sein, dass Chancengleichheit besteht. 52 Vgl. etwa PL I §6.2: 36f.
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Teil der Weltanschauung resp. der umfassenden Lehre einer Person sind. Da diese zu einem großen Teil unser Verhalten bestimmen (inform our conduct), wäre es willkürlich, sie nicht der umfassenden Lehre einer Person zuzurechnen. In einer liberalen Gesellschaft gibt es also eine Vielzahl verschiedener vernünftiger Ethe, die zwar widersprechende Handlungsregeln und Prinzipien umfassen, die aber dennoch jeweils vernünftig sind. Nun geht Rawls davon aus, dass die Durchsetzung einer umfassenden Lehre nur mithilfe von Zwang aussichtsreich ist: »[A] continuing shared understanding on one comprehensive religious, philosophical, or moral doctrine can be maintained only by the oppressive use of state power.« (PL I §6.2: 37)
Allein mithilfe von vernünftiger Argumentation, Werbung und anderen Mitteln nicht zwangsbewehrter Einflussnahme ist das dagegen nicht aussichtsreich. Nun ist es privaten Vereinigungen in einer liberalen Gesellschaft nicht erlaubt, ein Ethos mithilfe von Zwang zu verbreiten. In einer Gesellschaft, die dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz genügt, sind die Bürger als Mitglieder privater Vereinigungen demnach nicht dazu fähig, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu verändern. Die Grundstruktur der Gesellschaft Wir gehen nun auf die Frage ein, ob es den Bürgern mithilfe der Institutionen der Grundstruktur möglich ist, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu beeinflussen. Einige Institutionen der Grundstruktur haben wohl tatsächlich einen gewissen plan- und kontrollierbaren Einfluss auf das Ethos der Gesellschaft. Man denke etwa an die Institutionen des Bildungssystems. Wenn Kinder und Jugendliche von klein auf im Sinne eines bestimmten Ethos erzogen werden, werden sie tendenziell auch als Erwachsene gemäß einem solchen Ethos handeln. Das leuchtet insbesondere ein, wenn die Institutionen des Bildungssystems überwiegend staatlich geführt werden. Jedoch ist die kontrollierte Veränderung eines Ethos wohl auch durch indirekte Einflussnahme auf private Bildungsinstitutionen, wie etwa durch verpflichtende Lehrpläne, möglich. Eine weitere Möglichkeit, mittels der Institutionen der Grundstruktur das Ethos der Gesellschaft zu verändern, besteht darin, die Besetzung von staatlichen Ämtern von den Einstellungen und Gewohnheiten der Anwärter abhängig zu machen. Wie stark der Einfluss der Grundstruktur auf das Ethos einer Gesellschaft sein kann, ist im Rahmen einer philosophischen Abhandlung nicht zu beantworten. Es ist jedoch einleuchtend, dass es nicht allein die Grundstruktur ist, die das Ethos einer Gesellschaft beeinflusst. Es handelt sich lediglich um die einzigen Institutionen, mithilfe derer sich das Ethos einer Gesellschaft planvoll und kontrolliert 106
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beeinflussen lässt. Andere Faktoren, die das Ethos der Gesellschaft sicherlich beeinflussen, sind z.B. Religionsgemeinschaften, Produkte der Unterhaltungsindustrie und Werbung. Wir können daher davon ausgehen, dass der plan- und kontrollierbare Einfluss, der sich mithilfe der Institutionen der Grundstruktur auf das Ethos einer liberalen Gesellschaft ausüben lässt, nicht überschätzt werden sollte. Allein eine Reform der Institutionen der Grundstruktur ist also ein aussichtsreiches Mittel, um das Ethos einer Gesellschaft kontrolliert und planmäßig zu verändern. Dieses Ergebnis ist für unsere Auffassungen von Gegenstand und Pflichten sozialer Gerechtigkeit relevant. Denn im weiteren Verlauf des Kapitels wird sich zwar ein liberales Ethos als Forderung sozialer Gerechtigkeit erweisen. Davon bleibt jedoch die These von Rawls im Wesentlichen unberührt, die Grundstruktur sei der Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. Da die Grundstruktur das einzige Mittel ist, das Ethos der Gesellschaft planvoll und kontrolliert zu beeinflussen, kann sich die Forderung nach einem bestimmten Ethos auch allein an die Grundstruktur richten. Und auch die rawlssche Konzeption der Pflichten sozialer Gerechtigkeit bleibt im Lichte dieses Ergebnisses weiterhin überzeugend. Da die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit allein die Grundstruktur bewerten, haben Einzelpersonen auch nur solche Pflichten sozialer Gerechtigkeit, die sich auf die Grundstruktur beziehen. Ein egalitäres Ethos als Forderung sozialer Gerechtigkeit? Wenden wir uns nun der Frage zu, ob eine Gesellschaft nur dann vollkommen gerecht ist, wenn in ihr ein egalitäres Ethos verbreitet ist. Das Ethos der Gesellschaft ist in einem gewissen Rahmen planmäßig und kontrolliert veränderbar. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit ein bestimmtes Ethos fordern. Wir fragen nun, ob mithilfe der Institutionen der Grundstruktur ein egalitäres Ethos oder ein anderes Ethos gefördert werden sollte. Ist das egalitäre Ethos eine weit verbreitete politische Tugend? Rawls geht davon aus, dass mithilfe der Institutionen der Grundstruktur bestimmte Tugenden, und zwar politische Tugenden gefördert werden sollten. Zwar erläutert er nicht weiter, was er unter einer Tugend versteht. Im üblichen philosophischen Sprachgebrauch bezeichnen wir damit jedoch bestimmte Handlungsgewohnheiten einer Person, die sie für richtig hält und bei deren Ausübung sie sich gut fühlt. Die hier verwendeten Begriffe von Ethos und Tugend sind damit eng verwandt: So kann man ein Ethos als eine oder mehrere Tugenden verstehen, die 107
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mehrere Personen haben. Bei einem gesellschaftsweit geteilten Ethos handelt es sich demnach um Tugenden, die gesellschaftsweit verbreitet sind. Politische Tugenden sind Rawls zufolge »the virtues of fair social cooperation[.]« (PL V §5.4: 194)
Wieso geht Rawls davon aus, dass politische Tugenden durch die Institutionen der Grundstruktur gefördert werden sollten, während das bei anderen Tugenden nicht der Fall ist? Die Begründung findet sich in der folgenden Passage: »[T]he ideals connected with the political virtues are tied to the principles of political justice and to the forms of judgment and conduct essential to sustain fair social cooperation over time[.]« (PL V §5.4: 194; Hervorhebung JW)53
Politische Tugenden sind demnach solche Tugenden, die wesentlich für das Aufrechterhalten der grundlegenden Regeln fairer sozialer Kooperation sind. Unter sozialer Kooperation versteht Rawls Kooperation nach öffentlich anerkannten Regeln: »[S]ocial cooperation is guided by publicly recognized rules and procedures which those cooperating accept as appropriate to regulate their conduct[.]« (JF §2.2: 6)
Bei den grundlegenden Regeln fairer Kooperation handelt es sich um die institutionellen Regeln der Grundstruktur. Das wird dadurch nahegelegt, dass Rawls die Grundstruktur bisweilen als institutionelles System sozialer Kooperation charakterisiert.54 Für uns ist wichtig, dass politische Tugenden nicht auf die Erreichung irgendwelcher Zwecke außerhalb der Aufrechterhaltung der grundlegenden institutionellen Regeln fairer Kooperation abzielen. Vielmehr sind sie allein als wesentliche Mittel zur Aufrechterhaltung dieser Regeln zu verstehen. Rawls nennt als Beispiele für politische Tugenden »civility and tolerance, […] reasonableness and the sense of fairness[.]« (PL V §5.4: 194) 53 Vgl. auch PL V §5.4: 195: »[If] a constitutional regime takes certain steps to strengthen the virtues of toleration and mutual trust, […] it is taking reasonable measures to strengthen the forms of thought and feeling that sustain fair social cooperation between its citizens regarded as free and equal.« In der Passage spricht Rawls etwas vage vom Verfassungsstaat (constitutional regime) und nicht ausdrücklich von der Grundstruktur. An anderer Stelle sagt er jedoch: »[A] requirement of a stable constitutional regime is that its basic institutions should encourage the cooperative virtues of political life[.]« (JF §33.3: 116; Hervorhebung JW) 54 JF §4.1: 10: »[T]he basic structure of society is the way in which the main political and social institutions of society fit together into one system of social cooperation[.]«
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Rawls erläutert nicht näher, inwiefern Höflichkeit (civility) wesentlich für das Aufrechterhalten fairer Kooperation ist und was unter einem Sinn für Fairness (sense of fairness) zu verstehen ist. Die anderen Beispiele lassen sich jedoch leichter nachvollziehen. Toleranz (tolerance) ist insofern erforderlich für das Aufrechterhalten fairer sozialer Kooperation, als dass auch Personen, die verschiedene Weltanschauungen haben, willig sein müssen, nach fairen Regeln miteinander zu kooperieren. Vernünftigkeit (reasonableness) bezeichnet die Fähigkeit einer Person, faire Kooperationsregeln zu entwickeln und anzuerkennen. Das schließt die Bereitschaft der Person ein, auch dann den Kooperationsregeln entsprechend zu handeln, wenn diese gelegentlich zu ihrem Nachteil sind.55 Vernünftigkeit – als Tugend verstanden – bezeichnet nicht allein die Fähigkeit, sondern auch die Gewohnheit oder den Hang, vernünftig zu handeln. Offensichtlich ist Vernünftigkeit in diesem Sinne eine Tugend, die zur Aufrechterhaltung der Regeln fairer Kooperation erforderlich ist. Ist ein egalitäres Ethos eine gesellschaftsweit verbreitete politische Tugend? Ich möchte im Folgenden dafür argumentieren, dass das nicht der Fall ist. Ein egalitäres Ethos ist nicht wesentlich zur Aufrechterhaltung der grundlegenden Regeln fairer sozialer Kooperation. Vielmehr handelt es sich bei einem egalitären Ethos um eine Strategie, derer sich die Bürger bedienen können, um das Ziel einer egalitären Verteilungsstruktur materieller Güter zu befördern. Eine der zentralen Einsichten Cohens besteht m.E. darin, dass die Bürger auf ganz verschiedene Weise handeln können, ohne den institutionellen Regeln der Grundstruktur zuwider zu handeln. Ein selbstsüchtiger Maximierer (self-seeking maximizer) handelt ebenso gemäß den grundlegenden Regeln fairer Kooperation wie eine Person, die im Sinne eines egalitären Ethos und damit extrem altruistisch handelt. Beide halten sich an die Regeln. Nun ist es nicht einsichtig, dass ein egalitäres Ethos wesentlich zur Aufrechterhaltung der grundlegenden Regeln fairer Kooperation ist, wenn einige Bürger selbstsüchtige Maximierer sein können, ohne dass die Aufrechterhaltung dieser Regeln davon beeinträchtigt ist. Dabei müssen wir nicht ausschließen, dass ein egalitäres Ethos durchaus ein nützliches Mittel zur Aufrechterhaltung solcher Regeln sein kann. Dass ein Ethos ein nützliches Mittel zur Aufrechterhaltung der grundlegenden Regeln fairer Kooperation ist, heißt aber nicht, dass es dafür wesentlich (essential) ist. Letzteres verstehe ich so, dass es unter normalen 55 JF §2.2: 6f.: »[R]easonable persons are ready to propose, or to acknowledge when proposed by others, the principles needed to specify what can be seen by all as fair terms of cooperation. Reasonable persons also understand that they are to honor these principles, even at the expense of their own interests as circumstances may require, provided others likewise may be expected to honor them.«
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Umständen nicht möglich wäre, die grundlegenden Regeln fairer Kooperation aufrechtzuerhalten, ohne dass ein egalitäres Ethos verbreitet wäre.56 So ist es unter normalen Umständen nicht möglich, solche Regeln aufrechtzuerhalten, wenn die Bürger zu großen Teilen zwar rational, aber nicht vernünftig sind, wenn sie sich also nur dann an die Kooperationsregeln halten, falls sie ihrem eigenen Vorteil dienen. Dagegen können Bürger unter normalen Umständen auch dann auf faire Weise kooperieren, wenn ein egalitäres Ethos keine weite Verbreitung findet. Das egalitäre Ethos ist damit keine weit verbreitete politische Tugend. Ist das egalitäre Ethos eine Strategie? Wir können uns noch auf eine andere Weise verdeutlichen, dass ein egalitäres Ethos keine weithin geteilte politische Tugend ist. Die Prinzipien und Handlungsregeln des egalitären Ethos lassen sich nämlich als Strategie verstehen, derer sich die Bürger bedienen können, um den Zweck einer egalitären Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne Cohens zu realisieren. Und dieser Zweck ist von der Aufrechterhaltung fairer sozialer Kooperation unterschieden.57 Rawls unterscheidet zwischen Strategien, mithilfe derer man sich einer Institution bedienen kann, und den konstitutiven Regeln dieser Institution: »It is necessary to note the distinction between the constitutive rules of an institution, which establish its various rights and duties, and so on, and strategies […] for how best to take advantage of the institution for particular purposes.« (TJ §10: 49f.)
Auf Institutionen bezogene, rationale Strategien sind Empfehlungen oder Arbeitsanweisungen zur Erreichung irgendeines Zwecks. Sie sind rational, insofern sie Handlungen empfehlen, die von den jeweiligen In stitutionen weder geboten noch verboten sind und die adäquate Mittel zur Erreichung des jeweiligen Zwecks darstellen. Illegale Strategien zur Steuervermeidung sind in diesem Sinne keine rationalen Strategien. Strategien sind auf Institutionen bezogen, da sich Personen, die eine solche Strategie verfolgen, die Regeln der Institution zur Erreichung eines 56 »Unter normalen Umständen« und nicht »unter allen Umständen«, denn hier soll nicht behauptet werden, dass ein begrifflicher oder naturgesetzlicher Zusammenhang besteht. 57 Cohen könnte freilich faire soziale Kooperation dadurch definieren, dass sie tendenziell zu einer egalitären Verteilungsstruktur materieller Güter führt. Auch in diesem Falle ist ein egalitäres Ethos allerdings keine weit verbreitete politische Tugend. Ein egalitäres Ethos ist nämlich dann kein Mittel zur Aufrechterhaltung fairer sozialer Kooperation. Vielmehr besteht faire Kooperation dann unter anderem in einem egalitären Ethos.
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bestimmten Zwecks zunutze machen. Ein Beispiel für eine solche Strategie innerhalb der Institution des Fußballspiels ist: »Wenn die gegnerische Fußballmannschaft stark in der Offensive, aber schwach in der Defensive ist, dann spiele auf Konter.« Die Prinzipien und Handlungsregeln eines egalitären Ethos lassen sich ebenfalls als eine rationale, auf Institutionen bezogene Strategie verstehen. Es sind Handlungsweisen, die die institutionellen Regeln der Grundstruktur weder gebieten noch verbieten. Die Bürger sollen dem egalitären Ethos zufolge in Lohnverhandlungen lediglich moderate Löhne fordern, sie sollen härter arbeiten, auch wenn sie im Gegenzug keine höheren Löhne erhalten und sie sollen umverteilende Steuern bejahen. Eine solche Verteilungsstruktur materieller Güter zu realisieren, ist der Zweck, der durch die Vorschriften des egalitären Ethos verfolgt wird. Zur Erreichung dieses Zwecks sollen sich die Bürger der Institutionen einer gerechten Grundstruktur bedienen. Wichtig ist nun, dass die Institutionen einer gerechten Grundstruktur auch dann aufrechterhalten werden können, wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht im Sinne eines egalitären Ethos handelt. So lassen sich die Institution des Steuersystems, des Vertragsrechts und des Wirtschaftssystems auch aufrechterhalten, ohne dass die Bürger im Sinne eines egalitären Ethos handeln. Das egalitäre Ethos ist also keine politische Tugend. Damit ist jedoch noch nicht ausgeschlossen, dass es aus anderen Gründen als Forderung sozialer Gerechtigkeit zu verstehen ist. Ist ein egalitäres Ethos stabil? Wir werden nun ausgehend von Rawls’ Ausführungen zur Stabilität einer gerechten Gesellschaft ein weiteres Argument gegen Cohens Forderung nach einem egalitären Ethos entwickeln. Es besagt in Kürze, dass es angesichts des üblichen moderaten Altruismus von Personen nicht aussichtsreich ist, ein egalitäres Ethos in der gesamten Gesellschaft zu verbreiten. Das Ideal der gerechten Gesellschaft muss Rawls zufolge die Bedingung der Stabilität erfüllen, damit es als überzeugendes Gerechtigkeitsideal fungieren kann. Die Stabilitätsbedingung lässt sich als eine Variante der Realisierbarkeitsbedingung verstehen. Um zu erwägen, ob eine Gesellschaft stabil ist, müssen wir Rawls zufolge zwei Fragen beantworten, von denen für unsere Zwecke nur die erste relevant ist: »[T]he first [question] is whether people who grow up under just institutions (as the political conception defines them) acquire a normally sufficient sense of justice so that they generally comply with those institutions.« (PL IV §2.1: 141)
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Eine Gesellschaft ist nur dann im relevanten Sinne stabil, wenn die Grundstruktur so gestaltet ist, dass Bürger sie normalerweise unterstützen, wenn sie in ihrem Rahmen aufgewachsen sind.58 Für die Stabilität einer Gesellschaft reicht es also nicht aus, dass die Bürger sich an die geltenden Regeln der Grundstruktur halten. Vielmehr müssen sie dies aus der Überzeugung heraus tun, dass die grundlegenden Institutionen hinreichend gerecht sind. Oder, wie Rawls es ausdrückt, die Bürger müssen einen Gerechtigkeitssinn (sense of justice) ausbilden. Dieser besteht in der Fähigkeit, eine Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, zu bejahen und durch diese motiviert zu handeln. Die Institutionen der Grundstruktur müssen also bewirken, dass die fortschreitenden Generationen der Bürger jeweils einen Gerechtigkeitssinn ausbilden, der zu den In stitutionen passt. Wer einen solchen Gerechtigkeitssinn ausgebildet hat, ist intrinsisch motiviert, im Sinne der Pflichten sozialer Gerechtigkeit zu handeln. So befolgen die Bürger einer dem Gerechtigkeitsideal entsprechenden Gesellschaft etwa geltende Gesetze nicht allein aus Furcht vor Strafe oder aus Gewohnheit, sondern weil sie sie für legitime Gesetze im Rahmen einer gerechten Grundstruktur halten. Nehmen wir an, die Gerechtigkeitsprinzipien umfassten die Forderung nach einem egalitären Ethos. Erfüllt ein solches Ethos die Stabilitätsbedingung? Lassen sich die Institutionen der Grundstruktur einer liberalen Gesellschaft so gestalten, dass Personen, die in ihrem Rahmen aufwachsen, intrinsisch motiviert sind, im Sinne eines egalitären Ethos zu handeln? Erinnern wir uns zunächst, dass der Einfluss von Institutionen wie dem Bildungssystem auf die Tugenden der Bürger nicht zu hoch eingeschätzt werden sollte. Denn in einer liberalen Gesellschaft beeinflusst nicht allein die Grundstruktur die Haltungen der Bürger. Auch Religionsgemeinschaften, Medienunternehmen und viele weitere Faktoren haben einen Einfluss auf das Ethos der Gesellschaft, auch wenn dieser Einfluss kaum kontrollierbar ist. Schwerer wiegt jedoch der Einwand, dass ein egalitäres Ethos m.E. motivational überfordernd und damit nicht stabil ist. Führen wir das kurz aus. Rawls zufolge ist jede Gerechtigkeitstheorie auf Annahmen über die Natur des Menschen angewiesen. Für uns sind dabei insbesondere Annahmen über die üblichen motivationalen Ressourcen von 58 Damit richtet sich Rawls gegen das sogenannte Böckenförde-Diktum. Es lautet nach einem vielzitierten Satz: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« (Böckenförde 1976: 60) Ernst Wolfgang Böckenförde behauptet in dieser These, dass ein liberaler Verfassungsstaat auf weitverbreitete politische Tugenden resp. ein bestimmtes Ethos angewiesen ist, dieses Ethos aber nicht durch die Institutionen der Grundstruktur etablieren oder aufrechterhalten kann. Es handelt sich bei dem Böckenförde-Diktum um eine empirische These, die Rawls schlicht für falsch hält.
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Menschen relevant. Diese Annahmen setzen den Forderungen sozialer Gerechtigkeit Grenzen, da sie mitbestimmen, welche Forderungen realisierbar sind. Nun ist Rawls vorsichtig, wenn es darum geht, Annahmen über die Natur des Menschen zu machen: »The difficulty is that beyond the lessons of historical experience and such bits of wisdom as not relying too much on scarce motives and abilities (say, altruism and high intelligence), there is not much to go on. History is full of surprises.« (PL II §8.2: 87)
Wie das Zitat jedoch verdeutlicht, sollte eine Gerechtigkeitstheorie nicht zu stark davon abhängig sein, dass Menschen in hohem Maße altruistisch sind. Genau das ist aber bei der Forderung nach einem egalitären Ethos der Fall: Jeder Bürger soll gewohnheitsmäßig versuchen, die Verteilungsstruktur materieller Güter im Sinne eines egalitären Prinzips zu beeinflussen. Das verlangt stark altruistische Motive. Erinnern wir uns an das doctor-gardener-Beispiel, in dem Cohen veranschaulicht, welche Handlungen ein egalitäres Ethos fordert. Siglinde muss sich in dem Beispiel gegen ihre Präferenz, als Gärtnerin zu arbeiten, dazu entschließen, als Ärztin zu arbeiten. Ein Ethos, das gebietet, sich in dieser Weise für die Vorteile anderer aufzuopfern, ist insofern nicht mit der psychischen Natur des Menschen vereinbar, als dass es von stark altruistischen Motiven ausgeht. Diese sind vielleicht bei einzelnen Personen durchaus anzutreffen. Eine Gerechtigkeitstheorie sollte jedoch nicht davon ausgehen, dass solche Motive in großen Teilen der Bevölkerung verbreitet sind. M.E. scheitert die Forderung nach einem egalitären Ethos daher an der Stabilitätsbedingung. Erstens haben Institutionen wie das Bildungssystem in einer liberalen Gesellschaft wohl keinen übermäßig großen Einfluss auf das Ethos der Gesellschaft. Zweitens stellt gerade ein egalitäres Ethos so anspruchsvolle Forderungen, dass es auch mit zurückhaltenden Annahmen über die psychische Natur des Menschen nicht vereinbar ist. Daher ist nicht davon auszugehen, dass Menschen, die innerhalb einer Grundstruktur aufwachsen, welche die Verbreitung eines egalitären Ethos fördert, normalerweise durch ein solches Ethos motiviert werden. Das ist auch dann nicht der Fall, wenn wir davon ausgehen, dass durch historische Zufälle ein egalitäres Ethos weite Verbreitung gefunden hat. Denn ein solches Ethos muss generationenübergreifend aufrechterhalten werden können, wenn es im Lichte der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit gefordert werden soll. Selbst wenn es aber in einer Generation aufgrund historischer Zufälle weite Verbreitung gefunden hat, lässt es sich in den folgenden Generationen nicht kontrolliert und planmäßig aufrechterhalten. Ein egalitäres Ethos ist nicht im rawlsschen Sinne stabil. Es kann daher innerhalb einer Theorie sozialer Gerechtigkeit, die ein stabiles Gerechtigkeitsideal zu formulieren sucht, auch nicht gefordert werden.
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Ein liberales Ethos als Forderung sozialer Gerechtigkeit Unsere Diskussion hat ergeben, dass die gesellschaftsweite Verbreitung eines egalitären Ethos keine zulässige Forderung sozialer Gerechtigkeit ist. Ein weiteres Ergebnis ist jedoch, dass das Ethos einer Gesellschaft für deren Gerechtigkeit durchaus von Bedeutung ist. Mit Rawls gehen wir davon aus, dass die Institutionen der Grundstruktur Haltungen und Gewohnheiten fördern sollten, ohne die faire soziale Kooperation nicht zustande kommt. Eine weite Verbreitung dieser Haltungen und Gewohnheiten lässt sich als liberales Ethos bezeichnen. Da die Verbreitung eines solchen Ethos eine Forderung an die Institutionen der Grundstruktur darstellt, liegt es nahe, diese Forderung als einen weiteren Grundsatz sozialer Gerechtigkeit anzusehen. Rawls belässt es dagegen bekanntlich bei den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen. Er geht nämlich davon aus, dass die Grundstruktur, indem sie den beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen entsprechend gestaltet ist, die politischen Tugenden bereits in ausreichendem Maße fördert: »The two principles foster these [political] virtues, first, by removing from the political agenda the most divisive issues, pervasive uncertainty about which must undermine the basis of social cooperation, and second, by specifying a reasonably clear basis of free public reason. Those principles further encourage the political virtues when, through the publicity condition, they incorporate the ideal of citizens as free and equal persons into public life by way of the shared recognition of the principles of justice and their realization in the basic structure.« (JF §33.3: 116f.)
Rawls’ Vermutung ist m.E. zu optimistisch. Auch bei weitgehender Einigkeit über abstrakte Gerechtigkeitsgrundsätze können die Bürger politischer Tugenden wie z.B. der Vernünftigkeit entbehren. Daher halte ich es für systematisch sinnvoll, die Forderung nach der Verbreitung politischer Tugenden resp. nach einem liberalen Ethos explizit als Gerechtigkeitsgrundsatz zu formulieren.59 Das Ethos der Ärzte Wir haben nun erörtert, welche Rolle das Ethos der Gesellschaft resp. ein gesellschaftsweit verbreitetes Ethos in einer Theorie sozialer Gerechtigkeit spielen sollte. Ist aber für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft 59 Joshua Cohen vertritt in Cohen 2001 die gegenüber der rawlsschen Auffassung schwächere Position, dass vier Fälle intuitiv verwerflicher Ethe in einer dem rawlsschen Ideal entsprechenden Gesellschaft voraussichtlich nicht auftreten. Das sei relevant, weil ansonsten das Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) gestört sei. Cohen geht nicht davon aus, dass ein der Aufrechterhaltung fairer Kooperation förderliches Ethos von den Institutionen der Grundstruktur aktiv verbreitet werden sollte.
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womöglich auch ein Ethos relevant, das nicht gesellschaftsweit verbreitet ist? Ein solches Ethos lässt sich sicherlich mithilfe der Institutionen der Grundstruktur, jedoch wohl auch mithilfe privater Vereinigungen beeinflussen. Man denke hier z.B. an Religionsgemeinschaften oder Gewerkschaften. Nun bewerten die rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze, wie gesellschaftsweite Güterverteilungen durch die Grundstruktur beeinflusst werden. Doch es fragt sich, ob auch mittels eines nicht gesellschaftsweit verbreiteten Ethos solche Güterverteilungen planvoll und kontrolliert beeinflusst werden können. Die mögliche Forderung nach einem nicht gesellschaftsweit verbreiteten Ethos ist für die Auffassungen von Gegenstand und Pflichten sozialer Gerechtigkeit relevant. Wenn das Ideal der gerechten Gesellschaft ein solches Ethos umfasst, dann ist der Gegenstand sozialer Gerechtigkeit nicht notwendigerweise allein die gesellschaftliche Grundstruktur. Und Einzelpersonen haben dann womöglich die Pflicht sozialer Gerechtigkeit, sich in bestimmten privaten Vereinigungen zu engagieren. Erörtern wir die Frage anhand einer suggestiven These: Eine Gesellschaft, in der unter den Ärzten das Ethos verbreitet ist, ihre medizinischen Entscheidungen am Wohl der Patienten zu orientieren, ist eine gerechtere Gesellschaft, als eine solche, in der ceteris paribus unter den Ärzten das Ethos herrscht, solche Entscheidungen nach ihrem pekuniären Interesse zu fällen. In der These wird lediglich ein Ethos unter den Ärzten gefordert, kein solches, das in der ganzen Gesellschaft Verbreitung findet. Die Zuschreibung eines Ethos an eine Berufsgruppe entspricht mithin der üblichen Verwendung des Ausdrucks »Ethos«. Für unsere Fragestellung ist jedoch entscheidend, dass private Vereinigungen ein solches Ethos wohl durchaus beeinflussen können. Beispiele sind hier Universitäten, Krankenhäuser oder auch Ärztevereinigungen. Wir wollen nun zunächst die Antwort eines »orthodoxen Rawlsianers« erwägen: Die Gerechtigkeitsgrundsätze bewerten die Verteilung von Grundgütern durch die Grundstruktur. Medizinische Leistungen sind der rawlsschen Theorie zufolge kein Grundgut. Die in dem Beispiel beschriebene Gesellschaft wäre vielleicht eine bessere Gesellschaft und Ärzte sollten sich auch am Wohl ihrer Patienten orientieren. Versteht man soziale Gerechtigkeit als eine Form der Verteilungsgerechtigkeit und setzt zudem die rawlssche Grundgüterliste voraus, so sind die beiden Gesellschaften in Bezug auf deren Gerechtigkeit jedoch nicht zu unterscheiden. Dass die Gesellschaft, in der Ärzte sich am Wohl der Patienten orientieren, tatsächlich besser ist, muss dabei nicht ausgeschlossen werden. Gerechtigkeit ist nicht der einzige Maßstab, nach dem man eine Gesellschaft bewerten kann. So ließen sich in Analogie zu unserer Eingangsthese weitere suggestive Thesen dieser Art konstruieren: 115
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Eine Gesellschaft, in der die Bürger gegeneinander Wohlwollen bezeigen, ist eine bessere Gesellschaft als eine solche, in der ceteris paribus Neid und Eifersucht herrschen; eine Gesellschaft, in der die Bürger einen guten Musikgeschmack haben, ist eine bessere als eine solche, in der sie ceteris paribus geschmacklose Musik konsumieren. In dem jeweils ersten Fall handelt es sich sicherlich um eine bessere Gesellschaft. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise, dass es sich auch um eine gerechtere Gesellschaft handelt. M.E. kann die »orthodoxe« Antwort dennoch nicht überzeugen. Ob die Verteilung medizinischer Leistungen in einer Gesellschaft deren Gerechtigkeit betrifft oder nicht, ist davon abhängig, ob medizinische Leistungen ein Grundgut sind oder nicht. Und es sprechen tatsächlich einige Gründe dafür, dass medizinische Leistungen ein Grundgut sind.60 Grundgüter sind Güter, von denen Personen normalerweise ein gewisses Maß benötigen, um ihre moralischen Vermögen zu entwickeln und ein Leben lang auszuüben. Diesem Kriterium zufolge ließen sich medizinische Leistungen zu den Grundgütern zählen. Sie sind normalerweise nützlich, um Vorstellungen des Guten auszubilden und einen Gerechtigkeitssinn zu entwickeln. Medizinische Leistungen sind überdies ein Allzweckmittel, das für ein Leben in Übereinstimmung mit so gut wie jeder Vorstellung eines sinnvollen und erfüllten Lebens nützlich ist. Warum rechnet Rawls medizinische Leistungen dennoch nicht zu den Grundgütern? M.E. wird die Frage nach einer angemessenen Verteilung von medizinischen Leistungen im rawlsschen Ansatz aus Gründen der Vereinfachung nicht diskutiert: Rawls geht davon aus, dass die Bürger ein Leben lang voll kooperationsfähig sind. Alter, Krankheit und Unglücksfälle wie Unfälle treten daher nicht auf. Sieht man von dieser Vereinfachung ab, sind medizinische Leistungen dagegen als Grundgut zu betrachten. Jedoch müssen wir unsere suggestive Eingangsthese abändern, damit sie in Bezug auf das rawlssche Gerechtigkeitsideal überhaupt Anwendung finden kann. Denn es ist durchaus möglich, durch institutionelle Regelungen sicherzustellen, dass sich Ärzte in ihren medizinischen Entscheidungen am Wohl ihrer Patienten orientieren. Wir formulieren daher die These folgendermaßen um: Eine Gesellschaft, in der die Ärzte nicht nur in Übereinstimmung mit den institutionellen Regelungen handeln, die das Wohl der Patienten sichern sollen, sondern noch darüber hinaus das Wohl der Patienten zu fördern bemüht sind, ist ceteris paribus eine gerechtere als 60 Vgl. auch die rawlsschen Überlegungen dazu in PL VI §5.3: 244–246 und in JF §51.6: 173–175.
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eine solche, in der die Ärzte sich lediglich den institutionellen Regelungen fügen. Wir müssen zudem annehmen, dass die Ärzte in einer dem Gerechtigkeitsideal entsprechenden Gesellschaft den institutionellen Regeln nicht allein aus Furcht vor Strafe folgen, sondern weil sie die Regeln für richtig halten. Da es sich bei den Regeln um Teile des Gesundheitssystems handelt, das insgesamt ex hypothesi den Gerechtigkeitsgrundsatz erfüllt, der die Verteilung medizinischer Güter regelt, handelt es sich um Regeln, welche die Ärzte aus intrinsischer Motivation heraus befolgen. Es handelt sich um Verpflichtungen im rawlsschen Sinne, da die Ärzte sich den Regelungen durch einen freiwilligen Beitrittsakt unterworfen haben. Das Ethos der Ärzte soll nun unter anderem in Handlungsregeln bestehen, die vorschreiben, dass Ärzte sich über die institutionellen Vorschriften hinaus für das Wohl ihrer Patienten einsetzen. Dieses Engagement mag etwa darin bestehen, dass sie sich über vertragliche Arbeitszeiten hinaus bemühen, die angemessene Behandlungsweise für einen Patienten zu finden. Ein solches Ethos ist in einer dem rawlsschen Ideal entsprechenden Gesellschaft erlaubt. Ist es im Lichte sozialer Gerechtigkeit auch geboten? In letzterem Falle wären nicht allein die Institutionen der Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit anzusehen, sondern auch private Vereinigungen, mit deren Hilfe sich das Ethos der Ärzte beeinflussen lässt. Es folgen nun zwei Argumente gegen das Gebotensein des Ärzteethos. Erstens: Sowohl ein Arzt, der sich den Handlungsregeln des Ärzteethos gemäß verhält, als auch ein solcher, der sich allein den gerechten institutionellen Vorgaben fügt, hat eine vernünftige Konzeption des Guten. Das ergibt sich aus den Kriterien, denen eine Konzeption des Guten genügen muss, um Rawls zufolge als vernünftig zu gelten.61 Es ist nicht 61 Vgl. dazu PL II §3.1: 58–60. Zusammengefasst: Eine vernünftige umfassende Lehre darf erstens nicht gegen allgemein anerkannte Fakten verstoßen und muss weitgehend konsistent sein; sie bezieht sich zweitens auf anerkannte Werte und bringt diese in eine Ordnung. Diese Ordnung besteht in Vorrangregeln und Anwendungsregeln. Es handelt sich zumeist nicht um eine vollständige Ordnung aller Werte. Schließlich sind umfassende Lehren drittens nur dann vernünftig, wenn sie die Bürden des Urteilens anerkennen. Die Anerkennung der Bürden des Urteilens schließt die Bereitschaft ein, von der eigenen Lehre abweichende vernünftige umfassende Lehren ebenfalls als vernünftig anzuerkennen. Das impliziert wiederum, nicht zu versuchen, die eigene Lehre mithilfe von Zwangsmaßnahmen allgemein durchzusetzen. Charles Larmore weist auf eine andere Weise hin, auf die Rawls die Vernünftigkeit umfassender Lehren charakterisiert: Vernünftigkeit bestehe darin, faire Kooperationsregeln zu entwickeln und anzuerkennen, auch wenn diese mit gelegentlichen Nachteilen für die beteiligten Personen einhergehen.
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unvernünftig, neben dem Arztberuf andere für wertvoll erachtete Ziele zu verfolgen und dem Arztberuf lediglich in der Weise nachzugehen, wie es die Regeln einer gerechten Grundstruktur vorschreiben. Es ist also nicht aufgrund jeder vernünftigen Konzeption des Guten geboten, dem Ärzteethos entsprechend zu handeln. Da die Forderungen sozialer Gerechtigkeit Rawls zufolge mit jeder vernünftigen Konzeption des Guten vereinbar sein sollten, kann die Forderung nach einem Ärzteethos keine Forderung sozialer Gerechtigkeit sein. Zweitens: Die Berufsgruppe der Ärzte muss, wenn sie dem Ärzteethos gemäß handelt, im Vergleich mit allen anderen Berufsgruppen Nachteile auf sich nehmen. Die Ärzte müssen gemäß dem Ärzteethos im Gegensatz zu allen anderen Berufsgruppen über ihre institutionellen Verpflichtungen hinaus altruistisch handeln. Da das Wohl der Patienten ex hypothesi in einem gewissen Umfang bereits durch die institutionellen Regelungen gesichert ist, ist es nicht klar, wieso die Patienten über diese institutionellen Regelungen hinaus einen Anspruch darauf haben, dass für ihr Wohl gesorgt wird. Die Überzeugungskraft des Beispiels rührt daher, dass eine bessere medizinische Versorgung scheinbar für jeden Bürger vorteilhaft ist. Das ist jedoch nur auf den ersten Blick richtig, denn das geforderte Ärzteethos ist nicht für alle vorteilhaft, namentlich nicht für alle Ärzte. Bezüglich der vernünftigen Konzeption des Guten, die darin besteht, den Arztberuf pflichtschuldig auszuüben, ihn jedoch vorrangig als Mittel zum Broterwerb anzusehen, ist das Handeln gemäß dem Ärzteethos nachteilig. Aus der Perspektive sozialer Gerechtigkeit ist es zumindest fragwürdig, dass einige Ärzte gegenüber den Mitgliedern anderer Berufsgruppen benachteiligt werden sollten.62 Die Eingangsthese dieses Abschnitts wurde vor allem ihrer Suggestivität wegen gewählt. Für die Auseinandersetzung zwischen Rawls und Cohen spielen medizinische Leistungen als mögliches Grundgut keine Rolle. Die Forderung nach einem egalitären Ethos zielt ja auf eine egalitäre Verteilung materieller Güter, in der die Lage der Schlechtestgestellten gegenüber dem DP verbessert ist. Sollten wir daher mithilfe von Institutionen Dabei handelt es sich um einen Wert, den Rawls mit verschiedenen Ausdrücken umschrieben habe: »Fairness«, »Reziprozität« und wie Larmore hinzufügt »Respekt« (Larmore 2002: 391). Vernünftige umfassende Lehren zeichnen sich durch die Anerkennung dieses Wertes aus, vgl. Larmore 2002: 378. M.E. schließen sich die beiden Weisen, eine umfassende Lehre als vernünftig zu charakterisieren, nicht aus. Auch dem zweiten Kriterium zufolge handeln beide Ärzte vernünftig. 62 Hier ist zu beachten, dass nur Ärzte, die das Ärzteethos nicht teilen, einen Nachteil darin sehen würden, dem Ärzteethos gemäß zu handeln. Für unsere Argumentation stellt das kein Problem dar, denn die Forderung nach einem Ärzteethos sollte jeder vernünftigen Person gegenüber rechtfertigbar sein und nicht allein einer solchen, die von dem Ärzteethos beseelt ist.
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wie dem Bildungssystem oder aber mithilfe von privaten Vereinigungen ein egalitäres Ethos zumindest in einem Teil der Bevölkerung zu verbreiten suchen? M.E. ist auch das keineswegs geboten. Die beiden Argumente, die gegen die Verbreitung des Ärzteethos als Forderung sozialer Gerechtigkeit sprechen, lassen sich auch gegen die Forderung nach der partiellen Verbreitung eines egalitären Ethos vorbringen. Zum einen ist es nicht aufgrund jeder vernünftigen Konzeption des Guten geboten, gemäß den Handlungsregeln und -prinzipien eines egalitären Ethos zu handeln. Zum anderen ist das Handeln gemäß dem egalitären Ethos bezüglich einer Vielzahl von vernünftigen Konzeptionen des Guten nachteilig. Schließlich spricht noch ein weiteres Argument gegen die partielle Verbreitung eines egalitären Ethos als Forderung sozialer Gerechtigkeit: Ein egalitäres Ethos hat nur dann den gewünschten Effekt der Beförderung einer egalitären Verteilungsstruktur materieller Güter, wenn große Teile der Bevölkerung im Sinne dieses Ethos handeln. Das lässt sich anhand des Beispiels aus 2.1 erläutern, demzufolge die Bessergestelltensteuer reformiert werden soll. Wenn der überwiegende Teil der Bessergestellten auch im Falle einer Steuererhöhung genauso hart wie vor der Steuererhöhung arbeitet, dann kann die Lage der Schlechtestgestellten verbessert werden. Wenn jedoch nur ein gewisser Teil der Bessergestellten vom egalitären Ethos inspiriert weiterhin auf gleichem Niveau arbeitet, ein anderer Teil dagegen weniger hart arbeitet, dann lässt sich die Lage der Schlechtestgestellten auch nicht verbessern. Ein egalitäres Ethos nur in einem Teil der Bevölkerung zu verbreiten, hilft demnach den Schlechtestgestellten nicht und ist daher nicht geboten. Die Frage dieses Kapitels war, ob das Ethos einer Gesellschaft im Allgemeinen und ein egalitäres Ethos im Besonderen für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft relevant sind. Wir haben festgestellt, dass das Ethos einer Gesellschaft nur mithilfe der Institutionen der Grundstruktur planvoll und kontrolliert verändert werden kann. Daraus folgt, dass die Forderung nach einem liberalen Ethos mit der Konzeption von der Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit vereinbar ist. Die Forderung nach einem egalitären Ethos haben wir verworfen. Ein solches Ethos ist nicht als weithin geteilte politische Tugend zu verstehen und es ist nicht stabil, da es die motivationalen Ressourcen von normalen Menschen übersteigt. In einer Theorie, die ein stabiles Ideal zu formulieren sucht, kann ein egalitäres Ethos daher keine Forderung sozialer Gerechtigkeit sein. Schließlich wurde gezeigt, dass ein nicht gesellschaftsweit verbreitetes Ethos für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft nicht relevant ist.
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2.3 Eine Definition der Grundstruktur In diesem Kapitel wende ich mich den Einwänden Cohens zu, die eine Definition der Grundstruktur betreffen. Cohen übt Kritik an zwei Definitionen der Grundstruktur, die er Rawls zuschreibt. Die Grundstruktur besteht der ersten Definition zufolge in der legalen Zwangsstruktur (legally coercive structure), der zweiten Definition zufolge in denjenigen Institutionen, die tiefreichende und alles durchdringende Wirkungen (profound and pervasive influence) auf das Leben der Bürger haben. Diese Definitionen legen Cohen zufolge willkürlich fest, dass persönliche Entscheidungen der Bürger sowie das Ethos einer Gesellschaft nicht zum Gegenstand sozialer Gerechtigkeit gehören. Ich halte die Definitionen ebenfalls für mangelhaft. Gegen Cohens Kritik wende ich jedoch ein, dass Rawls nicht beansprucht, die Grundstruktur auf diese Weise zu definieren. Cohens Kritik weist jedoch auf einen weiteren, m.E. fundamentaleren Einwand hin. In der rawlsschen Theorie bleibt es nämlich unklar, welche Institutionen zur Grundstruktur gehören und welche nicht. Machen wir uns das kurz deutlich. Die Grundstruktur besteht Rawls zufolge in dem System der grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft. Beispiele für Institutionen der Grundstruktur sind »[t]he political constitution with an independent judiciary, the legally recognized forms of property, and the structure of the economy (for example, as a system of competitive markets with private property in the means of production), as well as the family in some form[.]« (JF §4.1: 10)
Institutionen sind Rawls zufolge Regelsysteme, die mit Ämtern verbundene Rechte und Pflichten zuweisen und über die im Idealfall öffentliches Wissen besteht. Demnach sind die Verfassung und das Steuersystem ebenso Institutionen wie die Vereinssatzung der Roten Funken oder die Regeln des Schachspiels. Offensichtlich sind jedoch nicht alle Institutionen gleichermaßen für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft relevant. Die Grundstruktur besteht Rawls zufolge allein aus den wichtigsten (major) resp. grundlegenden (main) Institutionen. Doch es bleibt offen, welche Institutionen besonders wichtig und grundlegend sind. Eine Adäquatheitsbedingung einer Definition der Grundstruktur besteht darin, ein Kriterium anzugeben, anhand dessen wir die zur Grundstruktur gehörigen Institutionen von den übrigen Institutionen unterscheiden können. Ich entwickle daher in diesem Kapitel eine Definition der Grundstruktur, die dieser Adäquatheitsbedingung genügt. Am Ende des Kapitels zeige ich dann, dass sich hinreichend deutlich zwischen den Institutionen der so verstandenen Grundstruktur und dem Ethos der Gesellschaft unterscheiden lässt. 120
EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
Die Kritik Cohens und der daran anschließende fundamentalere Einwand betreffen offensichtlich die Frage nach dem Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. Solange die Definition der Grundstruktur unklar ist, entbehren wir auch einer deutlichen Bestimmung des Gegenstands sozialer Gerechtigkeit. Wir benötigen eine hinreichend klare Definition der Grundstruktur, um zu prüfen, ob unsere Gesellschaft gerecht ist, und um entscheiden zu können, welche sozialen Gegebenheiten es im Lichte sozialer Gerechtigkeit gegebenenfalls zu verändern gilt. Ansonsten kann das Gerechtigkeitsideal seine Aufgabe nicht erfüllen, unsere Bemühungen um eine gerechtere Gesellschaft zu unterstützen. Cohens Einwände Cohen zufolge finden sich in der rawlsschen Theorie zwei Definitionen der Grundstruktur, die er jeweils einer Kritik unterzieht. Ich zeichne nun Cohens Kritik zunächst nach. Dann verschärfe ich seine Kritik und verwerfe beide Definitionsversuche. Unter einer Definition verstehe ich dabei die ausdrückliche Vereinbarung, einen Ausdruck auf bestimmte Weise zu gebrauchen. Eine Definition ist der hier vertretenen Auffassung zufolge nicht wahr oder falsch, sondern innerhalb einer Theorie relativ zu bestimmten Bedingungen adäquat oder nicht adäquat.63 Zunächst schreibt Cohen Rawls die These zu, die Grundstruktur bestehe in der legalen Zwangsstruktur:64 »Sometimes it appears […] that institutions belong to [the basic structure] only insofar as they are (legally) coercive.« (RJE: 132) »The basic structure, in this first understanding of it, is […] the broad coercive outline of society, which determines in a relatively fixed and general way what people may and must do[.]« (RJE: 133; Hervorhebung im Original)
Cohen sieht das zentrale Problem an diesem Verständnis der Grundstruktur darin, dass es nicht damit zusammenpasst, dass die Familie von Rawls als Beispiel für eine Institution der Grundstruktur angesehen wird. Denn 63 Eine Definition gibt dabei üblicherweise notwendige und zugleich hinreichende Bedingungen zum Gebrauch eines bestimmten Prädikats an. Einer verbreiteten Meinung zufolge muss eine Definition dagegen »wesentliche« Merkmale angeben, die sich von »bloß akzidentiellen« Merkmalen unterscheiden. Hier soll daher deutlich gemacht werden, dass »Definition« im Folgenden immer im Sinne von »Festlegung zum normierten Gebrauch eines Ausdrucks« verwendet wird. 64 Cohen benutzt überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – den Ausdruck »legally coercive structure«, den ich mit »legaler Zwangsstruktur« übersetze, vgl. RJE: 116, 144f.
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die Institution der Familie umfasst sowohl legale Aspekte als auch informelle Praktiken. Darauf könnte man nun freilich entgegnen, dass die Grundstruktur allein die legalen Aspekte der Familie umfasst. Ein solches Verständnis der Institution der Familie ist Cohen zufolge jedoch nicht angemessen, denn es sind die eher informellen Praktiken und persönlichen Entscheidungen, die das Leben der Bürger stark beeinflussen. Damit kommen wir zur zweiten Definition. Rawls zufolge hat die Grundstruktur »tiefreichende und alles durchdringende Wirkungen« (profound and pervasive influence) auf das Leben der Bürger.65 Cohen deutet diese Passage als einen weiteren, ergänzenden Definitionsversuch: Alle Strukturen, die tiefreichende Wirkungen auf das Leben der Bürger haben, gehören demnach zur Grundstruktur.66 Nun ist es offensichtlich falsch, dass allein die legale Zwangsstruktur tiefreichende Auswirkungen auf das Leben der Bürger hat. Vielmehr haben auch das nahe soziale Umfeld oder aber individuelle Handlungen anderer Personen Einfluss auf die Erwartungen, Präferenzen und den Charakter der Bürger. Die Familie kann hier wiederum als Beispiel dienen. Denn innerhalb einer Familie sind die Umgangsformen zu einem großen Teil durch Gewohnheiten und Haltungen im Sinne eines Ethos oder aber durch die individuellen Handlungen der Mitglieder geprägt. Cohen führt ein Beispiel für ein ungerechtes Ethos bei einer gleichzeitig gerechten legalen Zwangsstruktur an: »›[F]amily structure‹ includes the socially constructed expectations that lie on husband and wife. And such expectations are sexist and unjust if, for example, they direct the woman in a family where both spouses work outside the home to carry a greater burden of domestic tasks. […] [S]exist family structure is consistent with sex-neutral family law. Here, then, is a circumstance, outside the basic structure […] which profoundly affects people’s life chances[.]« (RJE: 137)67 65 JF (deutsch): 95. Vgl. JF §16.1: 55: »The second kind of reason for taking the basic structure as the primary subject derives from its profound and pervasive influence on the persons who live under its institutions.« Vgl. auch JF §4.2: 10: »One main feature of justice as fairness is that it takes the basic structure as the primary subject of political justice […]. It does so in part because the effects of the basic structure on citizens’ aims, aspirations, and character, as well as on their opportunities and their ability to take advantage of them, are pervasive and present from the beginning of life[.]« 66 Cohen spricht nicht ausdrücklich von einer Definition, jedoch vom »profundity-of-effect criterion for what justice governs« (RJE: 136). Demnach handelt es sich bei dem Kriterium des tiefreichenden Einflusses auf das Leben der Bürger um das Kriterium dafür, was (soziale) Gerechtigkeit regeln sollte. »Das, was Gerechtigkeit regeln sollte« ist jedoch lediglich ein anderer Ausdruck für den Gegenstand sozialer Gerechtigkeit. 67 Vgl. auch RJE: 135f: »[I]t is false that only the coercive structure causes profound effects, as the example of the family once again reminds us.«
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EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
Definiert man die Grundstruktur so, wie Cohen es Rawls hier zuschreibt, muss man entweder eine willkürliche Beschränkung auf legale Institutionen vornehmen oder aber Haltungen und Gewohnheiten wie die Familienstruktur (family structure) ebenfalls der Grundstruktur zurechnen. Es handelt sich um eine willkürliche Beschränkung, da die Haltungen und Gewohnheiten innerhalb der Familie scheinbar ebenfalls etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben. Entgegnung auf die Einwände Cohens Cohens Kritik ist insofern zuzustimmen, als dass Rawls Gründe dafür angeben muss, warum das Ethos der Gesellschaft nicht zum Gegenstand sozialer Gerechtigkeit gehört. Ansonsten ist die Beschränkung auf die Grundstruktur der Gesellschaft tatsächlich willkürlich. Denn es ist ja durchaus üblich, von ungerechten Sitten oder Konventionen zu sprechen, Ausdrücke, die ähnlich gebraucht werden, wie der terminus technicus »Ethos«. Wir haben jedoch bereits in 2.2 gezeigt, dass allein das Engagement für eine gerechte Grundstruktur ein aussichtsreiches Mittel darstellt, das Ethos einer Gesellschaft kontrolliert und planmäßig zu beeinflussen. Da das Ethos der Gesellschaft relevant für deren Gerechtigkeit ist, sollte die Grundstruktur auch im Hinblick darauf bewertet werden, welche Haltungen und Gewohnheiten sie befördert. Wir haben damit den Einwand Cohens bereits entschärft, die Beschränkung des Gegenstands sozialer Gerechtigkeit auf die grundlegenden Institutionen der Gesellschaft sei willkürlich. Cohens Kritik macht jedoch auf das Erfordernis einer Definition der Grundstruktur aufmerksam. Bisher haben wir den Ausdruck ja lediglich grob umschrieben. Von einer solchen Definition muss unter anderem gezeigt werden, dass weit verbreitete Haltungen und Gewohnheiten nicht unter sie fallen. Wir müssen m.a.W. aufzeigen, dass eine hinreichend stabile Unterscheidung zwischen den grundlegenden Institutionen und dem Ethos einer Gesellschaft möglich ist. Darauf kommen wir am Ende des Kapitels zurück. Zunächst soll die Kritik Cohens an den beiden Definitionen jedoch bekräftigt werden, indem wir deren Vagheit als weiteren Mangel aufzeigen. Die Grundstruktur als legale Zwangsstruktur Betrachten wir also die erste Definition. Dieser zufolge besteht die Grundstruktur in der legalen Zwangsstruktur der Gesellschaft. Das Problem dieser Definition liegt m.E. in ihrer Unklarheit. Das wird deutlich, wenn wir uns fragen, welche Institutionen unter den Begriff der legalen 123
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Zwangsstruktur fallen und damit zur Grundstruktur gehören und welche nicht. Cohen macht ebenfalls auf die Problematik aufmerksam, dass wir einer Definition der Grundstruktur bedürfen, um relevante von irrelevanten Institutionen unterscheiden zu können, wenn er sagt: »[I]t is seriously unclear which institutions are supposed to qualify as part of the basic structure.« (RJE: 132)68
Versuchen wir also, die Redeweise von der legalen Zwangsstruktur zu präzisieren. Eine erste Möglichkeit der Präzisierung besteht darin, unter der legalen Zwangsstruktur die Gesamtheit aller zwangsbewehrten Gesetze in einer Gesellschaft zu verstehen.69 Das trifft jedoch nicht den rawlsschen Begriff der Grundstruktur, denn nicht das System aller zwangsbewehrten Gesetze soll mithilfe der Gerechtigkeitsgrundsätze bewertet werden, sondern lediglich Institutionen wie die Verfassung, das Wirtschaftssystem und die Familie. Weiterhin passt ein auf diese Weise bestimmter Begriff der Grundstruktur nicht zu den Forderungen der Gerechtigkeitsgrundsätze. Die Gerechtigkeitsgrundsätze stellen Forderungen hinsichtlich der Verteilungsstruktur von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern. Ein Großteil gesetzlicher Bestimmungen hat jedoch gar keinen Einfluss auf die Verteilungsstruktur der genannten Güter. Man denke nur an Bestimmungen zum Schutz seltener Vogelarten.70 Verstehen wir die legale Zwangsstruktur also als die Gesamtheit zwangsbewehrter rechtlicher Vorgaben, so ist der Begriff der Grundstruktur zu weit. Eine zweite Möglichkeit der Präzisierung besteht darin, allein in dem System der allgemeinsten zwangsbewehrten rechtlichen Forderungen die legale Zwangsstruktur auszumachen. Das wird auch durch den Ausdruck »Struktur« nahegelegt. Doch auch durch diese Präzisierung wird 68 Cohen hält jedoch die Definition der Grundstruktur als legale Zwangsstruktur für einen Versuch der Beseitigung dieser Unklarheit. 69 Diesem Verständnis scheint Scheffler zu folgen. Scheffler versucht die Definition der Grundstruktur als legale Zwangsstruktur zu verteidigen. Zum einen bedürfe die Durchsetzung von Regeln mithilfe von Zwang einer besonderen Rechtfertigung, zum anderen lassen sich zwangsbewehrte Regeln im Gegensatz zu eher informellen Regeln nicht durch individuelles Abweichen von deren Vorschriften ändern, vgl. Scheffler 2010: 154f. Im Gegensatz zu Scheffler und Cohen bin ich nicht der Auffassung, dass sich informelle Regeln kontrolliert dadurch verändern lassen, dass Einzelpersonen aufhören, ihnen entsprechend zu handeln, zumindest dann nicht, wenn es sich um weit verbreitete Regeln handelt. 70 Nun kann man freilich behaupten, selbst solche Maßnahmen hätten irgendeinen, wenn auch geringen Einfluss auf die Verteilungsstruktur, doch ist ein solcher Einfluss sicherlich nicht prognostizierbar. Da planvolles Handeln mehr oder weniger sicherer Prognosen bedarf, betreffen solche Regelungen die Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit der Grundstruktur nicht.
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kein adäquater Begriff der Grundstruktur gegeben. Das lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen. Die allgemeinsten Rechtssätze sind in Deutschland Forderungen des Grundgesetzes wie z.B.: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.«71
Forderungen wie diese sind allgemeiner als solche, bei einem bestimmten Vermögen einen bestimmten Prozentsatz jährlich abzuführen. Während das Grundgesetz von unbestimmten Pflichten zur Förderung des Gemeinwohls spricht, die im Falle des »Gebrauchs« von Eigentum zugeschrieben werden, wird in dem zweiten Beispiel eine konkretere Pflicht formuliert, die beim Besitz eines bestimmten Vermögens auferlegt wird. Die Forderung des Grundgesetzes wäre damit der Definition zufolge Teil der Grundstruktur, die konkretere Forderung des Steuergesetzes dagegen nicht. Doch die mit diesem Präzisierungsversuch zur Grundstruktur gehörigen rechtlichen Forderungen stimmen keineswegs mit den Beispielen von Rawls überein. Das Steuersystem, das sicherlich der Struktur der Wirtschaft (structure of the economy) und damit der Grundstruktur zugehört, ist ein konkreteres Gebilde von Rechtsregeln als ein relativ interpretationsoffener Artikel des Grundgesetzes. Im Extremfall mag die allgemeinste Rechtsregel, die in irgendeiner Form mit der Ausübung von Zwang verbunden ist, in Sätzen wie »Bürger haben Rechte und Pflichten« ausgedrückt werden. Das entspricht jedoch kaum der rawlsschen Verwendung des Ausdrucks »Grundstruktur«. Die Grundstruktur besteht also weder in den allgemeinsten zwangsbewehrten legalen Regeln noch in dem System sämtlicher zwangsbewehrter gesetzlicher Vorschriften. Es bleibt daher unklar, wie der Begriff der legalen Zwangsstruktur bestimmt werden soll. Die tiefreichenden Wirkungen der Grundstruktur Der zweiten von Cohen diskutierten Definition zufolge besteht die Grundstruktur in denjenigen Strukturen, die tiefreichende und alles durchdringende Wirkungen auf das Leben der Bürger haben. Noch deutlicher als im Falle des ersten Definitionsversuches fällt bei diesem zweiten Versuch die Interpretationsoffenheit auf. Auch wenn wir »Strukturen« als Institutionen verstehen, bleibt unklar, welche Institutionen der Definition zufolge der Grundstruktur zugehören und welche nicht. In welcher Hinsicht haben Institutionen einen starken Einfluss auf das Leben der Bürger? Die Parkordnung des Beethovenparks hat einen großen Einfluss auf das Leben von passionierten Spaziergängern, jedoch sicherlich nicht auf alle Bürger. Liegt das Kriterium dann darin, dass Institutionen 71 Art. 14 Abs. 2 GG.
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einen großen Einfluss auf das Leben aller Bürger haben müssen, um zur Grundstruktur zu gehören? Auch das hilft jedoch nicht weiter: Es mag Bürger geben, auf deren Leben Grundrechte wie das Recht der freien Meinungsäußerung, das sicherlich zur Grundstruktur gehört, keinen großen Einfluss haben. Sie haben weder das Verlangen, ihre Meinung unbescholten zu äußern, noch das Interesse, zumindest das Recht dazu zu haben. Es bleibt daher unklar, wie die zweite Definition zu verstehen ist. Nun beabsichtigt Rawls mit der Diskussion um die tiefreichenden und alles durchdringenden Wirkungen der Grundstruktur nicht, eine Definition der Grundstruktur zu geben. Vielmehr ist die tiefreichende Wirkung ein Grund dafür, die Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit aufzufassen. Gründe für die Wichtigkeit eines bestimmten Gegenstandes sind jedoch nicht zu verwechseln mit der Definition des Begriffs dieses Gegenstandes. So ist etwa die Definition von Kunstwerken, falls sich eine solche finden lässt, weitgehend unabhängig davon, aus welchen Gründen wir Kunstwerken einen Wert zuschreiben. So können wir Kunstwerke schätzen, weil sich mit ihnen der Zweck verfolgen lässt, unsere Sinne zu schärfen. Das bedeutet aber weder, dass alle Objekte, mithilfe derer wir diesen Zweck verfolgen können, Kunstwerke sind, noch, dass sich mithilfe aller Kunstwerke dieser Zweck verfolgen lässt. Rawls spricht ausdrücklich davon, dass die tiefreichenden und alles durchdringenden Wirkungen der Grundstruktur einen Grund dafür darstellen, die Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit anzusehen – und zwar eine von zwei »Arten« von Gründen (kinds of reason).72 Weiterhin charakterisiert Rawls die Grundstruktur in seinen Werken nicht als legale Zwangsstruktur. Cohen spricht zwar von einer »widespread interpretation of what Rawls intends by the ›basic structure‹«, doch lässt sich diese Interpretation kaum mit Rawls eigenen Bestimmungen des Ausdrucks stützen.73 Beide Definitionsversuche für die Grundstruktur entsprechen also weder der rawlsschen Intention noch sind sie sachlich adäquat. Wir entwickeln daher im weiteren Verlauf des Kapitels eine alternative Definition. Entwicklung einer Definition Im Lichte der praktischen Aufgabe der rawlsschen Theorie bedarf es einer hinreichend klaren Definition der Grundstruktur. Wir müssen mithilfe der Definition in der Lage sein anzugeben, welche Institutionen für die Gerechtigkeit der Gesellschaft relevant sind und welche nicht. Denn offensichtlich besteht die Grundstruktur nicht in sämtlichen Institutionen. 72 Vgl. die Überschrift von JF §16. 73 RJE: 133.
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Es ist daher Cohen als Verdienst anzurechnen, auf dieses Desiderat in der rawlsschen Theorie hingewiesen zu haben. Adäquatheitsbedingungen Bevor wir nun mit der Entwicklung unserer an Rawls angelehnten Definition der Grundstruktur beginnen, sollte vorher noch ein Zweifel ausgeräumt werden, den Rawls selbst an diesem Unternehmen äußert: »Note that our characterization of the basic structure does not provide a sharp definition, or criterion, from which we can tell what social arrangements, or aspects thereof, belong to it. Rather, we start with a loose characterization of what is initially a rough idea. […] [W]e must specify the idea more exactly as seems best after considering a variety of particular questions. With this done, we then check how the more definite characterization coheres with our considered convictions on due reflection.« (JF §4.3: 12)
Rawls zufolge benötigen wir also keine klare Definition der Grundstruktur, sondern es genügt zunächst eine lockere Charakterisierung (loose characterization), die schließlich zu einer bestimmteren Charakterisierung (more definite characterization) ausgearbeitet werden soll.74 Wir stimmen mit Rawls überein, dass sich keine Definition der Grundstruktur angeben lässt, bevor wir im Argumentationsverlauf die Gerechtigkeitsgrundsätze gewonnen haben.75 Unser Vorgehen liegt nämlich darin, die Grundstruktur mithilfe der in den Gerechtigkeitsgrundsätzen geforderten Verteilungen zu definieren. Dass auch die bestimmtere Charakterisierung nicht in einer Definition bestehe, begründet Rawls folgendermaßen: »The role of a political conception of justice […] is not to say exactly how these questions [regarding the definition of the basic structure] are to be settled, but to set out a framework of thought within which they can be approached. Were we to lay down a definition of the basic structure that draws sharp boundaries, not only would we go beyond what that rough idea could reasonably contain but we would also risk wrongly prejudging what more specific or future conditions may call for, thus making justice as fairness unable to adjust to different social circumstances.« (JF §4.3: 12) 74 Was mit einer lockeren und mit einer bestimmteren Charakterisierung gemeint ist, wird nicht näher erläutert. Aus dem angeführten Zitat geht jedoch davor, dass es sich dabei nicht um Ausdrücke handeln kann, die das Gleiche wie »Definition« bedeuten. 75 Das stellt keinen Zirkel dar, da sich die Gerechtigkeitsgrundsätze ohne eine Definition der Grundstruktur entwickeln lassen.
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Es bleibt unklar, wieso gerade einer politischen Gerechtigkeitstheorie nicht die Aufgabe der Definition ihres Gegenstandes zukommen sollte. Eine politische Konzeption ist durch drei Merkmale charakterisiert. Erstens gibt sie allein Grundsätze für die Grundstruktur an die Hand und nicht etwa Ideale des guten Lebens. Zweitens kann sie unabhängig von umfassenden Lehren des Guten entwickelt werden. Drittens stützt sie sich auf grundlegende Ideen resp. Werte unserer demokratischen Tradition.76 Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass Rawls behauptet, die Grundstruktur zu definieren, entspreche nicht der Aufgabe einer politischen Gerechtigkeitskonzeption. Eine politische Konzeption soll Gerechtigkeitsgrundsätze für die Grundstruktur entwickeln. Daher bedarf gerade eine politische Konzeption einer Angabe, welche Institutionen zur Grundstruktur gehören. Rawls fordert im zweiten Teil des angeführten Zitats, man müsse vermeiden, »die möglichen Erfordernisse spezifischerer oder künftiger Bedingungen irrig zu präjudizieren«.77 Es leuchtet ein, dass die Definition der Grundstruktur nicht allein auf die gegenwärtige Gesellschaft anwendbar sein sollte, sondern auch auf eine zukünftige. Es lässt sich jedoch nicht im Vorhinein ausschließen, dass keine Definition der Grundstruktur dieser Gefahr zu entgehen vermag. Vielmehr ist es sinnvoll, dafür eine Adäquatheitsbedingung einer Definition der Grundstruktur zu formulieren: Die Definition sollte nicht allein auf unsere gegenwärtige Gesellschaft, sondern auf verschiedene und so weit wie möglich auch zukünftige gesellschaftliche Zustände anwendbar sein. In der vorangegangenen Diskussion von Cohens Vorschlägen zur Definition der Grundstruktur haben wir zudem stillschweigend weitere Adäquatheitsbedingungen verwendet. Daraus ergeben sich vier Adäquatheitsbedingungen einer Definition der Grundstruktur: (1) Mithilfe der Definition können die von Rawls angegebenen Beispiele als Institutionen der Grundstruktur bestimmt werden. (2) Die Definition fügt sich kohärent in die rawlssche Theorie ein. (3) Mit der Definition lässt sich sowohl die Grundstruktur einer gerechten als auch einer ungerechten Gesellschaft bestimmen.78 (4) Die Definition ist auf verschiedene, so weit wie möglich auch zukünftige gesellschaftliche Verhältnisse anwendbar. 76 Die drei Merkmale einer politischen Konzeption der Gerechtigkeit finden sich in PL IX §1.1: 376. 77 JF (deutsch): 34. 78 Diese Adäquatheitsbedingung erweist sich im Lichte der Aufgabe der Gerechtigkeitstheorie als notwendig. Wenn die Definition lediglich eine gerechte Grundstruktur zu bestimmen hilft, können wir mit der Definition nicht diejenigen Institutionen bestimmen, die es zu reformieren gilt.
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Rawls’ Definition der Grundstruktur Es verwundert, dass Cohen nicht auf eine Passage wie die folgende eingeht, die einer Definition der Grundstruktur am nächsten kommt: »The basic structure is understood as the way in which the major social institutions fit together into one system, and how they assign fundamental rights and duties and shape the division of advantages that arises through social cooperation.« (PL VII §1: 258)
Das Problem an dieser Definition ist, wie schon bemerkt, dass unklar ist, was unter den wichtigsten resp. bedeutenden Institutionen (major institutions) zu verstehen ist. Was wichtig, am wichtigsten oder bedeutend ist, lässt sich ja in jedem Fall nur mithilfe eines Kriteriums bestimmen. Z.B. lässt sich nicht sagen, welches »an sich« das wichtigste philosophische Werk ist. Geben wir jedoch ein Kriterium an, etwa »am besten geeignet, um philosophisches Argumentieren zu lernen«, so lässt sich das gesuchte wichtigste Werk bestimmen.79 Womöglich lässt sich dieses Problem lösen, wenn wir eine weitere, ähnliche Charakterisierung der Grundstruktur heranziehen: »[T]he basic structure of society is the way in which the main political and social institutions of society fit together into one system of social cooperation[.]« (JF §4.1: 10; Hervorhebung JW)
Diese und vergleichbare Stellen legen nahe, die Grundstruktur bestehe gerade in denjenigen Institutionen, die zusammengenommen ein System sozialer Kooperation bilden.80 Eine Institution gehört m.a.W. genau dann zu den grundlegenden Institutionen (main institutions), wenn sie eine derjenigen Institutionen ist, in denen das System sozialer Kooperation besteht. Diese Lösung bietet sich insofern an, als dass Rawls die Idee der fairen sozialen Kooperation als die grundlegendste Idee seiner Theorie ansieht.81 Soziale Kooperation ist eine Art und Weise der 79 Die beispielhaft angeführten Kriterien wären freilich weiter zu spezifizieren, um als eindeutige Kennzeichnung zu dienen. 80 »[S]ociety’s basic structure—that is, its main political and social institutions and the way they hang together as one system of cooperation[.]« (JF §3.1: 8f.); »For us the primary subject of justice is the basic structure of society, or more exactly, the way in which the major social institutions distribute fundamental rights and duties and determine the division of advantages from social cooperation.« (TJ §2: 6); »The primary subject of the principles of social justice is the basic structure of society, the arrangement of major social institutions into one scheme of cooperation.« (TJ §10: 47) 81 Vgl. JF §2.1: 5: »The most fundamental idea in this conception of justice is the idea of society as a fair system of social cooperation over time from one generation to the next. We use this idea as the central organizing idea in trying to develop a political conception of justice for a democratic regime.«
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Koordinierung individueller Handlungen. Alle Bürger interagieren dabei in Übereinstimmung mit öffentlichen Regeln, die alle als vernünftig anerkennen und befolgen. Damit ist soziale Kooperation von einer Koordination individueller Handlungen zu unterscheiden, die hauptsächlich auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam oder Weisungsbefugnis und Weisungsgebundenheit beruht. Bei der vorgeschlagenen Definition ergibt sich nun auf den ersten Blick dasselbe Problem wie bei dem Versuch, die Grundstruktur als legale Zwangsstruktur zu definieren. Der Begriff der Grundstruktur ist, zieht man die Beispiele von Rawls heran, offensichtlich nicht mit sämtlichen Regeln der sozialen Kooperation gleichzusetzen. Denn auch Vorgaben zum Lärmschutz in Wohngebieten geben Regeln der sozialen Kooperation an. Dann stellt sich jedoch erneut die Frage nach einem Kriterium für die Eingrenzung der Definition auf die relevanten Institutionen. Die Definition bleibt auch dann erläuterungsbedürftig, wenn wir sie dahingehend erweitern, dass allein die für soziale Kooperation wichtigsten oder basalen Institutionen zur Grundstruktur gehören. Denn es ist nicht klar, worin das Kriterium für die wichtigsten Institutionen in Bezug auf soziale Kooperation liegt. Überdies schließt Rawls freilich nicht aus, dass auch in einer gerechten Gesellschaft die Koordination von Zusammenarbeit bisweilen nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam funktionieren sollte. Eine vorläufige Definition Im Folgenden wird die Grundstruktur zu bestimmen versucht, ohne ausdrücklich auf die Idee sozialer Kooperation Bezug zu nehmen.82 Zunächst definieren wir den Begriff der Grundstruktur wie folgt: Eine Institution gehört zur Grundstruktur, wenn sie einen Einfluss auf die Verteilung von Grundrechten und Freiheiten, von Chancen sowie von Einkommen und Vermögen hat.83 82 Die Idee sozialer Kooperation ist dennoch implizit in der Definition enthalten. Denn die Grundstruktur besteht in Institutionen und institutionelle Regeln lassen sich als Regeln sozialer Kooperation charakterisieren. 83 Miriam Ronzoni verfolgt – eher implizit – eine ähnliche Strategie: »[P]rinciples of distributive justice apply to the basic structure […] in that they require the establishment of those institutions which will bring about the social conditions under which the principles themselves can be said to be satisfied.« (Ronzoni 2008: 205); »In order to judge a basic structure, we need to look at the overall results it tends to produce.« (Ronzoni 2008: 216) Ronzoni sagt jedoch nicht ausdrücklich, dass die Grundstruktur da rüber definiert werden sollte, dass sie bestimmte Verteilungen hervorbringt.
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EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
In dieser vorläufigen Definition werden die in den Gerechtigkeitsgrundsätzen genannten Güter erwähnt. Wir rechnen Institutionen der Grundstruktur zu, indem wir deren Einfluss auf die Verteilung dieser Güter prüfen. Dass Institutionen Einfluss auf solche Güterverteilungen haben, mag zunächst ungewohnt klingen, leuchtet jedoch ein, wenn wir uns an den rawlsschen Institutionenbegriff erinnern. Institutionen sind öffentliche Regelsysteme, die Ämter und Positionen zuweisen. Institutionen haben einen Einfluss auf Güterverteilungen, indem sie die Art und Weise, wie die Bürger handeln dürfen und voraussichtlich handeln werden, beeinflussen. Institutionen beeinflussen damit die Verteilung bestimmter Güter, indem sie die Art und Weise sozialer Kooperation bestimmen. So hat etwa die Institution des Steuersystems einen Einfluss auf die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen, indem sie festlegt, wie hoch die verschiedenen Steuersätze sind. Im Folgenden werden wir im Einzelnen deutlich machen, inwiefern Institutionen einen Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Verteilung der in den Gerechtigkeitsgrundsätzen genannten Güter haben. Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz und der Begriff der Verursachung Aus darstellerischen Gründen wenden wir uns zunächst dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz zu, der die Verteilung von Chancen sowie von Einkommen und Vermögen regelt. Unsere vorläufige Definition lautet: Zur Grundstruktur gehören diejenigen Institutionen, welche die vom zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz geforderten Verteilungsstrukturen verursachen. Dabei verwenden wir bewusst kausales Vokabular: Die Institutionen der Grundstruktur verursachen verschiedene Verteilungsstrukturen. Im Folgenden skizzieren wir darum kurz, auf welche Weise wir den Begriff der Ursache verstehen. Dabei folgen wir weitgehend der Kausalitätskonzeption Georg Henrik von Wrights.84 Das hat seinen Grund auch darin, Außerdem spricht sie von »bring about« und »tend to produce«, was offenlässt, ob die Grundstruktur über ihren kausalen Einfluss oder anders definiert werden sollte. 84 Das stellt insofern ein Problem dar, als dass es sich um eine kontroverse Auffassung handelt. Es ist daher anzumerken, dass es für die weitere Argumentation ausreicht, Kausalität im Sinne kontrafaktischer Konditionale zu verstehen (vgl. Hüttemann 2013: 99). Im Zuge der Erläuterung des Begriffs der Kausalität stellt sich die Frage, wie solche kontrafaktischen Konditionale zu verifizieren sind, und hier bietet von Wright die m.E. beste Lösung an.
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dass sie im Bereich politischer Institutionen besonders gut passt, indem sie den Begriff der Kausalität mit dem Begriff der Handlung analysiert. Der Grundgedanke der Theorie von Wrights ist der Folgende: Wir können Kausalverhältnisse in Sätzen wie »p verursacht q« ausdrücken. Dabei bezeichnen p und q Typen von Ereignissen. Ein Beispiel für einen Ereignistyp ist das Aufgehen der Sonne. Dagegen stellt der Sonnenaufgang am Morgen des 22. Mai 1813 in Leipzig eine Konkretisierung oder einen Einzelfall des Ereignistyps des Sonnenaufgangs dar. Von Wright zufolge ist eine Kausalaussage »p verursacht q« gleichbedeutend mit der Konjunktion folgender Aussagen: (1) Immer wenn p zum Zeitpunkt tm eintritt, wird auch q zum Zeitpunkt tn eintreten.85 (2) Würde p zum Zeitpunkt tm eintreten, dann würde auch q zum Zeitpunkt tn eintreten. (3) Würde p zum Zeitpunkt tm nicht eintreten, dann würde auch q zum Zeitpunkt tn nicht eintreten. Das in (1) ausgedrückte Verhältnis kann man auch als Regularität bezeichnen. Aussagen wie (2) und (3) nennt von Wright kausale kontrafaktische Konditionale. Es stellt sich nun die Frage, auf welche Weise wir die Geltung einer Kausalaussage überprüfen können. Die Überprüfung der Geltung von (1) bereitet keine Schwierigkeiten. Wir können schlicht das Auftreten von p und q beobachten und prüfen, ob sie in der behaupteten Weise aufeinander folgen resp. gleichzeitig auftreten. Wenn wir daher zusätzlich angeben können, auf welche Weise wir die Geltung von (2) und (3) überprüfen können, haben wir ein Verfahren zur Überprüfung der Geltung von Kausalaussagen an der Hand. Eine naheliegende Möglichkeit besteht nun darin zu behaupten, die Geltung eines kausalen kontrafaktischen Konditionals könne ebenfalls mittels genauer Beobachtung überprüft werden. Durch Beobachtung können wir jedoch niemals ausschließen, dass es sich um eine bloße Regularität handelt. Dazu ein klassisches Beispiel: Jeden Morgen, wenn der Hahn kräht, geht die Sonne auf. Nehmen wir an, es gebe keine Ausnahme. In der Vergangenheit bestand immer dieses Verhältnis, und wir gehen davon aus, dass es in Zukunft unverändert weiter bestehen wird. Vgl. dazu Hüttenmann 2013: 100: »Das Problem ist […], dass der Begriff der kontrafaktischen Abhängigkeit mindestens so unklar und erläuterungsbedürftig ist wie der Begriff der Ursache oder der Kausalität. Das Hauptproblem besteht darin, Wahrheitsbedingungen für kontrafaktische Konditionale anzugeben.« Im Übrigen soll nicht ausgeschlossen werden, dass die nachfolgenden Ausführungen auch mit anderen Kausalitätstheorien vereinbar sind. 85 Dabei kann tm=tn sein, denn von Wright zufolge ist es nicht notwendig, dass das verursachte Ereignis dem verursachenden Ereignis zeitlich folgt.
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Um zu prüfen, ob es sich um eine Kausalbeziehung handelt, müssen wir das kontrafaktische Konditional testen, indem wir prüfen, ob die Sonne auch aufgegangen wäre, wenn der Hahn nicht gekräht hätte. Das können wir jedoch durch bloße Beobachtung niemals testen, denn ex hypothesi ist es ausnahmslos der Fall, dass, wenn der Hahn kräht, die Sonne aufgeht. Wenn die Regularität also strikt ist wie in dem angenommenen Fall, dann lässt sich durch Beobachtung niemals entscheiden, ob es sich um eine Kausalbeziehung oder eine Regularität handelt. Die einzige verbleibende Möglichkeit besteht nun von Wright zufolge darin, p in einer Situation vom Typ s, in der wir davon ausgehen, dass p normalerweise nicht der Fall gewesen wäre, durch handelnden Eingriff zum Zeitpunkt tm hervorzubringen und dann zu beobachten, ob q zum Zeitpunkt tn eintritt. Dabei ist p nicht seinerseits als Wirkung und die Handlung als Ursache von p zu verstehen. p ist vielmehr das Handlungsergebnis und steht nicht in einem kausalen, sondern in einem begrifflichen Zusammenhang mit der Handlung.86 Wir müssen nun davon ausgehen, dass q nicht ohnehin – also ohne die handelnde Hervorbringung von p – eingetreten wäre. Daher fordert von Wright, in einer typgleichen Situation s nicht durch handelnden Eingriff dafür zu sorgen, dass p der Fall ist, und wiederum zu beobachten, ob q eintritt oder nicht. Tritt q nicht ein, nachdem auch p faktisch nicht eingetreten ist, sind wir gerechtfertigt, von einer Kausalbeziehung zwischen p und q zu sprechen. Zur Überprüfung von Kausalbeziehungen sind also handelnde Eingriffe in den Verlauf der Natur und nicht lediglich Beobachtungen erforderlich. Dafür lässt sich über das Gesagte hinausgehend noch ein weiterer pragmatischer Grund angeben. So müssen wir zumeist stabile Randbedingungen handelnd herstellen, um zu kontrollieren, dass es sich bei unseren Experimenten um typgleiche Situationen handelt. Fassen wir die Kriterien zur Bestimmung einer Kausalbeziehung zusammen: (1) Wann immer p zum Zeitpunkt tm eintritt, wird auch q zum Zeitpunkt tn eintreten. Das lässt sich durch Beobachtung feststellen. (2) Wenn in einer Situation vom Typ s durch handelnden Eingriff p zum Zeitpunkt tm hervorgebracht wird, wird zum Zeitpunkt tn auch q eintreten.87 86 Vgl. Wright 1974: 49: »The agent is not ›cause of the cause,‹ but the cause p is the result of the agent’s action.« (Hervorhebung im Original) Vgl. auch Hartmann 1996: 77, dort findet sich – lediglich in anderer Terminologie – ebenfalls die Unterscheidung zwischen den kausalen Folgen und dem Ergebnis einer Handlung, das analytisch zur Handlungsbeschreibung gehört. 87 Vgl. Wright 1974: 44: »We change the situation to one when p obtains and observe what happens with regards to q. Suppose we find that q, which had been absent too, is there (»dives up«) on the next occasion.«
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(3) Wenn in einer Situation vom Typ s zum Zeitpunkt tm p weder durch handelnden Eingriff hervorgebracht wird, noch ohne unser Zutun auftritt, wird zum Zeitpunkt tn auch q nicht eintreten.88 Verdeutlichen wir uns das Gesagte anhand eines Beispiels: Wir haben wiederholt beobachtet, wie sich während eines Hagelsturms Dellen im Blech unseres Autos bilden, wenn Hagelkörner einer bestimmten Größe es treffen. Wir wollen nun wissen, ob zwischen dem Aufprallen des Hagelkorns und dem Entstehen der Delle eine Kausalbeziehung besteht. Nehmen wir an, wir beobachten, dass dies immer der Fall ist. Die erste Bedingung ist damit erfüllt. Um auszuschließen, dass es sich um eine bloße Regularität handelt, müssen wir nun das womöglich verursachende Ereignis handelnd herbeiführen. Das können wir tun, indem wir – schweren Herzens – weitere Hagelkörner gegen unser Auto werfen. Es bilden sich wiederum Dellen, womit auch die zweite Bedingung erfüllt ist. Schließlich beobachten wir, dass sich keine Dellen bilden, wenn wir das Auto in einer typgleichen Situation nicht mit Hagelkörnern bewerfen. Da damit auch die dritte Bedingung erfüllt ist, sind wir berechtigt, von einer Kausalbeziehung zu sprechen. Kausalbeziehungen werden also durch handelnden Eingriff in den Verlauf der Natur festgestellt. Freilich ist es nicht bei allen Kausalbeziehungen der Fall, dass p durch menschliches Handeln herbeigeführt wird oder werden kann. Man denke nur an das Aufgehen der Sonne. Im von wrightschen Ansatz stellt sich daher die Frage, wie das von Handlungen ausgehende Kausalmodell auf Kausalbeziehungen in der Natur übertragen werden kann. Diese Frage können wir jedoch hier übergehen, denn für unsere Zwecke sind allein Kausalbeziehungen relevant, bei denen die Ursache durch Handlungen hervorgebracht wird.89 Wir sind ja an Kausalbeziehungen zwischen Institutionen resp. Institutionensystemen als Ursache und den Verteilungsstrukturen verschiedener Güter als Wirkung interessiert. Dass Institutionen jedoch »menschengemacht« sind, wird kaum jemand bezweifeln. Das von wrightsche Modell formuliert primär Geltungsbedingungen für den Fall deterministischer Kausalbeziehungen: Immer wenn wir p handelnd hervorbringen, ist auch q der Fall. Uns interessieren die zur Grundstruktur gehörigen Institutionen als Ursache. Diese verursachen bspw. Einkommensstrukturen normalerweise lediglich in einem 88 Vgl. Wright 1974: 44f.: »In a new situation, of a similar generic character, when p is absent, we refrain from interfering and let p continue absent and watch what happens with regard to q. Suppose we find that q, which had been absent, continues to be absent.« 89 Damit wird der hier verwendete Kausalitätsbegriff für jeden akzeptierbar, der die von wrightsche Theorie zumindest für den Bereich von Handlungen für angemessen hält.
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probabilistischen Sinne. Verdeutlichen wir uns das anhand eines Beispiels: Eine Erhöhung des Einkommensteuersatzes bei Jahreseinkommen in bestimmter Höhe hat eine bestimmte Veränderung der langfristigen Verteilungsstruktur materieller Güter zur Folge. Nun kann vermutlich nicht gezeigt werden, dass das immer der Fall ist. Es handelt sich also nicht um eine deterministische Kausalbeziehung. Jedoch können Wirtschaftswissenschaftler angeben, welche wahrscheinliche Wirkung eine solche Einkommensteuerreform hat. Für unsere Zwecke sind solche probabilistischen Verursachungsbeziehungen völlig ausreichend. Das ist auch der Grund, warum wir gelegentlich von einer tendenziellen Einkommensstruktur sprechen.90 Wir sollten hinzufügen, dass die Redeweise von der Ursache insofern problematisch ist, als dass p nur dann q bewirkt, wenn verschiedene Randbedingungen r1–rn erfüllt sind. p anstelle von rn für die Ursache zu erklären, sollte pragmatisch begründet werden. In unserem Falle ist das offensichtlich. Soziale Gerechtigkeit fordert die langfristige Kontrolle gewisser Verteilungsstrukturen. Nur mithilfe von entsprechend eingerichteten Institutionen lässt sich diese Kontrolle ausüben. Randbedingungen, die hier ebenfalls eine Rolle spielen, können oder dürfen normalerweise nicht kontrolliert werden. Man denke an die Ausstattung eines Landes mit natürlichen Rohstoffen, aber auch an weitverbreitete Einstellungen und Gewohnheiten im Sinne eines Ethos. Es ist schon angeklungen, dass die Erforschung der institutionellen Verursachung von Einkommensstrukturen eines der Ziele der Wirtschaftswissenschaften darstellt. Um die institutionellen Ursachen von Verteilungsstrukturen in Bezug auf Einkommen und Vermögen festzustellen, müssen wir auf wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreifen. Wir müssen jedoch für die Definition der Grundstruktur nicht auf solche Erkenntnisse zurückgreifen und stützen uns damit nicht auf kontroverse Annahmen. D.h. wir setzen keine bestimmte Theorie über das Funktionieren der Wirtschaft voraus und machen die Definition der Grundstruktur damit auch nicht von einer womöglich umstrittenen 90 Pogge benutzt zwar nicht diese, jedoch ähnliche Formulierungen, vgl. Pogge 1989: 43: »Feasible alternative basic structures are to be assessed by reference to the distribution of social primary goods each of them tends to produce, regardless of the extent to which this distribution is established or engendered. (Obviously the effects of social institutions must be described in a rough, statistical way, involving general tendencies, probability distributions, and the like.)«; Pogge 1989: 47: »[Rawls’s] criterion of justice ranks basic structures on the basis of information about the overall pattern of social primary goods they tend to generate.«; Pogge 2000: 156: »Rawls holds that one design of economic institutions is more just than another if the distribution the former would tend to produce is ranked higher by his criterion of justice.« (Hervorhebungen JW)
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Theorie abhängig. Das ist aus Sicht der vierten Adäquatheitsbedingung erforderlich, der zufolge unser Kriterium hinreichend flexibel gegenüber zukünftigen Entwicklungen sein sollte. Der Besprechung des Kausalitätsbegriffs wurde hier vergleichsweise viel Platz eingeräumt, um möglichst deutlich zu machen, was damit gemeint ist, dass die Grundstruktur die Verteilungsstruktur bestimmter Güter verursacht. Ohne eine Erörterung, wie Verursachung hier zu verstehen ist, bliebe unsere Definition der Grundstruktur erläuterungsbedürftig. Das Prinzip der Chancengleichheit Wenden wir uns nun dem ersten Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes zu. Darin fordert Rawls faire Chancengleichheit. Unserer vorläufigen Definition zufolge sind also die oder einige Institutionen der Grundstruktur die Ursache dafür, dass Chancengleichheit oder aber Chancenungleichheit besteht. Rawls unterscheidet zwischen formaler und fairer Chancengleichheit. Formale Chancengleichheit fordert in unserer Interpretation, dass Ämter und Positionen nach relevanten Kriterien wie Qualifikation und Erfahrung vergeben werden. Institutionen sind die Ursache formaler Chancengleichheit. Denn es sind Gesetze wie etwa das Verbot der Diskriminierung bei der Stellenausschreibung und -vergabe, die bewirken, dass Ämter und Positionen gesamtgesellschaftlich nach relevanten Kriterien vergeben werden. Es handelt sich bei dem Verhältnis von solchen Gesetzen und der Vergabe und Ausschreibung von Ämtern um eine kausale und nicht um eine begriffliche Beziehung. Denn die Existenz solcher Gesetze bedeutet nicht, dass keine Diskriminierung geschieht, vielmehr bewirken die Gesetze das bestenfalls. Faire Chancengleichheit bedeutet unserer Interpretation zufolge, dass formale Chancengleichheit besteht und dass Personen mit der gleichen Motivation resp. Bereitschaft und den gleichen Talenten mit der gleichen Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Position erreichen. Technischer ausgedrückt besteht sie darin, dass die individuelle Verteilungsstruktur von Ämtern und Positionen der individuellen Verteilungsstruktur von Talent und Motivation entsprechen sollte. Rawls nennt zwei Beispiele für institutionelle Regeln, durch die faire Chancengleichheit befördert werden kann: Regeln, die verhindern, dass die Ungleichheit materieller Güter zu stark wird, und Regeln, die gleiche Bildungschancen für alle etablieren.91 91 Vgl. JF §13.2: 44: »A free market system must be set within a framework of political and legal institutions that adjust the longrun trend of economic forces so as to prevent excessive concentrations of property and wealth, especially those likely to lead to political domination. Society must also
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Auf die Verteilung materieller Güter kommen wir im nächsten Abschnitt zu sprechen. Unter gleichen Bildungschancen verstehe ich gleiche Qualifikationsmöglichkeiten für jeden Bürger. Die Gleichheit der Qualifikationsmöglichkeiten wird durch Institutionen des Bildungssystems wie Schulen, Fachhochschulen und Universitäten, jedoch ebenso durch die Institution der Familie bewirkt. Wichtig ist hierbei, dass es nicht um konkrete einzelne Familien geht, sondern um diejenigen Aspekte der Institution der Familie, welche in der gesamten Gesellschaft den Bildungsprozess von Personen beeinflussen. Relevant ist die Institution der Familie in Bezug auf den Grundsatz der Chancengleichheit, weil die vorschulische Erziehung ebenso wie die Unterstützung im weiteren Verlauf der Ausbildung – zumindest in unserer Kultur – für gewöhnlich durch Familienmitglieder vorgenommen wird. Es gehört also nicht jede Schule und auch nicht jede Familie zur Grundstruktur. Vielmehr sind lediglich diejenigen Institutionen Teil der Grundstruktur, die eine kontrollierbare Wirkung auf die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur der Chancen haben. Als Beispiel lassen sich hier Gesetze anführen, welche die Erreichbarkeit von Ausbildungsstätten festlegen oder Vorgaben zur Ausbildung von Bildungsbeauftragten machen, aber auch Vorschriften wie die Schulpflicht sowie die Regelungen zu deren Durchsetzung. Rawls macht nicht deutlich, dass es sich um eine kausale Beziehung zwischen Institutionen der Grundstruktur und fairer Chancengleichheit handelt. Sachlich ist das jedoch eindeutig. Die Existenz von passenden Institutionen des Bildungssystems bedeutet nicht, dass faire Chancengleichheit besteht, sie bewirkt das bestenfalls. Das Differenzprinzip Nun zum zweiten Teil des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes. Das DP besagt unserer Interpretation zufolge, dass die kollektive Verteilungsstruktur erwartbaren Lebenszeiteinkommens zum größtmöglichen Vorteil der Klasse der Schlechtestgestellten sein sollte. Welche Institutionen sind für die kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft ursächlich? Es fallen darunter unter anderem die Ausgestaltung des Eigentumsrechts, etwa in Hinblick auf das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln, das Wirtschaftssystem und die Steuergesetzgebung. So bewirkt z.B. eine progressive Einkommensteuer tendenziell eine andere Verteilung von Einkommen und Vermögen als ein einheitlicher Steuersatz. Und eine bestimmte Ausgestaltung des Erbrechts hat bspw. in probabilistischem Maße prognostizierbare establish, among other things, equal opportunities of education for all regardless of family income[.]«
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Auswirkungen darauf, welche Vermögensstruktur materieller Güter in einer Gesellschaft besteht. Doch, so könnte man einwenden, hat nicht so gut wie jedes Gesetz Auswirkungen auf die Verteilungsstruktur materieller Güter? Erhöht man etwa die Tabaksteuer um wenige Prozentpunkte, so dürfte das bestimmte Einkommensgruppen stärker treffen als andere. Es wäre jedoch zumindest überraschend, wenn solch ein milder steuerlicher Eingriff Auswirkungen auf die Gerechtigkeit der Grundstruktur hätte. Die von Rawls gegebenen Beispiele weisen ja darauf hin, dass die vom DP bewerteten Institutionen sehr viel »allgemeiner« sind.92 Die Tabaksteuer und ähnlich steuerliche Regeln sind aus wenigstens drei Gründen keine in stitutionellen Regeln der Grundstruktur. Erstens handelt es sich beim Tabakgenuss um eine freiwillige Konsumentscheidung, die unabhängig von dem Amt oder der Position ist, die eine Person besetzt. Für die Höhe des Einkommens einer Person ist es irrelevant, wofür die Person dieses Einkommen ausgibt. Es werden vielmehr nur solche institutionellen Maßnahmen durch die Vorgaben des DP reguliert, durch welche die mit Ämtern und Positionen verknüpften tendenziellen Einkommen verändert werden. Zweitens ist die Wirkung der erhöhten Tabaksteuer auf die Vermögensstruktur der Gesellschaft wohl kaum zu prognostizieren. Allgemeiner können wir sagen, dass nur solche Institutionen zur Grundstruktur zu rechnen sind, die eine mehr oder weniger sicher prognostizierbare Wirkung haben. Das wird bereits durch den von uns verwendeten Kausalitätsbegriff sichergestellt. p kann ja nur dann als Ursache von q bestimmt werden, wenn wir wissen, dass auf das handelnde Herbeiführen von p mit gewisser Wahrscheinlichkeit q zeitlich folgt. Kausales Wissen ist diesem Verständnis zufolge immer auch prognostisches Wissen. Drittens sind nur solche Institutionen der hier entwickelten Definition zufolge der Grundstruktur zuzurechnen, von denen wir sagen können, dass sie die kollektive Verteilungsstruktur materieller Güter langfristig beeinflussen. Das kann offensichtlich nicht von der Tabaksteuer oder ähnlich milden Eingriffen gesagt werden. Wir haben damit gezeigt, dass die Definition der Anforderung genügt, allein »grundlegende« Institutionen des Wirtschaftssystems als der 92 Auch Iris Marion Young lässt sich in diesem Zusammenhang vorwerfen, dass sie den Begriff der Grundstruktur stillschweigend in anderer Bedeutung benutzt als Rawls. So behauptet sie, eine Grundstruktur sei ungerecht, wenn sie Treppen und andere Hindernisse beinhalte, die körperlich behinderten Personen das Leben schwer machen. Ein kurzer Blick auf die von Rawls angeführten Beispiele genügt, um zu zeigen, dass die Art und Weise des Treppenbaus wohl kaum unter den rawlsschen Begriff der Grundstruktur fällt. Vgl. Young 2006: 95: »Having little or no use of one’s legs, to take an obvious example, constitutes a »handicap« only in a society whose basic structure includes frequent stairs, curbs, narrow doorways, or machines operated with feet.«
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Grundstruktur zugehörig auszuweisen. Außerdem haben wir gezeigt, dass sich mithilfe unserer Definition in Bezug auf den zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz die spärlichen Beispiele, die Rawls für Institutionen der Grundstruktur nennt, als solche bestimmen lassen. Kommen wir nun zu einem naheliegenden Einwand gegen unser Verständnis der Grundstruktur als Ursache der Verteilungsstruktur materieller Güter. Der Einwand besagt, die Grundstruktur könne nicht die Ursache oder zumindest nicht die wichtigste Ursache der Verteilungsstruktur von materiellen Gütern sein. Das lasse sich mithilfe eines Gegenbeispiels zeigen: Wenn etwa die Wahl des Studienfaches ansteht, kann eine Person damit rechnen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit als Mediziner ein höheres Einkommen erwirtschaften wird als im Beruf des Schriftstellers. Innerhalb eines Systems der freien Kooperation haben individuelle Entscheidungen offensichtlich massive Auswirkungen auf die Tatsache, über welches Einkommen eine Person verfügt. Freie Kooperation bedeutet grob, dass Einzelpersonen selbst entscheiden können, welchen kooperativen Unternehmen sie sich anschließen. Wir können den Einwand mithilfe unserer Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Verteilungsstruktur entkräften: Wir behaupten nicht, dass die Grundstruktur die individuelle Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen verursache, also die Tatsache, über welche materiellen Güter eine jede Person verfügt. Die Grundstruktur verursacht vielmehr allein die kollektive Verteilungsstruktur, d.h. das Verhältnis der verschiedenen Einkommensklassen zueinander. Es wird also nicht behauptet, die Grundstruktur sei die Ursache davon, welches Einkommen eine jede Person beziehe. Einer jeden Person ein bestimmtes Einkommen zukommen zu lassen, ist allein durch institutionelle Maßnahmen in einem System unfreier Kooperation möglich, wie es etwa Fichte vorschwebt. Dabei handelt es sich um ein Wirtschaftssystem, in dem sämtliche wirtschaftliche Transaktionen zentral gesteuert werden.93 In einem System freier Kooperation ist die Grundstruktur dagegen lediglich die Ursache dafür, welche Einkommensklassen in einer Gesellschaft bestehen. So bewirkt z.B. ein marktwirtschaftliches System eine andere Einkommensstruktur als ein feudales Wirtschaftssystem. Und ein progressiver Einkommensteuersatz bewirkt z.B. eine andere Einkommensstruktur als ein einheitlicher oder gar regressiver Einkommensteuersatz. Das sind empirische Thesen, die jedoch in dieser Allgemeinheit unstrittig sein dürften. In ihrer bisherigen Formulierung hilft uns die Definition der Grundstruktur nicht dabei, eine ungerechte Grundstruktur zu identifizieren, wie es die dritte Adäquatheitsbedingung fordert. Eine Grundstruktur ist ungerecht, wenn sie andere Verteilungen der infrage stehenden Güter 93 Auf Fichtes Modell werde ich in 3.2 näher eingehen.
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hervorbringt, als es die Gerechtigkeitsprinzipien fordern.94 Die bisherige Formulierung besagt jedoch lediglich, dass diejenigen Institutionen der Grundstruktur zuzurechnen sind, die eine gerechte Verteilung bewirken. Wir müssen daher die Definition dahingehend umformulieren, dass sich sowohl ungerechte wie auch gerechte Elemente der Grundstruktur bestimmen lassen. Außerdem können wir sie im Lichte unserer Ausführungen präzisieren: Zur Grundstruktur gehören diejenigen Institutionen, welche die individuelle Verteilungsstruktur von Chancen sowie die kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen verursachen. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz Wir gehen nun auf die Frage ein, wie die im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz formulierten Forderungen mit den Institutionen der Grundstruktur zusammenhängen. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz fordert eine Gleichverteilung in der individuellen Verteilungsstruktur von Grundrechten resp. Grundfreiheiten.95 Konzentrieren wir uns zunächst auf diese Anforderung, bevor wir das Prinzip des fairen Wertes der Grundfreiheiten diskutieren. Nun liegt es nahe, im Falle des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes genauso vorzugehen wie im Falle des zweiten, indem wir prüfen, welche Institutionen die Verteilungsstruktur der Grundrechte verursachen. Jedoch zeigt sich durch eine Erläuterung dessen, was es heißt, dass eine bestimmte Verteilungsstruktur von Grundrechten besteht, dass sich hier nicht von einer Verursachungsbeziehung zwischen Institutionen und der Verteilungsstruktur von Grundrechten sprechen lässt. Es handelt sich nämlich um eine begriffliche und keineswegs um eine kausale Beziehung. Dass eine bestimmte Verteilung von Grundrechten besteht, heißt nichts anderes, als dass eine bestimmte Verfassung, ein bestimmtes Rechtssystem und eine bestimmte Regierungsform bestehen. Ein bestimmtes Grundrecht, etwa das auf freie Meinungsäußerung zu haben, bedeutet, dass bestimmte Institutionen wie die Verfassung und das Rechtssystem auf bestimmte Weise gestaltet sind. Das Grundrecht ist nicht die Wirkung eines auf bestimmte Weise eingerichteten Institutionensystems, wie das im Falle der Einkommensstruktur der Fall ist. Das Grundrecht ist vielmehr identisch mit einem auf bestimmte Weise eingerichteten Institutionensystem. 94 Das hört sich recht »technisch« an, schließt jedoch auch »dramatische« Ungleichverteilungen von Einkommen und Vermögen ein. 95 Die Ausdrücke »Grundrechte«, »Grundfreiheiten« und »Freiheiten« verwende ich gleichbedeutend.
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Bevor wir nun erläutern, was es heißt, dass eine bestimmte individuelle Verteilungsstruktur von Grundrechten besteht, wollen wir klären, was es heißt, dass eine Person ein Grundrecht resp. eine Grundfreiheit hat. Hier gilt es, zwei Bedeutungen zu unterscheiden: Zum einen können wir damit aussagen, eine Person habe ein moralisches Grundrecht, zum anderen, eine Person habe ein juridisches Grundrecht. Betrachten wir mithilfe dieser Unterscheidung noch einmal den ersten Gerechtigkeitsgrundsatz: »Each person has the same indefeasible claim to a fully adequate scheme of equal basic liberties, which scheme is compatible with the same scheme of liberties for all[.]« (JF §13.1: 42)
Der Anspruch (claim), von dem hier die Rede ist, ist ein moralischer Anspruch, und zwar ein moralischer Anspruch auf ein System juridischer Grundfreiheiten.96 Was heißt es nun, dass eine Person ein juridisches Grundrecht hat resp. genießt?97 Wir schließen uns hier, abgesehen von wenigen Differenzierungen, dem rawlsschen Verständnis an. In TJ sagt Rawls, dass Einzelpersonen eine juridische Freiheit zu etwas haben, »when they are free from certain constraints either to do it or not to do it and when their doing it or not doing it is protected from interference by other persons.« (TJ §32: 177)98
Weiter unten fährt er fort: »A rather intricate complex of rights and duties characterizes any particular basic liberty. Not only must it be permissible for individuals to do or not to do something, but government and other persons must have a legal duty not to obstruct.« (TJ §32: 177f.)
Verdeutlichen wir uns die einzelnen Elemente dessen, was es heißt, eine Person habe ein bestimmtes juridisches Grundrecht.99 Bedingung (3) 96 Das widerspricht nicht dem in 1.1 Gesagten: Die juridischen Grundrechte, auf die jeder Bürger einen Anspruch hat, sind nur dann angemessen, wenn sie den in der Liste der wesentlichen Verfassungsinhalte angegebenen Protorechten genügen. 97 Diese Frage lässt sich auch anders formulieren: Was sind die Kriterien dafür, dass wir sagen können, das Recht einer Person existiere? 98 Rawls spricht an dieser Stelle zwar nicht ausdrücklich von juridischen Freiheiten, sachlich ist das jedoch eindeutig. 99 Die folgende Bestimmung eines juridischen Grundrechts entspricht weitgehend derjenigen Peter Kollers: »Freiheitsrechte räumen dem Inhaber gegenüber dem Adressaten die Freiheit ein, bestimmte Dinge nach eigener Wahl zu tun oder zu unterlassen; und dies setzt zweierlei voraus [besser: bedeutet zweierlei]: (1) Die Erlaubnis des Inhabers gegenüber den Adressaten, die betreffenden Dinge entweder zu tun oder zu unterlassen, und (2) ein Anspruchsrecht des Inhabers gegen die Adressaten, nicht durch Gewalt da ran gehindert zu werden. Und aus diesem Anspruchsrecht resultiert (a) die
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erwähnt Rawls nicht ausdrücklich, sie entspricht aber m.E. dem üblichen Verständnis. Eine Person hat bspw. das juridische Grundrecht auf freie Meinungsäußerung genau dann, (1) wenn keine institutionellen Zwangsmaßnahmen bestehen, die sie an der Äußerung ihrer Meinung hindern; (2) wenn alle anderen Bürger durch institutionelle Zwangsmaßnahmen wirksam davon abgeschreckt werden, die Person an der Äußerung ihrer Meinung zu hindern; (3) wenn es Institutionen gibt, an die sie sich wenden kann, falls sie an ihrer Meinungsäußerung durch institutionelle Zwangsmaßnahmen oder andere Bürger gehindert wird; (4) wenn öffentlich bekannt ist, dass es einer Person erlaubt ist, ihre Meinung zu äußern und wenn öffentlich bekannt ist, dass die Hinderung einer Person an der Äußerung ihrer Meinung verboten ist.100 Diese Bedingungen sind im Sinne eines Ideals zu verstehen. Wir können auch sagen, eine Person genieße ein Grundrecht »im vollen Sinne«, wenn (1)–(4) erfüllt sind. Ein Grundrecht zu haben, sollte daher auch graduell verstanden werden. Kleine Abweichungen von den Bedingungen bedeuten nicht, dass eine Person völlig entrechtet wäre.101 Die institutionellen Zwangsmaßnahmen, von denen in (1) die Rede ist, bestehen in den Ämtern resp. Rechten und Pflichten, die z.B. Polizisten, Richter, Staatsanwälte etc. ausüben. Die institutionellen Einrichtungen in (3) wären etwa Gerichte und Polizeistationen. Wir haben bisher davon gesprochen, was es heißt, dass eine Person eine Freiheit hat. In dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz wird jedoch eine Forderung hinsichtlich der individuellen Verteilungsstruktur von Freiheiten formuliert: Pflicht der Adressaten, den Rechtsinhaber nicht mit Gewalt an der Ausführung seiner Absichten zu hindern, und (b) die Erlaubnis des Inhabers, nötigenfalls bestimmte Maßnahmen zu ergreifen, um die Adressaten zur Einhaltung ihrer Pflicht zu zwingen.« (Koller 2007: 92f., Hervorhebungen im Original) Anspruchsrechte versteht Koller dabei im Sinne Wesley Newcomb Hohfelds, vgl. Hohfeld 2007 und Koller 2007: 91. Kollers Ausführungen sollen sowohl für juridische als auch für moralische Rechte gelten. Die unter (2b) genannte Erlaubnis haben wir nicht in unsere Definition juridischer Grundrechte aufgenommen. Es entspricht dem üblichen Verständnis juridischer Grundrechte, dass die Einhaltung der entsprechenden Pflichten normalerweise nur durch Institutionen erzwungen werden darf. Das wird in unserer Definition durch (2) und (3) ausgedrückt. 100 »Öffentlich bekannt« meint hier, dass öffentliches Wissen über die genannten Sachverhalte besteht. 101 Das ist pragmatisch sinnvoll, denn ansonsten würde kein Unterschied zwischen verschiedenen Ausmaßen der Entrechtung bestehen.
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EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
»Each person has the same indefeasible claim to a fully adequate scheme of equal basic liberties, which scheme is compatible with the same scheme of liberties for all[.]« (JF §13.1: 42; Hervorhebung JW)
Wir müssen also prüfen, welche Grundrechte jeder Bürger im Sinne der Bedingungen (1)-(4) genießt, um Aussagen über die individuelle Verteilungsstruktur von Grundrechten zu treffen. Wenn wir von einem funktionierenden Rechts- und Polizeisystem ausgehen, reicht es aus, die Verfassung daraufhin zu überprüfen, welche Grundrechte garantiert werden. Denn eine Verfassung gibt üblicherweise die obersten Rechtsregeln oder Kriterien an, denen ein Rechtssystem genügen muss. Wenn das deutsche Grundgesetz etwa das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aufführt, heißt das dem rawlsschen Verständnis zufolge, dass keine gesetzlichen Maßnahmen erlaubt sind, welche die freie Meinungsäußerung einschränken, dass Institutionen aufrechterhalten werden, die dazu dienen, die Bürger wirksam davon abzuschrecken, sich in der Äußerung ihrer Meinung zu behindern, und dass Institutionen aufrechterhalten werden, an die sich die Bürger wenden können, sollten sie sich in ihrem Grundrecht eingeschränkt sehen.102 Die Grundstruktur besteht in Hinsicht auf die Grundfreiheiten jedoch nicht allein aus den entsprechenden Verfassungsbestimmungen, sondern auch aus jenem »recht komplizierten Gefüge von Rechten und Pflichten«103 (rather intricate complex of rights and duties), von dem Rawls in Hinsicht auf die Charakterisierung eines juridischen Grundrechts spricht. Jegliche Institution, die im Sinne der oben formulierten Bedingungen zur individuellen Verteilungsstruktur der Grundrechte gehört, ist damit auch Teil der Grundstruktur. Das bedeutet, dass z.B. auch einzelne Polizeistationen und Gerichte Teil der Grundstruktur sind. Nehmen wir bspw. an, die Polizei in einem Bezirk ignoriere systematisch Ausschreitungen gegen eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe. Angehörige dieser Gruppe genießen dann unseren Kriterien zufolge nicht die gleichen Grundrechte wie andere Bürger. Damit ist die Gleichverteilung der Grundrechte und folglich auch die Gerechtigkeit der Gesellschaft beeinträchtigt. Wir haben erläutert, was es heißt, dass eine bestimmte Verteilungsstruktur von Freiheiten besteht. Davon ausgehend können wir eine am ersten Gerechtigkeitsgrundsatz orientierte Definition für die Grundstruktur formulieren. Mit Hilfe der Definition lassen sich sowohl gerechte als auch ungerechte Institutionen der Grundstruktur zurechnen: 102 Vgl. Art. 5 GG. Es gilt freilich die Bedingung, dass alle staatliche Gewaltausübung auf der Grundlage von Gesetzen stattfinden muss. Diese Bedingung gehört Rawls zufolge zu den wesentlichen Verfassungsinhalten, vgl. JF §13.3: 44. Der Einfachheit halber sehen wir hier von Ausnahmeregelungen und der Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten ab. 103 TJ (deutsch): 231.
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COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
Zur Grundstruktur gehören diejenigen Institutionen, in denen die individuelle Verteilungsstruktur der im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz geforderten juridischen Grundrechte besteht. Der faire Wert der politischen Grundrechte und Freiheiten Wir erweitern nun die Definition in Bezug auf die Forderung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes, den fairen Wert der politischen Freiheiten zu sichern. Dieser ist unserer Interpretation zufolge gesichert, wenn die Standardursachen beseitigt sind, welche die Nutzung der politischen Freiheiten verhindern. Dass die Standardursachen beseitigt sind, bedeutet wiederum nichts anderes, als dass eine bestimmte Verteilungsstruktur bestimmter Güter besteht, z.B. von Bildungschancen, von materiellen Gütern und von Freizeit. Das ist gemeint, wenn wir im Folgenden von Verteilungsstrukturen, in denen die Sicherung oder Verhinderung des Wertes der politischen Freiheiten besteht, sprechen. Die auf diese Weise erweiterte, am ersten Gerechtigkeitsgrundsatz orientierte Definition können wir folgendermaßen formulieren: Zur Grundstruktur gehören diejenigen Institutionen, in denen die Verteilungsstruktur der Grundrechte und Freiheiten besteht sowie diejenigen, welche die Verteilungsstrukturen derjenigen Güter verursachen, in denen die Sicherung oder Verhinderung des Wertes der politischen Freiheiten besteht.104 Da die Sicherung des Wertes der Grundrechte durch Maßnahmen zur Herstellung einer bestimmten Verteilungsstruktur von Bildung, Einkommen, Freizeit etc. geschieht, handelt es sich wie im Falle der am zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz orientierten Definition um eine kausale Beziehung zwischen Institutionen und den Verteilungsstrukturen der entsprechenden Güter. In unserer Gesellschaft sind es daher auch ähnliche Institutionen, mithilfe derer der Wert der politischen Freiheiten gesichert wird und die Forderungen des zweiten Gerechtigkeitsgrundsatzes erfüllt werden– z.B. das Bildungssystem, das Steuersystem sowie gesetzliche Vorschriften zu Arbeitszeit, Freizeit und Lohn.105 104 Diese etwas sperrige Formulierung soll den Unterschied von kausaler und begrifflicher Beziehung zwischen der Grundstruktur und den Verteilungsstrukturen der entsprechenden Güter deutlich machen. 105 Für Rawls handelt es sich bei der Sicherung des Wertes der politischen Freiheiten dennoch um eine vom zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz verschiedene Forderung. Das hat seinen Grund in den von Rawls formulierten Vorrangregeln. Der erste Gerechtigkeitsgrundsatz, einschließlich der Sicherung des Wertes der politischen Freiheiten, hat Vorrang vor dem Prinzip der
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EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
Eine allgemeine Definition der Grundstruktur Wie wir in 2.2 gesehen haben, bedarf es zur Aufrechterhaltung fairer sozialer Kooperation einer weiten Verbreitung sog. politischer Tugenden. Die Gesamtheit dieser politischen Tugenden haben wir als liberales Ethos bezeichnet. Eine Gesellschaft, in der ein liberales Ethos keine weite Verbreitung findet, kann keine gerechte Gesellschaft sein, da ohne ein solches Ethos faire soziale Kooperation – zumindest unter normalen Umständen – nicht möglich ist. Was folgt daraus für unsere Definition der Grundstruktur? Wir haben gesehen, dass sich ein liberales Ethos allein durch Institutionen langfristig gesellschaftsweit verbreiten lässt. Ein Beispiel dafür sind entsprechende Regelungen des Bildungssystems. Offensichtlich handelt es sich zwischen den Institutionen des Bildungssystems und der Verbreitung eines bestimmten Ethos um eine kausale Beziehung, nicht um eine begriffliche. Wir können wiederum eine vorläufige Definition der Grundstruktur formulieren: Zur Grundstruktur gehören diejenigen Institutionen, welche die gesellschaftsweite Verbreitung eines liberalen Ethos verursachen oder verhindern. Abschließend sei nun eine allgemeine Definition formuliert, die alle Institutionen der Grundstruktur zu bestimmen erlaubt, indem wir die bisherigen Definitionen kombinieren: Die Grundstruktur besteht in dem System derjenigen komplexen Institutionen, (1) in dem die individuelle Verteilungsstruktur der juridischen Grundrechte besteht; (2) das die Verteilungsstrukturen derjenigen Güter verursacht, in denen die Sicherung oder Verhinderung des Wertes der politischen Freiheiten bestehen; (3) das die individuelle Verteilungsstruktur von Chancen verursacht; (4) das die kollektive Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen verursacht und (5) das die gesellschaftsweite Verbreitung eines liberalen Ethos verursacht oder verhindert. Chancengleichheit, Letzteres hat wiederum Vorrang vor dem DP. Die Forderungen des vorrangigen Grundsatzes müssen erst vollständig erfüllt werden, bevor die nachgeordneten Forderungen erfüllt werden dürfen. Die Vorrangregeln werden erst relevant, wenn es um die Bewertung der Grundstruktur geht, für die Bestimmung der zur Grundstruktur gehörigen Institutionen spielen sie dagegen keine Rolle. Auf eine ausführlichere Erläuterung können wir daher hier verzichten.
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COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
Zusammenfassend können wir nun aufzeigen, dass die Definition der Grundstruktur die oben entwickelten Adäquatheitsbedingungen erfüllt: (1) Die von Rawls angegebenen Beispiele für Institutionen der Grundstruktur können als solche bestimmt werden. (2) Mithilfe der Definition lässt sich innerhalb der rawlsschen Theorie angeben, welche Institutionen zur Grundstruktur gehören. Die Definition fügt sich insofern kohärent in die Theorie ein. (3) Mithilfe der Definition lassen sich die Institutionen sowohl einer gerechten als auch einer ungerechten Grundstruktur als solche bestimmen. (4) Das Kriterium ist so allgemein formuliert, dass es flexibel hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen bleibt. Im Besonderen müssen wir nicht auf kontroverse und womöglich in Zukunft überholte Theorien der Wirtschaftswissenschaften zurückgreifen. Grundlegende Institutionen und das Ethos der Gesellschaft Abschließend möchte ich einem möglichen Einwand gegen die entwickelte Definition der Grundstruktur begegnen. Der Einwand besagt, der Definition zufolge sei das Ethos der Gesellschaft Teil der Grundstruktur. Das Ethos der Gesellschaft falle demnach unter den Begriff der Grundstruktur. Nun haben wir die Grundstruktur mit Rawls als System von Institutionen charakterisiert. Und Institutionen scheinen etwas anderes zu sein als ein Ethos. Der Einwand ist jedoch mit diesem Hinweis noch nicht entkräftet, denn bisher wurde nicht gezeigt, dass ein Ethos tatsächlich keine Institution ist. Gewisse Ähnlichkeiten zwischen Institutionen und einem Ethos liegen ja auf der Hand. Ein Ethos macht ebenso Vorschriften wie Institutionen, diese Vorschriften werden in beiden Fällen mithilfe von Sanktionen durchgesetzt und die Vorschriften sind in beiden Fällen in gewissem Sinne öffentlich. Im Folgenden zeige ich daher zunächst, dass sich ein Ethos tatsächlich nicht kategorial von einer Institution unterscheiden lässt. Eine graduelle Unterscheidung ist dagegen durchaus möglich. Um den Einwand zu entkräften, wird dann weiter dargelegt, dass es sich bei einem Ethos, wenn überhaupt, um eine rudimentäre Institution handelt. Dagegen sind die Institutionen der Grundstruktur durchweg komplexe Institutionen. Das haben wir bereits vorweggreifend in der Definition der Grundstruktur behauptet. Damit lassen sich die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft hinreichend deutlich von deren Ethos abgrenzen. Prüfen wir also zunächst, ob sich eine Institution von einem Ethos unterscheiden lässt. Dazu vier Anmerkungen. Erstens: Eine Institution ist ein Regelsystem, das unterschiedliche Ämter mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten zuweist. Ein Ethos muss 146
EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
dagegen keine unterschiedlichen Ämter definieren. Bei dem egalitären Ethos etwa fühlt sich jeder Bürger verpflichtet, den gleichen Prinzipien entsprechend zu handeln. Jedoch gibt es auch Ethe, die verschiedene Ämter zuweisen. Als Beispiel mag hier das Ethos der traditionellen Geschlechterrollen dienen. Die Ämterstruktur einer Institution ist jedoch üblicherweise komplexer als die eines Ethos. Die mit den Ämtern verbundenen Rechte und Pflichten sind darüber hinaus üblicherweise innerhalb von Institutionen klarer definiert als bei einem Ethos. Es lässt sich daher zwar ein Unterschied zwischen Ethos und Institution aufweisen, es handelt sich jedoch um einen graduellen Unterschied. Zweitens: Idealerweise sind die geforderten Handlungsweisen einer Institution Gegenstand öffentlichen Wissens. Jeder »Teilnehmer« der Institution weiß, was die Institution fordert und jeder weiß, dass jeder es weiß etc. Diese Bedingung ist im Falle eines Ethos lediglich ansatzweise erfüllt. Die Bürger habe negative Gefühle angesichts von Handlungsweisen, die den Prinzipien des jeweiligen Ethos widersprechen, und sie haben positive Gefühle bei Handlungsweisen, die den Prinzipien entsprechen. Sie müssen sich jedoch nicht notwendigerweise bewusst darüber sein, welche Handlungsweisen dem jeweiligen Ethos entsprechende Handlungsweisen sind. Sie müssen die Prinzipien des Ethos nicht einmal ausdrücklich formulieren können. Für das Bestehen eines Ethos, wie wir es im Anschluss an Cohen beschrieben haben, sind Haltungen, Gefühle und Gewohnheiten wichtiger als explizites Wissen. Man könnte von implizitem öffentlichen Wissen sprechen. Die Bürger handeln auf eine bestimmte Weise und in dem sicheren Gefühl, dass alle anderen ebenfalls so handeln. Es ist jedoch auch nicht einzusehen, wieso explizites Wissen zumindest über einige Handlungsregeln sowie Wissen darüber, wer die Handlungsregeln kennt, unmöglich Bestandteil eines Ethos sein können.106 Zudem könnte man einwenden, dass es wohl kaum ein 106 Ein egalitäres Ethos ist Williams zufolge kein öffentliches Regelsystem und damit auch keine Institution, da nicht klar ist, was ein solches Ethos von einer jeden Person fordert, vgl. Williams 1998: 238–242. So ist es schwierig zu ergründen, in welchem Beruf eine Person am meisten zu der von Cohen geforderten egalitären Verteilungsstruktur materieller Güter beiträgt. Weiterhin ist es unklar, wie groß der Spielraum ist, den Cohen einer jeden Einzelperson als persönliches Vorrecht (personal prerogative) zugesteht. Vgl. zu Letzterem ausführlich Estlund 1998. M.E. sind Williams und Estlunds Einwände zutreffend, jedoch für Cohen nicht verheerend. So könnte er zum einen die Forderung nach einem persönlichen Vorrecht aufgeben, zum anderen argumentieren, dass es doch zumindest einige klare Fälle gibt, bei denen die Wahl des einen Berufs aller Voraussicht nach eher wünschenswerte Effekte hat als die des anderen. Darüber hinaus behandeln wir hier nicht allein die Frage nach dem Unterschied zwischen einem egalitären Ethos und Institutionen, sondern zwischen einem jeden Ethos und einer jeden Institution.
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COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
Regelsystem gibt, in dem öffentliches Wissen im Sinne von bewusstem öffentlichen Wissen herrscht. Wir können daher lediglich einen graduellen Unterschied zwischen einer Institution und einem Ethos ausmachen: Im Falle eines Ethos haben die Personen eher implizites Wissen, im Falle einer Institution eher explizites Wissen. Drittens: Eine Institution ist keine bloße Ansammlung von Regeln, sondern ein Regelsystem. Die Regeln der Institution fügen sich zu einem kohärenten Ganzen (coherent scheme) zusammen. Im Falle einer Institution können wir hier an eine komplexe Ämterstruktur denken, die z.B. zu einer effizienten Arbeitsteilung führen soll. Im Falle eines Ethos können wir wieder an traditionelle Geschlechterrollen denken, aber auch an die »Ämter« resp. Rollen, die Mitglieder einer Familie übernehmen. Auch diese Rollen sind systematisch geordnet, insofern sie bspw. eine stabile Arbeitsteilung oder eine schnelle Entscheidungsfindung erleichtern.107 Dennoch handelt es sich im Falle eines Ethos typischerweise um ein weniger komplexes Regelsystem. Es lässt sich daher auch in Bezug auf dieses Merkmal ein gradueller Unterschied zwischen Ethos und Institution konstatieren. Viertens: Ein Ethos weist keine sekundären Regeln auf, eine Institution kann dagegen sekundäre Regeln aufweisen. Dabei handelt es sich um Regeln zur Durchsetzung, Änderung und Identifikation derjenigen Regeln, die zur Institution gehören. Ein Ethos weist keine klaren Durchsetzungsregeln auf. Das geht daraus hervor, dass Cohen von informellem Druck spricht, der mit einem Ethos einhergeht. Ein Ethos weist außerdem keine klaren Änderungsregeln auf. Zwar können wir kausal auf die Regeln eines Ethos einwirken, etwa durch bildungspolitische Maßnahmen. Wir können die Regeln eines Ethos jedoch nicht durch regelgeleitete Verfahren wie etwa eine Abstimmung ändern. Schließlich gibt es keine Regel, durch die wir die Regeln eines Ethos identifizieren können. Das bedeutet nicht, dass wir nicht herausfinden können, welche Regeln zu einem Ethos gehören. So können wir bspw. durch die Beobachtung der Handlungen anderer Personen herausfinden, welche Gewohnheiten sie haben. Jedoch existiert bei einem Ethos keine Regel, die autoritativ festlegt, welche Regeln dazugehören und welche nicht. Es ist gleichwohl keine Existenzbedingung einer jeden Institution, dass sie sekundäre Regeln umfasst. Daher schließt die Abwesenheit sekundärer Regeln im Falle eines Ethos nicht aus, dass ein solches eine Institution ist. Ein Ethos ist also von einer Institution lediglich graduell unterscheidbar. Der Einwand, die Definition der Grundstruktur schließe nicht aus, dass auch das Ethos der Gesellschaft darunter falle, ist damit bisher nicht 107 Freilich möchte ich nicht behaupten, dass eine solche Arbeitsteilung innerhalb der Familie nur durch die Zuweisung traditioneller Geschlechterrollen möglich ist.
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EINE DEFINITION DER GRUNDSTRUKTUR
ausgeräumt. In 1.2 haben wir zwischen rudimentären und komplexen Institutionen unterschieden. Eine Institution ist komplex, wenn sie die Existenzbedingungen für Institutionen weitgehend erfüllt und darüber hinaus sekundäre Regeln umfasst. Eine Institution ist dagegen rudimentär, wenn sie die Existenzbedingungen nur ansatzweise erfüllt und keine sekundären Regeln aufweist. Ein Ethos ist damit, wenn überhaupt, eine rudimentäre Institution. Bei den Institutionen der Grundstruktur handelt es sich dagegen durchweg um komplexe Institutionen. Das geht aus den mehrfach erwähnten Beispielen von Rawls hervor. So ist die Verfassung offensichtlich eine komplexe Institution. Wir können hinzufügen, dass die in der Verfassung garantierten Grundrechte im Idealfall durch Justiz- und Polizeisystem durchgesetzt werden, die ebenfalls komplexe Institutionen sind. Das Gleiche trifft auf die rechtlich anerkannten Formen des Eigentums und die Struktur der Wirtschaft zu. Denn in beiden Fällen handelt es sich um legale Institutionen. Legale Institutionen sind komplexe Institutionen, da sie Regeln der Durchsetzung, Veränderung und Identifikation umfassen. Schließlich ist die Familie eine komplexe Institution. Als Beispiel für Regeln der Institution Familie können hier rechtliche Pflichten von Eltern gegenüber ihren Kindern dienen. Wir können uns auch auf eine andere Weise klarmachen, dass die Institutionen der Grundstruktur komplexe Institutionen sein müssen. Die Institutionen der Grundstruktur lassen sich unter anderem dadurch charakterisieren, dass durch sie eine planvolle und kontrollierte Einflussnahme auf die Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern möglich ist. Wir haben außerdem erörtert, dass auch das Ethos der Gesellschaft allein durch die Institutionen der Grundstruktur planvoll und kontrolliert beeinflussbar ist. Um die genannten Güterverteilungen oder auch die Verbreitung eines bestimmten Ethos planvoll und kontrolliert zu beeinflussen, müssen die Institutionen der Grundstruktur planvoll und kontrolliert verändert werden. Eine planvolle und kontrollierte Änderung von Institutionen ist nur möglich, wenn die Institutionen sekundäre Regeln der Änderung ihrer Regeln umfassen. Die Institutionen der Grundstruktur sind also komplexe Institutionen, da sie sekundäre Regeln der Änderung ihrer Regeln umfassen. Anhand einer Auseinandersetzung mit Cohens Kritik haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass der Begriff der Grundstruktur bei Rawls unterbestimmt bleibt. Es fehlt insbesondere eine Definition, mithilfe derer wir entscheiden können, welche Institutionen zur Grundstruktur gehören und welche nicht. Das stellt einen erheblichen Mangel der Theorie dar. Denn wie sollen wir die Grundstruktur einer Gesellschaft kritisieren oder reformieren, wenn wir nicht hinreichend genau angeben können, welche Institutionen zu ihr gehören? Diesem Problem sind wir begegnet, indem wir eine Definition entwickelt haben. Dabei haben wir auch diejenigen Institutionen der Grundstruktur zugerechnet, welche 149
COHENS KRITIK DER RAWLSSCHEN THEORIE
die Verbreitung eines liberalen Ethos befördern oder verhindern. Damit weichen wir wohl von dem rawlsschen Verständnis der Grundstruktur ab. Im Lichte der Ergebnisse von 2.2 hat sich diese Erweiterung jedoch als notwendig erwiesen. Dort wurde gezeigt, dass ein liberales Ethos integraler Bestandteil einer gerechten Gesellschaft ist. Schließlich wurde festgelegt, dass die Institutionen der Grundstruktur komplexe Institutionen sind und sich damit hinreichend scharf von einem Ethos abgrenzen lassen.
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3. Der Wert einer gerechten Grundstruktur Im dritten Teil des Buches rekonstruiere ich Rawls’ Argumente dafür, die Grundstruktur als Gegenstand anzusehen. Die Redeweise von Gründen für die Grundstruktur als Gegenstand ist erläuterungsbedürftig. Meinem Verständnis zufolge geben solche Gründe an, wieso es erstrebenswert ist, gerade die Institutionen der Grundstruktur in Übereinstimmung mit Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu gestalten und zu bewerten. Alternativ könnten ja auch alle Institutionen oder aber andere Institutionen so eingerichtet werden. Im zweiten Teil des Buches haben sich allein Institutionen und nicht etwa auch das Ethos der Gesellschaft als der angemessene Gegenstand sozialer Gerechtigkeit erwiesen. Jetzt geht es darum, was das Besondere an den Institutionen der Grundstruktur ist und welcher Wert durch deren gerechte Gestaltung verwirklicht werden kann. Dabei kommt es hier nicht darauf an, inwiefern es erstrebenswert ist, die Grundstruktur gemäß den rawlsschen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit einzurichten. Vielmehr soll gezeigt werden, dass es wünschenswert ist, die Institutionen der Grundstruktur gemäß irgendwelchen substantiellen Gerechtigkeitsprinzipien zu gestalten, die Forderungen stellen hinsichtlich der Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern sowie der Verbreitung eines liberalen Ethos.1 Die Grundstruktur wurde als ein System derjenigen Institutionen definiert, die einen Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur dieser Güter und die Verbreitung eines liberalen Ethos haben. Nun wollen wir zeigen, dass gerade diese Institutionen in Übereinstimmung mit Prinzipien sozialer Gerechtigkeit eingerichtet werden sollten. Wir müssen also Gründe dafür angeben, dass es erstrebenswert ist, die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern sowie die Verbreitung eines liberalen Ethos planvoll und kontrolliert zu beeinflussen. Rawls nennt in seinen Werken zwei Argumente dafür, die Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit anzusehen. Das erste besagt, dass sich die Gesellschaft nur dann in der richtigen Weise entwickelt, wenn die Institutionen der Grundstruktur für Hintergrundgerechtigkeit (background justice) sorgen. Das zweite weist auf den besonderen Einfluss hin, den die Institutionen der Grundstruktur auf das Selbstbild der Bürger haben. Die Argumente finden sich in der VII. Vorlesung von PL und in den §§15. und 16. in JF. Beide Argumente bleiben bei Rawls vage und werden daher in den folgenden beiden Kapiteln rekonstruiert. 1 Die rawlsschen Prinzipien werden dennoch gelegentlich als Beispiel verwendet.
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DER WERT EINER GERECHTEN GRUNDSTRUKTUR
3.1 Der Einfluss der Grundstruktur auf Personen Rawls’ Argument Aus darstellerischen Gründen prüfe ich in diesem Kapitel zunächst das zweite Argument von Rawls für die Grundstruktur als Gegenstand.2 Demnach hat die Grundstruktur einen starken Einfluss auf das Selbstbild der Bürger.3 Die Grundstruktur sollte prinzipiengeleitet gestaltet werden, um diesen Einfluss zu kontrollieren. Im ersten Abschnitt wird Rawls’ Argument dargestellt und gezeigt, dass es in wesentlichen Teilen unvollständig bleibt. Im zweiten Abschnitt wird dann ein ähnliches Argument entwickelt, das diesem Einwand nicht ausgesetzt ist. Die Grundstruktur hat einen tiefreichenden und alles durchdringenden Einfluss (profound and pervasive influence) auf Einzelpersonen. Es gilt nun zu klären, inwiefern die Grundstruktur einen solchen Einfluss hat und wieso dieser Einfluss so bedeutsam ist, dass die Grundstruktur durch Gerechtigkeitsprinzipien reguliert werden sollte. Rawls sagt: »[E]veryone recognizes that the institutional form of society [i.e. its basic structure] affects its members and determines in large part the kind of persons they want to be as well as the kind of persons they are. The social structure also limits people’s ambitions and hopes in different ways; for they will with reason view themselves in part according to their position in it and take account of the means and opportunities they can realistically expect.« (PL VII §5: 269)4
Die Grundstruktur hat demnach einen Einfluss darauf, »welche Art von Person die Bürger sein wollen und welche Art von Person sie sind.«5 Abkürzend können wir sagen, dass die Grundstruktur einen Einfluss auf das Selbstbild der Bürger hat.6 Das Selbstbild einer Person hängt dem letzten Satz der zitierten Passage zufolge unter anderem davon ab, welche Position sie in der Struktur der Gesellschaft (social structure) einnimmt. 2 Das Argument findet sich in PL VII §5: 269–271 und in JF §16: 55–57. 3 Vgl. die Überschrift zu PL VII §5: 269: »How the Basic Structure Affects individuals«. Vgl. auch JF §16.1: 55: »The second kind of reason for taking the basic structure as the primary subject derives from its profound and pervasive influence on the persons who live under its institutions.« 4 In JF findet sich eine dem letzten Teil der Passage ähnliche Stelle: »[W]e form our ends and purposes in the light of the means and opportunities we can realistically expect.« (JF §16.2: 56) 5 PL (deutsch): 380. 6 In JF §16.1: 95–97 deutet Rawls noch eine weitere Argumentation für die Besonderheit der Grundstruktur an. Die Rolle der Grundstruktur ist es demnach, verschiedene Zufallsumstände, denen die Bürger ausgesetzt sein können, zu regulieren. Auf diese Argumentation gehe ich in 3.2 noch näher ein.
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DER EINFLUSS DER GRUNDSTRUKTUR AUF PERSONEN
Rawls macht nicht deutlich, wie das zu verstehen ist. Folgendes liegt aber nahe: Das Selbstbild einer Person ist unter anderem dadurch geprägt, welche Rollen sie einnimmt, z.B. die der Mutter, des Ehemanns oder des Nachbarn. Weiterhin ist es davon abhängig, welche berufliche Position sie einnimmt und mit welchen Privilegien diese einhergeht. Allgemeiner ist es davon bestimmt, an welchen gemeinschaftlichen Unternehmen sie in welcher Funktion mitwirkt, z.B. in Clubs, Vereinen oder Religionsgemeinschaften. Schließlich hat das Selbstbild von Personen etwas damit zu tun, welche Grundrechte und Freiheiten sie im Vergleich mit anderen Personen hat. Die Grundstruktur besteht unter anderem in der individuellen Verteilungsstruktur von Grundrechten. Das Selbstbild in dem zuletzt erwähnten Sinne ist damit von der Einrichtung der Grundstruktur abhängig. Die Grundstruktur hat außerdem einen Einfluss darauf, welche beruflichen Positionen es in einer Gesellschaft gibt, ob diese Positionen allen Bürgern offenstehen und welche Chancen sie haben, diese zu erreichen. Die Grundstruktur hat dagegen wohl nur einen indirekten Einfluss auf die Rollen, die Personen einnehmen. Sie beeinflusst außerdem nur indirekt, welche Ämter und Positionen Menschen in privaten Vereinigungen wie Religionsgemeinschaften oder Vereinen innehaben. Auf diese Aspekte haben dagegen offensichtlich private Vereinigungen einen Einfluss, indem sie etwa über Aufnahmebedingungen entscheiden oder Rollenerwartungen kolportieren. Nun ist Rawls zufolge der Einfluss der Grundstruktur auf die Positionen, die Personen in der Gesellschaft einnehmen, ein Grund dafür, die Grundstruktur prinzipiengeleitet zu regulieren. Doch private Vereinigungen haben ebenfalls einen Einfluss auf einige Aspekte des Selbstbilds von Personen, die mit ihren Positionen in der Gesellschaft zu tun haben. In der rawlsschen Argumentation bleibt daher offen, warum diese Aspekte keine Rolle spielen sollen, wenn es um die Gerechtigkeit der Gesellschaft geht. Weiterhin wird dem Zitat zufolge jeder »in Rechnung stellen, von welchen Mitteln und Chancen er realistischerweise ausgehen kann.«7 Damit ist m.E. gemeint, dass eine rationale Person normalerweise nur solche Pläne, Zwecke und Ziele verfolgt, deren Verwirklichung sie mit einiger Wahrscheinlichkeit erwarten kann. Eine rationale Person wird kaum damit anfangen, eine Villa mit drei Tennisplätzen zu bauen, wenn deren Kosten ihr erwartbares Einkommen und Vermögen bei weitem übersteigen. Sowohl langfristige Pläne wie das Erziehen von Kindern oder das Schreiben eines philosophischen Systems als auch kurz- und mittelfristige Ziele wie das Zubereiten von Spaghetti Bolognese oder eine Reise in die Toskana richten wir rationalerweise danach aus, über welche Mittel wir verfügen oder zu verfügen erwarten können. 7 PL (deutsch): 380.
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DER WERT EINER GERECHTEN GRUNDSTRUKTUR
Die Erwartung, über gewisse Mittel verfügen zu können, beeinflusst Rawls zufolge aber nicht allein, welche Ziele und Pläne wir rationalerweise verfolgen können, sondern darüber hinaus, welche Ziele und Pläne wir tatsächlich haben: »[A]n economic regime […] is not only an institutional scheme for satisfying existing desires and aspirations but a way of fashioning desires and aspirations in the future.« (PL VII §5: 269)8
Wie wir im letzten Kapitel ausgeführt haben, beeinflusst die Wirtschaftsordnung die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft. Die Wirtschaftsordnung hat dadurch dem Zitat zufolge auch Einfluss auf die Wünsche und Bestrebungen (desires and a spirations) der Bürger. Welche Wünsche wir überhaupt ausbilden, ist von den Mitteln abhängig, über die zu verfügen wir erwarten können. Demnach haben Menschen mit der Aussicht auf weniger Mittel normalerweise auch weniger aufwendige Wünsche, und es ist nicht allein der Fall, dass sie diese aufgrund fehlender Ressourcen rationalerweise nicht zu verwirklichen versuchen. Wir können die rawlssche Auffassung auch noch auf eine andere Art und Weise verdeutlichen. So lässt sich die zitierte Passage m.E. als Andeutung eines Arguments gegen präferenzutilitaristische Theorien lesen. Diese gehen grob davon aus, dass eine Wirtschaftsordnung genau dann gerecht ist, wenn sie bestmöglich die Präferenzen der Bürger erfüllt. Dabei unterstellen sie, dass die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft keine Auswirkung darauf haben, welche Präferenzen Personen ausbilden. Genau gegen diese Annahme wendet sich Rawls in der zitierten Passage. Welche Wünsche und Bestrebungen Menschen haben, ist unter anderem abhängig von den grundlegenden wirtschaftlichen Institutionen, in deren Rahmen sie leben. Wirtschaftsordnungen sind daher nicht oder zumindest nicht allein danach zu beurteilen, wie gut sie die Präferenzen ihrer Mitglieder erfüllen, da diese Präferenzen ihrerseits von der bestehenden Wirtschaftsordnung abhängen. Die Institutionen der Grundstruktur sind also von besonderer Bedeutung, da sie einen Einfluss darauf haben, welche Wünsche die Bürger mit Erfolgsaussicht verfolgen können. Sie haben weiterhin einen Einfluss darauf, welche Bestrebungen die Bürger überhaupt ausbilden. Wir können hinzufügen, dass beides zum Selbstbild von Personen gerechnet werden kann, auf das die Grundstruktur folglich einen starken Einfluss hat. Doch sind es wohl kaum allein die Institutionen der Grundstruktur, die einen solchen Einfluss haben. Denn auch Religionsgemeinschaften 8 In JF verwendet Rawls wiederum eine ähnliche Formulierung: »[T]he basic structure as a social and economic regime is not only an arrangement that satisfies given desires and aspirations but also an arrangement that arouses further desires and aspirations in the future.« (JF §16.2: 56)
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DER EINFLUSS DER GRUNDSTRUKTUR AUF PERSONEN
oder die Unterhaltungsindustrie haben offensichtlich einen Einfluss auf die Wünsche und Bestrebungen der Bürger. Rawls bleibt uns ein Argument dafür schuldig, warum allein der Einfluss der Grundstruktur, nicht aber der Einfluss anderer Institutionen, für die Gerechtigkeit der Gesellschaft relevant ist. Auch Talente und Fähigkeiten, ein weiterer Faktor dessen, was gewöhnlich das Selbstbild einer Person ausmacht, sind Rawls zufolge durch die Grundstruktur beeinflusst: »[W]e cannot view the talents and abilities of individuals as fixed natural gifts. To be sure, even as realized there is presumably a significant genetic component. […] Among the elements affecting the realization of natural capacities are social attitudes of encouragement and support and the institutions concerned with their training and use. Thus even a potential ability at any given time is not something unaffected by existing social forms and particular contingencies over the course of life up to that moment. So not only our final ends and hopes for ourselves but also our realized abilities and talents reflect, to a large degree, our personal history, opportunities, and social position. There is no way of knowing what we might have been had these things been different.« (PL VII §5: 269f.)9
Nicht allein unsere letzten Ziele und Hoffnungen (final ends and hopes) sind demnach von der Grundstruktur beeinflusst, sondern auch unsere Talente und Fähigkeiten (talents and abilities). Auch diese sind sicherlich Teil unserer »Identität« resp. unseres Selbstbilds und gehören damit zu unseren Vorstellungen über die Art von Person (kind of person), die wir sind. Und unsere Vorstellungen über die Art von Person, die wir sind, machen zumindest teilweise die Person aus, die wir sind. Welche Institutionen der Grundstruktur sind jedoch hier relevant? Rawls spricht von »sozialen Formen der Ermutigung und Förderung« (social attitudes of encouragement and support) sowie Institutionen, die sich mit der »Ausbildung und Ausübung« (training and use) natürlicher Anlagen befassen. Weiterhin spricht er von »Chancen« (opportunities), vom »persönlichen Werdegang« (personal history) und von der »sozialen Stellung« (social position).10 Die Ausbildung der Fähigkeiten einer Person ist offensichtlich von den Chancen abhängig, die sie hat. Und darauf haben grundlegende Institutionen wie das Bildungssystem oder auch das Wirtschaftssystem sicherlich einen starken Einfluss. Dagegen bleibt unklar, ob und inwiefern die »sozialen Formen der Ermutigung und Förderung« von Institutionen der Grundstruktur abhängig sind oder gar in solchen bestehen. Rawls beansprucht m.E. zu zeigen, dass die Grundstruktur ein Ausschnitt der sozialen Wirklichkeit ist, den es prinzipiengeleitet einzurichten 9 Vgl. auch JF §16.2: 56f. 10 PL (deutsch): 381.
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gilt. Ein Grund dafür ist der bedeutende Einfluss, den die Grundstruktur auf das Selbstbild der Bürger hat, indem sie bestimmt, welche Art von Personen sie sind und sein wollen. Sie beeinflusst ihre Ziele und Pläne, die Rollen, die sie einnehmen oder erstreben, und schließlich die Fähigkeiten, die sie haben. Rawls Ausführungen machen deutlich, dass die Grundstruktur einen solchen Einfluss hat. Es bleibt jedoch offen, warum es gerade die Institutionen der Grundstruktur sind und nicht etwa andere Institutionen, die den Gegenstand sozialer Gerechtigkeit ausmachen. Das liegt unter anderem daran, dass aus Rawls’ Ausführungen nicht hervorgeht, welche Aspekte des Selbstbilds von Personen für die Gerechtigkeit der Gesellschaft relevant sind und welche nicht. Auf viele Aspekte haben auch andere In stitutionen als diejenigen der Grundstruktur einen starken Einfluss. Als Beispiel haben wir religiöse Gemeinschaften angeführt. Diese haben vermutlich vielfach einen stärkeren Einfluss darauf, was für eine Art von Person viele Bürger sein wollen als die Institutionen der Grundstruktur. Dennoch handelt es sich Rawls zufolge nicht um Vereinigungen, die im Namen sozialer Gerechtigkeit unmittelbar kontrolliert werden sollten.11 Juridische Grundrechte – wie etwa das Recht zur politischen Betätigung – gehören dagegen im rawlsschen Verständnis zu einer gerechten Grundstruktur. Sie haben aber auf das Selbstbild der Personen nicht notwendigerweise einen tiefreichenden Einfluss. Unpolitischen Menschen mag es gleich sein, ob sie das Recht zur politischen Betätigung haben oder nicht. Schließlich geht aus den rawlsschen Ausführungen nicht hervor, wieso der Einfluss der Grundstruktur auf das Selbstbild der Bürger einen Grund dafür darstellt, die Grundstruktur gemäß bestimmten Prinzipien einzurichten. Denn Rawls macht nicht deutlich, wieso es erstrebenswert ist, diesen Einfluss zu kontrollieren. Sollten die Institutionen der Grundstruktur so gestaltet werden, dass die Bürger ein ganz bestimmtes Selbstbild ausbilden? Sollten wir diese Institutionen danach bewerten, inwiefern sie die Bürger in einem demokratischen oder liberalen Selbstbild befördern? Rawls geht auf diese Fragen nicht ein, wenn er die Gründe für die Grundstruktur als Gegenstand entwickelt. Sein Argument bleibt damit unvollständig. Es ist daher näher zu erläutern, worin genau der Einfluss der Grundstruktur besteht, auf den es hier ankommt, auf welche Weise dieser Einfluss mit den Institutionen der Grundstruktur zusammenhängt und warum es wünschenswert ist, diesen Einfluss zu kontrollieren.
11 Religiöse Gemeinschaften sind freilich insofern von der Einrichtung der Grundstruktur betroffen, als dass idealerweise juridische Grundrechte wie die Religionsfreiheit oder die Versammlungsfreiheit zu ihr gehören. Dennoch werden Kirchen und andere religiöse Einrichtungen innerhalb einer gerechten Grundstruktur nicht unmittelbar mithilfe der Prinzipien sozialer Gerechtigkeit kontrolliert.
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Moralische Personen und die Grundstruktur Wir entwickeln nun ein Argument, das der rawlsschen Strategie folgt, indem wir den Zusammenhang zwischen dem Personensein der Bürger und den Institutionen der Grundstruktur untersuchen. Dabei gehen wir jedoch nicht wie bisher vom alltäglichen Verständnis dessen aus, was es heißt, eine bestimmte Art von Person zu sein, sondern von Rawls’ Idee der Bürger als freier und gleicher Personen (citizens as free and equal persons). Dabei handelt es sich um eine der Grundideen der rawlsschen Theorie. Sie umfasst nämlich einige der zentralen normativen Gehalte, welche die Grundlage der Theorie bilden, und wird nicht unter Rekurs auf noch grundlegendere Werte gerechtfertigt. Vielmehr ist sie in unserer öffentlichen politischen Kultur (public political culture) implizit enthalten: »[T]he conception of the person is worked up from the way citizens are regarded in the public political culture of a democratic society, in its basic political texts (constitutions and declarations of human rights), and in the historical tradition of the interpretation of those texts.« (JF §7.1: 19)
Bürger in einer demokratischen Gesellschaft kooperieren idealerweise als Freie und Gleiche miteinander. Es wird nun nachgezeichnet, dass darin der Einfluss der Grundstruktur besteht, auf den es ankommt. Sie beeinflusst, inwiefern sich die Bürger als Freie und Gleiche verstehen und als solche miteinander kooperieren können. Erläutern wir zunächst, was Rawls damit meint, wenn er von freien und gleichen Personen spricht, um davon ausgehend unser Argument zu entwickeln. Zur Gleichheit der Bürger sagt Rawls: »[Citizens] are regarded as equal in that they are all regarded as having to the essential minimum degree the moral powers necessary to engage in social cooperation[.]« (JF §7.3: 20)
Bürger sind demnach insofern gleich, als dass sie bestimmte moralische Vermögen (moral powers) hinreichend weit entwickelt haben. Diese moralischen Vermögen sind der Gerechtigkeitssinn (sense of justice) und die Fähigkeit zu einer Konzeption des Guten (capacity for a conception of the good). Unter dem Gerechtigkeitssinn versteht Rawls »the capacity to understand, to apply, and to act from (and not merely in accordance with) the principles of political justice[.]« (JF §7.1: 18f.)
Personen haben demnach einen Gerechtigkeitssinn, wenn sie dazu fähig sind, die Gerechtigkeitsprinzipien zu verstehen und über die erforderliche Urteilskraft verfügen, um zu entscheiden, wann deren Forderungen genüge getan ist.12 Außerdem folgen sie den Prinzipien aus intrinsischer 12 Rawls spricht hier von den politischen Gerechtigkeitsprinzipien (principles of political justice). Dabei handelt es sich bloß um eine andere Bezeichnung für die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit.
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Motivation heraus. Sie sind also motiviert, den Gerechtigkeitsprinzipien entsprechend zu handeln, weil sie sie für richtig halten. Hier scheint sich ein Problem zu ergeben. Denn Einzelpersonen können überhaupt nicht den Gerechtigkeitsprinzipien entsprechend handeln. Die Gerechtigkeitsprinzipien stellen schließlich Forderungen an Institutionen und nicht an Einzelpersonen. Einzelpersonen können aber den Pflichten sozialer Gerechtigkeit entsprechend handeln und dazu können sie freilich auch intrinsisch motiviert sein. Sie handeln dann in Übereinstimmung mit hinreichend gerechten Regeln der Grundstruktur, sie versuchen, eine gerechte Grundstruktur aufrechtzuerhalten und sie leisten einen gewissen Beitrag zur Realisierung einer gerechten Grundstruktur. In diesem Sinne kann man davon sprechen, dass Personen intrinsisch motiviert sind, den Gerechtigkeitsprinzipien entsprechend zu handeln (to act from the principles of political justice). Die Fähigkeit zu einer Konzeption des Guten besteht in dem Vermögen »to have, to revise, and rationally to pursue a conception of the good. Such a conception is an ordered family of final ends and aims which specifies a person’s conception of what is of value in human life or, alternatively, of what is regarded as a fully worthwhile life.« (JF §7.1: 19)
Rawls geht demnach davon aus, dass Personen sich, indem sie eine vollständige Konzeption des Guten entwickeln, eine »geordnete Gruppe von Endzwecken und -zielen«13 (an ordered family of final ends and aims) setzen. Sie fällen also ein persönliches Urteil darüber, welche Zwecke erstrebenswert sind, und nehmen darüber hinaus Gewichtungen zwischen diesen Zwecken vor oder formulieren Vorrangregeln. Die Konzeption des Guten einer Person gibt damit zugleich Auskunft darüber, was sie als gutes Leben (fully worthwhile life) ansieht. Gegen diese Auffassung des guten Lebens wurden verschiedene Einwände vorgebracht. Die vier m.E. wichtigsten Einwände seien hier kurz zusammengefasst:14 Erstens: Oftmals erkennen wir erst im Nachhinein den Wert oder Unwert verschiedener Aspekte vergangener Lebensphasen. So mag ein Urlaub zunächst fade und langweilig erscheinen, im Nachhinein jedoch erkennen wir einen Wert darin, dass er unsere Auffassung über das Urlaubsland nachhaltig verändert hat. Es ist daher nicht einsichtig, dass das gute Leben darin bestehen muss, dass wir Zwecke verfolgen und wie geplant verwirklichen. Zweitens: Nicht nur das Erreichen bewusst geplanter Ziele kann einen Wert haben, sondern auch unvorhergesehene oder gar unvorhersehbare Umstände und Widerfahrnisse. Vielfach besteht der Wert eines 13 JF (deutsch): 44. 14 Die folgenden Einwände entnehme ich Larmore 2008: Kap. 10: 246–271 und Larmore 2016.
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Erlebnisses genau darin, dass es unvorhergesehene Aspekte umfasst. Hier können wir wieder an das Beispiel eines Urlaubs denken. Für viele umfasst ein gelungener Urlaub unvorhergesehene Ereignisse oder Erlebnisse und besteht eben nicht darin, dass alles genau nach Plan läuft. Auch das spricht gegen die Ansicht, das gute Leben bestehe allein in der geplanten Verwirklichung von Zwecken. Drittens: Es fragt sich, wann wir uns in unserem Leben für eine »geordnete Gruppe von Endzwecken und -zielen« entscheiden sollen und ob diese irreversibel sein sollte. Sollten wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa zum 18. Geburtstag, auf einen Lebensplan festlegen und diesen dann geduldig »abarbeiten«? Versteht man die rawlssche Auffassung auf diese Weise, so ist sie mit dem Einwand konfrontiert, dass die meisten vernünftigen Menschen ihr Leben faktisch nicht auf diese Weise führen. Vielmehr verfolgen sie kurz-, mittel- und langfristige Ziele, die in unterschiedlichem Maße revidierbar sind. Darüber hinaus erscheint ein solches Leben nach einem starren Lebensplan auch nicht erstrebenswert oder zumindest nicht alternativlos. Unsere für wertvoll befundenen Ziele ändern sich im Lichte neuer Erfahrungen und Überlegungen und es ist nicht einleuchtend, warum wir stur an einem zu irgendeinem Zeitpunkt festgelegten Lebensplan festhalten sollten, wenn uns dessen Ziele nicht mehr verfolgenswert erscheinen. Womöglich charakterisiert Rawls die Fähigkeit zu einer Konzeption des Guten deswegen auch dahingehend, dass sie das Vermögen einschließt, eine Konzeption des Guten revidieren zu können. Viertens: Rawls’ Auffassung von der Fähigkeit zu einer Konzeption des Guten verstößt allem Anschein nach gegen die Anforderungen einer politischen Gerechtigkeitskonzeption. Denn seiner Ansicht nach muss, was im menschlichen Leben Wert hat (what is of value in human life), in einem System von Zwecken ausformuliert werden. Man kann jedoch – wie wir gerade verdeutlicht haben – ebenfalls vernünftigerweise im Nachhinein den Wert gewisser Erfahrungen einsehen, Widerfahrnisse für wertvoll halten, ein weniger »durchgeplantes« Leben führen und die Auffassung über den Wert verschiedener Ziele mehr oder weniger radikal ändern.15 Eine politische Gerechtigkeitskonzeption zeichnet sich dadurch aus, dass sie von allen vernünftigen Personen unterstützt werden kann. Die rawlssche Auffassung darüber, was eine vernünftige Konzeption des Guten ist, kann m.E. nicht Teil einer politischen Gerechtigkeitskonzeption sein, da über sie vernünftige Meinungsverschiedenheiten bestehen können. Im Lichte dieser Überlegungen verstehe ich unter der Fähigkeit zu einer Konzeption des Guten lediglich das Vermögen, eine Ansicht darüber 15 Womöglich widerspricht, wie gesagt, der zuletzt erwähnte Aspekt der rawlsschen Auffassung nicht. Die anderen Einwände gegen die rawlssche Position bleiben davon jedoch unberührt.
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zu entwickeln, aber auch revidieren zu können, was im menschlichen Leben Wert hat und dieser Ansicht gemäß handeln zu können. Dabei enthält jede Vorstellung des Guten irgendwelche mehr oder weniger klar formulierten Ziele und Zwecke und auch eine mehr oder weniger deutliche Gewichtung derselben. Sie erschöpft sich aber nicht darin. Vielmehr kann sie auch grobe Wertvorstellungen und allgemeine Prinzipien umfassen, die nicht unmittelbar in Zwecke übersetzt werden können. Wenn eine Person z.B. Klavierspielen für einen Wert hält, folgt daraus noch nicht, dass sie selber den Zweck hat, Klavier zu spielen.16 Eine Konzeption des Guten revidieren zu können, heißt daher, Änderungen in der Auffassung darüber vornehmen zu können, was im menschlichen Leben Wert hat. Damit haben wir erläutert, was hier darunter zu verstehen ist, dass Personen gleich sind. Bürger, die in der für uns relevanten Hinsicht frei sind, »regard themselves as self-authenticating sources of valid claims. That is, they regard themselves as being entitled to make claims on their institutions so as to advance their conceptions of the good[.]« (JF §7.5: 23)
Bürger haben demnach als freie Personen einen moralischen Anspruch darauf, dass ihre Vorstellungen des Guten Berücksichtigung in den Institutionen finden, in deren Rahmen sie leben. Das gilt besonders für die Institutionen der Grundstruktur. Dieser Anspruch ist keine Folge gerechter Institutionen. Die Bürger haben ihn also nicht aufgrund von bestimmten Institutionen. Vielmehr ist es ein Kriterium gerechter Institutionen, dass diese dem Anspruch der Bürger auf Berücksichtigung ihrer vernünftigen Konzeptionen des Guten entsprechen.17 Für unser Erkenntnisanliegen ist es nun wesentlich, dass moralische Personen ein höchstrangiges Interesse daran haben, ihre beiden moralischen Vermögen zu entwickeln. Rawls sagt das nicht wörtlich, er spricht aber von einem »fundamentalen« Interesse, einem »höherstufigen« Interesse und dem »Vorrang« dieses Interesses vor sonstigen Interessen.18 16 Dagegen mag dieser Wert für die Person einen Grund dafür darstellen, Klavierkonzerte zu besuchen oder ihren Kindern das Klavierspielen nahezulegen. 17 Vgl. dazu auch Hinsch 2002: 30: »Als Freie und Gleiche treten sich die an einem System sozialer Kooperation Beteiligten gegenüber, sobald sie ihren Gerechtigkeitssinn und ihre Befähigung zu einer Konzeption des Guten in dem für faire Kooperation nötigen Maße entwickelt haben. Ist diese Bedingung erfüllt, haben alle prima facie denselben Anspruch auf die Achtung und Berücksichtigung ihrer normativen Überzeugungen, Bedürfnisse und Interessen, wenn es um die Verteilung von Grundgütern und allgemeiner um die Festlegung sozialer Regeln geht.« 18 Den Ausdruck »höchstrangiges Interesse« übernehme ich von Hinsch 2002, siehe dort im Register: 339. Im Zuge der Verteidigung des DP sagt Rawls:
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Dass die Entwicklung der moralischen Vermögen ein höchstrangiges Interesse der Bürger ist, heißt, dass ihnen kein Ziel wichtiger ist als die Entwicklung ihrer moralischen Fähigkeiten. Die Wahrung dieses Interesses hat für sie »unendlichen Wert«.19 Als freie Personen haben sie einen Anspruch auf die Berücksichtigung ihrer Vorstellungen vom Guten. Das Interesse, ihre moralischen Vermögen zu entwickeln, muss also besondere Berücksichtigung in den Institutionen einer Gesellschaft finden, in der sich die Bürger als freie Personen verstehen. Für den Zusammenhang zwischen der Auffassung der Bürger als Freie und Gleiche und den Institutionen der Grundstruktur ist nun die Liste der Grundgüter relevant. Grundgüter sind, wie bereits in 1.1 ausgeführt wurde, solche Güter, von denen ein gewisses Maß normalerweise erforderlich ist, um die moralischen Vermögen zu entwickeln und ein Leben lang auszuüben. In JF gibt Rawls eine Liste der Grundgüter mit einer kurzen Erläuterung, warum diese für die Entwicklung und Ausübung der moralischen Vermögen von herausragender Bedeutung sind: »(i)
The basic rights and liberties […].
(ii)
Freedom of movement and free choice of occupation against a background of diverse opportunities, which opportunities allow the pursuit of a variety of ends and give effect to decisions to revise and alter them.
(iii)
Powers and prerogatives of offices and positions of authority and responsibility.
(iv)
Income and wealth, understood as all-purpose means (having an exchange value) generally needed to achieve a wide range of ends whatever they may be.
(v)
The social bases of self-respect, understood as those aspects of basic institutions normally essential if citizens are to have a lively sense of their worth as persons and to be able to advance their ends with self-confidence.« (JF §17.2: 58f.)
Führen wir nun das Argument zu Ende. Es ist wünschenswert, dass sich die Bürger einer demokratischen Gesellschaft als Freie und Gleiche »[F]rom the parties’ point of view, at least, our fundamental interests connected with the exercise of citizens’ two moral powers take priority over other interests.« (JF §31.5: 110; Hervorhebung JW) Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Sens Capability-Ansatz spricht Rawls von Bürgern »as persons with those powers, and with a higher-order interest in their development and exercise.« (JF §51.7: 175; Hervorhebung JW) Schließlich spricht Rawls von »persons’ fundamental interests in developing and exercising their moral powers and in pursuing their particular (permissible) conceptions of the good.« (JF §57.4: 192; Hervorhebung JW) 19 Hinsch 2002: 132.
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ansehen. Sie können sich nur als solche ansehen, wenn ihr höchstrangiges Interesse an der Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen angemessene Berücksichtigung in den Institutionen der Gesellschaft findet. Nun haben wir die Grundstruktur darüber definiert, dass sie einen Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern hat. Damit hat sie auch einen Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Verteilung der Grundgüter.20 Die in (i) und (ii) aufgeführten Güter werden vor allem im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz berücksichtigt. Zwar schreibt dieser nicht ausdrücklich vor, dass es einen Hintergrund verschiedener Betätigungsgelegenheiten (a background of diverse opportunities) gibt. In einer Gesellschaft, in der die wesentlichen Verfassungsinhalte garantiert werden, wird das jedoch voraussichtlich ohnehin der Fall sein. Der Zugang zu den in (iii) aufgeführten Gütern wird durch das ChP geregelt. Und das DP macht Vorgaben zur Verteilung der in (iv) erwähnten materiellen Güter. Dagegen werden weder in unserer Definition der Grundstruktur noch in den rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien die in (v) genannten sozialen Grundlagen der Selbstachtung (the social bases of self-respect) erwähnt. Der Grund dafür ist, dass die institutionellen Rahmenbedingungen der Entwicklung von Selbstachtung bereits durch die Umsetzung der Forderungen der Gerechtigkeitsgrundsätze etabliert werden.21 Die aufgeführten Grundgüter benötigen die Bürger zur Entwicklung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen. Jeder kann nur dann damit rechnen, über ein ausreichendes Maß an Grundgütern zu verfügen, wenn die Institutionen der Grundstruktur mithilfe angemessener Prinzipien kontrolliert werden. Die Bürger können also nur dann ihre moralischen Vermögen entwickeln und ausüben, wenn die Grundstruktur angemessen reguliert wird. Damit können sich die Bürger auch nur dann als Freie und Gleiche ansehen, wenn die Institutionen der Grundstruktur in Übereinstimmung mit angemessenen Prinzipien gestaltet sind. Es ist m.a.W. erstrebenswert, die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern planmäßig und kontrolliert 20 Dazu passt auch Rawls’ Auffassung, dass die Gerechtigkeitsprinzipien die Grundstruktur daraufhin bewerten, wie diese die Grundgüter verteilt: »The two principles of justice assess the basic structure according to how it regulates citizens’ shares of primary goods[.]« (JF §17.3: 59) 21 Vgl. dazu JF §17.3: 60: »[The social bases of self-respect] are things like the institutional fact that citizens have equal basic rights, and the public recognition of that fact and that everyone endorses the difference principle, itself a form of reciprocity.«; PL V §3.3: 181: »The social bases of self-respect are explained by the structure and content of just institutions together with features of the public political culture, such as the public recognition and acceptance of the principles of justice.«; Vgl. dazu außerdem TJ §67: 386– 391.
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zu beeinflussen, da nur dadurch sichergestellt werden kann, dass alle Bürger sich als Freie und Gleiche verstehen. Auch die weite Verbreitung eines liberalen Ethos trägt offensichtlich dazu bei, umfasst es doch Tugenden wie die der Toleranz und Vernünftigkeit. Verdeutlichen wir abschließend noch einmal die Struktur des nun entfalteten Arguments: Es stellt einen Wert dar, wenn die Bürger sich als freie und gleiche Personen auffassen. Als solche haben sie ein höchstrangiges und zu berücksichtigendes Interesse an der Ausbildung und Ausübung ihrer moralischen Vermögen. Dieses Interesse kann nur dadurch gewahrt werden, dass die Institutionen der Grundstruktur in Übereinstimmung mit Gerechtigkeitsprinzipien gestaltet werden. Denn die zur Ausbildung und Ausübung der moralischen Vermögen erforderlichen Güter und politischen Tugenden werden durch die Grundstruktur verteilt. Andere Institutionen haben dagegen keinen plan- und kontrollierbaren Einfluss auf deren gesamtgesellschaftliche Verteilung. Daher sollte allein die Grundstruktur auf diese Weise kontrolliert werden. Für die Gerechtigkeit der Gesellschaft zählt also nicht der Einfluss, den diese auf das Selbstbild der Bürger im alltäglichen Sinne hat. Vielmehr zählt deren Einfluss auf die Tatsache, ob sich die Bürger als Freie und Gleiche auffassen.22
3.2 Eine gesellschaftliche Idealentwicklung In diesem Kapitel rekonstruiere und ergänze ich das erste Argument von Rawls für die Grundstruktur als Gegenstand.23 In JF fasst Rawls das Argument zusammen: »[A]s a framework that preserves background justice over time from one generation to the next [the basic structure] realizes the idea […] of pure background procedural justice as an ideal social process[.]« (JF §16.3: 57)
Die Grundstruktur sorgt demnach dafür, dass Hintergrundgerechtigkeit (background justice) aufrechterhalten wird und bringt dadurch eine »ideale gesellschaftliche Entwicklung«24 (an ideal social process) in 22 Vgl. zu der hier entwickelten Argumentation auch Meyer 2015: 153: »Nicht der empirisch nachweisbare Einfluss von Gesellschaft oder Grundstruktur auf die »Lebensperspektiven« als solcher, sondern die Bedeutung des Einflusses der Grundstruktur für die Realisierung des für moralisch wesentlich erachteten Ideals [der Kooperation der Bürger als Freie und Gleiche] kann, so Rawls, den »gewissen« regulativen Vorrang der Grundstruktur als »erstem« Gegenstand der Gerechtigkeit rechtfertigen.« 23 Das Argument findet sich in PL VII §4: 265–269 und JF §15: 52–55. 24 JF (deutsch): 98.
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Gang. Damit werde das Ideal reiner Hintergrundverfahrensgerechtigkeit (the ideal of pure background procedural justice) verwirklicht. Die prinzipiengeleitete Gestaltung der Grundstruktur realisiert m.a.W. den Wert einer gesellschaftlichen Idealentwicklung. Es wird also dargelegt, inwiefern der Wert einer gesellschaftlichen Idealentwicklung ein Grund dafür ist, die Grundstruktur prinzipiengeleitet einzurichten. Dazu rekonstruiere ich im ersten Abschnitt des Kapitels, was unter einer gesellschaftlichen Idealentwicklung, kurz: Idealentwicklung, zu verstehen ist. Dort wird auch eruiert, auf welche Weise eine Idealentwicklung mit den gesellschaftsweiten Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern sowie mit der Verbreitung eines liberalen Ethos zusammenhängt. Außerdem wird rekonstruiert, was mit dem Ausdruck »Hintergrundgerechtigkeit« gemeint ist. Im zweiten Abschnitt soll dann erörtert werden, inwiefern eine Idealentwicklung einen Wert darstellt, ihre Realisierung also erstrebenswert ist. Dazu zeige ich, dass sie den Alternativentwürfen von Nozick und Fichte überlegen ist. Im dritten Abschnitt werden dann Begriff und Wert einer Idealentwicklung noch einmal auf eine andere Weise erläutert, nämlich als Legitimierungsverfahren gesellschaftlicher Ungleichheiten. Rawls legt dem Abschnitt in PL, auf dessen Grundlage die Rekon struktion seines Arguments hier vornehmlich erfolgt, eine Fragestellung zugrunde, die sich auch anders interpretieren lässt, als ich das tue: »The problem here is to show why the basic structure has a special role and why it is reasonable to seek special principles to regulate it.« (PL VII §3: 265)
Es gibt demnach zwei zusammenhängende Probleme, die in dem Abschnitt verhandelt werden. Einerseits soll geklärt werden, warum die Grundstruktur eine besondere Rolle (special role) hat. Dabei bleibt offen, in welcher Hinsicht die Grundstruktur eine besondere Rolle einnimmt. In unserer Interpretation spielt die Grundstruktur im Vergleich mit anderen Bereichen des Sozialen eine besondere Rolle, da sich durch ihre prinzipiengeleitete Gestaltung ein bestimmter Wert, nämlich eine Idealentwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse, mit Aussicht auf Erfolg realisieren lässt. Die Passage lässt sich jedoch offensichtlich auch auf andere Weise verstehen. Weiter soll dem Zitat zufolge gezeigt werden, dass zur Regulierung der Grundstruktur auf besondere Prinzipien zurückgegriffen werden sollte. Auch hier bleibt offen, in welcher Hinsicht die Prinzipien besonders sein sollen. Wir können aber mutmaßen, dass der relevante Gegensatz universale Prinzipien wie die des Utilitarismus sind. Solche Prinzipien gelten dem Anspruch nach gleichermaßen für individuelle Entscheidungen wie für institutionelle Regeln und für alle weiteren Bereiche, in denen moralische Bewertungen vorgenommen werden 164
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sollten. Dagegen gelten die rawlsschen Gerechtigkeitsgrundsätze unmittelbar nur für die Grundstruktur. Ich verfolge demgegenüber die engere Fragestellung, warum die Grundstruktur und nicht etwa andere Institutionen prinzipiengeleitet reguliert werden sollten. Es soll m.a.W. gezeigt werden, dass es erstrebenswert ist, allein die Institutionen der Grundstruktur in Übereinstimmung mit Prinzipien sozialer Gerechtigkeit einzurichten. Diese Fragestellung lässt sich wiederum auf zwei Weisen verstehen. Erstens: Wieso sollte die Grundstruktur überhaupt prinzipiengeleitet reguliert werden? Warum sollen die Bürger nicht selbst darüber entscheiden, wie die Grundstruktur gestaltet wird? Ein solches Verständnis der Fragestellung drängt sich auf, wenn man von dem Gedanken ausgeht, dass jegliche Art von Regulierung oder Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist. Zweitens: Wieso sollten allein die Institutionen der Grundstruktur mithilfe von angemessenen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit kontrolliert werden und nicht darüber hinaus weitere Bereiche des Sozialen wie z.B. private Vereinigungen und Familien? Dieses Verständnis drängt sich auf, wenn man von dem Gedanken ausgeht, dass sämtliche Ungleichheiten rechtfertigungsbedürftig sind. Salopp gesagt: Es sollte doch wohl alles gerecht zugehen. Wieso sollte allein die Grundstruktur gemäß Prinzipien sozialer Gerechtigkeit gestaltet werden? Beide Arten, die Fragestellung zu verstehen, spielen im Folgenden eine Rolle. Der Begriff einer Idealentwicklung Rekonstruieren wir zunächst, was mit dem Ausdruck »gesellschaftliche Idealentwicklung« gemeint ist. Dafür ist die folgende Passage zentral: »[S]uppose we begin with the initially attractive idea that social circumstances and people’s relationships to one another should develop over time in accordance with free agreements fairly arrived at and fully honored.« (PL VII §4: 265)
Wir legen terminologisch fest: Genau dann, wenn die »sozialen Verhältnisse und Beziehungen der Menschen untereinander« (social circumstances and people’s relationships to one another) weitgehend die Folge »freier, fairer und strikt eingehaltener Übereinkünfte«25 (free agreements fairly arrived at and fully honored) sind, entwickelt sich eine Gesellschaft in idealer Weise. Nun fragt es sich, was unter »sozialen Verhältnissen und Beziehungen der Menschen untereinander«, kurz: sozialen Verhältnissen, zu verstehen ist. M.E. bezeichnet dieser Ausdruck einerseits die Gesamtheit privater Vereinigungen und deren Gestaltung. Wenn wir also fragen, welche sozialen Verhältnisse bestehen, dann 25 PL (deutsch): 376.
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fragen wir, welche Unternehmen, Vereine, Religionsgemeinschaften etc. es gibt, welche Ämter und Positionen dort zu finden sind und mit welchen Privilegien und welchem Einkommen sie verknüpft sind. Andererseits sind unter sozialen Verhältnissen sämtliche regelkontrollierte Kooperationsbeziehungen zu verstehen. Damit sind sämtliche Fälle gemeint, in denen Personen gemäß bestimmten Regeln zusammenarbeiten. Paradigmatisch sind dafür Beziehungen, die auf vertraglichen oder vertragsähnlichen Vereinbarungen beruhen, wie etwa Arbeitsverträge oder Tauschgeschäfte. Die folgenden Ausführungen stützen sich daher vor allem auf diese Beispiele. Das liegt insofern nahe, als dass Arbeitsverträge und Tauschgeschäfte in einem offensichtlichen Zusammenhang mit denjenigen Gütern stehen, die Rawls in Bezug auf soziale Gerechtigkeit im engeren Sinne für relevant hält, namentlich Chancen und materielle Güter. Die Gerechtigkeit von Arbeitsverträgen und Tauschgeschäften stellt zudem ein klassisches Thema dessen dar, was unter Verwendung des Ausdrucks »soziale Gerechtigkeit« verhandelt wird. Dennoch ist der Begriff einer Idealentwicklung m.E. nicht auf diesen Bereich beschränkt. Vielmehr bezieht er sich darüber hinaus auf sämtliche private Vereinigungen – Religionsgemeinschaften, Sportvereine, Musikensembles etc. – und deren Gestaltung. Eine Gesellschaft entwickelt sich demnach auf ideale Weise, wenn sämtliche regelkontrollierte Kooperationsbeziehungen sowie die Tatsache, welche privaten Vereinigungen Zulauf und Unterstützung erfahren und welche sich auflösen, weitgehend Folge freier und fairer Übereinkünfte ist. Wieso jedoch handelt es sich um eine attraktive Idee (attractive idea)? Auf diese Frage gehen wir weiter unten ausführlich ein. Eine Andeutung, worin der Wert einer Idealentwicklung besteht, soll daher hier genügen. Formulieren wir die Forderung einer Idealentwicklung dafür ein wenig anders: Die sozialen Verhältnisse sollten sich weitgehend nach den gemeinschaftlichen Entscheidungen der Bürger richten. Ob ein Verein, eine Religionsgemeinschaft oder eine andere private Vereinigung floriert und wie sie gestaltet ist, sollte davon abhängig sein, ob sich die Bürger dazu entscheiden, Zeit und Mühe in ein solches gemeinschaftliches Unternehmen zu investieren. Die Tatsache, wer welches Amt innehat und mit welchen Privilegien ein solches Amt ausgestattet ist, sollte wiederum von gemeinschaftlichen Entscheidungen der Bürger abhängig sein. Die Bürger sollten selbst entscheiden können, mit wem sie Vereinbarungen treffen und mit wem nicht. Die Übereinkünfte (agreements), von denen in dem Zitat die Rede ist, sind diesem Verständnis nach nichts anderes als gemeinsame Entscheidungen. Die Annahme, dass Menschen es schätzen oder schätzen sollten, wenn ihre wechselseitigen kooperativen Handlungen und Erwartungen durch Übereinkünfte reguliert werden, denen sie frei zugestimmt haben, ist nicht allein eine weitverbreitete Überzeugung, sie liegt m.E. auch der rawlsschen Idee der fairen 166
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Kooperation zugrunde.26 Hier ist außerdem daran zu erinnern, dass die Bürger ein höchstrangiges Interesse daran haben, ihre moralischen Vermögen zu entwickeln. Um dieses Interesse zu wahren, also unter anderem eine Konzeption des Guten auszubilden und entsprechend zu leben, ist es unabdingbar, dass die Bürger frei darüber entscheiden können, welche privaten Vereinigungen sie unterstützen oder gar gründen und welche Dienstleistungsvereinbarungen sie eingehen. Bevor wir fortfahren, sei noch eine kurze Skizze der Argumentationsstruktur gegeben. Es soll dargelegt werden, dass eine Idealentwicklung nur dann wahrscheinlich gemacht werden kann, wenn die Grundstruktur prinzipiengeleitet reguliert wird. Wer daher eine Idealentwicklung für einen Wert hält, der sollte auch von einer prinzipiengeleiteten Gestaltung der Grundstruktur überzeugt sein. Dazu ist es erforderlich zu zeigen, dass sich eine Gesellschaft nur dann in idealer Weise entwickelt, wenn langfristig die Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern nach angemessenen Grundsätzen kontrolliert werden und wenn ein liberales Ethos weite Verbreitung findet. Um das darzulegen, gehen wir von folgendem Grundgedanken aus: Eine Gesellschaft entwickelt sich nur dann in idealer Weise, wenn jeder Bürger mit jedem anderen Bürger unter Bedingungen Übereinkünfte treffen kann, die es wahrscheinlich machen, dass es sich um freie, faire und strikt eingehaltene Übereinkünfte handelt. Diese Bedingungen wiederum bestehen, wie zu zeigen sein wird, in den gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstrukturen der erwähnten Güter und in der weiten Verbreitung eines liberalen Ethos. Rawls’ Auffassung scheint in eine ähnliche Richtung zu gehen, wenn er sagt: »The role of the institutions that belong to the basic structure is to secure just background conditions against which the actions of individuals and associations take place.« (PL VII §4: 266)
Die Grundstruktur hat demnach die Aufgabe, gerechte Bedingungen herzustellen, vor deren Hintergrund Einzelpersonen, aber auch private Vereinigungen interagieren. Hintergrundgerechtigkeit besteht nun meiner Interpretation nach darin, dass die Gestaltung der Grundstruktur es wahrscheinlich macht, dass freie, faire und strikt eingehaltene Übereinkünfte getroffen werden. Diese sind, wie schon erläutert, die Voraussetzung für eine Idealentwicklung. Eine prinzipiengeleitete Kontrolle der 26 Man erinnere sich, dass die Idee fairer Kooperation von Rawls als eine Alternative zur Koordination menschlicher Handlungen durch das Prinzip von Befehl und Gehorsam erläutert wird. Nun unterstützen auch libertäre Philosophen wie Nozick die Auffassung, dass sich soziale Verhältnisse weitgehend nach den Entscheidungen der Bürger richten sollten. Weiter unten gehe ich darum kurz auf die Unterschiede zwischen der hier eingenommenen Position und derjenigen Nozicks ein.
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Grundstruktur ist damit erstrebenswert, weil eine Idealentwicklung erstrebenswert ist. Um die angedeutete Argumentation auszuarbeiten, müssen wir zunächst Kriterien für freie, faire und strikt eingehaltene Übereinkünfte entwickeln. Dann müssen wir zeigen, dass zwischen diesen und den gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern sowie der Verbreitung eines liberalen Ethos ein Zusammenhang besteht. Auch Rawls sieht die Notwendigkeit der Entwicklung von solchen Kriterien, wenn er sagt: »Straightaway we need an account of when agreements are free and the social circumstances under which they are reached are fair.« (PL VII §4: 266)
Rawls hat jedoch solche Kriterien (account) nicht ausgearbeitet. Freie Übereinkünfte Es sollen nun ohne Anspruch auf Vollständigkeit zwei Kriterien für freie Übereinkünfte entwickelt werden. Anschließend prüfen wir beispielhaft, inwiefern eine passende Gestaltung der Grundstruktur das Zustandekommen von Übereinkünften, die diesen Kriterien entsprechen, wahrscheinlich machen kann. Erstens: Wir gehen im Folgenden vereinfacht davon aus, dass lediglich zwei Personen resp. Parteien an der Übereinkunft beteiligt sind. Eine Voraussetzung dafür, dass die Übereinkunft zwischen diesen Parteien frei ist, besteht darin, dass beide im alltäglichen Sinne zurechnungsfähig sind. D.h. die Parteien müssen die Konsequenzen ihrer Entscheidungen abwägen können. Dafür ist üblicherweise eine gewisse »Lebenserfahrung« erforderlich, die vor Erreichen der Volljährigkeit im Normalfall nicht erreicht ist. Die Parteien dürfen darüber hinaus nicht betrunken oder durch andere Standardursachen im Gebrauch ihrer Vernunft eingeschränkt sein. Zweitens: Weiterhin ist eine Übereinkunft nur dann frei, wenn keine Partei die andere zur »Zustimmung« zwingt, etwa durch Erpressung oder die Androhung von körperlichen Schmerzen. Dabei vernachlässigen wir zunächst »zwingende Umstände«, etwa den Fall, dass das Überleben der einen Partei vom Zustandekommen der Übereinkunft abhängt oder auch mildere Machtungleichheiten, wie den Fall, dass eine Partei der anderen materielle oder soziale Vorteile verweigern und sie so zur »Zustimmung« bewegen kann. Diese Fälle erörtern wir im Zusammenhang mit der Fairness von Übereinkünften. Die Grenzen zwischen zwingenden Umständen und ausdrücklichen Drohungen mögen hier fließend sein, dennoch sollten sich zumindest genügend Standardfälle von Drohung oder Erpressung finden, über die Einigkeit besteht. 168
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Machen wir nun deutlich, inwiefern diese Kriterien mit der institutionellen Grundstruktur zusammenhängen. Zum ersten Kriterium: Durch die angemessene Gestaltung von Institutionen lassen sich Vorkehrungen treffen, Übereinkünfte, die gegen das erste Kriterium verstoßen, unwahrscheinlicher zu machen oder zumindest in ihren Konsequenzen abzumildern. So lässt sich rechtlich festlegen, dass nur volljährige, zurechnungsfähige Personen bestimmte Verträge schließen können, zumindest solche, von denen sie langfristig betroffen sind. Verträge, bei denen eine Partei nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist, sind dagegen ungültig, genießen also nicht den Schutz staatlicher Durchsetzung. Freilich hält die Parteien nichts davon ab, dennoch Übereinkünfte zu treffen. Denken wir etwa an bestimmte Wetten: »Wenn du es schaffst, über dieses Seil zu balancieren, dann springe ich ins kalte Wasser.« Im Falle solcher Übereinkünfte wird deren strikte Einhaltung jedoch nicht mit staatlicher Zwangsgewalt abgesichert. Bekommt eine Partei am Ende »kalte Füße«, so ist sie vielleicht dem Hohngelächter ihrer Freunde preisgegeben, hat jedoch keine juristischen Konsequenzen zu befürchten. Grundlegende rechtliche Vorgaben zur Gültigkeit von Verträgen rechnet Rawls nicht ausdrücklich den wesentlichen Verfassungsinhalten zu. Doch einer Übereinkunft aus freien Stücken zuzustimmen, bedeutet m.E, nicht im Gebrauch der Vernunft eingeschränkt zu sein und die Konsequenzen der Zustimmung ungefähr abschätzen zu können. Grundlegende Regeln zur Gültigkeit von Verträgen sollten daher der Grundstruktur zugerechnet werden. Zum zweiten Kriterium: Eine Idealentwicklung schließt Übereinkünfte aus, die durch Gewaltanwendung oder deren Androhung von einer der Parteien erzwungen werden. Das gewaltsame Zustandekommen von Übereinkünften wird unwahrscheinlicher gemacht, wenn die institutionelle Grundstruktur das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit umfasst. In diesem Zusammenhang wird ein solches Recht zunächst lediglich als Mittel verstanden, durch Gewaltanwendung getroffene Übereinkünfte zu verhindern. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gibt beiden Parteien einen Anreiz, von Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer Vorstellung der besten Übereinkunft abzusehen. Unter einem Anreiz verstehe ich hier, wie gesagt, einen Grund zu einer bestimmten Handlungsweise, den Personen in Ansehung ihrer üblichen Interessen haben. Die Bürger einer dem rawlsschen Ideal entsprechenden Gesellschaft halten es darüber hinaus auch für moralisch erstrebenswert, zwanglose Übereinkünfte anzustreben. Auch abseits der zwangsbewehrten Durchsetzung halten sie das gewaltlose Zustandekommen einer Übereinkunft also für wertvoll und handeln entsprechend. Wenn wir das gewohnheitsmäßig befolgte Prinzip, gewaltlose Übereinkünfte anzustreben als Teil eines liberalen Ethos ansehen, ist es überdies einsichtig, dass dessen weite Verbreitung die weite Verbreitung 169
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freier Übereinkünfte impliziert. Außerdem liegt es nahe, dass nur eine Gleichverteilung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit eine Idealentwicklung wahrscheinlich macht. Dieser Punkt soll jedoch hier nicht weiter verfolgt werden, da ja lediglich gezeigt werden soll, dass die Grundstruktur nach irgendwelchen substantiellen Gerechtigkeitsprinzipien eingerichtet werden sollte. Eine angemessen eingerichtete Grundstruktur macht freie Übereinkünfte lediglich wahrscheinlich und nicht etwa möglich. Es besteht also ein empirisch-kausaler und kein logischer Zusammenhang.27 Freie Übereinkünfte sind nicht logisch abhängig von einer Grundstruktur, die Freiheitsrechte einschließt. Um es anhand eines extremen Beispiels zu illustrieren: Selbst ein Sklave und sein »Besitzer« könnten freie Übereinkünfte treffen. Das ist jedoch nicht besonders wahrscheinlich, da der »Besitzer« einen starken Anreiz hat, dem Sklaven Befehle zu erteilen statt seine freie Zustimmung zu erbitten. Im Lichte der Anforderungen einer Idealentwicklung können wohl noch weitergehende Forderungen in Bezug auf die Sicherung von Grundrechten gestellt werden. Das soll hier nur angedeutet werden. Dass sich eine Gesellschaft in idealer Weise entwickelt, heißt unter anderem, dass die Tatsache, welche privaten Vereinigungen Unterstützung erfahren und welche nicht, von den Übereinkünften der Bürger abhängig sein soll.28 Um eine solche Entwicklung der privaten Vereinigungen wahrscheinlich zu machen, liegt es nahe, Grundrechte wie etwa Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit zu gewährleisten, ebenso Freizügigkeit, Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit der Berufswahl.
27 Die Formulierung »lediglich wahrscheinlich und nicht etwa möglich« mag zunächst ungewohnt erscheinen, da »wahrscheinlich« ein modallogisch stärkerer Begriff ist als »möglich«. Wahrscheinlichkeit impliziert Möglichkeit, aber nicht vice versa. Hätten wir jedoch gezeigt, dass eine Idealentwicklung nur dann möglich ist, wenn bestimmte Verteilungsstrukturen bestimmter Güter realisiert werden, so wäre die Begründung für die Regulierungsbedürftigkeit der Grundstruktur stärker. Eine planvoll eingerichtete Grundstruktur wäre in diesem Falle die Ermöglichungsbedingung einer Idealentwicklung. Denn es wäre ausgeschlossen, dass eine Idealentwicklung auf andere Weise als durch die kontrollierte Realisierung bestimmter Verteilungsstrukturen bestimmter Güter zustande kommen könnte. Dagegen ist die Begründung in unserem Falle schwächer. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass freie und faire Übereinkünfte zustande kommen, obwohl die Grundstruktur nicht prinzipiengeleitet reguliert wird. 28 Gemeint ist private Unterstützung, d.h. Unterstützung durch Privatpersonen, und nicht etwa staatliche Unterstützung oder Absicherung.
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Strikt eingehaltene Übereinkünfte Lassen sich nun Institutionen in einer Weise gestalten, die es wahrscheinlich machen, dass Übereinkünfte strikt eingehalten werden? Offensichtlich macht ein angemessen gestaltetes Vertragsrecht und dessen Durchsetzung es wahrscheinlich, dass Verträge in den meisten Fällen eingehalten werden. Verträge sind ja nichts weiter als verrechtlichte Übereinkünfte. Auch hier sehen wir die mit staatlicher Zwangsgewalt gesicherten Rechte zunächst als ein Mittel an, das den vertragschließenden Parteien einen Anreiz dafür gibt, ihre vertraglichen Pflichten zu erfüllen. Weiterhin impliziert die weite Verbreitung eines liberalen Ethos, dass Übereinkünfte vielfach strikt eingehalten werden. Denn ein solches Ethos umfasst die Tugend der Vernünftigkeit. Diese besteht unter anderem in dem Prinzip, fairen Kooperationsregeln entsprechend zu handeln, auch wenn das mit gelegentlichen Nachteilen einhergeht. Übereinkünfte sind Einigungen auf Kooperationsregeln. Damit besteht die Tugend der Vernünftigkeit unter anderem in dem Prinzip, faire Übereinkünfte strikt einzuhalten. Wir können hier auch schon vorwegnehmen, dass die Verbreitung eines solchen Ethos die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens fairer Übereinkünfte erhöht. Denn die Tugend der Vernünftigkeit umfasst auch das Prinzip, faire Kooperationsregeln zu entwickeln. Faire Übereinkünfte und materielle Güter Was ist das Kriterium dafür, dass Übereinkünfte fair sind? Dass eine Übereinkunft fair ist, heißt m.E., dass sie unter fairen Bedingungen stattfindet. Was aber ist das Kriterium dafür, dass faire Bedingungen herrschen? Unter fairen Bedingungen verstehe ich faire Verhandlungspositionen. Davon ausgehend soll im Folgenden gezeigt werden, wie die gesamtgesellschaftlichen Verteilungsstrukturen von Chancen und materiellen Gütern mit fairen Übereinkünften zusammenhängen. Wir gehen dabei der Einfachheit halber lediglich auf das Beispiel von Arbeitsverträgen ein. Wie wir schon oben hervorgehoben haben, ist der Begriff einer Idealentwicklung jedoch nicht auf diesen Fall beschränkt. So sollten auch Übereinkünfte über Tauschhandlungen und über die Mitgliedschaft in einer Kirche, einem Fußballverein oder einer Universität unter fairen Bedingungen stattfinden. Ob Rawls der Interpretation von fairen Bedingungen als fairen Verhandlungspositionen zustimmen würde, geht aus seinen Veröffentlichungen nicht hervor. Zwar sagt er:
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»[W]hether wage agreements are fair rests, for example, on the nature of the labor market: excess market power must be prevented and fair bargaining power should obtain between employers and employees.« (PL VII §4: 267)
Jedoch führt er faire Verhandlungspositionen lediglich als einen Aspekt fairer Bedingungen an. Mein Verständnis ist letztlich der Tatsache geschuldet, dass es eine konsistente Möglichkeit darstellt, faire Bedingungen als gesellschaftsweite Verteilungsstrukturen von Chancen und materiellen Gütern zu verstehen. Worin jedoch bestehen faire Verhandlungspositionen? Unter einer Verhandlungsposition verstehe ich die Verhandlungsmacht einer Partei, in Übereinkünften ihre Interessen durchzusetzen. Zwei Qualifikationen sind dabei wichtig: Zum einen sind für die Fairness der Verhandlungspositionen nur legitime Interessen relevant. Den Ausdruck »legitime Interessen« verwenden wir als terminus technicus, der weiter unten noch näher erläutert wird. Zum anderen ist nur die Verhandlungsmacht relevant, die eine Folge der objektiven Situationsmerkmale ist. Zwei Parteien befinden sich demzufolge in fairen Verhandlungspositionen genau dann, wenn die Verhandlungsmacht, über die sie infolge der objektiven Situationsmerkmale verfügen, die Durchsetzung ihrer legitimen Interessen wahrscheinlich macht. Zunächst zur Beschränkung auf objektive Situationsmerkmale.29 Was damit gemeint ist und inwiefern es sich um eine plausible Beschränkung handelt, können wir uns anhand eines Beispiels verdeutlichen. Denken wir an einen unglücklich Verliebten, der jedem Vorschlag seiner Angebeteten zustimmt, um nicht in ihrer Gunst zu sinken. Er befindet sich ihr gegenüber in einer äußerst schlechten Verhandlungsposition, ohne dass hier ein Problem sozialer Gerechtigkeit besteht. Denn es ist der »persönliche« Zustand des Verliebten, der seine Verhandlungsposition bestimmt. Unser Ziel ist es, gesellschaftsweit faire Verhandlungspositionen bestimmen zu können, also für jeden Bürger, der mit irgendeinem anderen Bürger eine Übereinkunft trifft, angeben zu können, ob diese Übereinkunft unter fairen gesellschaftlichen Bedingungen zustande kommt. Eine solche Angabe mit Bezug auf den persönlichen Zustand aller Bürger ist zwar vorstellbar, lässt sich jedoch realistischerweise kaum durchführen. Unter dem persönlichen Zustand einer Person verstehe ich dabei neben den Gefühlen, die sie gegenüber anderen empfinden mag, die Vorlieben oder den Geschmack einer Person. Es ist zwar nicht prinzipiell unmöglich, Angaben über den persönlichen Zustand aller Bürger zu machen, 29 Vgl. PL VII §5: 269: »[C]ertain background conditions are necessary if transactions between individuals are to be fair; these conditions characterize the objective situation of individuals vis-a-vis one another.« (Hervorhebung, JW)
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es handelt sich jedoch um eine praktisch nicht durchführbare Aufgabe. Um gesellschaftsweit faire Verhandlungspositionen bestimmen zu können, sollten wir uns daher auf diejenigen objektiven Situationsmerkmale beschränken, welche die Verhandlungsmacht einer Person stärken oder schwächen. Wir nennen diejenigen Merkmale resp. Eigenschaften einer Situation objektiv, bei denen wir praktisch dazu in der Lage sind, hinreichend genaue Angaben zu machen. Nun zur Beschränkung auf legitime Interessen. Wieso können wir nicht die faktischen Interessen der Bürger und deren Macht, diese durchzusetzen, als Maßstab fairer Bedingungen verstehen? Unter faktischen Interessen verstehe ich diejenigen kontinuierlich verfolgten Ziele, die eine Person tatsächlich hat. Diejenigen Ziele also, die eine Person angeben würde, würden wir sie nach ihren Zielen fragen und würde sie ehrlich antworten. Faktische und legitime Interessen müssen keineswegs deckungsgleich sein. Eine Person mag ein faktisches Interesse daran haben, eine Villa mit beheiztem Schwimmbad zu besitzen, jedoch handelt es sich dabei nicht unbedingt zugleich um ein legitimes Interesse. Ansonsten wären Personen mit höchst anspruchsvollen und güterintensiven faktischen Interessen gegenüber solchen mit eher spartanischen Interessen gerechterweise zu bevorzugen, was üblichen Gerechtigkeitsvorstellungen widerspricht.30 Faktische und legitime Interessen sind also nicht notwendigerweise deckungsgleich, und faktische Interessen sind oftmals für Gerechtigkeitserwägungen nicht relevant. Diese Charakterisierung legitimer Interessen ex negativo reicht jedoch nicht aus, um faire Verhandlungspositionen zu bestimmen. Auf eine nähere Bestimmung gehen wir weiter unten ein. Machen wir uns jedoch zunächst den Zusammenhang zwischen Verhandlungspositionen und der Durchsetzung legitimer Interessen deutlich. Dazu greifen wir auf ein durch Karl Marx inspiriertes Beispiel zurück.31 Stellen wir uns eine Verhandlung über einen Arbeitsvertrag zwischen einem Arbeiter und einem Kapitalisten vor. Der Arbeiter bietet dem Kapitalisten seine Arbeitskraft im Austausch für einen bestimmten Lohn an. Nun wird der Arbeiter mit hoher Wahrscheinlichkeit jedes Angebot des Kapitalisten annehmen, solange der vorgeschlagene Lohn ausreicht, um die Subsistenz seiner selbst und seiner Familie zu sichern. Das hat seinen Grund darin, dass der Arbeiter normalerweise das überragende Interesse hat, das Überleben seiner selbst und seiner Familie zu sichern. Wir nehmen an, dass keine sozialen Sicherungssysteme existieren: Es gibt keine Arbeitslosenversicherung, keine Krankenversicherung 30 Allerdings ist die übliche Auffassung ebenfalls kontrovers, wie die Diskussion um teuren Geschmack (expensive taste) zeigt. Vgl. Cohen 1989 und 2011. Diesen Punkt verfolge ich jedoch nicht weiter. 31 Vgl. Wood 2004: 246–253.
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und keinen Mindestlohn. Weiterhin gibt es eine nicht geringe Gruppe arbeitsloser Arbeiter. Das Angebot an Arbeitskräften ist also bedeutend höher als die Nachfrage. Aus diesen Umständen heraus ergibt sich für den Arbeiter die Situation, entweder einen Subsistenzlohn anzunehmen oder aber mitsamt seiner Familie zu verhungern. Denn der Kapitalist hat nur ein geringes Interesse daran, zu einer Übereinkunft mit genau diesem Arbeiter zu kommen. Es steht ja ein Heer von arbeitslosen Arbeitern mit den gleichen Interessen vor seiner Fabrik Schlange. Der Kapitalist hat außerdem ein Interesse daran, möglichst nur den Subsistenzlohn zu zahlen, da seine Fabrik dem Wettbewerb nicht standhalten kann und er selber in die Arbeiterklasse absteigt, wenn er langfristig Löhne bezahlt, die höher sind als die Marktpreise. Die Verhandlungspositionen, aus denen heraus Arbeiter und Kapitalist in diesem stilisierten Beispiel verhandeln, erscheinen uns intuitiv zutiefst unfair. Wie kommen wir jedoch zu dieser Bewertung? Zunächst fällt auf, dass Arbeiter und Kapitalist sich in extrem asymmetrischen Verhandlungspositionen befinden. Das zeigt sich schon daran, dass der Arbeiter ein überragendes, der Kapitalist dagegen nur ein geringes Interesse am Zustandekommen der Übereinkunft hat. Der Kapitalist kann also jederzeit drohen, die Lohnverhandlungen abzubrechen, wozu es der Arbeiter unter keinen Umständen kommen lassen will. Asymmetrische Verhandlungspositionen der beschriebenen Art führen tendenziell zu Übereinkünften, die bestimmte Interessen der Arbeiter nicht wahren, die wir für legitime Interessen halten. Weiterhin nehmen wir an, der Arbeiter habe ein legitimes Interesse, einen höheren Lohn als bloß den zur Subsistenz erforderlichen zu erhalten. Bedingungen, die dieses Interesse regelmäßig frustrieren, halten wir daher für unfair. Darin besteht intuitiv betrachtet der Zusammenhang zwischen Verhandlungspositionen und der Durchsetzung legitimer Interessen. Versuchen wir nun, legitime Interessen genauer zu bestimmen. Innerhalb der rawlsschen Theorie bietet es sich an, das Interesse moralischer Personen an einer hinreichend hohen Grundgüterausstattung als legitimes Interesse zu verstehen. Dabei sind hier nicht sämtliche Grundgüter relevant, sondern allein Chancen und materielle Güter. In Bezug auf materielle Güter besteht das legitime Interesse eines jeden Bürgers demnach darin, ein Lebenszeiteinkommen zu erwirtschaften, das mindestens dem Minimum entspricht, welches das DP gebietet. Faire Verhandlungspositionen bestehen im Hinblick auf ökonomische Güter also darin, dass jeder Bürger mit jedem anderen Bürger Übereinkünfte unter Bedingungen trifft, die tendenziell dazu führen, sein legitimes Interesse an einem ausreichend hohen Lebenszeiteinkommen und -vermögen zu sichern. Um solche Verhandlungspositionen zu schaffen, gibt es vermutlich viele verschiedene institutionelle Mittel: Beispiele sind gesetzliche Vorgaben zur Lohnhöhe, gewerkschaftliche Arrangements, Pflichtversicherungen oder 174
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auch Lohnsubventionen resp. Kombilöhne. Welches dieser Mittel angemessen ist, ist hier nicht weiter relevant und kann vermutlich auch nicht unabhängig von den Traditionen und anderen Besonderheiten einer Gesellschaft entschieden werden. Gehen wir nun auf zwei Einwände ein, die sich gegen das formulierte Verständnis legitimer Interessen aufdrängen: Erstens: Man könnte einwenden, dass unser alltägliches Verständnis des Ausdrucks »legitime Interessen« nicht der Liste der rawlsschen Grundgüter entspricht. Balduin hat ein legitimes Interesse daran, dass Wilhelmina ihm den ausgeliehenen Radiergummi wiedergibt. Ludger hat ein legitimes Interesse daran, den am Morgen begonnen Schneemann fertigzustellen. Weder zurückgegebene Radiergummis noch fertige Schneemänner sind jedoch Teil der Grundgüterliste. Die Interpretation legitimer Interessen als Interessen an einer bestimmten Ausstattung mit bestimmten Grundgütern, widerspricht daher unserem alltäglichen Verständnis des Ausdrucks. Dieser Einwand lässt sich folgendermaßen entkräften: Wir kommen der alltäglichen Verwendungsweise näher, wenn wir statt von legitimen Interessen von grundlegenden legitimen Interessen sprechen. Die Fertigstellung eines Schneemanns oder das Wiedererhalten eines Radiergummis sind wohl im alltäglichen Sinne des Ausdrucks keine grundlegenden legitimen Interessen. Außerdem verwenden wir den Ausdruck »legitime Interessen« als terminus technicus. Gewisse Übereinstimmungen mit dem alltäglichen Gebrauch sind nur insofern relevant, als dass sie nahelegen, diesen und nicht etwa einen anderen Ausdruck zu verwenden. Zweitens: Ein weiterer Einwand besagt, dass unser Verständnis von »legitimen Interessen« von der jeweils vertretenen Auffassung abhängt, was »soziale Gerechtigkeit« bedeutet und nicht anders herum. Die Vorgehensweise, den Begriff der sozialen Gerechtigkeit mithilfe des Begriffs legitimer Interessen zu erläutern, ist demnach grundlegend verkehrt. Dieser Einwand lässt sich folgendermaßen entkräften: Es ist nicht das Ziel der vorangegangenen Argumentation, den Begriff oder gar die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu klären. Die Aufgabenstellung ist beschränkter. Wir fragen, worin der Wert einer Grundstruktur liegt, die mithilfe von angemessenen Prinzipien sozialer Gerechtigkeit reguliert wird. Wenn wir die Regulierungsbedürftigkeit der Grundstruktur mithilfe des Wertes einer Idealentwicklung begründen wollen, so bedarf es dazu – das hat die bisherige Argumentation gezeigt – einer Interpretation legitimer Interessen. Die hier angedeutete Gleichsetzung legitimer Interessen mit Interessen auf eine bestimmte Grundgüterausstattung ist überdies lediglich eine – womöglich nicht alternativlose – Interpretation.
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Faire Übereinkünfte und Chancen Rawls zufolge gehört die Verteilungsstruktur von Chancen in einer Gesellschaft zu den Bedingungen, von denen die Fairness einer Übereinkunft abhängig ist: »[F]airness depends on underlying social conditions, such as fair opportunity[.]« (PL VII §4: 267)
Jedoch macht er nicht deutlich, wie genau diese Beziehung zu verstehen ist. Dass die Verteilung von Chancen irgendetwas damit zu tun hat, ob Übereinkünfte unter fairen Bedingungen stattfinden, leuchtet ein. Der Zusammenhang ist jedoch alles andere als klar. Wir erörtern daher nun, inwiefern sich die Verteilungsstruktur von Chancen auf die Verhandlungspositionen der Bürger bei Übereinkünften auswirkt und damit die Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse betrifft. Dabei gehen wir insbesondere auf Bewerbungsgespräche ein, die einen paradigmatischen Fall von Übereinkünften darstellen, die für eine Idealentwicklung relevant sind. Nun ist die Stärke der Verhandlungsposition eines Bewerbers in einer Gesellschaft, in der formale Chancengleichheit besteht, stark davon abhängig, über welche Qualifikation ein solcher Bewerber verfügt. Wenn Wotan aufgrund der Verteilungsstruktur von Chancen schlechtere Möglichkeiten hatte, eine solche Qualifikation zu erwerben als Hagen, dann ist Wotan tendenziell in einer schlechteren Verhandlungsposition als Hagen. Denn die schlechteren Möglichkeiten für Wotan, die entsprechende Qualifikation zu erwerben, machen es wahrscheinlich, dass er die entsprechende Qualifikation tatsächlich nicht hat. Wir vergleichen hier also die Verhandlungspositionen, in denen sich verschiedene Bewerber um ein Amt relativ zueinander befinden. Das mag zunächst verwundern, da Wotan und Hagen sich ja überhaupt nicht um eine Übereinkunft bemühen, sondern Wotan und Hagen jeweils mit einer weiteren Partei – nennen wir sie Freya – in Verhandlungen treten. Wieso sollten wir also die Verhandlungsposition, die Wotan zu Freya hat, mit der Verhandlungsposition, die Hagen zu Freya hat, vergleichen? Der Grund ist, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der Wotan ein Amt erlangt, davon abhängig ist, welche Qualifikationen Hagen hat. Die Verhandlungsposition eines Bewerbers um ein Amt ist nämlich nicht allein davon abhängig, über welche Qualifikationen er verfügt, sondern auch davon, über welche Qualifikationen alle anderen Bewerber verfügen. Qualifikationen sind damit – wie man in der Ökonomie sagt – positionale Güter. Ein Standardbeispiel für solche Güter sind Doktortitel von Eliteuniversitäten. Das Führen eines solchen Titels stellt nur dann einen Vorteil gegenüber Mitbewerbern dar, wenn diese nicht ihrerseits sämtlich Doktortitel von Eliteuniversitäten haben. 176
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Im Falle einer Gesellschaft, in der keine formale Chancengleichheit herrscht, in der also Ämter und Positionen nicht nach relevanten Kriterien vergeben werden, sondern z.B. auch nach Geschlecht, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit oder Abstammung, ist dieser Punkt noch eindeutiger. Wird eine Person etwa aufgrund ihres Geschlechts in der Besetzung eines Amtes benachteiligt, so befindet sie sich offensichtlich in einer schlechteren Verhandlungsposition. Daher ist auch formale Chancengleichheit resp. Ungleichheit für eine Idealentwicklung relevant. Zwei Einwände gegen diese Auffassung vom Zusammenhang zwischen Chancen und Verhandlungspositionen drängen sich auf. Erstens könnte man einwenden, dass es bei Bewerbungsgesprächen nicht allein um die Fairnessbedingungen von Fällen geht, in denen sich Parteien bereits in einem Bewerbungsgespräch befinden, sondern ebenso um den Zugang zu solchen Bewerbungsgesprächen. Nehmen wir z.B. an, dass Frauen nicht einmal Zugang zu Bewerbungsgesprächen haben. Die Übereinkünfte finden dann nicht allein unter unfairen Bedingungen statt, es kommt nicht einmal zu einer Situation, in der eine Übereinkunft zustande kommen kann. Ämter und Positionen stehen eben nicht allen offen. Dagegen können wir einwenden, dass dieser Fall für unsere Argumentation keinen großen Unterschied macht. Würde sich eine Frau auf ein Amt bewerben, würde diese Bewerbung aufgrund ihres Geschlechts abschlägig beschieden oder ignoriert werden. Das können wir hier genauso behandeln, als hätte eine Übereinkunft stattgefunden, in der sich die Bewerberin in einer extrem schlechten Verhandlungsposition befunden habe und aufgrund ihres Geschlechts abgelehnt worden wäre. Zweitens könnte man einwenden, auch in einer Gesellschaft, in der faire Chancengleichheit verwirklicht ist, befinde sich nicht jeder Bürger gegenüber jedem anderen in Hinsicht auf seine Qualifikation in einer gleich guten Verhandlungsposition: Eine Person mit einem Abschluss in Deutsch und Geschichte befindet sich in einer denkbar schlechten Verhandlungsposition, wenn sie sich auf eine Stelle als Bankmanager bewirbt. Der behauptete Zusammenhang zwischen Chancen und Verhandlungspositionen bestehe daher nicht durchgehend. Diesem Einwand können wir folgendermaßen begegnen: Es liegt an der Entscheidung der Person, diesen Abschluss anstelle eines anderen zu erwerben, und nicht an unfairen sozialen Bedingungen, dass sie sich in einer schlechten Verhandlungsposition befindet. Ein gesellschaftliches Arrangement, das auch solche individuellen Entscheidungen zu revidieren oder auszugleichen vermag und dennoch freie Kooperation verwirklicht, ist m.E. nicht möglich.32 32 Hier muss man nun achtgeben, dass das Modell einer Idealentwicklung nicht mit einer libertären Theorie wie der Nozicks verwechselt wird. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sollen weitgehend Folge der Entscheidungen der Bürger sein, allerdings nur von solchen Entscheidungen, die frei und
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Unabhängigkeit der Argumentation Faire Bedingungen zeichnen sich der entwickelten Argumentation zufolge dadurch aus, dass sie die Durchsetzung der legitimen Interessen der Parteien wahrscheinlich machen. Legitime Interessen sind unserer Interpretation zufolge die Interessen der Bürger auf ein gewisses Maß an Grundgütern. Damit stellt das hier rekonstruierte Argument innerhalb der rawlsschen Theorie keine eigenständige Rechtfertigung dafür dar, die Grundstruktur prinzipiengeleitet zu regulieren. Die Argumentation bleibt nämlich auf die Theorie der Grundgüter angewiesen. Und vom Begriff der moralischen Person ausgehend haben wir im letzten Kapitel bereits ein weniger komplexes Argument dafür entwickelt, die Grundstruktur mithilfe von Gerechtigkeitsgrundsätzen zu regulieren. Dann fragt es sich jedoch, was dadurch gewonnen ist, das vom Begriff einer Idealentwicklung ausgehende Argument so ausführlich darzustellen. Der Vorteil unserer Argumentation wird deutlich, wenn wir uns noch einmal die Fragestellung dieses Kapitels in Erinnerung rufen. Wir haben nicht danach gefragt, wieso die Grundstruktur nach rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien gestaltet werden sollte, sondern, warum die Grundstruktur nach irgendwelchen substantiellen Gerechtigkeitsgrundsätzen kontrolliert werden sollte. Hier bietet der Begriff einer Idealentwicklung eine Antwort, die argumentativ nicht notwendigerweise auf die rawlssche Grundgüterliste angewiesen ist. Wir müssen nämlich lediglich annehmen, dass die Bürger irgendwelche legitimen Interessen in Bezug auf die Besetzung begehrenswerter Ämter und Positionen sowie die Verfügung über materielle Güter haben, um faire Bedingungen zu bestimmen. Wenn eine solche Bestimmung gelingt und wenn eine Idealentwicklung erstrebenswert ist, dann sollte die Grundstruktur prinzipiengeleitet reguliert werden. Die Argumentation ist daher abhängig von der Voraussetzung legitimer Interessen. Sie ist jedoch nicht abhängig von der Interpretation legitimer Interessen als derjenigen Interessen, die Rawls mithilfe der Grundgüter formuliert. Die Überzeugungskraft des von einer Idealentwicklung ausgehenden Arguments ergibt sich außerdem nicht allein daraus, dass den Bürgern bestimmte legitime Interessen zugesprochen werden und eine Idealentwicklung ein Mittel zur Wahrung solcher Interessen wäre. Sie ergibt sich vielmehr aus dem Umstand, dass eine Idealentwicklung einen Wert darstellt. Das legen wir im nächsten Abschnitt ausführlicher dar.
unter fairen Bedingungen getroffen wurden. Genau an dieser Stelle weicht der Begriff einer Idealentwicklung von der nozickschen Theorie ab, indem nicht allein freie Übereinkünfte gefordert werden, sondern darüber hinaus solche, die unter fairen Bedingungen stattfinden. Dazu weiter unten mehr.
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Der Wert einer Idealentwicklung Wenden wir uns nun der Frage zu, wieso es erstrebenswert ist resp. einen Wert darstellt, dass sich die Gesellschaft auf die beschriebene Weise ideal entwickelt. Zur Beantwortung der Frage werden zwei Alternativen zur Regulierung der Grundstruktur skizziert und mit einer Idealentwicklung verglichen. Beide versuchen Gesellschaftsideale zu formulieren, die sich primär oder zumindest auch auf die Verteilung von materiellen Gütern beziehen. Sie beantworten also die Frage, auf welche Weise Einkommen und Vermögen in einer gerechten Gesellschaft verteilt werden sollten. Die erste Alternative bietet Fichtes Modell des geschlossenen Handelsstaates. Dort werden nicht allein die zur Grundstruktur gehörigen Institutionen den Vorgaben von Gerechtigkeitsprinzipien unterworfen. Vielmehr soll jede verteilungs- und produktionsrelevante Handlung gemäß bestimmten Prinzipien sozialer Gerechtigkeit kontrolliert werden.33 Die zweite Alternative bietet Nozicks Anspruchstheorie (entitlement theory) der Gerechtigkeit. Dort wird allein die Verteilungsstruktur einiger Grundrechte prinzipiengeleitet reguliert.34 Die Gerechtigkeit der Verteilungsstruktur materieller Güter lässt sich dagegen vollständig aus der Gerechtigkeit individueller Transaktionen herleiten. In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass die Regulierung der Grundstruktur mit dem Ziel, eine Idealentwicklung wahrscheinlich zu machen, den beiden skizzierten Alternativen überlegen ist. Rawls belässt es im Wesentlichen bei der Bemerkung, eine Idealentwicklung sei eine »auf den ersten Blick attraktive Vorstellung«35 (initially attractive idea). Dennoch können wir im Folgenden vielfach auf seine Ideen zurückgreifen. Fichtes Theorie sozialer Gerechtigkeit In seinem Werk Der geschloßne Handelsstaat sucht Fichte die Frage zu beantworten, »unter welche Gesetze […] der öffentliche Handelsverkehr im Staate zu bringen sei[.]«36 33 Man könnte freilich auch folgende Formulierung verwenden: In Fichtes Modell ist der Begriff der Grundstruktur weiter gefasst als im rawlsschen. Damit würden wir jedoch einen anderen Begriff der Grundstruktur verwenden. Um die Redeweise möglichst einfach zu halten, verzichten wir auf diese Formulierung. – Fichte spricht nicht von sozialer Gerechtigkeit. Da es jedoch um die Verteilung materieller Güter geht, bietet sich der Ausdruck hier an. 34 Nozick spricht nicht von Prinzipien sozialer Gerechtigkeit. Die Grundrechte, die einer jeden Person zustehen, erfüllen aber eine ähnliche Funktion. 35 PL (deutsch): 376. 36 Fichte 1800: 12.
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Dabei entwirft er ähnlich wie Rawls das Ideal eines »Vernunftstaates«, das dazu dienen soll, die tatsächlich existierenden Staaten zu bewerten und Reformen anzuleiten.37 Es geht ihm in meiner Lesart vorrangig um soziale Gerechtigkeit im engeren Sinne und dort wiederum um ökonomische Gerechtigkeit, also die Verteilung materieller Güter. Fichtes Argumentation geht von zwei Grundgedanken aus: Zum einen hat jeder Bürger einen Anspruch auf einen möglichst hohen Lebensstandard, der ungefähr gleich dem Lebensstandard aller anderen Bürger ist. Zum anderen hat jeder Bürger das Recht, einen produktiven Beitrag zur Gesamtwirtschaft zu leisten und in diesem Sinne die Mittel zu seinem Lebensstandard zu verdienen, d.h. als Gegenleistung für seinen produktiven Beitrag zu erhalten. Erläutern wir diese Grundgedanken kurz. Fichte sagt: »Jeder will so angenehm leben, als möglich: und da jeder dies als Mensch fordert, und keiner mehr oder weniger Mensch ist, als der andere, so haben in dieser Forderung alle gleich recht.«38
Jeder Bürger hat einen Anspruch sozialer Gerechtigkeit auf ein möglichst hohes, gleiches Maß an »Annehmlichkeit«. Darunter verstehe ich der Einfachheit halber den Anspruch auf eine gleiche und möglichst hohe Ausstattung mit materiellen Gütern.39 Demnach fordert Fichtes Prinzip 37 Das geht aus folgendem Zitat hervor: »Wer es unternimmt zu zeigen, unter welche Gesetze insbesondere der öffentliche Handelsverkehr im Staate zu bringen sei, hat […] zuvörderst zu untersuchen, was im Vernunftstaate über den Verkehr Rechtens sei; dann anzugeben, was in den bestehenden wirklichen Staaten hierüber Sitte sei; und endlich den Weg zu zeigen, wie ein Staat aus dem letzteren Zustande in den ersteren übergehen könne.« (Fichte 1800: 12; Hervorhebung JW) 38 Fichte 1800: 16. Freilich folgt aus dem Umstand, dass jeder einen Anspruch darauf hat, möglichst angenehm zu leben, nicht, dass jeder einen Anspruch hat, genau oder zumindest ungefähr gleich angenehm zu leben. Ein Verteilungsprinzip wie das DP erfüllt ersteren Anspruch, ohne dass es sich um ein Prinzip strikter Gleichheit handelt. Wir übergehen diese Ungenauigkeit in der Argumentation Fichtes, da sie für die folgenden Ausführungen keine Rolle spielt. 39 Genau genommen hat die individuelle Verteilungsstruktur von »Annehmlichkeit« zwar mit der individuellen Verteilungsstruktur materieller Güter zu tun, ist aber nicht mit ihr identisch. So sagt Fichte: »Es gebührt sich, dass diese Ersparung verhältnismäßig unter alle gleich verteilt werde; daß, wie wir oben sagten, alle gleich angenehm leben. Verhältnismäßig habe ich gesagt, d. h. damit diejenige Art von Kraft und Wohlsein erhalten werde, deren ein jeder für sein bestimmtes Geschäft bedarf. So würde z.B. der Mann, der sich mit tiefem Nachdenken beschäftigt, und dessen Einbildungskraft den Schwung zur Erfindung nehmen soll, nicht einmal seine Notdurft haben, wenn er sich ernähren sollte, wie der Ackerbauer, der Tag für Tag eine
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ökonomischer Gerechtigkeit eine individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter, bei der jeder gleich und möglichst gut gestellt ist.40 Eine solche Verteilungsstruktur materieller Güter planmäßig und kontrolliert hervorzubringen, ist nur durch eine entsprechende Regulierung der Grundstruktur aussichtsreich. Bis hierhin ähnelt Fichtes Argumentation also derjenigen von Rawls. Der zweite Grundgedanke geht jedoch in eine andere Richtung. Fichte schreibt in der Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, als deren Anhang er seine Schrift Der geschloßne Handelsstaat betitelt: »Jeder muss von seiner Arbeit leben können[.]«41
Dabei ist das Wort »von« zu betonen. Jeder Bürger muss mit seiner Arbeit einen produktiven Beitrag zur »Gesamtannehmlichkeit« leisten und in diesem Sinne seinen ihm garantierten Lebensstandard verdienen. Jeder Bürger soll also im Austausch gegen seinen gleichen produktiven Beitrag das gleiche Maß an materiellen Gütern erhalten wie jeder andere. Das wird auch in einem weiteren Zitat deutlich: »Der Zweck aller dieser Arbeiten ist der, leben zu können. Alle […] sind jedem Bürge dafür, daß seine Arbeit diesen Zweck erreichen wird, und verbinden sich zu allen Mitteln dazu von ihrer Seite.«42
Ob z.B. Gottliebs Arbeit als Obstbauer einen produktiven Beitrag zur Gesamtwirtschaft leistet, ist davon abhängig, wie viele weitere Obstbauern im In- und Ausland arbeiten, wie produktiv diese sind, welche Vertriebsnetzwerke bestehen etc. Die Produktivität von Gottliebs Arbeit ist damit nicht allein von seinem Engagement und seinen Fertigkeiten abhängig, sondern von den Handlungen unzähliger weiterer Personen. Soll Gottliebs Arbeit kontrolliert einen produktiven Beitrag leisten, müssen daher die relevanten Tätigkeiten aller anderen Personen entsprechend gesteuert werden. Die planvolle Koordinierung der wirtschaftlichen Tätigkeiten aller Bürger ist nur durch umfassende institutionelle Maßnahmen aussichtsreich. mechanische, nur die körperlichen Kräfte anstrengende Arbeit treibt.« (Fichte 1800: 31f.) Wir werden der Einfachheit halber dennoch davon ausgehen, dass Fichte eine Gleichverteilung materieller Güter fordert. 40 Die egalitären Aspekte der fichteschen Theorie zeigen sich etwa in folgendem Zitat: »Setze man eine bestimmte Summe möglicher Tätigkeit in einer gewissen Wirkungssphäre, als die Eine Größe. Die aus dieser Tätigkeit erfolgende Annehmlichkeit des Lebens ist der Wert dieser Größe. Setze man eine bestimmte Anzahl Individuen, als die zweite Größe. Teilet den Wert der ersteren Größe zu gleichen Teilen unter die Individuen; und ihr findet, was unter den gegebenen Umständen jeder bekommen solle.« (Fichte 1800: 16; Hervorhebung im Original) 41 Fichte 1796: 207. 42 Fichte 1796: 208f.
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Es müssen also Institutionen zur Kontrolle der Produktion geschaffen werden, um jedem Bürger garantieren zu können, dass seine wirtschaftliche Tätigkeit einen produktiven Beitrag zur Gesamtwirtschaft leistet. Außerdem müssen Institutionen zur Kontrolle der Verteilung materieller Güter geschaffen werden, um jedem Bürger garantieren zu können, dass er den gleichen und möglichst hohen Anteil an materiellen Gütern erhält. Fichte skizziert nun eine umfassende Planwirtschaft, die beiden Aufgaben gerecht werden soll. Sieben Aspekte möchte ich kurz beleuchten: Erstens: Die Sicherung des produktiven Beitrags eines wirtschaftlich Tätigen zur Gesamtwirtschaft wird unter anderem dadurch erreicht, dass die Zulassung zu einem Beruf, also das Recht, einen bestimmten Beruf auszuüben, beschränkt wird. Erreicht die Zahl der in einem Beruf Tätigen eine bestimmte Höhe, werden keine weiteren Personen mehr zur Ausübung dieses Berufs zugelassen. Andernfalls droht die Arbeit des Einzelnen unproduktiv zu werden, da das effiziente Verhältnis zwischen den Berufen gestört ist. Zweitens: Auch der Prozess der Warenherstellung unterliegt institutioneller Kontrolle. Die einzelnen Betriebe arbeiten nach einem vorgeschriebenen Plan. Durch einen solchen wird festgelegt, wer wie viele Produkte in welcher Qualität herstellen soll. Bei unterdurchschnittlicher Qualität der Produkte eines Arbeiters muss sich dieser fortbilden. Diese Maßnahme ergibt sich wiederum aus dem Erfordernis, das effiziente Gleichgewicht zwischen den Berufsgruppen zu erhalten. Drittens: Da jeder Berufstätige einen mehr oder weniger gleichen Lohn erhält, durch den er die ihm angemessenen Güter kaufen können soll, bedarf es gesetzlich geregelter Festpreise für Produkte und Rohstoffe. Viertens: Weiterhin fordert Fichte, dass »der Wert [des Geldes] unwandelbar sein wird[.]«43
Das wird durch eine auf Geldwertstabilität verpflichtete Geldpolitik erreicht. Eine solche ist erforderlich, um die Festpreise garantieren zu können. Zur Verhinderung unkontrollierbarer Einflussnahme durch Privatleute oder Unternehmen aus anderen Staaten, fordert Fichte die Einführung eines »Landesgeldes« als einziges Zahlungsmittel. Außerdem fordert er die Abschaffung des »Weltgeldes«, also jeglichen konkurrierenden Zahlungsmittels, dessen Wert nicht staatlich kontrollierbar ist. Das Landesgeld darf aus dem gleichen Grund der Kontrollierbarkeit nicht außer Landes gebracht werden. Fünftens: Durch das Verbot des privaten Außenhandels soll verhindert werden, dass eine nicht unter der Kontrolle des Staates stehende In stanz Einfluss auf die Warenmenge und damit auf das Gleichgewicht zwischen den Berufsgruppen nimmt. So würde etwa ein unvorhergesehener 43 Fichte 1800: 46.
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Anstieg des Imports einer bestimmten Ware zu Lasten der Produktivität der inländischen Hersteller gehen resp. zur Überproduktion führen. Die Zulassung eines solchen Einflusses würde die Kontrollierbarkeit der Produktivität jedes Bürgers unterminieren. Fichtes Vernunftstaat ist aus diesem Grund ein geschlossener Handelsstaat. Sechstens: Die Garantie eines möglichst hohen Lebensstandards führt zu der Forderung nach einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Wirtschaft.44 Siebtens: Schließlich ist die zentrale Kontrolle aller produktiven und distributiven Tätigkeiten erforderlich, da die Zulassung freier, d.h. nicht zentral kontrollierter Transaktionen tendenziell zu einer Verteilungsstruktur der Ungleichheit führt.45 Zusammenfassend: Fichte entwirft auf seinen beiden Grundgedanken resp. Grundforderungen aufbauend ein Modell der umfassenden Regulierung aller wirtschaftlichen Prozesse. Alle Handlungen, die irgendeinen Einfluss auf die Verteilungsstruktur materieller Güter oder die Produktivität von Einzelpersonen haben, sollten Fichte zufolge institutionell kontrolliert werden. Kritik an Fichtes Theorie Eine Idealentwicklung ist dem fichteschen Modell aus verschiedenen Gründen überlegen. Das gilt freilich nur vor dem Hintergrund verschiedener substantieller normativer Annahmen und ist daher nicht als »letztgültige Widerlegung« Fichtes zu verstehen. Die Hauptkritik besteht darin, dass die massiven Eingriffe des Staates in das wirtschaftliche Leben unserem üblichen Freiheitsverständnis, aber auch den höchstrangigen Interessen moralischer Personen widersprechen. Zunächst besteht im fichteschen Idealstaat keine Berufsfreiheit, eine Freiheit die explizit im Bereich dessen liegt, worauf Personen in der rawlsschen Theorie einen Anspruch sozialer Gerechtigkeit haben.46 Die Freiheit der Berufswahl ist außerdem geboten, da das wirtschaftliche oder berufliche Leben vielfach 44 Fichte sagt: »Jedes Volk hat das Recht zu wollen, daß sein Wohlstand sich erhöhe. Dies ist nur dadurch möglich, daß die Arbeitszweige verteilt werden.« (Fichte 1800: 38) Jean–Christophe Merle weist darauf hin, dass die zunehmende Arbeitsteilung über den Zweck der Wohlstandssteigerung hinaus, auch aufgrund von Fichtes Begriff des Fortschritts geboten ist, der in zunehmender Naturbeherrschung liege, vgl. Merle 1994: 265. 45 Letztere Annahme formuliert Fichte zwar nicht ausdrücklich, sie passt aber in seinen Theorierahmen. Auch Rawls und Nozick teilen diese Annahme, wie insbesondere Nozicks Wilt-Chamberlain-Gedankenexperiment nahelegt, vgl. Nozick 1974: 160–164. 46 Vgl. JF §17.2: 58.
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als eine Form der Selbstverwirklichung angesehen wird. Etwas technischer ausgedrückt, moralische Personen haben ein höchstrangiges und in einer Gerechtigkeitstheorie zu berücksichtigendes Interesse, eine Konzeption des Guten zu entwickeln und weitgehend in Übereinstimmung mit dieser zu leben. Das berufliche Leben macht oft einen gewichtigen Teil dessen aus, was gemäß einer Konzeption des Guten für erstrebenswert gehalten wird. Die fehlende Berufsfreiheit im fichteschen Vernunftstaat ist daher für moralische Personen nicht hinnehmbar. Ebenso widerspricht sie wohlüberlegten und weit verbreiteten Wertvorstellungen. Weiterhin ist die Vereinigungsfreiheit in Fichtes Idealstaat nicht gegeben. Denn den Bürgern ist es dort nicht erlaubt, nach eigenem Gutdünken mit anderen zu kooperieren, sei es in wirtschaftlicher, religiöser oder anderer Hinsicht. Diese Freiheit ist deshalb nicht gegeben, weil alle Tätigkeiten der staatlichen Kontrolle unterliegen, die Einfluss auf die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter haben. Da aber fast jedes kooperative Unternehmen, bei dem materielle Güter ausgetauscht werden, irgendwelche Auswirkungen auf die Verteilungsstruktur materieller Güter hat, ist mehr oder weniger jedes kooperative Unternehmen dieser Art im fichteschen Staat der staatlichen Kontrolle unterstellt.47 Man denke nur an Konzerte, bei denen Eintritt verlangt wird, oder einen Verein, in dem eine Weihnachtsfeier stattfindet. Die zentrale Kontrolle solcher Veranstaltungen ist aus Sicht unserer common-sense-Moral ebenso verwerflich wie aus Sicht der Interessen moralischer Personen. Das Modell einer Idealentwicklung besagt dagegen, dass jede Person mit jeder anderen frei und unter fairen Bedingungen Übereinkünfte zur Zusammenarbeit treffen kann. In Hinsicht auf die Vereinigungsfreiheit ist damit eine Idealentwicklung dem fichteschen Modell überlegen. Die Regulierung allein der Grundstruktur nach Gerechtigkeitsprinzipien ist daher aus Sicht der rawlsschen Grundannahmen ebenso wie aus der Perspektive von weit verbreiteten Wertvorstellungen der institutionellen Regulierung aller Handlungen, die einen potentiellen Einfluss auf individuelle produktive Beiträge und die Verteilungsstruktur materieller Güter haben, vorzuziehen. In Fichtes Idealstaat wird der Wert realisiert, von seiner Arbeit leben zu können. Bürger haben die sichere Erwartung, mit ihrer Arbeit einen produktiven Beitrag zum gesamten wirtschaftlichen Geschehen zu leisten und im Gegenzug über ein ausreichendes Maß an materiellen Gütern verfügen zu können. Moralische Personen im rawlsschen Sinne können 47 Damit ist nicht gemeint, dass jedes kooperative Unternehmen plan- und kontrollierbare Auswirkungen hat. Daher widerspricht diese Aussage nicht der früheren Behauptung, die langfristigen Wirkungen individueller Handlungen auf die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter ließen sich nicht planen und kontrollieren.
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eine solche Wertvorstellung haben, müssen es aber nicht. Eine solche Wertvorstellung kann damit Teil ihrer Konzeption des Guten sein, wird aber nicht notwendigerweise von jeder moralischen Person unterstützt. Aus Sicht der common-sense-Moral lässt sich dieser Wert nicht recht einordnen. So ist die Idee der Leistungsgerechtigkeit sicherlich eine weit verbreitete Auffassung. Jedoch dient sie normalerweise der Rechtfertigung von Ungleichheiten: Jeder sollte über materielle Güter in dem Umfang verfügen, wie es seinem produktiven Beitrag zu einem gemeinsamen Unternehmen oder seiner Anstrengung entspricht.48 Dagegen besagt Fichtes Idee: Jeder sollte den gleichen produktiven Beitrag leisten und dafür ein mehr oder weniger gleich hohes Einkommen erhalten. Das Prinzip der Verteilung nach Leistung ist hier zwar noch zu erkennen, entspricht aber kaum mehr den üblichen Vorstellungen, die darauf abzielen, individuelle Unterschiede in Hinblick auf Fähigkeit, Motivation, Anstrengung und Entbehrung bei der Verteilung materieller Güter zu berücksichtigen. Schließlich sollte darauf hingewiesen werden, dass Rawls davon ausgeht, ein wirtschaftliches System, das auch marktwirtschaftliche Elemente umfasst, sei nach wirtschaftswissenschaftlichen common-sense-Vorstellungen effizienter als jedes andere bekannte System.49 Durch passende institutionelle Maßnahmen ist es daher in einem solchen System möglich, die in Bezug auf die Verteilungsstruktur materieller Güter Schlechtestgestellten besser zu stellen als in jedem anderen bekannten Wirtschaftssystem. Fichtes Theorie sozialer Gerechtigkeit wurde hier vor dem Hintergrund der Fragestellung diskutiert, inwiefern es erstrebenswert ist, die Grundstruktur prinzipiengeleitet zu kontrollieren. Der geschlossene Handelsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass dort ein weitaus umfangreicherer Bereich des Sozialen nach Prinzipien der ökonomischen Gerechtigkeit reguliert wird, als das im rawlsschen Modell der Fall ist. Nicht allein die Institutionen der Grundstruktur sind Gerechtigkeitsforderungen unterworfen, sondern zusätzlich alle weiteren Institutionen, die einen Einfluss auf die individuelle Verteilungsstruktur ökonomischer Güter und produktiver Beiträge haben. Die Kontrolle der Grundstruktur mit dem Ziel der Realisierung einer Idealentwicklung ist dem fichteschen Modell aus verschiedenen Gründen überlegen. Der wichtigste liegt in den individuellen Freiheitseinbußen im fichteschen System in Bezug auf die Berufsfreiheit, aber auch in Bezug auf die Freiheit, nach individuellem 48 Vgl. Hinsch 2002: Kap. 8: 239–266. Freilich kann die Idee der Leistungsgerechtigkeit oder zumindest eine verwandte Idee auch verwendet werden, um Ungleichheiten anderer Art einer Kritik zu unterziehen. Cohens marxistische Kritik diagnostiziert das Ausbeuterische der kapitalistischen Produktionsweise darin, dass der Arbeiter als alleiniger Produzent der Waren nicht zugleich alleiniger Besitzer dieser Waren ist, vgl. Cohen 1979. 49 Vgl. TJ §42: 240–242.
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Gutdünken Vereinigungen beizutreten und sich für solche zu engagieren. Eine Idealentwicklung stellt also unter anderem einen Wert dar, weil sie es den Bürgern ermöglicht, nach ihren eigenen Wertvorstellungen Ämter anzustreben sowie Vereinigungen zu gründen und zu unterstützen. Nozicks Anspruchstheorie Vergleichen wir nun das Modell einer Idealentwicklung mit Nozicks Anspruchstheorie der Gerechtigkeit. Der Vergleich drängt sich auf, da beide gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, aber dennoch zu gänzlich unterschiedlichen Anforderungen in Hinsicht auf die Verteilung materieller Güter kommen. Nozicks Theorie fordert, dass distributive Anteile (distributive shares), also die Tatsache, wer über welche materiellen Güter verfügt, eine Folge von freien und strikt eingehaltenen Übereinkünften der Bürger sein sollte. Rawls und Nozick sprechen in diesem Zusammenhang von Transaktionen (transactions) oder Übereignungen (transfers) statt von Übereinkünften (agreements). Für unsere Diskussion macht das keinen sachlichen Unterschied. Denn freie Transaktionen setzen implizite oder ausdrückliche Übereinkünfte voraus. In unserer Terminologie ausgedrückt besagen die hier relevanten Aspekte von Nozicks Anspruchstheorie: Die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter ist genau dann gerecht, wenn sie Ergebnis eines gerechten Verteilungsprozesses ist. Ein Verteilungsprozess ist genau dann gerecht, wenn jede einzelne Transaktion gerecht ist. Eine einzelne Transaktion ist genau dann gerecht, wenn sie in Übereinstimmung mit einer freien Übereinkunft erfolgt. Eine gerechte individuelle Verteilungsstruktur ist also das Ergebnis unzähliger individueller Gütertransaktionen, von denen jede einzelne gerecht ist.50 Und einzelne Gütertransaktionen sind gerecht genau dann, wenn sie die strikte Umsetzung freier Übereinkünfte sind. Damit ist der relevante Unterschied zwischen den Theorien der folgende: Während eine Idealentwicklung freie und faire Übereinkünfte voraussetzt, genügen der nozickschen Theorie zufolge allein freie Übereinkünfte. Das folgt daraus, dass Nozick allein einen Minimalstaat für 50 Zur Bestimmung einer gerechten individuellen Verteilungsstruktur D1 bedarf es also der Bestimmung einer gerechten Ausgangsverteilungsstruktur D0. Nozick schlägt vor, die Gerechtigkeit von D0 durch eine an John Locke angelehnte Theorie der gerechten Aneignung im Naturzustand zu bestimmen. Hier ergeben sich mannigfache Probleme, die wir allerdings nicht weiterverfolgen, da sie für den Vergleich mit dem Modell einer Idealentwicklung keine Rolle spielen, vgl. Nozick 1974: 178–182. Die Prinzipien zur Bestimmung der Gerechtigkeit distributiver Anteile – in Nozicks Terminologie des (moralischen) Anspruchs auf Besitztümer – finden sich in Nozick 1974: 151.
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rechtfertigbar hält. In diesem Minimalstaat sind zwar einige Grundrechte gesichert, es wird jedoch nicht versucht, planvoll und kontrolliert die Verteilungsstruktur materieller Güter zu beeinflussen.51 Anstelle einer differenzierten Auseinandersetzung mit Nozicks Theorie, die für unsere Fragestellung nicht weiter relevant ist, beschränken wir uns auf diesen Aspekt. An Rawls angelehnt sollen nun drei zusammenhängende Gründe dafür genannt werden, warum nicht allein die Freiheit, sondern auch die Fairness von Übereinkünften durch institutionelle Maßnahmen gefördert werden sollte. Erstens: Wenn Übereinkünfte lediglich frei sind und nicht zusätzlich unter fairen Bedingungen stattfinden, können die Bürger die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nach ihren eigenen Wertvorstellungen gestalten und gleichzeitig ihre legitimen Interessen wahren. Zweitens: In einem nozickschen Minimalstaat stellen sich langfristig unfaire Bedingungen ein. Drittens: Individuelles Engagement reicht nicht aus, um faire Bedingungen langfristig zu sichern, und erlegt den Bürgen zu hohe Belastungen auf. Zum ersten Grund: Faire Bedingungen haben wir als faire Verhandlungspositionen interpretiert. Faire Verhandlungspositionen machen es wahrscheinlich, dass die Bürger untereinander Übereinkünfte treffen, die ihre legitimen Interessen zu wahren erlauben. Ein Grund dafür, eine Idealentwicklung anzustreben, liegt also darin, dass dadurch die legitimen Interessen der Bürger gewahrt werden. Ein weiterer Grund dafür ist, dass die Bürger nach ihren eigenen Wertvorstellungen entscheiden können, welchen kooperativen Unternehmen sie sich anschließen. Sie können damit gemeinsam über die Gestaltung privater Vereinigungen entscheiden. Der Unterschied zu Nozicks Modell liegt nun darin, dass die Bürger gleichzeitig ihre legitimen Interessen wahren können. Diese beiden Ziele resp. Werte zusammengenommen können nur dadurch aussichtsreich verwirklicht werden, dass die Freiheit und die Fairness von Übereinkünften durch institutionelle Maßnahmen befördert werden. Eine Idealentwicklung ist damit der nozickschen Anspruchstheorie in Hinsicht auf die parallele Verwirklichung dieser beiden Werte überlegen. Zum zweiten Grund: Müssen tatsächlich institutionelle Maßnahmen zur Sicherung der Fairness von Übereinkünften und damit auch von Transaktionen ergriffen werden? Es ist prinzipiell möglich, dass faire Bedingungen sich tendenziell selbst erhalten, wenn nur einige wesentliche Grundrechte garantiert werden. Man könnte also die empirische These vertreten, dass die Sicherung einiger Grundrechte normalerweise 51 Vgl. Nozick 1974: ix: »Our main conclusions about the state are that a minimal state, limited to the narrow functions of protection against force, theft, fraud, enforcement of contracts, and so on, is justified[.]«
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dazu führt, dass auch Bedingungen wie die Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen fair sind.52 Rawls vertritt jedoch genau die entgegengesetzte These, der zufolge die Ungleichheit der Verteilungsstruktur materieller Güter dahin tendiert, größer zu werden, wenn allein die Freiheit und die strikte Umsetzung von Übereinkünften institutionell gefördert werden. Führen wir das kurz aus. Angenommen die Grundstruktur garantiere die freien Übereinkünften zuträglichen Grundrechte. Stellen wir uns nun vor, alle Bürger befänden sich zu einem Zeitpunkt gegenüber allen anderen Bürgern in fairen Verhandlungspositionen. Sagen wir der Einfachheit halber, materielle Güter seien gleichverteilt. Jegliche individuelle Verteilungsstruktur, die sich nun aus freien und strikt eingehaltenen Übereinkünften resp. aus freien Transaktionen ergibt, ist der nozickschen Theorie gemäß ebenfalls gerecht. Gegen diese Vorstellung wendet Rawls ein: »[T]he overall result of separate and independent transactions is away from and not toward background justice. We might say: in this case the invisible hand guides things in the wrong direction[.]« (PL VII §4: 267)
Rawls vertritt demnach die empirische These, dass Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur materieller Güter in einer Gesellschaft, in der allein einige wesentliche Grundrechte gesichert sind, tendenziell in einem Maße zunehmen, dass die Bedingungen für die Aufrechterhaltung von Hintergrundgerechtigkeit untergraben werden.53 Faire Bedingungen sind nur durch die planvolle Kontrolle der Verteilungsstruktur materieller Güter aufrechtzuerhalten. Und dazu ist es erforderlich, Institutionen wie das Steuersystem auf passende Weise einzurichten.54 Zum dritten Grund: Auch wenn man Rawls darin zustimmt, dass materielle Ungleichheiten tendenziell zunehmen, wenn allein die Grundrechte gesichert sind, kann man dennoch der Ansicht sein, dass es keiner 52 Chancen klammern wir hier der Einfachheit halber aus. 53 Wie Thomas Piketty belegt, gilt die Aussage, dass materielle Ungleichheiten tendenziell zunehmen, sogar für alle westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit, vgl. Piketty 2014. Dort sind jedoch nicht allein die Grundrechte gesichert, sondern es wird auch mehr oder weniger planvoll versucht, die Verteilungsstruktur materieller Güter zu beeinflussen. 54 Oben wurde gesagt, Hintergrundgerechtigkeit bestehe darin, dass die Grundstruktur gerechte Hintergrundbedingungen (background conditions) wahrscheinlich mache. Und gerechte Hintergrundbedingungen bestehen wiederum in bestimmten Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern. Hintergrundgerechtigkeit ist demnach eine Eigenschaft der Grundstruktur. Dagegen legt die zitierte Passage nahe, dass Rawls Hintergrundgerechtigkeit für eine Eigenschaft der Verteilungsstrukturen von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern hält. Rawls’ Position in dieser Frage ist jedoch nicht eindeutig. Das wird in PL VII §4: 266 deutlich.
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institutionellen Maßnahmen bedarf, um langfristig faire Bedingungen aufrechtzuerhalten. Dazu könnte vielmehr weit verbreitetes individuelles Engagement ausreichen. Dagegen vertritt Rawls die Auffassung, dass faire Bedingungen selbst dann langfristig untergraben werden, wenn alle Bürger bemüht sind, ausschließlich faire Transaktionen zu tätigen. Rawls sagt: »Unless [the basic structure] is appropriately regulated and adjusted, an initially just social process will eventually cease to be just, however free and fair particular transactions may look when viewed by themselves.« (PL VII §4: 266)
Weiter unten fährt er fort: »[F]air background conditions may exist at one time and be gradually undermined even though no one acts unfairly when their conduct is judged by the rules that apply to transactions within the appropriately circumscribed local situation.« (PL VII §4: 267)
Nehmen wir also an, alle Bürger tätigten nur solche Transaktionen, deren erwartbare Konsequenzen faire Bedingungen nicht unterminieren. Das verstehe ich darunter, dass jeder fair handelt (acts fairly). In unserer Terminologie besteht damit ein gesellschaftsweites Ethos der Aufrechterhaltung fairer Bedingungen. Rawls sieht jedoch folgendes Problem: Eine Transaktion – etwa eine testamentarische Eigentumsübertragung – könne aus der »lokalen« Perspektive völlig unproblematisch erscheinen. D.h. die erwartbaren Konsequenzen der Eigentumsübertragung führen nicht dazu, dass unfaire Bedingungen entstehen. Aus einer »globalen« Perspektive dagegen, welche die Konsequenzen der Erbschaftspraxis insgesamt auf die Fairness von Übereinkünften betrachtet, kann die Sache anders aussehen. Die Erbschaftspraxis insgesamt kann nämlich dazu führen, dass sich langfristig unfaire Bedingungen einstellen. Das Problem liegt darin, dass Einzelpersonen die Folgen ihrer Transaktionen auf die gesamtgesellschaftliche Verteilungsstruktur materieller Güter nicht abschätzen können. Denn die Folgen einer einzelnen Transaktion sind von den Handlungen resp. Unterlassungen aller anderen Bürger abhängig. Wir können hinzufügen, dass die Regeln für einzelne Transaktionen wie z.B. Erbschaften hin und wieder geändert werden müssen, um langfristig faire Bedingungen aufrechtzuerhalten. Selbst ein gesellschaftsweit verbreitetes Ethos, das bestimmte Handlungsregeln zur Erbschaft enthält, wäre daher weder flexibel noch präzise genug ist, um auf nicht vorhersehbare Gegebenheiten zu reagieren. Schließlich wäre es Rawls zufolge »eine übermäßige, wenn nicht untragbare Belastung«55 (an excessive if not an impossible burden), von Einzelpersonen zu verlangen, nur solche Übereinkünfte zu schließen, die voraussichtlich faire Bedingungen aufrechterhalten: 55 PL (deutsch): 377.
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»These consequences are often so far in the future, or so indirect, that the attempt to forestall them by restrictive rules that apply to individuals would be an excessive if not an impossible burden.« (PL VII §4: 266)
Eine institutionelle Steuerung der Ungleichheiten materieller Güter hat daher auch eine entlastende Funktion. Sie ermöglicht es den Bürgern, ohne Rücksicht auf die langfristigen wirtschaftlichen Konsequenzen ihrer Handlungen in kooperativen Unternehmen ihre persönlichen Ziele zu verfolgen. Darin liegt ein weiterer Grund, warum eine Idealentwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse erstrebenswert ist.56 Wir haben das Modell einer Idealentwicklung mit den Alternativen Fichtes und Nozicks verglichen, um zu prüfen, welchen Wert eine prinzipiengeleitet regulierte Grundstruktur hat. Fichtes geschlossener Handelsstaat ist weniger erstrebenswert als eine Idealentwicklung, da er mit untragbaren Freiheitsbeschränkungen einhergeht. Eine Idealentwicklung ist auch dem Minimalstaat Nozicks überlegen: Wenn die Freiheit und die Fairness von Übereinkünften institutionell befördert werden, können die Bürger im Lichte ihrer eigenen Wertvorstellungen entscheiden, welchen kooperativen Unternehmen sie sich anschließen wollen, und sie können zugleich ihre legitimen Interessen wahren. Außerdem entlastet eine nach angemessenen Prinzipien eingerichtete Grundstruktur die Bürger von der Aufgabe, durch individuelles Engagement faire Bedingungen aufrechtzuerhalten. Bei Fichtes und Nozicks Positionen handelt es sich wohl kaum um weithin anerkannte Auffassungen. Dennoch stellen sie für die hier verfolgte Fragestellung die relevanten Alternativen dar. Denn Fichte plädiert dafür, nicht allein die Grundstruktur mithilfe von Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu regulieren, sondern darüber hinaus so gut wie alle wirtschaftlichen Tätigkeiten der Bürger. Nozick dagegen geht davon aus, dass sich die Gerechtigkeit der Gesellschaft allein daran bemisst, ob einige wesentliche Freiheitsrechte gesichert sind oder nicht. Indem gezeigt wurde, dass eine Idealentwicklung den beiden Alternativen überlegen ist, wurde auch nachgewiesen, dass eine Regulierung allein der Institutionen der Grundstruktur erstrebenswert ist.
56 Diese Ansicht mag jedoch auch ein Auslöser für Cohens Kritik gewesen sein. Die Bürger einer gerechten Gesellschaft, wie Rawls sie beschreibt, sind keine moralischen Helden: Sie kümmern sich nicht weiter um mögliche langfristige Folgen in Hinsicht auf die Vermögensstruktur, denn sie wissen, »that elsewhere in the social system the necessary corrections to preserve background justice are being made.« (PL VII §4: 269) Die Bürger opfern sich nicht für die Gesellschaft, wie man es Cohens Idealbürgern zuschreiben könnte, sondern verfolgen ihre höchstpersönlichen Ziele im Rahmen einer von ihnen für gerecht befundenen Grundstruktur.
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Eine Idealentwicklung als Legitimierungsverfahren Im Folgenden soll der Begriff und der Wert einer Idealentwicklung noch einmal auf eine andere Weise erläutert werden. Der Grundgedanke besteht dabei darin, eine Idealentwicklung als Legitimierungsverfahren für gesellschaftliche Ungleichheiten anzusehen. Soziale Verhältnisse und die mit ihnen einhergehenden Ungleichheiten zwischen Einzelpersonen werden dadurch legitimiert, dass sie das Ergebnis von freien, fairen und strikt eingehaltenen Übereinkünften sind. Die im Folgenden zu entwickelnde Argumentation stellt keine Rekonstruktion der rawlsschen Auffassung dar, auch wenn sie verschiedentlich auf seine Ideen zurückgreift. Legitimität Erörtern wir zunächst den hier verwendeten Begriff der Legitimität.57 Dabei sprechen wir der Einfachheit der Darstellung halber vornehmlich von der Legitimität von Institutionen. Das Gesagte gilt aber ebenso für die Legitimität, mit der eine Person ein Amt besetzt oder über ein bestimmtes Einkommen verfügt. Der Grundgedanke besteht darin, dass legitime Institutionen das Ergebnis eines Legitimierungsverfahrens sind. Unter einem Legitimierungsverfahren verstehen wir einen regelgeleiteten Prozess, der das Ergebnis hat, dass bestimmte Personen eine bestimmte Institution als verbindlich anerkennen. Demnach ist z.B. eine Verfassung legitim, wenn ihre Vorschriften infolge eines regelgeleiteten Prozesses von allen Mitgliedern der Gesellschaft als bindend anerkannt werden. Oder eine Person besetzt legitimerweise das Amt des Bundeskanzlers, wenn ihr dieses Amt infolge eines Verfahrens übertragen wurde, das von allen Mitgliedern der Gesellschaft als angemessenes Legitimierungsverfahren anerkannt wird. Welche Kriterien ein angemessenes Legitimierungsverfahren erfüllen muss, wird im weiteren Verlauf skizziert. Zunächst soll zwischen argumentativen und nicht-argumentativen Legitimierungsverfahren unterschieden werden. Bei einem argumentativen Legitimierungsverfahren besteht der regelgeleitete Prozess in argumentativen Schritten. Ausgehend von bestimmten Wertvorstellungen, von der Anerkennung bestimmter empirischer Fakten resp. wissenschaftlicher Befunde sowie im Zweifelsfall von normierten Begriffen muss jede Person unter Anwendung bestimmter Argumentationsregeln zu dem Ergebnis kommen, dass eine bestimmte Institution für sie verbindlich sei. Ist das der Fall, so ist das argumentative Legitimierungsverfahren erfolgreich. Man könnte auch sagen, in diesem Fall sei die Institution gegenüber jener Person gerechtfertigt. Wir legen definitorisch fest, eine 57 Dabei folge ich im Wesentlichen Hinsch 2010: 44–46 und 2013: 25f.
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Institution sei bereits dann argumentativ legitimiert, wenn jede vernünftige Person, welche die jeweiligen Voraussetzungen – die Anerkennung der Wertvorstellungen, empirischen Fakten etc. – teilt, die entsprechenden argumentativen Schritte nachvollziehen könnte.58 Ein nicht-argumentatives Legitimierungsverfahren kann zunächst in jedem regelgeleiteten Prozess bestehen, der eben nicht argumentativ ist. Typische Beispiele für nicht-argumentative Legitimierungsverfahren sind die Mehrheitsabstimmung, das Werfen einer Münze, aber auch der Zweikampf. Nicht-argumentative Legitimierungsverfahren können nur dann erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten sie anerkennen.59 »Anerkennen« heißt hier, dass alle Beteiligten es für richtig halten, dass das Ergebnis des Verfahrens verbindlich ist, worin auch immer es besteht, und zwar allein deshalb, weil es Ergebnis des entsprechenden Verfahrens ist.60 In vielen Fällen erfolgt die Anerkennung des Verfahrens im Vorhinein, so z.B. bei der parlamentarischen Abstimmung über Gesetzesvorschläge oder der Wahl von Parlamentsmitgliedern. Das ist aber keinesfalls notwendig. Wir können auch eine Institution, die bereits Geltung beansprucht und allein durch argumentative Verfahren nicht zu legitimieren ist, dadurch zu legitimieren suchen, dass wir sie als Ergebnis eines angemessenen nicht-argumentativen Verfahrens ausweisen. Im Fall von Verfassungen scheint das unausweichlich. Denn diese werden anfänglich zwar häufig durch Plebiszite zu legitimieren versucht, jedoch fragt es sich, wieso eine Person durch ein Plebiszit gebunden sein sollte, das vor ihrer Geburt stattgefunden hat.61 58 Das ist freilich bloß eine begriffliche Festlegung. Man kann ebenso der Ansicht sein, eine Institution sei nur dann gerechtfertigt, wenn jede von ihr betroffene Person tatsächlich das entsprechende argumentative Verfahren nachvollzogen hat. 59 »Erfolgreich« in dem Sinne, dass alle Beteiligten die zu legitimierende Institution tatsächlich anerkennen, d.h. faktisch den institutionellen Forderungen gemäß handeln und es zugleich für richtig halten, so zu handeln. Dass alle Beteiligten ein Legitimierungsverfahren anerkennen, impliziert nicht, dass es sich um ein angemessenes oder alles in allem am besten geeignetes Legitimierungsverfahren handelt, es impliziert aber auch nicht das Gegenteil. 60 Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass argumentativ gewonnene Bedingungen ebenfalls erfüllt sein müssen. Wichtig ist aber, dass das Ergebnis des nicht-argumentativen Legitimierungsverfahrens nicht etwa aus dem Grund verbindlich ist, weil es sich argumentativ am besten rechtfertigen lässt oder weil es auch bestimmte substantielle Adäquatheitskriterien erfüllt. Es ist vielmehr allein deshalb verbindlich, weil es faktisches Ergebnis eines nichtargumentativen Verfahrens ist, das alle relevanten Personen anerkennen. 61 Im Fall des deutschen Grundgesetzes hat ein Plebiszit bekanntlich überhaupt nicht stattgefunden.
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Nun treten argumentative und nicht-argumentative Verfahren zumeist in Kombination auf. Dabei sollten erstere einen Vorrang genießen. Das lässt sich mit dem Wert vernünftiger Institutionen begründen.62 Demzufolge ist es erstrebenswert, wenn Institutionen, die Verbindlichkeit beanspruchen, möglichst vernünftig sind. Eine vernünftige Institution ist eine solche, die vernünftig gerechtfertigt werden kann. Dass eine Institution vernünftig gerechtfertigt ist, so haben wir gesehen, heißt nichts anderes, als dass sie Ergebnis eines argumentativen Legitimierungsverfahrens sein könnte, bei dem alle Beteiligten die gleichen relevanten theoretischen und praktischen Überzeugungen teilen. Argumentative Legitimierungsverfahren sollten so weit wie möglich ausgeschöpft werden, bevor es zulässig ist, zu nicht-argumentativen Legitimierungsverfahren überzugehen. Letzteres ist nur dann erforderlich und zulässig, wenn es begründete Meinungsverschiedenheiten über die Vernünftigkeit einer Institution gibt, oder man könnte auch sagen, wenn argumentative Legitimierungsverfahren nicht zu eindeutigen Ergebnissen führen. Das ist jedoch, wie die rawlsschen Kriterien begründeter Meinungsverschiedenheiten nahelegen, in liberalen Gesellschaften ständig der Fall. Führen wir das kurz aus. Rawls geht davon aus, dass moderne liberale Gesellschaften mit dem oben bereits erwähnten Faktum des vernünftigen Pluralismus einhergehen. Dieses Faktum besteht darin, dass sich im Rahmen freier Institutionen normalerweise verschiedene umfassende Lehren des Guten (comprehensive doctrines) entwickeln, die einander widersprechen, jedoch gleichwohl jeweils vernünftig sind.63 Zwischen umfassenden Lehren können in Bezug auf einzelne, vor allem normative, Fragen begründete Meinungsverschiedenheiten auftreten. Zwei Personen haben bezüglich einer bestimmten Frage begründete Meinungsverschiedenheiten, wenn sie jeweils die eigene Antwort der anderen begründetermaßen vorziehen: Keine der Personen kann die andere mit den Mitteln der vernünftigen Argumentation von ihrer Antwort überzeugen. Beide 62 Eine andere Begründung liefert Hinsch 2013: 26: »Given the need to justify political authority, moral argument and justice are prior to the non-argumentative forms of decision-making. Whether a particular political procedure (say voting or lottery) is a fair or just procedure is not itself to be decided by voting or by lottery. It is to be determined by substantive argument.« Auch diese Begründung muss jedoch davon ausgehen, dass vernünftige Rechtfertigung erstrebenswert ist. Wer die Notwendigkeit resp. das Bedürfnis (need) nicht sieht, politische Macht argumentativ zu rechtfertigen, wird auch vom Vorrang argumentativer Legitimierungsverfahren nicht überzeugt sein. 63 Eine moralische Lehre resp. eine Konzeption des Guten ist Rawls zufolge umfassend, »when it includes conceptions of what is of value in human life, and ideals of personal character, as well as ideals of friendship and of familial and associational relationships, and much else that is to inform our conduct, and in the limit to our life as a whole.« (PL I §2.1: 13)
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Personen haben jedoch jeweils Gründe für die Überlegenheit ihrer eigenen Antwort. Vernünftige Argumentation bietet daher in solchen Fällen kein reproduzierbares Verfahren, mithilfe dessen sich eindeutige Ergebnisse erzielen ließen.64 Rawls nennt nun ohne Anspruch auf Vollständigkeit verschiedene Quellen (sources) vernünftiger Meinungsverschiedenheiten.65 Vier seien hier mit leichten Abwandlungen skizziert: Erstens: Empirische Daten sind oft komplex und können vor allem verschieden bewertet werden. Insbesondere in Bezug auf sozialpolitische Entscheidungen kann das zu begründeten Meinungsverschiedenheiten führen. Zweitens: Sowohl im praktischen als auch im theoretischen Beurteilen müssen wir Gründe gewichten. Verschiedene Gewichtungen führen oftmals zu begründeten Meinungsverschiedenheiten. Die hochkomplexe Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften sowie das Zusammenleben verschiedener Kulturen machen es überdies wahrscheinlich, dass Gewichtungen unterschiedlich vorgenommen werden. Drittens: Unsere nicht-normierten Wörter haben »unscharfe Grenzen«. Ob z.B. ein Gepard ein Haustier ist, hängt vom Gebrauch des Wortes »Haustier« ab.66 Im Falle von normativen Fragestellungen sind wir oft auf den nicht-normierten Gebrauch von Wörtern angewiesen, entsprechend kommt es hier häufig zu begründeten Meinungsverschiedenheiten. Viertens: Wertkonflikte sind allgegenwärtig. Das zeigt sich schon an trivialen Beispielen.67 Wer ein Stück von Beethoven hört, kann normalerweise 64 Dieses Kriterium ist an dem Larmores orientiert: »[R]easonable disagreement is both reasonable, the different sides each holding justified positions, and an instance of disagreement, the different sides presuming that there is a correct answer to the question that divides them.« (Larmore 2015: 69f.) Larmore spricht von vernünftigem Dissens (reasonable disagreement) statt von begründeten Meinungsverschiedenheiten. Ich ziehe letzteren Ausdruck vor, da »vernünftig« auch normative Assoziationen weckt, die ich wie Larmore vermeiden möchte, vgl. Larmore 2015: 72–74. Damit ziehe ich ein strengeres Kriterium heran als Rawls. Dieser sagt schlicht: »reasonable disagreement is disagreement between reasonable persons[.]« (PL Il §2.2: 55) Dieses Kriterium überzeugt schon deshalb nicht, weil sich auch vernünftige Personen hin und wieder irren. 65 Vgl. PL Il §2.2: 55: »The idea of reasonable disagreement involves an account of the sources, or causes, of disagreement between reasonable persons so defined.« 66 Rawls zufolge sind dagegen »alle« Wörter vage. Demgegenüber kann man konstatieren, dass sich der Gebrauch von Worten im wissenschaftlichen Kontext durchaus eindeutig normieren lässt, vgl. PL II §2.3: 56. 67 Und nicht nur – wie Isaiah Berlin und mit ihm Rawls annehmen – im Falle »hoher Werte« wie Schönheit oder Wissen, vgl. Berlin 2013; PL Il §2.3: 57.
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nicht gleichzeitig mit Genuss ein Stück von Bach hören. Ein Ehepaar kann normalerweise nicht ein Konzert besuchen und gleichzeitig gemeinsam Spaghetti Bolognese kochen. Das eine schließt das andere aus. Beides kann jedoch ein für wertvoll erachteter Zweck sein. Die Bürger liberaler Gesellschaften entwickeln – so die rawlssche These – nach einer gewissen Zeit eine Vielzahl vernünftiger umfassender Lehren. Damit geht eine Vielzahl von begründeten Meinungsverschiedenheiten einher, wie Institutionen gestaltet werden sollten und wie Ämter innerhalb von Institutionen besetzt werden sollten. In liberalen Gesellschaften bedarf es daher immer wieder angemessener Legitimierungsverfahren. Wir können abschließend festhalten, dass die Legitimierung einer In stitution oder eines Amtsinhabers üblicherweise in drei Schritten geschehen sollte: Erstens: Der Versuch, eine Institution durch argumentative Verfahren zu legitimieren. Zweitens: Die Feststellung begründeter Meinungsverschiedenheiten darüber, welches die beste Gestaltung der jeweiligen Institution ist. Drittens: Die Anwendung eines angemessenen nicht-argumentativen Verfahrens zur Legitimierung einer der verschiedenen gleichermaßen vernünftigen Gestaltungen der jeweiligen Institution. Die Legitimierung von Ungleichheiten Entwickeln wir nun das Argument für den Wert einer Idealentwicklung. Mit Rawls gehen wir davon aus, dass in modernen Gesellschaften gewisse Ungleichheiten bestehen: Die Existenz von Ämtern und Positionen etwa bedeutet, dass einige Personen Privilegien genießen, derer andere entbehren. Aus dem DP geht darüber hinaus hervor, dass gewisse Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur von Einkommen und Vermögen auch in einer gerechten Gesellschaft bestehen dürfen. Wir nehmen nun an, dass solche Ungleichheiten rechtfertigungsbedürftig sind.68 Ein bereits erwähntes Argument ist, dass Ungleichheiten in der Verteilungsstruktur von materiellen Gütern gerechtfertigt sind, wenn sie allen Bürgern zugutekommen. Das Gleiche gilt für die Struktur von Ämtern und Positionen. Denn eine Gesellschaft ohne ein differenziertes System von Ämtern und Positionen kann vermutlich weder eine effiziente Wirtschaft, noch eine effiziente Verwaltung, noch ein effizientes Erziehungssystem einrichten. Außerdem schafft die Existenz von Ämtern und Positionen Rawls spricht dort von dem Zwang der Wahl zwischen »cherished values«, Berlin von »Great Goods«. 68 Vgl. Hinsch 2002 und 2003.
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sichere Erwartungen darüber, was andere Personen tun werden. Solche Erwartungen sind für die mehr oder weniger planvolle Lebensführung der Bürger erforderlich. Nehmen wir also an, einige Ungleichheiten dieser Art seien im Prinzip rechtfertigbar, d.h. nicht jegliche Ausprägung von Ungleichheiten dieser Art ist gerechtfertigt, aber einige sind es. Dann fragt es sich weiter, wie weit solche Ungleichheiten gehen sollten resp. welche Struktur sie haben sollten. Der Einfachheit halber nehmen wir an, jeder Bürger halte die rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien für richtig. Jeder Bürger ist demnach überzeugt von der Richtigkeit des DP und von der Notwendigkeit der Existenz verschiedener Ämtern und Positionen.69 Selbst wenn jedoch Einigkeit über solche abstrakten Prinzipien besteht, kann immer noch Uneinigkeit über deren konkrete Umsetzung bestehen. Damit ist Folgendes gemeint: Das DP macht lediglich Vorgaben in Bezug auf die kollektive Verteilungsstruktur, nicht aber in Bezug auf die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter. Es beantwortet damit nicht die Frage, welche Personen welche Positionen in der Einkommens- und Vermögensstruktur einnehmen sollten. Es sagt also nicht, ob z.B. Kunibert die Einkommensposition der Schlechtestgestellten einnehmen sollte und Ludmilla die Position der Bessergestellten oder andersherum. Die Gerechtigkeitsgrundsätze lassen auch offen, welches Einkommen mit welchen Aufgaben verbunden sein sollte. So sagen sie nicht, ob Manager mehr verdienen sollten als Ingenieure. Schließlich bleibt offen, welche Ämter mit welchen Privilegien verknüpft sein sollten, ob z.B. Lehrer einen Anspruch auf ein Büro mit Aussicht haben sollten oder ob das Amt des Staatsanwalts mit dem Anspruch auf einen Chauffeur verbunden sein sollte. Nun liegt es angesichts der Quellen für begründete Meinungsverschiedenheiten nahe, dass sich über diese Fragen mit den Mitteln vernünftiger Argumentation allein keine Einigung erzielen lässt. Das liegt nicht daran, dass keine vernünftige Argumentation möglich wäre. Das Problem ist vielmehr, dass viele Argumentationen möglich sind, die zu verschiedenen Ergebnissen führen und gleichermaßen vernünftig sind. Rawls jedenfalls scheint davon auszugehen, dass sich Einigkeit, wenn überhaupt, über abstrakte Gerechtigkeitsprinzipien wie das DP oder die damit verbundene prinzipielle Zulassung von Ungleichheiten in der Struktur von Ämtern und Positionen erzielen lässt. Jedoch können wir mithilfe argumentativer 69 Dabei kommt es in der folgenden Argumentation nicht darauf an, dass das DP fordert, die Position der Schlechtestgestellten zu maximieren. Es kommt auch nicht darauf an, dass das DP unserer Interpretation zufolge die Verteilungsstruktur materieller Güter regelt. Wichtig ist lediglich, dass es sich beim DP um ein Verteilungsprinzip handelt, das Ungleichheiten in der kollektiven Verteilungsstruktur von Vorteilen zulässt und das keine näheren Vorgaben zur individuellen Verteilungsstruktur macht.
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Mittel keine Einigkeit über die Frage erzielen, auf welche Weise die Ämter und Positionen einzelner Institutionen gestaltet sein sollten und welche konkreten Einzelpersonen sie besetzen sollten.70 Im Lichte der oben entwickelten drei Schritte zur Legitimierung von Institutionen gilt es nun, nach einem passenden nicht-argumentativen Legitimierungsverfahren zu suchen. Dabei geht es uns nicht allein um die Legitimierung der konkreten Ausgestaltung von Institutionen, sondern allgemeiner um die Legitimierung sozialer Verhältnisse und die mit ihnen einhergehenden Ungleichheiten. Das Modell einer Idealentwicklung lässt sich als ein solches nicht-argumentatives Verfahren zur Legitimierung von sozialen Verhältnissen verstehen: Die Tatsache, wer welches Amt einnimmt, wie die Ämter gestaltet sind und wer über welche materiellen Güter verfügt, sollte demnach Folge eines faktischen Prozesses freier, fairer und strikt eingehaltener Übereinkünfte sein. Versteht man eine Idealentwicklung als Legitimierungsverfahren, dann sind diejenigen sozialen Verhältnisse legitim, die in Übereinstimmung mit freien, fairen und strikt eingehaltenen Übereinkünfte zustande gekommen sind. So ist bspw. Ludmilla legitimerweise in der Position der Bessergestellten, wenn diese Tatsache ein Ergebnis freier, fairer und strikt eingehaltener Übereinkünfte ist. Lehrer haben legitimerweise einen Anspruch auf ein Büro mit Aussicht, wenn die Bürger sich frei und unter fairen Bedingungen darauf geeinigt haben. Unter den Begriff der sozialen Verhältnisse fällt auch die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter. Eine Person besitzt legitimerweise bestimmte materielle Güter, wenn sie diese durch freie, faire und strikt eingehaltene Übereinkünfte erhalten hat. Trifft das auf alle Personen zu, so ist die individuelle Verteilungsstruktur materieller Güter legitim. Die Legitimierung sozialer Verhältnisse ist ein weiterer Grund dafür, eine Idealentwicklung anzustreben. Denn eine solche führt dazu, dass prinzipiell wünschenswerte Ungleichheiten auch in ihrer konkreten Ausprägung von allen Bürgern als legitim anerkannt werden. Das gilt freilich nur für den Fall, dass alle Bürger eine Idealentwicklung als geeignetes nicht-argumentatives Verfahren zur Legitimierung gesellschaftlicher Verhältnisse anerkennen. Bleibt noch anzumerken, dass eine Idealentwicklung nicht die einzige Möglichkeit eines solchen Verfahrens darstellt. Man könnte über die Besetzung von Ämtern auch mittels eines Zufallsverfahrens entscheiden oder demokratisch abstimmen. Letzteres 70 Hier gehen die Positionen in TJ und PL auseinander. In TJ scheint Rawls zu vertreten, dass allein die beiden von ihm entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien vernünftig sind. In PL dagegen geht er davon aus, dass es eine Familie vernünftiger liberaler Konzeptionen der sozialen Gerechtigkeit gibt, die verschiedene Gerechtigkeitsgrundsätze enthalten, vgl. PL: xlvi–xlvii und Hinsch 2015.
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ist bekanntlich in demokratischen Gesellschaften bei vielen politischen Ämtern der Fall. Es ist auch nicht erforderlich, dass ein einziges Verfahren für alle sozialen Bereiche gleichermaßen gilt. Eine Idealentwicklung erscheint aber zumindest für viele Bereiche angemessen. Die Vernünftigkeit von Übereinkünften Oben wurde gesagt, dass argumentative Verfahren einen Vorrang gegenüber nicht-argumentativen Verfahren genießen sollten. Auch im Hinblick auf eine Idealentwicklung ist es einleuchtend, dass sich die sozialen Verhältnisse nicht allein in Übereinstimmung mit irgendwelchen Übereinkünften, sondern in Übereinstimmung mit vernünftigen Übereinkünften entwickeln sollten. Die Institutionen der Grundstruktur sollten daher nach Möglichkeit nicht allein die Freiheit, die Fairness und die strikte Einhaltung von Übereinkünften wahrscheinlich machen, sondern darüber hinaus auch deren Vernünftigkeit. Dazu sollten sie die Fähigkeit eines jeden Bürgers befördern, vernünftige Entscheidungen resp. Übereinkünfte treffen zu können. Dabei wird der Ausdruck »Vernünftigkeit« hier in einem vom rawlsschen Gebrauch abweichenden Sinne verwendet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist eine vernünftige Übereinkunft eine solche, bei der die Parteien erstens in der Lage sind, die Konsequenzen der Übereinkunft abzuschätzen; bei der sie zweitens in der Lage sind, logische Schlüsse zu ziehen, Begriffe konsistent anzuwenden und im Allgemeinen ihre Vernunft zu gebrauchen; und bei der sie drittens hinsichtlich des Inhalts der Übereinkunft wohlinformiert sind. Das erste Merkmal vernünftiger Übereinkünfte wurde bereits als Kriterium freier Übereinkünfte berücksichtigt. Die beiden anderen Merkmale dagegen werden in der rawlsschen Theorie nicht berücksichtigt. Die Bürger sollten demnach über bestimmte Fähigkeiten des vernünftigen Argumentierens sowie über die Fähigkeit, sich selbständig zu informieren und sich in für ihre Übereinkünfte relevante Themengebiete einarbeiten zu können, verfügen. Um wahrscheinlich zu machen, dass jeder Bürger über diese Fähigkeiten verfügt, ist an das Bildungssystem einer gerechten Gesellschaft die Aufgabe zu stellen, jedem den Zugang zum Erwerb solcher Fähigkeiten zu verschaffen. Womöglich geht damit auch eine substantielle Veränderung eines angemessenen Begriffs der Grundstruktur einher. Es liegt nahe, auch diejenigen Institutionen zur Grundstruktur zu rechnen, welche die individuelle Verteilungsstruktur von »Bildungsgütern« verursachen. Dieses Kapitel sollte zeigen, dass es allein die Institutionen der Grundstruktur sind, die wir mithilfe von Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bewerten und gegebenenfalls reformieren sollten. Denn nur auf diese Weise lässt sich eine ideale Entwicklung sozialer Verhältnisse wahrscheinlich 198
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machen. Eine solche Idealentwicklung ist erstrebenswert, denn sie überlässt die Gestaltung sozialer Verhältnisse weitgehend den gemeinsamen Entscheidungen der Bürger. Gleichzeitig wahrt sie deren legitime Interessen. Weiterhin entlastet die prinzipiengeleitete Regulierung der Grundstruktur die Bürger, denn sie müssen nicht jede wirtschaftliche Entscheidung auf ihre gesamtgesellschaftlichen Konsequenzen hin untersuchen. Schließlich lässt sich eine Idealentwicklung sozialer Verhältnisse als Legitimierungsverfahren notwendiger sozialer Ungleichheiten ansehen.
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Schlussbemerkung Soziale Gerechtigkeit betrifft die Verteilung von Grundrechten, Chancen und materiellen Gütern in der gesamten Gesellschaft. Von dieser Voraussetzung sind wir in den ersten beiden Teilen ausgegangen. Da eine solche Verteilung allein mithilfe der Institutionen der Grundstruktur planvoll und kontrolliert beeinflusst werden kann, hat sich die Grundstruktur als angemessener Gegenstand sozialer Gerechtigkeit erwiesen. Es hat sich ebenfalls gezeigt, dass der Einfluss der Grundstruktur auf das Ethos der Gesellschaft wesentlich für deren Gerechtigkeit ist. Dabei musste offenbleiben, wie genau das geforderte liberale Ethos beschaffen ist. In Zeiten zunehmender politischer Polarisierung erscheint die Entwicklung einer hinreichend klaren Definition und die damit einhergehende liberale Selbstvergewisserung jedoch eine lohnende, an dieses Buch anschließende Aufgabe. Mithilfe der entwickelten Definition konnten wir hinreichend scharf zwischen der Grundstruktur als Gegenstand sozialer Gerechtigkeit und den Gegenständen anderer Normen unterscheiden. Unsere moralische Praxis ist auf solche Unterscheidungen angewiesen. Unterscheidungen wie die zwischen den Gegenständen privater Wohltätigkeit und sozialer Gerechtigkeit sind keine bloße Begriffsspielerei. Denn als Bürger sehen wir uns verschiedenen moralisch bedeutsamen Problemstellungen gegenüber. Zu deren Lösung bedürfen wir verschiedener Strategien. So erfordert beispielsweise die Armut einer konkreten Person eine andere Lösungsstrategie als die Armut einer Personengruppe. Diese wiederum erfordert eine andere Lösungsstrategie als die Reform der institutionellen Regeln, die langfristig für die Verbreitung resp. Verhinderung von Armut in der gesamten Gesellschaft verantwortlich sind. Die Grundstruktur ist der Ansatzpunkt zur Bewältigung von Problemen wie dem zuletzt Genannten. Soziale Gerechtigkeit bewertet damit in bestimmter Hinsicht die Gesellschaft als Ganze. Darin liegt das Soziale an sozialer Gerechtigkeit. Verschiedene soziale Probleme haben m.a.W. verschiedene Adressaten, die zu deren Lösung infrage kommen. Philosophisch gewonnene Unterscheidungen wie diese können dazu beitragen, erfolgversprechende von aussichtslosen Ansätzen zu unterscheiden. Dies gilt nicht allein für Fragen sozialer Gerechtigkeit, sondern auch für Kollektivprobleme anderer Art, man denke nur an die Verteilung der Vorteile und Lasten der globalen CO2-Emissionen. Im dritten Teil wurde auf die besondere normative Relevanz der Grundstruktur hingewiesen. Bestimmte Werte können wir allein dadurch aussichtsreich verwirklichen, dass wir die grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft angemessen regulieren. Einer dieser Werte 200
SCHLUSSBEMERKUNG
besteht darin, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse in Übereinstimmung mit den gemeinsamen Entscheidungen der Bürger entwickeln. Eine passende Regulierung der Grundstruktur begünstigt den Umstand, dass es sich dabei um freie und vernünftige Entscheidungen handelt, die unter fairen Umständen getroffen werden und zu Übereinkünften führen, die normalerweise eingehalten werden. Wie herausgearbeitet wurde, begünstigt eine angemessen regulierte Grundstruktur den Umstand, dass die Bürger eine tatsächliche Wahl haben und nicht durch den Zwang der Verhältnisse der meisten wünschenswerten Alternativen beraubt werden. Welche spezifischeren Werte und Bestrebungen die Bürger bei ihren kooperativen Unternehmen verfolgen, ist dabei aus Sicht einer liberalen Auffassung für die Gerechtigkeit der Gesellschaft irrelevant. Der Wert einer gerechten Gesellschaft liegt – vielleicht nicht allein, aber zumindest auch – darin, eine ideale Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse und ein Selbstverständnis der Bürger als Freie und Gleiche zu fördern. Unsere Diskussion des Zusammenhangs der Legitimität einer Übereinkunft mit den grundlegenden Institutionen einer Gesellschaft hat überdies aufgedeckt, dass Rawls den Aspekt der Vernünftigkeit einer Übereinkunft vernachlässigt. Vernünftige Entscheidungen liegen offensichtlich im Interesse eines jeden Bürgers. Die Grundstruktur – begrifflich erweitert um die entsprechenden Institutionen – sollte demnach auf eine Weise eingerichtet werden, durch welche die Vernünftigkeit von Übereinkünften wahrscheinlicher gemacht wird. Eine solche Ergänzung der Funktion und des Begriffs der Grundstruktur würde sich nicht allein kohärent in die rawlssche Theorie einfügen, sondern auch den Wert einer gerechten Grundstruktur reflektieren, eine gesellschaftliche Idealentwicklung wahrscheinlicher zu machen.
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