Das Ermessen des Bundeskartellamtes zur Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot [1 ed.] 9783428543557, 9783428143559

Das Bundeskartellamt kann gem. §§ 47 OWiG, 81 GWB nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob es ein Kartell verfolgt u

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Das Ermessen des Bundeskartellamtes zur Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot [1 ed.]
 9783428543557, 9783428143559

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Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 255

Das Ermessen des Bundeskartellamtes zur Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot Von

Beatrice Fischer

Duncker & Humblot · Berlin

BEATRICE FISCHER

Das Ermessen des Bundeskartellamtes zur Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot

Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 255

Das Ermessen des Bundeskartellamtes zur Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot

Von

Beatrice Fischer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-026X ISBN 978-3-428-14355-9 (Print) ISBN 978-3-428-54355-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84355-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für José

„Macht ist Pflicht – Freiheit ist Verantwortlichkeit.“ Marie von Ebner-Eschenbach

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Mai 2013 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Die Disputation fand im Dezember 2013 statt. Für die Druckfassung konnten Rechtsprechung und Literatur sowie neuere Entwicklungen in der kartellbehördlichen Praxis, insbesondere die auf den Grauzement-Beschluss des Bundesgerichtshofes zurückgehenden, neuen Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes vom 26. Juni 2013, bis Ende Dezember 2013 berücksichtigt werden. Die Promotionsphase war für mich eine zugleich herausfordernde und persönlich bereichernde Erfahrung. In dieser Zeit bin ich von vielen Menschen unterstützt worden. Einigen von ihnen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich danken. Besonderer Dank gebührt zunächst meinem Doktorvater Professor Dr. Ulrich Ehricke, LL.M., der mich trotz des Umfangs des von mir gewählten Forschungsthemas von Anfang an vorbehaltlos in meinem Vorhaben bestärkte und mir einen großen Freiraum bei der Erstellung der Dissertation gewährte. Professor Dr. Jürgen F. Baur danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Wertvolle fachliche Anregungen und Denkanstöße verdanke ich zahlreichen konstruktiven Gesprächen mit Daniela Fuchs, Katharina Klooz und Silke Heinz. Von großem Wert war für mich ferner die Unterstützung von Birgit Schachtner und Daniela Fuchs bei der Endredaktion. Ihnen bin ich für ihre gründliche und kritische Durchsicht des Manuskripts und darüber hinaus vor allem für ihre treue Freundschaft zu tiefstem Dank verpflichtet. Desgleichen möchte ich meinen Eltern danken, die mich in jeder Phase meines Lebens ideell und – soweit es möglich und notwendig war – materiell unterstützt haben. Mein Bruder Michael hat während meiner Ausbildung stets im rechten Augenblick die richtigen Worte gefunden. Ihm bin ich nicht nur deshalb sehr verbunden. Mein größter persönlicher Dank gilt jedoch José. Seine Liebe und sein unerschütterlicher Optimismus, sein Humor und sein Rückhalt sind ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens und Wirkens. Ihm ist diese Schrift von Herzen gewidmet. Köln, im Januar 2014

Beatrice Fischer

Inhaltsübersicht Einleitung

27

§ 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

§ 2 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

§ 3 Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Teil 1 Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

37

§ 1 Die verwaltungsrechtliche Ermessenskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Bedeutung des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verortung des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Steuerung der Ermessensausübung und Ermessensreduzierung . . . . . . . . . . . D. Beschränkte gerichtliche Kontrolle – Die Ermessensfehlerlehre . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 40 41 45 50 51

§ 2 Modifizierte Ermessenskonzeption im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht A. Gelockerte Gesetzesbindung? – Der Einfluss des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . B. Letztentscheidungskompetenz? – Die gerichtliche Kontrolle im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 53

§ 3 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

66

Teil 2 Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

74

§ 1 Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zuständigkeit des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Notwendiger Kenntnisstand des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Kein Verfahrenshindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Folgen fehlender Verfahrensvoraussetzungen und bestehender Verfahrenshindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75 76 77 80

§ 2 Theoretische Reichweite des Verfolgungsermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Alternativen zum Bußgeldverfahren und zu dem Erlass einer Geldbuße . . . B. Beschränkung der Reichweite des Bußgeldverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 90 94

89

10

Inhaltsübersicht C. Adressatenbezogene Entscheidungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

§ 3 Relevante heteronome Begrenzungen des Verfolgungsermessens . . . . . . . . . A. Ermessensbindung durch die europäische Kartellrechtspraxis . . . . . . . . . . . . B. Ermessensbindung an den Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 4 Die einen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigenden Ermessenskriterien aus der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamtes . . . . . . . . A. Vorüberlegung: Der Rückgriff auf die Rechtsgedanken der §§ 153 ff. StPO zur Bestimmung der unteren Ermessensgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die geringe Bedeutung der Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot . . . . C. Die unverzügliche Einstellung wettbewerbswidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . D. Wettbewerbsfremde, rechtspolitische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Vereinfachung und Beschleunigung von Bußgeldverfahren durch Settlements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Aufdeckung und Zerschlagung von Kartellen durch aktive Aufklärungsbeiträge im Rahmen der Bonusregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

102 103 111 155 156 157 158 173 183 186 297 327

§ 5 Fazit zum Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Teil 3 Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

333

§ 1 Überblick über das allgemeine Bußgeldrecht: Die Phasen der Bußgeldzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 A. Erste Phase: Bestimmung des Bußgeldrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 B. Zweite Phase: Konkrete Bußgeldzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 § 2 Die heteronomen Grenzen des Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die „Bußgeldrahmen“ für Kartell-Ordnungswidrigkeiten gemäß § 81 Abs. 4 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die relevanten Zumessungskriterien im Kartellbußgeldrecht . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

340 372 413

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens durch die Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Qualifikation der Bußgeldleitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Bußgeldleitlinien vom 15.09.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Bußgeldleitlinien vom 25.06.2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

414 415 416 459 480

340

§ 4 Fazit zum Sanktionszumessungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482

Inhaltsübersicht

11

Teil 4 Gesamtbewertung des Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamts 486 § 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . A. Geringe gesetzliche Vorbestimmung der Ermessensausübung durch offene Ermessensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Maßgebliche Prägung der Ermessensausübung im Bußgeldverfahren durch Verwaltungsgrundsätze des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Bedeutender Einfluss der Kommissionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Fokus der Ermessensausübung auf Abschreckung und Effizienz . . . . . . . . . . E. Marginale ermessensbegrenzende Wirkung durch höherrangiges Recht und unzureichender Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Fazit: Weiter Ermessensspielraum und Funktionenballung beim Bundeskartellamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 2 Das Ermessen des Bundeskartellamtes im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Grundlagen und Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . B. Ausgestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes: Die Kernkompetenzen der drei Staatsgewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Maßstäbe zur Abgrenzung der Kernkompetenzen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . D. Kernkompetenzverschiebungen im Kartell-Bußgeldverfahren? . . . . . . . . . . . E. Praktische Konsequenzen des Kompetenzzuwachses beim Bundeskartellamt F. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Verbesserungsvorschläge de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Implementierung eines überzeugenden und fest begrenzten Bußgeldrahmens für juristische und natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gesetzliche Normierung der Rahmenbedingungen eines Kronzeugenprogramms und einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen . . . . . . . . . . . . . . C. Beteiligung des Gerichts bei Settlement-Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . .

487 487 489 490 492 493 495 497 498 500 502 512 550 563 565 566 568 570

Teil 5 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit

572

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622

Inhaltsverzeichnis Einleitung

27

§ 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 2 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 3 Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Teil 1 Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

37

§ 1 Die verwaltungsrechtliche Ermessenskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Bedeutung des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Verortung des Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Wesensverschiedenheit von Rechtsfolgeermessen und Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der kompetenzzuweisende Charakter der Ermessensnorm . . . . . . . . . . . . C. Steuerung der Ermessensausübung und Ermessensreduzierung . . . . . . . . . . . I. Heteronome Verengung des Ermessensspielraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Autonome Verengung des Ermessensspielraums durch Selbstbindung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verwaltungspraxis und das Gleichbehandlungsgebot . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sonderfall: Die Ermessensreduktion auf null . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Beschränkte gerichtliche Kontrolle – Die Ermessensfehlerlehre . . . . . . . . . . E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 40 41

46 47 47 49 50 51

§ 2 Modifizierte Ermessenskonzeption im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht A. Gelockerte Gesetzesbindung? – Der Einfluss des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . I. Der „strafende“ Charakter der Kartell-Geldbußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Existenz und Übertragbarkeit eines strafrechtlichen Ermessensbegriffs? 1. Das richterliche Ermessen bei der Strafzumessung . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Punktstrafentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Spielraumtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 53 54 58 58 58 59 60 62

41 43 45 45

14

Inhaltsverzeichnis 2. Das staatsanwaltschaftliche Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einleitung des Ermittlungsverfahrens und Anklageerhebung . . . . b) Einstellung des Ermittlungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Letztentscheidungskompetenz? – Die gerichtliche Kontrolle im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsbehelf gegen die Einleitung des Bußgeldverfahrens? . . . . . . . . . . II. Rechtsbehelf gegen Verwaltungsgrundsätze? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einspruch gegen den Bußgeldbescheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Rechtsbehelf gegen Entscheidungen gegen die Durchführung eines Bußgeldverfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62 62 63 65 66

§ 3 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

66 67 68 69 71

Teil 2 Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes § 1 Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zuständigkeit des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Notwendiger Kenntnisstand des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vor und während der Durchführung des Bußgeldverfahrens: Anfangsverdacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vor Erlass einer Geldbuße: Subjektiv zweifelsfrei feststehende Zuwiderhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Kein Verfahrenshindernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verbot der Mehrfachahndung („ne bis in idem“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Innerhalb des deutschen Rechtskreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Innerhalb der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfolgungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Folgen fehlender Verfahrensvoraussetzungen und bestehender Verfahrenshindernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 75 76 77 77 79 80 81 81 83 86 89

§ 2 Theoretische Reichweite des Verfolgungsermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 A. Alternativen zum Bußgeldverfahren und zu dem Erlass einer Geldbuße . . . 90 I. Das formelle Untersagungsverfahren mit dem Ziel einer Abstellungsverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II. Formlose Mittel der Durchsetzung der Kartellverbote . . . . . . . . . . . . . . . 92 B. Beschränkung der Reichweite des Bußgeldverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 C. Adressatenbezogene Entscheidungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 § 3 Relevante heteronome Begrenzungen des Verfolgungsermessens . . . . . . . . . 102

Inhaltsverzeichnis

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A. Ermessensbindung durch die europäische Kartellrechtspraxis . . . . . . . . . . . . I. Aufgrund der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit innerhalb des European Competition Networks („ECN“)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Durch Vorentscheid der Kommission? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Ermessensbindung an den Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . I. § 47 Abs. 1 OWiG als verfahrensrechtliche Konsequenz des gesetzgeberischen Verständnisses von einem typisierten materiellen BagatellOrdnungswidrigkeitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Legitimation des Legalitätsprinzips im Strafverfahren . . . . . . . . . 2. Der qualitativ-quantitative Unterschied der Ordnungswidrigkeit als Rechtfertigung für das Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren . . a) Verwirklichung des Rechtsgüterschutzes und Rechtsfriedens . . . . b) Kein notwendiges Korrelat zur Versagung eines Justizgewährungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Ungleichbehandlung bei Ausübung pflichtgemäßen Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Überwiegendes Interesse der Effektivität und Wirtschaftlichkeit als Leitbild des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren . . . . 3. Ergebnis: Die Bedeutung des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Intendiertes Verfolgungsermessen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Generelle Ermessensreduktion bei schwerwiegenden Kartell-Ordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unrechtsdifferenzierungen im allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht und ihre Auswirkungen auf den Ermessensspielraum der Verfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gesetzliche Typologie der materiellen Ordnungswidrigkeiten b) Auswirkungen auf den Ermessensspielraum der Verfolgungsbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung des Wettbewerbsverstoßes als obere Grenze des Verfolgungsermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das ökonomische und gesellschaftspolitische Gewicht freien Wettbewerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kartelle als besonders schwerwiegende, mit Straftaten vergleichbare Ordnungswidrigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Strafwürdigkeit von schwerwiegenden Kartellverstößen . . . . (1) Pro Strafwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Geeignetheit der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis (b) Erforderlichkeit der Strafe: Keine verbesserte Abschreckungswirkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Angemessenheit der Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Contra Strafwürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unzulänglichkeit des Wettbewerbs als strafrechtliches Schutzgut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Keine prinzipielle Gefährdung des Wettbewerbs? . . . (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strafbedürftigkeit von Hardcore-Kartellen . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Einbuße einer effizienten Kartellverfolgung? . . . . . . . . . . (2) Einbuße der Effektivität des Bonusprogramms? . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgen für die Reichweite des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Regelmäßige Verfolgungs- und Ahndungspflicht bei Hardcore-Kartellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die relative Weite des Verfolgungsermessens bei geringfügigeren Wettbewerbsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kritik in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 4 Die einen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigenden Ermessenskriterien aus der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamtes . . . . . . . . A. Vorüberlegung: Der Rückgriff auf die Rechtsgedanken der §§ 153 ff. StPO zur Bestimmung der unteren Ermessensgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die geringe Bedeutung der Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot . . . . I. Kartellindividuelle, antizipierte Ausübung des negativen Verfolgungsermessens hinsichtlich bagatellhafter Zuwiderhandlungen . . . . . . . . . . . . 1. Gegenstand der Bagatellbekanntmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Qualifikation der Bagatellbekanntmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässige Ermessensbindung hinsichtlich der Durchsetzung des § 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zulässige Ermessensbindung hinsichtlich der Durchsetzung des Art. 101 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Rechtliche Bindungswirkung der de minimis-Bekanntmachung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Faktische Bindungswirkung der de minimis-Bekanntmachung cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Täterindividuelle Berücksichtigung der geringfügigen Kartellbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 139 140 140 141 143 143 143 145 146 146 146 151 151 152 153 155 156 157 158 159 159 160 161 161 164 166 168 169 170

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III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die unverzügliche Einstellung wettbewerbswidrigen Verhaltens . . . . . . . . . . I. Der Fall „All Star“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Fall „Tubenhersteller“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Fall „Elektronische Tischrechner“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Wettbewerbsfremde, rechtspolitische Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Vereinfachung und Beschleunigung von Bußgeldverfahren durch Settlements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zweck und Gegenstand der Settlement-Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtliche Qualifikation des Settlements und des Settlement-Verfahrens III. Thematische Zuordnung der Settlement-Praxis als Problem des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ermächtigung zur Verständigung über den Umfang der Verfolgung und Ahndung von Hardcore-Kartellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Theorie von der dem Opportunitätsprinzip immanenten Verständigungslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgeschichte des § 47 Abs. 1 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematischer Kontext des § 47 Abs.1 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vereinbarkeit mit § 47 Abs. 3 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Verweisungsvorschrift des § 78 Abs. 2 OWiG . . . . . . . . . cc) Exkurs: Der Weg zur gesetzlichen Regelung von Verständigungen im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die sinngemäße Anwendung des § 257c StPO im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung des § 47 Abs. 1 OWiG . . . . . . . . . . . . . . aa) Der verbesserte Rechtsgüterschutz als zulässiger Zweck „verfahrensbeendender“ Verständigungen . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine generelle Eignung von Verständigungen im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eignung von Verständigungen im Kartell-Bußgeldverfahren d) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Settlements im Spiegel des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte . . 1. Die Vereinbarkeit der Settlements mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Vereinbarkeit der Settlement-Praxis mit der Aufklärungspflicht des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung des Aufklärungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Durch Settlements begründete, mögliche Verletzungen des Aufklärungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Standpunkt der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis dd) Kritik/Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Im Hinblick auf die Aufklärungspflicht der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Im Hinblick auf die Aufklärungspflicht der Verfolgungsbehörde im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verfolgungspflicht bei Hardcore-Kartellen . . . . . . . . (b) Rechtsgedanke des § 153a Abs. 1 StPO . . . . . . . . . . . (c) Rechtsgedanke des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO . . . . . . . (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Konsequenzen für die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vereinbarkeit mit den Rechtsgedanken des § 257c Abs. 2 StPO . 2. Vereinbarkeit mit den Verfahrens- und Verteidigungsrechten der Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die „Pflicht“ zur Abgabe eines Geständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung des Aussageverweigerungsrechts im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verletzung durch Zwang zum Geständnis? . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Keine Androhung negativer Konsequenzen . . . . . . . . . . . (2) Unzulässige Vorteilsgewährung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Psychischer Zwang nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte . . . . (b) Die der Rechtsprechung des EGMR entsprechende Judikatur des BGH zur „Sanktionsschere“ . . . . . . . . . (c) Übertragung der Judikatur des EGMR und des BGH auf das Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Existenz einer „Sanktionsschere“ in der SettlementPraxis des Bundeskartellamtes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Pflicht“ zum Verzicht auf volle Akteneinsicht und „formelle“ Anhörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bedeutung und Umfang des Gehörsrechts im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkung des Gehörsrecht durch Settlements . . . . . . . . . cc) Kein Eingriff wegen wirksamem Verzicht auf die Ausübung des Gehörsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Stellung der Betroffenen im Falle des Scheiterns des Settlements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindungswirkungen vor Abgabe des Geständnisses . . . . . . . . (1) Anspruch auf Durchführung/Wechsel in ein Settlementverfahren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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(2) Anspruch auf Fortführung des Settlementverfahrens? . . . (3) Widerruflichkeit während der Diskussionsphase eingeräumter Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Auswirkungen gescheiterter Settlement-Vereinbarungen . . . . (1) Vorüberlegung: Übertragung des Rechtsgedankens der §§ 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Auswirkungen von durch das Bundeskartellamt zu vertretenden Gründen für das Scheitern des Settlements . . . (3) Bindungswirkung des Settlement-Vorschlags bei von Betroffenen zu vertretenden Gründen . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Abstandnahme vom Geständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Abstandnahme von dem partiellen Verzicht auf Ausübung des Gehörsrechts und verweigerte Akzeptanz des in Aussicht gestellten Höchstbußgeldes . . . . . . . . (c) Folgen für die Bindungswirkung des Settlements . . . (4) Verwertbarkeit des Geständnisses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gerichtliche Durchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG . . . . VI. Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Aufdeckung und Zerschlagung von Kartellen durch aktive Aufklärungsbeiträge im Rahmen der Bonusregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zweck der Bonusregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Regelungen der Bonusregelung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtliche Qualifikation und thematische Zuordnung der Bonusregelung zum Verfolgungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Bonusregelung im Spiegel der Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Vereinbarkeit mit der im Regelfall bestehenden Pflicht zur Ahndung von Hardcore-Kartellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die vom Bundeskartellamt, von der Rechtsprechung und der Literatur vorgebrachten sachlichen Rechtfertigungsgründe . . . . . b) Stellungnahme: Der einzig überzeugende Legitimationsgrund der verbesserten Wettbewerbsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mit der Anerkennung des Legitimationsgrunds verbundene Nachteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vereinbarkeit mit der Pflicht zur wertenden Einzelfallbetrachtung . . 3. Vereinbarkeit mit dem „nemo tenetur“-Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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§ 5 Fazit zum Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . 328

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Inhaltsverzeichnis Teil 3 Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

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§ 1 Überblick über das allgemeine Bußgeldrecht: Die Phasen der Bußgeldzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 A. Erste Phase: Bestimmung des Bußgeldrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 B. Zweite Phase: Konkrete Bußgeldzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 I. Ermittlung des ahndenden Teils der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 II. Ermittlung des abschöpfenden Teils der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 § 2 Die heteronomen Grenzen des Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 A. Die „Bußgeldrahmen“ für Kartell-Ordnungswidrigkeiten gemäß § 81 Abs. 4 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 I. Regelbußgeldrahmen gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 II. Umsatzbezogene „Sonderbußgeldobergrenze“ für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB . . . . . . . . . . 343 1. Kappungsgrenze oder Obergrenze eines Sonderbußgeldrahmens? . . 345 a) Die in der Literatur vertretenen Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . 346 b) Die Auffassung des OLG Düsseldorf im Fall Zementkartell . . . . 347 c) Die Auffassung des BGH im Fall Grauzementkartell . . . . . . . . . . 349 d) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 aa) Verfassungswidrigkeit der „verfassungskonformen“ Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 bb) Verfassungswidrigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, interpretiert als Bußgeldobergrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 cc) Auswirkungen für die weitere Bearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . 357 2. Der Begriff des Unternehmens und der Unternehmensvereinigung . . 357 3. Bestimmung des weltweiten Gesamtumsatzes des „Unternehmens“ oder der „Unternehmensvereinigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 a) Friktionen mit der Systematik des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 b) Friktionen mit dem Harmonisierungsbestreben des Gesetzgebers bei der Interpretation als bloße Kalkulationsgrundlage? . . . . . . . . 363 c) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 III. Fazit: Absolute Grenzen des Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 B. Die relevanten Zumessungskriterien im Kartellbußgeldrecht . . . . . . . . . . . . . 372 I. Die Zumessungskriterien des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB und des § 17 Abs. 3 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 1. Die Bedeutung des Kartellverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

Inhaltsverzeichnis 2. Der den Kartellbeteiligten treffende Vorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kartellbeteiligten . . . . . . . . . . . II. Die Vorteilsabschöpfung gemäß § 81 Abs. 5 S. 1 i.V. m. § 17 Abs. 4 OWiG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Weitere Zumessungskriterien außerhalb der §§ 81 GWB, 17 OWiG . . . 1. Sanktionszwecke der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Doppelverwertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überlange Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit („Inability to Pay“) . . . . . . . a) Die in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeit einer existenzgefährdenden Geldbuße . . . . . aa) Geeignetheit der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vollstreckungsvereinbarungen als gleichgeeignetes, milderes Mittel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Bußgeldreduzierung (auf null) als milderes Mittel? . . (a) Aus Sicht der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Aus Sicht der übrigen vom Bußgeldverfahren betroffenen, solventen Kartellbeteiligten . . . . . . . . . . . . (c) Aus Sicht rechtstreuer, ineffizienter Marktteilnehmer (3) Gleiche Wirksamkeit der Bußgeldreduzierung (auf null)? (a) Vorteilsabschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Repressive Ahndung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit: Beschränkende Wirkung der Zumessungskriterien für das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes? . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einschränkung des Entscheidungsermessens zur Festsetzung einer rein ahndenden Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anordnung der Abschöpfung im Wege der Ahndung . . . . . . . . . . . b) Anordnung der Minderung der ahndenden Geldbuße in Höhe des abschöpfbaren Vorteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ermessensbeschränkende Wirkung der Zumessungskriterien im Anwendungsbereich des Regelbußgeldrahmens des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Relativierung der Schrankenfunktion der Zumessungskriterien bei der Bußgeldzumessung gegenüber Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 376 379 380 381 381 382 384 384 385 387 387 388 390 391 392 393 395 396 396 396 397 400 401 403 405 405 406 408 409

410 412

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Inhaltsverzeichnis C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens durch die Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 A. Qualifikation der Bußgeldleitlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 B. Die Bußgeldleitlinien vom 15.09.2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 I. Anwendungsbereich und konkrete Bußgeldzumessung . . . . . . . . . . . . . . . 416 1. Ermittlung des Grundbetrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 2. Anpassungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 3. Festsetzung der endgültigen Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 II. Die Bußgeldleitlinien 2006 im Spiegel des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . 419 1. Vereinbarkeit mit den formellen Vorschriften des Kartellbußgeldrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 a) Widerspruch mit der durch das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht bestimmten Systematik der Bußgeldbemessung? . . . . . . 421 b) Beachtung der gesetzlichen Zumessungskriterien . . . . . . . . . . . . . . 423 c) Vereinbarkeit mit dem Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB analog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 d) Partielle Missinterpretation der Kappungsgrenze . . . . . . . . . . . . . . 426 2. Vereinbarkeit mit der Pflicht zur wertenden Einzelfallbetrachtung . . 428 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 III. Erhöhte Transparenz und Rechtssicherheit durch die Bußgeldleitlinien 2006? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 1. Hinreichende Berücksichtigung des Schuldprinzips? . . . . . . . . . . . . . . 432 a) Geeignetheit der Referenzgröße „Tatbezogener Umsatz“ als Unrechts- und Schuldindikator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 b) Geeignetheit der in den Bußgeldleitlinien 2006 bestimmten Faktoren zur Ermittlung des „schuldangemessenen“ tatbezogenen Umsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 aa) Sachlich „schuldangemessenes“ Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . 435 (1) Problemfall: Konzerninterne Umsätze? . . . . . . . . . . . . . . . 436 (2) Problemfall: „Umsatzstarke“ Handelsunternehmen? . . . . 437 bb) Örtlich „schuldangemessenes“ Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 cc) Zeitlich „schuldangemessenes“ Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . 439 (1) Definition der „Dauer der Zuwiderhandlung“ . . . . . . . . . 440 (2) Unrechts- und Schuldrelevanz des Ansatzes bei langjährigen Zuwiderhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 (3) Problemfall: einmalige Zuwiderhandlungen? . . . . . . . . . . 443 dd) Schätzung des „schuldangemessenen“ tatbezogenen Umsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444

Inhaltsverzeichnis

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c) Geeignetheit der in den Bußgeldleitlinien bestimmten Kriterien zur Ermittlung einer „schuldangemessenen“ Geldbuße anhand des tatbezogenen Umsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 2. Hinreichende Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 a) Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 b) Problematischer Fall: „Ein-Produkt-Unternehmen“ . . . . . . . . . . . . 451 3. Hinreichende Konkretisierung der Zumessungskriterien . . . . . . . . . . . 453 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 a) Gewährleistung einer weitgehend transparenten und rechtssicheren Bußgeldbemessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 b) Defizite der Bußgeldleitlinien 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 c) Die abweichende Auffassung des OLG Düsseldorf und des BGH 458 C. Die Bußgeldleitlinien vom 25.06.2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 I. Anwendungsbereich und neue Vorgehensweise bei der Bußgeldzumessung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 1. Ermittlung des gesetzlichen Bußgeldrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 2. Ermittlung des „Bemessungsspielraumes“ des Bundeskartellamts . . 461 3. Zumessung des ahndenden Teils der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 4. Festsetzung der konkreten Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 II. Die Bußgeldleitlinien 2013 im Spiegel des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . 464 1. Widerspruch mit der durch das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht bestimmten Systematik der Bußgeldbemessung . . . . . . . . . . . . . 464 2. Beachtung der gesetzlichen Zumessungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 3. Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 4. Ungleichbehandlung von Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftskraft und Sortimentsbreite? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 a) Keine Diskriminierung von Unternehmen höherer Wirtschaftskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 b) Diskriminierung von Unternehmen größerer Produktvielfalt? . . . 470 III. Erhöhte Transparenz und Rechtssicherheit durch die Bußgeldleitlinien 2013? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 1. Hinreichende Berücksichtigung des Schuldprinzips? . . . . . . . . . . . . . . 473 2. Hinreichende Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 475 3. Hinreichende Konkretisierung des Bußgeldbemessungsvorgangs? . . 477 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 § 4 Fazit zum Sanktionszumessungsermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482

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Inhaltsverzeichnis Teil 4 Gesamtbewertung des Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamts 486

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . 487 A. Geringe gesetzliche Vorbestimmung der Ermessensausübung durch offene Ermessensnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 B. Maßgebliche Prägung der Ermessensausübung im Bußgeldverfahren durch Verwaltungsgrundsätze des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 C. Bedeutender Einfluss der Kommissionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 D. Fokus der Ermessensausübung auf Abschreckung und Effizienz . . . . . . . . . 492 E. Marginale ermessensbegrenzende Wirkung durch höherrangiges Recht und unzureichender Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 F. Fazit: Weiter Ermessensspielraum und Funktionenballung beim Bundeskartellamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 § 2 Das Ermessen des Bundeskartellamtes im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 A. Grundlagen und Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . 498 B. Ausgestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes: Die Kernkompetenzen der drei Staatsgewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 C. Maßstäbe zur Abgrenzung der Kernkompetenzen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung im Bußgeldverfahren . . . . . . . . . . . . . . 502 I. Das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Verfolgungsbehörde . . . . . . 503 1. Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 2. Der Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 II. Das Verhältnis zwischen Verfolgungsbehörde und Rechtsprechung . . . . 510 D. Kernkompetenzverschiebungen im Kartell-Bußgeldverfahren? . . . . . . . . . . . 512 I. Hinreichende Regelungsdichte des § 47 Abs.1 OWiG? . . . . . . . . . . . . . . 513 1. Keine Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 2. Unzureichende Konkretisierung nach den Maßstäben des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 II. Hinreichende Regelungsdichte des § 81 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GWB? . . 518 1. Der im Vermögensstrafe-Urteil entwickelte notwendige Grad der Strafandrohungsbestimmtheit bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 2. Übertragbarkeit der zur Vermögensstrafe entwickelten Anforderungen an die Strafandrohungsbestimmtheit auf § 81 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 3. Würdigung anhand der Kriterien des Vermögensstrafe-Urteils des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

Inhaltsverzeichnis a) Hinreichende Vorgaben zur Entscheidung über das „Ob“ der Bußgeldverhängung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hinreichende Maßstäbe für die konkrete Zumessung der Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nach oben und unten begrenzter Bußgeldrahmen? . . . . . . . . . . . . . aa) Uferloser Bußgeldrahmen für natürliche Personen? . . . . . . . . bb) Uferloser Bußgeldrahmen für juristische Personen und Personenvereinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Keine Abhilfe durch die gesetzlichen Zumessungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Keine Abhilfe durch gleichmäßige Verwaltungspraxis und entwickeltes Richterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Keine Rechtfertigung durch den legitimen Zweck der Belastungsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Notwendige Korrektur des Grads der Strafandrohungsbestimmtheit wegen europäischen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Fall Evonik Degussa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Auswirkungen auf das Maß der Bestimmtheit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Keine zwingende Harmonisierung deutschen Kartellbußgeldrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Keine Bindungswirkung der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Verstoß gegen den effet utile-Grundsatz? . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die informellen Vollzugsinstrumente des Bundeskartellamtes im Lichte des Parlamentsvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Settlements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kronzeugenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Praktische Konsequenzen des Kompetenzzuwachses beim Bundeskartellamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Aus Sicht der (potentiellen) Betroffenen eines Bußgeldverfahrens . . . . . 1. Erhebliche Bußgeldandrohung, unsichere Rechtslage und Unvorhersehbarkeit der konkreten Geldbuße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unsicherheit über die Stellung des Unternehmens innerhalb des Bußgeldverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folge: Tendenz zur Kooperation mit dem Bundeskartellamt und Zurückdrängung des gerichtlichen Einspruchverfahrens . . . . . . . . . . . . . II. Aus Sicht der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aus Sicht geschädigter Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

§ 3 Verbesserungsvorschläge de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Implementierung eines überzeugenden und fest begrenzten Bußgeldrahmens für juristische und natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gesetzliche Normierung der Rahmenbedingungen eines Kronzeugenprogramms und einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen . . . . . . . . . . . . . . C. Beteiligung des Gerichts bei Settlement-Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 5 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung § 1 Einführung Das materielle Wettbewerbsrecht steht in besonderer Weise in einem Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und rechtlicher Bindung.1 Zielkonflikte zwischen der Wettbewerbsfreiheit Einzelner und dem Interesse der Allgemeinheit an guten Marktergebnissen, aber auch der individuellen Wettbewerbsfreiheit anderer Marktteilnehmer2 können aufgrund soziologischer Ungleichheiten regelmäßig interessengerechter durch eine Abwägung aller relevanten Umstände im konkreten Einzelfall gelöst werden,3 als durch die unbedingte Durchsetzung von im Vorfeld durch formelle Gesetze fest definierten, unabänderlichen Rechtsfolgenanordnungen. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber dem – auf nationaler Ebene dem Wettbewerbsschutz gemäß § 48 Abs. 2 GWB verpflichteten – Bundeskartellamt Entscheidungs- und Handlungsspielräume hinsichtlich der Verfolgung und Ahndung von Wettbewerbsverstößen im Allgemeinen und Kartellen im Sinne des § 1 GWB, Art. 101 Abs. 1 AEUV im Besonderen eingeräumt. Jene ergeben sich zunächst aus dem materiellen Kartellrecht selbst, welches von einer Vielzahl unbestimmter Rechtbegriffe geprägt ist, die der Auslegung durch das Bundeskartellamt bedürfen und ihm aus diesem Grund eine gewisse Freiheit bei der Qualifikation unternehmerischen Verhaltens als wettbewerbswidrig bzw. wettbewerbskonform zugesteht.4 Darüber hinaus überlässt das Kartellverfahrens- und

1 Säcker, Archiv für öffentliche und freigemeinnützige Unternehmen Bd. 9 (1968– 72), S. 193 ff. (202 f.) m.w. N.; ähnlich Biedenkopf/Callmann/Deringer, Aktuelle Grundsatzfragen des Kartellrechts, S. 32. 2 Säcker, Zielkonflikte und Koordinationsprobleme im deutschen und europäischen Kartellrecht, S. 19; Giersch, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Bd. 9 (1964), S. 61 ff. (75 f.). In der Literatur werden teilweise auch Zielkonflikte bestritten, indem Wettbewerb als Entdeckungsverfahren begriffen wird und Individualschutz und Institutionsschutz lediglich als Aspekte des gleichen Schutzzwecks betrachtet werden, vgl. Mestmäcker, DB 1968, S. 787 ff., insb. 790. Ausführlich zu den möglichen Zielkonflikten und den dazu in der Literatur vertretenen Ansichten: Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 105 ff. 3 Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 43. 4 So stellt sich bei Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB insb. die Frage, was unter einem Unternehmen und einer abgestimmten Verhaltensweise zu verstehen ist. Bei den Freistellungstatbeständen ist etwa der Begriff des Vorteils zu spezifizieren. Je nachdem, wie eng oder weit das BKartA die Begriffe auslegt, gelangt es zur Tatbestandsmäßigkeit des in Frage stehenden Verhaltens, was ihm wiederum zahlreiche Handlungsoptionen eröffnet.

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Einleitung

das Kartellbußgeldrecht der Kartellbehörde5 die Entscheidung, ob und wie sie das materielle Kartellrecht gewöhnlich und im konkreten Einzelfall durchsetzt. Das kartellbehördliche Ermessen hinsichtlich der Auswahl geeigneter Reaktionsmittel6 hat in jüngerer Zeit eine beachtliche Aufwertung erfahren. Bis zum Jahre 2005 gestand das GWB dem Bundeskartellamt lediglich zwei gesetzlich geregelte Handlungsoptionen im Falle eines festgestellten Kartellverstoßes zu: Entweder konnte es Unternehmen gemäß § 32 GWB i. d. F. vom 1. Januar 1999 die von ihm als wettbewerbswidrig eingestuften Verhaltensweisen für die Zukunft untersagen, oder aber es erließ gegen die betreffenden Unternehmen und deren Vertreter einen Bußgeldbescheid, wobei die gegen natürliche Personen verhängte Geldbuße maximal 500.000 Euro betragen und die Unternehmensgeldbuße maximal die Höhe des durch die Zuwiderhandlung erzielten, dreifachen Mehrerlöses gemäß § 81 Abs. 2 GWB i. d. F. vom 1.1.1999 erreichen durfte. Mit der 7. GWBNovelle vom 12. Juli 20057 hat der Gesetzgeber diese kartellbehördlichen Kompetenzen, der europäischen Rechtslage folgend,8 erheblich erweitert. Mit der Einfügung der §§ 32 Abs. 2, 32b GWB eröffnete er dem Bundeskartellamt die Möglichkeit, Unternehmen konkrete Abhilfemaßnahmen aufzugeben oder diese an eigene Verpflichtungserklärungen zu binden, um sie in Zukunft von wettbewerbswidrigem Verhalten abzuhalten.9 Alternativ ist der Kartellbehörde gemäß § 47 Abs. 1 OWiG die Möglichkeit verblieben, nach pflichtgemäßem Ermessen ein Bußgeldverfahren wegen eines vermuteten Kartellverstoßes einzuleiten und dessen persönliche, sachliche, räumliche und zeitliche Reichweite jederzeit einzugrenzen oder auszudehnen.10 Erweitert wurde allerdings der Entscheidungs5 Der Begriff „Kartellbehörde“ ist im Grunde genommen ungenau, da das BKartA nicht nur zur Verfolgung von Kartellen zuständig ist, sondern etwa auch das Fusionskontroll- und Vergaberecht durchsetzt. Allerdings bezeichnet das Gesetz die Wettbewerbsbehörde in § 48 Abs. 1 GWB als Kartellbehörde. Im Zusammenhang mit dem der Arbeit zugrundeliegenden Thema erscheint der Begriff zudem „griffiger“ und wird daher im Folgenden aus stilistischen Gründen durchgehend verwendet. 6 Zu diesen im Einzelnen: Teil 2 § 2 (S. 89 ff.). 7 BGBl. I, S. 1954. 8 Die 7. GWB-Novelle geht auf die Novellierung der europäischen Verfahrensvorschriften zurück. Vgl. Begr. BRegE eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drs. 15/3640, S. 1. Zum 1.5.2003 löste die derzeit geltende VO 1/2003 die bis dahin geltende VO 17/62ab. Mit ersterer wurde das Handlungsspektrum der Kommission um die Kompetenzen zum Erlass von Abhilfemaßnahmen, gemäß Art. 7 Abs. 1 S. 2 VO 1/2003, zur Verbindlichkeitserklärung von Verpflichtungszusagen gemäß Art. 9 VO 1/2003 und zur Durchführung von Sektoruntersuchungen gemäß Art. 17 VO 1/2003 erweitert. 9 Entsprechend der mit der 8. GWB-Novelle vom 30.6.2013 neu eingefügten Vorschrift des § 32 IIa GWB kann das Bundeskartellamt nunmehr mit der Abstellungsverfügung auch die Rückerstattung des erzielten Gewinns an die Geschädigten einer wettbewerbswidrigen Praxis anordnen. Vgl. BGBl. I, S. 1738; Neufassung des GWB: BGBl. I, S. 1750. 10 Siehe hierzu im Einzelnen noch: Teil 2 § 2 B. und C. (S. 94 ff.).

§ 1 Einführung

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spielraum der Kartellbehörde mit Blick auf die Verhängung der mit Abschluss des Bußgeldverfahrens regelmäßig zu erwartenden Geldbuße. Gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 GWB kann das Bundeskartellamt mit Abschluss seiner Ermittlungen nunmehr eine Geldbuße in Höhe von bis zu einer Million Euro gegen natürliche Personen verhängen. Gegen Unternehmen11 kann es gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB eine darüber hinausgehende Geldbuße erlassen, die jedoch 10% des Gesamtumsatzes des Unternehmens aus dem der Entscheidung vorausgegangenen Jahr nicht übersteigen darf. Gleichzeitig ermutigte der Gesetzgeber das Bundeskartellamt dazu, Entwicklungen in der europäischen Kartellrechtspraxis und insbesondere die auf Abschreckung ausgerichtete Bußgeldpraxis der Kommission konsequent nachzuvollziehen.12 Zur Durchsetzung dieser Zielvorstellung installierte er eigens die Vorschrift des § 81 Abs. 7 GWB, mit welcher das Bundeskartellamt ausdrücklich zum Erlass von Verwaltungsvorschriften über die Bemessung von Geldbußen ermächtigt wurde. Das Bundeskartellamt ist diesem „Gestaltungsauftrag“ mit der Veröffentlichung seiner Bußgeldleitlinien vom 15. September 200613 und vom 25. Juni 201314 sowie seiner Bonusregelung vom 7. März 200615 nachgekommen, mit der es Bußgeldnachlässe bis auf null im Gegenzug für aktive Aufdeckungs- und Aufklärungsbeiträge von Kartellbeteiligten in Aussicht stellt. Daneben hat es im Jahre 2007 seine Settlement-Praxis etabliert, die eine bußgeldrelevante Honorierung von Geständnissen der Betroffenen eines Kartell-Bußgeldverfahrens zum Gegenstand hat.16 Mit seiner Bagatellbekanntmachung vom 13. März 200717 hat es zudem sein Verfolgungsermessen generell 11 Der Begriff des „Unternehmens“ ist technisch ungenau. Nebenbetroffene eines Bußgeldverfahrens und Adressatin eines Bußgeldbescheids kann grundsätzlich nur eine juristische Person oder Personenvereinigung sein. Siehe hierzu vertiefend: Teil 3 § 2 A. II. 2. (S. 357 ff.). Im Folgenden wird der Begriff des „Unternehmens“ aus stilistischen Gründen gleichwohl synonym für die betroffene juristische Person oder Personenvereinigung verwendet. 12 Begr. BRegE zur 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 2, 35, 42, 67; ferner: Beschlussempfehlung und der Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit, BT-Drs. 15/5049, S. 50. 13 Bekanntmachung Nr. 38/2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 Abs. 4 S. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen – Bußgeldleitlinien, BAnz. 2006 S. 6499 = NJW 2006, S. 3544 f. Siehe hierzu: Teil 3 § 3 B. (S. 416 ff.). 14 Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/ Leitlinien/Bekanntmachung%20-%20Bu%C3%9Fgeldleitlinien-Juni %202013.pdf?__ blob=publicationFile&v=5 (Stand: 31.12.2013). Siehe hierzu: Teil 3 § 3 C. (S. 459 ff.). 15 Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung –, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartell amt.de/wDeutsch/download/pdf/Merkblaetter/Merkblaetter_deutsch/06_Bonusregelung. pdf (Stand: 31.12.2013); siehe hierzu: Teil 2 § 4 F. (S. 297 ff.). 16 Vertiefend: Teil 2 § 4 E. (S. 186 ff.). 17 Bekanntmachung Nr. 18/2007 des BKartA über die Nichtverfolgung von Kooperationsabreden mit geringer wettbewerbsbeschränkender Bedeutung („Bagatellbekannt-

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Einleitung

dahingehend „antizipiert“, geringfügige Wettbewerbsverstöße im Regelfall nicht (im Rahmen eines Bußgeldverfahrens) zu verfolgen. Den vorstehenden, ungeregelten Vollzugselementen materiellen Kartellrechts ist gemein, dass weder § 81 Abs. 7 GWB im Besonderen, noch das GWB und das OWiG im Allgemeinen, welches auf Kartellverstöße gemäß § 81 Abs. 1 bis 4 GWB i.V. m. § 1 Abs. 1 OWiG Anwendung findet, ausdrücklich Maßstäbe beinhalten, an denen sich das Bundeskartellamt bei der Etablierung seiner ermessenslenkenden Verwaltungsrichtlinien orientieren konnte. Vielmehr hat die Kartellbehörde ihre Verwaltungsrichtlinien und -praxis, entsprechend der Intention des Gesetzgebers, an der europäischen Kartellrechtspraxis und – hierbei – vorwiegend an den Verwaltungsrichtlinien der Kommission, konkret den Bußgeldleitlinien,18 der Kronzeugenregelung,19 der Settlement-Mitteilung 20 und der de minimis-Bekanntmachung21, ausgerichtet. An gesetzlichen Maßstäben zur Ausübung des dem Bundeskartellamt eingeräumten Ermessens fehlt es jedoch nicht nur im Hinblick auf die „antizipierte“ Entscheidungsfindung durch den Erlass von Verwaltungsrichtlinien. Das geltende, allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht, wie auch das Kartellverfahrensund bußgeldrecht zeigen ganz allgemein nicht durchgehend mit aller Deutlichkeit diejenigen Maßstäbe auf, mit denen das Bundeskartellamt die eingangs aufgezeigten Zielkonflikte im Wege einer pflichtgemäßen Ermessensausübung im konkreten Einzelfall lösen soll. § 47 Abs. 1 OWiG ist inhaltlich auf die Aussage beschränkt, dass die Verfolgung von Kartellverstößen im pflichtgemäßen Ermessen des Bundeskartellamtes liegt. Sofern sich das Bundeskartellamt zur Verhängung einer Geldbuße entschließt, schreibt ihm § 81 Abs. 4 S. 6 GWB lediglich vor, die Schwere und Dauer des Wettbewerbsverstoßes bei seiner Bußgeldentscheidung zu berücksichtigen. Die Vorschrift ergänzt zwar die in § 17 Abs. 3 machung“), im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/ download/pdf/Merkblaetter/Merkblaetter_deutsch/07Bagatellbekanntmachung.pdf (Stand: 31.12.2013); hierzu vertiefend: Teil 2 § 4 B. I. (S. 159 ff.). 18 Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EG v. 1.9. 2006, Nr. C 210, S. 2 ff.; vgl. BKartA, PM v. 26.9.2006. 19 Kommission, Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG v. 19.2.2002, Nr. C 45, S. 3 ff.; nunmehr abgelöst durch die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU v. 8.12.2006, Nr. C 298, S. 17 ff.; vgl. BKartA, PM v. 19.4. 2006. 20 Kommission, Mitteilung über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/ 2003 des Rates in Kartellfällen, ABl. EU v. 2.7.2008, Nr. C 167, S. 1 ff. 21 Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] nicht spürbar beschränken, ABl. EG v. 22.12.2001, Nr. C 368, S. 13 ff.; vgl. BKartA, PM v. 13.7.2007.

§ 1 Einführung

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OWiG hinterlegten, allgemeinen Sanktionszumessungskriterien der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit, des Vorwurfs, der dem Täter zu machen ist und der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täter.22 Angesichts der weiten Spanne möglicher Geldbußen erscheint die „treffsichere“ Einordnung dieser Kriterien jedoch gleichermaßen herausfordernd zu sein, wie die Wahl zwischen zukunftsgerichteten, präventiven Verhaltenssteuerungen im Wege von Abstellungs- und Gebotsverfügungen sowie Verbindlichkeitserklärungen, und dem eher rückwärtsgerichteten, sanktionierenden Bußgelderlass. Allzu offene Ermächtigungsgrundlagen, die Entscheidungsträgern umfangreiche Entscheidungsfreiheiten gewähren, können das eigentliche Ziel der Gewährung exekutiver Ermessensspielräume konterkarieren. Die Aufgabe, Zielkonflikte im Einzelfall durch ein – auf einer sachgerechten Abwägung aller Umstände beruhendes – billiges Ergebnis zu lösen, gestaltet sich nämlich schwierig, wenn mangels hinreichender gesetzlicher Richtlinien bereits nicht eindeutig ermittelt werden kann, was als „gerecht“ anzusehen ist. Fehlen absolute Bewertungsmaßstäbe, steigt das Risiko an mit den individuellen Rechten der Betroffenen oder dem Allgemeininteresse kollidierenden behördlichen Fehlentscheidungen, die durch eine gleichzeitig erschwerte, nachfolgende gerichtliche Kontrolle oder Ermessensausübung nicht mit Sicherheit zu revidieren sind. Eine derartige Rechtslage ist nicht nur der Rechtssicherheit der Normadressaten eines Ge- bzw. Verbots, sondern auch der Rechtsstaatlichkeit eines die Grundrechte der Betroffenen tangierenden, staatlichen Sanktionsverfahrens abträglich. Besonders prekär sind derartige Entscheidungs- und Handlungsspielräume, wenn Entscheidungsträger, wie das Bundeskartellamt, über intensive grundrechtsrelevante Eingriffsbefugnisse verfügen. Für Betroffene eines Kartell-Bußgeldverfahrens23 „steht viel auf dem Spiel“. Die jüngere Kartellrechtspraxis des Bundeskartellamtes offenbart eine – vom Gesetzgeber nicht zuletzt erstrebte24 – Tendenz zum Erlass außerordentlich hoher Bußgelder, die sich bei Unternehmen oft im ein- bis dreistelligen Millionenbereich bewegen.25 Leitet das Bundeskartellamt ein Bußgeldverfahren gegen ein Unternehmen ein, muss dieses mit hohen Verteidigungskosten und einer zusätzlichen Beanspruchung der Geschäftsführung rechnen. Ferner geht die öffentliche

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Vgl. Teil 3 § 2 B. I. (S. 373 ff.). „Betroffener“ eines Bußgeldverfahrens ist grundsätzlich allein die natürliche Person, gegen welche das BKartA ein Bußgeldverfahren einleitet. Adressaten des Kartellverbots sind jedoch Unternehmen. Diesen wird, da sie selbst handlungsunfähig sind, das Verhalten der natürlichen Personen gemäß § 30 OWiG zugerechnet. Im Bußgeldverfahren sind Unternehmen daher „Nebenbetroffene“. Aus Vereinfachungsgründen wird in der Arbeit im Folgenden allein der Begriff des „Betroffenen“ verwendet, soweit keine Differenzierung geboten ist. 24 Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 42. 25 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 8 f. 23

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Einleitung

Bekanntgabe der Einleitung, jedenfalls aber des Abschlusses eines Bußgeldverfahrens mittels Geldbuße regelmäßig mit zusätzlichen, finanziellen Einbußen für das Unternehmen durch Reputationsverluste und Auftragsrückgänge seiner Kunden einher. Wenn Unternehmen als Normadressaten des Kartellverbots gemäß § 1 GWB, Art. 101 AEUV vor diesem Hintergrund nicht ausreichend abschätzen können, ob sie aufgrund ihres wettbewerbsrelevanten Verhaltens ein Bußgeldverfahren erwarten müssen und welche Konsequenzen ein solches haben könnte, mag dies zwar der Abschreckung des Kartellrechts förderlich sein.26 Der damit verfolgte, durchaus sachgerechte Zweck des verbesserten Wettbewerbsschutz kann allerdings keine kartellbehördliche Maßnahmen rechtfertigen, die die bestehenden, nicht deutlich erkennbaren verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Grenzen überschreiten oder – schlimmer noch – auf gesetzlichen Regelungen basieren, welche mit verfassungsrechtlichen Prinzipien und individuellen Grundrechten Betroffener in unauflöslichem Widerspruch stehen. In jüngerer Zeit wird letzteres im Hinblick auf das materielle Kartell-Bußgeldrecht verstärkt von gewichtigen Stimmen der wettbewerbsrechtlichen Literatur vertreten.27 Während diese für eine stärker konkretisierende Neuregelung des Kartell-Bußgeldrechts und damit für eine kartellbehördliche Ermessensbeschränkung eintreten, haben das OLG Düsseldorf und der BGH das geltende Kartellbußgeldrecht für sachlich angemessen und verfassungsgemäß erklärt.28 Das Bundeskartellamt zeigte sich bislang unbeeindruckt von der Diskussion. Entgegen den kritischen Reflektionen in der Literatur erstrebt es vielmehr erneut einen Ausbau seiner Kompetenzen und zwar bezüglich seiner Rolle im gerichtlichen Bußgeldverfahren. Bereits vor über 40 Jahren, in seinem Tätigkeitsbericht von 1970 hat es erstmals seine „schwache Stellung“ gegenüber den Gerichten beklagt.29 Damals wandte sich die Kartellbehörde insbesondere gegen die Befugnis des (seinerzeit noch zuständigen)30 Kammergerichts Berlin, die kartellbehördli26

Krit. dazu noch: Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.). Statt vieler: Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (17 ff.); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 346 ff.; Bechtold, GWB, 6. Aufl., Rn. 26; Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (148); umfassend: Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, passim. 28 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 606 ff., 624 ff. (juris); BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 45 ff. Umfassend dazu Teil 3 und Teil 4 § 2 D. II. (S. 518 ff.). 29 BT-Drs. VI/2380, S. 24 f. 30 Nach dem Umzug des BKartA nach Bonn am 1.10.1999 wurde das OLG Düsseldorf insb. zur „Überprüfung“ von Bußgeldentscheidungen der Kartellbehörde gemäß § 68 Abs. 1 OWiG i.V. m. §§ 83 Abs. 1 S. 1, 92 Abs. 1 GWB i.V. m. § 2 der Verordnung über die Bildung gemeinsamer Kartellgerichte (Kartellsachen-Konzentrations-VO) v. 27.9.2005, GVBl. NRW, S. 820, in Kraft getreten am 13. Oktober 2005, berufen. Letztere wurde am 30.8.2011 durch die am 24.9.2011 in Kraft getretene Verordnung über die Bildung gemeinsamer Kartellgerichte und über die gerichtliche Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach dem Energiewirtschaftsgesetz ersetzt. Nach § 2 27

§ 2 Problemstellung

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che Entscheidung vollständig durch eine eigene Bewertung ersetzen zu können. Zum Missfallen des Bundeskartellamts hat der Gesetzgeber an dieser Ersetzungsbefugnis des Beschwerdegerichts bis heute nicht gerüttelt.31 Erst kürzlich, aus Anlass der zwischenzeitlich am 30.06.2013 in Kraft getretenen 8. GWB-Novelle,32 forderte es erneut ein eigenes Frage- und Rechtsmittelrecht im gerichtlichen Bußgeldverfahren sowie, ganz allgemein, eine „Anpassung des schwerfälligen Gerichtsverfahrens“ an das europäische Recht, einschließlich der dort vorgesehenen, vermeintlich auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle der Bußgeldbescheide der Kommission begrenzten, gerichtlichen Kompetenz gemäß Art. 261, 263 AEUV.33

§ 2 Problemstellung Die vorstehend aufgezeigten Chancen, aber auch Risiken des dem Bundeskartellamt zur Verfolgung und Ahndung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot gewährten Ermessens sowie die gegenläufigen Stellungnahmen und Bestrebungen der wettbewerbsrechtlichen Praxis und Wissenschaft geben Anlass dazu, die seit der 7. GWB-Novelle bestehenden Entscheidungs- und Handlungsspielräume des Bundeskartellamts nach einer gut achtjährigen, kartellbehördlichen Praxis umfassend zu reflektieren. Dabei kann eine überzeugende Begutachtung nicht auf das geltende materielle Bußgeldrecht beschränkt werden, sondern ist vielmehr im Kontext seiner verfahrensrechtlichen Einbettung in den Blick zu nehmen, um die wechselseitige Beeinflussung beider Rechtsmaterien sowie ihr Zusammenwirken herauszustellen. Die nachfolgende Untersuchung wird sich diesem Unterfangen annehmen. Ziel der Arbeit ist es, (i) das Rechtsfolgeermessen des Bundeskartellamtes, genauer die rechtlichen und tatsächlichen Grenzen einer Entscheidung für oder gegen die Einleitung eines Bußgeldverfahrens sowie für oder gegen den Erlass eines Bußgeldbescheids und dessen Ausgestaltung inhaltlich weitestgehend genau zu bestimmen, (ii) – darauf aufbauend – vorwiegend die „generelle“ Ermessensausübung des Bundeskartellamtes auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und schließlich (iii) die bestehenden Ermessensspielräume des Bundeskartellamts im der VO ist das OLG Düsseldorf für Rechtssachen, für die nach §§ 57 Absatz 2 Satz 2, 63 Absatz 4, 83, 85 und 86 GWB die Oberlandesgerichte zuständig sind, zuständig. 31 Siehe hierzu: Teil 1 § 2 B. III. (S. 69 ff.). 32 Vgl. BGBl. I, S. 1738; Neufassung des GWB: BGBl. I, S. 1750. 33 BKartA, Stellungnahme zum BRegE zur 8. GWB-Novelle v. 22.6.2012, S. 2; BKartA, Hintergrundpapier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 4.10.2012, Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, S. 5 f., 20 ff., 26 f.; vgl. auch die Vorträge von Ost und Ackermann im Rahmen der Tagung des Arbeitskreises, die zusammen mit dem Hintergrundpapier des BKartA im Internet abrufbar sind unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/Veranstal tungen/AKK.php (Stand: 31.12.2013).

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Einleitung

Kartell-Bußgeldverfahren umfassend verfassungsrechtlich zu würdigen. Dies soll eine Bewertung der Stellung des Bundeskartellamtes im Kartell-Bußgeldverfahren und die Beantwortung der Frage ermöglichen, ob es tatsächlich eines „Mehr“ oder „Weniger“ an kartellbehördlicher Kompetenz im Kartell-Bußgeldverfahren bedarf. Auf diese Weise leistet die Arbeit womöglich auch einen Beitrag für die Erarbeitung einer 9. GWB-Novelle.34 Die Arbeit beschränkt sich überwiegend auf das für betroffene Unternehmen und natürliche Personen wohl weiterhin denkbar eingriffsintensivste Reaktionsmittel der Kartellbehörde, dem Bußgeldverfahren und dem in dessen Rahmen möglichen Bußgelderlass. Auf das im deutschen Recht zur Verfügung stehende, alternative Verwaltungsverfahren und die in diesem Zusammenhang möglichen Handlungsoptionen35 wird allerdings an geeigneter Stelle zur Verdeutlichung und Bewertung der Reichweite des kartellbehördlichen Ermessens zurückzukommen sein.36 Gegenstand der Untersuchung sind ferner ausschließlich die in inhaltlichem Zusammenhang und in Wechselbeziehung stehenden Entscheidungs-, Handlungs- und Gestaltungsspielräume des Bundeskartellamtes hinsichtlich der Frage des „Ob“ der Verfolgung und Ahndung einer Zuwiderhandlung gegen § 1 GWB, Art. 101 AEUV (Verfolgungsermessen) sowie der Frage des „Wie“ der Ahndung (Sanktionszumessungsermessen).37 Demgegenüber bleibt der Handlungsspielraum der Kartellbehörden während der Ermittlungsphase des Bußgeldverfahrens hinsichtlich der Wahl ihrer Ermittlungsbefugnisse außer Betracht,38 da dessen Beleuchtung bezüglich der beiden vorstehenden Fragen zu keinem weiteren Erkenntnisgewinn beitragen kann, sondern letztlich nur unmittelbar an die Entscheidung für die Durchführung eines Bußgeldverfahren anknüpft. Schließlich unterstellt die Arbeit, dass eine Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot des Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB (nicht) begangen wurde bzw. ein entsprechender Verdacht (nicht) besteht. Die eingangs dargelegte, auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückzuführende Problematik des Tatbestandsermessens bzw. des Beurteilungsspielraums auf Tatbestandsebene wird daher nicht reflektiert.39 34 Im Rahmen der am 30.6.2012 in Kraft getretenen 8. GWB-Novelle, hat sich der Gesetzgeber einer Reformierung des Kartellverfahrens- und Bußgeldrechts nicht angenommen. Der Schwerpunkt der Novelle liegt in einer Reform des Fusionskontrollrechts. 35 Umfassend zum Ermessen des BKartA im Rahmen des Verwaltungsverfahrens der bereits ältere Beitrag von Ritter, in: Bartholomeyczik/Biedenkopf/v. Hahn, Festschrift für Heinz Kaufmann zum 65. Geburtstag, S. 307 ff. und die jüngste Abhandlung von Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. 36 Teil 2 § 2 A. I. (S. 90 ff.), und Teil 2 § 3 B. III. 2. c) (S. 146 ff.); ferner auch: Teil 4 § 2 E. II. und III. (S. 558 ff.). 37 Die Begriffe werden hier zur Verdeutlichung verwendet. Es handelt sich dabei nicht um feststehende Fachtermini. Das BKartA benutzt anstelle des Begriffs des Verfolgungsermessens überwiegend den Begriff des „Aufgreifermessens“. 38 Dem Auswahlermessen der Kommission in der Voruntersuchungsphase des europäischen Kartellverfahrens widmet sich etwa Vocke, Die Ermittlungsbefugnisse der EGKommission im kartellrechtlichen Voruntersuchungsverfahren, S. 53 ff.

§ 3 Gang der Untersuchung

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§ 3 Gang der Untersuchung Im ersten Teil der Arbeit soll zunächst die im (Kartell-)Bußgeldverfahren gültige Ermessenskonzeption herausgearbeitet werden, ohne die eine Überprüfung der praktischen Ausübung des Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessens durch das Bundeskartellamt und eine Gesamtbewertung des kartellbehördlichen Ermessens nicht auskommen kann. Dazu wird ausgehend von der in der Verwaltungsrechtswissenschaft entwickelten und weitgehend anerkannten Ermessenskonzeption untersucht, inwieweit aufgrund der „strafenden“ Natur der Geldbuße und der im OWiG vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten ein modifiziertes Ermessensverständnis im Bußgeldverfahren notwendig erscheint. Im zweiten Teil der Arbeit folgt sodann die Untersuchung des dem Bundeskartellamt gemäß § 47 Abs. 1 OWiG eingeräumten Ermessens hinsichtlich des „Ob“ der Verfolgung und Ahndung von Kartellen. Nach einem kurzen Überblick über die Voraussetzungen für die Durchführung eines Bußgeldverfahrens und dessen Abschluss mittels Bußgelderlass im ersten Abschnitt, werden im zweiten Abschnitt die eingangs skizzierten, dem Bundeskartellamt grundsätzlich zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen innerhalb und außerhalb des Bußgeldverfahrens näher beleuchtet. Im dritten Abschnitt sollen die grundlegenden, nicht ausdrücklich in § 47 Abs. 1 OWiG benannten, heteronomen Grenzen des Verfolgungsermessens ermittelt und der Grad ihrer ermessensbeschränkenden Wirkung untersucht werden. Auf diese Weise wird der Versuch unternommen, die Reichweite des Ermessensspielraums des Bundeskartellamtes über den konkreten Einzelfall hinaus, mit Blick auf die unterschiedlichen Arten von Zuwiderhandlungen gegen § 1 GWB und Art. 101 AEUV typisierend zu bestimmen. Der vierte Abschnitt überprüft ausgehend von dem Ergebnis des dritten Abschnitts die konkrete Ausübung des Verfolgungsermessens durch das Bundeskartellamt in der Praxis. In diesem Zusammenhang wird vor allem auf die Frage der Rechtmäßigkeit der in neuerer Zeit vom Bundeskartellamt angewandten, ungeregelten Kartellverfolgungsinstrumente, konkret der Bagatellbekanntmachung, der Settlements und der Bonusregelung, eingegangen. Der dritte Teil der Arbeit widmet sich der Untersuchung des Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes. Im ersten Abschnitt erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über das im Gesetz gegen Ordnungswidrigkeiten geregelte, allgemeine Bußgeldrecht und den sich daraus ergebenden Phasen der Bußgeldzumessung. Anschließend wird im zweiten Abschnitt, ausgehend von einer Be39 Zum sogenannten Tatbestandsermessen im europäischen Kartellrecht bzw. dem deutschen Pendant des Beurteilungsspielraumes vertiefend und rechtsvergleichend: Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland, 1996; zum europäischen Recht in jüngerer Zeit Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht, 2008; Fritzsche, CMLRev. 2010, S. 361 ff.; Bailey, CMLRev. 2004, S. 1327 ff.; Skouris, EuR Beiheft 2/2002, S. 71 ff.

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Einleitung

leuchtung des besonderen Kartell-Bußgeldrechts und der Untersuchung seiner Einbettung in die Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts, die Reichweite des Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamts innerhalb der zu beachtenden heteronomen Grenzen, die sich aus den in § 17 Abs. 1 OWiG und § 81 Abs. 4 S. 1, S. 2 GWB beschriebenen Bußgeldrahmen sowie den verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3, Abs. 4 OWiG und des § 81 Abs. 4 S. 6, Abs. 5 GWB ergeben, herausgearbeitet und die die Vorhersehbarkeit der Bußgeldbemessung im konkreten Einzelfall untersucht. Der dritte Abschnitt widmet sich schließlich den vom Bundeskartellamt veröffentlichten Bußgeldleitlinien, insbesondere ihrer Rechtmäßigkeit, dem Grad der durch sie bewirkten Bindung des Sanktionszumessungsermessens und der daraus folgenden Auswirkung auf die Transparenz der Bußgeldbemessung. Im vierten Teil der Arbeit werden die wesentlichen Erkenntnisse zum Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes umfassend bewertet. Dazu soll im ersten Abschnitt zunächst mithilfe einer Synopse der wichtigsten Ergebnisse aus Teil 2 und 3 ein Fazit zur Reichweite der bestehenden Handlungs- und Entscheidungsspielräume und ihrer Nutzung durch das Bundeskartellamt gezogen werden. Daran knüpfen im zweiten Abschnitt eine verfassungsrechtliche Würdigung der gesetzlich gewährten Kompetenzen des Bundeskartellamtes sowie eine Untersuchung der konkreten Auswirkungen der derzeitigen Rechtslage auf Betroffene eines Bußgeldverfahrens, auf die Allgemeinheit und auf geschädigte Dritte an. Aus der Zusammenschau der Ergebnisse werden im dritten Abschnitt konkrete Verbesserungsvorschläge de lege ferenda erarbeitet. Die Arbeit schließt im fünften Teil mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung.

Teil 1

Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren Obgleich diese Untersuchung keinen rechtstheoretischen Beitrag zur Konzeption, dem Wesen und der rechtlichen Würdigung des Ermessens der Verfolgungsbehörde im Bußgeldverfahren leisten soll, kommt sie, da sie mit einem unbestimmten Rechtsbegriff zu arbeiten gedenkt, nicht um die vorherige Klärung umhin, wie der Begriff des Ermessens im Kontext dieser Arbeit verwendet und rechtlich eingeordnet werden soll.1 Dies scheint zunächst eine nahezu unlösbare Aufgabe zu sein. Denn das Ermessen ist eines jener rechtlichen Phänomene, welche, je näher man ihnen zu kommen glaubt, nur umso undurchsichtiger werden. Der auf den ersten Blick so griffige Begriff entpuppte sich vor allem im Verwaltungsrecht, wo er quasi beheimatet ist, als einer der verschwommensten und vieldeutigsten Rechtsbegriffe.2 Auch wenn die jahrzehntelange Erforschung des verwaltungsrechtlichen Ermessens bis heute keine universelle Definition, geschweige denn einen wissenschaftlichen Konsens im Hinblick auf dessen Wesen und rechtliche Handhabung hervorbringen konnte,3 ist es ihr nichtsdestotrotz zu verdanken, dass zumindest die derzeit herrschende, grundlegende Position auch für andere Rechtsgebiete fruchtbar gemacht werden kann. Dies gilt für das Ordnungswidrigkeitenrecht im beson-

1 So schon Stickelbrock, Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess, S. 12, die auf den Einleitungssatz von Prütting in seiner Habilitationsschrift, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 5 verweist. 2 Ermessen ist kein spezifisches Problem des Verwaltungsrechts, wenngleich es dort am intensivsten diskutiert wird. Es kann grob zwischen legislativem, gubernativem, administrativem und judikativem Ermessen unterschieden werden. Vgl. dazu etwa Stern, Ermessen und unzulässige Ermessensausübung, S. 11; Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 10. Vertiefend zum Legislativermessen bzw. dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers etwa Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, S. 530 ff.; ausführlich zum Judikativermessen Stickelbrock, Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess; Schiffczyk, Das „freie Ermessen“ des Richters im Zivilprozessrecht, 1979. 3 Umfassend zur historischen Entwicklung des Ermessensbegriffs in Deutschland: Held-Daab, Das freie Ermessen, 1996. Erste Ansätze der heute herrschenden Ermessenslehre sind bei G. Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1887; Tezner, Zur Lehre von dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden als Grund der Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte, 1888, zu finden. Umfassend auch W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, 1913.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

deren Maße vor dem Hintergrund, dass Ordnungswidrigkeiten in der Literatur teilweise immer noch4 als reines Verwaltungsunrecht qualifiziert werden,5 was wiederum den Schluss nahe legt, dass sich die Ermessenskonzeption und die Ermessensausübung an verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zu orientieren hat. Allerdings kann nicht übersehen werden, dass die Ordnungswidrigkeit als in § 1 OWiG definierte, rechtswidrige und vorwerfbare Handlung ahndungsfähiges Unrecht voraussetzt. Sowohl ihre Qualifikation als auch die mit dem StGB vergleichbare Ausgestaltung des OWiG sprechen für eine enge Verwandtschaft mit dem Strafrecht. Denn die Ordnungswidrigkeit wird unter den mit den strafrechtlichen Bestimmungen vergleichbaren Voraussetzungen der §§ 3 bis 20 und 31 ff. OWiG „bestraft“.6 Zur Entwicklung eines bußgeldrechtlichen Ermessensbegriffs müssen dessen Einflüsse daher ebenso berücksichtigt werden, wie auch spezielle Regelungen des OWiG, die zu einer zwingenden Modifikation der Interpretation der verwaltungsrechtlichen Ermessenskonzeption führen können.

§ 1 Die verwaltungsrechtliche Ermessenskonzeption Im weitesten Sinne wird Ermessen als Freiraum der Verwaltung verstanden, wenn ihr Verhalten weder durch ein Gesetz vollständig vorausbestimmt ist, noch durch unabhängige Gerichte vollkommen überprüft werden kann.7 Kennzeichnend ist also stets eine doppelte Unabhängigkeit der Exekutive: zum einen die Lockerung der strengen Gesetzesbindung im Verhältnis zur Legislative und zum

4 Die Lehre vom Verwaltungsunrecht wurde maßgeblich von Schmidt, Das neue westdeutsche Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 26 ff. geprägt, der mit der erstmals im WiStG v. 26.7.1949, WiGBl. S. 193 vollzogenen Ausgliederung von Delikten, die zu reinen Verwaltungsschäden führen, aus dem Bereich der Wirtschaftsstraftaten, die das Staatsinteresse am Bestand und der Erhaltung der Wirtschaftsordnung schützten, feststellte, dass letztlich die Anfang des 19. Jahrhunderts von Wolf und Goldschmidt entwickelte Lehre von der strikten Trennung von Justiz- und Verwaltungsunrecht vollzogen wurde. Zum Ganzen: Mattes, Untersuchungen zur Lehre von den Ordnungswidrigkeiten, Rn. 135 ff.; im Überblick auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 36 ff. Wie das Beispiel des Kartell-Ordnungswidrigkeitenrechts zeigt, ist die Idee, wenn sie nicht schon damals nicht konsequent durchgehalten wurde, jedenfalls ins heutige Ordnungswidrigkeitenrecht nicht mehr übertragbar. Ablehnend daher die heute ganz h. M., statt vieler: Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 4; Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 107; Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 24; Lampe, in: KK/OWiG, Vorbem. vor § 35 Rn. 6 ff.; jeweils m.w. N. 5 Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 1; Thieß, OWiR, Rn. 85 f., 383; Scholz, NJW 1997, S. 14 ff. (16). 6 Lediglich im Hinblick auf die Qualität der „Strafe“ und die Täterschaft enthält das OWiG mit den §§ 14, 17, 30 OWiG vom materiellen Strafrecht abweichende Sonderregelungen. 7 Bullinger, in: Bullinger/Starck, Verwaltungsermessen im modernen Staat, S. 131 ff. (131); Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 10; Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 26.

§ 1 Die verwaltungsrechtliche Ermessenskonzeption

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anderen die Ermächtigung zur Letztentscheidung gegenüber den Gerichten.8 Ermessen ist daher Ausdruck der Gewaltenteilung in einer Rechtsordnung. Wo genau jedoch der Bereich exekutiver Entscheidungsfreiheit beginnt und an welcher Stelle er endet, vermag die vorstehende Definition zunächst nicht zu beantworten. Diese Frage bildet den Mittelpunkt der Diskussion um den Ermessensbegriff, insbesondere soweit sie die Abgrenzung der Handlungsspielräume der Verwaltung von der gerichtlichen Kontrolle betrifft.9 Die Rechtswissenschaft hat versucht, sich ihr mit rechtsmethodischen und verwaltungsdogmatischen Ansätzen zu nähern. Erstere umfasste insbesondere semantische10, linguistische11 und normtheoretische12 Erwägungen. Trotz intensiver und langjähriger Bemühungen konnten rechtstheoretische Ansätze bislang jedoch zu keiner endgültigen Lösung des Kompetenzproblems zwischen Verwaltung und Judikative führen, sodass ihre Fruchtbarmachung für die „richtige“ Aufgabenverteilung zwischen den beiden Gewalten mittlerweile stark bezweifelt wird.13 Durchgesetzt hat sich vielmehr ein verwaltungsdogmatischer Ansatz, der das Ermessen als mögliches Mittel einer funktionsadäquaten Aufgabenverteilung im gewaltengeteilten Rechtsstaat begreift. Im Zusammenspiel der Staatsgewalten hat danach jede Gewalt die Aufgaben der anderen Gewalten zu respektieren und ihren Beitrag darauf abzustimmen.14 Vordergründiges Ziel des verwaltungsdogmatischen Ansatzes ist es, einen angemessenen Machtausgleich zwischen den Gewalten zu schaffen und weniger das Verhältnis zwischen den Gewalten mit letztverbindlicher Wahrheit zu erklären. In Anerkennung eines eigenständigen, exekutiven Aufgabenbereichs stellt das Ermessen eine Form gesetzgeberischen Auftrags an die Verwaltung dar, eigene, letztverbindliche Entscheidungsmaßstäbe zu entwickeln.15 Dies bedeutet gleichzeitig, dass den Gerichten die Befugnis zur Konkretisierung der Ermächtigungs8 Ebenso Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht, S. 12 zum europäischen Ermessensbegriff. 9 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Rn. 254 f. 10 Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensermächtigungen im Verwaltungsrecht, 1979. 11 Dazu insb.: Klein, AöR 82 (1957), S. 75 ff. (78 ff.); Loppuch, DVBl. 1955, S. 377 ff. (377); Stern, Ermessen und unzulässige Ermessensausübung, S. 16 f.; Bachof, JZ 1956, S. 590 ff. (590); Starck, in: Franßen/Redeker/Schlichter u. a., Bürger, Richter, Staat, S. 167 ff. (170). 12 Bachof, JZ 1955, S. 97 ff. (98 ff.). 13 Papier, in: Blümel/Merten/Quaritsch, Verwaltung im Rechtsstaat, S. 235 ff. (240 ff.); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 91; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 180 ff. 14 Brohm, DÖV 1987, S. 265 ff. (269); Bullinger, NJW 1974, S. 769 ff. (770). 15 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 188 ff.; Bettermann, AöR 96 (1971), S. 528 ff. (559); Papier, Die Stellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, Rn. 33 f.; Badura, in: Püttner/Göldner/Kisker u. a., Festschrift für Otto Bachof, S. 169 ff. (171); Stettner, DÖV 1984, S. 611 ff. (616).

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

grundlage entzogen ist. Fehlt den Ermächtigungsnormen indes eine ausdrückliche Kompetenzzuweisung an die Verwaltung, steht dieser jedenfalls dann keine letztverbindliche Entscheidungsfreiheit zu, soweit der Richter sich zur Normanwendung des Amtsträgers eine eigene Meinung bilden kann und die Entscheidung desselbigen für rechtswidrig erklären darf. Dies entspricht einer vorbehaltlosen Gewährung der Rechtsschutzgarantie, wie sie Art. 19 Abs. 4 GG bzw. auf europäischer Ebene Art. 6 EMRK16 vorsehen, und damit der gewissermaßen feststehenden Größe eines repressiv ausgerichteten Individualrechtsschutzes.17 Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass sich das Ermessen zwischen den zwei Polen der strengen Gesetzesbindung, nach der die Verwaltung strikt nach den gesetzlichen Vorgaben zu handeln hat,18 und der schrankenlosen Gestaltungsfreiheit einfügt.

A. Die Bedeutung des Ermessens Das Ermessen dient vor allem der Durchsetzung von Einzelfallgerechtigkeit, der Billigkeit.19 Der Gedanke der Gerechtigkeit, der im Wesentlichen von dem Wunsch der Gleichheit geprägt ist, wird allen voran durch abstrakt-generelle Gesetze verwirklicht. Dem Gesetzgeber ist es jedoch in bestimmten, vielgestaltigen Lebensbereichen verwehrt, jede einzelne, möglicherweise auftretende Nuance menschlichen Verhaltens und vor allem komplexe Sachverhalte vorauszusehen, zu bewerten und im Vorfeld zu regeln. Gleichzeitig ist die Legislative als unmittelbar demokratisch legitimierte Staatsgewalt dazu berufen, für Eingriffe in die Rechtssphäre der Bürger hinreichend bestimmte, vorhersehbare formelle Legitimationsgrundlagen zu schaffen,20 die den überwiegenden Willen des Volkes umsetzen. Der Weg aus dem Dilemma zwischen dem Unvermögen einer einzelfallgerechten Regelung und der Umsetzung verfassungsrechtlicher Zielvorgaben 16

Zwar regelt Art. 6 Abs. 1 EMRK ausdrücklich lediglich das Recht auf Zugang zu einem Gericht in Zivilrechtsstreitigkeiten und im strafrechtlichen Anklageverfahren. Da der EGMR die Begriffe jedoch autonom auslegt, werden viele nach deutschem Verständnis öffentlich-rechtliche Streitigkeiten vom EGMR als zivilrechtliche Streitigkeiten angesehen. Vgl. statt vieler Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 4 ff. Zum Streitgegenstand einer Ermessensentscheidung der Verwaltung etwa EGMR, Urt. v. 21.11.2001, Nr. 31253/96 – McElhinney/Irland, Serie A No. 26, EuGRZ 2002, 415. 17 Papier, in: Blümel/Merten/Quaritsch, Verwaltung im Rechtsstaat, S. 235 ff. (236). 18 Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 2. 19 Für das europäische Recht auch: Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 437; von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 363. 20 Dies ergibt sich aus dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten, aber auch dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt, welcher sich aus dem Rechtsstaats- und Demokratieprinzip ableitet und in der Eingriffsverwaltung unbeschränkt Anwendung findet. Statt aller Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 97 ff., insb. 104 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 4 ff.; siehe ferner auch noch Teil 4 § 2 C. I. 1. (S. 503 ff.).

§ 1 Die verwaltungsrechtliche Ermessenskonzeption

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durch das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip führt über das Ermessen. Um eine möglichst gerechte, zweckmäßige und flexible Lösung im konkreten Einzelfall zu ermöglichen, beschränkt sich der Gesetzgeber darauf, das Ziel der Regelung bei zu regelnden Falllagen mit einer weiten Streubreite an Besonderheiten anzugeben.21 Unter Berücksichtigung dieser Zielbestimmung sowie der gegebenen, tatsächlichen Umstände ist es an der Behörde im konkreten Einzelfall eine sachgerechte und angemessene Lösung finden, ohne stur einem festgelegten Wenn-Dann-Schema folgen zu müssen. Auf diese Weise kann die zuständige Behörde auf veränderte Gegebenheiten positiv wie negativ schnell reagieren. Zudem erlaubt es das behördliche Ermessen, den Bürger vor unnötigen Eingriffen zu verschonen, was gleichzeitig der Wirtschaftlichkeit und Funktionsfähigkeit der Verwaltung zugutekommt.

B. Verortung des Ermessens Dem Gesetzgeber stehen zwei Instrumente zur Verfügung, um die Abschwächung der Gesetzesbindung zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit normstrukturell22 umzusetzen: durch die Installation von unbestimmten Rechtsbegriffen23 im gesetzlichen Tatbestand und durch die Einräumung einer normativen Wahlfreiheit zwischen Handlungsalternativen auf der Rechtsfolgenseite der Norm. I. Die Wesensverschiedenheit von Rechtsfolgeermessen und Rechtsanwendung Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts verstand man unter Ermessen eine umfassende Entscheidungsfreiheit, die sich unterschiedslos sowohl auf den Tatbestand als auch die Rechtsfolgenseite der Norm erstreckte.24 Unbestimmte Rechtsbegriffe wurden als Einfallstor zum Tatbestandsermessen begriffen, tatsächliche Handlungsalternativen als Rechtsfolgeermessen. Die begriffliche Unterscheidung

21 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 13; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 31 Rn. 36. 22 Zum Teil wird in der Literatur zwischen der Verwendung von Regeln und Prinzipien des Gesetzgebers unterschieden. Bei letzteren bringe der Gesetzgeber lediglich einen Leitgedanken zum Ausdruck, aber keine bestimmten Rechtsfolgeanordnungen für bestimmte Tatbestände. So u. a. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, S. 9; Larenz, Richtiges Recht, S. 23 ff. 23 Unbestimmte Rechtsbegriffe sind Ausdruck menschlich begrenzten Definitionsvermögens. Sie dienen dazu Sachverhalte zu erfassen, die sich weder genau vorhersehen noch definieren lassen. Daher stehen sie letztlich für eine unvollkommene Gesetzgebung und weisen dem Normanwender ihre Auslegung zu. Siehe Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 4 f. 24 Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 10; vertiefend Held-Daab, Das freie Ermessen, 1996.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

hatte keine inhaltliche Dimension. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes bedingten in der Folgezeit jedoch ein Bestreben, das Ermessen zugunsten eines konsequenten Aufbaus eines Rechtsstaates einzuengen.25 Die Verwaltung sollte möglichst lückenlos durch Gesetze determiniert und umfassend gerichtlich kontrolliert werden. Daher setzte sich in den 1950er Jahren zunehmend die Ansicht durch, die Verwaltung sei bei der Umsetzung ihres gesetzgeberischen Auftrages zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit nur eingeschränkt souverän. Es setzte eine Trennung zwischen dem voluntativen Ermessen, bei dem die Verwaltung bei Vorliegen der Tatbestandsmerkmale über das „Ob“ und „Wie“ ihres Handelns selbst bestimmen kann, und dem sogenannten Beurteilungsspielraum ein, der als Freiheit der Verwaltung verstanden wird, einen unbestimmten Rechtsbegriff inhaltlich zu konkretisieren. Diese strikte Dichotomie wird bis heute von der herrschenden Literatur26 und Rechtsprechung27 durchgehalten. Sie hat Auswirkungen auf die gerichtliche Kontrolle: Das Ermessen eröffnet der Verwaltung nach der weithin herrschenden Meinung eine echte subjektive Entscheidungsfreiheit, zwischen mehreren rechtmäßigen Handlungsalternativen nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu wählen.28 Die behördliche Entscheidung habe also den Charakter eines Willensaktes, sodass lediglich eine Rechtmäßigkeitskontrolle, nicht aber eine Zweckmäßigkeitskontrolle durch die Gerichte erlaubt sei.29 Demgegenüber wird die Auslegung einer Norm als juristischer, 25

Bullinger, JZ 1984, S. 1001 ff. (1003). Grundlegend Bachof, JZ 1955, S. 97 ff. (100); Reuß, DVBl. 1953, S. 585 ff. (585) und Ule, in: Bachof, Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, S. 309 ff. (316, 326); ebenso Stern, Ermessen und unzulässige Ermessensausübung, S. 20, 23; aus der neueren Literatur: Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 26; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 32; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 4, 11; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 3 ff.; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 40 Rn. 4; a. A. im Sinne einer einheitlichen Betrachtung etwa: Ehmke, „Ermessen“ und „unbestimmter Rechtsbegriff“ im Verwaltungsrecht, S. 22, 45 ff.; Klein, AöR 82 (1957), S. 75 ff. (118 ff.); Sendler, in: Blümel/Merten/Quaritsch, Verwaltung im Rechtsstaat, S. 337 ff.; Soell, Das Ermessen der Eingriffsverwaltung, S. 116 ff., 368 ff.; Rupp, NJW 1969, S. 1273 ff.; aus der neueren Literatur Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 11 Rn. 10 ff. 27 BVerfG, Beschl. v. 1.8.1978, Az. 2 BvR 1013/77, 2 BvR 1019/77, 2 BvR 1034/77 – Kontaktsperregesetz, BVerfGE 49, 24 (66), Rn. 134 (juris); Beschl. v. 8.8.1978, Az. 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89 (133), Rn. 122 ff. (juris); Beschl. v. 28.6.1983, Az. 2 BvR 539/80, 2 BvR 612/80 – Hafturlaub, BVerfGE 64, 261 (279), Rn. 45 (juris); Beschl. v. 20.6.2012, Az. 2 BvR 1048/11 – vorbehaltlose Sicherungsverwahrung, NJW 2012, 3357 (3365), Rn. 132; Beschl. v. 4.10.2012, Az. 2 BvR 1120/12, Rn. 10 (juris); BVerwG, Urt. v. 27.9.1962, Az. II C 164.61, BVerwGE 15, 39 (40), Rn. 30 (juris); Urt. v. 2.4.1968, Az. VI C 73.67, BVerwGE 29, 279 (280), Rn. 23 (juris). 28 Statt vieler: Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Rn. 256. 29 BVerwG, Urt. v. 27.5.1981, Az. 8 C 51/79, BVerwGE 62, 230 (241), Rn. 43 (juris); Urt. v. 8.11.1973, Az. V C 29.71, BVerwGE 44, 156 (159), Rn. 18 (juris); Jesch, AöR 1957, S. 163 ff. (207, 211); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 8; Redeker/v.Oertzen, VwGO, § 114 Rn. 7. Eine Gegenauffassung bestreitet die mit dem Ermessen verbundene Wahlfreiheit und sieht das Ermessen als Ermächtigung der Verwal26

§ 1 Die verwaltungsrechtliche Ermessenskonzeption

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kognitiver Erkenntnisakt verstanden. Bei der abstrakt-generellen Sinnerschließung unbestimmter Rechtsbegriffe könne es im Ergebnis keine zwei gleichermaßen richtigen Entscheidungen geben.30 Mangels erkennbaren Wissensvorsprungs der Verwaltung unterliege die Annahme der Einschlägigkeit eines Tatbestandes daher grundsätzlich der vollständigen Nachprüfung durch den Verwaltungsrichter.31 Die Lehre vom Beurteilungsspielraum schließt nur in bestimmten, wenigen Ausnahmefällen aufgrund der Nichtwiederholbarkeit der Entscheidungssituation, der besonderen Fachkunde oder der besonderen Ermächtigung der Verwaltung eine gerichtliche Kontrolle aus.32 II. Der kompetenzzuweisende Charakter der Ermessensnorm Auf die Besonderheit der Ermessensnorm, die keine bestimmte Rechtsfolge zwingend anordnet, lassen vor allem Worte wie „kann“, „darf“ oder „ist befugt/ berechtigt“ schließen, sofern es sich nicht ausnahmsweise allein um eine bloße Zuständigkeitsnorm handelt oder eine verfassungskonforme Auslegung der Norm zu einem anderen Ergebnis führen muss.33 Umgekehrt können auch weniger eindeutige Vorschriften als Ermessensnormen zu deuten sein. Die Frage, ob der Gesetzgeber tatsächlich die Letztentscheidungsbefugnis an die Verwaltung delegiert hat, ist – trotz vermeintlich eindeutigem Wortlaut – also letztlich immer erst mithilfe einer Auslegung abschließend zu beantworten. Die herrschende normative Ermächtigungslehre greift insoweit auf den in der Regelung mutmaßlich verborgenen, gesetzgeberischen Willen zurück, und gegebenenfalls sekundär auf etwaige Umstände, wie die besondere Sachkunde der Behörde.34 Da die Interpretation abstrakt-genereller Regelungen wiederum originäre Obliegenheit der rechtsprechenden Gewalt ist, wird man nicht umhin kommen, zumindest faktisch

tung zur Findung der Lösung, die der Intention des Gesetzgebers am ehesten gerecht wird. So etwa Weides, Verwaltungsverfahren und Widerspruchsverfahren, S. 171; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 10 Rn. 81 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 2, 8 f.; weitere Nennungen auch bei Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 56. 30 BVerwG, Urt. v. 28.5.1963, Az. I C 247.58, BVerwGE 16, 116 (129 f.), Rn. 31 (juris); Reuß, DVBl. 1953, S. 585 ff. (649 ff.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 29; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 31 Rn. 6. 31 BVerfG, Beschl. v. 16.12.1992, Az. 1 BvR 167/87 – Privatschulfreiheit, BVerfGE 88, 40 (56 f.), Rn. 44 (juris); BVerwG, Urt. v. 25.11.1993, Az. 3 C 38/91, BVerwGE 94, 307 (309), Rn. 22 (juris); Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 10. 32 Vertiefend hierzu: Ule, in: Bachof, Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, S. 309 ff. (318 f., 324 ff.); Bachof, JZ 1955, S. 97 ff. (98 ff.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 37 ff.; zusammenfassend Rode, 40 VwVfG und die deutsche Ermessenslehre, S. 51 ff. 33 Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 16 m.w. N. 34 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 187 ff.

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auch die richterliche Entscheidung als Grundlage einer Ermessensdelegation zu sehen.35 Der Umfang des administrativen Spielraums kann zum Teil erheblich variieren. Die Skala reicht von einer möglichen, jedoch fakultativen Rechtsfolge bis hin zur vollumfänglichen Übertragung der Rechtsfolgenbestimmung. Sofern es der Verwaltung offen steht, ob sie eine gesetzlich zulässige, nicht aber zwingende Maßnahme ergreift, wird vom sogenannten Entschließungsermessen gesprochen.36 Demgegenüber betrifft der Abwägungsvorgang, welche von mehreren rechtlich zulässigen Maßnahmen, gegen wen in concreto ergriffen werden soll, das sogenannte Auswahlermessen.37 In der Praxis lassen sich beide Ermessenstypen meist nicht konsequent trennen. So wird in den meisten Fällen die Beantwortung der Frage des „Ob“ des Handelns zwangsläufig mit der Entscheidung über die Art der zu ergreifenden Maßnahme eng verwoben sein. Auf rechtsdogmatischer Ebene erscheint eine Unterscheidung jedoch lohnend, da sich insbesondere im Hinblick auf mögliche Ermessensreduktionen Unterschiede ergeben können.38 Gelegentlich wird zudem zwischen materiellem Ermessen und Verfahrensermessen unterschieden. Während das materielle Ermessen die Entscheidung in der Sache betrifft, bezieht sich das Verfahrensermessen auf die Wahl der Verfahrensart einschließlich der Handlungsform oder auf die von der Behörde durchzuführenden Verfahrenshandlungen, etwa Ermittlungen zur Vorbereitung einer Sachentscheidung.39 Wenngleich einzelne Aspekte des Verfahrensermessens ungeklärt sind,40 geht die verwaltungsrechtliche Rechtsprechung unabhängig von der terminologischen Differenzierung von einer strukturellen Gleichheit beider Ermessensformen aus.41

35 In diesem Sinne für das europäische Recht: Cooke, in: University of Cambridge, The Modernization of European Competition Law, S. 58 ff. (60); Galligan, Discretionary Powers, S. 24; Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht, S. 12 ff. 36 VGH Mannheim, Urt. v. 12.3.1985, Az. 10 S 1891/82, NJW 1986, 395 (398 f.). 37 BayVGH, Urt. v. 23.2.1989, Az. 2 B 87.01634, BauR 1990, 202; BVerwG, Beschl. v. 12.4.1989, Az. 5 B 176/88, NVwZ-RR 1990, 39, Rn. 5 (juris); VGH Kassel, Beschl. v. 14.3.2003, Az. 9 TG 2894/02, NVwZ-RR 2004, 32, Rn. 10 f. (juris). 38 Siehe diesbezüglich noch die Differenzierung zwischen der „Ob“ der Ahnung eines Kartells und des einzelnen Kartellbeteiligten: Teil 2 § 3 B. III. (S. 122 ff.) und etwa Teil 2 § 4 B. II. (S. 170 ff.), Teil 2 § 4 C. (S. 173 ff.) und Teil 2 § 4 F. (S. 297 ff.). 39 Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 10 Rn. 16; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 10 Rn. 6 f.; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 39 ff.; enger Hill, NVwZ 1985, S. 449 ff. (449 f.), der die Wahl der Verfahrensart ausklammern will. 40 Hill, NVwZ 1985, S. 449 ff. 41 BVerwG, Urt. v. 29.4.1983, Az. 1 C 5/83, NVwZ 1983, 742.

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C. Steuerung der Ermessensausübung und Ermessensreduzierung Die Reichweite möglicher Ermessensentscheidungen ist einerseits fremdbestimmt durch das europäische Primär- und Sekundärrecht sowie auf nationaler Ebene durch das nationale Verfassungsrecht und durch einfach-gesetzliche Vorschriften. Andererseits beschränkt und steuert die Verwaltung selbst das ihr eingeräumte Ermessen, sobald sie im Einzelfall tätig wird oder zuvor mittels generell-abstrakter Verwaltungsvorschriften bzw. -richtlinien. I. Heteronome Verengung des Ermessensspielraums Nach § 40 VwVfG hat die Verwaltung ihr Ermessen dem Zweck der Ermächtigung entsprechend auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die Vorschrift stellt klar, dass die Verwaltung nicht verabsolutiert „frei“ in ihrer Entscheidungsfindung ist, sondern ihr Ermessen pflichtgemäß auszuüben hat, indem sie die rechtlichen Vorgaben des Verfassungsrechts, des Europarechts und einfach-gesetzlicher Vorschriften beachtet.42 Zuvorderst der Gesetzgeber lenkt die Ermessensausübung der Verwaltung im konkreten Einzelfall. Die wohl gebräuchlichsten Steuerungsmittel mit gleichzeitig äußerster Nähe zur strengen Gesetzesbindung bilden sogenannte Sollvorschriften. Wenn die Behörde in einer bestimmten Weise handeln soll, besteht in dieser gesetzlich beschriebenen Konstellation im Regelfall keinerlei Spielraum. Vielmehr ist „Soll“ regelmäßig mit „Muss“, also einer strengen Gesetzesbindung, gleichzusetzen.43 Nur in atypischen Fällen, nämlich dann, wenn der abstrakte Rahmen des Gesetzes zwar erfasst ist, der Schutzzweck der Norm jedoch nicht erreicht würde,44 oder aber aus wichtigem Grund,45 kann die Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen von der für den „Normalfall“ vorgesehenen Rechtsfolge abweichen. Durch Sollvorschriften wird das Ermessen daher von vornherein nur äußerst eng gewährt. Eine ähnliche Steuerungsintensität erreichen nur 42 BVerfG, Beschl. v. 16.2.1965, Az. 1 BvL 15/62, BVerfGE 18, 353 (363), Rn. 21 (juris); Beschl. v. 26.2.1985, Az. 2 BvR 1145/83, BVerfGE 69, 161 (169), Rn. 29 (juris) m.w. N. 43 St. Rspr.: BVerwG, Urt. v. 2.7.1992, Az. 5 C 39/90, BVerwGE 90, 275 (278), Rn. 15 (juris); Beschl. v. 3.9.2009, Az. 9 B 79/09, Rn. 2 (juris); soweit ersichtlich auch einhellige Meinung der Literatur, etwa: Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 44; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 26; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 36; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 39; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 40 Rn. 14. 44 BVerwG, Urt. v. 31.3.1987, Az. 1 C 29/84, BVerwGE 77, 164 (180), Rn. 59 (juris); ferner die Nachweise in Fn. 43. 45 BVerwG, Urt. v. 25.6.1975, Az. VIII C 77.74, BVerwGE 49, 16 (23), Rn. 34 (juris).

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explizite Angaben über die in die Abwägung (nicht) einzustellenden Interessen und Umstände46 oder die Gewichtung derselbigen in Pattsituationen. Im Übrigen bildet der in der Ermessensnorm verankerte Zweck den Wegweiser für die Ermessensausübung der Verwaltung. Die gesetzgeberische Intention begrenzt nicht nur den Freiraum der Verwaltung, sondern steuert zugleich deren Verhalten, da das Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise ausgeübt werden muss.47 Sofern der Gesetzgeber keine ausdrücklichen Zielvorgaben in der Vorschrift einbettet, ist der Grad der Gesetzesbindung in der Regel gering. Begrenzt wird das Ermessen in diesen Fällen grundsätzlich allein durch das einfache Recht, das Verfassungsrecht und das Europarecht. So können Grundrechte ganz generell ermessensbeschränkend wirken, wie etwa bei Genehmigungsvorbehalten. Darüber hinaus reduzieren sie jedoch die Entscheidungsfreiheit der Verwaltung auch im konkreten Einzelfall, da sie grundsätzlich zusammen mit anderen Verfassungsprinzipien bei dem einer Ermessensentscheidung zugrunde liegenden Abwägungsprozess zu berücksichtigen sind. Einen gleichfalls bedeutsamen Einfluss nimmt das Unionsrecht auf die Ermessensausübung der Verwaltung. So ist es mittlerweile anerkannt, dass Ermessensermächtigungen im Lichte des europäischen Unionsrechts anzuwenden sind.48 Dies kann aufgrund des „effet utile“-Grundsatzes49 oder des Diskriminierungsverbotes zu einer Ermessensbeschränkung bis hin zu einer strengen Vorprägung auf lediglich eine rechtmäßige Handlungsalternative führen. II. Autonome Verengung des Ermessensspielraums durch Selbstbindung der Verwaltung Neben den heteronomen Ermessensbeschränkungen kann sich die Verwaltung durch sogenannte Selbstbindung bewusst oder unbewusst in ihren Handlungs46

Dazu etwa Bachof, JZ 1972, S. 641 ff. (643). Den Gesetzeszweck auch als Ermessensdirektive begreifend: Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 23; Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 95; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 88 ff.; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 40 Rn. 28 f.; a. A. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 15. 48 Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 3 Rn. 53; Wolff/ Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 31 Rn. 43. 49 Dieses Phänomen ist etwa bei der Rücknahme materiell unionsrechtswidriger, nationaler Beihilfebescheide bekannt. Im Falle der Bestandskraft einer Kommissionsentscheidung, die die Bundesrepublik zur Rücknahme des Bescheids verpflichtet, ist eine nach nationalem Recht zulässige Rücknahme auch tatsächlich vorzunehmen; das grundsätzlich nach § 48 Abs. 2 VwVfG bestehende Ermessen ist in diesem Fall auf die einzig rechtmäßige Entscheidung, nämlich der Rücknahme, reduziert. Vgl. BVerwG, Urt. v. 17.2.1993, Az. 11 C 47/92, BVerwGE 92, 81 (87), Rn. 11 ff., insb. 18 (bei juris); Beschl. v. 28.9.1994, Az. 11 C 3/93, NVwZ 1995, 703 (706), Rn. 36 ff., insb. 42 (juris). Vgl. u. a. auch: Pache, NVwZ 1994, S. 318 ff. (326); Rennert, DVBl. 2007, S. 400 ff. (403, 408). 47

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optionen beschränken. Der Begriff der Selbstbindung sollte dabei jedoch nicht zu eng verstanden werden. Der Selbstbindung ist naturgemäß stets ein Element der Fremdbindung immanent, da sie erst durch ein ihr zugrunde liegendes Rechtsprinzip angeordnet wird.50 1. Verwaltungspraxis und das Gleichbehandlungsgebot

Entscheidet sich die Verwaltung bei einer Vielzahl von gleichgelagerten Fällen für eine bestimmte Maßnahme oder handelt sie stets in einer bestimmten Form, so bildet sie eine Art Entscheidungsmuster aus. Vorausgesetzt, es handelt sich um einen vergleichbaren Sachverhalt, begründet dieses Entscheidungsmuster nach ganz einhelliger Meinung einen Anspruch des Bürgers auf Vollzug des Gesetzes in der dieser Verwaltungspraxis entsprechenden Weise.51 Dies ergibt sich aus dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Anders formuliert ist die Verwaltung gehalten, das Gesetz jedem Bürger gegenüber in genau jener Richtung zu vollziehen, in der sie es bisher getan hat. Auf diese Weise beschränkt die Verwaltung ihren gesetzlichen Aktionsradius selbst. Zwar ist die Behörde nicht gehindert, von ihrer bisherigen Verwaltungspraxis abzuweichen. Dazu bedarf es jedoch nachvollziehbarer Sachgründe.52 Willkürliche Abweichungen aus Anlass eines konkreten Einzelfalls sind unzulässig. 2. Verwaltungsvorschriften

Eine in der Praxis bedeutende Form verwaltungsinterner Steuerung behördlicher Entscheidungen stellen Verwaltungsvorschriften dar. Mittels Verwaltungsvorschriften legen hierarchisch übergeordnete Verwaltungsinstanzen oder Vorgesetzte unterstellten Behörden, Verwaltungsstellen und Bediensteten generell-abstrakte Regelungen auf.53 Sie können die innere Ordnung, aber auch das Handeln der Verwaltung betreffen. Dienen sie der näheren Bestimmung des Verwaltungsvollzugs, handelt es sich um sogenannte verhaltenslenkende Verwaltungsvorschriften, die klassischerweise 50 Wallerath, Die Selbstbindung der Verwaltung, S. 21; Ossenbühl, DVBl. 1981, S. 857 ff. (858); Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 13. 51 St. Rspr., vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 27.10.1955, Az. IV C 26.55, BVerwGE 2, 279 (281); Urt. v. 21.10.1986, Az. 1 C 44/84, BVerwGE 75, 86 (93), Rn. 24 (juris); Urt. v. 28.2.1979, Az. VIII C 17.77, NJW 1979, 1898, Rn. 31 (juris); ebenso die Lit., statt aller: Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 25; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 64 ff.; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 64 ff. m.w. N. 52 BVerfG, Beschl. v. 18.6.1986, Az. 1 BvR 787/80, BVerfGE 73, 280 (300), Rn. 50 (juris); Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 20. 53 Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 2 Rn. 65; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 1.

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einer weiteren Typisierung unterliegen. So wird zwischen norminterpretierenden, normkonkretisierenden und ermessenslenkenden Verwaltungsvorschriften bzw. -richtlinien unterschieden.54 Im Gegensatz zu norminterpretierenden und normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften, die der Auslegung von Tatbeständen bzw. ihrer Ausfüllung dienen, betreffen Ermessensleitlinien die Rechtsfolgenseite einer Norm und beinhalten Vorgaben hinsichtlich der Entscheidungsfindung bei der Ermessensbetätigung.55 Sie liefern Entscheidungsmaßstäbe und -muster für eine sachgerechte Ausübung des Verwaltungsermessens. Mit anderen Worten legen ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften also fest, ob und auf welche Weise von einem gesetzlich zugewiesenen Gestaltungs-, Entscheidungs- oder Handlungsspielraum Gebrauch gemacht werden soll. Damit ist – zugunsten der Transparenz und Rechtsstaatlichkeit aber auch der Effizienz der Verwaltung – vor allem eine einheitliche und gleichmäßige Handhabung des Ermessens bezweckt.56 Verwaltungsvorschriften richten sich in erster Linie und unmittelbar an nachgeordnete Dienststellen und Amtsträger. Da letztere aufgrund ihrer dienstrechtlichen Gehorsamspflicht gehalten sind, die internen Regelungen zu beachten und ihrer Tätigkeit zu Grunde zu legen, wirken Verwaltungsvorschriften zuvorderst dem administrativen Entscheiderorgan gegenüber bindend.57 Demgegenüber wird ermessenslenkenden Verwaltungsrichtlinien eine direkte, nach außen wirkende, normative Verbindlichkeit von der herrschenden Meinung, unter gleichzeitiger Versagung eines Rechtsnormcharakters, zu Recht abgesprochen.58 Vielmehr gelten Verwaltungsvorschriften als reines Innenrecht; da sie sich nicht an den Bürger richten, folgen aus ihnen auch keine unmittelbaren bürgerlichen Rechte und 54 Zur Terminologie und Unterscheidung statt vieler: Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 9 ff.; Remmert, Jura 2004, S. 728 ff. (728); Kautz, GewArch 2000, S. 230 ff. (231). 55 Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 6 Rn. 31; Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 1 Rn. 215. 56 BVerwG, Urt. v. 10.12.1969, Az. VIII C 104.69, BVerwGE 34, 278 (281), Rn. 13 (juris); Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 1 Rn. 215. 57 BVerfG, Beschl. v. 31.5.1988, Az. 1 BvR 520/83 – Existenzminimum, BVerfGE 78, 214 (227), Rn. 37 (juris); ferner statt aller: Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 1 Rn. 212 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 16. 58 Etwas anderes soll nach h. M. für normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, wie die TA-Luft und TA-Lärm, gelten, welche unmittelbare Außenwirkung entfalteten. Grundlegend: BVerwG, Urt. v. 19.12.1985, Az. 7 C 65/82, BVerwGE 72, 300 (315 ff.), Rn. 36 ff. (juris); ferner Urt. v. 28.10.1998, Az. 8 C 16/96, BVerwGE 107, 338 (341), Rn. 16 f. (juris); Urt. v. 21.6.2001, Az. 7 C 21/00, BVerwGE 114, 342 ff., Rn. 9 ff. (juris); ebenso Schmidt-Aßmann, in: Kirchhof/Lehner/Raupach u. a., Staaten und Steuern, S. 477 ff. (491 ff.); Leisner, JZ 2002, S. 219 ff.; Wahl, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch u. a., Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 571 ff.; krit. Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 2 Rn. 69; Möstl, in: Erichsen/ Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 20 Rn. 19 ff.; Wolf, DÖV 1992, S. 849 ff. (852 ff.).

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Pflichten.59 Verwaltungsvorschriften determinieren allerdings die verwaltungsinterne Ausübung des Beurteilungs- und Ermessensspielraums, sodass sich aus ihnen eine mittelbare Außenwirkung ergibt. Da die Regelungen die ständige Verwaltungspraxis steuern und vereinheitlichen, hat der Bürger einen Anspruch auf Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, im Fall von Ermessensleitlinien also auf gleichmäßige Ausübung des Ermessens. Dies gilt auch für Verwaltungsrichtlinien, die neu geschaffen, aber noch nicht angewendet wurden. Besteht noch keine Verwaltungspraxis, behilft sich die Rechtsprechung bei der Bewertung des „ersten Falls“ mit der Figur der antizipierten Verwaltungspraxis, also der vermuteten, künftigen Anwendung der Verwaltungsvorschriften.60 Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften binden daher in aller Regel nicht nur die Ermessensausübung nach innen, sondern auch nach außen gegenüber dem Bürger, sofern die Ermessensleitlinien Ziele verfolgen, die von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt sind. Allerdings wirkt die Ermessensbindung nicht absolut. Zum einen sind stets die Besonderheiten des konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen, welche bei wesentlichen Abweichungen vom geregelten „Normalfall“ zu einer von den Verwaltungsvorschriften abweichenden Ermessensentscheidung führen können. Zum anderen kann die Verwaltung ihre Vorschriften jederzeit ändern, sofern dies nicht willkürlich erscheint und das Vertrauen der Bürger in den Fortbestand der Verwaltungsvorschriften das Änderungsinteresse nicht überwiegt.61 3. Sonderfall: Die Ermessensreduktion auf null

Aufgrund besonderer Umstände im konkreten Einzelfall kann sich der Ermessensspielraum derart verengen, dass von den generell eröffneten Handlungsalternativen alle bis auf eine rechtswidrig sind. Die Verwaltung ist in dieser Konstellation gezwungen, die einzig rechtmäßige Entscheidung zu treffen. Mit anderen 59 BVerwG, Urt. v. 26.4.1979, Az. 3 C 111/79, BVerwGE 58, 45 (49), Rn. 20 (juris); Urt. v. 16.9.1980, Az. I C 52.75, BVerwGE 61, 15 (18), Rn. 17 (juris) m.w. N.; Urt. v. 6.11.1986, Az. 3 C 72/84, BVerwGE 75, 109 (117), Rn. 34 (juris); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 3; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 24 Rn. 23; Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 97; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 2 Rn. 67; Möstl, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 19 Rn. 4, § 20 Rn. 19. 60 St. Rspr., vgl. etwa BVerwG, Urt. v. 25.6.1964, Az. VIII C 23.63, BVerwGE 19, 48 (55), Rn. 16 ff. (juris); Urt. v. 24.3.1977, Az. 2 C 14.75, BVerwGE 52, 193 (199); Urt. v. 15.6.2006, Az. 2 C 14/05, Rn. 25 (juris) m.w. N.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 22. 61 BVerwG, Beschl. v. 20.3.1973, Az. I WB 217.72, BVerwGE 46, 89 (91); Beschl. v. 1.6.1979, Az. 6 B 33.79, NJW 1980, 7.5, Rn. 3 (juris); Urt. v. 18.9.1984, Az. 1 A 4/83, BVerwGE 70, 127 (142), Rn. 29 (juris); Urt. v. 18.5.1990, Az. 8 C 48/88, BVerwGE 85, 164 (167), Rn. 23 (juris); Beschl. v. 28.9.2010, Az. 1 WB 41/09, Rn. 40 (juris); Beschl. v. 26.6.2007, Az. 1 WB 12/07, Rn. 29 (juris); OVG NRW, Urt. v. 23.8.2011, Az. 8 A 2247/10, Rn. 40 ff. (juris) mit zahlreichen weiteren Nennungen.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

Worten schrumpft ihr eigentlich gewährter Ermessensspielraum auf null.62 Die Ermessensentscheidung erfolgt gebunden. Sie wird daher von der ganz überwiegenden Meinung auch wie eine gebundene Entscheidung behandelt.63 Die Faktoren, die zu einer Ermessensreduktion auf null führen, entsprechen denjenigen, die den Ermessensspielraum lediglich verengen. Es sind vor dem Hintergrund der besonderen Umstände des Lebenssachverhaltes vor allem der Einfluss verfassungs- und unionsrechtlicher Prinzipien sowie verfassungsmäßiger Rechte, aber auch selbstbindende Entscheidungen der Behörde.64

D. Beschränkte gerichtliche Kontrolle – Die Ermessensfehlerlehre Die Unabhängigkeit der Verwaltung von den Gerichten ergibt sich daraus, dass die grundsätzlich umfassende Garantie des Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG bei letztverbindlichen Ermessensentscheidungen aufgrund der demokratisch legitimierten, gesetzgeberischen Entscheidung zulässigerweise auf eine ausschließlich rechtliche Kontrollgarantie beschränkt wird.65 Für verwaltungsbehördliche Entscheidungen hat der Gesetzgeber – diesem Grundsatz entsprechend – die Vorschrift des § 114 VwGO installiert, nach der das Gericht neben der nicht erwähnten, grundsätzlich zwingenden Kontrolle der korrekten Normauslegung66 und der Einhaltung von Verfahrensvorschriften67 auch zu prüfen hat, ob die Behörde ihr Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt, also insbesondere die soeben aufgezeigten Ermessensgrenzen beachtet hat. In der Verwaltungsrechtswissenschaft und -rechtsprechung hat sich eine Typisierung von Rechtsfehlern unter dem Topos „Ermessensfehlerlehre“ durchge62 Allgemein zum Begriff etwa: Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 153, 155; Rode, 40 VwVfG und die deutsche Ermessenslehre, S. 83; Hain/ Schlette/Schmitz, AöR 122 (1997), S. 32 ff. (39 ff.); Laub, Die Ermessensreduzierung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 56 ff.; Di Fabio, VerwArch 86 (1995), S. 214 ff. (215 ff.) m.w. N. 63 Hain/Schlette/Schmitz, AöR 122 (1997), S. 32 ff. (41); Di Fabio, VerwArch 86 (1995), S. 214 ff. (215). 64 Umfassend dazu: Laub, Die Ermessensreduzierung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, S. 30 ff.; siehe auch Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 155 ff. 65 BVerfG, Beschl. v. 8.7.1982, Az. 2 BvR 1187/80, BVerfGE 61, 82 (111), Rn. 79 (juris); Beschl. v. 17.4.1991, Az. 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83, BVerfGE 84, 34 (50), Rn. 47 (juris); Beschl. v. 16.12.1992, Az. 1 BvR 167/87 – Privatschulfreiheit, BVerfGE 88, 40 (56), Rn. 44 (juris); Urt. v. 20.2.2001, AZ. 2 BvR 1444/00, BVerfGE 103, 142 (156 f.), Rn. 51 (juris). 66 BVerwG, Urt. v. 10.7.1964, Az. VII C 124.63, BVerwGE 19, 128 (132 f.), Rn. 32 (juris); Urt. v. 16.12.1971, Az. I C 31.68, BVerwGE 39, 197 (204), Rn. 23 (juris); Urt. v. 28.4.183, Az. 2 C 89/81, DVBl. 1983, 1105 (1108), Rn. 20 (juris). 67 BVerwG, Urt. v. 25.3.1981, Az. 7 C 8/79, DVBl. 1981, 1149, Rn. 18 f. (juris); Urt. v. 7.5.1981, Az. 2 C 5/79, DVBl. 1982, 195 f., Rn. 13 f. (juris).

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setzt. Im Wesentlichen werden drei Ermessensfehler unterschieden:68 Nimmt die Verwaltung keine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls vor, etwa weil sie sich gebunden fühlt, den Entscheidungsspielraum also nicht erkennt, handelt es sich um einen Ermessensnichtgebrauch. Lässt sich die Behörde von sachfremden Erwägungen leiten, die nicht vom Zweck der Ermächtigungsnorm gedeckt sind, liegt ein Ermessensmissbrauch vor. Die Wahl einer nicht mehr im Rahmen der Ermessensvorschrift liegenden Rechtsfolge, insbesondere der Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unter mangelhafter Gewichtung der Grundrechte, begründet den Rechtsfehler der Ermessensüberschreitung.

E. Zusammenfassung Verwaltungsrechtliches Ermessen besteht, wenn einer zur Rechtsanwendung betrauten Behörde die Kompetenz zur Letztentscheidung eingeräumt ist, weil die Rechtsfolgen einer Ermächtigungsnorm nicht oder nur begrenzt vorprogrammiert sind und die Gerichte die behördliche Entscheidung allein auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen können. Der Gesetzgeber eröffnet der zuständigen Behörde einen Gestaltungs-, Handlungs- und/oder Entscheidungsspielraum, um zuvorderst möglichst gerechte Entscheidungen im Einzelfall zu ermöglichen. Der gewährte Freiraum besteht im konkreten Einzelfall innerhalb der Schranken, die durch den Zweck der Regelung, höherrangige Rechtsgrundsätze und einfachgesetzliche Regelungen gesetzt sind. Die zur Entscheidung berufene Behörde hat ihr Ermessen auszuüben, die heteronomen und autonomen Ermessensgrenzen zu achten und sämtliche Umstände des Einzelfalls wertend abzuwägen. Innerhalb dieser Grenzen kann sie frei entscheiden. Die Verwaltungsgerichte prüfen nicht, ob die behördliche Entscheidung zweckmäßig ist.

§ 2 Modifizierte Ermessenskonzeption im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht Fraglich ist, ob die Ermessenskonzeption des Verwaltungsrechts unreflektiert auf das Kartell-Bußgeldverfahren übertragen werden kann. Dafür ließe sich das aus dem Rechtsstaatsprinzip und teilweise aus der bundeskompetenzrechtlichen

68 BVerwG, Urt. v. 18.8.1960, Az. I C 42.59, BVerwGE 11, 95 (97), Rn. 10 (juris); BVerwG, Urt. v. 14.10.1965, Az. II C 3.63, BVerwGE 22, 215 (230), Rn. 32 (juris); Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 40 Rn. 58 ff.; Stern, Ermessen und unzulässige Ermessensausübung, S. 27 ff.; Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 15 ff.; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 47 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 62 ff.; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 78 ff.; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 40 Rn. 21 ff.; vgl. auch Rode, 40 VwVfG und die deutsche Ermessenslehre, S. 86 ff. m.w. N.

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Ordnung abgeleitete, nicht unbestrittene69 Postulat der Einheit der Rechtsordnung anführen, welches eine widerspruchsfreie Gestaltung des Rechts verlangt,70 um klare, rechtssichere, aber auch systemgerechte Verhältnisse für Normadressaten zu gewährleisten.71 Dementsprechend könnten auch interpretationsbedürftige, rechtliche Konstrukte und unbestimmte Rechtsbegriffe einheitlich zu definieren sein. Allerdings gilt der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nur soweit, wie sich aus der Spezialität bestimmter Regelungsmaterien und ihren Wertungen keine zwingenden Abweichungsgründe ergeben.72 Zwar spricht für eine Übertragung der verwaltungsrechtlichen Ermessenskonzeption in das Kartell-Bußgeldverfahren zunächst, dass der Gesetzgeber dem Bundeskartellamt mit den Vorschriften der §§ 32 ff. GWB grundsätzlich auch die Option einräumt, Wettbewerbsverstöße im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zu verfolgen. Insofern liegt es nahe, dass die Ermessensausübung der Kartellbehörde im Verwaltungs- und im Bußgeldverfahren nach dem gleichen Muster abläuft.73 Allerdings könnten für ein zwingend modifiziertes Ermessensverständnis im Kartell-Bußgeldverfahren zwei Gründe sprechen, die sich zum einen aus systematischen Erwägungen und zum anderen aus dem Verhältnis zwischen der Kartellbehörde und der Rechtsprechung ergeben. Das Bundeskartellamt kann Kartell-Ordnungswidrigkeiten, insbesondere Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot des § 1 GWB und des Art. 101 AEUV im Rahmen eines Bußgeldverfahrens mit dem Erlass einer Geldbuße gemäß § 81 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 GWB ahnden, die in ihrer belastenden Eingriffsintensität regelmäßig über diejenige hinausgeht, die etwa mit einer Ver69 Statt vieler: Sendler, NJW 1998, S. 2875 ff.; Brüning, NVwZ 2002, S. 33 ff.; umfassend: Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 57 m.w. N. 70 Zum Grundsatz der Widerspruchsfreiheit bzw. Einheit der Rechtsordnung: BVerfG, Urt. v. 7.5.1998, Az. 2 BvR 1876/91, 2 BvR 1083/92, 2 BvR 2188/92, 2 BvR 2200/92, 2 BvR 2624/94 – Öko-Abgabe, BVerfGE 98, 83 (97, 100 ff.), insb. Rn. 119 (juris); Urt. v. 7.5.1998, Az. 2 BvR 1991/95, 2 BvR 2004/95 – Kommunale Verpackungssteuer, BVerfGE 98, 106 (125 ff.), Rn. 57 ff. (juris); Urt. v. 27.10.1998, Az. 1 BvR 2306/96, 1 BvR 2314/96, 1 BvR 1108/97, 1 BvR 1109/97, 1 BvR 1110/97 – Ambulanter Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE 98, 265 ff. (301 f.), Rn. 162 (juris); Urt. v. 15.7.2003, Az. 2 BvF 6/98 – Telekommunikationslinien, BVerfGE 108, 169 (181 f.), Rn. 44 ff. (juris); Beschl. v. 21.6.2006, Az. 2 BvL 2/99 – Tarifbegrenzung für gewerbliche Einkünfte, Urt. v. 27.7.2004, Az. 2 BvF 2/02 – Juniorprofessur, BVerfGE 111, 226 (253 f.), Rn. 99 (juris); BVerfGE 116, 164 ff., Rn. 84 (juris); Beschl. v. 27.1.2010, Az. 2 BvR 2185/04, 2 BvR 189/04 – Gewerbesteuer Mindesthebesatz, BVerfGE 125, 141 ff., Rn. 56 ff. (juris); Urt. v. 24.11.2010, Az. 1 BvF 2/05 – Gentechnikgesetz, BVerfGE 128, 1 ff., Rn. 126 (juris). 71 Vertiefend: Schmidt, Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994. 72 So ist es anerkannt, dass etwa der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff zum Teil weiter, zum Teil aber auch enger ist, als derjenige im Zivilrecht. Ausführlich zu den begrifflichen Abweichungen in der Rechtsordnung: Felix, Einheit der Rechtsordnung, S. 189 ff. 73 Ebenso Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 12 f.

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pflichtung zur Abstellung eines wettbewerbswidrigen Verhaltens verbunden ist. Ferner ist das Bundeskartellamt gemäß § 46 Abs. 2 OWiG ermächtigt, während der Ermittlungsphase des Bußgeldverfahrens verschiedene strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen, wie etwa Durchsuchungen und Zeugenvernehmungen, zu ergreifen. Die durch die Sanktionsbefugnis, aber auch die strafprozessualen Ermittlungsrechte begründete, relative Nähe des Ordnungswidrigkeitenrechts zum Straf(prozess-)recht könnte dafür sprechen, dass das Kartell-Bußgeldverfahren einer womöglich besonderen, im Strafverfahren angelegten Ermessenskonzeption zu unterwerfen ist. Denn auch im grundsätzlich vom Legalitätsprinzip gemäß § 152 Abs. 2 StPO beherrschten Strafverfahren hat der Gesetzgeber der Staatsanwaltschaft gemäß §§ 153 bis 154f StPO74 und dem Strafrichter gemäß § 46 StGB75 Entscheidungs- und Handlungsspielräume eingeräumt, wobei zwingend zu beachtende, strafrechtliche und strafprozessuale Garantien, die Strafverfolgungsbehörden normativ an strengere Formalien binden und Beschuldigten, Angeschuldigten bzw. Angeklagten einen erhöhten Schutz bieten. Diese könnten dafür sprechen, dass im Strafverfahren eine – dem verwaltungsrechtlichen Ermessensverständnis zugrunde gelegte – gelockerte Gesetzesbindung faktisch nicht existiert. Wenn dem so wäre, könnte die Ermessenskonzeption des Verwaltungsrechts nicht auf das Strafverfahren übertragen werden. Vor diesem Hintergrund würde sich zwangsläufig die Frage stellen, ob die spezielle strafrechtliche Ermessenskonzeption auf das Bußgeldverfahren zu übertragen wäre, da das in den vorstehenden Vorschriften des Strafrechts implementierte Opportunitätsprinzip das Bußgeldverfahren gemäß § 47 OWiG und die Bußgeldbemessung gemäß § 17 OWiG beherrscht (A.). Ferner könnte sich eine Modifikation der verwaltungsrechtlichen Ermessenskonzeption daraus ergeben, dass den Gerichten die Kompetenz zugewiesen ist, über denselben Sachverhalt mit einer höheren Autorität als das Bundeskartellamt zu entscheiden (B.).

A. Gelockerte Gesetzesbindung? – Der Einfluss des Strafrechts Die Übertragung eines vermeintlichen „strafrechtlichen Ermessensbegriffs“ kann – ohne weiteren Begründungsaufwand – zunächst nur überzeugen, wenn die Kartell-Geldbuße wertend mit der Strafe im engeren Sinne zu vergleichen, dieser also ähnlich ist. Andernfalls spricht zumindest die zwar nicht in Gänze (§ 46 Abs. 1 OWiG), nichtsdestotrotz aber weitreichende Trennung des Ordnungswidrigkeitenrechts und des Strafrechts eher gegen eine unreflektierte Anwendung strafrechtlicher und strafprozessualer Grundsätze. Daher ist vor der eigentlichen Untersuchung, ob der strafrechtliche Ermessensbegriff als aliud zum verwal74

Dazu etwa Störmer, ZStW 108 (1996), S. 494 ff. Zum richterlichen Ermessen: Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, S. 309 ff. 75

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tungsrechtlichen Ermessensbegriff zu qualifizieren ist (II.), zu untersuchen, ob und inwieweit sich die Kartell-Geldbuße und die Strafe im engeren Sinne gleichen (I.). I. Der „strafende“ Charakter der Kartell-Geldbußen Die Geldbuße vereinigt in sich die Funktionen der Repression, der Prävention und zu einem gewissen Grad auch der Gewinnabschöpfung.76 Die repressive Funktion beinhaltet die eigentliche Ahndung der Zuwiderhandlung im engen Sinne. Dem ordnungswidrig Handelnden soll eindringlich bewusst gemacht werden, dass er für sein Unrecht einzustehen hat.77 Im Ordnungswidrigkeitenrecht steht allerdings der Präventionsgedanke im Vordergrund.78 Die Geldbuße soll eine bestimmte Rechtsordnung durchsetzen.79 Zum einen soll der Täter einer Zuwiderhandlung in Form eines spürbaren Pflichtenappells in Zukunft zu rechtlich gebotenem Verhalten veranlasst werden (sog. Spezialprävention).80 Zum anderen ist die Geldbuße legitimes Mittel, die Allgemeinheit davon abzuhalten gleiche oder vergleichbare Zuwiderhandlungen zu begehen (sog. negative Generalprävention).81 Ziel ist es aber auch, im Sinne einer positiven Generalprävention, das Rechtsbewusstsein der Normadressaten zu stärken.82 Zudem ist mit der Geldbuße die Abschöpfung eines mit der Ordnungswidrigkeit erlangten, rechtswidrigen Vermögensvorteils intendiert.83

76 Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 9; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 8; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 362; Stockmann, in: Bechtold/Brinker/ Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (564 ff.). 77 OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.12.1991, Az. 1 Ss 178/91, MDR 1992, 1072; BayOLG, Urt. v. 27.3.1991, Az. RReg 4 St 15/91, DAR 1991, 347, Rn. 8 (juris); OLG Schleswig, Beschl. v. 17.10.1977, Az. 1 Ss 628/77, SchlHA 1978, 59, Rn. 7 (juris). 78 BKartA, Beschl. v. 18.11.1971, WuW/E BKartA 1369 (1371) – AluminiumHalbzeug; Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 289a; Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (332) lehnt die Repressionsfunktion im Kartellrecht sogar gänzlich ab. 79 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 289a. 80 BVerfG, Ents. v. 16.7.1969, Az. 2BvL 2/69, BVerfGE 27, 18, 33, Rn. 42 (juris); Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 9. 81 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 9; Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 9. 82 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 362 sprechen von einem Vorrang der positiven Generalprävention gegenüber der negativen Generalprävention. Das BKartA wies in seinen Entscheidungen bislang verallgemeinernd darauf hin, dass die Geldbuße aus Gründen der Spezial- und Generalprävention eine spürbare Mahnung darstellen müsse. Vgl. etwa BKartA, Ents. v. 14.5.1971, WuW/E BKartA 1351 (1360) – Tubenhersteller. Ohne Unterscheidung zwischen den Unterarten der Generalprävention auch: KG Berlin, Beschl. 2.9.1974, WuW/E OLG 1569 (1570) – Tierpflegemittel; Beschl. v. 30.12.1998, Az. Kart 19/97 – Straßenmarkierung, wistra 1999, 196 (198); OLG Düsseldorf, MDR 1994, 1234; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 9; Bohnert, OWiG, § 17 Rn. 12. 83 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 10; eingehend Drahtjer, Die Abschöpfung rechtswidrig erlangter Vorteile im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1997.

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Wenngleich sich das Verständnis vom Zweck der Strafe im engeren Sinne über Jahrzehnte der Rechtsentwicklung gewandelt hat und auch heute noch verschiedene Strafzwecktheorien bestehen, herrscht mittlerweile zumindest weitgehend Einigkeit darüber, dass der absoluten Straftheorie im Sinne rein repressiven Strafens unter Ausklammerung ihrer gesellschaftlichen Wirkungen nicht zu folgen ist.84 Die herrschende Meinung vertritt eine der vielfältigen Ausprägungen der Vereinigungstheorie.85 Danach bezweckt die Strafe unter Einschluss des Schuldvergeltungsgedankens insbesondere general- und spezialpräventive Zwecke, wobei letzteren insbesondere vor dem Hintergrund der angestrebten Resozialisierung in § 46 Abs. 1 S. 2 StGB der Vorrang eingeräumt wird.86 Abgesehen von dem Entreicherungsgedanken stimmen die mit dem Erlass einer Geldbuße verfolgten Zwecke folglich weitestgehend mit dem Sinn und Zweck der Bestrafung im engen Sinne überein. Dennoch gilt die Geldbuße als Sanktion sui generis bzw. als aliud zur Strafe.87 In einer Reihe von Entscheidungen hat das BVerfG zunächst klargestellt, dass sich Straftatbestände von Ordnungswidrigkeiten in ihrem Kernbereich qualitativ durch ihren Unrechtsgehalt unterschieden.88 Die Strafe beinhalte wegen des erhöhten Unrechtsgehalts des verwirklichten Delikts ein sozialethisches Unwerturteil und sei ehrenrührig. Demgegenüber sei der bloße Verstoß gegen Verwaltungsziele des Ordnungsrechts sozialethisch neutral. Ihm folge lediglich ein ausdrücklicher Pflichtenappell, der jedoch nicht den Ernst der Strafe erreiche und daher ohne ehrenrührigen Charakter sei.89 Aus diesem Grunde werde auch nur die Strafe mit stigmatisierender Wirkung ins Bundeszentralregister eingetragen.90 Die praktische Konsequenz dieser Unterscheidung ist in der Kompetenz zum Erlass der Sanktion zu suchen: Während die Strafe gemäß Art. 92 GG von einem Richter zu verhängen ist, sind Geldbußen (zunächst) Sanktionsmittel der Exekutive. 84 Statt vieler: Fischer, StGB, § 46 Rn. 4; Hassemer, in: Hoyer/Müller/Pawlik u. a., Festschrift für Friedrich-Christian Schroeder zum 70. Geburtstag, S. 51 ff. (56). 85 Siehe etwa Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 75 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 3 Rn. 33 ff.; Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 2 ff. 86 Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder StGB, § 46 Rn. 11; Theune, in: LK/StGB Bd. 2, § 46 Rn. 52; a. A. im Überblick Lackner/Kühl, StGB, § 46 Rn. 4 f. 87 Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 6; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 23; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 7. 88 BVerfG, Beschl. v. 4.2.1959, Az. 1 BvR 197/53, BVerfGE 9, 167 (172), Rn. 17 (juris); Ents. v. 6.6.1967, Az. 2 BvR 375/60, 2 BvR 53/60, 2 BvR 18/65 – Strafgewalt der Finanzämter, BVerfGE 22, 49 (79), Rn. 105 (juris); Ents. v. 16.7.1969, Az. 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18 (28 ff.), Rn. 30 ff. (juris). 89 BVerfG, Beschl. v. 4.2.1959, Az. 1 BvR 197/53, BVerfGE 9, 167 (172), Rn. 17 (juris); Ents. v. 6.6.1967, Az. 2 BvR 375/60, 2 BvR 53/60, 2 BvR 18/65 – Strafgewalt der Finanzämter, BVerfGE 22, 49 (79), Rn. 105 (juris); BGH, Beschl. v. 4.11.1957, Az. GSSt 1/57, BGHSt 11, 266, Rn. 12 (juris). 90 BVerfG, Ents. v. 6.6.1967, Az. 2 BvR 375/60, 2 BvR 53/60, 2 BvR 18/65 – Strafgewalt der Finanzämter, BVerfGE 22, 49 (79), Rn. 105 (juris).

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In seiner späteren Rechtsprechung erkannte das BVerfG nichtsdestotrotz an, dass auf einer Skala zwischen Bagatelldelikten mit Massencharakter und Delikten mit eindeutig sozialethischem Unwerturteil gewisse Verhaltensweisen existieren, die nicht eindeutig qualitativ zuzuordnen sind. In diesem Grenzbereich bestehe nur ein quantitativer, nicht jedoch ein wesensmäßiger Unterschied zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit.91 Vorsätzliche Angriffe auf Rechtsgüter der Allgemeinheit sind also nicht per se sozialethisch neutral. Die graduelle Einstufung nach dem Unrechts- und Unwertgehalt eines rechtswidrigen Handelns obliegt in diesen Fällen dem (nicht unerheblichen)92 Ermessen des Gesetzgebers.93 Mit seiner Entscheidung für die Strafbarkeit schafft der Gesetzgeber die Grundlage dafür, ein Verhalten mit einem sozialethischen Tadel zu behaften. Umgekehrt zwingt erst die Berücksichtigung der Rechtsfolgenanordnung bei bestimmten Ordnungswidrigkeiten im Randbereich zur Strafe den Blick zu verstellen und qualitativ sozialschädliche und sozialethisch vorwerfbare Handlungen ohne entsprechende Wertung, als quasineutral zu betrachten.94 Aus diesem Grund differenziert die wohl gegenwärtig herrschende Meinung Ordnungswidrigkeiten und Strafen auf der Ebene der Gesetzgebung rein quantitativ, auf der Ebene der Rechtsanwendung allerdings auch qualitativ.95 Das Ordnungswidrigkeitenrecht gehört dementsprechend zum Strafrecht im weiteren Sinne.96 Dies erklärt auch die Existenz der Verweisungsvorschriften der §§ 46, 71 OWiG, nach denen die Grundsätze der allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich der StPO, des GVG und des JGG, sinngemäß Anwendung finden.

91 BVerfG, Beschl. v. 27.3.1979, Az. 2 BvL 7/78, BVerfGE 51, 60 (74), Rn. 61 (juris). 92 BVerfG, Beschl. v. 6.6.1989, Az. 2 BvL 6/89, BVerfGE 80, 182 (186), Rn. 7 (juris). 93 BVerfG, Ents. v. 16.7.1969, Az. 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18 (28 f.), Rn. 33 (juris); Beschl. v. 21.6.1977, Az. 2 BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (289), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 27.3.1979, Az. 2 BvL 7/78, BVerfGE 51, 60 (74), Rn. 61 (juris); Beschl. v. 6.6.1989, Az. 2 BvL 6/89, BVerfGE 80, 182 (186), Rn. 7 (juris); siehe auch Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 6 ff. 94 Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (19); Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 59; Richter, wistra 1982, S. 209 ff. (209). 95 Sich der vom BVerfG entwickelten, sog. gemischt qualitativ-quantitativen Betrachtungsweise anschließend: Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 6; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 22; Rogall, in: KK/OWiG, Vorbem. vor § 1 Rn. 2; wohl auch Roxin, StrafR AT I, § 2 Rn. 62; Mitsch, OWiR, § 2 Rn. 11; Förster, in: RRH/ OWiG, § 1 Rn. 8; a. A. wohl Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 108 ff. Mit Tendenz zur allein quantitativen Betrachtung Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 59 m.w. N. 96 BVerfG, Ents. v. 22.2.1968, Az. 2 BvO 2/65, 2 BvO 1/66, BVerfGE 23, 113 (123 f.), insb. Rn. 58 (juris); Ents. v. 16.7.1969, Az. 2 BvL 2/69, BVerfGE 27, 18 (32 f.), Ls. 1, Rn. 41 (juris); BGH, Urt. v. 2.12.1991, Az. AnwSt (R) 12/91, BGHSt 38, 138 (142), Rn. 9 (juris).

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Bei der Installation des GWB 1957 hat der Gesetzgeber Kartelle bewusst als Ordnungswidrigkeiten eingestuft, da es in der Öffentlichkeit an einem Bewusstsein sittlich vorwerfbaren Handelns gefehlt habe.97 Diese Einschätzung dürfte in jüngster Zeit überholt sein.98 So hat nicht nur das BVerfG festgestellt, dass künstliche Wettbewerbsbeschränkungen nicht nur sozialschädlich sind, sondern auch den sozialethischen Unrechtsgehalt mancher Straftaten übersteigen können.99 Auch der Gesetzgeber höchst selbst kam zu dem Schluss, dass Kartellverstöße keine Kavalierdelikte seien und eine schwerwiegende Störung der öffentlichen Ordnung darstellten.100 Die hohe Sozialschädlichkeit, die Kartellverstößen beigemessen wird, lässt sich darüber hinaus an den in den letzten Jahren stark gestiegenen Geldbußen ablesen, die das Bundeskartellamt gerade auch im Hinblick auf den Unrechtsgehalt der Zuwiderhandlungen und der intendierten Abschreckungswirkung hoher finanzieller Einbußen verhängt hat.101 Obwohl kartellrechtliche Geldbußen nach alledem formal nicht als (Kriminal-) Strafen im engen Sinne einzustufen sind, teilen sie doch mit diesen identische Wesenszüge. Die Geldbuße als Sanktion sui generis verfolgt dieselben Sanktionszwecke und das ihr zugrundeliegende Unwerturteil hat jedenfalls faktisch dasjenige der Strafen im engen Sinne erreicht. Angesichts vorstehenden Befunds lässt sich der Strafcharakter der Geldbuße kaum mehr leugnen.102

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Begr. BRegE, BT-Drs. II-1158, S. 27 f. Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 17; Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (18 f.); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 17; Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 112; Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 26 ff., 106 ff.; Bottke, wistra 1991, S. 52 ff. (56); Jaath, in: Hassenpflug, Festschrift für Karl Schäfer zum 80. Geburtstag am 11. Dezember 1979, S. 89 ff. (103 ff.); Otto, GA 1978, S. 218 f.; Baumann, in: Herzberg, Festschrift für Dietrich Oehler zum 70. Geburtstag, S. 291 ff.; Federmann, Kriminalstrafen im Kartellrecht, S. 325 ff., 361 f.; Stockmann, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (566); Weinmann, in: Freiherr von Gamm/Raisch/Tiedemann, Strafrecht, Unternehmensrecht, Anwaltsrecht, S. 87 ff. (93 ff.); vertiefend dazu auch noch: Teil 2 § 3 B. III. 2. b) (S. 132 ff.). 99 BVerfG, Beschl. v. 21.6.1977, Az. BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (290 f.), Rn. 36 (juris). 100 Begr. BRegE zur 4. GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 27. 101 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 8 f. Ausdrücklich zur anvisierten Steigerung der Verfolgungsintensität der Kartelle mittels erhöhter Bußgelder auch Mundt, in: Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V., Wettbewerbspolitik und Kartellrecht in der Marktwirtschaft, S. 237 ff. (242). 102 So auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 499 f., Paeffgen, in: SKStPO X, Art. 6 EMRK Rn. 17 f., die auf die Quasi-Strafgewalt der Verwaltungsbehörden bzw. den Strafcharakter der Ordnungswidrigkeit hinweisen; ebenso Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (39 f.); ferner der EGMR sowohl für die deutsche Geldbuße: EGMR, Urt. v. 21.2.1984, Nr. 8544/79 – Öztürk v Germany, Serie A Bd. 85, NJW 1985, 1273 (1274), §§ 53 ff., als auch für die vergleichbare italienische kartellrechtliche Geldbuße kürzlich: Urt. v. 27.9.2011, Nr. 43509/08 – Menarini v Italy, §§ 38 ff. 98

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

II. Existenz und Übertragbarkeit eines strafrechtlichen Ermessensbegriffs? Angesichts dieses Ergebnisses ist im Folgenden zu untersuchen, ob dem Strafverfahren ein vom Verwaltungsverfahren abweichender Ermessensbegriff immanent ist, der demzufolge auch im Bußgeldverfahren anzuwenden wäre. Die Frage wird in der strafrechtlichen Literatur auf den Ebenen der Strafgerichte und der Staatsanwaltschaft diskutiert und ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Diese Arbeit kann nicht den gesamten Diskussionsstand erörtern. Sie beschränkt sich daher auf einen Grobüberblick der vertretenen Auffassungen, die nach Ansicht der Verfasserin geeignet und ausreichend zur Beantwortung der Frage sind, ob der strafrechtliche Ermessensbegriff ein aliud zum verwaltungsrechtlichen Ermessensbegriff darstellt. 1. Das richterliche Ermessen bei der Strafzumessung

Den Schwerpunkt der Diskussion bildet das Strafzumessungsermessen des Strafrichters. Ist der Strafrichter von der Schuld des Angeklagten überzeugt, muss er das rechtswidrige Verhalten gewichten, die Art der Strafe bestimmen und in eine konkrete, zahlenmäßig bestimmte Strafe umsetzen.103 Dabei sind die gesetzlich bestimmten und verfassungsmäßigen Strafzwecke zu berücksichtigen.104 Geleitet von der Vorstellung, dass die einzelnen Strafzwecke unterschiedlich hohe Strafen rechtfertigen können, haben sich zur Auflösung vermeintlicher Zielkonflikte, welche unter dem Topos „Antinomie der Strafzwecke“ beschrieben werden, zahlreiche Strafzumessungstheorien entwickelt.105 Im Hinblick auf das hier im Mittelpunkt des Interesses stehende Ermessen, sind insbesondere zwei Theorien von Interesse. a) Die Punktstrafentheorie Ein Teil der Literatur sieht den Tatrichter bei der Strafzumessung durch die Strafzwecke eindeutig gebunden. Im Prinzip gebe es nur eine einzige schuldangemessene Strafe, die der Theorie entsprechend bildhaft, als „Punktstrafe“ beschrieben wird.106 Der Tatrichter habe keine Freiheit in der Wahl zwischen mehreren rechtmäßigen Strafalternativen. Vielmehr stelle Strafzumessung einen Akt der Rechtsanwendung bzw. Rechtskonkretisierung dar, in dessen Rahmen der

103

Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 143. Statt aller Theune, in: LK/StGB Bd. 2, § 46 Rn. 31. 105 Überblick bei Theune, in: LK/StGB Bd. 2, § 46 Rn. 31 ff. 106 Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 261; Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 92; Bruns, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug, Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, S. 708. 104

§ 2 Ermessenskonzeption im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht

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Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen und sowie den Wertabwägungen eine besondere Rolle zukomme.107 Der Richter habe das jeweilige Gesetz, der gesetzgeberischen Zweckbestimmung und der Gesamtrechtsordnung entsprechend, konsequent zu Ende zu denken.108 b) Die Spielraumtheorie Die Rechtsprechung und weite Teile der Literatur gehen hingegen davon aus, dass innerhalb eines konkret festzusetzenden Schuldrahmens keine Strafe „falsch“ sei.109 Diese sogenannte Spielraumtheorie basiert auf der Einsicht, dass eine schuldangemessene Strafe aufgrund fehlender absoluter Maßstäbe für Strafzumessungsentscheidungen nicht genau zu bestimmen sei. Vielmehr könne auf einer Strafenskala, die durch den gesetzlichen Strafrahmen vorgegeben ist, nur ein Schuldrahmen ermittelt werden. Dieser Schuldrahmen sei nach oben durch die „noch schuldangemessene“ Strafe und nach unten durch die „schon schuldangemessene“ Strafe begrenzt. Der Raum dazwischen sei der Spielraum, der dem Richter bei der Festlegung der konkreten Strafe zur Verfügung stehe und die Berücksichtigung präventiver Gesichtspunkte zuließe. Alle sich in diesem Ausschnitt einfügenden Strafen seien vertretbar, sodass eine exakte, revisionsrechtliche Richtigkeitskontrolle prinzipiell ausgeschlossen sei; im Zweifelsfall müsse die Entscheidung des Tatrichters vielmehr hingenommen werden.110 Das Revisionsgericht könne nur dann eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht anerkannte Strafzwecke unberücksichtigt ließ oder die erlassene Strafe außerhalb des Schuldrahmens lag.111 Die Spielraumtheorie gesteht dem Tatrichter daher ein relativ weites Ermessen in der Strafzumessung zu, welches theoretisch nur einer begrenzten richterlichen Kontrolle un107 Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, § 63 III Rn. 192; Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 118 ff.; Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 91; Bruns, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug, Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, S. 708 ff. (715 f.); Frisch, NJW 1973, S. 1345 ff. (1348). 108 Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 1, 24, 62 ff. 109 Grundlegend BGH, Urt. v. 10.11.1954, Az. 5 StR 476/54, BGHSt 7, 28 (32), Rn. 19 (juris); seither st. Rspr. des BGH, vgl. etwa Urt. v. 4.8.1965, Az. 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264 (266 f.); Urt. v. 27.10.1970, Az. 1 StR 423/70, BGHSt 24, 132 (133 f.); Urt. v. 20.1.2004, Az. 1 StR 319/03, Rn. 25 (juris); Urt. v. 7.11.2007, Az. 1 StR 164/07, Rn. 8 (juris); Urt. v. 21.6.2012, Az. 4 StR 623/11, Rn. 16 (juris); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 153 f.; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder StGB, § 46 Rn. 7, 68; Engisch, in: Peters/Baumann/Tiedemann, Einheit und Vielfalt des Strafrechts, S. 15 ff. (31 ff.); Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 14, 111 ff. 110 BGH, Urt. v. 17.9.1980, Az. 2 StR 355/80, BGHSt 29, 319 f., Rn. 10 (juris); Urt. v. 1.2.2007, Az. 4 StR 514/06, NStZ-RR 2007, 138, Rn. 11 (juris); vgl. auch Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder StGB, § 46 Rn. 68; Fischer, StGB, § 46 Rn. 147 f.; Theune, in: LK/StGB Bd. 2, § 46 Rn. 341 ff.; Streng, in: NK/StGB, § 46 Rn. 186 f. 111 Statt aller Streng, in: NK/StGB, § 46 Rn. 187.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

terliegt. In der Praxis hat sich nichtsdestotrotz eine intensivere Revisionskontrolle durchgesetzt,112 sodass die Literatur mittlerweile von einem „gebundenen Ermessen“ des Tatrichters spricht.113 c) Stellungnahme Die Strafzumessung erfolgt in fünf Schritten.114 Zunächst werden die relevanten Strafzwecke bestimmt. Sodann sind die schuld- und präventionsrelevanten Strafzumessungstatsachen zu ermitteln. Im Anschluss werden die strafschärfenden und strafmildernden Umstände festgelegt. Im äußerst wichtigen vierten Schritt wägt der Tatrichter alle relevanten Umstände gegeneinander ab, um schlussendlich die konkrete Strafe unter den gewonnenen Gesichtspunkten zu bestimmen. Der Gesetzgeber hat dem Tatrichter bei der Strafzumessung die Vorschriften der §§ 46 bis 55 StGB an die Hand gegeben. Danach bildet die Schuld des Täters den archimedischen Punkt der Strafzumessung, auf dessen Grundlage und unter Berücksichtigung der Strafzwecke die konkrete Strafe zu bestimmen ist. § 46 Abs. 2 StGB führt überdies weitere, zu berücksichtigende Umstände an, etwa die Beweggründe des Täters, dessen Vorleben und dessen Gesinnung. Der Gesetzgeber legt davon abgesehen lediglich einen Strafrahmen in den einzelnen Straftatbeständen fest, ohne absolute Strafzumessungsmaßstäbe zu schaffen. Auf diese Weise entsteht einerseits zwar Rechtsunsicherheit hinsichtlich der im Einzelfall konkret auszusprechenden Strafe. Andererseits ermöglicht es diese Gesetzgebungstechnik, individuelle Faktoren im konkreten Einzelfall zu berücksichtigen. Jeder Mensch erfährt individuelle Prägungen aus seiner Familie und seinem Umfeld, die seine Werte bestimmen, ob diese nun von der überwiegenden Gesamtkultur abweichen oder nicht. Nur die Installation eines Strafrahmens wird dem gerecht, da Täter entsprechend ihrer individuellen Tat, ihrer Einstellung und ihrer Vergangenheit, unter Berücksichtigung der Strafziele bestraft werden können. Dem Tatrichter ist in logischer Konsequenz vorstehender Erwägungen ein Bewertungsspielraum zuzugestehen. Andernfalls ist es ihm unmöglich, individualisierte, der Billigkeit entsprechende Strafen auszusprechen. Dabei hat der Richter zweifellos einfachgesetzliche und verfassungsrechtliche Vorgaben gemäß Art. 20

112 Nachweise bei Theune, in: LK/StGB Bd. 2, § 46 Rn. 341; Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 506. 113 Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder StGB, § 46 Rn. 7; Bruns, in: Bockelmann/ Kaufmann/Klug, Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, S. 708 ff. (709); Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 144; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 871. 114 Fischer, StGB, § 46 Rn. 13 m.w. N.; abweichend, im Ergebnis jedoch kaum unterschiedlich etwa Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 145 f. (7 Schritte); krit. ggü. der Phaseneinteilung: Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 502 ff.

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Abs. 3 GG zu beachten. Eine Strafzumessung im luftleeren Raum, in dem der Richter Art und Maß der Strafe nach freiem Belieben, quasi willkürlich, bestimmen kann, verbietet sich bereits nach dem Rechtsstaatsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Insoweit ist der Punktstrafentheorie auch zuzugeben, dass Strafzumessung vorrangig bedeutet, Recht anzuwenden. Dies kann allerdings nur soweit gehen, und insoweit überzeugt diese Theorie nicht, wie das Gesetz und Recht die Strafzumessung insbesondere durch den Strafrahmen, das Schuldmaßprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz determinieren. Darüber hinaus führt die Strafzumessung zwangsläufig zur Abwägung aller übrigen Umstände des fraglichen Einzelfalls. Dem Abwägungsvorgang, der durch innere, nicht nachprüfbare Gedankengänge geprägt ist, ist wiederum immanent, dass der Tatrichter, der selbst durch individuelle Einflüsse aus seinem Umfeld und seinen Erfahrungen geprägt ist, eine für sich gerechtfertigte Entscheidung trifft, die unter Umständen von einem anderen Richter, ohne einen Wertungsfehler zu begehen, nicht getroffen worden wäre.115 Aus diesem Grund räumen einzelne Vertreter der Punktstrafentheorie auch an, dass sich im konkreten Einzelfall aufgrund persönlicher Wertungen in der Regel keine einzig „richtige“ Punktstrafe finden lasse und diese nur in Annäherungswerten ausgedrückt werden könne, da sich die Strafzumessung von einer bloßen Tatbestandssubsumtion unterscheide.116 Die offener verstandene Punktstrafentheorie weicht daher im Grunde genommen nicht gänzlich von der Spielraumtheorie ab. Die Spielraumtheorie akzeptiert jedoch den Umstand möglicher Strafungleichheit vor dem Hintergrund fehlender, gesetzlich festgelegter, punktueller Strafen, um billige Entscheidungen zu ermöglichen. Mit der Vermeidung des Ermessensbegriffs bezweckt die Punktstrafentheorie lediglich eine volle Nachprüfung der Strafzumessung in der Revision117 und assoziiert damit das Gefühl von Rechtssicherheit, welche nach der gesetzgeberischen Intention allerdings gerade zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit zurücktreten muss. Sie kann nicht leugnen, dass die Strafzumessung ein Wertungsakt und damit eine echte Ermessensentscheidung mit allen Unwägbarkeiten persönlicher Wertungen bleibt.118 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die strenge Punktstrafentheorie als reine Fiktion weitgehend abgelehnt wird.119

115

Zutreffend Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 483. Kaufmann, Das Schuldprinzip, S. 261; vgl. auch Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 507 m.w. N. 117 Zu Recht Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 507. 118 Zutreffend Bruns, Strafzumessungsrecht, S. 87 ff.; Bruns, in: Bockelmann/Kaufmann/Klug, Festschrift für Karl Engisch zum 70. Geburtstag, S. 708 ff. (708); Streng, Strafrechtliche Sanktionen, Rn. 508; Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder StGB, § 46 Rn. 68. 119 Vgl. die Vertreter der Spielraumtheorie, etwa BGH, Beschl. v. 13.9.1976, Az. 3 StR 313/76, BGHSt 27, 2, Rn. 5 (juris). 116

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d) Ergebnis Nach alledem ist deutlich geworden, dass dem Tatrichter bei der Strafzumessung nicht allein mit der Subsumtion unter einen Straftatbestand geholfen ist. Die Rechtsfolgenanordnung ist als Strafrahmen ausgestaltet, innerhalb dessen der Tatrichter eine schuldangemessene Strafe finden muss. Dabei hat er nach zutreffender Auffassung einen Spielraum, der nach unten und oben durch den im Einzelfall zu bestimmenden Schuldrahmen begrenzt wird. Die letztlich getroffene Entscheidung ist allein auf die individuellen Wertungen des Tatrichters zurückzuführen, die auf einem Abwägungsvorgang basieren. Nichts anderes ist jedoch auch dem Amtsträger der öffentlichen Verwaltung überantwortet. Auch dieser entscheidet im konkreten Einzelfall nach Abwägung aller Umstände und unter Wahrung der Gesetze und Rechte des Einzelnen nach freier Überzeugung, ohne sich dabei auf unsachliche Vorstellungen zu berufen.120 Allen Systematisierungsversuchen zum Trotz ist mithin der Ermessensbegriff des Strafzumessungsrechts im Ergebnis kein anderer als der in der verwaltungsrechtlichen Dogmatik anerkannte Ermessensbegriff. 2. Das staatsanwaltschaftliche Ermessen

Neben dem Strafzumessungsrecht wird im Strafprozessrecht diskutiert, ob und inwieweit der Staatsanwaltschaft im Rahmen der Einleitung und Einstellung eines Ermittlungsverfahrens sowie der Anklageerhebung Ermessen im verwaltungsrechtlichen Sinne eingeräumt ist. a) Einleitung des Ermittlungsverfahrens und Anklageerhebung Gemäß § 152 Abs. 2 StPO ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, sofern zureichend tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat bestehen. Das ist der Fall, wenn nach kriminalistischer Erfahrung die Möglichkeit besteht, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt (sogenannter Anfangsverdacht).121 Wenngleich noch das Reichsgericht die Beurteilung darüber, ob ein Anfangsverdacht vorliegt, in das Ermessen der Staatsanwaltschaft stellt hat, setzte sich zwischenzeitlich die Auffassung durch, dass die Einleitungs120 Dies übersieht Maiazza, der unter Berufung auf die Vertreter der Punkttheorie feststellt, dass „[d]ie durch das Ermessen eröffnete diskretionäre Entscheidungsmacht [. . .] dem Amtsträger nicht eingeräumt worden [ist], damit er seinen eigenen Vorstellungen Geltung im Recht verschafft, sondern um im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles die richtige und gerechte Entscheidung zu treffen.“ Vgl. Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 23. 121 BVerfG, Beschl. v. 8.3.2004, Az. 2 BvR 27/04 – Wohnungsdurchsuchung, NStZRR 2004, 206 f., Rn. 21 (juris); Urt. v. 30.3.2004, Az. 2 BvR 1520 bis 1521/01 – Geldwäsche, wistra 2004, 295 f.; BGH, Urt. v. 21.4.1988, Az. III ZR 255/86, NJW 1989, 96, Rn. 17 (juris); Schoreit, in: KK/StPO, § 152 Rn. 28.

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entscheidung keine Ermessensentscheidung ist.122 Die Rechtsfolgenanordnung des § 152 Abs. 2 StPO wird durch die Erfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs „zureichend tatsächlicher Anhaltspunkte“ ausgelöst. Der BGH hat daraus zu Recht geschlossen, dass die zu erfolgende Subsumtion Rechtsanwendung ist, wobei der Staatsanwaltschaft ein gewisser Beurteilungsspielraum in der Ausfüllung des unbestimmten Rechtbegriffs der „zureichend tatsächlichen Anhaltspunkte zuzugestehen ist.123 Besteht danach ein Anfangsverdacht, kann die Staatsanwaltschaft nicht frei zwischen Verfolgung und Nichtverfolgung wählen.124 Die Rechtsfolgenanordnung ist zwingend; die Entscheidung der Staatsanwaltschaft gebunden.125 Das Gleiche gilt für die Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft, die gemäß § 170 Abs. 1 StPO zwingend erfolgen muss, sobald die Staatsanwaltschaft „genügenden Anlass“, also einen hinreichenden Tatverdacht126 zur Erhebung der Anklage sieht.127 Insoweit besteht kein Unterschied zum allgemeinen Verwaltungsrecht: Offene Tatbestände können mit einer konkretisierten, zwingenden Rechtsfolgeanordnung verknüpft werden. Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe unterliegt zwar grundsätzlich der vollen Überprüfbarkeit der Rechtsprechung, allerdings räumt auch diese der Verwaltung in begrenztem Umfang Beurteilungsspielräume ein.128 b) Einstellung des Ermittlungsverfahrens Die grundsätzlich bestehende Verfolgungspflicht wird durch die Vorschriften der §§ 153 bis 154f StPO durchbrochen. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschriften129 „kann“ die Staatsanwaltschaft unter bestimmten Voraussetzungen das Ermittlungsverfahren einstellen. In der Literatur wird daraus teilweise ein 122 BGH, Urt. v. 21.4.1988, Az. III ZR 255/86, NJW 89, 96 (97), Rn. 17 ff. (juris); für die Lit. statt vieler: Schoreit, in: KK/StPO, § 152 Rn. 24. 123 BGH, Urt. v. 18.6.1970, Az. III ZR 95/68, NJW 1970, 1543 f., Ls. 1, Rn. 16 (juris); Beschl. v. 26.5.1983, Az. III ZR 47/82, WM 1983, 866, Rn. 9 (juris); bestätigt durch das BVerfG, Urt. v. 8.11.1983, Az. 2 BvR 1138/83, MDR 1984, 284, Rn. 6 (juris); BGH, Urt. v. 21.4.1988, Az. III ZR 255/86, NJW 89, 96 (97), Rn. 21 ff. (juris); krit. Störmer, ZStW 108 (1996), S. 494 ff. (500 ff.). 124 BGH, Urt. v. 21.4.1988, Az. III ZR 255/86, NJW 1989, 96 (97), Rn. 17 f. (juris); Schoreit, in: KK/StPO, § 152 Rn. 23 ff. 125 BVerfG, Urt. v. 8.11.1983, Az. 2 BvR 1138/83, NJW 1984, 1451 (1452), Rn. 6 (juris); Beschl. v. 9.3.1994, Az. 2 BvL 43/92 u. a. – Cannabis, NJW 1994, 1577 (1583), Rn. 167 (juris). 126 Dies ergibt sich aus § 203 StPO, wonach ein (mit der Anklageerhebung bezwecktes) Hauptverfahren nur eröffnet wird, wenn der Angeschuldigte hinreichend verdächtig erscheint. 127 BGH, Ents. v. 19.3.1959, Az. 1 BvR 295/58, NJW 1959, 871 (872), Ls. 2, Rn. 22 f. (juris); Urt. v. 21.4.1988, Az. III ZR 255/86, NJW 1989, 96 (97), Rn. 17 (juris). 128 Siehe insoweit bereits Teil 1 § 1 B. I. (S. 41 ff.). 129 § 154e StPO bildet als „Soll“-Vorschrift eine Ausnahme.

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Einstellungsermessen der Staatsanwaltschaft abgeleitet.130 Dies bestätige – neben dem eindeutigen Wortlaut der Vorschriften – auch § 472 Abs. 2 StPO, der dem Strafgericht die Möglichkeit einräumt, die Kosten des Verfahrens dem Angeschuldigten aufzuerlegen, wenn es das Strafverfahren nach einer Vorschrift einstellt, die dies nach seinem Ermessen zulässt.131 Da nach allgemeiner Meinung die Vorschriften der §§ 153 ff. StPO Ermessensvorschriften im Sinne des § 472 Abs. 2 StPO seien,132 folge daraus im Umkehrschluss auch ein Ermessen der Staatsanwaltschaft. Diese Schlussfolgerung ist jedoch nicht zwingend. § 472 StPO spricht eindeutig von dem Ermessen des Strafgerichts. Die Verweisung auf die §§ 153 ff. StPO könnte sich daher allein auf die in diesen Vorschriften ebenfalls geregelten Ermessensspielräume des Gerichts beziehen.133 Die wohl überwiegende Meinung in der Literatur134 erkennt ein Ermessen der Staatsanwaltschaft bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens nicht an, soweit der Tatbestand der Einstellungsvorschriften unbestimmte Rechtsbegriffe, wie etwa die „geringe Schuld“ und das „öffentliches Interesse“ beinhaltet. In diesem Fall müsse die Staatsanwaltschaft bereits bei der Subsumtion unter die unbestimmten Rechtsbegriffe sämtliche Umstände des konkreten Einzelfalls berücksichtigen, sodass letztlich für eine Wahl auf der Rechtsfolgenseite mangels zusätzlicher Aspekte kein Raum mehr bleibe. Das Ermessen der Staatsanwaltschaft reduziere sich auf null, verbunden mit einer Einstellungspflicht.135 Allerdings wird der Staatsanwaltschaft bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe ein mehr oder weniger großer Beurteilungsspielraum gewährt.136

130 Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 583 ff., 602; Walk, Die Beendigung des Ermittlungsverfahrens im Strafprozess, S. 244 f.; Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, S. 95 ff.; Erb, Legalität und Opportunität, S. 63 ff.; Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 21 ff. 131 Bibbo, Kriterien zur Konkretisierung des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren, S. 33. 132 Gieg, in: KK/StPO, § 472 Rn. 6; Meyer-Goßner, StPO, § 472 Rn. 12; Pfeiffer, StPO, § 472 Rn. 8. 133 So wohl auch Pfeiffer, StPO, § 472 Rn. 8. 134 Meyer-Goßner, StPO, § 152 Rn. 7 (mit Ausnahme von § 153a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 2 StPO, der eine Ermessensnorm sei); Kaiser/Meinberg, NStZ 1984, S. 343 ff. (344); Schoreit, in: KK/StPO, § 152 Rn. 25; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 38; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 152 Rn. 28, 39 f.; krit. zur gesamten Dogmatik Weßlau, in: SK-StPO III, Vor §§ 151 ff. Rn. 12. 135 BVerfG, Beschl. v. 9.3.1994, Az. 2 BvL 43/92 u. a. – Cannabis, NJW 1994, 1577 (1583), Rn. 167 (juris) („rechtlich gebundene Entscheidung“); Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 38; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 334; Schroeder, in: Peters/Baumann/Tiedemann, Einheit und Vielfalt des Strafrechts, S. 411 ff. (418 f.); Hobe, in: Kerner/Göppinger/Streng, Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht, S. 629 ff. (646). 136 Vgl. Steffen, DRiZ 1972, S. 153 ff. (154); Rolletschke, wistra 2002, S. 17 ff. (18); Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 38; Meyer-Goßner, StPO, § 152 Rn. 7; Hellebrand, Staatsanwaltschaft, Rn. 8 (Fn. 14).

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Selbst wenn man der herrschenden Meinung folgt und der Staatsanwaltschaft in einem nur sehr begrenzten Umfang Ermessen gewährt, widerspricht dies letztlich nicht der verwaltungsrechtlichen Ermessensdogmatik. Im Verwaltungsrecht existieren eine Vielzahl solcher, sogenannter Kopplungsvorschriften, also Kombinationen aus einem offenen Tatbestand und einer daran anknüpfenden Rechtsfolgenwahl.137 Sie weisen an sich keine Besonderheiten auf. Grundsätzlich werden Tatbestand und Rechtsfolge nach ihren jeweiligen Regeln behandelt.138 In bestimmten Fällen kann es jedoch dazu kommen, dass die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gesichtspunkte bereits bei der Subsumtion unter die unbestimmten Rechtsbegriffe berücksichtigt wurden. Dann können auf der Rechtsfolgenebene keine weiteren Erwägungen angestellt werden. Die Ermessensnorm wandelt sich de facto in eine Muss-Vorschrift.139 Existieren also ausfüllungsbedürftige, unbestimmte Rechtsbegriffe in den Einstellungsvorschriften der §§ 153 ff. StPO, ist regelmäßig das staatsanwaltschaftliche Ermessen reduziert. c) Ergebnis Der Staatsanwaltschaft wird nur in begrenztem Maße Ermessen im verwaltungsrechtlichen Sinne eingeräumt. Dies ist jedoch nicht auf den Charakter des Ermittlungsverfahrens als Vorstufe zum gerichtlichen Strafverfahren zurückzuführen. Vielmehr ist der Staatsanwaltschaft auf der Tatbestandsebene in weiten Bereichen ein Beurteilungsspielraum eingeräumt und die Rechtsfolge entweder gesetzlich vorgezeichnet, so bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens und der Anklageerhebung, oder aber das grundsätzlich eingeräumte Ermessen auf der Rechtsfolgenebene reduziert sich auf null, da sämtliche bei der Ausübung des Ermessens einzustellenden Erwägungen bereits im Rahmen des Tatbestandes angestellt worden sind. Auch das staatsanwaltschaftliche Ermessen unterscheidet sich daher nicht von demjenigen des Verwaltungsrechts.

137 BVerwG, Urt. v. 5.7.1985, Az. 8 C 22/83, BVerwGE 72, 1 (4), Rn. 20 (juris); Urt. v. 14.11.1989, Az. 1 C 29/88, BVerwGE 84, 86 (89), Rn. 17 (juris) („Mischtatbestand“); OVG Münster, Urt. v. 4.8.1994, Az. 23 A 1518/92, NVwZ-RR 1995, 481 (482), Rn. 16 (juris); Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 13; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 109; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 42. 138 BVerwG, Beschl. v. 14.11.1973, Az. I WB 159.71, BVerwGE 46, 175 (176 f.); Urt. v. 7.5.1981, Az. 2 C 42/79, DVBl. 1982, 198; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 45; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 109. 139 BVerwG, Urt. v. 14.12.1962, Az. VII C 140.61, BVerwGE 15, 207 (211 f.), Rn. 14 f. (juris); Urt. v. 29.4.1964, Az. I C 30.62, BVerwGE 18, 247 (250), Rn. 9 ff. (juris); VGH Mannheim, Urt. v. 16.5.1990, Az. 14 S 2916/89, NVwZ-RR 1991, 66 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 49; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 37; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 45.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren 3. Fazit

Im Ergebnis ist damit eine abweichende strafrechtliche Ermessenskonzeption nicht auszumachen, sodass sich auch die Frage nach dessen Übertragbarkeit auf das Ordnungswidrigkeitenrecht erübrigt.140 Soweit der Gesetzgeber einer staatlichen Behörde oder den Gerichten Ermessen einräumt, bezweckt dieser unabhängig davon, ob der Amtsträger Verwaltungsrecht, Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht anzuwenden beauftragt ist, dass in jedem Einzelfall unter Beachtung der einfachgesetzlichen, verfassungsrechtlichen und/oder europarechtlichen Bestimmungen eine möglichst gerechte und zweckmäßige Lösung gefunden wird, die der Gesetzgeber aufgrund der Vielfältigkeit möglicher Fallkonstellationen weder vorherzusehen, noch generell-abstrakt zu formulieren vermag. Ermessen ermächtigt mithin auch im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht zu einer willkürlichen Entscheidung im Sinne einer von den Umständen des Einzelfalls unabhängigen oder vom Recht losgelösten Durchsetzung der subjektiven Wertvorstellungen eines Amtsträgers. Allerdings ergibt sich aus dem beschriebenen, regulativen Rahmen regelmäßig nicht nur eine „richtige“ staatliche Reaktion, sondern eine Vielzahl von Handlungsoptionen, die am ehesten durch die „schon“ und „noch“ richtigen, also billigen und zweckmäßigen Entscheidungen begrenzt werden können.141 Innerhalb des auf diese Weise definierten Spielraums kann der Amtsträger nach Abwägung aller Umstände ermessensfehlerfrei zu einer von ihm für richtig befundenen Rechtsfolge gelangen. Auf die Ergebnisse zum Ermessen der Staatsanwaltschaft und des Strafrichters wird nichtsdestotrotz zum gegebenen Zeitpunkt zurückzukommen sein.

B. Letztentscheidungskompetenz? – Die gerichtliche Kontrolle im Bußgeldverfahren Für die Bewertung, inwieweit das Bundeskartellamt Ermessen im verwaltungsrechtlichen Sinne ausüben kann, ist ferner entscheidend, wie weit der gegen kartellbehördliche Entscheidungen gewährte, gerichtliche Rechtsschutz reicht. Dies ist vorrangig aus der Sicht der Betroffenen im Hinblick auf sie belastende, Dritte gegebenenfalls „begünstigende“ Entscheidungen zu prüfen. Für Betroffene sind drei Entscheidungen, die auf der Ausübung des Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes beruhen, denkbar belastend und demzufolge mögliche Streitgegenstände für ein gerichtliches Verfahren. Zunächst 140 A. A. Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 23 ff., der wohl der Punktstrafentheorie folgt und die strafrechtliche Ermessensentscheidung als Rechtsanwendung bzw. „gebundene“ Ermessensentscheidung begreift und dieses Verständnis auf das Ordnungswidrigkeitenrecht übertragen will. 141 Dies gilt auch, soweit der Verwaltung oder der Staatsanwaltschaft ein Beurteilungsspielraum zugestanden wird.

§ 2 Ermessenskonzeption im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht

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wirkt sich bereits die bloße Einleitung des Bußgeldverfahrens für Betroffene belastend aus, da sich das Bundeskartellamt in dessen Folge strafprozessualer Ermittlungsbefugnisse bedienen kann (I.). Legt das Bundeskartellamt im Vorfeld generell-abstrakt fest, wie es sein Ermessen in Zukunft auszuüben gedenkt und schränken Verwaltungsrichtlinien die Grund- und Verfahrensrechte der Betroffenen ein, stellt sich zudem die Frage, ob diese gegen die Verwaltungsrichtlinien gerichtlich vorgehen können (II.). Und schließlich ist zu klären, wie sich Betroffene gegen einen Bußgeldbescheid des Bundeskartellamtes zur Wehr setzen können (III.). Für eine abschließende Würdigung muss darüber hinaus die Kontrolldichte der gerichtlichen Überprüfung von „drittbelastenden“ Ermessensentscheidungen gegen die Verfolgung und Ahndung einer vermeintlichen Zuwiderhandlung untersucht werden (IV.). I. Rechtsbehelf gegen die Einleitung des Bußgeldverfahrens? Betroffene eines Kartell-Bußgeldverfahren können grundsätzlich gegen jede Anordnung, Verfügung oder Maßnahme des Bundeskartellamtes gemäß § 62 Abs. 1 S. 1 OWiG die Entscheidung des Amtsgerichts Bonn beantragen.142 Satz 2 der Vorschrift stellt einschränkend klar, dass nur solche Maßnahmen gerichtlich angreifbar sind, die von selbständiger Bedeutung sind und nicht ausschließlich der Entscheidung dienen, ob ein Verfahren eingestellt oder ein Bußgeldbescheid erlassen werden soll. Damit sind allen voran die – hier nicht weiter zu vertiefenden Maßnahmen der – Durchsuchung und Beschlagnahme durch das Bundeskartellamt erfasst, sofern diese ohne Durchsuchungsbeschluss und Beschlagnahmeanordnung erfolgten143 und den Antragsteller weiterhin beschweren.144 Demgegenüber wird in der Literatur einhellig vertreten, dass die interne Entscheidung des Bundeskartellamtes für die Einleitung eines Bußgeldverfahrens lediglich eine 142 Die sachliche und örtliche Zuständigkeit des AG Bonn ergibt sich aus § 62 Abs. 2 S. 1 OWiG i.V. m. § 68 Abs. 1 S. 1 OWiG, wonach das Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Verfolgungsbehörde, also das BKartA, ihren Sitz hat. 143 Fall der Durchsuchung bei Gefahr in Verzug. Andernfalls ist gegen den Durchsuchungsbeschluss die Beschwerde bei dem ausstellenden Gericht gemäß §§ 304 Abs. 1, 306 Abs. 1 StPO zulässig. 144 Die Beschwer entfällt erst mit Beendigung der Durchsicht sichergestellter Schriftstücke und Datenträger. Vgl. BGH, Beschl. v. 23.11.1987, Az. 1 BGs 517/87, 1 BJs 55/ 81, 1 BGs 517/87, StV 1988, 90; Beschl. v. 7.12.1998, Az. 5 AR (VS) 2/98, NJW 1999, 730 (732), Rn. 30 (juris); Meyer-Goßner, StPO, § 105 Rn. 15; Kurz, in: KK/OWiG, § 62 Rn. 10. Die Rspr. lässt darüber hinaus die Beschwerde auch dann zu, wenn die Durchsuchung als tiefgreifender Grundrechtseingriff zu bewerten ist oder aber ein nachwirkendes Feststellungsinteresse, etwa bei Wiederholungsgefahr besteht: BVerfG, Beschl. v. 30.4.1997, Az. 2 BvR 817/90 u. a., NJW 1997, 2163 (2164), Rn. 50 ff. (juris) [anders noch: Beschl. v. 11.10.1978, Az. 2 BvR 1055/76, NJW 1979, 154 f., Rn. 30 ff. (juris)]; BGH, Beschl. v. 7.12.1998, Az. 5 AR (VS) 2/98, NJW 1999, 730 (731), Rn. 13 (juris); Beschl. v. 24.9.2009, Az. IX ZB 38/08, Rn. 10 (juris) m.w. N.; dazu auch Seitz, in: Göhler, OWiG, § 62 Rn. 10a; Kurz, in: KK/OWiG, § 62 Rn. 10.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

Maßnahme zur Vorbereitung einer abschließenden Entscheidung oder jedenfalls eine Solche ohne selbstständiger Bedeutung im Sinne des § 62 Abs. 1 S. 2 OWiG darstellt.145 Dies ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass die Einleitung des Bußgeldverfahrens keines formellen Rechtsakts bedarf, sondern vielmehr mit jeder Maßnahme, die nach außen objektiv erkennbar den subjektiven Willen des Bundeskartellamtes zur Einleitung des Bußgeldverfahrens offenbart, erfolgt.146 Dazu reicht eine informelle Mitteilung aus. Mangels alternativ zur Verfügung stehender Rechtsbehelfe können Betroffene also selbst dann nicht gegen die Einleitung eines Bußgeldverfahrens vorgehen, wenn aus ihrer Sicht die Verfahrenseröffnungsvoraussetzungen nicht vorliegen.147 Insofern bleibt ihnen allein die Möglichkeit, gegen die vom Bundeskartellamt eingeleiteten Ermittlungsmaßnahmen oder, sofern ein solcher schlussendlich ergeht, gegen den Bußgeldbescheid vorzugehen. In der Regel kann die Ermessensentscheidung demgemäß erst nach Abschluss des behördlichen Bußgeldverfahrens einer gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden. II. Rechtsbehelf gegen Verwaltungsgrundsätze? Das Bundeskartellamt ist gemäß § 53 Abs. 1 S. 3 GWB verpflichtet, fortlaufend Verwaltungsgrundsätze zu veröffentlichen. Dabei handelt es sich regelmäßig um Richtlinien oder Bekanntmachungen, anhand derer das Bundeskartellamt eine unbestimmte Anzahl von Fällen formell und materiell zu entscheiden gedenkt.148 Der Sache nach entsprechen sie den aus dem Verwaltungsrecht bekannten Ermessensrichtlinien.149 Da diese reines Innenrecht darstellen, entfalten sie im Außenverhältnis gegenüber Betroffenen keine unmittelbar belastende Wirkung.150 Neben der Tatsache, dass es Verwaltungsgrundsätzen an einer selbstständigen Bedeutung fehlt, dienen sie darüber hinaus allein der erleichterten und gleichmäßigen Verwaltungspraxis; ihre Wirkung erschöpft sich weitestgehend in 145 Bohnert, OWiG, § 62 Rn. 12; Kurz, in: KK/OWiG, § 62 Rn. 7; Seitz, in: Göhler, OWiG, § 62 Rn. 4; Wieser, Handbuch des Bußgeldverfahrens, S. 28; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 138; in diese Richtung auch OLG Frankfurt, Beschl. v. 6.6.1983, Az. 6 Ws 1/83 (Kart) – Baupreisabsprachen, WuW/E OLG 3046 (3047); OLG Hamm, Beschl. v. 6.1.1984, Az. 1 VAs 12/84, NStZ 1984, 280 f. 146 KG Berlin, Beschl. v. 21.6.1974, Az. Kart 2/74 – Laboruntersuchungen, WuW/E OLG 1687 (1700); Urt. v. 2.12.1977, Az. Kart 14/76 – Interfunk, WuW/E OLG 1965 ff.; Urt. v. 17.3.1993, Az. Kart 16/91 – Treibstoffzuschläge, WuW/E OLG 5121 (5125); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 202; Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 36; Klesczewski, OWiR, § 10 Rn. 839; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 27. 147 Zu diesen im Einzelnen noch in Teil 2 § 1 (S. 75 ff.). 148 Jungermann, in: FK/Kartellrecht, § 53 Rn. 16; Klaue, in: IM/GWB, § 53 Rn. 4. 149 Klaue, in: IM/GWB, § 53 Rn. 4; Pfeiffer, in: MK/GWB, § 53 Rn. 10; Jungermann, in: FK/Kartellrecht, § 53 Rn. 16. 150 Vgl. hierzu Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.).

§ 2 Ermessenskonzeption im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht

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der Vorbereitung einer abschließenden Entscheidung. Aus diesem Grund kommt ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 62 OWiG nicht in Betracht. Dies entspricht auch der Rechtslage im Verwaltungsrecht: Dort können ebenfalls nur Verwaltungsakte gemäß § 42 VwGO und in sehr geringerem Umfang auch Rechtsvorschriften mit Außenwirkung gemäß § 47 Abs. 1 VwGO angefochten werden. Führt die Anwendung der Verwaltungsvorschriften indes zu einem Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen, ist diese konkret-individuelle Maßnahme, also etwa ein Bußgeldbescheid, gerichtlich anfechtbar. Da Verwaltungsgrundsätze über das Bundeskartellamt hinaus keine bindende Wirkung gegenüber den Gerichten entfalten,151 ist der Rechtsschutz auch nicht gegenüber den Betroffenen unangemessen beschränkt. III. Einspruch gegen den Bußgeldbescheid Gegen einen vom Bundeskartellamt erlassenen Bußgeldbescheid, der als (verfügender) Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG an sich auch unter § 62 OWiG fällt, besteht gemäß § 67 OWiG ein besonderer Rechtsbehelf eigener Art.152 Danach kann der Betroffene innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Bußgeldbescheids Einspruch beim Bundeskartellamt einlegen.153 Dieses prüft daraufhin die Zulässigkeit und Begründetheit des Einspruchs. Hilft es einem zulässigen154 Einspruch nicht ab, übersendet das Bundeskartellamt die Ermittlungsakten an die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf,155 die gemäß § 69 Abs. 4 S. 1 OWiG die Aufgaben der Verfolgungsbehörde übernimmt und die Akten wiederum dem ausschließlich zuständigen OLG Düsseldorf vorlegt,156 wenn

151 Pfeiffer, in: MK/GWB, § 53 Rn. 10; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 53 Rn. 3; Jungermann, in: FK/Kartellrecht, § 53 Rn. 16; Becker, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 53 Rn. 3; vgl. auch schon Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.). 152 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17.8.1999, Az. 5 Ss (OWi) 339/98 (OWi) 156/98 I, NStZ 2000, 42 (43), Rn. 18 (juris); LG Krefeld, Beschl. v. 22.7.1976, Az. 9 Qs 333/76 B, NJW 1976, 2275, Rn. 3 (juris); Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 1; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 67 Rn. 1. 153 Zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen vgl. die Kommentierungen zu § 57 OWiG; speziell zum Einspruch im Kartell-Bußgeldverfahren etwa: Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 155; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 265 ff. 154 Ist der Einspruch nach Auffassung des BKartA unzulässig, verwirft es diesen. Gegen die Entscheidung kann ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden, über den letztlich das OLG Düsseldorf entscheidet. Vgl. § 69 Abs. 1 S. 2 OWiG i.V. m. § 83 Abs. 1, 2. Hs. GWB. 155 Die Zuständigkeit der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf ergibt sich aus der Sonderzuständigkeit des OLG Düsseldorf für Bußgeldsachen des BKartA. Siehe Fn. 156. 156 Gemäß § 68 Abs. 1 OWiG i.V. m. §§ 83 Abs. 1 S. 1, 92 Abs. 1 GWB i.V. m. § 2 der Verordnung über die Bildung gemeinsamer Kartellgerichte und über die gerichtliche

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

sie das Bußgeldverfahren nicht gemäß § 69 Abs. 4 S. 2 OWiG i.V. m. § 47 Abs. 1 OWiG selbst einstellt. Das OLG Düsseldorf prüft erneut die Zulässigkeit und Begründetheit des Einspruchs, und entscheidet schließlich auf der Grundlage einer Hauptverhandlung durch Urteil oder – seltener – im schriftlichen Verfahren durch Beschluss gemäß § 72 Abs. 1 OWiG.157 Das Besondere des Einspruchs ist, dass mit seiner Erhebung der Bußgeldbescheid als Ahndungsentscheidung seine Bedeutung verliert und lediglich den Charakter einer rechtlich und sachlich näher bezeichneten Beschuldigung behält.158 Die ursprüngliche Funktion des Bußgeldbescheids reduziert sich – vergleichbar mit der Anklageschrift – auf die Benennung der vorgeworfenen Tat sowie die Festlegung des sachlich und persönlich begrenzten Verfahrensgegenstands.159 Unabhängig davon, dass bereits die Generalstaatsanwaltschaft das Bußgeldverfahren einstellen, die Sachentscheidung des Bundeskartellamtes also revidieren kann, prüft auch das OLG Düsseldorf bei Fortgang des Verfahrens nicht, ob das Bundeskartellamt sein Ermessen rechtmäßig ausgeübt hat.160 Vielmehr entscheidet es gemäß § 71 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 411 Abs. 4 StPO in der – durch den Bußgeldbescheid festgelegten – Sache nach pflichtgemäßem Ermessen selbst.161 Mit anderen Worten kann der zuständige Kartellsenat des OLG Düsseldorf eine Entscheidung treffen, die dieser – freilich unter Beachtung der Gesetze und der Verfassung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG – nach seiner eigenen Überzeugung für angemessen und zweckmäßig hält. Anders als im Verwaltungsrecht ist dem Bundeskartellamt demnach nicht die Letztentscheidungsbefugnis eingeräumt, sondern vielmehr dem OLG Düsseldorf. Freilich bleibt es demgegenüber bei der Entscheidung des Bundeskartellamtes, wenn der Betroffene den Bußgeldbescheid nicht anficht. Die in diesem Fall ausbleibende „gerichtliche Kontrolle“ kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass der Bußgeldbescheid durch das OLG Düsseldorf prinzipiell vollständig ersetzt werden kann.

Zuständigkeit in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nach dem Energiewirtschaftsgesetz v. 30.8.2011, GV. NRW. v. 23.9.2011, S. 469, in Kraft getreten am 24.9.2011. 157 Stellt es hingegen die Unzulässigkeit des Einspruchs fest, so verwirft es ihn gemäß § 70 Abs. 1 OWiG. 158 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 17 8.1999, Az. 5 Ss (OWi) 339/98 (OWi) 156/98 I, NStZ 2000, 42 (43), Rn. 18 (juris); OLG Frankfurt, Beschl. v. 3.11.1975, Az. 1 Ws (B) 189/75 OWiG, NJW 1976, 337. 159 BayOLG, Beschl. v. 25.2.1972, Az. RReg. 8 St 517/71 OWi, NJW 1972, 1771; Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 1 m.w. N. 160 Allgemein: BayOLG, Beschl. v. 25.2.1972, Az. RReg. 8 St 517/71 OWi, NJW 1972, 1771; Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 13; Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 1; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 32. 161 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2.1.1992, Az. 5 Ss (OWi) 472/91 – (OWi) 200/91 I, VRS 82, 463, Rn. 18 (juris); Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 83 Rn. 69; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 83 Rn. 33.

§ 3 Ergebnis

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IV. Rechtsbehelf gegen Entscheidungen gegen die Durchführung eines Bußgeldverfahrens? Zeigen Wettbewerber oder Kunden vermeintlicher Kartellbeteiligter diese beim Bundeskartellamt an, so erwarten sie nicht nur eine Verfolgung und gegebenenfalls eine vergeltende Sanktionierung der Kartellbeteiligten, sondern darüber hinaus auch eine damit verbundene Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen. Leitet das Bundeskartellamt nach Prüfung des Sachverhalts kein Bußgeldverfahren ein oder stellt es dieses wieder ein, werden diese Hoffnungen zerschlagen. Dennoch stellt ihnen das geltende Recht keinen justizförmigen Rechtsbehelf zur Verfügung. Grundsätzlich können zwar auch Personen, gegen die sich eine Maßnahme des Bundeskartellamtes richtet, gemäß § 62 Abs. 1 OWiG die gerichtliche Entscheidung beantragen. Nach allgemeiner Auffassung gewährt die Vorschrift dem Anzeigenden jedoch keinen Rechtsschutz gegen die Einstellung des Bußgeldverfahrens durch das Bundeskartellamt,162 was vor dem Hintergrund konsequent erscheint, dass die Entscheidung zur Einleitung eines Bußgeldverfahrens als behördeninterne Maßnahme ohne selbstständige Bedeutung ebenfalls nicht anfechtbar ist. Darüber hinaus schließt § 46 Abs. 3 S. 3 OWiG explizit die Klageerzwingung im Wege des Antrags auf gerichtliche Entscheidung gemäß § 172 StPO aus, der demjenigen, der Straftaten zur Anzeige bringt, im Falle der Einstellung des Ermittlungsverfahrens zugutekommt. Dem Anzeigeerstatter bleibt insoweit nur die Option, durch eine Gegenvorstellung oder eine Aufsichtsbeschwerde zu einer gegenteiligen, verwaltungsinternen Entscheidung zu gelangen.163 Auch zum Einspruch, der ohnehin nur gegen Bußgeldbescheide statthaft ist, sind gemäß § 67 Abs. 1 S. 1 OWiG nur Betroffene berechtigt.164 Da Geschädigten also justizförmige Rechtsbehelfe im Bußgeldverfahren abgeschnitten sind, bleiben die Ermessensentscheidungen des Bundeskartellamtes gegen die Durchführung eines Bußgeldverfahrens unantastbar „in der Welt“.

§ 3 Ergebnis Die Ermessenskonzeption des Verwaltungsrechts kann lediglich mit Blick auf das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Bundeskartellamt auf das behördliche Kartell-Bußgeldverfahren übertragen werden kann. Im Übrigen ist das Verhältnis zwischen der Kartellbehörde und der Judikative spezialgesetzlich ausgestaltet.

162 Seitz, in: Göhler, OWiG, § 62 Rn. 1 sowie Vor § 59 Rn. 160; Kurz, in: KK/OWiG, § 62 Rn. 2; Hannich, in: RRH/OWiG, § 62 Rn. 1; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/ Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 138; Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, Vor § 81 Rn. 211. 163 Kurz, in: KK/OWiG, § 62 Rn. 2; Seitz, in: Göhler, OWiG, § 62 Rn. 33 ff. 164 Der Begriff ist formell zu verstehen und bezeichnet den Adressaten des Bußgeldbescheids gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 1 OWiG: Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 8.

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Teil 1: Die Ermessenskonzeption im Kartell-Bußgeldverfahren

Auch im Kartell-Bußgeldverfahren ist für das Ermessen zunächst die durch eine Lockerung der Gesetzesbindung bewirkte Einräumung von Entscheidungsund Handlungsspielräumen kennzeichnend. Der Gesetzgeber hat das Bundeskartellamt mit der Installation der Ermessensnormen der §§ 17, 47 OWiG und § 81 GWB beauftragt, im konkreten Einzelfall, unter Beachtung des jeweiligen Gesetzeszwecks sowie der europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Grundsätze, zu einer sachgerechten und billigen Entscheidung zu gelangen. Dabei nimmt der Gesetzgeber durchaus in Kauf, dass die Entscheidung der zuständigen Beschlussabteilung möglicherweise von einer anderen Beschlussabteilung nicht in dieser Art getroffen worden wäre. Während dem Amtsträger im Anwendungsbereich des Verwaltungs- und Strafrecht generell die Kompetenz zur Letztentscheidung eingeräumt ist, indem seine Entscheidung nur dahingehend überprüft werden kann, ob sie sich innerhalb des durch das Recht bestimmten Rahmens der „schon“ und „noch“ richtigen Entscheidung bewegt, steht und fällt die Ermessensentscheidung des Bundeskartellamtes im Bußgeldverfahren mit dem Einspruch des Adressaten eines Bußgeldbescheids. Der Gesetzgeber hat der Kartellbehörde letztlich nicht die Befugnis zur Letztentscheidung eingeräumt, denn das OLG Düsseldorf überprüft nicht nur die Ermessensausübung der zuständigen Beschlussabteilung, sodass deren Zweckmäßigkeitserwägungen grundsätzlich unantastbar wären. Vielmehr ersetzt das Gericht die behördliche Ermessensentscheidung vollständig durch eine eigene, für richtig befundene Sachentscheidung. Die finale Entscheidungsbefugnis hinsichtlich des „Ob“ und „Wie“ der Ahndung obliegt demgemäß dem OLG Düsseldorf. Allerdings verbleibt dem Bundeskartellamt auch bei einem Einspruch des Betroffenen ein gewisser unantastbarer Restspielraum hinsichtlich der Fragen, ob eine Zuwiderhandlung verfolgt wird und wie weit diese Verfolgung reicht: Da der Bußgeldbescheid als eine Art Anklage nach Einspruchseinlegung fungiert, den Streitgegenstand also sachlich und persönlich begrenzt, kann das Gericht, wenn es sich nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 47 Abs. 1, Abs. 2 OWiG gegen eine Einstellung und für eine Fortführung des gerichtlichen Bußgeldverfahrens entscheidet, den Beschwerdegegenstand nicht ausweiten, selbst wenn es Anhaltspunkte dafür hat, dass das mit dem Bußgeldbescheid geahndete Kartell eine weitere zeitliche, räumliche oder gegenständliche Ausdehnung hatte, als es der Bebußung letztlich zugrunde gelegt wurde. Zudem können Dritte Entscheidungen gegen die Durch- oder Fortführung eines Bußgeldverfahrens nicht anfechten. Dementsprechend kann das Ermessen im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht als gesetzlich intendierter Entscheidungsspielraum des Bundeskartellamtes verstanden werden, der ihm unter Beachtung der heteronomen Ermessensgrenzen zwar zu einem gewissen Grad die Kompetenz zur Letztentscheidung hinsichtlich des „Ob“ der Verfolgung und dessen Reichweite im Einzelfall verleiht. Im Übrigen ist die Kartellbehörde hinsichtlich des „Ob“ und „Wie“ der Ahndung – in

§ 3 Ergebnis

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Abgrenzung zum Verwaltungsermessen – jedoch „nur“ zu einer vorläufigen Entscheidung ermächtigt. Die zur Abgrenzung der Kompetenzbereiche der Exekutive und Judikative im Verwaltungsrecht entwickelte Ermessensfehlerlehre ist daher im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren nur von begrenzter Aussagekraft. Auf sie soll im Folgenden nur zur Verdeutlichung von Übertretungen der gesetzlich intendierten Ermessensbefugnis zurückgegriffen werden.

Teil 2

Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes Der Begriff des Verfolgungsermessens erfasst in dieser Arbeit sämtliche Entscheidungsspielräume, die dem Bundeskartellamt im Zusammenhang mit der Durchführung und Gestaltung eines Bußgeldverfahrens eingeräumt sind. Im Folgenden werden die sich zu Beginn, während und vor Beendigung eines Bußgeldverfahrens stellenden Fragen und ihre mögliche Beantwortung durch die zuständige Beschlussabteilung des Bundeskartellamtes im konkreten Einzelfall erörtert. Im Kern geht es um zwei Fragen. Erstens: Kann und sollte ein Bußgeldverfahren eingeleitet bzw. ein bereits laufendes Bußgeldverfahren wieder eingestellt werden? Und zweitens: Kann und sollte ein festgestellter Verstoß gegen das Kartellverbot mit einer Geldbuße geahndet werden? Der Gesetzgeber hat der Kartellbehörde in diesem Zusammenhang ausdrücklich keine zwingend zu beachtenden Maßstäbe an die Hand gegeben. Zuvorderst innerhalb des GWB finden sich keine speziellen Regelungen zum „Ob“ der Durchführung des behördlichen Kartell-Bußgeldverfahrens und Bußgelderlasses. Auch das gemäß § 2 OWiG für alle Ordnungswidrigkeiten nach Bundes- und Landesrecht anzuwendende Gesetz über Ordnungswidrigkeiten regelt mit der Kernvorschrift des § 47 OWiG allein die umfassende Geltung des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren, das alle mit der Verfolgung von Kartellverstößen betrauten Organe sowie sämtliche Verfahrensstadien gleichermaßen berührt.1 Über die Voraussetzungen für eine Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten schweigt es indes gleichermaßen, wie über die Anforderungen, die an die Pflichtgemäßheit der Ermessensausübung zu stellen sind. Angesichts der Tragweite des § 47 Abs. 1 OWiG, der nicht nur die Einleitung, Fortsetzung und konkrete Art des Abschlusses des Bußgeldverfahrens in das pflichtgemäße Ermessen des Verfolgungsorgans stellt, sondern auch dessen Intensität und Reichweite,2 wäre zu vermuten gewesen, dass die Regelung eine ausgefeilte Konkretisierung erfahren hat. Das Gegenteil ist allerdings der Fall. Sie lautet schlicht: „Die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörde. Solange das Verfahren bei ihr anhängig ist, kann sie es einstellen.“ 1 Statt aller: Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 5; Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 3; Klesczewski, OWiR, § 9 Rn. 696. 2 Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 11; Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 5; Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 3.

§ 1 Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse

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Bevor die Ausübung des Verfolgungsermessens durch das Bundeskartellamt näher beleuchtet werden kann, bedarf es daher zunächst einer Ermittlung der Verfahrens- und Ahndungsvoraussetzungen (§ 1). Anschließend soll vor dem Hintergrund der gesamten Bandbreite gesetzlich geregelter und ungeregelter Handlungsoptionen, die die theoretisch maximale Weite des Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Bundeskartellamtes markieren (§ 2), der Frage nachgegangen werden, inwieweit der Entscheidung der Beschlussabteilung trotz fehlender gesetzlicher Ermessenskriterien im konkreten Einzelfall generelle, heteronome Grenzen gesetzt sind (§ 3). Für die abschließende Bewertung der rechtlichen und faktischen Reichweite des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes (§ 5) ist schließlich entscheidend, auf welche Weise es das Bundeskartellamt in der Praxis ausübt (§ 4).

§ 1 Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse Bevor das Bundeskartellamt Ermessen im Sinne der Rechtsfolgeanordnung des § 47 Abs. 1 OWiG ausüben kann, hat es stets zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Durchführung eines Bußgeldverfahrens vorliegen. Diese ergeben sich nicht aus § 47 Abs. 1 OWiG. Die Vorschrift verfügt über keine Tatbestandsmerkmale. Dass an die Einleitung und Durchführung eines Bußgeldverfahrens jedoch bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen sind, folgt aus den negativen Konsequenzen, die mit der Einleitung, Durchführung und dem Abschluss eines Kartellverfahrens für (vermeintliche) Kartellbeteiligte verbunden sind. Die anfänglich lediglich eines Kartellverstoßes verdächtigten, natürlichen Personen und Unternehmen werden bei der Durchführung eines Bußgeldverfahrens zum einen mit eingriffsintensiven Ermittlungsmaßnahmen des Bundeskartellamtes konfrontiert. Zum anderen droht ihnen die Auferlegung empfindlicher Geldbußen mittels Bußgeldbescheid, der, unabhängig von seiner Anfechtbarkeit, zunächst erst einmal in der Welt ist und für Betroffene auch ohne seine Rechtskraft weitreichende Konsequenzen haben kann. Denn abgesehen von mit der Veröffentlichung der Bebußung einhergehenden, möglichen Reputationsverlusten und Beeinträchtigungen der Geschäftsbeziehungen, zwingt ein Bußgeldbescheid, sofern der Adressat diesen nicht hinnehmen will, zur Aufwendung weiterer finanzieller Mittel, verbunden mit einem jeden Gerichtsverfahren immanenten Prozessrisiko. Die hohe Eingriffsintensität, die etwa mit Durchsuchungen und Beschlagnahmen in das Grundrecht der Betroffenen an der Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 12 GG, aber auch in das Brief- und Postgeheimnis gemäß Art. 10 GG und – mit der Verhängung einer Geldbuße – in das Recht auf freie, unternehmerische Entfaltung gemäß Art. 2 Abs. 1, 12, 14 GG bzw. in das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG verbunden ist, offenbart deutlich, dass das Bundeskartellamt zu jedem Zeitpunkt des Bußgeldverfahrens sicher sein muss, dass es in seinen Maßnahmen gerechtfertigt ist, weil es wahrscheinlich ein

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

rechtswidriges Kartell aufdecken und zerschlagen wird und dieses letztlich ahnden darf. Die Verfahrens- und Ahndungsvoraussetzungen ergeben sich aus dem Grundgesetz und dem allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht, aber auch aus der sinngemäßen Anwendung der für das Strafverfahren geltenden Verfahrensgrundsätze gemäß § 46 Abs. 1 OWiG, die das Bundeskartellamt vor der Entscheidung, ob und gegen wen es ein Bußgeldverfahren durchführt und ob es eine Geldbuße verhängt, stets zu prüfen hat.

A. Zuständigkeit des Bundeskartellamtes Zunächst muss das Bundeskartellamt gesetzlich dazu ermächtigt sein, einen konkreten, kartellrechtsrelevanten Vorgang zu seiner Angelegenheit zu machen.3 Die sachliche Zuständigkeit für die Verfolgung von Kartell-Ordnungswidrigkeiten ergibt sich aus § 36 Abs. 1 Nr. 1 OWiG i.V. m. §§ 81 Abs. 10, 48 Abs. 1 GWB. Danach sind grundsätzlich sowohl das Bundeskartellamt als auch die obersten Landesbehörden als Kartellbehörden zur Verfolgung von Kartellordnungswidrigkeiten berufen. Das Bundeskartellamt ist gemäß § 48 Abs. 2 S. 1 GWB ausschließlich sachlich zuständig, wenn die Wirkung des wettbewerbsbeschränkenden Verhaltens über das Gebiet des betroffenen Bundeslandes hinausreicht. Andernfalls wird gemäß § 48 Abs. 2 S. 2 GWB i.V. m. § 37 Abs. 1 Nr. 1 OWiG diejenige oberste Landesbehörde tätig, die in dem jeweiligen Bundesland, welches von dem Kartellverstoß betroffen ist, zur Verfolgung von Kartellen berufen ist. Allerdings genügt bereits eine geringfügige Auswirkung über die Grenzen dieses Bundeslandes hinaus, um die Zuständigkeit des Bundeskartellamtes zu begründen.4 Dies gilt gemäß § 50 Abs. 1 GWB gleichermaßen für Zuwiderhandlungen gegen § 1 GWB, wie für solche gegen Art. 101 AEUV, zu deren Verfolgung die nationalen Kartellbehörden gemäß Art. 5 Abs. 1 i.V. m. Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 ausdrücklich berufen sind.5 Ist das Bundeskartellamt zur Verfolgung eines Kartellverstoßes berufen, ist es zwingend auch örtlich i. S. d. § 37 OWiG zuständig. Stellt es hingegen seine Unzuständigkeit fest, ist eine Einleitung des Bußgeldverfahrens unzulässig. Hat das Bundeskartellamt bereits ein Bußgeldverfahren 3 Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 9; Wieser, Handbuch des Bußgeldverfahrens, S. 26, 30; Klesczewski, OWiR, § 9 Rn. 788. 4 BGH, Urt. v. 1.6.1977, Az. KRB 3/76 – Brotindustrie, WuW/E BGH 1489 (1490), Rn. 8 (juris); KG, Beschl. v. 6.5.1980, Az. Kart 1/80 – Stadtwerke Frankfurt, WuW/E OLG 2284 (3045). 5 Die Zuständigkeit des BKartA für die Verfolgung zwischenstaatlicher Kartellverstöße endet erst und nur vorläufig mit der Ausübung des Revokationsrechts durch die Kommission gemäß Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 oder im Einvernehmen mit dem BKartA nach Zuteilung des Falls an eine andere nationale Kartellbehörde.

§ 1 Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse

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eingeleitet, muss es dieses jedoch nicht einstellen, sondern kann die Sache formlos an die zuständige Behörde abgeben.6

B. Notwendiger Kenntnisstand des Bundeskartellamtes I. Vor und während der Durchführung des Bußgeldverfahrens: Anfangsverdacht Die Vorschriften der § 46 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 152 Abs. 2 StPO verlangen zur Einleitung eines Bußgeldverfahrens zureichend tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Kartellordnungswidrigkeit.7 Eine bloße Vermutung reicht nicht aus.8 Vielmehr muss nach kriminalistischer Erfahrung aufgrund konkreter Tatsachen zumindest die Möglichkeit bestehen, dass eine Zuwiderhandlung gegen § 1 GWB, Art. 101 AEUV begangen wurde.9 Da der vermeintliche Kartellverstoß mithilfe des Bußgeldverfahrens jedoch erst ermittelt werden soll, stellt die Praxis an den Anfangsverdacht keine strengen Anforderungen. Die Rechtsprechung hat der Staatsanwaltschaft in strafprozessualen Ermittlungsverfahren einen gerichtlich nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum bei der Beantwortung der Frage zugestanden, ob ein Verdacht zureichend ist.10 Entsprechendes muss daher a fortiori auch für die Beurteilung des Bundeskartellamtes gelten, wenn es ein – strafverfahrensähnlich ausgestaltetes – Bußgeldverfahren einzuleiten gedenkt. Der konkrete Verdacht muss sich noch nicht gegen eine bestimmte Person richten.11 Ein Ermittlungsverfahren gegen „Unbekannt“ ist daher ohne weiteres möglich; es dient dann gerade der Ermittlung des Täters einer Ordnungswidrig-

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Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 9; Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 10. Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 28; Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4, § 27 Rn. 2; Klesczewski, OWiR, § 10 Rn. 839; vgl. auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 202; Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 145. 8 BVerfG, Beschl. v. 7.9.2006, Az. 2 BvR 1219/05 – Durchsuchungsbeschluss, NJW 2007, 1443, Rn. 15 (juris); Beschl. v. 10.9.2010, Az. 2 BvR 2561/08, NJW 2011, 291, Rn. 25 (juris); Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 39; Meyer-Goßner, StPO, § 152 Rn. 4. 9 Entsprechend für den Anfangsverdacht gem. § 152 Abs. 2 StPO: BVerwG, Urt. v. 21.4.1988, Az. III ZR 255/86, NJW 1989, 96 (97), Rn. 17 (juris); Beschl. v. 11.3.2010, Az. StB 16/07, NStZ 2010, 711, Rn. 10 (juris); ferner etwa: Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 152 Rn. 21; Meyer-Goßner, StPO, § 152 Rn. 4; Müller, in: KMR/StPO, § 152 Rn. 4; Schoreit, in: KK/StPO, § 152 Rn. 28. 10 BVerfG, Beschl. v. 8.11.1983, Az. 2 BvR 1138/83, NJW 1984, 1451 (1452), Rn. 6 (juris); BGH, Urt. v. 31.5.1990, Az. 4 StR 112/90, BGHSt 37, 48 (51), Rn. 11 (juris); ferner zum notwendigen Tatverdacht für Ermittlungsmaßnahmen auch: BGH, Beschl. v. 1.8.2002, Az. 3 StR 122/02, BGHSt 47, 362 (365 f.), Rn. 10 (juris); Beschl. v. 11.3. 2010, Az. StB 16/09, NStZ 2010, 711, Rn. 10 (juris). 11 Klesczewski, OWiR, § 10 Rn. 839; Mitsch, OWiR, § 27 Rn. 3. 7

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keit.12 Allerdings sind in einem solchen Fall höhere Anforderungen an die Zulänglichkeit tatsächlicher Anhaltspunkte zu stellen, wenn das Bundeskartellamt Ermittlungsmaßnahmen gegen bestimmte Personen durchzuführen gedenkt. Aus diesem Grund greift das Bundeskartellamt neuerdings zunehmend auf Sektoruntersuchungen gemäß § 32e GWB zurück.13 Lassen besondere Umstände, wie etwa dauerhaft starre Preise in einem Markt, vermuten, dass der Wettbewerb in diesem Markt möglicherweise eingeschränkt ist, kann das Bundeskartellamt ganze Wirtschaftszweige untersuchen und sich staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsbefugnisse bedienen, ohne dass es eines konkreten Anfangsverdachts bedarf.14 Verdachtsmomente gewinnt das Bundeskartellamt aus eigener Marktbeobachtung, wenngleich dies in der Praxis eher seltener der Fall sein wird. Marktbeobachtungen können allerdings zu der Vermutung wettbewerbswidrigen Verhaltens führen, die für eine Sektoruntersuchung ausreichend ist. In der Vergangenheit haben auch eigens von Kartellmitgliedern über Verbände initiierte Presseberichte die Aufmerksamkeit des Bundeskartellamtes erregt und einen zureichenden Anfangsverdacht begründet.15 Zudem erscheint es sehr wahrscheinlich, dass sich das Bundeskartellamt Informationen bedient, an welche es in einem vorangegangenen Verwaltungsverfahren oder gar Bußgeldverfahren wegen einer anderen Angelegenheit gelangt ist. Neben Informationen aus informellen Befragungen und Zeugenvernehmungen kommen insoweit etwa auch sogenannte Zufallsfunde in Betracht, die gemäß § 108 Abs. 1 StPO i.V. m. § 46 Abs. 1 OWiG im Rahmen von Durchsuchungen beschlagnahmt werden und in einem neuen Verfahren jedenfalls dann verwertet werden dürfen, wenn sie im Rahmen eines daraufhin eingeleiteten Verfahrens ebenfalls beschlagnahmt werden dürften.16 In den weit überwiegenden Fällen in der Praxis leitet das Bundeskartellamt Bußgeldverfahren aufgrund einer Anzeige gemäß § 158 StPO i.V. m. § 46 Abs. 1 OWiG ein. Durch eine Anzeige wird das Bundeskartellamt zur Prüfung verpflich-

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Wieser, Handbuch des Bußgeldverfahrens, S. 36. Im Februar 2011 kündigte das BKartA eine Sektoruntersuchung der Beschaffungsmärkte im Lebensmitteleinzelhandel an, vgl. PM v. 14.2.2011. Diese folgte der bereits im Juni 2008 eingeleiteten Sektoruntersuchung Milch. Neben diesen führte die Kartellbehörde zahlreiche Kartell-Bußgeldverfahren im Bereich der Konsumgüter durch, vgl. etwa Beschl. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08 – Kaffeeröster, PM v. 21.12.2009, Fallbericht v. 14.1.2010; Beschl. v. 17.3.2011 – Konsumgüterhersteller, vgl. PM v. 17.3.2011. 14 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4.8.2010, Az. VI-2 Kart 8/09 (V), Rn. 29 f. (juris); Herrlinger, WRP 2005, S. 1136 ff. (1139); Rehbinder, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 32e GWB Rn. 2; Bach, in: IM/GWB, § 32e Rn. 47; ferner: Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3460 S. 34. 15 Vgl. dazu etwa die Feststellungen des KG Berlin, Urt. v. 17.3.1993, Az. Kart 16/ 91 – Treibstoffzuschläge, WuW/E OLG 5121 (5125). 16 Statt vieler: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 234; umfassend etwa: Stöcker, BB 2012, S. 1172 ff. 13

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tet, ob der dargelegte Sachverhalt den Verdacht einer Kartell-Ordnungswidrigkeit begründet.17 Zureichende Anhaltspunkte gewinnt es dabei aus dem schriftlichen oder mündlichen Vortrag des Anzeigeerstatters und den erkennbaren Marktverhältnissen. Die Anzeige kann anonym erfolgen;18 die Literatur gesteht dem Anzeigeerstatter überwiegend auch eine vertrauliche Behandlung seiner Person und seines Namens zu.19 Der Anzeigeerstatter kann aus dem Wettbewerb20 oder dem Kundenkreis21 der verdächtigten Unternehmen stammen. Zunehmende Bedeutung gewinnt allerdings die seit der Einführung des Bonusprogramms des Bundeskartellamtes im Jahre 2000 ermöglichte und sanktionsrechtlich belohnte Selbstanzeige von Kartellmitgliedern.22 Mit der Bonusregelung hat das Bundeskartellamt den Anreiz für Kartellmitglieder erhöht, Insider-Informationen aus dem Netz des Kartells preiszugeben, die in der Regel bereits einen dringenden Tatverdacht begründen. II. Vor Erlass einer Geldbuße: Subjektiv zweifelsfrei feststehende Zuwiderhandlung Unter Beachtung des verfassungsrechtlich in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG sowie im Rechtsstaatsprinzip verbürgten Grundsatzes „nulla poena sine culpa“ ist staatliche Sanktionierung, unabhängig davon, ob die Sanktion als Strafe im engen oder weiteren Sinne zu qualifizieren ist, nur zulässig, wenn die Schuld des Täters hinsichtlich der Begehung einer für rechtswidrig erklärten Tat feststeht.23 Der Erlass einer Geldbuße setzt dementsprechend voraus, dass sich der zu Beginn des Bußgeldverfahrens notwendige, aber auch ausreichende Anfangsverdacht infolge der Sachverhaltsaufklärung derart verdichtet hat, dass die zuständige Beschlussabteilung letztlich subjektiv von der „Schuld“ des Betroffenen überzeugt ist. Das Bundeskartellamt muss es für erwiesen halten, dass der Be17

Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 42; Klesczewski, OWiR, § 10 Rn. 842. Wie im Fall Feuerwehrfahrzeuge, vgl. BKartA, PM v. 10.2.2011. 19 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 204; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 31; für das Strafverfahren: Meyer-Goßner, StPO, § 158 Rn. 16; Griesbaum, in: KK/StPO, § 158 Rn. 16; ausdrücklich auch das BKartA für Antragstellende nach der Bonusregelung vom 7.3.2006, Rn. 2; krit. Wieser, Handbuch des Bußgeldverfahrens, S. 98 ff. 20 So etwa das Kartellverfahren Betonrohre, vgl. BKartA, PM v. 10. August 2011. 21 Vgl. die Kartellverfahren Holzwerkstoffprodukte, PM v. 20.9.2011 und Pappteller, PM v. 25.1.2011. 22 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 17 ff. Ferner vertiefend: Teil 2 § 4 F. (S. 297 ff.). 23 St. Rspr., vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 25.10.1966, Az. 2 BvR 506/63 – nulla poena sine culpa, BVerfGE 20, 323 (331), Rn. 34 (juris); Beschl. v. 26.2.2008, Az. 2 BvR 392/07, NJW 2008, 1137 (1142), Rn. 71 (juris); Beschl. v. 16.5.2011, Az. 2 BvR 1230/10, Rn. 15 (juris). Der Grundsatz nulla poena sine culpa wird noch anderer Stelle vertieft, siehe vor allem: Teil 3 § 1 B. (S. 336 ff.). 18

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troffene eine Zuwiderhandlung gegen § 1 GWB und/oder Art. 101 AEUV begangen hat.24 Dafür reicht weder ein hinreichender Tatverdacht, noch eine bloße Beschuldigung ohne hinreichender sachlicher Grundlage aus.25 Allerdings stellt ein Teil der Literatur geringere Anforderungen an den Überzeugungsgrad der Verfolgungsbehörde als an jenen eines Tatrichters, da Aufklärungsdefizite dem „summarischen“ Vorverfahren immanent seien und der Bußgeldbescheid ohnehin nur vorläufiger Natur sei.26 Wenn damit gemeint ist, dass allenfalls noch fernliegende, geringe Restzweifel bestehen dürfen, die nach der Lebenserfahrung nicht mehr als echte Zweifel anzusehen und daher zu vernachlässigen sind,27 so ist dem zuzustimmen. Alle Zweifel bzw. Aufklärungsdefizite größeren Ausmaßes schließen unter Beachtung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ hingegen zwingend einen Geldbußerlass aus.28 Insbesondere darf das Bundeskartellamt auch nicht ein Bußgeld mit der Begründung verhängen, der Bußgeldbescheid sei nur vorläufig und im Zwischen- oder Hauptverfahren wieder revidierbar, wenn sich der Betroffene unschuldig fühle.29 Die Entscheidung für den Erlass einer Geldbuße hat daher auf einer einzelfallbezogenen, nicht pauschalisierenden Beweiswürdigung zu beruhen.30

C. Kein Verfahrenshindernis Das Bundeskartellamt darf ein Bußgeldverfahren nicht durchführen und erst keine Geldbuße verhängen, wenn rechtliche Verfolgungs- bzw. Verfahrenshindernisse bestehen. An dieser Stelle werden die für das Kartell-Bußgeldverfahren bedeutsamsten Verfahrenshindernisse beleuchtet.

24 BGH, Beschl. v. 5.2.1997, Az. 5 StR 249/96, NStZ 1998, 453, Rn. 14 (juris); OLG Hamm, Beschl. v. 20.12.1994, Az. 4Ss OWi 1102/94, NJW 1995, 2937 f.; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 65 Rn. 1; Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 11; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 50; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 204. 25 Zutreffend: Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 11; a. A. Reichert, in: RRH/OWiG, § 65 Rn. 4. 26 Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 11; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 65 Rn. 1. 27 So Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 50. 28 BVerfG, Beschl. v. 4.2.1959, Az. 1 BvR 197/53 – Verschuldensvermutung nach WiStrG, NJW 1959, 619, Rn. 14 (juris); Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 11; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 145; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 50; Bohnert, OWiG, § 3 Rn. 18. 29 Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 65 Rn. 1; Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 11; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 253; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/ Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 145; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 50. 30 Klusmann, WuW 1995, S. 271 ff. (280 f.).

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I. Verbot der Mehrfachahndung („ne bis in idem“) 1. Innerhalb des deutschen Rechtskreises

Besteht bereits eine rechtskräftige Entscheidung hinsichtlich einer Zuwiderhandlung, kommt ein weiteres Bußgeldverfahren mit dem Ziel einer erneuten Ahndung wegen desselben Kartellverstoßes nicht in Betracht. Der bestehende Bußgeldbescheid des Bundeskartellamtes oder etwa ein rechtskräftiges Strafurteil wegen Submissionsbetrugs entfalten eine Sperrwirkung für die erneute oder fortgesetzte Ahndung einer Tat, sowie für die mit dem Ziel der Ahndung betriebene Verfolgung der Tat.31 Das Bundeskartellamt kann, wenn es bereits eine Geldbuße gegen ein Unternehmen32 und/oder eine natürliche Person erlassen hat, und der Bußgeldbescheid rechtkräftig geworden ist oder aber das Gericht rechtskräftig über die Sache entschieden hat, nicht erneut wegen derselben Tat tätig werden. Das Verbot der Mehrfachahndung („ne bis in idem“) ist Ausdruck der rechtsstaatlichen Strafrechtspflege,33 gilt jedoch, wenngleich eingeschränkt, auch im Bußgeldverfahren.34 Zwar besteht Uneinigkeit darüber, ob sich die Geltung des Verbots der Mehrfachahndung im Bußgeldverfahren aus Art. 103 Abs. 3 GG selbst ergibt,35 allerdings wird es vom BVerfG jedenfalls aus dem Rechtsstaats31 BGH, Beschl. v. 28.12.2006, Az. 1 StR 534/06, NStZ-RR 2007, 179; grundlegend Urt. v. 10.12.1985, Az. KRB 3/85, WuW/E BGH 2205 (2207), Rn. 7 (juris); Beschl. v. 14.8.1991, Az. StB 15/91, 3 BJs 762/91-4-(32)-StB 15/91, NJW 1991, 2779 (2780), Rn. 7 (juris) m.w. N. 32 BGH, Beschl. v. 8.2.1994, Az. KRB 25/93, NStZ 1994, 346, Rn. 15 f. (juris); Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 37. 33 BVerfG, Ents. v. 17.1.1961, Az. 2 BvL 17/60, BVerfGE 12, 62 (66), Rn. 23 (juris). 34 BGH, Beschl. v. 17.12.1970, Az. KRB 1/70 – Teerfarben, NJW 1971, 521 (522), Rn. 15 (juris); zuletzt etwa OLG Hamm, Ents. v. 9.6.2009, Rs. 5 Ss OWi 297/09, Rn. 9 (in juris); Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 37; Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 47; Klesczewski, OWiR, § 9 Rn. 810; Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 17; Wieser, Handbuch des Bußgeldverfahrens, S. 58. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 3 GG Rn. 289 präferiert wegen seiner engeren Anwendung im Ordnungswidrigkeitenrecht daher eine analoge Anwendung des Art. 103 Abs. 3 GG. Das BVerfG leitet das Verbot der Doppelahndung im Ordnungswidrigkeitenrecht hingegen aus dem Rechtsstaatsprinzip ab. Vgl. BVerfG, Ents. v. 2.5.1967, Az. 2 BvR 391/64, 2 BvR 263/ 66 – Wehrdisziplin, BVerfGE 21, 378 (388), Rn. 29 ff.; ebenso Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 134. 35 Dagegen wohl: BVerfG, Beschl. v. 9.11.1976, Az. 2 BvL 1/76, BVerfGE 43, 101 (105), Rn. 24 (juris); BGH, Urt. v. 24.11.1961, Az. 2 StR 540/60, NJW 1962, 822; Beschl. v. 17.12.1970, Az. KRB 1/70 – Teerfarben, NJW 1971, 521 (522), Rn. 15 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1985, Az. 2 Ss (OWi) 335/85–197/85 II, NJW 1986, 1505; BayOLG, Beschl. v. 24.7.1996, Az. 2 ObOWi 545/96, BayOLGSt 1996, 123 (124); ThürOLG, Beschl. v. 5.1.2006, Az. 1 Ss 179/04, NStZ-RR 2006, 319, Rn. 7 (juris); Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 134; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 289; dafür hingegen: OLG Zweibrücken, Beschl. v. 5.10.1992, Az. 1 Ss 27/92, NZV 1993, 451; Beschl. v. 17.9.1998, Az. 1 Ss 208/98, NJW 1999, 962, Rn. 11 (juris); Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 24; Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, § 83 Rn. 18.

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prinzip,36 in der Literatur zum Teil konkreter auch aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit hergeleitet.37 Dem tragen auch die Vorschriften der §§ 56 Abs. 4, 84, 85 OWiG Rechnung, die eine erneute Verfolgung derselben Tat bei Rechtskraft des Bußgeldbescheides bzw. Wirksamkeit der Verwarnung ausschließen. Die eingeschränkte Anwendbarkeit des „ne bis in idem“-Grundsatzes im Bußgeldverfahren resultiert aus einer engeren Definition von „Strafe“, die in den §§ 84 und 85 OWiG positivrechtlich ihren Ausdruck gefunden hat. Nach § 84 Abs. 1, 1. Alt. OWiG verbietet sich zwar eine mehrfache Verfolgung desselben Sachverhalts als Ordnungswidrigkeit durch das Bundeskartellamt. Ein Bußgeldbescheid der Kartellbehörde verhindert allerdings nicht die erneute strafrechtliche Verfolgung gemäß § 84 Abs. 2 OWiG, da innerhalb des Kartell-Bußgeldverfahrens keine strafrechtliche Beurteilung erfolgt.38 Demgegenüber ist ein Bußgeldbescheid gemäß § 86 Abs. 1 OWiG über die Tat aufzuheben, soweit eine spätere strafrechtliche Verurteilung reicht. Umgekehrt steht ein rechtskräftiges, strafrechtliches Urteil der erneuten Verfolgung der Tat in einem Bußgeldverfahren entgegen, § 84 Abs. 1, 2. Alt. OWiG. Dies folgt aus dem Rechtsgedanken des § 21 Abs. 1 S. 1 OWiG, nach dem die strafrechtliche Verfolgung stets Vorrang vor einem Bußgeldverfahren hat. Keine Sperrwirkung entfaltet das Verbot der Mehrfachahndung allerdings bei einer Einstellung oder Beendigung des Strafverfahrens aus prozessualen Gründen, oder wenn die Staatsanwaltschaft gemäß §§ 153 ff. StPO von einer Verfolgung absieht, da in diesen Fällen keine materielle Bewertung der Tat erfolgt.39 Dem Verbot der Mehrfachahndung entspringt nicht nur ein Verfahrenshindernis wegen Rechtskraft, sondern darüber hinaus wegen Rechtshängigkeit der Sache vor einem Gericht40 oder wegen der bereits eingeleiteten Verfolgung durch 36 BVerfG, Ents. v. 2.5.1967, Az. 2 BvR 391/64, 2 BvR 263/66 – Wehrdisziplin, BVerfGE 21, 378 (388), Rn. 29 ff. (juris); Ents. v. 29.10.1969, Az. 2 BvR 545/68 – ärztliche Ehrengerichtsbarkeit, BVerfGE 27, 180 (188), Rn. 20 ff. (juris); Ents. v. 26.5.1970, Az. 1 BvR 668/68, 1 BvR 710/68, 1 BvR 337/69, BVerfGE 28, 264 (276 f.), Rn. 33 (juris); Beschl. v. 9.11.1976, Az. 2 BvL 1/76, BVerfGE 43, 101 (106 ff.), Rn. 26 ff. (juris). 37 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 276. 38 Die Verfolgung unter verschärften Gesichtspunkten ist nach Auffassung des BVerfG verfassungsmäßig. Vgl. Ents. v. 2.5.1967, Az. 2 BvR 391/64, 2 BvR 263/66 – Wehrdisziplin, BVerfGE 21, 378 (388), Rn. 28 (juris). 39 Seitz, in: Göhler, OWiG, § 84 Rn. 15; Wache, in: KK/OWiG, § 84 Rn. 17; Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 20 f. 40 BGH, Beschl. v. 9.12.1953, Az. GSSt 2/53, BGHSt 5, 323 (328 f.); Urt. v. 10.7.1957, Az. 4 StR 5/57 – Beschaffungsstelle, BGHSt 10, 358 (363), Ls. 2; Beschl. v. 17.12.1970, Az. KRB 1/70 – Teerfarben, NJW 1971, 521 (522), Rn. 15 (juris); KG Berlin, Beschl. v. 14.3.2007, Az. 2 Ss 37/07, 2 Ws (B) 97/07, Rn. 3 (juris); ThürOLG, Beschl. v. 5.1.2006, Az. 1 Ss 179/04, NStZ-RR 2006, 319 (320), Rn. 10 (juris); OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.5.2009, Az. 1 Ws 100/09, Rn. 12 (juris).

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die Staatsanwaltschaft.41 Das Bundeskartellamt darf daher auch bei einem bereits von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten bzw. vor einem Gericht anhängigen Verfahren nach den vorstehenden Grundsätzen nicht tätig werden. Die verfahrenshindernde Wirkung tritt jedoch nur ein, wenn es sich um ein und dieselbe „Tat“ handelt. Der Begriff der Tat wird rein prozessual bestimmt. Die Verbrauchswirkung eines Bußgeldbescheides oder eines Strafurteils umfasst den gesamten Gegenstand des Verfahrens und nicht allein einzelne Bestandteile der Tat, von denen das Bundeskartellamt Kenntnis hatte. Hat das Bundeskartellamt also einen Kartellverstoß, der über einen gewissen Zeitraum dauerte, verfolgt und als solchen geahndet, so gilt die Sperrwirkung des „ne bis in idem“-Grundsatzes für den gesamten, zeitlich gestreckten Tathergang. Der Kartellverstoß wird als einheitliche „Tat“ behandelt. Dies gilt auch dann, wenn sich das Bundeskartellamt nur mit einem zeitlichen Ausschnitt des Sachverhalts beschäftigt hat, etwa aus Mangel an Beweisen. Der Bußgeldbescheid kann daher eine freispruchähnliche Sperrwirkung für die nicht geahndeten Tatbeiträge aufweisen, sofern diese nicht prozessual im Sinne von Tatmehrheit nach § 20 OWiG abtrennbar sind.42 2. Innerhalb der Europäischen Union

Seit dem Inkrafttreten der VO 1/2003 gilt das Verbot der Mehrfachahndung wohl auch im Verhältnis der nationalen Kartellbehörden zur Kommission sowie zwischen den Kartellbehörden der Mitgliedstaaten untereinander. Zwar hatte der BGH noch im Fall Teerfarben entschieden, dass ein mit einer Geldbuße abgeschlossenes Verfahren der Kommission das Bundeskartellamt nicht daran hindere, nach nationalem Recht ein selbstständiges Bußgeldverfahren durchzuführen.43 Zur Begründung führte der BGH – der damaligen Rechtslage entsprechend – aus, dass die Kommission europäisches Recht und das Bundeskartellamt deutsches Recht anwendeten, welche sich dadurch unterschieden, dass sie den Wettbewerb in unterschiedlichen geographischen Bereichen schützten.44 Seit dem Inkrafttreten der VO 1/2003 und der 7. GWB-Novelle45 ist das Bundeskartellamt bei Sachverhalten mit unionsweiter Bedeutung nunmehr allerdings verpflichtet Art. 101 AEUV anzuwenden,46 und zwar unabhängig davon, ob sich das Bundeskartellamt dazu entschließt, den vermuteten Kartellverstoß (fakultativ 41 Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 15; Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 47; Klesczewski, OWiR, § 9 Rn. 823. 42 Klesczewski, OWiR, § 24 Rn. 23. 43 BGH, Beschl. v. 17.12.1970, Az. KRB 1/70 – Teerfarben, NJW 1971, 521 ff. 44 BGH, Beschl. v. 17.12.1970, Az. KRB 1/70 – Teerfarben, NJW 1971, 521 (523), Rn. 17 ff. (juris). 45 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BGBl. v. 12.7.2005, Teil I, S. 1954. 46 Gemäß Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003, § 22 Abs. 1 S. 2 GWB.

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auch) an § 1 GWB zu messen. Daher wendet das Bundeskartellamt heute nicht mehr nur eine Norm mit nationaler Schutzrichtung an und muss eine sachliche Entscheidung der Kommission über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung oder aber die kommissionsseitige Einleitung eines Bußgeldverfahrens dem „ne bis in idem“-Grundsatz entsprechend berücksichtigen.47 Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass das Verbot der Mehrfachbestrafung als allgemeiner Rechtsgrundsatz bereits früh vom EuGH anerkannt wurde48 und in Art. 50 der Grundrechte-Charta sowie in Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK seinen Ausdruck gefunden hat. Damit ist es auch von nationalen Behörden bei der Durchführung europäischen Rechts zu beachten.49 In der Literatur wird zur Begründung der zwingenden Berücksichtigung des Verbots der Mehrfachahndung zum Teil auch Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 angeführt,50 nach welchem es der Kartellbehörde verwehrt ist, einen Kartellverstoß zu verfolgen, der bereits Gegenstand eines Verfahrens der Kommission ist. Der Rückgriff auf diese Zuständigkeitsregelung ist angesichts der vorstehenden Er47 EuG, Urt. v. 13.7.2011, verb. Rs. T-144/07, T-147 bis 150/07, T-154/07 – ThyssenKrupp Liften u. a., Slg. 2011, I-0000, Rn. 162 ff.; wohl auch EuGH, Urt. v. 14.2.2012, Rs. C-17/10 – Toshiba u. a./Úrˇad pro ochranu hospodárˇské souteˇzˇe, Slg. 2012, I-0000, Rn. 93 ff.; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 10 Rn. 66; Bechtold u. a., EGKartellrecht, Art. 23 Rn. 11; Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 66; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 41; Nowak, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 23 VO 1/2003 Rn. 48; Dannecker, in: IM/ EU KartellR, Vorbem. zu Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 253 m.w. N.; a. A. hingegen unter Geltendmachung des Anrechnungsgrundsatzes: Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 21 Rn. 34 f.; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 20 f.; Engelsing/Schneider, in: MK/EU WettbewerbsR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 20; Frenz, Hdb. EuR, Bd. 2, § 3 Rn. 1594. 48 EuGH, Urt. v. 5.5.1966, verb. Rs. 18/65 u. 35/65 – Max Gutmann, Slg. 1966, 154 (178); Urt. v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P – Limburgse Vinyl Maatschappij, Slg. 2002, I-8375, Rn. 59; Urt. v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Aalborg Portland A/S, Slg. 2004, I-123, Rn. 338; EuG, Beschl. v. 25.2.2003, Rs. T-15/02 – BASF, Slg. 2003, II-213, Rn. 35; Urt. v. 9.7.2003, Rs. T-223/00 – Kyowa Hakko, Slg. 2003, II-2553, Rn. 96; Urt. v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01 – Tokai Carbon, Slg. 2004, II-1181, Rn. 130. 49 Zur Bindungswirkung der Grundrechte-Charta gegenüber den Mitgliedstaaten als nunmehr gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV geltendes Primärrecht schon: EuGH, Urt. v. 10.4. 2003, Rs. C-276/01 – Steffensen, Slg. 2003, I-3735, Rn. 71; allgem. auch die h. M., vgl. nur Ladenburger, in: Tettinger/Stern, GRCh, Art. 51 Rn. 39; Jarass, NVwZ 2012, S. 457 ff. m.w. N. auch zur Gegenauffassung; speziell zum Kartell-Bußgeldverfahren: Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 ff. Siehe auch EuGH, Beschl. v. 1.3.2011, Rs. C-457/09 – Chartry, Slg. 2011-819, Rn. 22 ff., wonach sich durch den Vertrag von Lissabon hins. der Bindungswirkung der Unionsgrundrechte für die Mitgliedstaaten nichts geändert habe. 50 Soltész/Marquier, EuZW 2006, S. 102 ff. (104); Klees, WuW 2006, S. 1222 ff. (1228); vgl. auch Dannecker, in: IM/EU KartellR, Vorbem. zu Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 254, nunmehr jedoch zurückhaltender als noch in der Vorauflage.

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wägungen indes überflüssig und überzeugt nicht durchgreifend. Richtig ist zwar, dass den nationalen Behörden mit der Einleitung eines Kartellverfahrens durch die Kommission die Befugnis zur eigenständigen Kartellverfolgung entzogen ist. Diese Zuständigkeitsverschiebung zugunsten der Kommission ist allerdings nur vorläufiger Natur und dem Ziel besserer Ressourcenallokation geschuldet. Abgesehen davon fördert das dezentrale System des ECN die stärkere Einbindung der nationalen Kartellbehörden bei der Kartellrechtsdurchsetzung. Ziel ist die Koordination und Abstimmung, nicht die Begründung ausschließlicher Zuständigkeiten. Anders ist es nicht zu erklären, dass die Fallverteilung nicht in der VO 1/2003 geregelt wurde und auch in der Netzwerkbekanntmachung von feststehenden Zuständigkeiten abgesehen wurde. Die Regelung des Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 entfaltet daher keine dauerhafte Zuständigkeitssperre für nationale Kartellbehörden. Diese können den vermuteten Kartellverstoß nach Abschluss eines Kommissionsverfahrens unter Anwendung des nationalen Rechts und unter Beachtung des „ne bis in idem“-Grundsatzes verfolgen.51 Dies offenbart bereits ein Umkehrschluss aus dem in Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 niedergelegten Abweichungsverbot, welches nationalen Kartellbehörden die Pflicht auferlegt, das von der Kommission in einer früheren Entscheidung gefundene Ergebnis nicht durch eine widersprüchliche Beurteilung auszuhöhlen.52 Einer solchen Regelung zur einheitlichen Durchsetzung des Kartellrechts hätte es nicht bedurft, wenn nationale Kartellbehörden dauerhaft von einer eigenständigen Verfolgung des Kartellverstoßes ausgeschlossen wären. Sind nach der europäischen Netzwerkbekanntmachung neben dem Bundeskartellamt andere nationale Kartellbehörden für die Verfolgung einer Zuwiderhandlung gegen das europäische Kartellverbot zuständig, so gilt der „ne bis in idem“Grundsatz nach dem soeben Gesagten folgerichtig auch in diesem Verhältnis.53 Da die nationalen Kartellbehörden zur parallelen Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts berufen sind, kann die Anwendung des Verbots der Mehrfach-

51 Ebenso Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 16; krit. insoweit Wiedemann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 6 Rn. 11 („Dann bleibt aber die Zuständigkeit ohne Substanz.“). 52 Siehe insoweit die überzeugenden Schlussanträge von GA Kokott, v. 8.9.2011, Rs. C17/10 – Toshiba u. a., Slg. 2012, I-0000, Rn. 72 ff.; ebenso Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 176, 215; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 16 Rn. 2; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 27. 53 GA Colomer, Schlussanträge v. 24.1.2002, Rs. C-113/00 – Italcementi, Slg. 2004, I-123, Rn. 81 ff., insb. 91 bis 95; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 29; Dannecker, in: IM/EU KartellR, Vorbem. zu Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 257 f.; Klees, WuW 2006, S. 1222 ff. (1228); Soltész/Marquier, EuZW 2006, S. 102 ff.; a. A. Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 67; Hossenfelder, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 11 VO 1/2003 Rn. 12. Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen verbietet ebenfalls die weitere Verfolgung von Personen, die durch eine Vertragspartei bereits rechtkräftig abgeurteilt wurden.

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ahndung nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Kartellbehörden müssten unterschiedliches, nationales Wettbewerbsrecht durchsetzen. Allerdings gilt für das Verbot der Mehrfachbestrafung auf europäischer Ebene eine Einschränkung: Da das europäische Wettbewerbsrecht allein die Bußgeldahndung von Unternehmen vorsieht (Art. 23 VO 1/2003), verbietet der „ne bis in idem“-Grundsatz nicht die Verfolgung natürlicher Personen nach deutschem Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht.54 II. Verfolgungsverjährung Gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 OWiG schließt die Verjährung einer Ordnungswidrigkeit deren Verfolgung aus. Das Bundeskartellamt darf in diesem Fall weder ein Bußgeldverfahren durchführen, noch eine Geldbuße verhängen. Die Verjährung dient der Schaffung von Rechtsfrieden; sie berührt daher – auch wenn ein Bußgeldverfahren unzulässig wird – nicht das vorwerfbare Unrecht.55 Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot nach § 1 GWB und Art. 101 AEUV verjähren abweichend von § 31 Abs. 2 Nr. 1 OWiG gemäß § 81 Abs. 8 S. 2 GWB56 in fünf Jahren.57 Die regelmäßige Verjährungsfrist wurde mit der Integration des Straftatbestandes des Submissionsbetrugs gemäß § 298 StGB im Rahmen des Antikorruptionsgesetzes58 für Kartell-Ordnungswidrigkeiten verlängert. Dadurch soll verhindert werden, dass lang andauernde Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts einer Straftat gemäß § 298 StGB oder § 263 StGB, die unter Umständen vor Anklageerhebung wieder eingestellt werden, zu einer Verjährung des mit der Straftat in Tateinheit begangenen Kartellverstoßes führen.59 Im Übrigen gelten jedoch die Verjährungsvorschriften der §§ 31 ff. OWiG unverändert auch für die Verfolgung von Kartell-Ordnungswidrigkeiten. Der Lauf der Verjährungsfrist beginnt gemäß § 31 Abs. 3 OWiG mit der Beendigung der Tat, also mit dem Abschluss der letzten, dem Tatbestand unterfallenden Ausführungshandlung oder mit dem Eintritt des zum Tatbestand gehörenden 54 Erwägungsgrund 8 der VO 1/2003. Ferner: Dannecker, in: IM/EU KartellR, Vorbem. zu Art. 23 f. VO 1/2003 Rn. 256; Kindhäuser, in: FK/Kartellrecht, EG-Vertrag, Art. 81 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 231; Nazzini, ECLR 2003, S. 483 ff. (485); Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 41; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 27. 55 BVerfG, Beschl. v. 18.9.1952, Az. 1 BvR 612/52 – Ahndungsgesetz, BVerfGE 1, 418 (423); BGH, Urt. v. 11.6.1965, Az. 2 StR 625/64, BGHSt 20, 248 (252). 56 I.V. m. §§ 81 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V. m. § 31 Abs. 2 OWiG. 57 Zur möglichen Verjährungsunterbrechung siehe § 33 OWiG; mit Bezug zum Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht ferner Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 484 ff. 58 BGBl. 1997 I, S. 2038. 59 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses des Bundestages v. 26.6. 1997, BT-Drs. 13/8079, S. 16.

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Erfolgs.60 Bei den Regelungen des § 1 GWB und Art. 101 AEUV, die bereits den Abschluss einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung für rechtswidrig erklären, kommt es auf den letzten Teilakt, der eine kartellrechtswidrige Absprache umsetzt, an.61 Aufgrund der offenen Formulierung des § 1 GWB und des Art. 101 Abs. 1 AEUV könnte man bei abgestimmten Verhaltensweisen davon ausgehen, dass die Tat mit der kartellrechtswidrigen Abstimmung, also etwa mit dem Informationsaustausch, und bei wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen mit Abschluss der Vereinbarung beendet ist. Entscheidend ist jedoch, wann die Zuwiderhandlung im Sinne der §§ 81 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB endet.62 Dies ist vor allem für die wohl überwiegende Anzahl der Fälle relevant, in denen Kartellbeteiligte mehrere gegen § 1 GWB und/oder gegen Art. 101 AEUV verstoßende Handlungen begangen haben. Dann stellt sich nämlich die Frage, ob es sich dabei um unterschiedliche Einzeltaten im Sinne von Tatmehrheit gemäß § 20 OWiG oder um zusammengehörige Taten handelt, die zu einer rechtlichen Bewertungseinheit im Sinne von Tateinheit gemäß § 19 OWiG zusammengefasst werden müssen. Letzteres hätte die Konsequenz, dass die einzelnen Handlungen als eine einheitliche Kartell-Ordnungswidrigkeit betrachtet werden, sodass erst mit dem Abstellen der letzten (Teil-)Handlung die Verjährungsfrist zu laufen beginnt. Die Rechtsprechung fasst einzelne Vereinbarungen zu einer rechtlichen Bewertungseinheit zusammen, wenn diese auf einer grundlegenden, kartellrechtswidrigen Verständigung (Grundabsprache) basieren.63 Eine solche ist wiederum anzunehmen, wenn sich die Parteien einigen, dass sie sich in gewissen Abständen treffen, um das weitere wettbewerbswidrige Vorgehen zu besprechen, oder um sich über weitere Maßnahmen zur Durchführung und Umsetzung der wettbe60 Förster, in: RRH/OWiG, § 31 Rn. 11 ff.; Weller, in: KK/OWiG, § 31 Rn. 23 ff.; jeweils m.w. N. 61 BGH, Beschl. v. 4.11.2003, Az. KRB 20/03 – Frankfurter Kabelkartell, WuW/E DE-R 1233 (1235), Rn. 18 (juris); Beschl. v. 28.6.2005, Az. KRB 2/05 – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1567 (1568), Rn. 10–14 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 356 (juris). 62 Wenngleich § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB vom Wortlaut des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB abweicht, folgt dieser letztlich denselben Regeln, da sich die Tathandlungen zur Verwirklichung des § 1 GWB und des Art. 101 AEUV strukturell gleichen. Vgl. Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 30; ihm folgend Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 22. 63 BGH, Beschl. v. 19.12.1995, Az. KRB 33/95 – Fortgesetzte Ordnungswidrigkeit II, WuW/E BGH 3057, Rn. 14 f., 24 f. (juris); Beschl. v. 28.6.2005, Az. KRB 2/05 – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1567 (1568), Rn. 10–14 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.5.2004, Az. Kart 41–43 und 45–47/01 OWi – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1315 (1319 f.), Rn. 210 ff. (juris); Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1746), Rn. 852 ff. (juris); Urt. v. 27.5.2008, Az. VI-Kart 9-11/07 (OWi) – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern US-amerikanischer Streitkräfte, Rn. 81 (juris); Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 329 ff. (juris); BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 2 f.; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 157 m.w. N.

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werbswidrigen Grundvereinbarung zu verständigen. Mit den anschließenden Folgeabsprachen setzen die Kartellbeteiligten also „lediglich“ die Grundabsprache um, vertiefen also das bereits verwirklichte Unrecht, ohne ein selbstständiges, neues Unrecht zu begehen.64 Dementsprechend ist das Kartell erst beendet, wenn sich alle Kartellmitglieder einig sind, dass die Grundvereinbarung nicht mehr fortgeführt werden soll oder das Bundeskartellamt das Kartell faktisch, etwa mit Durchsuchungen, zu einem Ende bringt.65 Anerkannt ist auch, dass die Zuwiderhandlung für einzelne Kartellbeteiligte schon zu einem früheren Zeitpunkt beendet sein kann,66 etwa wenn sie vorzeitig aus einem Kartell austreten.67 Diese Auffassung überzeugt. Würde man allein auf die Aufgabe der Grundabsprache abstellen, wäre ihre Umsetzung nicht erfasst, welche jedoch gerade erst zur fraglichen Wettbewerbsbeschränkung führt. Dafür spricht auch, dass die Umsetzung der Vereinbarung bis zur 6. GWB-Novelle zweifellos ordnungswidrig war, da der Bußgeldtatbestand durch das „Sich-Hinwegsetzen über einen wegen des Verstoßes gegen ein Wettbewerbsgesetz nichtigen Vertrag“ verwirklicht wurde. Mit der Anpassung des § 1 GWB an den heutigen Art. 101 Abs. 1 AEUV wollte der Gesetzgeber jedoch keine Beschränkung, sondern eine Ausdehnung bußgeldbewehrten Tuns auf einen früheren Zeitpunkt erreichen, um das Wettbewerbsrecht zu verschärfen.68 Dem würde es widersprechen, wenn man die Durchführung der Vereinbarung ausblendete. Hingegen begründen unterschiedliche wettbewerbswidrige Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen, die in verschiedenen Regionen und unabhängig voneinander getätigt werden, keine Handlungseinheit im Rechtssinne.69 Insoweit 64 BGH, Beschl. v. 4.11.2003, Az. KRB 20/03 – Frankfurter Kabelkartell, WuW/E DE-R 1233 (1235), Rn. 11 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1746), Rn. 852 (juris); Urt. v. 19.6. 2006, Az. VI-Kart 4/06 (OWi), Rn. 41 (juris). 65 OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.6.2006, Az. VI-Kart 4/06 (OWi), Rn. 3, 23, 24, 42 (juris). 66 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 44; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 54; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 172; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 8; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 7. 67 Zu diesem Fall etwa: OLG Düsseldorf, Urt. v. 19.6.2006, Az. VI-Kart 4/06 (OWi), Rn. 42 (juris). 68 Vgl. auch Begr. BRegE der 6. GWB-Novelle, BT-Drs. 13/9720, S. 31: „Das Kartellverbot des § 1 wird in Anlehnung an Art. 85 Abs. 1 EG-Vertrag [heute: Art. 101 Abs. 1 AEUV] als echtes Kartellverbot ausgestaltet. Danach ist bereits der Abschluss von Kartellverträgen und n i c h t e r s t die Praktizierung solcher Verträge [. . .] verboten.“ [Hervorh. durch Verf.]. 69 OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1746), Rn. 852 (juris); Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 329 ff. (juris); BGH, Beschl. v. 4.11.2003, Az. KRB 20/03 – Frankfurter Kabelkartell, WuW/E DE-R 1233 (1235), Rn. 15 f. (juris); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 157; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 172; jeweils m.w. N.

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ist Tatmehrheit im Sinne von § 20 OWiG anzunehmen, mit der Konsequenz, dass jede Vereinbarung bzw. abgestimmte Verhaltensweise separat auf ihren „eigenen“ Beendigungszeitraum zu untersuchen ist.

D. Folgen fehlender Verfahrensvoraussetzungen und bestehender Verfahrenshindernisse Fehlt eine der beschriebenen Verfahrensvoraussetzungen und/oder besteht ein Verfahrenshindernis, ist die Durchführung eines Kartell-Bußgeldverfahrens unzulässig, ohne dass es darauf ankommt, inwieweit das Bundeskartellamt eine im Übrigen rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung getroffen hat. Die Unterlassung bzw. Einstellung eines Bußgeldverfahrens ergibt sich zwingend aus Gründen der Legalität, die einer Opportunitätsentscheidung vorgehen.70 Daher ist das Bundeskartellamt von Amts wegen verpflichtet, das (Nicht-)Bestehen der Verfahrensvoraussetzungen und -hindernisse zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens zu prüfen.71 Hat es bereits ein Verfahren eingeleitet und ergeben sich Anhaltspunkte, dass ein Verfahrenshindernis besteht, muss das Bundeskartellamt diesen nachgehen und – sofern sie sich bestätigen – das Verfahren gemäß § 170 Abs. 2 S. 1 StPO i.V. m. § 46 Abs. 2 OWiG einstellen.72 Gleiches gilt für den Fall, dass die Ermittlungen den Anfangsverdacht nicht erhärtet haben. Ein gegen das Verbot der Mehrfachahndung verstoßender Bußgeldbescheid ist nichtig.73

§ 2 Theoretische Reichweite des Verfolgungsermessens Liegen die vorstehenden Voraussetzungen vor, kann das Bundeskartellamt grundsätzlich ein Bußgeldverfahren durchführen und die festgestellte Zuwiderhandlung ahnden. Dabei beschränkt der offene Wortlaut des § 47 Abs. 1 OWiG das kartellbehördliche Ermessen nicht allein auf die Entscheidung für oder gegen ein Bußgeldverfahren. Vielmehr ermächtigt die Vorschrift dazu das gesamte Buß70 Statt aller Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 98; Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 47; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 37, 48; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 20; Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 1 ff. 71 Zum allgem. OWi-Recht vgl. etwa: OLG Hamm, Beschl. v. 9.6.2009, Az. 5 Ss OWi 297/09, Rn. 9 (juris); KG Berlin, Beschl. v. 23.2.2010, Az. 2 Ss 46/10, 3 Ws (B) 84/10, Rn. 4 (juris); OLG Celle, Beschl. v. 25.10.2011, Az. 322 SsBs 295/11, NZV 2012, 196, Rn. 10 (juris); Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 47. 72 Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 157; Bohnert, OWiG, § 31 Rn. 4; Klesczewski, OWiR, § 9 Rn. 832; Mitsch, OWiR, § 24 Rn. 2. 73 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.7.1985, Az. 2 Ss (OWi) 335/85-197/85 II, NJW 1986, 1505; OLG Köln, Beschl. v. 21.8.1998, Az. Ss 378/98 (B), NZV 1998, 472 (473), Rn. 28 (juris); OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.9.1998, Az. 1 Ss 208/98, NJW 1999, 962, Rn. 11 (juris); OLG Hamm, Beschl. v. 24.4.2006, Az. 2 Ss OWi 138/06, Rn. 12 (juris); Kurz, in: KK/OWiG, § 66 Rn. 70, 77; nach Offenkundigkeit differenzierend: Seitz, in: Göhler, OWiG, § 66 Rn. 57a.

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geldverfahren sowie dessen Abschluss „frei“ zu gestalten und Mittelwege zu beschreiten. Wie weit dieser nach dem Gesetzeswortlaut konzipierte Handlungsund Entscheidungsspielraum prinzipiell, also unter Ausblendung der sich generell aus höherrangigem Recht und der Verwaltungspraxis des Bundeskartellamtes ergebenden Grenzen, reicht, ist im Folgenden zu untersuchen. Dabei sind neben optionalen Begrenzungen des Bußgeldverfahrens auch Alternativen zum Bußgeldverfahren zu berücksichtigen.

A. Alternativen zum Bußgeldverfahren und zu dem Erlass einer Geldbuße I. Das formelle Untersagungsverfahren mit dem Ziel einer Abstellungsverfügung Zunächst stellt das GWB mit dem in den §§ 54 ff. GWB geregelten, formellen Verwaltungsverfahren ein alternatives Reaktionsmittel für das Bundeskartellamt bereit. In dessen Rahmen kann es eine Abstellungsverfügung erlassen oder Verpflichtungszusagen betroffener Unternehmen gemäß §§ 32, 32b GWB für verbindlich erklären. Konkret kann das Bundeskartellamt Unternehmen bußgeldbewehrt74 dazu verpflichten, gegen das Kartellverbot des § 1 GWB verstoßende Handlungsweisen aufzugeben und zukünftig zu unterlassen. Bei der Abstellungsverfügung gemäß § 32 Abs. 1 GWB handelt es sich in seiner ursprünglichen Form zunächst um nichts anderes als eine Unterlassungsanordnung. Mit der Einfügung des Absatzes 2 der Vorschrift im Rahmen der 7. GWB-Novelle75 hat der Gesetzgeber dem Bundeskartellamt darüber hinaus die Kompetenz eingeräumt, konkrete, zur Abstellung des kartellrechtswidrigen Verhaltens erforderliche und verhältnismäßige Handlungsanweisungen an die betroffenen Unternehmen zu treffen. Diese sogenannte positive Tenorierung der Verfügung kann sowohl verhaltensorientierte als auch strukturelle Abhilfemaßnahmen beinhalten, wenngleich letztere freilich auf einer besonders sorgfältigen Verhältnismäßigkeitsprüfung beruhen sollten.76 Um einseitig angeordneten Maßnahmen zu entgehen, können sich Unternehmen gegenüber dem Bundeskartellamt zu bestimmten Handlungen verpflichten, die ihrer Meinung nach geeignet sind, die vom Bundes74 Eine Zuwiderhandlung gegen eine Abstellungsverfügung oder die verbindlich erklärten Verpflichtungszusagen der Unternehmen stellen eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 81 Abs. 1 Nr. 2 lit. b GWB dar. 75 Siebtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BGBl. v. 12.7.2005, Teil I, S. 1954. 76 Begr. der BReg, BT-Drs. 15/3640, S. 33, 51. Emmerich betont, dass die mit strukturellen Abhilfemaßnahmen verbundenen, intensiveren Belastungen für Unternehmen im Vergleich zu Maßnahmen verhaltensorientierter Art dafür spricht, dass erstere nur dann verhältnismäßig sind, wenn eine Abstellung des rechtswidrigen Zustandes nicht durch verhaltensorientierte Maßnahmen möglich ist. Vgl. Emmerich, in: IM/GWB, § 32 Rn. 41; ebenso Klose, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 51 Rn. 18 ff.

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kartellamt innerhalb des Verwaltungsverfahrens geäußerten Bedenken auszuräumen. Das Bundeskartellamt ist verpflichtet, diese Verpflichtungszusagen auf ihre Geeignetheit hin zu überprüfen. Will es nichtsdestotrotz eine Abstellungsverfügung erlassen, muss es darlegen, warum die Verpflichtungszusagen ungeeignet waren. Ist das Bundeskartellamt hingegen überzeugt, dass die Maßnahmen Abhilfe schaffen können, steht es ihm frei, die Verpflichtungszusagen für bindend zu erklären und die Unternehmen damit an ihre Zusagen festzuhalten.77 Denn bei der Verbindlichkeitserklärung handelt es sich um einen (mitwirkungsbedürftigen78) Verwaltungsakt, der mit Mitteln des Verwaltungszwangs durchgesetzt werden kann.79 Im Übrigen ist das Untersagungsverfahren nach § 32 GWB i.V. m. § 54 Abs. 1 GWB nicht auf gegenwärtig andauernde Zuwiderhandlungen beschränkt. Das Bundeskartellamt kann vielmehr auch gemäß § 32 Abs. 3 GWB feststellen, dass ein bereits eingestelltes Verhalten gegen § 1 GWB verstoßen hat, sofern daran ein öffentliches Interesse besteht. Ein solches wird man etwa bei einer ernsthaften Wiederholungsgefahr annehmen können.80 Umgekehrt kann das Bundeskartellamt ein Untersagungsverfahren bereits dann einleiten, wenn aufgrund tatsächlicher Feststellungen eine Zuwiderhandlung ernstlich zu besorgen ist.81 Das alternative Untersagungsverfahren erscheint vor allem für Fälle sachgerecht, in denen aufgrund neuerlicher Entwicklungen noch nicht geklärt ist, ob ein Verhalten ordnungswidrig ist und die Bewertung von der Klärung einer komplizierten Rechtsfrage abhängt.82 Rechtsunsicherheiten stehen der Einleitung eines Bußgeldverfahrens indes nicht grundsätzlich entgegen.83 77 Das Ermessen gemäß § 32b GWB bezieht sich neben der Wahl zwischen Verpflichtungsverfügung und Abstellungsverfügung, auch darauf, ob sich die Kartellbehörde nicht schon mit einer informellen Verpflichtungszusage zufrieden gibt. Vgl. Rehbinder, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 32b GWB Rn. 7; Keßler, in: MK/GWB, § 32b Rn. 18; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 32b Rn. 5; Bornkamm, in: LB/GWB, § 32b GWB Rn. 16. 78 Emmerich, in: IM/GWB, § 32 Rn. 4. 79 Emmerich, in: IM/GWB, § 32 Rn. 4; Klose, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 51 Rn. 23; Rehbinder, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 32e GWB Rn. 18. 80 Begr. BT-Drs. 15/3640, S. 51; BKartA, Beschl. v. 8.5.2006, Az. B9-149/04 – Praktiker Baumärkte, WuW/E DE-V 1235 (1241); zum Boykottaufruf und Einstellen unter Einstandspreis vgl. auch TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 65 – Bundesverband deutscher Milchviehhalter und Beschl. v. 25.10.2007, Az. B9-77/07 – Netto MarkenDiscount, WuW/E DE-V 1481 (1485 f.). 81 BGH, Beschl. v. 8.5.2001, Az. KVR 12/99 – Ost-Fleisch, WuW/E DE-R 711 (718), Rn. 40 (juris); Beschl. v. 24.9.2002, Az. KVR 8/01 – Konditionenanpassung, WuW/E DE-R 984 (985), Rn. 15 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.9.2009, Az. Kart 1/09 – DFL Vermarktungsrechte, WuW/E DE-R 2755 (2759), Rn. 34 (juris) Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 32 Rn. 2; Emmerich, in: IM/GWB, § 32 Rn. 10. 82 Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 4; Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 4a; Klose, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 51 Rn. 7. 83 Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 4.

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II. Formlose Mittel der Durchsetzung der Kartellverbote Das Bundeskartellamt kann auch auf die Ergreifung formeller Mittel gänzlich verzichten und sich stattdessen milderer Mittel bedienen. So besteht etwa die Möglichkeit, auf formlose Abmahnungen bzw. Verwarnungen zurückzugreifen.84 Leisten die Unternehmen der damit verbundenen Aufforderung Folge, das betreffende Verhalten einzustellen bzw. es zu unterlassen, bedarf es keines weiteren Vorgehens. Andernfalls wird das Bundeskartellamt prüfen müssen, ob es zumindest ein Verwaltungsverfahren einleitet.85 Der Gesetzgeber hat die Verwarnung, an die ein Verwarnungsgeld geknüpft werden kann, explizit in § 56 Abs. 1 OWiG als Handlungsalternative für geringfügige Ordnungswidrigkeiten geregelt. Eine Abmahnung würde sich daher insbesondere in Fällen anbieten, in denen lediglich eine Zuwiderhandlung geringer Schwere oder eine solche festgestellt wurde, die wegen unklarer Rechtsverhältnisse offensichtlich wenig vorwerfbar ist.86 Ferner kommt eine vorbeugende Abmahnung in Betracht, wenn das Bundeskartellamt Kenntnis von einem konkret geplanten, aber noch nicht umgesetzten Vorhaben erhält, etwa aufgrund einer informellen Anfrage seitens der konkret betroffenen Unternehmen87 oder aber durch entsprechende Pressemitteilungen der Unternehmen.88 Formlose Abmahnungen dürfen jedoch nicht dazu führen, dass die Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen beschränkt werden. Dies betonte das OLG Düsseldorf im Fall DFB/ DFL mit deutlichen Worten.89 Auf Antrag der DFL hatte sich das Bundeskartellamt über mehrere Monate mit dem von der DFL geplanten TV-Vermarktungskonzept für die Spielzeiten der Fußball-Bundesliga von 2009 bis 2012 beschäftigt. Das Bundeskartellamt hatte gegenüber der DFL konkrete kartellrechtliche Bedenken geäußert. Eine Einigung konnte jedoch nicht erzielt werden. Das Bun84 Vertiefend dazu Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, S. 300 f. 85 Zur Funktion der Abmahnung als Scheitelpunkt zwischen formlosen kartellbehördlichen Handelns und der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens: Schmidt, Kartellverfahrensrecht – Kartellverwaltungsrecht – Bürgerliches Recht, S. 293 f.; Schmidt, in: IM/GWB, Vor § 54 Rn. 17. 86 Zur Geringfügigkeit eines gewichtigen Verstoßes wegen geringer Vorwerfbarkeit, vgl. Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 56 Rn. 6. 87 So wendete sich etwa der/die DFB/DFL an das BKartA um das von ihnen geplante Konzept der TV-Vermarktung der Bundesliga Saison 2009/2010 zunächst formlos prüfen zu lassen. Vgl. Beschl. v. 16.9.2009, Az. Kart 1/09 – DFL Vermarktungsrechte, WuW/E DE-R 2755 ff. 88 Vgl. etwa die Meldungen des Spiegels v. 26.10.2010 „Kartellamt prüft Beschwerden gegen Zusatzbeitrag“ und des Focus v. 27.10.2010 „Krankenkassen droht Ärger mit Kartellamt“, wonach das BKartA nach gemeinsamer Ankündigung verschiedener Krankenkassen Zusatzbeiträge in Höhe von 8 Euro erheben zu wollen, auch aufgrund von Beschwerden tätig werde und kartellrechtswidrige Praktiken prüfe. 89 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.9.2009, Az. Kart 1/09 – DFL Vermarktungsrechte, WuW/E DE-R 2755 ff.

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deskartellamt kündigte daraufhin öffentlich an, dass es das Vermarktungskonzept formell untersagen werde, wenn die DFL daran unverändert festhielte. Ein formelles Verwaltungsverfahren leitete es jedoch nicht ein. Ferner lehnte es die Bitte des DFL ab, eine Untersagungsverfügung zu erlassen; diese könne nur bei einer hinreichenden Erstbegehungsgefahr durch Ausschreibung des Konzepts ergehen. In der Folge nahm der DFL für die Spielzeiten bis einschließlich 2011/2012 von dem TV-Vermarktungskonzept in seiner ursprünglich geplanten Form Abstand, legte jedoch zusammen mit dem DFB eine vorbeugende Unterlassungsbeschwerde gegen die zukünftige Untersagung des geplanten TV-Vermarktungskonzepts für die Spielzeiten ab 2013/2014 beim OLG Düsseldorf ein. Zwar wies das OLG Düsseldorf die Beschwerde insgesamt als unzulässig zurück. Allerdings rügte es die formlose Intervention des Bundeskartellamtes. Dieses habe die für eine Unterlassungsverfügung notwendige Erstbegehungsgefahr unzutreffend verneint, da es die ernsthafte Besorgnis eines Kartellverstoßes gesehen habe; bestehe aber eine Erstbegehungsgefahr, sei das Ermessen des Bundeskartellamtes auf den Erlass einer Untersagungsverfügung reduziert, da andernfalls der Rechtsschutz der Beteiligten – wie im vorliegenden Fall – beschränkt werde.90 Denn nur gegen eine Unterlassungsverfügung bestehe eine effektive gerichtliche Kontrolle.91 Wie der vorstehende Fall zeigt, kann die Abmahnung grundsätzlich auch in Form einer öffentlichen Stellungnahme erfolgen. Die Publizität der seitens des Bundeskartellamtes für kritisch befundenen Verhaltensweisen erhöht den Druck auf Unternehmen und hat daher einen nicht zu unterschätzenden Präventionseffekt.92 Sofern das Bundeskartellamt nur dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit gerecht wird, indem es auf öffentliche Stellungnahmen Betroffener reagiert, dürfte die Zulässigkeit der öffentlichen Abmahnung kaum zweifelhaft sein.93 Insoweit ergibt sich bereits aus der Geschäfts- und Organisationshoheit des Bundeskartellamtes ein Recht der Kartellbehörde, auf die professionelle Medienarbeit von Unternehmen angemessen reagieren zu können.94 Die absolute Grenze der öffentlichen Abmahnpraxis dürfte allerdings erreicht sein, wenn Per90 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.9.2009, Az. Kart 1/09 – DFL Vermarktungsrechte, WuW/E DE-R 2755 (2759 f.), Rn. 35 (juris). 91 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.9.2009, Az. Kart 1/09 – DFL Vermarktungsrechte, WuW/E DE-R 2755 (2759 f.), Rn. 35 (juris). 92 Exemplarisch kann insoweit auf die öffentliche Diskussion zur Erhebung von Zusatzbeiträgen durch die Krankenkassen verwiesen werden, die schließlich zur Einleitung eines Verwaltungsverfahrens durch das BKartA führte, vgl. PM v. 22.2.2009. 93 So wies etwa auch das OLG Düsseldorf im Beschwerdeverfahren des/der DFB/ DFL den Vorwurf der Beschwerdeführer zurück, dass die Veröffentlichung der Rechtsansicht des BKartA rechtswidrig war. Vgl. Beschl. v. 16.9.2009, Az. Kart 1/09 – DFL Vermarktungsrechte, WuW/E DE-R 2755 (2761 f.), Rn. 43 ff. (juris). 94 Gusy, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 2, § 23 Rn. 98; ihm folgend Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (61).

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sönlichkeitsrechte und der Rechtsschutz der Betroffenen oder die Unschuldsvermutung ausgehebelt würden.95

B. Beschränkung der Reichweite des Bußgeldverfahrens Das Bundeskartellamt kann das Bußgeldverfahren rechtlich und tatsächlich begrenzen.96 So kann es sich nicht nur auf einzelne Ermittlungsmaßnahmen beschränken, sondern vor allem nur einen bestimmten Ausschnitt des vermuteten Kartells aus Zweckmäßigkeitsgründen untersuchen und gegebenenfalls zur Grundlage einer späteren Ahndung machen. Dies bietet sich insbesondere bei der Vermutung an, dass ein Kartell über Jahrzehnte bestand und sich die Ermittlung entsprechender Beweise schwierig gestaltet. Ebenso ist es zulässig, nur wesentliche Gesetzesverletzungen, insbesondere solche mit größerer wirtschaftlicher Bedeutung, zum Gegenstand des Bußgeldverfahrens zu machen, und für die spätere Geldbußenfestsetzung nicht ins Gewicht fallende Zuwiderhandlungen auszuklammern.97 Auf diese Weise ist eine einfache und schnellere Erledigung des Verfahrens möglich, was dem Grundgedanken des Bußgeldverfahrens entspricht.98

C. Adressatenbezogene Entscheidungsmöglichkeiten § 1 GWB und Art. 101 Abs. 1 AEUV richten sich ausdrücklich an Unternehmen. Kartellverbote sind damit Sonderdelikte. Als rechtliche Konstrukte können juristische Personen und ihnen gleichgestellte Personenvereinigungen faktisch jedoch keinen Kartellverstoß begehen.99 Vielmehr übertreten natürliche Personen, die im Namen der Unternehmen handeln, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften. Jene sind die eigentlichen „Täter“ der Kartell-Ordnungswidrigkeit, und können, auch wenn sie – mit Ausnahme von Ein-Personen-Gesellschaften – nicht alleiniger Träger eines Unternehmens sind, gemäß § 9 OWiG verfolgt und bußgeldrechtlich belangt werden. Die Vorschrift dehnt die Anwendbarkeit der Kartellvorschriften auf gesetzliche Vertreter und auf zur Unternehmensleitung Beauftragte aus, indem das persönliche Merkmal der Unternehmenseigenschaft auf sie erstreckt wird.100 95

Zutreffend: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 271 ff. Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 13. 97 Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 27. 98 Vgl. insoweit noch Kapitel Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.). 99 Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 61. 100 Mitsch, OWiR, § 7 Rn. 23; Bohnert, OWiG, § 9 Rn. 2, 18; Thieß, OWiR, Rn. 236; Loewenheim u. a., LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 4; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 51; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 66; a. A. Rogall, in: KK/OWiG, § 9 Rn. 11 („§ 9 ergänzt die in Bezug genommenen Vor96

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Daneben erweitert § 130 OWiG den Kreis der Bußgeldverantwortlichen um die Inhaber des Unternehmens und den ihnen gleichgestellten Personen gemäß § 9 OWiG, soweit sie ihre betriebsbezogene Aufsichtspflicht verletzt haben. Die Norm fängt die (praktisch bedeutenden) Fälle auf, in denen eine vorsätzliche Teilnahme oder eine Täterschaft des Inhabers und vor allem der diesem gleichgestellten Geschäftsführung an der kartellrechtlichen Zuwiderhandlung nicht nachgewiesen werden kann, aber Hinweise auf eine fahrlässige Verletzung der betrieblichen Organisationspflichten bestehen.101 Die Regelung soll Sanktionslücken schließen, die dadurch entstehen, dass der eigentlich handelnde Mitarbeiter mangels Leitungsfunktion im Sinne des § 9 OWiG nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann; der Betriebsinhaber/Geschäftsführer/Vorstand soll sich also nicht seiner Verantwortung durch die Installation einer unteren Hierarchieebene entziehen können.102 Ob unter dem Begriff des Inhabers auch die Vertreter von Konzernobergesellschaften zu subsumieren sind und diese daher gemäß § 130 OWiG (und die Muttergesellschaft wiederum über § 30 OWiG) für Kartellverstöße ihrer Tochtergesellschaften verantwortlich gemacht werden können, ist bislang nicht geklärt.103 Der BGH hat die Frage in einem 1981 entschiedenen Fall offen gelassen, jedoch dazu tendiert, die Vorwerfbarkeit gegenüber Muttergesellschaften und damit ihre Ahndungsfähigkeit aufgrund der rechtlichen Selbstständigkeit der Tochtergesellschaften abzulehnen.104 In zwei jüngeren Urteilen in Sachen Versicherungsfusion und Transportbeton scheint der BGH an dieser Auffassung festzuhalten. Bei der Beantwortung der Frage, inwieweit eine „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“ nach bis dahin geltendem Recht zulässig war (dazu noch sogleich), lehnte der BGH insbesondere „die Annahme einer bußgeldrechtlichen Konzernhaftung„105 ab. Die konzernabhängigen Schwestergesellschaften seien im Verhältnis zueinander, ebenso wie im Verhältnis zu ihrer Muttergesellschaft, rechtlich selbstständige juristische Personen; eine bußgeldrecht-

schriften um einen weiteren Täterkreis und modifiziert diese Normen vertretungskonform.“). 101 KG Berlin, Urt. v. 17.12.1976, Az. Kart. 10/76 – Uhrmacherpreis, WuW/E OLG 1817 (1820); Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 34; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 66; Förster, in: RRH/OWiG, § 130 Rn. 28; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 25 ff.; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 19. 102 Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 69. 103 Umfassend zum Themenkomplex: Vogt, Die Verbandsgeldbuße gegen eine herrschende Konzerngesellschaft, 2009. 104 BGH, Urt. v. 1.12.1981, Az. KRB 3/79 – Transportbeton-Vertrieb, WuW/E BGH 1871 (1876). 105 Der Begriff „Haftung“ ist unglücklich und missverständlich, da dieser grundsätzlich nur im Sinne eines Verpflichtetseins bzw. einer Pflicht zum Einstehen für eine Schuld mit eigenem Vermögen verstanden wird. Die Ahndung geht als staatliche Reaktion auf ein vorwerfbares, rechtswidriges Tun jedoch darüber hinaus, indem sie ein – obgleich nicht sozialethisches – Unwerturteil bzw. einen Tadel beinhaltet. Wie hier jüngst auch Achenbach, ZIS 2012, S. 178 ff.

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liche Haftung könne daher mangels einer besonderen Ermächtigungsgrundlage nicht durch gegenseitige Zurechnung ihres Vermögens erreicht, um zu der künstlichen Annahme einer wirtschaftlichen Identität zu gelangen.106 Wenngleich der BGH zu der (in diesen Fällen nicht relevanten) Frage, ob jedenfalls eine Aufsichtspflicht der Muttergesellschaft und ihrer Stellvertreter besteht, gerade keine Stellung bezog, offenbaren die Urteile nichtsdestotrotz, dass der BGH auch bei der Zurechenbarkeit von rechtswidrigen Handlungen natürlicher Personen einer konzernabhängigen juristischen Person an eine andere im Konzern eingegliederte juristische Person entscheidend deren rechtliche (Un-)Selbstständigkeit zu berücksichtigen gedenkt.107 Demgegenüber wollen einige Vertreter der Literatur nicht auf die „formalrechtliche“ Selbstständigkeit der Tochtergesellschaft, sondern auf die faktischen Durchgriffsrechte der Konzernobergesellschaft abstellen. Da der Konzern durch diese jedenfalls faktisch ein Unternehmen bilde, habe die Muttergesellschaft über ihre Tochtergesellschaften eine Aufsichtspflicht und könne für deren Verletzung zur Verantwortung gezogen werden.108 Dem scheint auch das Bundeskartellamt im Fall Tondachziegel gefolgt zu sein. In dem dazu veröffentlichten Fallbericht teilt es mit, dass es neben der Ahndung der an dem festgestellten Kartell beteiligten Unternehmen Pfleiderer und Creaton auch gegen deren Muttergesellschaft, die Etex Holding GmbH, ein Bußgeld verhängt habe.109 Zur Begründung führte es an, dass ein für das Europageschäft zuständiger, leitender Manager konkrete Anhaltspunkte für die Existenz des Kartells gehabt und der Umsetzung der kartellrechtswidrigen Vereinbarung nicht entgegen gewirkt habe. Es wird allerdings nicht deutlich, aus welchem Grund sich das Bundeskartellamt berechtigt sah, von der Tendenz des BGH und der wohl herr106 BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 55/10 – Versicherungsfusion, WuW/E DE-R 3455 (3459), Rn. 20 (juris); Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 16 (juris). 107 So auch Reichling, NJW 2012, S. 166 f. (166). 108 Rogall, in: KK/OWiG, § 130 Rn. 25; Mansdörfer/Timmerbeil, WM 2004, S. 362 ff. (368 f.); wohl auch Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 20; beschränkend auf 100%ige Tochtergesellschaften auch Tiedemann, NJW 1979, S. 1849 ff. (1852); ähnlich Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 ff. (15 f.), der aufgrund der unionsrechtlichen Konzeption des als wirtschaftliche Einheit verstandenen Unternehmens als Normadressat des Art. 101 AEUV und der Fähigkeit der Konzernobergesellschaft Entscheidungsadressat von Sanktionen zu sein, indem das Verhalten der Tochtergesellschaften diesen zugerechnet wird, aus dem Effektivitätsgrundsatz notfalls eine Abkopplung des Kartellbußgeldrechts vom Ordnungswidrigkeitenrecht verlangt. 109 BKartA, Fallbericht v. 15.12.2008/9.2.2009, Az. B1-200/06 – Tondachziegel, S. 2; ebenso auch schon der Beschl. v. 13.11.1998, Az. B2-21/96 – Preisetiketten, WuW/E DE-V 85 (88 f.); krit. zum Fall Tondachziegel: Bechtold, NJW 2009, S. 3699 ff. (3706); Buntscheck, WuW 2009, S. 871; Koch, AG 2009, S. 564 ff. Der Bußgeldbescheid gegen die Etex Holding GmbH wurde zwischenzeitlich aufgehoben, da sich herausstellte, dass der persönlich Betroffene, dessen Verhalten das BKartA der Etex Holding GmbH zugerechnet hatte, kurz vor der Kartellabsprache als Geschäftsführer ausgeschieden war. Vgl. Fallbericht v. 12.4.2012, Az. B1-200/06 P2, B1-200/06U13 – Tondachziegel.

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schenden Meinung in der Literatur abzuweichen. Letztere folgt nämlich dem Ansatz des BGH und spricht sich grundsätzlich gegen die Sanktionierung der Muttergesellschaft und ihrer Vertreter aus, wenn diese nicht selbst Beteiligte des Kartells war.110 Richtigerweise klammern ihre Vertreter allerdings überwiegend solche Fälle aus, in denen die Muttergesellschaft in die innere Organisation und Geschäftstätigkeit der Tochtergesellschaften eingreift und damit tatsächlich Einfluss auf das Verhalten der Tochtergesellschaft nimmt111 bzw. selbst eine konzernübergreifende Aufsichtsstruktur schafft, welche es den Vertretern und Beauftragten der Tochtergesellschaft unmöglich macht, selbstständig zu kontrollieren und zu überwachen,112 oder in denen sie jedenfalls aufgrund eines Beherrschungsvertrages eine entsprechende Garantenpflicht übernimmt.113 In diesen Fällen besteht nämlich über die rein gesellschaftsrechtliche Verbindung hinaus ein tatsächlicher Anknüpfungspunkt für ein eigenes Fehlverhalten der Konzernobergesellschaft, was gleichsam die Befürchtungen des BGH verhindert, dass die gesetzlich intendierte, mit einem Tadel versehene Bußgeldahndung künstlich in eine gesetzeswidrige Bußgeldhaftung umgekehrt wird. Aus dem Fallbericht des Bundeskartellamtes wird allerdings nicht deutlich, ob ein vergleichbarer Fall vorlag. Obgleich juristische Personen und Personenvereinigungen nach deutschem Verständnis selbst nicht handeln können, konstruiert § 30 OWiG deren normative Handlungsfähigkeit, indem diesen das Fehlverhalten ihrer vertretungsberechtigten Organe, Gesellschafter, Generalbevollmächtigten oder leitenden Prokuristen und Handlungsbevollmächtigten zugerechnet wird.114 Die Vorschrift vermittelt juristischen Personen den Status eines originären Sanktionsadressaten; die Verbandsgeldbuße ist nicht nur Nebenfolge zur Sanktionierung natürlicher Personen, sondern originäre Sanktion.115 Dementsprechend kann das Bundeskartellamt ge110 Bechtold, NJW 2009, S. 3699 ff. (3706); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 5a; Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (58); Koch, AG 2009, S. 564 ff.; Kling, WRP 2010, S. 506 ff. (513); Vogt, Die Verbandsgeldbuße gegen eine herrschende Konzerngesellschaft, S. 283 ff. sowie die Nachweise in den Fn. 111 und 112. 111 Bohnert, OWiG, § 130 Rn. 7; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 130 Rn. 7; Säcker, WuW 2009, S. 362 ff. (364 f.); Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (122 f.); Reichling, NJW 2012, S. 166 f. (166). 112 Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 41 f.; ihm folgend Wirtz, WuW 2001, S. 342 ff. (348 f.). 113 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 69; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 5a. 114 Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 61; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 44; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 47; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 99 m.w. N., auch aus der strafrechtlichen Rechtsprechung; ferner vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.10.1966, Az. 2 BvR 506/63 – nulla poena sine culpa, BVerfGE 20, 323 (335), Rn. 45 f. (juris). 115 Statt aller: Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 14; Förster, in: RRH/OWiG, Vor § 30 Rn. 37; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 30 Rn. 10; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 47, 102; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 44; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 97, 100; jeweils m.w. N.

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mäß § 30 Abs. 4 S. 1 OWiG auch isoliert gegen Unternehmen vorgehen, ohne das Verhalten der natürlichen Personen zu ahnden. Die Verfolgung der in § 30 Abs. 1 OWiG abschließend geregelten Stellvertreter darf jedoch nicht an einem Verfahrenshindernis gescheitert sein (§ 30 Abs. 4 S. 3 OWiG), und es muss feststehen, dass jedenfalls (irgend)eine der in § 30 Abs. 1 OWiG aufgezählten, natürlichen Personen vorsätzlich oder fahrlässig eine Bezugstat im Sinne des §§ 9, 130 OWiG116 begangen hat.117 Neben dem Ziel, den Verband für seinen Organisationsmangel bzw. für seine fehlerhafte „Sinnbestimmung“ 118 zur Rechenschaft zu ziehen, liegt der Ahndbarkeit der juristischen Person die Erwägung zugrunde, dass dem eigentlichen Nutznießer der Ordnungswidrigkeit die finanziellen und wirtschaftlichen Vorteile wieder entzogen werden sollen.119 Vor diesem Hintergrund erschien die seitens des BGH in seinen Urteilen Versicherungsfusion und Transportbeton nochmals aufgezeigte bis zur 8. GWB-Novelle bestehende Gesetzeslage unbefriedigend, nach der bei gesellschaftsrechtlichen Umstrukturierungsmaßnahmen, die zu einem Erlöschen der Identität der kartellbeteiligten Personenvereinigung führten, eine „Erweiterung der Bußgeldhaftung“ auf die rechtsnachfolgende Gesellschaft ausgeschlossen war. § 30 Abs. 1 OWiG ordnet nämlich (nach wie vor) ausdrücklich an, dass einer juristischen Person nur das ordnungswidrige Verhalten ihrer (eigenen) Organe und sonstigen Stellvertreter zugerechnet werden kann. Daher hätte es bislang – wie der BGH zu Recht betonte – gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen, wenn man eine generelle „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“ entgegen der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers für das Rechtsträger-

116 Die Vorschriften der §§ 9, 30, 130 OWiG stimmen inhaltlich nicht vollständig überein. So ist etwa § 9 OWiG gegenüber § 30 OWiG weiter, soweit dieser auch gewillkürte Stellvertreter erfasst, während § 30 OWiG juristischen Personen oder Personenvereinigungen nur Bezugstaten von ihren Leitungspersonen zurechnet. Dementsprechend kann eine Aufsichtspflichtverletzung nach § 130 OWiG nur der juristischen Person und Personenvereinigung nach § 30 OWiG zugerechnet werden, wenn sie von einem leitenden Stellvertreter begangen wurde, nicht aber, wenn ein gewillkürter Stellvertreter i. S. d. § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 OWiG „unterhalb der Leitungsebene“ Aufsichtsmaßnahmen unterlässt. Zu den Unterschieden, verbunden mit der Forderung der Angleichung der Vorschriften de lege ferenda: Rogall, in: KK/OWiG, § 9 Rn. 92, § 30 Rn. 20 f., § 130 Rn. 6; ferner im Überblick: Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 96 ff. 117 Fall der sog. anonymen Ahndung: BGH, Beschl. v. 8.2.1994, Az. KRB 25/93 – Unternehmenssubmission, WuW/E BGH 2904 (2906); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 16.3.2000, Az. 2 Ss (OWi) 2/00 – (OWi) 9/00 I, wistra 2000, 316 (317); Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 116; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 44; vertiefend dazu etwa Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 107 ff. m.w. N. 118 Abweichend von der in Fn. 119 angeführten herrschenden Meinung: Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 116, 118. 119 H.M., etwa Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 101; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 43; Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 17.

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prinzip angenommen hätte.120 Dem konnte auch nicht, wie das Bundeskartellamt offenbar im Fall Trockenmörtel meinte, durch eine Anwendung des Art. 5 S. 2 Ss. 4 VO 1/2003abgeholfen werden. Denn die Vorschrift erteilt den nationalen Kartellbehörden lediglich die Befugnis, Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 AEUV nach nationalem Recht, also nach § 30 Abs. 1 OWiG bußgeldrechtlich zu ahnden; sie räumt ihnen jedoch nicht die die Art. 23 VO 1/2003 geregelten Kompetenzen der Kommission ein.121 Nur unter zwei engen Voraussetzungen kam nach der von der Literatur weitgehend122 anerkannten Auffassung des BGH 123 eine mit § 30 Abs. 1 OWiG vereinbare „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“ in Betracht. Erstens musste die fragliche juristische Person Gesamtrechtsnachfolgerin derjenigen juristischen Person geworden sein, deren Organe und Stellvertreter rechtswidrig gehandelt haben.124 Und zweitens musste die frühere und die neue Vermögensverbindung nach wirtschaftlicher Betrachtungsweise zumindest nahezu identisch sein, was dem BGH zufolge dann anzunehmen war, wenn „das „haftende“ Vermögen weiterhin vom Vermögen des gemäß § 30 OWiG Verantwortlichen getrennt, in gleicher oder ähnlicher Weise wie bisher eingesetzt wird und in der neuen juristischen Person einen wesentlichen Teil des Gesamtvermögens ausmacht.“ 125

120 BGH, Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 55/10 – Versicherungsfusion, WuW/E DER 3455 (3457 ff.), Rn. 9 ff., insb. 14 (juris); Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 6 ff., insb. 11 (juris); ihm folgend auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.12.2012, Az. V-1 Kart 7/12 (OWi), Rn. 22 ff. (juris). 121 OLG Düsseldorf, Urt. v. 17.12.2012, Az. V-1 Kart 7/12 (OWi), Rn. 34 ff. (juris); so auch die h. M. der Lit., vgl. nur Ritter, in: IM/EU KartellR, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 1; Dalheimer, in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 1 f., 7, 17; Bechtold u. a., EG-Kartellrecht, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 11; Hossenfelder, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 5 VO 1/2003 Rn. 3; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 8 Rn. 11 ff.; einschränkend auch: Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 37 (Fn. 78), 49; Jaeger, in: FK/Kartellrecht, Art. 5 VO 1/2003 Rn. 2 ff., die Art. 5 VO 1/ 2003 zwar als Ermächtigungsgrundlage interpretieren, allerdings mangels konkret geregelter Sanktionen auf die Anwendung des nationalen Rechts verweisen. 122 Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 48; Förster, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 50; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 30 Rn. 38a ff.; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 55 Rn. 45; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 107; krit. etwa Heinichen, ZIS 2012, S. 68 ff. (72 ff.) 123 BGH, Beschl. v. 11.3.1986, Az. KRB 8/85 – Bußgeldhaftung, wistra 1986, 221 (222), Rn. 12 (juris); Beschl. v. 23.11.2004, Az. KRB 23/04 – Transportbeton in H., WuW/E DE-R 1469 (nicht abgedr.) = NJW 2005, 1381 (1383), Rn. 15 (juris); Beschl. v. 4.10.2007, Az. KRB 59/07 – Akteneinsichtsgesuch, NJW 2007, 3652 (3653), Rn. 7 (juris). 124 BGH, Beschl. v. 23.11.2004, Az. KRB 23/04 – Transportbeton in H., WuW/E DE-R 1469 (nicht abgedr.) = NJW 2005, 1381 (1382), Rn. 15 (juris); Beschl. v. 4.10. 2007, Az. KRB 59/07 – Akteneinsichtsgesuch, NJW 2007, 3652 (3653), Rn. 7 (juris). 125 BGH, Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 55/10 – Versicherungsfusion, WuW/E DER 3455 (3458), Rn. 16 (juris); Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 12 (juris).

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Die begrenzte Zulassung der „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“ war sachgerecht, insoweit sie Fälle erfasste, in denen der Verband letztlich nur pro forma, aufgrund eines bloßen Rechtsformwechsels oder einer Firmenänderung erlosch, seine bußgeldrechtliche Identität, also seine sachlichen Vermögenswerte, vor allem aber seine personellen Verantwortlichen erhalten, blieben. Eine Zurechnung des rechtswidrigen, vorwerfbaren Verhaltens blieb daher ohne weiteres möglich. Allerdings blieben kartellbeteiligten juristischen Personen zahlreiche Möglichkeiten, um drohenden Belastungen durch eine Kartellgeldbuße zu entgehen. Insbesondere schied eine „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“ aus, solang nur Teile des ursprünglichen Vermögens mit einer anderen Vermögensmasse verschmolzen wurden. Im Rahmen der 8. GWB-Novelle hat sich der Gesetzgeber dem durch den BGH aufgezeigten Problem des manipulierbaren Ausschlusses der Bußgeldverantwortlichkeit angenommen, nicht jedoch den bestehenden Rechtsunsicherheiten bezüglich der Bußgeldahndung von Muttergesellschaften wegen einer womöglich vorzuwerfenden Aufsichtspflichtverletzung. Hierzu sah die Bundesregierung keine Veranlassung, da die bestehenden Regelungen im OWiG ausreichend seien, um Aufsichtspflichtverletzungen im Konzern sachgerecht zu erfassen.126 Diese Auffassung überrascht angesichts der Stellungnahme des federführenden Wirtschaftsausschusses des Bundesrates zum Regierungsentwurf des Achten Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, in dem dieser empfohlen hatte, innerhalb des § 130 OWiG „klarzustellen“, dass Konzernobergesellschaften kartellrechtlich zur Aufsicht gegenüber ihren Tochtergesellschaften verpflichtet seien.127 Nachdem sich – trotz entsprechender Ankündigung – zunächst auch weder in dem Referentenentwurf des Bundesministeriums128 noch in dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung129 ein Vorschlag zur Regelung der „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“ fand, hat der federführende Wirtschaftsausschuss des Bundesrates im Rahmen seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf, nach dem eindringlichen Hinweis des Bundeskartellamts und der Monopolkommission

126 Begr. BRegE 8. GWB-Novelle, Anlage 4 (Stellungnahme der BReg), BT-Drs. 17/ 9852, S. 49. 127 Begr. BRegE 8. GWB-Novelle, Anlage 3 (Stellungnahme des BRat), BT-Drs. 17/ 9852, S. 40. 128 Referentenentwurf für ein Achtes Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen des BMWi v. 10.11.2011, im Internet abrufbar unter: http://www.bmwi.de/BMWi/Redak tion/PDF/G/gwb-8-aenderung-referentenentwurf,property=pdf,bereich=bmwi,sprache= de,rwb=true.pdf (Stand: 31.12.2013). 129 Vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 28.3.2012: Achtes Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, im Internet abrufbar unter: http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/G/gwb-novelle,property=pdf,bereich=bm wi,sprache=de,rwb=true.pdf (Stand: 31.12.2013) sowie Begr. BRegE 8. GWB-Novelle v. 31.5.2012, BT-Drs. 17/9832.

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auf den bestehenden Regelungsbedarf,130 empfohlen, auf eine Anpassung an das europäische Recht oder auf eine eigenständige Regelung hinzuwirken.131 Mit der Verabschiedung der 8. GWB-Novelle am 18.10.2012 ist der Gesetzgeber mit Einfügung des § 30 Abs. 2a OWiG jedenfalls der Forderung nach einer Kodifikation der „Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung“, begrenzt auf die vollständige oder partielle Gesamtrechtsnachfolge durch Aufspaltung, nachgekommen.132 Nachdem die Vorschrift im Vermittlungsausschuss unangetastet blieb,133 konnte sie mit der 8. GWB-Novelle am 30.06.2013 in Kraft treten.134 Gemäß § 30 Abs. 2a OWiG ist nunmehr auch eine Bußgeldahndung von Teilrechtsnachfolgern möglich, soweit der ursprüngliche Rechtsnachfolger nicht fortbesteht. Daher bedarf es nicht mehr einer (nahezu) Identität zwischen der früheren und der neuen Vermögensverbindung. Allerdings soll nach dem in der Regelung zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers, der insoweit dem BGH folgt,135 die Einzelrechtsnachfolge nicht von § 30 Abs. 1, Abs. 2a OWiG erfasst sein.136 Gleiches gilt für Abspaltungen oder Ausgliederungen,137 wobei für diese ohnehin kein Regelungsbedarf bestehen dürfte, da in beiden Fällen der ursprüngliche Rechtsträger fortbesteht.138 Kommt nach den vorstehenden Erwägungen eine bußgeldrechtliche Ahndung sowohl von juristischen als auch von natürlichen Personen in Betracht, kann das Bundeskartellamt, wie sich aus dem Wortlaut des § 30 Abs. 1 OWiG i.V. m. §§ 9, 130 OWiG ergibt, grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden, ob es gegen die kartellbeteiligten Unternehmen und/oder gegen die verantwortlichen, natürlichen Personen ein Bußgeld verhängt.139 Grundsätzlich kann es da130 Vgl. BKartA, Stellungnahme zum Referentenentwurf zur 8. GWB-Novelle v. 30.11.2011, S. 11, 13; Monopolkommission, Die 8. GWB-Novelle aus wettbewerbspolitischer Sicht, S. 47 ff. 131 BR-Drs. 176/1/12, S. 2 f., Rn. 1 bis 3 e; Begr. BRegE 8. GWB-Novelle, Anlage 3 (Stellungnahme des BRat), BT-Drs. 17/9832, S. 40. 132 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur 8. GWB-Novelle, BT-Drs. 17/11053, S. 5 ff. 133 Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zur 8. GWB-Novelle, BT-Drs. 17/13720. 134 BGBl. I, S. 1738; Neufassung des GWB: BGBl. I, S. 1750. 135 BGH, Beschl. v. 23.11.2004, Az. KRB 23/04 – Transportbeton in H., WuW/E DE-R 1469 (nicht abgedr.) = NJW 2005, 1381 (1382), Rn. 11, 16 (juris). 136 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur 8. GWB-Novelle, BT-Drs. 17/11053, S. 20; a. A. Bosch/Fritzsche, NJW 2013, S. 2225 ff. (2229). 137 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur 8. GWB-Novelle, BT-Drs. 17/11053, S. 20. 138 Um die praktische Umgehung des Bußgeldes durch Verhinderung der Eintreibung zu verhindern, wurde § 30 Abs. 6 OWiG eingefügt, wonach zur Sicherung der Eintreibung der Geldbuße der dingliche Arrest nach § 111d StPO bereits nach Erlass eines Bußgeldbescheids (nicht erst nach Erlass eines Urteils) angeordnet werden kann. 139 Ganz allgem. M., statt aller nur Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 3.

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rüber hinaus auch nur gegen einen Teil der Beteiligten eines Kartellverstoßes vorgehen, freilich in den durch den allgemeinen Gleichheitssatz gesetzten Grenzen.140

D. Zusammenfassung Das dem Bundeskartellamt gemäß § 47 Abs. 1 OWiG eröffnete Entscheidungsund Auswahlermessen erweist sich losgelöst von den konkreten Umständen eines Einzelfalls als sehr weit. Das Bundeskartellamt kann auf die Einleitung eines Bußgeldverfahrens verzichten und sich stattdessen sowohl geregelter als auch ungeregelter Maßnahmen bedienen, um auf Wettbewerbsverstöße zu reagieren. Neben den in Verwaltungsverfahren möglichen Abstellungsverfügungen oder Verbindlichkeitserklärungen, kann es etwa formlos abmahnen. Theoretisch kann es auch gänzlich untätig bleiben. Im Übrigen ist es ermächtigt, den Gegenstand eines Bußgeldverfahrens und den Kreis der von diesem Betroffenen bzw. der Bußgeldadressaten unter Wahrung verfassungsrechtlicher und einfachgesetzlicher Regelungen „frei“ zu bestimmen.

§ 3 Relevante heteronome Begrenzungen des Verfolgungsermessens Nachdem der Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Bundeskartellamtes in seiner (theoretisch) maximalen Weite beschrieben wurde, ist an dieser Stelle der Frage nachzugehen, inwieweit das kartellbehördliche Ermessen in typisierbaren Fällen möglicherweise von vornherein, quasi generell reduziert ist. § 47 Abs. 1 OWiG hält ausdrücklich keine konkret ermessensbeschränkenden Maßstäbe bereit, mit Ausnahme der Anordnung, dass das Ermessen pflichtgemäß auszuüben ist. Dementsprechend betonen Rechtsprechung und Literatur im Hinblick auf die Grenzen des Verfolgungsermessens – unter Rückgriff auf eine Entscheidung des BGH zur Rechtsbeugung eines Bußgeldrichters141 – regelmäßig die Ausschlussfunktion des Pflichtmäßigkeitsbegriffs. Danach seien der Ermessensausübung allein durch sachfremde Erwägungen, namentlich parteipolitischer, persönlicher oder außerdienstlicher Art, Grenzen gesetzt.142 Aber auch unterhalb dieser Willkürschwelle lassen sich Ermessensschranken identifizieren. Hierbei ist

140

Siehe dazu noch vertiefend die Fallbeispiele in Teil 2 § 4 B. II. (S. 170 ff.). BGH, Urt. v. 3.12.1998, Az. 1 StR 240/98, BGHSt 44, 258 ff. 142 BGH, Urt. v. 3.12.1998, Az. 1 StR 240/98, BGHSt 44, 258 (260), Rn. 9 (juris); Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 6 ff.; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 11 ff.; Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 105; jeweils m.w. N. Vgl. auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737), Rn. 167 (juris); BayVerwGH München, Urt. v. 3.2.2009, Az. 16a D 07.1304, Rn. 82 (juris). 141

§ 3 Relevante heteronome Begrenzungen des Verfolgungsermessens

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zunächst zu unterscheiden, ob das Bundeskartellamt im konkreten Einzelfall ein (vermeintlich) nationales Kartell verfolgt oder aber gemäß Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 auch dazu berufen ist, ein grenzüberschreitendes Kartell zu verfolgen. Im letzteren Fall können sich Grenzen aus den – auf die Integration des Bundeskartellamtes innerhalb des ECN zurückzuführenden – besonderen Verpflichtungen gegenüber anderen europäischen Kartellbehörden und vor allem der Kommission ergeben (A.). Im Übrigen soll im Folgenden der Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG ermittelt werden, an welchen das Bundeskartellamt unabhängig davon, ob es sich um nationale oder grenzüberscheitende Kartelle handelt, seine Entscheidung für oder gegen ein Bußgeldverfahren und die Verhängung einer Geldbuße auszurichten hat (B.).

A. Ermessensbindung durch die europäische Kartellrechtspraxis I. Aufgrund der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit innerhalb des European Competition Networks („ECN“)? Bevor das Bundeskartellamt ein Bußgeldverfahren wegen eines möglichen Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV einleitet bzw. unverzüglich danach, hat es die Kommission gemäß Art. 11 Abs. 3 S. 1 VO 1/2003 schriftlich über seine Entscheidung in Kenntnis zu setzen.143 Im Übrigen liegt es in seinem Ermessen auch die anderen nationalen Kartellbehörden zu benachrichtigen. In Folge dieser Mitteilung kann es dazu kommen, dass die Kommission ihr Revokationsrecht gemäß Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 ausübt und dem Bundeskartellamt den Fall entzieht. Dann darf das Bundeskartellamt zunächst kein Bußgeldverfahren mehr einleiten bzw. ist gezwungen, ein bereits eingeleitetes Verfahren wieder einzustellen. Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes reduziert sich auf null. Praktisch relevant ist dies etwa im Fall Flachglas/Automobilglas geworden, in welchem das Bundeskartellamt aufgrund einer Anzeige tätig geworden ist und bereits Informationen angefordert hat, als die Kommission den Fall an sich zog.144 Etwas anderes gilt, wenn eine nationale Kartellbehörde Anspruch auf den vom Bundeskartellamt bearbeiteten Fall erhebt. In der VO 1/2003 wurde dieser Fall zwar bewusst nicht geregelt. Dafür findet sich jedoch in der Gemeinsamen Erklä143 Gleichsam hat die Kartellbehörde der Kommission gemäß Art. 11 Abs. 4 spätestens 30 Tage vor Erlass einer Bußgeldentscheidung oder einer Abstellungsverfügung von dem Fall und der beabsichtigten Entscheidung zu unterrichten. 144 Auch andere nationale Kartellbehörden hatten Hinweise und Anzeigen für ein Kartell im Flachglas-Sektor erhalten. Vgl. Kommission, Commission Staff Working Paper accompanying the Report on the functioning of Regulation 1/2003 (im Folgenden: „Arbeitspapier 2009“) v. 29.4.2009, COM(2009)206 final, Rn. 216; BKartA, TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 84.

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rung des Rates und der Kommission145 sowie der Netzwerkbekanntmachung146 der Hinweis, dass der Grundsatz, wonach im Regelfall nur diejenige Behörde den Fall untersuchen soll, die als die am besten geeignete Behörde erscheint, das Verfolgungsermessen der nationalen Kartellbehörden nicht antastet.147 Zieht also die Kommission in einem solchen Fall das Verfahren nicht an sich, kann es zur parallelen Verfolgung des fraglichen Kartells durch mehrere nationale Kartellbehörden kommen. Dies bestätigt letztlich auch Art. 13 VO 1/2003, der den Kartellbehörden zwar das Recht einräumt, ein Verfahren wieder einzustellen bzw. Beschwerden zurückzuweisen, wenn bereits eine andere Kartellbehörde den betreffenden Fall behandelt, diese gleichsam aber nicht dazu verpflichtet.148 Vorstellbar ist jedoch, dass das Bundeskartellamt faktisch unter Druck gerät, wenn das Netzwerk überwiegend der Meinung ist, dass nicht das Bundeskartellamt, sondern eine ebenfalls verfolgungswillige, andere nationale Kartellbehörde besser geeignet erscheint. Das ECN kann nur dann seinem Ziel, einer engeren Zusammenarbeit zur kohärenten und effektiven Durchsetzung EU-Kartellrechts gerecht werden, wenn die Kartellbehörden sich gegenseitig respektieren, unterstützen und die Fallverteilungsregeln der Netzwerkbekanntmachung einhalten, die von den Kartellbehörden durch Unterzeichnung der Erklärung in Anlage 1 zur Netzwerkbekanntmachung verbindlich anerkannt wurde. Die nationalen Kartellbehörden scheinen sich dessen durchaus bewusst zu sein und danach zu handeln. Die die Einführung des Netzwerkes begleitenden Befürchtungen, das Netzwerk schaffe viele Reibungspunkte, weil es an verbindlichen Regelungen fehle und es kein Gremium gebe, das im Streitfall eine Fallzuweisungskompetenz habe, haben sich nach Auffassung der Kommission nicht bestätigt.149 Es habe bislang lediglich wenige Diskussionen gegeben.150 Zwischen den nationalen Kartellbehörden

145 Gemeinsame Erklärung des Rates und der Kommission über die Arbeitsweise des Netzes der Kartellbehörden v. 25.9.2002, Dokument 15435/02 ADD 1; abrufbar unter: http://ec.europa.eu/competition/ecn/joint_statement_de.pdf 146 Bekanntmachung der Kommission über die Zusammenarbeit innerhalb des Netzes der Kartellbehörden, ABl. EG v. 27.4.2004, Nr. C 101, S. 43 ff. 147 Rn. 14 der Gemeinsamen Erklärung; Rn. 5 der Netzwerkbekanntmachung („volles Ermessen“). 148 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EGVertrag“) v. 27.9.2000, KOM(2000) 582 endg., 2000/0243 (CNS), S. 14. 149 Vgl. Kommission, Arbeitspapier 2009, Rn. 214 ff.; Commission Staff Working Paper accompanying the Report from the Commission on Competition Policy (im Folgenden: „Arbeitspapier 2010“) v. 10.6.2011, COM(2011)328 final, Rn. 398 („In 2010, there were once more very few instances where discussions on allocation of cases took place [. . .].“). 150 Ebenso das BKartA, TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 52. In seinem TB 2007/ 08, BT-Drs. 16/13500, S. 47, stellte es demgegenüber noch fest, dass Fallverteilungsdis-

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kam es bis zum Jahre 2009 zu drei Fallumverteilungen.151 Ferner hat die Kommission bislang nur einen Fall paralleler Verfolgung durch zwei Kartellbehörden ausdrücklich erwähnt.152 Die geringe Anzahl der bekannten Fallumverteilungen lässt zwei Schlüsse zu: Entweder hatte das Bundeskartellamt in den letzten fünf Jahren selten ein Interesse an den von anderen Kartellbehörden eingestellten Fällen, oder aber die sich den Art. 11 ff. VO 1/2003 ergebenden Kooperationspflichten beeinflussen regelmäßig faktisch die kartellbehördliche Ausübung des Verfolgungsermessens. Für eine Zurückhaltung des Bundeskartellamtes im eigenen Interesse könnte sprechen, dass es auf diese Weise vermeiden will, dass andere nationale Kartellbehörden Anspruch auf die Bearbeitung der vom Bundeskartellamt eingebrachten Fälle erheben und die Kommission im Streitfall von ihrem Revokationsrecht Gebrauch macht. Dafür spricht auch die Stellungnahme des Bundeskartellamtes in seinem Tätigkeitsbericht 2007/2008, in dem sich die Kartellbehörde insbesondere über die von der Kommission beabsichtigte Übernahme des Missbrauchsverfahrens gegen E.ON Gastransport verärgert zeigte, da sie sich selbst als die am besten geeignete Behörde einschätzte.153 Im Tätigkeitsbericht 2009/2010 betont das Bundeskartellamt nunmehr, dass Fallverteilungen einvernehmlich erfolgten.154 Angesichts dessen lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass die Kooperationspflichten innerhalb des ECN das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes auch im Verhältnis zu den nationalen Kartellbehörden faktisch begrenzen, indem das Bundeskartellamt das Ziel des ECN, eine Atmosphäre loyaler, von Respekt getragener Zusammenarbeit zu schaffen über die eigenen Entscheidungsbefugnisse stellt und das Ergebnis einer Fallverteilungsdiskussion akzeptiert. II. Durch Vorentscheid der Kommission? Gemäß Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 darf sich das Bundeskartellamt mit seiner Entscheidung, soweit es wettbewerbswidrige Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen an Art. 101 AEUV misst, die bereits Gegenstand eines Kommissionsverfahrens waren, nicht in Widerspruch zu der Entscheidung der Kommission setzen. Zunächst war unklar, was unter dem Begriff des „Gegenstands“ einer Kommissionsentscheidung zu verstehen ist. Eilmannsberger nimmt an, die

kussionen im Berichtszeitraum – vor allem mit der Kommission – stattfanden, und sich das Amt aktiv an den Diskussionen beteiligte. 151 Vgl. Kommission, Arbeitspapier 2009, Rn. 220. Im Jahr 2010 fanden nach Auskunft der Kommission ebenfalls nur äußerst wenige Fallumverteilungen statt, vgl. Arbeitspapier der Kommission 2010, Rn. 398. 152 Vgl. Kommission, Arbeitspapier 2009, Rn. 223. Der Fall betraf die parallele Verfolgung eines Kartells durch das Bundeskartellamt und die belgischen Kartellbehörde. 153 TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 48. 154 TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 52.

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Bindungswirkung erstrecke sich nicht nur auf dieselben Vereinbarungen, abgestimmten Verhaltensweisen oder Beschlüsse, namentlich denselben zu begutachtenden Sachverhalt, sondern bestehe darüber hinaus auch für gleich gelagerte Fälle.155 Demgegenüber beschränkt die ganz herrschende Meinung in der Literatur den Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 auf den Anlassfall der Kommissionsentscheidung.156 Dem ist zuzustimmen. Gegen die Annahme eines derart weiten sachlichen Anwendungsbereichs, wie ihn Eilmannsberger präferiert, spricht neben dem eigentlich eindeutigen Wortlaut der Vorschrift auch ihre Entstehungsgeschichte. So betonte die Kommission in der Begründung zu Art. 16 VO 1/2003, dass widersprüchliche Entscheidungen nach Feststellung einer Zuwiderhandlung durch die Kommission zu vermeiden sind, „soweit der Sachverhalt derselbe ist“.157 Ferner wird man wohl nur bei zwei sich auf denselben Anlassfall beziehenden, jedoch voneinander abweichenden Entscheidungen von einem „echten“ Wertungswiderspruch sprechen können; hingegen besteht zwischen lediglich vergleichbaren Fällen nicht zwingend ein tatsächliches Konfliktpotential.158 Ein enger Anwendungsbereich der Regelung beeinträchtigt auch nicht das mit Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 verfolgte Ziel kohärenter Rechtsanwendung. Dass das Bundeskartellamt etwaige Entscheidungen der Kommission zu ähnlich gelagerten Fällen nicht vollständig ignorieren kann, ergibt sich bereits aus seiner Loyalitätspflicht gemäß Art. 11 VO 1/2003, aber auch aus dem im Wesentlichen in Art. 4 Abs. 3 EUV zum Ausdruck kommenden „effet utile“-Grundsatz, wonach die Anwendung nationalen Rechts auf europaweite Sachverhalte nicht die Tragweite und praktische Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen darf, sowie dem Äquivalenzgrundsatz, nach dem das nationale Recht ohne Diskriminierung im Vergleich zu den Verfahren, in denen über gleichartige, rein nationale Streitigkeiten entschieden wird, auch auf europaweite Sachverhalte angewandt

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Eilmannsberger, JZ 2001, S. 365 ff. (372). Ritter, in: IM/EU KartellR, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 4; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 222; Dalheimer, in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, Art. 16 VO 1/ 2003 Rn. 5; Dohrn, Die Bindungswirkung kartellrechtlicher Entscheidungen der Kommission sowie deutscher und mitgliedstaatlicher Kartellbehörden und Gerichte im deutschen Zivilprozess, S. 53 ff.; Meyer, GRUR 2006, S. 27 ff. (28 und 29 ff.); Bornkamm/ Becker, ZWeR 2005, S. 213 ff. (220 f.); Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 3, 9. 157 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EGVertrag“) v. 27.9.2000, 582 endg., 2000/0243 (CNS), S. 26. 158 So v. a. das United Kingdom House of Lords v. 19.7.2006 – Intrepeneur Pub Company v. Crehan, [2006] UKHL 38, [2006] 3 WLR 148, [2006] ICR 1344, [2006] NPC 85, [2007] 1 AC 333, [2006] 30 EGCS 103, [2006] 4 All ER 465, [2006] 30 EG 103, Rn. 56, 64, im Internet abrufbar unter: www.bailii.org/uk/cases/UKHL/2006/38.html (Stand: 31.12.2013). 156

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werden muss.159 Das Bundeskartellamt ist damit dazu berufen, die praktische Wirksamkeit der Art. 101 ff. AEUV gemäß Art. 35 Abs. 1 VO 1/2003 sicherzustellen. Dem widerspräche es, wenn die Kartellbehörde über Art. 5 VO 1/2003 hinaus Entscheidungen treffen würde, die dem Wettbewerbsschutz zuwider liefen,160 oder die effektive und gemäß Art. 3 VO 1/2003 angeordnete, kohärente Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV beeinträchtigen oder unmöglich machen würden.161 Wie Leitlinien, Bekanntmachungen und Mitteilungen der Kommission de facto überpositives Recht sind,162 geht daher auch von Kommissionsentscheidungen jedenfalls eine faktische Bindungswirkung aus. Angesichts dessen bedarf es keiner über denselben Sachverhalt hinausgehenden Ausdehnung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003. Eine derartige Interpretation beschnitte über das erforderliche Maß hinaus die Kompetenzen der nationalen Kartellbehörden und Gerichte.163 Damit sind Bewertungskonflikte zwischen dem Bundeskartellamt und der Kommission zwar nicht durch die Zuständigkeitsverteilung innerhalb des ECN, insbesondere durch das Revokationsrecht der Kommission, von vornherein ausgeschlossen.164 Allerdings dürfte jedenfalls das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes, sofern es in den sich aus dem „ne bis in idem“-Grundsatz ergeben159 St. Rspr. des EuGH, vgl. etwa Urt. v. 6.10.1970, Rs. 9/70 – Grad, Slg. 1970, 825, Rn. 5; Urt. v. 4.12.1974, Rs. 41/74 – Van Duyn, Slg. 1974, 1337, Rn. 12; Urt. v. 8.4.1976, Rs. 48/75, Slg. 1976, 497 – Royer, Rn. 69, 73; Urt. v. 9.3.1978, Rs. 106/77 – Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 14, 16; Urt. v. 21.9.1983, verb. Rs. 205–215/82 – Deutsche Milchkontor, Slg. 1983, 2633 (2666), Rn. 22; Urt. v. 14.12.1995, Rs. C-312/93 – Peterbröck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12, Urt. v. 14.12.1995, verb. Rs. C-430–431/93 – Van Schijndel und Van Veen, Slg. 1995, I-4705, Rn. 17; Urt. v. 14.12.1995, Rs. C-360/96 – BFI-Holding, Slg. 1998, I-6821, Rn. 62; Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-366/95 – Steff-Houlberg Export, Slg. 1998 I-2661, Rn. 15; Urt. v. 16.7.1998, Rs. C-298/96 – Oelmühle und Schmidt Söhne, Slg. 1998, I4767, Rn. 23, 24; Urt. 23.10.2007, verb. Rs. C-11–12/06 – Morgan/Bucher, Slg. 2007, I-9161, Rn. 26; Urt. 22.5.2008, Rs. C-499/06 – Nerkowska, Slg. 2008, I-3993, Rn. 31. 160 So hat der EuGH etwa im Fall Prezes Urze ˛ du Ochrony Konkurencji i Konsumentów/Tele2 Polska betont, dass es der einheitlichen Anwendung der Art. 101 ff. AEUV widerspricht, eine Entscheidung zu treffen, mit der ein Verstoß des Art. 102 AEUV verneint wird, vgl. Urt. v. 3.5.2011, Rs. C-375/09, Rn. 19 ff., insb. 28. 161 EuGH, Urt. v. 10.7.1997, Rs. C-261/95 – Palmisani, Slg. 1997, I-4025, Rn. 27; Urt. v. 20.9.2001, Rs. C-453/99 – Courage/Crehan, Slg. 2001, I-6324, Rn. 29; Urt. v. 13.7.2006, verb. Rs. C-295 bis 298/04 – Manfredi u. a., Slg. 2006, I-6641, Rn. 62; Urt. v. 7.10.2010, Rs. 439/08 – VEBIC, Rn. 57; Urt. v. 14.6.2011, Rs. C-360/09 – Pfleiderer, Rn. 24; ferner auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.6.2007, Az. VI-2 U (Kart) 9/05, 2 U (Kart) 9/05 – DARED, WuW/E DE-R 2109 (2118 Rn. 61), Rn. 59 (juris). 162 Vgl. Immenga/Mestmäcker, in: IM/GWB, Einleitung Rn. 87. Verwaltungsgrundsätze der Kommission sind für das BKartA grundsätzlich nicht rechtlich verbindlich, führen aber zu einer faktischen Bindung der Kartellbehörde. Siehe exemplarisch zur de minimis-Bekanntmachung: Teil 2 § 4 B. I. 3. b) (S. 164 ff.). 163 Bereits bzgl. ein- und desselben Sachverhalts erlassene Kommissionsentscheidungen binden die Gerichte der Mitgliedsstaaten gemäß Art. 16 Abs. 1 VO 1/2003. 164 Vgl. insoweit bereits Teil 2 § 1 C. I. 2. (S. 83 ff.).

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den Grenzen eröffnet ist, durch Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 praktisch kaum relevante Einschränkungen erfahren.165 Denn die Vorschrift hat ausschließlich Bedeutung für die Feststellung des Wettbewerbsverstoßes.166 Sofern die Kommission keine materiell-rechtliche Wertung hinsichtlich der Frage vorgenommen hat, ob ein Kartellverstoß vorliegt, kann das Bundeskartellamt de facto nicht von ihrer Entscheidung abweichen. Folglich steht Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 insbesondere nicht der Durchführung eines Bußgeldverfahrens entgegen, wenn die Kommission aus Opportunitätsgründen von der Einleitung eines Verfahrens abgesehen, ein solches aus Opportunitätsgründen eingestellt167 oder eine Entscheidung nach Art. 9 VO 1/2003 erlassen hat.168 Im Ergebnis gilt auch nichts anderes, wenn die Kommission eine Entscheidung unter Vornahme einer rechtlichen Würdigung trifft. Stellt sie die Nichtanwendbarkeit des Art. 101 AEUV gemäß Art. 10 Abs. 1 VO 1/2003 fest, muss das Bundeskartellamt akzeptieren, dass der Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV nicht erfüllt ist oder aber die Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot freigestellt ist.169 Folgerichtig darf das Bundeskartellamt gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO 1/2003 auch nicht zu dem Ergebnis gelangen, dass das fragliche Verhalten gegen § 1 GWB verstößt. Damit besteht jedoch bereits kein Anfangsverdacht für eine Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV, § 1

165 Im Ergebnis ebenso, allerdings mit dem Revokationsrecht des Kommission gem. Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 begründend: Ritter, in: IM/EU KartellR, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 12. 166 Sog. Tatbestandswirkung, statt aller Meyer, GRUR 2006, S. 27 ff. (29); Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 3, 6, 9; vgl. auch für die Umsetzung des Art. 16 VO 1/2003 in § 33 Abs. 4 GWB die Begr. der BReg zur 7. GWB-Novelle, BTDrs. 15/3640, S. 54. 167 Dementsprechend hat das BKartA etwa im Fall GRS (Gemeinsames Rücknahmesystem Batterien) nach Einstellung des Verfahrens durch die Kommission selbst ein Bußgeldverfahren eröffnet. Vgl. TB 2001/2002, BT-Drs. 15/1226, S. 77. 168 Nimmt die Kommission Verpflichtungszusagen von Unternehmen an und erklärt diese gem. Art. 9 VO 1/2003 für verbindlich, trifft sie keine abschließende Bewertung über das in Frage stehende Verhalten, vgl. Erwägungsgründe 13, 22 der VO 1/2003. Siehe auch Ritter, in: IM/EU KartellR, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 3; Zuber, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 16 VO 1/2003 Rn. 14. 169 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EGVertrag“) v. 27.9.2000, 582 endg., 2000/0243 (CNS), S. 25 f.; Zuber, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 16 VO 1/2003 Rn. 9; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 11 Rn. 59; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 6 Rn. 162, § 8 Rn. 110; Eilmannsberger, JZ 2001, S. 365 ff. (373); Dalheimer, in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, Art. 16 VO 1/2003 Rn. 7; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 16 Rn. 4; Dohrn, Die Bindungswirkung kartellrechtlicher Entscheidungen der Kommission sowie deutscher und mitgliedstaatlicher Kartellbehörden und Gerichte im deutschen Zivilprozess, Rn. 62 ff.; Schnelle/Bartosch/Hübner, Das neue EU-Kartellverfahrensrecht, S. 95. A.A. aber unter Zugeständnis einer durch Art. 10 VO 1/2003 jedenfalls begründeten faktischen Bindung: Röhling, GRUR 2003, S. 1019 ff. (1023); Schmidt, BB 2003, S. 1237 ff. (1242).

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GWB; für eine Ermessensentscheidung bleibt aus Legalitätsgründen also kein Raum.170 Ebenso etabliert Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 keine Bindungswirkung für die Ausübung des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes, wenn die Kommission bereits ein Bußgeldverfahren durchgeführt und mit der Anordnung einer Geldbuße abgeschlossen hat. Für den in der Praxis – soweit ersichtlich171 – bislang noch nicht relevant gewordenen Fall, dass der Kartellbehörde Ermessen hinsichtlich der Verfolgung einer Zuwiderhandlung innerhalb des engen Rahmens des „ne bis in idem“-Grundsatzes verbleibt, etwa weil die Kommission ein (nahezu) den gesamten europäischen Markt umfassendes, einheitliches wettbewerbswidriges Verhalten unter Ausschluss des deutschen Marktes geahndet hat, könnte sich das Bundeskartellamt zwar nicht der Feststellung entziehen, dass das fragliche Verhalten den Verbotstatbestand des Art. 101 AEUV erfüllt, da es sich um denselben Sachverhalt – bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – handeln würde. Allerdings schließt es die Entscheidung der Kommission allein nicht aus, auf die Einleitung eines Kartellbußgeldverfahrens oder aber auf die Ahndung des Kartells zu verzichten.172 Dies gilt vor allem für den Fall, den die Kommission bei Erlass der Netzwerkbekanntmachung im Auge hatte, in welchem sie eine „Leitentscheidung“ für ein wettbewerbswidriges Verhalten, welches sich über die Grenzen mehrerer Mitgliedsstaaten erstreckt, bezogen auf einen nationalen Markt trifft und die Untersuchung des deutschen Marktes wegen dessen Besonderheiten dem Bundeskartellamt überlässt.173 Eben jene Besonderheiten können nämlich aus Sicht des Bundeskartellamtes gegen die Durchführung des Kartell-Bußgeldverfahrens und gegen die Bußgeldahndung sprechen. Ferner tangiert Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes nicht, weil sich dieses mit einer Einstellungsentscheidung oder dem Ahndungsverzicht nicht über die materiell-rechtliche Beurteilung der Kommission hinwegsetzt, solange das Bundeskartellamt seine Entscheidung nicht auf eine Negierung des Wettbewerbsverstoßes gründet. Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 will wie Art. 3 Abs. 2 VO 1/2003 einen Widerspruch materiell-rechtlicher Entscheidungen verhindern. Da mit der Verabschiedung der VO 1/2003 jedoch keine Vereinheit-

170 Zum Vorrang der Nichteinleitung/Einstellung eines Verfahrens aus Legalitätsgründen: Teil 2 § 1 D. 171 In ihrem Arbeitspapier erwähnt die Kommission allein einen Fall parallelen/nachgeschalteten Vorgehens des BKartA. Die Kommission ahndete 2009 das Marktaufteilungskartell Leistungstransformatoren (IP/09/1432), in dessen Zusammenhang das BKartA ebenfalls ein verwandtes, jedoch separates Verfahren eröffnete. Vgl. Kommission, Arbeitspapier 2009, Rn. 218. Das BKartA untersuchte langfristige exklusive Konzessionsverträge in Bezug auf Brandmeldeanlagen zwischen Gebietskörperschaften und (häufig) Siemens oder Bosch, vgl. TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 110. 172 Inwieweit das Verfolgungsermessen aus anderem Grund eingeschränkt sein könnte, wird in Teil 2 § 3 B. (S. 111 ff.) beleuchtet. 173 Vgl. Beispiel 5 in Rn. 14 der Netzwerkbekanntmachung.

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lichung der nationalen Verfahrensordnungen bezweckt war,174 wurde gerade die durch die parallele Zuständigkeit der Kartellbehörden begründeten Unregelmäßigkeiten der nationalen Verfahrensrechte und das Risiko uneinheitlicher Verfolgung in Kauf genommen. Selbst wenn die Kommission also ein kartellrechtswidriges Verhalten für ahndungswürdig hält, schafft Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 keine rechtliche Verbindlichkeit dieser Einschätzung. Gleichwohl ist wohl auch in der Situation, in der die Kommission von einer umfassenden Beurteilung zugunsten einzelner nationaler Kartellverfahren absieht, von einer faktischen Bindung des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes auszugehen. So erscheint es sehr wahrscheinlich, dass sich das Bundeskartellamt schon angesichts des Revokationsrechts gemäß Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 bemühen wird, im relativen Gleichlauf zu Entscheidungen der Kommission zu handeln. III. Zusammenfassung Die europäische Kartellrechtspraxis entfaltet nur in wenigen Einzelfällen eine unmittelbar rechtliche Schranke für die Ausübung des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes. Insbesondere sind Kommissionsentscheidungen und Mitteilungen gegenüber dem Bundeskartellamt nicht verbindlich.175 Allerdings schließt die Einleitung eines Bußgeldverfahrens bzw. die Ausübung des Revokationsrechts durch die Kommission gemäß Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 zum einen ein weiteres Tätigwerden des Bundeskartellamtes solange aus, wie die Kommission den Fall bearbeitet. Das Verfolgungsermessen des Amtes reduziert sich in diesen Fällen also auf null, indem es verpflichtet ist, von der Einleitung eines Bußgeldverfahrens abzusehen bzw. ein solches wieder einzustellen. Wenn sich das Bundeskartellamt nach Abschluss des Kommissionsverfahrens, welches eine grenzüberschreitende Zuwiderhandlung unter Ausklammerung des deutschen Marktes zum Gegenstand hatte, dazu entschließt ein auf den deutschen Markt begrenztes Bußgeldverfahren wegen desselben Falls einzuleiten, kann es zum anderen gemäß Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 nicht zu der Feststellung gelangen, dass keine oder eine freistellungsfähige Zuwiderhandlung nach Art. 101 AEUV gegeben ist, wenn die Kommission in ihrer abschließenden Entscheidung zu dem gegenteiligen Ergebnis gekommen ist. Allerdings bleiben ihm sämtliche Handlungsalternativen grundsätzlich offen. Insbesondere kann es das Bußgeldverfahren aus Opportunitätsgründen wieder einstellen. Allerdings wird das Bundeskartellamt in Ausübung seines Verfolgungsermessens wohl relativ stark faktisch beeinflusst. 174 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EGVertrag“) v. 27.9.2000, KOM(2000) 582 endg., 2000/0243 (CNS), S. 14. 175 Vgl. dazu noch die vertieften Ausführungen zur de minimis-Bekanntmachung in Teil 2 § 4 B. I. 3. b) (S. 164 ff.).

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Die Kooperations- und Loyalitätspflichten innerhalb des ECN führen dazu, dass das Bundeskartellamt die Verfolgung von Kartellen mit unionsweiter Bedeutung mit den übrigen europäischen Kartellbehörden abstimmen muss, sodass eine von den Interessen der anderen Netzmitglieder losgelöste Ermessensentscheidung kaum möglich erscheint. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass das Bundeskartellamt bei Fällen, welche von mehreren Kartellbehörden in das Netz eingestellt wurden, im eigenen Interesse an einer kooperativen Zusammenarbeit Entscheidungen des ECN akzeptiert, wonach eine andere Kartellbehörde zur Bearbeitung eines Falls besser geeignet ist und das eigene Bußgeldverfahren gegebenenfalls einstellen. Ferner führt das Revokationsrecht der Kommission zu faktischem Druck. Die stetig drohende Möglichkeit des Verfahrensentzugs hält das Bundeskartellamt praktisch dazu an, sein Verfolgungsermessen entsprechend der Kartellrechtspraxis der Kommission auszuüben.

B. Ermessensbindung an den Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG Staatliches Verwalten außerhalb gesetzlich exakt vorgeschriebener Rechtsfolgen hat sich stets am gesetzlich vorgezeichneten Zweck und den an die Verwaltung delegierten Arbeitsaufträgen zu orientieren.176 Dies gilt uneingeschränkt auch im (Kartell-)Bußgeldverfahren, in dem es der Verfolgungsbehörde obliegt, im konkreten Rechtsverhältnis zwischen Staat und Bürger dem Gesetz und der Gerechtigkeit Geltung zu verschaffen.177 Insofern stellt sich bei § 47 Abs. 1 OWiG jedoch das Problem, dass die Vorschrift keine Zweckbestimmung aufweist. Vielmehr hat es der Gesetzgeber der rechtsanwendenden Behörde übertragen, zunächst die gesetzgeberischen Ziele zu bestimmen. I. § 47 Abs. 1 OWiG als verfahrensrechtliche Konsequenz des gesetzgeberischen Verständnisses von einem typisierten materiellen Bagatell-Ordnungswidrigkeitenrecht Die Bedeutung und der Zweck des der Behörde bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten eingeräumten Verfolgungsermessens lässt sich nur erschließen, wenn § 47 Abs. 1 OWiG innerhalb des Normgefüges mit dem materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht, dem materiellen Strafrecht, dem Strafverfahrensrecht und dem Verfassungsrecht betrachtet wird. Das Bußgeldverfahren dient der Durchsetzung materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts und führt damit gleichsam die vom Gesetzgeber mit seiner Kodifikation verfolgten Zwecke fort. Das Bußgeldverfahren wird wiederum durch die Anwendung von Verfahrensvorschriften verwirklicht, die im Idealfall diesen gesetzgeberischen Zielen unter Berücksichti176

Teil 1 § 1 C. I. (S. 45 ff.). Teil 1 § 2 A. II. 3. (S. 66 ff.) und Teil 1 § 3 (S. 71 ff.); ebenso schon: Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 109. 177

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gung elementarer verfassungsrechtlicher Prinzipien und Grundrechte gerecht werden. Als „kleine Schwester“ des materiellen Strafrechts im engen Sinne verfolgt das materielle Ordnungswidrigkeitenrecht vornehmlich den gleichen Zweck, nämlich Rechtsgüterschutz.178 Während es jedoch Hauptanliegen des Kernstrafrechts ist, den Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter sicherzustellen,179 soll das materielle Ordnungswidrigkeitenrecht nach der gesetzlichen Grundkonzeption „nur“ ein Ordnungsgefüge zweiten Ranges bewahren, das (zumindest aus Sicht des Gesetzgebers) nicht die Qualität elementarer Rechtsgüter erreicht.180 Nichtsdestotrotz werden diese Rechtsgüter von Seiten des Gesetzgebers als unerlässlich für ein friedliches und rücksichtsvolles Zusammenleben der Gesellschaft und mithin als schützenswert angesehen, was er durch das Aufstellen bestimmter Ge- und Verbote unter Androhung von Geldbußen zum Ausdruck bringt. Wenn das Ordnungswidrigkeitenrecht also wie das materielle Strafrecht Rechtsgüterschutz bezweckt, wäre es dem Gesetzgeber möglich gewesen der Verwaltung eine Pflicht zur Verfolgung vermuteter Ordnungswidrigkeiten durch Schaffung einer gebundenen Rechtsnorm aufzuerlegen. Die Gründe, die den Gesetzgeber letztlich von einer Verfolgungspflicht absehen ließen, machen zugleich deutlich, welche Ziele er mit der umfassenden Geltung des Opportunitätsprinzips im Ordnungswidrigkeitenrecht verfolgte. 1. Die Legitimation des Legalitätsprinzips im Strafverfahren

Für das Strafverfahren wird das Legalitätsprinzip unter Berücksichtigung des Verfassungsrechts als notwendige Voraussetzung zur Umsetzung der mit dem materiellen Strafrecht verfolgten Zwecke angesehen. Es verkörpert zunächst den verfassungsrechtlich aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbaren Handlungsauftrag an die staatlich organisierte Anklagebehörde, jede Straftat im Sinne einer effektiven und gleichen Durchsetzung materiellen Rechts zu verfolgen181 und auf diese Weise dem staatlichen Strafanspruch gerecht zu werden.182 Wenn nämlich der 178 Mitsch, OWiR, § 3 Rn. 9; krit. zur Entwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts vom präventiven Verwaltungszwangsrecht hin zum Rechtsgüter schützenden, repressiven Sanktionsrecht Weber, ZStW 92 (1980), S. 313 ff. (315 ff.) 179 H.M., vgl. nur BVerfG, Urt. v. 25.5.1993, Az. 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/ 92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203 (288), Rn. 175, 210, 279 (juris); Hassemer/Neumann, in: NK/StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 109 ff.; Lackner/Kühl, StGB, § 13 Rn. 4; Roxin, StrafR AT I, § 2 Rn. 2 ff. 180 BVerfG, Beschl. v. 4.2.1959, Az. 1 BvR 197/53, BVerfGE 9, 167 (172), Rn. 17 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.8.1982, Az. 5 Ss(OWi) 333/82, -259/82 I, JMBl. NW 1983, 65; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 7. 181 H.M., vgl. nur Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 3; Hassemer, in: Ostendorf, Strafverfolgung und Strafverzicht, S. 529 ff. (530); Vogel, NJW 1978, S. 1217 ff. (1218). 182 Pfeiffer, StPO, § 152 Rn. 1c.

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Schutz hochwertiger Rechtsgüter im Mittelpunkt materiellen Strafrechts steht und der Strafprozess der Verwirklichung materiellen Strafrechts dient,183 handelt der Gesetzgeber nur widerspruchsfrei, wenn strafwürdiges Verhalten regelmäßig auch staatliche Verfolgung und Strafe auslöst.184 Neben dem auf die absoluten Straftheorien Kants und Hegels zurückgehenden Gedanken der Verwirklichung materiellen Rechts, verfolgt das Legalitätsprinzip nach heute herrschender Meinung darüber hinaus zwei Ziele. Zum einen bildet es das notwendige Korrelat zum Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft.185 Da der Gesetzgeber dem Geschädigten zur Sicherung des Rechtsfriedens sowohl die Möglichkeit zur Selbsthilfe186 als auch – mit Ausnahme der Privatklage – die Möglichkeit zur eigenen Klageerhebung im Strafprozess abgeschnitten hat, ist der Staat verpflichtet, dem Geschädigten quasi zum Ausgleich die Institution des Strafprozesses und entsprechende Verfahrensordnungen zur Verfügung zu stellen.187 Zum anderen führt die regelmäßige Verfolgungspflicht der Staatsanwaltschaft zur Gleichbehandlung aller Täter, ohne Rücksicht auf deren Ansehen oder deren Herkunft.188 Das Legalitätsprinzip garantiert mithin Gerechtigkeit, die Durchsetzung des Willkürverbots und des Rechtsfriedens. 2. Der qualitativ-quantitative Unterschied der Ordnungswidrigkeit als Rechtfertigung für das Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren

Im Vergleich zur Straftat kennzeichnet die Ordnungswidrigkeit nach heute herrschendem, gemischt qualitativ-quantitativem Verständnis ein geringerer Unrechtsgehalt, der sich erst wechselseitig aus dem Tatbestand und der „Strafhöhe“ 183 Ganz h. M., vgl. nur Hassemer, in: Ostendorf, Strafverfolgung und Strafverzicht, S. 529 ff. (530); Hassemer/Neumann, in: NK/StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 199 f.; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 3. 184 Rieß, NStZ 1981, S. 2 ff. (5). 185 BGH, Urt. v. 23.9.1960, Az. 3 StR 28/60, BGHSt 15, 155 (159), Rn. 11 (juris); Pfeiffer/Hannich, in: KK/StPO, Einleitung Rn. 5; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 152 Rn. 12; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 17; Meyer-Goßner, StPO, § 152 Rn. 2; zur Dogmatik des Opferschutzes auch: Kilchling, NStZ 2002, S. 57 ff. 186 Mit wenigen gesetzlich explizit geregelten Ausnahmen, wie etwa §§ 229, 230 BGB. 187 Dass das Strafverfahren auch die Interessen Verletzter schützt und nicht allein öffentlichen Interessen dient, ergibt sich neben der Existenz des Klageerzwingungsverfahrens gem. §§ 172 ff. StPO bereits aus der Möglichkeit der Privat- und Nebenklage (§§ 374 ff., 395 ff. StPO), dem Täter-Opfer-Ausgleich gem. § 46a StGB und § 155a StPO und den allgemeinen Beteiligungs- und Informationsrechten der Verletzten gem. §§ 406d ff. StPO. Vgl. etwa Rieß, in: LR/StPO Bd. 3, 25. Aufl., § 172 Rn. 2, 52; Vogel, NJW 1996, S. 3401 ff.; Pfeiffer/Hannich, in: KK/StPO, Einleitung Rn. 22 f. 188 BGH, Urt. v. 23.9.1960, Az. 3 StR 28/60, BGHSt 15, 155 (158), Rn. 11 (juris); BVerfG, Beschl. v. 23.7.1982, Az. 2 BvR 8/82, NStZ 1982, 430; Urt. v. 5.8.1966, Az. 1 BvR 586/62, 1 BvR 610/63, 1 BvR 512/64 – Spiegel-Urteil, NJW 1966, 1603 (1615), Rn. 144 (juris); Weigend, ZStW 109 (1997), S. 103 ff. (114 ff.); Rieß, NStZ 1981, S. 2 ff. (5); Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 17.

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herleiten lasse.189 Die Strafhöhe richte sich nach dem normativ festgelegten Wert des verletzten Rechtsgutes und der Schuld des Täters. Gleichzeitig lasse sich der in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt gesetzwidrigen Verhaltens in aller Regel erst der konkret angedrohten Strafhöhe entnehmen. Die gesetzliche Sanktionsandrohung ist dementsprechend für die Charakterisierung von Straftatbeständen und Ordnungswidrigkeiten von entscheidender Bedeutung.190 Mehr noch ist sie nach heutigem Verständnis gerade in Randbereichen zur Straftat, in denen nicht (mehr) mit eindeutiger Sicherheit der sozialethische Unwertgehalt einer rechtswidrigen Tat verneint werden kann oder aber sich eine evident negative Bewertung erst anhand von Spezialwissen ergibt, der einzig sichere Garant für einen (dann quantitativen) Wesensunterschied zwischen der Ordnungswidrigkeit und der Straftat.191 Bei der Installation des § 47 Abs. 1 OWiG in der bis heute unverändert gebliebenen Form mit dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24. März 1968192 ist der Gesetzgeber demgegenüber von einem rein qualitativen Wesensunterschied zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat ausgegangen. Mehr noch war es gerade Zweck der Reformierung des OWiG, die im OWiG 1952193 seinerzeit begründete Grundsatzentscheidung für eine möglichst klare Trennung zwischen bloß ordnungswidrigen und ethisch verwerflichen Verhaltensweisen in vollem Umfang zu bekräftigen.194 Unter dem Eindruck massenhafter Straßenverkehrsdelikte sollte die Polizei bei „Bagatellunrecht“ nicht demselben Verfolgungszwang ausgesetzt sein, wie bei Straftaten, da die Durchsetzbarkeit des Legalitätsprinzips in diesem Bereich seit längerer Zeit ohnehin „reine Fiktion“ gewesen sei.195 Diese an dem typisierenden Bild der Ordnungswidrigkeit als Bagatellkriminalität orientierte, gesetzgeberische Wertung hat im Verfahrensrecht seine Entsprechung gefunden. Der Gesetzgeber verzichtete innerhalb des OWiG 1968 auf eine graduelle Abstufung des Unrechtsgehalts der Ordnungswidrigkeiten und schuf mit der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG im Verfahrensrecht ein einheitliches Entscheidungsprogramm für alle Ordnungswidrigkeiten, unabhängig von dem in ihren Tatbeständen jeweils abstrakt umschriebenen Unwert. Legt man dieses generalisierende Vorstellungsbild der Betrachtung des § 47 Abs. 1 OWiG zugrunde, erhellt sich, dass die inneren, verfassungsrechtlich gebotenen Gründe für das Lega189 BVerfG, Ents. v. 16.7.1969, Az. 2BvL 2/69, BVerfGE 27, 18 (29), Rn. 31 (juris); vgl. die vertiefenden Ausführungen in Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 190 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1969, Az. 1 BvL 15/68, 2 BvL 23/68 – Verfolgungsverjährung, BVerfGE 25, 269 (286), Rn. 78 (juris). 191 Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 192 BGBl. I S. 481, weiterhin gültig im Gesetz gegen Ordnungswidrigkeiten in der Fassung vom 26. Januar 1998, BGBl. I S. 164. 193 BGBl. I, S. 177. 194 Göhler, JZ 1968, S. 583 ff. (583). 195 Begr. BRegE, BT-Drs. V/1269, S. 132.

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litätsprinzip im Strafverfahren, nicht in dieser Schärfe im Ordnungswidrigkeitenrecht gelten, und damit zugleich, welchen Zweck der Gesetzgeber mit der Einräumung des Verfolgungsermessens verfolgt hat. a) Verwirklichung des Rechtsgüterschutzes und Rechtsfriedens Da das Ordnungswidrigkeitenrecht allein Rechtsgüter sekundärer Natur schützen soll, verhält sich der Gesetzgeber nicht zwangsläufig widersprüchlich, wenn er dessen Verfolgung nicht strikt anordnet. Vielmehr muss der Gesetzgeber das Verhältnismäßigkeitsgebot beachten. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Legalitätsprinzips führt nämlich zwangsläufig zu seiner Relativierung, da der Gesetzgeber verpflichtet wird, konkurrierende Prinzipien in Abwägung zu bringen.196 So können es der geringere Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeit und die nachrangige Wertigkeit des durch ihren Tatbestand geschützten Rechtsguts rechtfertigen, eine rechtswidrige Tat nicht zu ahnden, sondern mildere Mittel, wie etwa eine Verwarnung, zu ergreifen. Dann mag zwar die generalpräventive Wirkung des Ordnungswidrigkeitenrechts geringer ausfallen. Die einzelfallgerechte Behandlung des Täters kann jedoch dessen Rechtsbewusstsein zu stärken, was wiederum zu einer Verstärkung der spezialpräventiven Wirkung des Ordnungswidrigkeitenrechts führt. Im Ergebnis kann damit nichtsdestotrotz dem Rechtsfrieden und dem effektiven Rechtsgüterschutz Genüge getan werden. b) Kein notwendiges Korrelat zur Versagung eines Justizgewährungsanspruchs Grundsätzlich hat der Bürger, dem es aufgrund des Gewaltmonopols des Staates versagt ist, seine Rechte mit physischer Gewalt durchzusetzen, als Ausgleich für seine Akzeptanz der Friedenspflicht einen Anspruch auf staatlichen Rechtsschutz, der aus der Justizgewährungspflicht des Staates folgt, sofern das Rechtsschutzinteresse aus einem subjektiv-öffentlichen Recht resultiert.197 Ein solches kann sich bei individuellen Rechtspositionen bereits aus den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates ergeben.198 Danach schuldet der Staat geeignete 196

Rieß, NStZ 1981, S. 2 ff. (5). Vgl. nur Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 16 ff. 198 Aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte folgt, dass diese nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat begründen, sondern darüber hinaus die staatlichen Organe verpflichten, sich schützend und fördernd vor die genannten Rechtsgüter zu stellen und sie vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren. Grundlegend dazu: BVerfG, Urt. v. 25.2.1975, Az. 1 BvF 1 bis 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1 (41 f.), Rn. 151 ff. (juris); Urt. v. 16.10.1977, Az. 1 BvQ 5/77 – Schleyer, BVerfGE 46, 160 (164), Rn. 13 (juris); Beschl. v. 8.8.1978, Az. 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89 (142), Rn. 114 ff. (juris); Beschl. v. 20.12.1979, Az. 1 BvR 385/77 – Mühlheim Kärlich, BVerfGE 53, 30 (57), Rn. 53 (juris); aus neuerer Zeit etwa: Urt. v. 1.12.2009, Az. 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07 – Berliner Ladenöffnungs197

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Maßnahmen, um private Eingriffe Dritter in das betreffende Grundrecht abzuwehren und vorzubeugen.199 Effektiver Grundrechtsschutz kann wiederum auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Daher ist den Staatsorganen grundsätzlich ein Handlungsspielraum eingeräumt,200 der sich nur dann ausnahmsweise auf null reduziert, wenn lediglich ein verfassungsmäßiger Weg offen steht. Einen solchen Sonderfall hat das BVerfG in seinen Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch angenommen und dem Leben als Rechtsgut elementaren Rangs die gesetzgeberische Pflicht entnommen, den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe zu stellen.201 Abgesehen von diesem und vergleichbar sensiblen Fällen begründen grundrechtliche Schutzpflichten indes nicht notwendigerweise die Pflicht des Gesetzgebers, Gesetzesübertretungen uneingeschränkt der Verfolgung durch die Justiz (oder Verwaltung) zuzuführen, sofern der Grundrechtsträger getreu dem Übermaßverbot durch nicht-strafrechtliche, mildere Mittel vor Rechtsverlust geschützt und der soziale Frieden wiederhergestellt werden kann.202 Zwar sind dem Geschädigten im Ordnungswidrigkeitenrecht203 justizförmige Rechtsbehelfe abgeschnitten.204 Allerdings erscheint die pflichtige Gewährung einer Gezeiten, NVwZ 2010, 570 (572), Rn. 134 (juris) m.w. N. Die Literatur hat sich der Rechtsprechung weitestgehend angeschlossen, vgl. statt vieler Isensee, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 111 Rn. 82; ferner zu dem daraus entstehenden mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnis zwischen Staat, Störer und Geschädigtem vertiefend Calliess, JZ 2006, S. 321 ff.; krit. lediglich die Vertreter der sogenannten „etatistischen Konvergenztheorie“, insb. dessen Begründer Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971; Murswiek, NVwZ 1986, S. 611 ff. (612). 199 Calliess, JZ 2006, S. 321 ff. (328); Klein, NJW 1989, S. 1633 ff. (1637). 200 BVerfG, Beschl. v. 29.10.1987, Az. 2 BvR 624/83, 2 BvR 1080/83, 2 BvR 2029/ 83 – C-Waffen-Einsatz, BVerfGE 77, 215 (229), Ls. 2.1, Rn. 133 (juris); Beschl. v. 26.1. 1988, Az. 1 BvR 1561/82 – Zwischenlager Gorleben, BVerfGE 77, 381 (405), Rn. 75 (juris); Urt. v. 1.12.2009, Az. 1 BvR 2857/07, 1 BvR 2858/07 – Berliner Ladenöffnungszeiten, NVwZ 2010, 570 (572), Rn. 135 (juris). 201 BVerfG, Urt. v. 25.2.1975, Az. 1 BvF 1 bis 6/74 – Schwangerschaftsabbruch I, BVerfGE 39, 1 (41 ff., 44, 47), Rn. 151 ff. (juris); Urt. v. 25.5.1993, Az. 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92 – Schwangerschaftsabbruch II, BVerfGE 88, 203 (254, 257 f.), Rn. 175 ff., 209 ff. (juris). 202 Dies entspricht im Ausgangspunkt der heutigen allg. M. Zum Subsidiaritätsprinzip bzw. ultima ratio-Prinzip, dem strafrechtlichen Korrelat des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips in seiner besonderen Ausformung des Übermaßverbots grdl.: Kaufmann, in: Roxin, Grundfragen der gesamten Strafrechtswissenschaft, S. 89 ff. (93); Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, S. 40; ferner etwa: Appel, Verfassung und Strafe, S. 414; Hassemer/Neumann, in: NK/StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 27; krit. Jakobs, Strafrecht, Allgemeiner Teil, S. 48 f.; Lackner/Kühl, StGB, Vor § 13 Rn. 3. 203 Auch das Ordnungswidrigkeitenrecht schützt (jedenfalls zum Teil) auch individuelle Interessen, was etwa § 117 Abs. 1 OWiG, aber auch die zahlreichen Tatbestände der StVG deutlich offenbaren, die nicht allein der Allgemeinheit dienen, sondern auch den Schutz der Gesundheit, des Eigentums und des Lebens anderer im Sinn haben. Vgl. Mitsch, OWiR, § 9; Roxin, StrafR AT I, § 2 Rn. 50; a. A. Thieß, OWiR, Rn. 85 f., 383 mit Verweis auf den Charakter der Ordnungswidrigkeit als bloßes Verwaltungsunrecht. 204 Vgl. bereits die Ausführungen in: Teil 1 § 2 B. IV. (S. 71 ff.).

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nugtuung für die durch eine Ordnungswidrigkeit Geschädigten angesichts des sekundären Rangs des Rechtsguts und des regelmäßig geringeren Unrechts der Tat nicht derart zwingend wie im Strafverfahren. Zum einen wird bei Bagatell-Ordnungswidrigkeiten schon in der Mehrzahl der Fälle kein oder nur ein oberflächlicher Wunsch nach Vergeltung aufkommen. Zum anderen ist das Interesse der Geschädigten an Vergeltung nur dann anerkennenswert, wenn es mit anderen verfassungsmäßigen Grundsätzen vereinbar ist. Im Ordnungswidrigkeitenrecht steht dem Interesse des Geschädigten vor allem das Interesse der Allgemeinheit an der Effektivität der Verwaltung gegenüber. Müssten massenhaft auftretende Bagatelldelikte stets mit einem Ermittlungsverfahren verfolgt werden, wäre die Verfolgungsbehörde auf Dauer nicht leistungsfähig und würde zwangsläufig andere Aufgaben vernachlässigen.205 Unter Berücksichtigung des „geringeren“ Werts des Rechtsguts und der Art der Ordnungswidrigkeit als Bagatellunrecht kann der Vergeltungswunsch Geschädigter nicht die gleiche Anerkennung verdienen wie etwa im Strafverfahren. Daher muss das individuelle Interesse an Verfolgung im Interesse aller zurücktreten. c) Keine Ungleichbehandlung bei Ausübung pflichtgemäßen Ermessens Der allgemeine Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, der eng mit dem Rechtsstaatsprinzip in Verbindung steht, gebietet, dass vergleichbares Unrecht begehende Täter grundsätzlich gleich behandelt werden. Für das Sanktionsrecht bedeutet dies, dass der Gesetzgeber zur Normierung des Legalitätsprinzips ausnahmslos dort verpflichtet ist, wo er jedenfalls nicht über den Schutzpflichtumfang zugunsten elementarer Rechtsgüter disponieren kann.206 In allen anderen Fällen obliegt es jedoch seinem Gestaltungsermessen, eine adäquate Lösung zu finden, um eine gleichheitswahrende Entscheidung der Verfolgungsbehörde sicherzustellen. Da das Ordnungswidrigkeitenrecht jedenfalls nach Auffassung des Gesetzgebers keine elementar wichtigen Rechtsgüter schützt, konnte er aus materiellen Gründen, insbesondere in Abwägung mit anderen rechtsstaatlichen Grundsätzen, zu dem Ergebnis gelangen, dass eine zwingende Verfolgung von Gesetzesüberschreitung nicht durch den allgemeinen Gleichheitssatz geboten ist. Die Gleichbehandlung aller Täter hat er stattdessen sichergestellt, indem er die Verfolgungsbehörden an die Pflichtgemäßheit der Ermessensausübung gebunden hat. d) Überwiegendes Interesse der Effektivität und Wirtschaftlichkeit als Leitbild des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren Wie aufgezeigt, war der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen also nicht verpflichtet, den Verfolgungsbehörden von Ordnungswidrigkeiten eine Ver205 206

Zur Effektivität der Verwaltung sogleich noch in: Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.). So schon Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 71.

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folgungspflicht aufzuerlegen. Es bleibt daher zu beleuchten, welche Vorteile er sich von der Einräumung pflichtgemäßen Ermessens versprochen hat. Zu Beginn der Arbeit wurde im Hinblick auf die Ermessenseinräumung im Verwaltungsrecht darauf hingewiesen, dass seine Bedeutung im Wesentlichen in der Durchsetzung der Einzelfallgerechtigkeit besteht.207 Dies lässt sich jedoch nicht eins zu eins auf das Ordnungswidrigkeitenrecht übertragen. Vielmehr erscheint es einem Betroffenen subjektiv wohl eher ungerecht, wenn gegen ihn ein Verfahren eröffnet wird, obwohl ein anderer Täter wegen eines vergleichbaren Delikts von einer Geldbuße verschont wurde. Der innere Grund für die Einführung des Opportunitätsprinzips ist indes ein ebenso simpler wie offensichtlicher: Im Ordnungswidrigkeitenrecht stieße die Geltung des Legalitätsprinzips auf unüberwindliche praktische Hindernisse. Müssten die Verfolgungsbehörden jeder alltäglich begangenen Ordnungswidrigkeit nachgehen, würde der gesamte Verwaltungsapparat angesichts der Vielzahl auftretender Bagatelldelikte auf Dauer gelähmt. In der Konsequenz würden weit weniger Ordnungsverstöße tatsächlich aufgeklärt, als dies bei der Fokussierung auf einzelne Ordnungswidrigkeiten möglich ist.208 Hinzu kommt ein weiteres Problem: Der mit dem Verfahrensrecht verfolgte Zweck, dem materiellen Recht die größtmögliche Geltung zu verschaffen, indem die stets zu befürchtende Verfolgung zur Prävention von Gesetzesverstößen beiträgt, würde ins Gegenteil verkehrt. Die Verfolgungsbehörde wäre permanent gezwungen, bestimmte Ordnungswidrigkeiten zugunsten anderer nicht zu verfolgen. Damit wäre sie zwar aus Gründen der Pflichtenkollision gerechtfertigt; das Legalitätsprinzip würde allerdings unterlaufen und in der Bevölkerung müsste sich die Verfolgungsbehörde den Vorwurf der Unehrlichkeit mit der Folge nachlassender Normentreue gefallen lassen.209 Im Ergebnis ging der Gesetzgeber daher wohl davon aus, dass die punktuelle Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten dem bezweckten Rechtsgüterschutz und der Friedenssicherung eher gerecht wird.210 Eng mit der Effektivität,211 also Schlagkraft der Verfolgung verbunden ist zudem die Wirtschaftlichkeit bzw. Effizienz212 staatlichen Handelns. Zwar erwähnt 207

Vgl. Teil 1 § 1 A. (S. 40 ff.). Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 85; Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 3. 209 Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4. 210 Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 3, 17 („Verfolgung nach Schwerpunkten“). 211 Unter Effektivität wird überwiegend die Relation zwischen vorgegebener Aufgabe und tatsächlicher Wirkung der Maßnahmen verstanden. Vgl. Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, S. 11 ff. (16 ff.); Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, S. 245 ff. (246 ff.); Gröpl, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 121 Rn. 14 m.w. N. 212 Im juristischen Kontext bedarf es der überwiegenden Auffassung zufolge keiner Unterscheidung zwischen den Begriffen. Hierzu und zur Interpretation der Wirtschaftlichkeit: Gröpl, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 121 Rn. 13. 208

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das Grundgesetz den Begriff der Wirtschaftlichkeit in Art. 114 Abs. 2 S. 1 GG allein als Maßstab für die Prüfung der Haushalts- und Wirtschaftsführung durch den Bundesrechnungshof. In der Literatur wird der Maßstab des Art. 114 GG indes über seinen ausdrücklichen Wortlaut als allgemeines, verfassungsrechtliches Prinzip verstanden, das staatliches Handeln einer Kosten-Nutzen-Analyse im Sinne ökonomischer Effizienz unterwirft.213 Wenngleich es mitunter schwierig sein mag, staatliche Ziele mit ökonomischen Werten zu beschreiben, ergibt sich bereits aus Art. 114 Abs. 2 GG, dass staatliche Ziele jedenfalls mit einem Minimalaufwand zu verfolgen sind, da der Bundesrechnungshof gerade an diesem Maßstab kontrolliert.214 Jedenfalls rechtfertigt der Maßstab der Wirtschaftlichkeit die Abkehr vom Legalitätsprinzip im Ordnungswidrigkeitenrecht. Versteht man nämlich unter Wirtschaftlichkeit eine optimale Zweck-Mittel-Relation, sind staatliche Maßnahmen nur sinnvoll, wenn die Bedeutung der durch sie verfolgten Ziele für das Gemeinwohl nicht außer Verhältnis zu dem eingesetzten Organisations-, Personal- und Finanzaufwand steht, die Ziele also insbesondere nicht durch gleich oder besser geeignete Maßnahmen mit geringerem Aufwand erreicht werden können.215 Nichts anderes dient letztlich der Effektivität der Verwaltung, die bei unverhältnismäßigem Aufwand andere Aufgaben vernachlässigen müsste. Das Prinzip der Wirtschaftlichkeit ist daher eng mit der Frage der Leistungsfähigkeit der Verfolgungsbehörden und der Möglichkeit die gesetzgeberischen Ziele zu verwirklichen gekoppelt.216 Wie gezeigt, offenbart das Legalitätsprinzip gerade im Ordnungswidrigkeitenrecht eine eindeutige Schwäche, da es den Verwaltungsapparat und die Justiz auf Dauer lähmen würde. Ein höherer finanzieller Aufwand durch die Ausdehnung von Personal- und Sachmittelkapazitäten wäre indes angesichts des im Vergleich zum Strafrecht geringeren Werts der geschützten Rechtsgüter fragwürdig. Jedenfalls ist das Ziel nachhaltigen Rechtsgüterschutzes auch erreichbar, wenn die Verfolgung in das pflichtgemäße, ressourcenschonende Ermessen der Behörde gestellt ist.

213 Von Armin, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, passim, insb. S. 71 ff.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, S. 11 ff. (19 ff.); Gröpl, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, § 121 Rn. 17 ff.; krit. Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 114 Rn. 104. 214 Das geben auch die Kritiker des verfassungsrechtlichen Prinzips des Wirtschaftlichkeit zu, vgl. Kube, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 114 Rn. 104. 215 Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, S. 245 ff. (246 f.); von Mutius, NJW 1982, S. 2150 ff. (2151); von Armin, Wirtschaftlichkeit als Rechtsprinzip, S. 21. 216 Die enge Bindung offenbart jedoch zugleich, dass die Annahme eines selbstständigen Wirtschaftlichkeitsprinzips eher fraglich ist. Gröpl attestiert dem Institut daher inhaltsleer zu sein, vgl. Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, S. 288 ff.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes 3. Ergebnis: Die Bedeutung des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren

Ausgehend von dem Leitbild, das der Gesetzgeber 1968 bei der Schaffung des § 47 Abs. 1 OWiG vor Augen hatte, ist die uneingeschränkte Geltung des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren gerechtfertigt und sachgerecht. Qualifiziert man die Ordnungswidrigkeit als qualitatives aliud zur sozialethisch vorwerfbaren und missbilligenden Straftat, können die das Legalitätsprinzip im Strafverfahren rechtfertigenden Gründe im Bußgeldverfahren nicht in der gleichen Weise einen Zwang zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten auslösen. Gleichwohl dient das Bußgeldverfahren wie das Strafverfahren der Durchsetzung effektiven Rechtsgüterschutzes. Der Gesetzgeber bezweckte mit der Regelung des § 47 Abs. 1 OWiG, dass die zuständige Verfolgungsbehörde durch die Ermessensausübung dem materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht, unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen Rechte der Betroffenen, auf ökonomisch vertretbare Art und Weise, die größtmögliche Geltung verschafft. Die Verfolgungsbehörde hat daher im konkreten Einzelfall zu prüfen, inwieweit die Einleitung eines Bußgeldverfahrens und dessen Abschluss in Form eines Bußgelderlasses geeignet, erforderlich und angemessen sind, um den absoluten Geltungsanspruch des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts Ausdruck zu verleihen und ihr Ergebnis anhand des organisatorischen, finanziellen und zeitlichen Aufwand, der mit der Verfolgung verbunden ist, zu überprüfen. II. Intendiertes Verfolgungsermessen? In der Literatur wird demgegenüber vertreten, dass § 47 Abs. 1 OWiG entgegen dem soeben gefundenen Ergebnis generell als Soll-Vorschrift zu interpretieren sei.217 Indem der Gesetzgeber einen materiellen Bußgeldtatbestand schaffe, missbillige er das beschriebene Verhalten und verlange damit als Regel die Ahndung. Die Nicht-Verfolgung bedürfe als Ausnahme von dieser Regel einer Rechtfertigung, da die Verwaltung grundsätzlich dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG unterworfen sei.218 Nähme man hingegen die Geltung „absoluter“ Opportunität an, gründete eine Entscheidung auf Willkür, wenn die Verfolgungsbehörde ahndet, obwohl sie es nicht muss. Der Gesetzgeber könne daher nicht die Einräumung „opportunistischer Opportunität“ gewollt haben, die den Verfolgungsbehörden bei verwirklichtem Tatbestand eine Wahlfreiheit ohne jede Präferenz einräumt.219 217 Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 143 ff.; ihm folgend Thieß, OWiR, Rn. 372 ff., insb. 382. 218 Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 149; Thieß, OWiR, Rn. 382. 219 Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 148.

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Zwar lässt sich dieser Auffassung bereits entgegenhalten,220 dass die Verfolgungsbehörden auch bei Ausübung des Verfolgungsermessens über den Pflichtmäßigkeitsvorbehalt an Recht und Gesetz gemäß Art. 20 Abs. 3 GG gebunden sind, sodass willkürliches Handeln im Sinne subjektiver Beliebigkeit, ohne Beachtung der gesetzgeberischen Präferenzen de lege lata ausgeschlossen ist.221 Allerdings greift sie einen an dieser Stelle nicht zu verschweigenden Gedanken auf, den die Rechtsprechung im allgemeinen Verwaltungsrecht zu dem Rechtsinstitut des intendierten Ermessens weiterentwickelt hat. Danach zeichneten bestimmte Normen, gegebenenfalls in Zusammenschau mit übergeordneten Prinzipien, gewissermaßen die behördliche Ermessensbetätigung vor, da eine Auslegung der Ermessensnorm ergebe, dass der Gesetzgeber ein bestimmtes Ergebnis vom Grundsatz her gewollt habe.222 Dieses Ergebnis stehe dem Gesetz näher, sodass die Behörde nur in Ausnahmefällen davon abweichen könne. Da sich der Ermessensbegriff im Verwaltungsrecht jedenfalls im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive nicht grundlegend von demjenigen im Ordnungswidrigkeitenrecht unterscheidet,223 könnte § 47 Abs. 1 OWiG mit der vorstehenden Auffassung dahingehend auszulegen sein, dass die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten vom Gesetzgeber grundsätzlich intendiert sei. Die Rechtsfigur des intendierten Ermessens ist in der verwaltungsrechtlichen Literatur allerdings weithin nicht auf Gegenliebe gestoßen.224 Problematisch erscheint insbesondere die Abgrenzung zu den ebenfalls das Ermessen generell verengenden Sollvorschriften. Will der Gesetzgeber eine bestimmte Entscheidung vorzeichnen, so bedient er sich üblicherweise sprachlicher Zusätze, wie „im Regelfall“ bzw. „regelmäßig“ oder ordnet ausdrücklich an, dass die Behörde eine bestimmte Maßnahme treffen „soll“. Es ist angesichts einer Vielzahl existierender Sollvorschriften nicht recht einzusehen, dass der Gesetzgeber nicht in der Lage gewesen sein soll, seinen Willen mit diesen sprachlichen Feinheiten eindeu220

Die Auffassung wird weit überwiegend abgelehnt. Ausdrücklich: Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 2 (Fn. 3) m.w. N.; Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 88; inzident: BGH, Urt. v. 3.12.1998, Az. 1 StR 240/98, BGHSt 44, 258 (260), Rn. 8 ff. (juris); Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 6 f. 221 BVerfG, Ents. v. 3.2.1959, Az. 2 BvL 10/56 – Reuegeld, BVerfGE 9, 137 (147), Rn. 53 (juris). 222 BVerwG, Urt. v. 5.7.1985, Az. 8 C 22/83, BVerwGE 72, 1 (6), Rn. 22 (juris); Urt. v. 25.9.1992, Az. 8 C 68/90, 8 C 70/90, BVerwGE 91, 82 (90), Rn. 31 (juris); Urt. v. 16.6.1997, Az. 3 C 22/96, BVerwGE 105, 55 (57), Rn. 14 (juris); Urt. v. 3.3.2011, Az. 3 C 19/10, NVwZ 2011, 1193 (1196), Rn. 30 (juris). 223 Vgl. die vertiefte Darstellung in: Teil 1 § 2 A. II. 3. (S. 66 ff.). 224 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 12; Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 13; Volkmann, DÖV 1996, S. 282 ff. (284 ff.); Borowski, DVBl. 2000, S. 149 ff. (159 f.); Stickelbrock, Inhalt und Grenzen richterlichen Ermessens im Zivilprozess, S. 190 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 30; ablehnend wohl auch Brinktine, Verwaltungsermessen in Deutschland und England, S. 48; a. A. Rode, 40 VwVfG und die deutsche Ermessenslehre, S. 160 ff.

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tig Ausdruck zu verleihen.225 Es muss daher bezweifelt werden, dass es dem tatsächlichen Willen des Gesetzgebers entspricht, bestimmte Kann-Vorschriften generell in Soll-Vorschriften umzuinterpretieren.226 Dies dürfte jedenfalls der Methodenlehre der Rechtswissenschaft widersprechen, denn obgleich der Wortlaut einer Vorschrift zunächst nur der ersten Orientierung für ihre Auslegung dient, bildet er gleichermaßen die Grenze einer jeden Normauslegung.227 Setzen sich Exekutive und Judikative darüber hinweg und ignorieren damit den im Wortlaut der Vorschrift ausgedrückten Willen des Gesetzgebers, indem sie diesen durch ihre eigene Überzeugung ersetzen, okkupieren sie fremde Kompetenzen unter Verletzung des Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzips.228 Fehlt es an einer Offenlegung der gesetzgeberischen Absichten, lassen sich im Übrigen ohnehin kaum verbindliche Maßstäbe zur Abgrenzung intendierten, weniger intendierten und nicht intendierten Ermessens finden.229 Schwer fällt ferner ins Gewicht, dass die Ermessensentscheidung mit der Figur des intendierten Ermessens zu einer bloßen Subsumtion verkümmert. Die ursprünglich intendierte Einzelfallentscheidung wird nahezu obsolet. Angesichts dieser Bedenken und unter Berücksichtigung des aufgrund des qualitativen Verständnisses der Ordnungswidrigkeit als Bagatellunrecht überwiegenden Interesses an Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Verwaltung, wird man eine Übertragung des Rechtsinstituts des intendierten Ermessens in das Bußgeldverfahren ablehnen müssen. III. Generelle Ermessensreduktion bei schwerwiegenden Kartell-Ordnungswidrigkeiten In konsequenter Fortführung vorstehender Erwägungen müsste auch für das Kartell-Bußgeldverfahren im Besonderen angenommen werden, dass eine generelle Verpflichtung des Bundeskartellamtes zur Verfolgung jeglicher Wettbewerbsverstöße vom Gesetzgeber nicht intendiert ist, da dieser die Kartellverfolgung, obgleich ihm die Etablierung eines besonderen, dem Legalitätsprinzip unterworfenen Kartellverfahrensrecht zweifellos möglich war, dem § 47 Abs. 1 OWiG unterworfen hat. Mit der 7. GWB-Novelle bekräftigte er ferner nochmals seine Entscheidung für die Geltung des Opportunitätsprinzips im Kartell-Buß225 Borowski, DVBl. 2000, S. 149 ff. (159); ähnlich auch Peine, der die Grenzen zwischen Kann- und Soll-Vorschriften verwischt sieht, vgl. Peine, VerwR AT, Rn. 6. 226 Strenger Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 7 Rn. 12, der von einer klaren Missachtung des gesetzgeberischen Willens spricht. 227 Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 145, 187; zu strafrechtlichen Bestimmungen auch: BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105, 135 (152), Rn. 79 (juris) BGH, Beschl. v. 2.2.2006, Az. 4 StR 570/05, BGHSt 50, 370 (372), Rn. 8 (juris). 228 Dazu das jüngere Grundsatzurteil des BVerfG, Beschl. v. 25.1.2011, Az. 1 BvR 918/10 – nachehelicher Unterhalt Dreiteilungsmethode, NJW 2011, 836 (838), Rn. 53 (juris); Rüthers, NJW 2011, S. 1856 ff. 229 Volkmann, DÖV 1996, S. 282 ff. (287).

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geldverfahren, indem er das Bundeskartellamt mit der Einfügung des § 81 Abs. 7 GWB ausdrücklich dazu ermächtigte, ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften zu erlassen.230 Dieser gesetzgeberischen Entscheidung kann sich nicht durch die „Hintertür“ des intendierten Ermessens widersetzt werden. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes die gleiche Reichweite aufweist, wie jener von anderen, etwa für die Verfolgung von Bagatell-Ordnungswidrigkeiten zuständigen Behörden. Denn während beispielsweise ein Parkverstoß regelmäßig keine negativen Folgen für die Allgemeinheit zeitigt, können einige Wettbewerbsverstöße höchst sozialschädlich sein. Diese qualitative Unrechtsverschiedenheit der Ordnungswidrigkeiten könnte ein entscheidender Maßstab für die verfahrensrechtliche Durchsetzung materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts und damit gleichsam eine allgemeine, von der jeweiligen Verfolgungsbehörde zu beachtende Ermessensgrenze bilden. Ausgehend von einer Untersuchung bestehender Unrechtsdifferenzierungen im allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht soll daher im Folgenden geprüft werden, ob diese Rückschlüsse auf den Ermessenspielraum der Verfolgungsbehörden im Allgemeinen und des Bundeskartellamtes im Besonderen zulassen. 1. Unrechtsdifferenzierungen im allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht und ihre Auswirkungen auf den Ermessensspielraum der Verfolgungsbehörden

a) Die gesetzliche Typologie der materiellen Ordnungswidrigkeiten Zwar kennt das Ordnungswidrigkeitenrecht keine ausdrückliche, dem materiellen Strafrecht entsprechende, graduelle Unrechtsabstufung der einzelnen Ordnungsverstöße.231 Allerdings offenbart bereits die jahrelange Diskussion um das Wesen der Ordnungswidrigkeit und ihre Abgrenzung zur Straftat,232 dass sich Ordnungswidrigkeiten ihrem Unrechtsgehalt entsprechend klassifizieren lassen.233 So akzeptiert die herrschende Meinung, dass es im Randbereich zur Straftat rechtswidrige Verhaltensweisen gibt, die nicht mehr zweifellos als sozialethische Neutra qualifiziert werden können, jedoch durch eine gesetzgeberische Entscheidung als solche fingiert werden, während sich umgekehrt durchaus Ordnungswidrigkeiten ausmachen lassen, die einen Bagatellcharakter aufweisen.234 Das 230 Die Vorschrift erfasst auch das Verfolgungsermessen des BKartA, siehe noch Teil 2 § 4 F. III. (S. 302 ff.). 231 Das materielle Strafrecht unterscheidet zunächst zwischen Vergehen und Verbrechen, und differenziert im Weiteren zwischen Grundtatbeständen, schweren und besonders schweren Fällen oder Fällen mit einer besonders schweren Folge. 232 Vgl. insoweit bereits die Darstellung in: Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 233 Krit. Lüderssen, BB 1996, S. 2525 ff. (2530). 234 Achenbach spricht beispielsweise von „leichteren Unkorrektheiten“ gegenüber „großer“ Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Sozialschädlichkeit, Achenbach, GA 2008, S. 1 ff. (1).

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OWiG selbst deutet Differenzierungen nach dem Unrechtsschweregrad an. § 56 Abs. 1 OWiG erlaubt etwa bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten die Erteilung einer Verwarnung, schließt diese im Umkehrschluss aber für „normale“ bis schwere Ordnungswidrigkeiten aus. Darüber hinaus weisen Sonderbußgeldtatbestände, wie etwa § 81 Abs. 4 GWB, über das in der Vorschrift des § 17 Abs. 1 OWiG geregelte, allgemeine Höchstbußgeld in Höhe von eintausend Euro (weit) hinausgehende Geldbußen auf.235 Entsprechend der Größenordnung der jeweils angedrohten Höchstgeldbuße verhält sich auch die Verjährungsfrist für die Verfolgung der Ordnungswidrigkeiten gemäß § 31 Abs. 2 OWiG; für einige Ordnungswidrigkeiten, wie die hier interessierenden Wettbewerbsverstöße,236 hat der Gesetzgeber zudem besondere, verlängerte Verjährungsfristen geregelt.237 Diese Differenzierungen machen deutlich, dass der Gesetzgeber Delikten des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts – wie im Strafrecht – in Abhängigkeit von ihrem Unrechtsgrad eine gestufte Bedeutung beigemessen hat. Das Sanktionsbedürfnis schwerwiegenderer Ordnungswidrigkeiten besteht für einen längeren Zeitraum, weil der Gesetzgeber verhindern will, dass diese durch eine schwierige Aufdeckung und längere Ermittlungsphasen unsanktioniert bleiben.238 In besonders sensiblen Bereichen, in denen ein für rechtswidrig erklärtes Verhalten (besonders) sozialschädlich erscheint, lassen sich auffallend hohe Bußgeldobergrenzen feststellen.239 Dies gilt insbesondere für solche Ordnungswidrigkeiten, die in der Regel zu einem finanziellen Profit für die Täter auf Kosten der Allgemeinheit oder einzelner führen. Damit soll zugunsten einer besseren Abschreckungswirkung erreicht werden, dass sich Ordnungswidrigkeiten nicht finanziell lohnen.240 Dementsprechend kann auch im Ordnungswidrigkeitenrecht anhand des verwirklichten Unrechts zwischen leichten bis durchschnittlichen (Bagatell-)Ordnungswidrigkeiten und gravierenden bzw. schweren Ordnungswidrigkeiten unterschieden werden.241 235 Zur Differenzierung über den Bußgeldrahmen vgl. auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 220. 236 Siehe bereits Teil 2 § 1 C. II. (S. 86 ff.). 237 Zur Differenzierung über die Verjährungsregelungen vgl. auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 220 f. 238 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 221. Zur Verjährung von Kartell-Ordnungswidrigkeiten: Teil 2 § 1 C. II. (S. 86 ff.). 239 Neben den hier im Fokus stehenden Kartellordnungswidrigkeiten, sehen etwa auch Umweltordnungswidrigkeiten weit höhere Geldbußen vor, als der Regelbußgeldrahmen, vgl. etwa § 61 Abs. 3 KrW-/AbfG, § 46 Abs. 2 AtomG, § 62 Abs. 3 BImSchG. 240 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 19. 241 Ähnlich, wenngleich differenzierter Achenbach, GA 2008, S. 1 ff. (9) („Tatbestände gegen reinen Verwaltungsungehorsam“, „bagatellarische Rechtsgutsverletzungen“ und „große Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Sozialschädlichkeit“), ferner: Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 219 ff.; Gürtler/Seitz, in: Göhler/OWiG, Einleitung Rn. 10; implizit auch das BVerfG, Beschl. v. 21.6.1977, Az. BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (290 f.), Rn. 36 (juris) und der BGH, Beschl. v. 19.12.1995, KRB 32/ 95 – Fortgesetzte Ordnungswidrigkeit, WuW/E BGH 3043 (3047), Rn. 21 (juris) sowie

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b) Auswirkungen auf den Ermessensspielraum der Verfolgungsbehörden Auch wenn der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG eine ihrem Wortlaut nach nicht anhand des Schweregrads des begangenen Unrechts differenzierende Verfolgungsregelung verwirklicht hat, könnte eine Betrachtung der historischen Entwicklung der Vorschrift, ihrer systematischen Einbettung und ihres Zwecks dafür sprechen, dass die Differenzierungen des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts verfahrensrechtlich fortzuführen sind. aa) Historische Auslegung Bei der Neuregelung des OWiG stand die unterschiedliche Bedeutung der Ordnungswidrigkeiten nicht im Fokus gesetzgeberischer Erwägungen, was wohl auch der Tatsache geschuldet war, dass seinerzeit nur wenige schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten geregelt waren. Vielmehr stand die Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts mit dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24. März 1968242, auf das das heute geltende OWiG im Wesentlichen zurückgeht, und die Ersetzung des § 7 OWiG 1952243 durch den bis heute unveränderten § 47 Abs. 1 OWiG, ganz im Zeichen der Bagatelldevianz.244 § 7 OWiG 1952 bestimmte trotz des den Verfolgungsbehörden bereits damals eingeräumten Ahndungsermessens, dass eine Geldbuße festgesetzt werden müsse, wenn ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Mit der vor diesem Hintergrund seltsam anmutenden Begründung, die Vorschrift habe den Eindruck erweckt, dass ein Ermessensspielraum auch dann gegeben sei, wenn kein öffentliches Interesse an der Verfolgung bestehe,245 wurde die Regelung aus Klarstellungsgründen nicht in das neue OWiG 1968 übertragen. Stattdessen verzichtete der Gesetzgeber auf die Festsetzung gültiger Ermessensmaßstäbe, da „je nach Art der Zuwiderhandlung und dem Zweck, der mit der Ahndung verfolgt wird, [. . .] die Umstände, die eine Ahndung angezeigt sein lassen, verschieden sein [können] und im Einzelfall auch unterschiedliches Gewicht haben.“ 246 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 31; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 31 ff. 242 BGBl. I, S. 481, weiterhin gültig im Gesetz gegen Ordnungswidrigkeiten in der Fassung vom 26. Januar 1998, BGBl. I, S. 164. 243 BGBl. I, S. 177. 244 Vgl. schon oben: Teil 2 § 3 B. I. 2. (S. 113 ff.). Ebenso Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 32; Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 51; Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 82 ff. 245 Mit dieser Begründung hätte man der Vorschrift des § 7 OWiG a. F. trotz ihres entgegenstehenden Wortlauts eine gebundene Rechtsfolgenanordnung entnehmen müssen, oder diese zumindest als „Soll-Vorschrift“ deuten müssen. 246 Begr. BRegE, BT-Drs. V/1269, S. 80.

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In gewisser Weise hätte es nach Auffassung des Gesetzgebers dem Grundgedanken des Opportunitätsprinzips widersprochen, wenn eine Verpflichtung oder ein Verbot der Verfolgung an unverrückbaren Maßstäben festgemacht würde.247 Die Erwägungen des Gesetzgebers offenbaren deutlich den oben bereits festgestellten Zweck, wonach den Verfolgungsbehörden ein größerer Handlungsspielraum und mehr Flexibilität zuerkannt werden sollte, damit diese mit der zunehmenden Fülle an in ihrem Unrechtsgehalt geringfügigen Delikten fertig werden. Eben weil der Gesetzgeber nur Bagatelldelikte im Blick hatte, lässt sich der Gesetzesbegründung allerdings nicht entnehmen, dass diese uneingeschränkte Flexibilität ebenso für schwerste, sozialschädliche Ordnungswidrigkeiten gelten sollte. Im Gegenteil. Der Gesetzgeber wies ausdrücklich darauf hin, dass die Verfolgung und Ahndung von der Art der Zuwiderhandlung abhängig sein soll. Die offene Formulierung spricht für die Annahme, dass der Ermessensspielraum der Verfolgungsbehörden je nach Grad des verwirklichten Unrechts und nach bestehendem öffentlichem Interesse an der Verfolgung und Ahndung unterschiedlich weit zu definieren ist.248 Mit der expliziten Streichung des Kriteriums des „öffentlichen Interesses“ in der neuen Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG, ging es dem Gesetzgeber auch nicht darum, diesen in der damaligen Rechtsprechung anerkannten Maßstab vollständig aufzugeben; vielmehr erstrebte er ausweislich der Gesetzesbegründung letztlich keine Änderung in der Sache,249 sondern lediglich eine unkompliziertere Regelung. Daraus lässt sich folgern, dass das öffentliche Interesse an der Verfolgung und Ahndung zumindest ein wesentliches Ermessenskriterium darstellt.250 bb) Systematische Auslegung Diesem Ergebnis entsprechen auch systematische Erwägungen. Ein Blick in die StPO, genauer in § 153 Abs. 1 StPO offenbart, dass die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren, insbesondere wegen fehlenden öffentlichen Interesses einstellen kann.251 Zwar wird die eigenständige Relevanz des Kriteriums neben der von der Regelung ebenfalls vorausgesetzten geringen Schuld zum Teil bestrit-

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Begr. BRegE, BT-Drs. V/1269, S. 80. Richtigerweise besteht das öffentliche Interesse regelmäßig nicht an der Verfolgung, sondern an der Ahndung einer Ordnungswidrigkeit. Da erstere jedoch notwendig ist, um zu einer Ahndung der Ordnungswidrigkeit zu gelangen, wird in der Arbeit im Folgenden auch vom öffentlichen Interesse an der Verfolgung und Ahndung gesprochen. 249 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 78. 250 Unklar insoweit Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 7, 14, der einerseits eine Verfolgungspflicht im konkreten Einzelfall trotz bestehenden öffentlichen Interesses ablehnt, andererseits jedoch die Nichtverfolgung einer Ordnungswidrigkeit, deren Ahndung aus Gründen der Generalprävention oder zur Sicherung wichtiger Verwaltungsinteressen zwingend geboten ist, für pflichtwidrig hält. 251 Insoweit zutreffend Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 155. 248

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ten.252 Die überwiegende Auffassung hält jedoch an ihm fest, da die geringe Schuld keine feststehende Größe sei und daher nicht die notwendige Rechtssicherheit gewährleisten könne.253 Im weitesten Sinne bedeutet „Handeln im öffentlichen Interesse“ nichts anderes, als dass die Staatsanwaltschaft ihr „Ermessen“ im Sinne der Allgemeinheit zu gebrauchen hat. Der Allgemeinheit ist es daran gelegen, dass die uneingeschränkt Geltung beanspruchende Rechtsordnung Rechtssicherheit und Rechtsgüterschutz vermittelt und von den staatlichen Behörden durchgesetzt wird. Diesem Auftrag kommt die Staatsanwaltschaft nur nach, wenn sie im konkreten Fall überprüft, ob eine mutmaßlich begangene Straftat strafbedürftig ist, weil die Tat etwa wegen ihrer außergewöhnlichen Folgen „gesühnt“ und/oder zur Vorbeugung anderer Straftaten des Täters und/oder anderer potentieller Täter verfolgt werden muss, da etwa eine erneute Straffälligkeit des Täters254 oder eine nachlassende Rechtstreue der Bevölkerung zu befürchten ist.255 Nach Nummer 86 Abs. 2 der Richtlinien für das Strafverfahren und Bußgeldverfahren (RiStBV) ist das öffentliche Interesse an der staatsanwaltschaftlichen Verfolgung trotz der Möglichkeit der Privatklage daher insbesondere gegeben, „wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist, z. B. wegen des Ausmaßes der Rechtsverletzung [. . .].“

In einem solchen Fall dient die Bestrafung der Wiederherstellung des Rechtsfriedens. Die vorstehenden Kriterien offenbaren, dass sich das öffentliche Interesse im Strafverfahren eng an den mit einer Bestrafung intendierten Zwecken orientiert bzw. weitestgehend mit diesen gleichzusetzen ist.256 § 153 Abs. 1 StPO führt den Zweck des materiellen Strafrechts konsequent zu Ende. Da dieses elementare Rechtsgüter schützt, besteht bei deren Verletzung in der Regel auch ein öffentliches Interesse an Sanktion, weshalb § 152 Abs. 1 StPO die Staatsanwaltschaft grundsätzlich zur Verfolgung von Straftaten verpflichtet. Besteht aufgrund besonderer Umstände allerdings ausnahmsweise kein öffentliches Interesse und nur eine geringe Schuld des Täters, kann die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren zugunsten effektiver und wirtschaftlicher Nutzung ihrer Ressourcen einstellen. 252

Meyer, GA 1997, S. 404 ff. Schoreit, in: KK/StPO, § 152 Rn. 22. 254 Etwa wegen einschlägiger Vorstrafen oder einer gesellschaftsfeindlichen Gesinnung: Eckl, JR 1975, S. 99 ff. (100); Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rn. 20; Walther, in: AnwK/StPO, § 153 Rn. 9; einschränkend auch Schoreit, in: KK/StPO, § 153 Rn. 23; Hobe, in: Kerner/Göppinger/Streng, Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht, S. 629 ff. (639). 255 Speziell auf das öffentliche Interesse aus spezial- und generalpräventiven Gründen verweisen etwa: Schoreit, in: KK/StPO, § 153 Rn. 22; Meyer-Goßner, StPO, § 153 Rn. 7; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 31; Hobe, in: Kerner/Göppinger/Streng, Kriminologie – Psychiatrie – Strafrecht, S. 629 ff. (640). 256 Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 23, 28. 253

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Dem korrespondiert gewissermaßen negativ das pflichtgemäße Ermessen der Verfolgungsbehörden im Bußgeldverfahren. Indem das materielle Ordnungswidrigkeitenrecht der gesetzgeberischen Intention nach „nur“ Rechtsgüter zweiten Rangs schützt, steht nicht von vornherein fest, dass die Allgemeinheit die Verfolgung und Sanktionierung einer Rechtsgutsverletzung befürwortet und erwartet. Dass die Verfolgungsbehörden ihr Ermessen im öffentlichen Interesse, also im Sinne der Allgemeinheit, auszuüben haben, lässt sich jedoch aus dem Vorbehalt der Pflichtmäßigkeit ableiten. Für das dem Strafrecht verwandte Ordnungswidrigkeitenrecht, in dem das Opportunitätsprinzip nicht bloß als Ausnahme, sondern allumfassend geregelt ist, kann letztlich nämlich nichts anderes gelten, als für Anwendung des § 153 Abs. 1 StPO im Strafprozess. Dort reduziert sich das der Staatsanwaltschaft eingeräumte Ermessen zu einer Einstellungspflicht, wenn dem Täter nach derzeitigem Kenntnisstand lediglich eine geringe Schuld vorzuwerfen ist und kein öffentliches Interesse an der Bestrafung besteht. Dies offenbart, dass sowohl die Vorwerfbarkeit der Tat, als auch das öffentliche Interesse an der Verfolgung auch im Bußgeldverfahren Auswirkungen auf den Handlungsspielraum der Verfolgungsbehörde begründen, wobei das öffentliche Interesse regelmäßig von dem Grad der Vorwerfbarkeit beeinflusst sein wird.257 Der Begriff des öffentlichen Interesses ist im Bußgeldverfahren freilich weiter zu bestimmen. Neben den hier ebenso relevanten und mit den Strafzwecken nahezu identischen Zwecken der Verfolgung,258 umfasst es die Zweckmäßigkeit der Verfolgung und Ahndung, welche auch das Interesse an einer effektiven und sparsamen Verwaltung259 beinhaltet.260 Daraus folgt, dass das öffentliche Interesse an der Verfolgung und Ahndung insbesondere dann besteht, wenn die betreffende Ordnungswidrigkeit einen derart schwerwiegenden Grad erreicht, dass ein eindringlicher Pflichtenappell, auch zur Vorbeugung weiterer Ordnungswidrigkeiten notwendig erscheint, da mildere Reaktionsmittel den Sanktionszwecken nicht gleichermaßen gerecht werden. Umgekehrt besteht kein oder ein nur geringes öffentliches Interesse an der Verfolgung und Ahndung einer Ordnungswidrigkeit, wenn es sich um ein geringfügiges Unrecht handelt, das nicht oder nur marginal auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung wirkt, sodass eine Einstellung des Verfahrens oder eine bloße Verwarnung effizienter und günstiger erscheint. Für diese Wertung spricht auch, dass nach der Regelung des § 17 Abs. 3 OWiG für die Bemessung der konkreten Höhe des Bußgeldes insbesondere die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der den Täter treffende Vorwurf Berücksichtigung finden müssen. Die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit ist – wie bei der 257 Zu den Durchlässigkeiten beider Tatbestandsmerkmale im § 153 Abs. 1 StPO: Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 23, sowie im § 153a StPO: Weßlau, in: SK-StPO III, § 153a Rn. 27. 258 Vgl. Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 259 Vgl. Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.). 260 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 128 ff.

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Straftat – nichts anderes als ein entscheidendes Kriterium zur Feststellung des öffentlichen Interesses. Da die Geldbuße den Abschluss des Bußgeldverfahrens bildet, müssen die Gesichtspunkte, die zur Bestimmung ihrer Höhe maßgebend sind, letztlich auch für das Verfolgungsermessen relevant sein,261 da die Ausübung des Sanktionszumessungsermessen letztlich nur die zuvor getroffene Wertung der Verfolgungsbehörde fortführt, indem es dieser nominal Ausdruck verleiht. cc) Teleologische Auslegung Vornehmlicher Sinn und Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG ist es, dem materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht soweit als möglich Geltung zu verschaffen und (potentielle) Täter zur Beachtung der Ge- und Verbote des Gesetzgebers zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes anzuhalten. Wenn mit der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG nunmehr inkongruente Bußgeldtatbestände nachvollzogen werden sollen, muss sich die unterschiedliche Bedeutung der Ordnungswidrigkeiten auch in der Ermessensausübung der Verfolgungsbehörden niederschlagen. Insbesondere für Ordnungswidrigkeiten, die nach ihrer überpositivrechtlichen Qualität in den „Graubereich“ zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftat einzuordnen sind, ergibt sich bereits aus ihrer Nähe zur Straftat, dass sie zumindest einer annähernd konsequenten Verfolgung wie diese bedürfen.262 Dies auch und schon deshalb, weil solche Gesetzesübertretungen in der Regel gleichzeitig Allgemeininteressen und individuelle Rechtsgüter verletzen, und die Bußgeldtatbestände damit verstärkt auch die Aufgaben andernfalls zur Verfügung stehender Straftatbestände übernehmen. Denn mit der zunehmenden Schwere der Rechtsverletzungen wird man das Genugtuungsinteresse des Verletzten anzuerkennen haben, welches jedenfalls nicht mehr ohne größeren Argumentationsaufwand hinter das durch das Opportunitätsprinzip zu verwirklichende Effektivitäts- und Effizienzinteresse zurücktreten muss. Zudem darf die Verfolgungsbehörde nicht außer Acht lassen, dass der Bußgelderlass auch den Zweck verfolgt, auf die Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit einzuwirken (positive Generalprävention). Wenn das rechtswidrige, vorwerfbare Verhalten derart schwer wiegt, dass es – ohne den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verletzen – auch als Straftat qualifiziert werden könnte, und die Allgemeinheit durch die Ordnungswidrigkeit schwer beeinträchtigt wurde, könnte die Entscheidung gegen die Durchführung eines Bußgeldverfahrens und gegen die Sanktionierung nachhaltig die Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit erschüttern. Die Allgemeinheit wird in dem Bußgelderlass in diesen Fällen nämlich regelmäßig nicht allein die Sanktionierung bloßen Ungehorsams, 261 Vgl. etwa Müller, GA 1988, S. 316 ff. (330); zust. Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 6; ohne ausdrücklichen Verweis, aber dem Inhalt nach auch: Lemke/Mosbacher, OWiG, § 47 Rn. 11; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 11. 262 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 189 ff. In diese Richtung auch Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 17.

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sondern vorwerfbarer Schuld sehen.263 Indes schlägt umgekehrt bei bereits angesichts ihrer Qualität eindeutig dem Bagatellunrecht zuzuordnenden Ordnungswidrigkeiten der Effizienzgedanke stärker zu Buche, da die Allgemeinheit regelmäßig keinen oder lediglich einen geringen Schaden erleidet und daher die Entscheidung für eine unterlassene Verfolgung zur Ressourcenschonung eher nachvollziehen kann. Vergleichbares gilt auch für den Täter einer Bagatellordnungswidrigkeit: Derjenige, der einen Bußgeldbescheid in Höhe von 20 Euro wegen Falschparkens erhält, wird sich zwar im Zweifel ärgern, wenn die Behörde nicht auch andere für ein vergleichbares Unrecht „bestraft“. Allerdings rechtfertigen hier die Masse der begangenen Delikte, das geringe Unrecht und die geringe Sanktion, dass sich die Verfolgungsbehörde auf einzelne Fälle beschränkt und nicht dafür sorgen muss, dass sämtliche Straßen unentwegt auf Parkverstöße hin überwacht werden. Mit diesen Erwägungen lässt sich allerdings nicht mehr so leicht eine Ungleichbehandlung bei schwerwiegenden Ordnungswidrigkeiten rechtfertigen.264 c) Ergebnis Die Verfolgungsbehörden werden dem vom Gesetzgeber intendierten Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG allein dadurch gerecht, dass sie ihren Ermessenserwägungen die Bedeutung und Schwere der Ordnungswidrigkeit zugrunde legen, die weit überwiegend das öffentliche Interesse an der Ahndung von Ordnungswidrigkeiten determinieren.265 Nur auf diese Weise vollziehen die Verfolgungsbehörden die Wertungen des nach Unrechtstiefe gestuften, materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts verfahrensrechtlich nach. Misst man das öffentliche Interesse aufgrund seiner Verwandtschaft und seinem Bezug zum Strafprozessrecht (§ 46 OWiG) insbesondere daran, ob die Verfolgung wegen des Ausmaßes der Rechtsverletzung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist, ergibt sich daraus, dass mit der Art und Schwere des Unrechts das öffentliche Interesse an dessen Ahndung zunimmt, und umgekehrt bei geringfügigen Bagatelldelikten gegen null tendiert. Davon ausgehend verhält sich der Ermessensspielraum der Verfolgungsbehörde bei Ordnungswidrigkeiten umgekehrt proportional zum öffentlichen Interesse und ist bei schweren Ordnungswidrigkeiten eher klein bis null, bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten eher groß.266 Die Annäherung schwerer Ord263 Auf die für die Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit bedeutsame Frage, ob mit der Geldbuße auch eine vorwerfbare Schuld bei schweren Ordnungswidrigkeiten geahndet wird, weist auch Förster, in: RRH/OWiG, Vor § 1 Rn. 14 hin. 264 Siehe dazu noch Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.). 265 So auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 154 f.; Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 155; Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4; ferner auch: Monopolkommission, Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, S. 50 Rn. 64. 266 Inzident auch Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4, der die undifferenzierte Anwendung des Opportunitätsprinzips ablehnt und eine Ausrichtung des Verfolgungsermessens am Schweregrad der Ordnungswidrigkeit favorisiert.

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nungswidrigkeiten an Straftaten begründet die Pflicht, die das Legalitätsprinzip rechtfertigenden, verfassungsrechtlichen Grundsätze, namentlich die vorhersehbare, gleichmäßige Verfolgung zugunsten eines effektiven Rechtsgüterschutzes und die Gleichbehandlung aller Täter, aber auch das Vergeltungsinteresse Geschädigter, in die Ermessenserwägungen mit einzubeziehen. 2. Die Bedeutung des Wettbewerbsverstoßes als obere Grenze des Verfolgungsermessens

Nach dem vorstehenden Ergebnis handelt das Bundeskartellamt nur ermessensfehlerfrei, wenn es das begangene Unrecht richtig gewichtet. Für die Ermittlung des Entscheidungs- und Handlungsspielraums des Bundeskartellamtes muss daher einerseits die Bedeutung des Rechtsguts „Wettbewerb“ als Schutzobjekt des § 1 GWB sowie des Art. 101 AEUV und andererseits der Grad an Sozialschädlichkeit wettbewerbswidrigen Verhaltens ermittelt werden. Je nach Art und Dauer der fraglichen Zuwiderhandlung kann diese unterschiedliche Auswirkungen auf den Wettbewerb und damit auf den Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes zeitigen. An dieser Stelle kann nicht jeder denkbare Wettbewerbsverstoß einer abstrakten Beschreibung des Unrechts zugeführt werden. Vielmehr konzentriert sich dieser Abschnitt auf die Bewertung des Unrechts horizontaler Hardcore-Kartelle als wohl denkbar schwerste Zuwiderhandlungen, um im Anschluss Rückschlüsse auf den Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes bei der Verfolgung und Ahndung eben dieser, aber auch weniger schwerwiegender Wettbewerbsverstöße zu ziehen. a) Das ökonomische und gesellschaftspolitische Gewicht freien Wettbewerbs Art. 101 AEUV und § 1 GWB schützen zusammen mit den Vorschriften der Fusions- und Missbrauchskontrolle die Institution des freien und funktionierenden Wettbewerbs. In Anbetracht dessen, dass es an einer konsensfähigen Definition des Wettbewerbsbegriffs fehlt,267 der Begriff vielmehr offen ist und unterschiedliche Ausgestaltungen zulässt,268 bedarf es zur Einordnung von dessen Bedeutung eines näheren Blickes auf seine Funktionen. Denn das Wettbewerbsprinzip ist kein Selbstzweck. Wettbewerb erschöpft sich nicht in der Offenhaltung der Märkte. Der Institution Wettbewerb ist vielmehr ein Mittlercharakter immanent: Wettbewerb erfüllt fundamentale Funktionen der Wirtschaftssteuerung und der Freiheitssicherung aller.269 Im Wettbewerb stehen sich Unternehmen auf unter267 Zu den einzelnen Definitionsversuchen im Überblick etwa Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 110. 268 Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität, S. 19 ff. 269 Statt aller Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (28); Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 103 ff.

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schiedlichen Ebenen gegenüber und versuchen ihre individuellen Wirtschaftsziele mit Hilfe überlegener Leistung durchzusetzen. Verbrauchern und Lieferanten wird auf diese Weise ein Markt eröffnet, der ihnen die Wahl zwischen vergleichbaren Produkten und Leistungen eröffnet. Die dadurch geschaffene Vertragsfreiheit lässt unter Konkurrenten Druck entstehen, der im Idealfall zur Verbesserung und Qualitätssicherung der Produkte und einem ausgewogenen Preisniveau führt. Gesunder Wettbewerb führt damit in doppelter Hinsicht zu wünschenswerten Ergebnissen.270 Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht ist Wettbewerb ein Steuerungsmechanismus, der das Angebot durch Nachfrage lenkt, zur Anpassung von Produktionskapazitäten an außerwirtschaftliche Daten und damit auch zu technischem Fortschritt führt, was wiederum eine leistungsgerechte Einkommensverteilung, eine optimale Güterversorgung und wirtschaftlichem Wohlstand ermöglicht.271 Gleichzeitig führen wettbewerbliche Strukturen zu gesellschaftspolitisch positiven Effekten, nämlich dem Abbau bzw. der Verhinderung endgültiger Machtkonzentrationen zugunsten der wirtschaftlichen Handlungs- und Entschließungsfreiheit aller, und damit vor allem zu Konsumentensouveränität. Wettbewerb wird daher als nützliches Instrument zur Erreichung wirtschaftspolitischer Ziele und wegen seiner besonderen Eigenschaften zugleich erwünscht.272 Betrachtet man die vorstehenden Funktionen des Wettbewerbs, wird deutlich, dass das GWB und das europäische Wettbewerbsrecht Wettbewerb nicht allein als Ordnungsprinzip schützen. Vielmehr genießt Wettbewerb auch wegen seiner freiheitssichernden Funktionen den Schutz der Rechtsordnung, da er umgekehrt nur durch den Schutz wirtschaftlicher Betätigungsfreiheit jedes Einzelnen erreicht werden kann.273 Daher wird man die elementare Wichtigkeit des Rechtsguts Wettbewerb wohl kaum mehr leugnen können. b) Kartelle als besonders schwerwiegende, mit Straftaten vergleichbare Ordnungswidrigkeiten Kartelle sind eine Form künstlicher, verhaltensbedingter Beschränkungen funktionierenden Wettbewerbs. Absprachen und abgestimmte Verhaltensweisen füh270 Begr. BRegE des GWB, BT-Drs. II/1158, Anlage 1, S. 21 ff. Zur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Funktion des Wettbewerbs im Überblick: Emmerich, Kartellrecht, § 1 Rn. 7 ff.; Mundt, in: Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V., Wettbewerbspolitik und Kartellrecht in der Marktwirtschaft, S. 237 ff. (238 f.). 271 Zur Wettbewerbstheorie vgl. v. a. Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, S. 16 ff.; vertiefend auch Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 1 ff. 272 Jahresgutachten 1971 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drs. VI/950, S. 14; Hoppman, in: Besters, Theoretische und institutionelle Grundlagen der Wirtschaft, S. 145 ff. (149 f.); Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs, S. 12 ff.; Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 104; zur Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs vgl. auch Hüther, in: Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V., Wettbewerbspolitik und Kartellrecht in der Marktwirtschaft, S. 39 ff. 273 Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (28).

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ren zur – mittlerweile nahezu unbestrittenen – Abnahme von Wettbewerbsdruck und auf diese Weise regelmäßig zu schweren betriebswirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Schäden, indem Preise steigen und die Qualität der Produkte sinkt.274 Dies führt regelmäßig zu einem Nachfragerückgang und dadurch zu einem geringeren Handelsvolumen mit negativen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft. Die Abnehmer werden dadurch geschädigt, dass sie entweder – was den Nachfragerückgang erklärt – auf den Kauf der gewünschten Produkte verzichten oder aber einen höheren Preis bezahlen müssen. In der ersten Alternative wird ihre Handlungs- und Vertragsfreiheit beschränkt, im zweiten Fall ihr Vermögen beeinträchtigt. Diese hier stark vereinfachte, aber zum Zwecke der Bearbeitung ausreichende Darstellung offenbart, dass vor allem Hardcore-Kartelle, die es zum Ziel haben, Preise, Quoten oder Mengen für bestimmte Produkte festzulegen oder Absatzgebiete und Kunden aufzuteilen, durch die kumulative Verletzung individueller und überindividueller Rechtsgüter in hohem Maße sozialschädlich sind. Dies gilt vor allem für solche, die sich über einen längeren Zeitraum, (nahezu) auf den gesamten geographischen Markt Deutschlands oder (schlimmer) der Union erstrecken und Produkte betreffen, die entweder zum täglichen Bedarf der Verbraucher zählen oder als Zwischenprodukt der Produktion einer Vielzahl anderer Produkte dienen, sodass ein spürbarer Preisanstieg und/ oder ein Qualitäts- oder Vielfaltverlust zu verzeichnen ist. Aus diesem Grund und aufgrund der Schwierigkeit ihrer Entdeckung und Aufklärung kann das Bundeskartellamt gemäß § 81 Abs. 4 GWB, über den Regelbußgeldrahmen des § 17 Abs. 1 OWiG hinaus, Geldbußen von bis zu 10% des Gesamtjahresumsatzes des Unternehmens bzw. gegen natürliche Personen Geldbußen von bis zu einer Million Euro verhängen. Die Höhe der Geldbußen macht deutlich, dass der Gesetzgeber Kartellen einen über das „Normalmaß“ der Bagatellordnungswidrigkeiten weit hinausgehenden Grad an Sozialschädlichkeit beimisst.275 Dem entspricht auch, dass § 81 Abs. 8 S. 2 GWB eine von § 31 Abs. 2 OWiG abweichende Verjährungsfrist von fünf Jahren vorsieht. Davon ausgehend kann an dieser Stelle bereits festgehalten werden, dass Hardcore-Kartelle zumindest als besonders schwere Ordnungswidrigkeiten zu qualifizieren sind. In diesen Befund fügt sich auch die in jüngerer Zeit erneut276 aufkommende Diskussion um die Kriminalisierung von Hardcore-Kartellen ein.277 Zwar ist es 274 Vertiefend zur Reichweite der Schädigungen etwa Haucap/Stühmeier, WuW 2008, S. 413 ff. 275 So auch ausdrücklich die amtliche Begr. der BReg zur 4. GWB-Novelle, BT-Drs. 8/2136, S. 27. 276 Zur früheren Diskussion in den 1970er und 1980er Jahren im Zusammenhang mit der Kriminalisierung des Submissionsbetrugs, vgl. etwa die umfassende Arbeit von Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, 1976. 277 Zuletzt etwa Federmann, Kriminalstrafen im Kartellrecht, 2006; Möschel, WuW 2007, S. 483 ff.; Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff.; Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff.

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nicht Intention dieser Arbeit zu überprüfen, inwieweit diese neuerlichen Pönalisierungsbestrebungen rechtspolitisch wünschenswert sind. Allerdings ist die dieser Diskussion zwangsläufig vorausgehende Frage, inwieweit Kartelle rechtmäßig auch als Straftaten durch den Gesetzgeber qualifizierbar wären, für die weitere Untersuchung des Ermessensspielraums des Bundeskartellamtes von Interesse. Wäre dies zu bejahen, stellte sich nämlich dem obigen Ergebnis entsprechend die Frage, ob Hardcore-Kartelle nicht folgerichtig wie Straftaten verfolgt werden müssten, sich der Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes also auf null reduziert.278 In der Strafrechtswissenschaft ist anerkannt, dass die Frage, was richtigerweise Straftat sein kann, herkömmlicherweise an den Kriterien der Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit zu messen ist. aa) Strafwürdigkeit von schwerwiegenden Kartellverstößen Entscheidend für die Frage der Strafwürdigkeit ist, ob das zu schützende Interesse entsprechend einer objektiven Werteordnung einen hohen Rang einnimmt, sodass die Strafe als ultima ratio verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das Interesse zu schützen.279 Die erhebliche Gefährdung oder Verletzung eines Rechtsguts erscheint umso eher strafwürdig, je höher der Rang des Rechtsguts zu bewerten ist.280 (1) Pro Strafwürdigkeit Die bereits beschriebenen, höchst sozialschädlichen Auswirkungen von Wettbewerbsbeschränkungen zeugen von einem besonders hohen Erfolgsunrecht von horizontalen Hardcore-Kartellen, ohne dass erkennbar ist, inwieweit derartiges Verhalten volks- wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch sinnvoll wäre. Die zur Rechtfertigung der Annahme der Strafwürdigkeit von Kartellverstößen erforderliche, besonders hohe Sozialschädlichkeit zu Lasten von Verbrauchern und der Volkswirtschaft ist daher zweifellos gegeben. Im Übrigen lässt sich die Strafbarkeit von Hardcore-Kartellen auch mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz281 vereinbaren. Dieser erfordert, dass der zur Erreichung eines verbesserten Wettbewerbsschutzes verfolgte Zweck der Strafbarkeit von Hardcore-Kartellen geeignet, erforderlich und angemessen ist.282 278

Ebenso schon Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 189 ff., 228 ff. Statt vieler: Hassemer/Neumann, in: NK/StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 62 ff.; Achenbach, ZStW 119 (2007), S. 789 ff. (811 ff.); Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (25); Letzgus, FPR 2011, S. 451 ff. (453 f.). 280 Jaath, in: Hassenpflug, Festschrift für Karl Schäfer zum 80. Geburtstag am 11. Dezember 1979, S. 89 ff. (108). 281 Dazu im Einzelnen statt vieler: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 107 ff. 279

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(a) Geeignetheit der Strafe Die Kriminalstrafe ist geeignet, auf das Rechtsbewusstsein von potentiellen Tätern einzuwirken und damit eine Normstabilisierung, also die Durchsetzung des materiellen Kartellrechts zum Schutze des Wettbewerbs, zu erreichen. Es ist auch nicht zu bezweifeln, dass ein Straftatbestand nicht mit Erfolg umzusetzen wäre. Selbst wenn die Staatsanwaltschaft wegen knapper Ressourcen an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit geriete, könnte insoweit die Zusammenarbeit mit dem Bundeskartellamt stärker institutionalisiert werden, indem dieses als Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft tätig wird.283 Angesichts der empirisch nicht zu belegenden Abnahme kartellrechtswidriger Absprachen284 spricht auch viel dafür Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot mit dem „schärfsten Schwert“ des Staates zu verfolgen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass das damit verbundene Stigma für die Täter einen nicht zu unterschätzenden Faktor ausmachen könnte, wenn sie sich mit dem Gedanken tragen, wettbewerbswidrig zu handeln. Denn die Eigenschaft des „Vorbestraftseins“ vermag gerade auf solche Personen erhebliche Auswirkungen haben, die in ihrem Leben gesteigerten Wert auf Ansehen und beruflichen Erfolg legen, und deren „reine Weste“ sowohl Voraussetzung für Karriere als auch soziale Anerkennung ist. (b) Erforderlichkeit der Strafe: Keine verbesserte Abschreckungswirkung? Hinter dem Pflichtenappell der Geldbuße steht vorwiegend der Gedanke der General- und Spezialprävention.285 Der Abschreckung sollen im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht sehr hohe Geldbußen dienen, die sowohl gegen die von einem Kartell vordergründig profitierenden Unternehmen als auch gegen die das Kartell begründenden, natürlichen Personen verhängt werden können. Mit der Erhöhung der zulässigen Geldbußen im Rahmen der 7. GWB-Novelle hat der Gesetzgeber nochmals eine verbesserte Abschreckungswirkung intendiert.286 Die in der Ahndungspraxis des Bundeskartellamtes unter Ausschöpfung des § 81 Abs. 4 GWB stark gestiegenen Geldbußen werden von Kritikern der Kriminalisierungs282 Vgl. etwa BVerfG, Ents. v. 5.1.1970, Az. 1 BvR 13/68 – Scheidungsakte, BVerfGE 27, 344 (352 f.), Rn. 23 (juris); Urt. v. 15.12.1983, Az. 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83 – Volkszählung, BVerfGE 65, 1 (54), Rn. 175 (juris); Beschl. v. 20.6.1984, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (173), Rn. 48 (juris); Beschl. v. 6.6.1989, Az. 1 BvR 921/85 – Reiten im Walde, BVerfGE 80, 137 (159 ff.), Rn. 81 ff. (juris); Beschl. v. 26.4.1995, Az. 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94, BVerfGE 92, 262 (273), Rn. 52 (juris). 283 Zu diesem Gedanken noch zugleich im folgenden Abschnitt Teil 2 § 3 B. III. 2. b) bb) (1) (S. 143 ff.). 284 Dazu sogleich in Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.). 285 Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 286 Begr. BRegE, BT-Drs. 15/3640, S. 2, 42, 43, 46.

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bestrebungen häufig vorgebracht, um der Kriminalstrafe eine über die Geldbuße hinausgehende Effektivität abzusprechen.287 Die in der Literatur beklagten, extrem hohen Geldbußen zeugten bereits davon, dass das Ordnungswidrigkeitenrecht nicht wirkungsschwach sei und ein Anreiz bestehe, kein Kartell zu bilden. Darüber hinaus bleibe die Kriminalisierungsbewegung einen empirischen Beweis schuldig, dass die Strafe zu einer erhöhten Präventionswirkung führe.288 Die Strafbarkeit sei folglich nicht zur Verfolgung von Kartellen erforderlich. Der Vorwurf mangelnder Abschreckungswirkung ist weder neu, noch hat er zwischenzeitlich an Substanz gewonnen. Dem Kriterium der Erforderlichkeit ist nämlich genügt, wenn zur effizienten Prävention von Kartellen kein milderes, gleich geeignetes Mittel zur Verfügung steht. Diejenigen, die der Strafbarkeit von Kartellen ihre Abschreckungswirkung absprechen wollen, vermögen indes umgekehrt keine stichhaltigen Belege für eine überlegene oder jedenfalls ebenso weitreichende Abschreckungswirkung der Geldbußen anzuführen. Die in der Rechtswissenschaft geführte Diskussion um die Rechtmäßigkeit der Kartellgeldbußen stellt für sich genommen keinen empirischen Beleg dafür dar, dass Kartelle insgesamt weniger attraktiv geworden sind. Denn dann müsste das Bundeskartellamt eine spürbare Verringerung der Fallzahlen registrieren. Dem ist jedoch nicht so. Selbst wenn man berücksichtigt, dass die Behörde zwischen 2005 und 2011 drei ausschließlich auf die Kartellverfolgung spezialisierte Beschlussabteilungen eingerichtet hat, um eine bessere personale Ausstattung zu erreichen, und dementsprechend eine höhere Anzahl von Fällen bearbeiten kann, ist nicht zu übersehen, dass die in den Jahren 2006 bis 2009 verdoppelte Anzahl an Verfahren seit der Umsetzung der 7. GWB-Novelle nicht für eine verbesserte Abschreckungswirkung sehr hoher Geldbußen spricht. Andernfalls hätten die Fallzahlen allenfalls moderat ansteigen müssen. Auch das Weißbuch des britischen Department of Trade and Industry, das der Pönalisierung von Hardcore-Kartellen im Vereinigten Königreich vorausging, deutet in diese Richtung. So kam es zu dem Ergebnis, dass selbst Bußgeldobergrenzen von bis zu 30% des Gesamtjahresumsatzes, also immerhin das Dreifache des derzeit im GWB vorgesehenen Höchstbußgeldes für Unternehmen, regelmäßig nicht zur Abschreckung ausreichen würden, da Unternehmen die Geldbuße aufgrund der weiterhin geringen Aufdeckungswahrscheinlichkeit mit dem durch das Kartell erwirtschafteten Profit ausgleichen könnten.289 Im Übrigen verschließt sich die Kritik vor der Rechts287

Bräunig, HRRS 2011, Heft 10, S. 425 ff. (433) m.w. N. So schon zur Diskussion um die Pönalisierung von Submissionsabsprachen: Möschel, Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Submissionsabsprachen, S. 40 ff.; Federmann, Kriminalstrafen im Kartellrecht, S. 295 ff.; ferner Bräunig, HRRS 2011, Heft 10, S. 425 ff. (433); Dreher, WuW 2011, S. 232 ff. (238). 289 Das Weißbuch bezieht sich dabei auf eine US-amerikanische Studie, nach der lediglich ein Sechstel aller Kartelle tatsächlich aufgedeckt würden. Multipliziert man diese Aufdeckungswahrscheinlich mit 30% des Jahresumsatzes, seien rein rechnerisch lediglich 5% des Jahresumsatzes von der Geldbuße bedroht. Kartelle bewirken Schät288

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wirklichkeit. Internationale Beispiele zeugen davon, dass der Gesichtspunkt der Prävention nicht gegen, sondern mehr noch für die Strafbarkeit von HardcoreKartellen spricht. Die praktischen Erfahrungen des US-amerikanischen Department of Justice (DoJ) belegen deutlich die positiven Auswirkungen des in den USA eingeführten Kartellstraftatbestandes. So würden etwa Kartellbeteiligte, selbst wenn ihr größter und profitabelster Markt in den USA liege, die im Ausland veranlassten, kartellrechtswidrigen Absprachen nicht auf den US-amerikanischen Markt ausdehnen und Auswirkungen der Kartellabsprache auf diesen verhindern, um Ermittlungen des DoJ und dem Risiko einer Haftstrafe zu entgehen.290 Entsprechend positiv schätzten auch 83% der britischen Kartellrechtspraktiker die Abschreckungswirkung eines britischen Kartellstraftatbestandes ein.291 Abgesehen davon fragt sich, warum es überhaupt eines ex ante schwierig zu generierenden empirischen Nachweises der Abschreckungswirkung von Strafen, insbesondere von Freiheitsstrafen, bedarf. Der mit Strafen verbundene, erhöhte Grad an negativer Generalprävention sollte wegen der dadurch ermöglichten persönlichen Betroffenheit der eigentlichen Täter – wie die OECD zu Recht bemerkt292 – auf der Hand liegen. Die Verantwortlichen, die sich an rechtswidrigen Praktiken beteiligen, handeln zumeist nicht allein zum Wohle des Unternehmens. Hinzu kommen, je nach Position der Person im Unternehmen, persönliche Interessen, wie soziale Anerkennung, Arbeitsentlastung, Beförderungswünsche und/ oder finanzielle Aufstiegsmöglichkeiten. Kartelle sind daher das Produkt rationaler Überlegungen und Kosten-Nutzen-Analysen. Dies sind optimale Voraussetzungen für eine gezielte Abschreckungswirkung von Strafen.293 Welcher Verbandsangehörige wird wohl nicht über das Damoklesschwert der Freiheitsstrafe nachdenken, wenn es um die Entscheidung geht, sich rechtmäßig oder kartellrechtswidrig zu verhalten? So mag dieser eine Geldbuße noch hinnehmen und zungen zufolge allerdings Preiserhöhungen von bis zu 10%. Vgl. Department of Trade and Industry, A World Class Competition Regime, S. 40, Box 7.3, im Internet abrufbar unter: http://www.iiiglobal.org/component/jdownloads/finish/389/1401.html (Stand: 31.12.2013). Auf die Gefahr, dass Geldbußen in Preise zu Lasten der Verbraucher einkalkuliert werden könnten, weist etwa Jaath, in: Hassenpflug, Festschrift für Karl Schäfer zum 80. Geburtstag am 11. Dezember 1979, S. 89 ff. (115) hin. 290 Barnett, Criminalization of Cartel Conduct – The Changing Landscape, im Internet abrufbar unter: http://www.justice.gov/atr/public/speeches/247824.htm (Stand: 31.12.2013). 291 Department of Trade and Industry, A World Class Competition Regime, S. 40, Rn. 7.18, im Internet abrufbar unter: http://www.iiiglobal.org/component/jdownloads/ finish/389/1401.html (Stand: 31.12.2013). 292 OECD, Policy Roundtables 2003, Cartel Sanctions against Individuals, S. 7, im Internet abrufbar unter: http://www.oecd.org/competition/cartelsandanti-competitive agreements/34306028.pdf (Stand: 31.12.2013). 293 Cseres/Schinkel/Vogelaar, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar, Criminalization of competition law enforcement, S. 1 ff. (7); ähnlich auch Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff. (272).

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durch die mit dem Kartell bezweckten, finanziellen Vorteile ausgleichen. Der durch die Stigmatisierung der Strafe womöglich drohende soziale Abstieg hat demgegenüber eine ganz andere Qualität. Der in diesem Zusammenhang angeführte Hinweis auf die bereits bestehende Bebußungsmöglichkeit von Unternehmensangehörigen sowie die entscheidende Ahndungswahrscheinlichkeit294 vermag bereits aus diesen Gründen nicht zu überzeugen. Zudem ist es ein offenes Geheimnis, dass gegen beteiligte Unternehmensvertreter verhängte Geldbußen nicht zwangsläufig auch zu ihrer persönlichen Betroffenheit führen. Unabhängig von der zivilrechtlichen Wirksamkeit und der strafrechtlichen Beurteilung einer solchen Praxis,295 ist es nämlich nicht auszuschließen, dass betroffene Personen durch ihren Arbeitsgeber von der Geldbuße, ob nun offen oder verdeckt, durch vermeintliche Gutachtenaufträge und Provisionen oder gar Gehaltserhöhungen faktisch freigestellt werden.296 Wenn die an den rechtswidrigen Absprachen beteiligten Personen jedoch keine spürbare „Strafe“ erfahren, kann die Geldbuße auch keine Präventionswirkung entfalten. Hinzu kommt, dass in der Praxis wohl ohnehin selten Geldbußen relevanter Höhe gegen kartellbeteiligte, natürliche Personen verhängt werden, und sich schon deshalb die Abschreckungswirkung ihnen gegenüber in Grenzen halten wird.297 Wenn zudem angeführt wird, dass die präventive Wirkung der Strafe durch Umgehungs- und Verdeckungshandlungen konterkariert werden könnte,298 so verfängt auch dieses Argument nicht. Unabhängig davon, dass Kartellanten auch unter Geltung des Ordnungswidrigkeitenrechts ihre kartellrechtswidrigen Handlungen verschleiern,299 sodass das Bundeskartellamt oft praktischen Beweisschwierigkeiten ausgesetzt ist und in der Vergangenheit 294 Hierzu insbesondere Dreher, WuW 2011, S. 232 ff. (237); Schroeder, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 437 ff. (453). 295 Zu der hier nicht weiter zu verfolgenden Frage, vgl. etwa Holly/Friedhofen, NStZ 1992, S. 145 ff. 296 Zutreffend bereits der Hinweis von Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 179. 297 Vgl. BKartA, TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 37 und TB 2011/2012, BTDrs. 17/13675, S. 29: Obwohl § 81 Abs. 4 S. 1 GWB die Ahndung mit Geldbußen von bis zu A 1 Mio. vorsieht, sind in 2009 von einer Geldbußengesamthöhe von A 297,5 Mio. lediglich A 0,5 Mio. auf natürliche Personen entfallen. Im Jahr 2010 waren es A 2 Mio. von A 266,7 Mio., im Jahr 2011 A 2,4 Mio. von A 189,8 Mio. und im Jahr 2012 A 1,6 Mio. von A 316 Mio. Ein vergleichbares Verhältnis lässt sich auch in den Jahren zuvor ausmachen: BKartA, TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 32 (2007: A 1,5 Mio. von A 114 Mio., 2008: A 2 Mio. von A 317 Mio.). 298 Cseres/Schinkel/Vogelaar, in: Cseres/Schinkel/Vogelaar, Criminalization of competition law enforcement, S. 1 ff. (11). 299 So werden Beweismittel von vornherein vermieden oder zeitnah vernichtet. Siehe etwa die PM des BKartA v. 27.7.2011 zur Bußgeldahndung des Kartells Feuerwehrdrehleitern. Danach benutzten die Beteiligten Prepaid-Handys und kommunizierten in „Fußballer-Sprache“, um ihre kartellrechtswidrigen Absprachen zu verschleiern. Deshalb erkennt auch Tiedemann keine unüberwindbaren Beweisschwierigkeiten, vgl. Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 170 ff.; ihm folgend: Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 242.

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auf Indizien zurückgreifen musste,300 würde schwerwiegenderes Verhalten, etwa die Einschüchterung von Zeugen, erst recht für die Strafbarkeit der Kartellbeteiligung sprechen, da die organisierte Kriminalität der Kartellabsprachen dann umso offener zu Tage tritt. Im Ergebnis sprechen daher die bislang ungenügende Abschreckungswirkung von Geldbußen und die durch Strafen steigerungsfähige Präventionswirkung dafür, dass die Androhung einer Kriminalstrafe erforderlich ist, um einen verbesserten Wettbewerbsschutz zu erreichen. (c) Angemessenheit der Strafe Schließlich würde die zumindest partielle Pönalisierung des Kartellrechts auch nicht unzumutbar sein, also insbesondere nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des Wettbewerbsschutzes stehen.301 Insoweit muss zunächst die relative Nähe horizontaler Kartelle zum strafbewährten Betrug Berücksichtigung finden. Zwar scheitert eine Subsumierbarkeit einer Kartellabsprache unter den Betrugstatbestand in der Regel an einer zumindest konkludenten Täuschungshandlung, da Kartellmitglieder mit ihrer Teilnahme am Markt nicht erklären, dass sich die Preise für ihre Produkte am freien Markt gebildet hätten.302 Allerdings darf nicht übersehen werden, dass davon abgesehen sämtliche Betrugstatbestandsmerkmale durch Kartelle verwirklicht werden: Die Abnehmer des Kartellbeteiligten vertrauen darauf, dass der Preis nicht durch illegale Handlungen beeinflusst wurde und unterliegen insoweit einem Irrtum. Dieser Irrtum veranlasst die Abnehmer wiederum zu einer Vermögensverfügung, woraufhin sie einen Vermögensschaden erleiden, der sich mit dem Mehrerlös des Kartellanten insoweit deckt, wie er nicht durch die Weitergabe an die Verbraucher in Form von Preiserhöhungen vermindert wurde.303 Die hinter der Entscheidung zur Kartellbildung steckende Motivation rücksichtslosen Profitdenkens entspricht zudem der zur Verwirklichung des Betrugstatbestands notwendigen Absicht, das Unternehmen auf Kosten des Irrenden zu bereichern. Ebenso bewegen sich auch andere Wettbewerbsverstöße, insbesondere im Vertikalverhältnis, nah an der Grenze zur Strafbarkeit. So kann 300 Aus diesem Grund betont das BKartA regelmäßig die Notwendigkeit und den Erfolg ihrer Bonusregelung als Instrument, Kartelle von innen heraus aufdecken zu können. Vgl. etwa BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 17. 301 Zur Prüfung der Angemessenheit im Wege einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des staatlichen Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe: BVerfG, Beschl. v. 9.3.1994, Az. 2 BvL 43/92 u. a. – Cannabis, BVerfGE 90, 145 (173), Rn. 156 (juris); Beschl. v. 10.4.1997, Az. 2 BvL 45/92 – Räumliche Aufenthaltsbeschränkung, BVerfGE 96, 10 (21), Rn. 63 (juris). 302 Baumann/Arzt, ZHR 134 (1970), S. 24 ff. (35). 303 Zur Rechtmäßigkeit der sog. passing-on-defence, also dem bei der Schadensberechnung zu berücksichtigenden Umstand, dass ein Weiterverkäufer den Schaden selbst durch Preiserhöhungen gegenüber ihrer Abnehmer minimiert hat, vgl. die jüngste Entscheidung des BGH, Urt. v. 28.6.2011, Rs. KZR 75/10 – ORWI, WuW/E DE-R 3431 ff.

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etwa die Preisbindung der zweiten Hand eine relative Nähe zur Nötigung oder Erpressung aufweisen, wenn sie mit der Androhung von Nachteilen, etwa einem Belieferungsboykott, einhergeht. Vor allem aber muss die typischerweise bestehende, gravierende Sozialschädlichkeit im Fokus der Strafwürdigkeitsüberlegungen stehen.304 Die schwerwiegenden Auswirkungen auf die Wirtschaftskraft der Bundesrepublik und die individuellen Rechte derjenigen, die durch Kartelle nicht nur in ihrer wirtschaftlichen Handlungsfähigkeit eingeschränkt, sondern darüber hinaus in ihrer Existenz bedroht sein können, dürften Kartellbeteiligten nach der intensiven Öffentlichkeitsarbeit der Kommission und des Bundeskartellamtes deutlich bewusst sein. Wenn sie sich trotzdem aus rücksichtslosem Gewinnstreben über das Kartellverbot hinwegsetzen und diese Schäden billigend in Kauf nehmen, so verdient eine Rücksichtnahme auf ihr individuelles Ehr- und Freiheitsinteresse keiner Zustimmung. Dementsprechend kann man durchaus vertreten, dass jedenfalls die Strafbarkeit von Hardcore-Kartellen als schwerwiegendste Form von Wettbewerbsverstößen angemessen ist. (2) Contra Strafwürdigkeit Unabhängig von den vorstehenden Argumenten wird die Strafwürdigkeit von Kartellen zum Teil aus zwei weiteren Gründen bestritten. (a) Unzulänglichkeit des Wettbewerbs als strafrechtliches Schutzgut? Teilweise wird dem Wettbewerb die Qualität eines strafrechtlichen Schutzgutes abgesprochen.305 Der Wettbewerb sei kein der staatlichen Schutzpflicht unterliegendes, elementares Rechtsgut mit Verfassungsrang. Vielmehr sei Wettbewerb ein offenes und überindividuelles Rechtsgut, das von normativen Vorgaben und Wandelungen abhängig sei. Der Kritik ist zuzugeben, dass die Wirtschaftsordnung nicht vom Grundgesetz vorgezeichnet ist und sich dementsprechend auch keine Garantie eines bestimmten Wirtschaftssystems herleiten lässt,306 was wiederum einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Schutz des Wettbewerbs ausschließt. Auch kann nicht bestritten werden, dass der Wettbewerbsbegriff bis heute nicht endgültig geklärt ist und die Leitbilder, anhand derer man beurteilen 304 So schon zu Recht Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 95; Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 235. 305 Oldigs, Möglichkeiten und Grenzen der strafrechtlichen Bekämpfung von Submissionsabsprachen, Rn. 122, 293; Selmer, Verfassungsrechtliche Probleme einer Kriminalisierung des Kartellrechts, Rn. 18 ff.; Möschel, Zur verfassungsrechtlichen Problematik von Submissionsabsprachen, Rn. 33 ff. 306 BVerfG, Urt. v. 20.7.1954, Az. 1 BvR 459/52 u. a. – Investitionshilfe, BVerfGE 4, 7 ff.; Urt. v. 1.3.1979, Az. 1 BvR 532/77, 1 BvR 533/77, 1 BvR 419/78, 1 BvL 21/78 – Mitbestimmungsgesetz, BVerfGE 50, 290 ff.

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kann, ob etwas wettbewerbspolitisch erwünscht ist, nach wie vor kein einheitliches Ergebnis zu Tage gefördert haben.307 Allerdings schließt es die Offenheit des Wettbewerbsbegriffs nicht aus, dass der Gesetzgeber bestimmte Verhaltensweisen für strafwürdig befindet, weil von diesen typischerweise erhöhte Gefahren für den Wettbewerb ausgehen.308 Ebenso überzeugt das Argument nicht, dass der freie Wettbewerb als verfassungsrechtlich nicht geschütztes, überindividuelles Rechtsgut kein strafrechtliches Rechtsgut sein könne. Es ist nämlich anerkannt, dass Interessen der Allgemeinheit berechtigterweise strafrechtlichen Schutz unterworfen werden können, soweit sie auch individuellen Interessen dienen.309 Freier Wettbewerb schützt, wie bereits dargelegt wurde, die gesellschaftspolitisch wünschenswerte und verfassungsrechtlich geschützte, wirtschaftliche Handlungsfreiheit, aber auch die Berufsfreiheit und den persönlichen Wohlstand aller. Freier Wettbewerb fungiert damit als eine Art mediatisiertes Zwischenrechtsgut, das als Ausdruck des Schutzes dieser Primärinteressen sehr wohl strafrechtlich schutzwürdig sein kann.310 Dieses Ergebnis wird nicht zuletzt durch die Einfügung des Straftatbestandes des Submissionsbetrugs gemäß § 298 StGB bestätigt. (b) Keine prinzipielle Gefährdung des Wettbewerbs? Ferner wird teilweise damit argumentiert, dass die Gefährdung des Zwischenrechtsguts Wettbewerb und der individuellen Interessen durch Wettbewerbsverstöße nicht zwingend sei. Vielmehr kenne das GWB selbst zahlreiche, geschriebene und ungeschriebene Ausnahmen und Generalklauseln, die eine stetige Abwägung der Wettbewerbsgesichtspunkte mit anderen Zielvorstellungen notwendig mache. Wenn es aber Hardcore-Kartelle gebe, die bereits nach diesen Ausnahmeregelungen zulässig sind, könne man nicht von einer prinzipiellen Gefährdungslage für den Wettbewerb und Individualrechtsgüter ausgehen, die letztlich jedoch Voraussetzung für ein abstraktes Gefährdungsdelikt seien.311 Zudem seien Straf307 Zu den unterschiedlichen Wettbewerbstheorien im Überblick etwa: Emmerich, Kartellrecht, § 1 Rn. 13 ff. 308 So auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 234. 309 Zum Schutz von Universalrechtsgütern etwa: Hassemer/Neumann, in: NK/StGB, Vorbem. zu § 1 Rn. 131 ff. 310 H.M., vgl. Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky, Hdb. d. Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Kapitel Rn. 107; für den Submissionsbetrug: Gesetzesentwurf der BReg, BT-Drs. 13/5584 S. 13; Heine, in: Schönke/Schröder StGB, § 298 Rn. 1; Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 144; Lackner/Kühl, StGB, § 298 Rn. 1; Achenbach, WuW 1997, S. 958 ff. (959); Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 238 f.; a. A. mit Verweis auf das durch den Tatbestand des Submissionsbetrugs ausschließlich schützenswerte Systemvertrauen in die Unverfälschtheit des Wettbewerbs: Hohmann, in: MK/ StGB, § 298 Rn. 1; krit. zur Annahme eines „Zwischenrechtsguts“: Dreher, WuW 2011, S. 232 ff. (236 Fn. 49). 311 Bräunig, HRRS 2011, Heft 10, S. 425 ff. (430 ff.); gegen die Zulässigkeit eines abstrakten Gefährdungsdelikts bei gleichzeitiger abstrakter Gefährdung des Wettbe-

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tatbestände, die einen Rückgriff auf kartellrechtliche Wertungsspielräume notwendig machten, hochgradig unbestimmt und damit verfassungswidrig.312 Zutreffend ist, dass eine ausnahmslose Strafbarkeit von Kartellverstößen im Hinblick auf die ausdrücklichen Ausschlusstatbestände des GWB verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft wäre. Was wettbewerbsrechtlich erlaubt ist, darf strafrechtlich nicht verboten sein. Die Freistellung vom Kartellverbot ließe sich jedoch in Form einer negativen Akzessorietät zumindest auf der Ebene der Rechtswidrigkeit tatbestandsmäßigen Verhaltens berücksichtigen.313 Im Übrigen wird von den Verfechtern der Kartellpönalisierung überwiegend auch nicht gefordert, das gesamte Kartellrecht der Strafbarkeit zuzuführen.314 Vielmehr geben diese beispielsweise zu, dass etwa vertikale Vereinbarungen ambivalenten Charakter haben und daher nicht ohne weiteres für strafbar erklärt werden können.315 Allerdings steht dies nicht der von der OECD wiederholt geforderten316 Pönalisierung höchst sozialschädlicher Hardcore-Kartelle entgegen. Angesichts der mittlerweile weit überwiegend anerkannten, hohen Sozialschädlichkeit von Hardcore-Kartellen, erscheint das Bestreiten der zumindest von diesen regelmäßig ausgehenden Schäden kaum nachvollziehbar, zumal die besonders hohe, für Kartelle zulässige Höchstgeldbuße klar zu erkennen gibt, dass auch der deutsche Gesetzgeber Kartellen keinen Bagatellcharakter beimisst.317. Davon abgesehen stellen praktische Schwierigkeiten, die mit der Schaffung hinreichend bestimmter Straftatbestände verbunden sind, aber auch nicht unüberwindlich sein sollten,318 die auf rechtlichen Erwägungen beruhende Strafwürdigkeit horizontaler Hardcore-Kartelle nicht in Frage. Dies offenbaren etwa in anderen Jurisdiktionen längst existierende Straftatbestände wegen wettbewerbswidriger Verhaltensweisen.319

werbs und der durch diesen geschützten individuellen Interessen: Lüderssen, BB 1996, Beilage 11, S. 1 ff. (7). 312 Lüderssen, BB 1996, Beilage 11, S. 1 ff. (6). 313 Darauf weisen auch die Kritiker der Kriminalisierungsbefürworter hin, vgl. Bräunig, HRRS 2011, Heft 10, S. 425 ff. (431). 314 Mit den Hinweis, dass weitere Diskussionen insbesondere im Hinblick auf den Missbrauch marktbeherrschender Stellung und vertikaler Verstöße, die im Kernbereich ebenso gravierende Verstöße darstellen können, notwendig sind: Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (32 ff.). 315 Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff. (277). 316 OECD, OECD Policy Roundtables 2003, Cartel sanctions against Individuals, DAF/COMP(2004)39 v. 10.1.2005; dies., Recommendation of the OECD Council Concerning Effective Action Against Hard Core Cartels, C(98) 35/FINAL, 1998; dies., Hard Core Cartels, Third Report on the Implementation of the 1998 Council Recommendation, 2005, S. 25; jeweils abrufbar unter: www.oecd.org (Stand: 31.12.2013). 317 So auch explizit BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 6. 318 Zutreffend Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff. (278). 319 Dazu zählen etwa die USA, Großbritannien, Irland und Australien. Im Überblick Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff.

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(3) Ergebnis In Gesamtwürdigung der außer Frage stehenden Bedeutung des Wettbewerbs und der evidenten Sozialschädlichkeit von bestimmten schwerwiegenden Wettbewerbsverstößen, insbesondere horizontalen Hardcore-Kartellen, erscheint daher die punktuelle strafrechtliche Verteidigung des Wettbewerbs grundsätzlich gerechtfertigt und geboten. Die Kriminalstrafe kann insbesondere zu einer deutlich besseren Abschreckungswirkung führen, als sie derzeit mit Geldbußen erzielt wird. bb) Strafbedürftigkeit von Hardcore-Kartellen Die Strafwürdigkeit gravierender Kartellverstöße impliziert zwar nicht automatisch deren Strafbedürftigkeit. Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit stehen jedoch in einem engen Verhältnis und lassen sich nicht immer trennscharf auseinanderhalten. So wird man die Strafbedürftigkeit eines Verhaltens umso eher verneinen, je weniger strafwürdig es erscheint. Umgekehrt lässt sich mit zunehmender Offensichtlichkeit der Strafwürdigkeit die Feststellung, dass die Strafe das einzig effektive Mittel gezielter Abschreckung und „Vergeltung“ ist, umso leichter treffen, als sie gleichzeitig das einzige Mittel ist, das mit einer sozialethischen Missbilligung verknüpft ist. Mehr noch zeigt sich, dass das Kriterium der Strafbedürftigkeit, wie auch das der Strafwürdigkeit, sämtliche Prüfungsmaßstäbe der Verhältnismäßigkeit verkörpert und die Frage allein durch eine Gegenüberstellung mit anderen staatlichen Ahndungsmitteln vertieft.320 Wenn aber die Wertigkeit des zu schützenden Rechtsgutes und die Schwere des Sozialschadens bereits evident für die Strafwürdigkeit rechtswidrigen Verhaltens spricht, kann der Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit lediglich negativ im Rahmen der Strafbedürftigkeit zur Anwendung kommen.321 Nur für den Fall, dass die Kriminalisierung gravierenden, sozialschädlichen Verhaltens dazu führen würde, dass die Verfolgung und Prävention im Vergleich zum Bußgeldverfahren entscheidend verschlechtert wäre, müsste deren Strafbarkeit demgemäß als unzweckmäßig und unverhältnismäßig abgelehnt werden. Im Folgenden gilt es daher allein zu untersuchen, inwieweit eine Strafbarkeit die Praktikabilität sowie Effektivität der Verfolgung von Hardcore-Kartellen beeinträchtigen könnte. (1) Einbuße einer effizienten Kartellverfolgung? In der Literatur wird zum Teil befürchtet, dass ein Strafverfahren den Verfahrensablauf durch einen erhöhten Koordinierungsaufwand zwischen Staatsanwaltschaft und Bundeskartellamt verkomplizieren und dadurch verlängern könnte. 320 Abanto Vásquez, Die Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen mit strafrechtlichen Mitteln, S. 19 ff.; in diese Richtung auch Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (25). 321 Zu Recht schon Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 177.

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Negative Wirkungen seien bereits mit der durch die Einführung des Straftatbestandes des Submissionsbetruges verbundenen Parallelzuständigkeit des Bundeskartellamtes für die ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfolgung der beteiligten Unternehmen sowie der Staatsanwaltschaft für die strafrechtliche Verfolgung der beteiligten Personen gemäß § 82 GWB deutlich geworden.322 Allerdings wird übersehen, dass sich diese Negativerfahrungen bislang in Grenzen gehalten haben. Zum einen sind laut den Angaben des Bundeskartellamtes in den gut 15 Jahren der bestehenden Strafbarkeit des Submissionsbetrugs gerade einmal neun Parallelverfahren durchgeführt worden,323 sodass die vorgebrachte Kritik angesichts der bisherigen praktischen Bedeutung des § 82 GWB nur schwer überprüfbar ist.324 Zum anderen hat das Bundeskartellamt die gute und erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften, insbesondere den frühen und umfassenden Informationsaustausch zwischen den Behörden, trotz der teilweise aufwändigen Verfahrenstrennung,325 positiv bewertet326 und arbeitet nach wie vor an einer weiteren Intensivierung der Kooperation.327 Daher wird umgekehrt auch bereits von der Bewährung der Vorschrift in der Praxis gesprochen.328 Im Übrigen ist das Problem nicht unlösbar. Biermann hat etwa vorgeschlagen, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden gesetzestechnisch stärker zu institutionalisieren und dem Bundeskartellamt eine den Finanzbehörden in Steuerstrafverfahren entsprechende Rolle zuzuerkennen.329 Würde das Bundeskartellamt etwa zur Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft, ist die Gefahr größeren Abstimmungsaufwands regelmäßig gebannt.330 322 Mit Hinweis auf die kurz nach der Einführung des Straftatbestandes des Submissionsbetrugs verfassten Aufsätze von Achenbach, WuW 1997, S. 958 ff. und Korte, NStZ 1997, S. 513 ff.; Bräunig, HRRS 2011, Heft 10, S. 425 ff. (433); vgl. zur Kritik auch Bangard, wistra 1997, S. 161 ff. 323 TB 2003/2004, BT-Drs. 15/5790, S. 35 f., 114, 179 (Fernwärmerohre, DSD-Entsorgungsverträge, Leuchtsignal- und Simulationsmunition); TB 2007/2008, BT-Drs. 16/ 13500, S. 68 (Auftausalze); TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 85, 106 (Dampfkessel, Feuerwehrlöschfahrzeuge, Entsorgungsunternehmen BW); PM v. 27.7.2011 – Feuerwehrdrehleiterfahrzeuge; PM v. 5.7.2012 u. Fallbericht v. 14.12.2012, B12-11/11 – Schienenkartell. 324 Jalowietzki, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 82 Rn. 5 spricht daher von einem „krassen Missverhältnis“ zwischen der in der Literatur geführten Diskussion und der Bedeutung der Vorschrift. 325 BKartA, Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, Hintergrundpapier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 4.10.2012, S. 28, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/w Deutsch/download/pdf/Publikationen/Professorentagung_2012-final.pdf (Stand: 31.12. 2013). 326 TB 2003/2004, BT-Drs. 15/5790, S. 36 f. 327 BKartA, PM v. 10.2.2012; PM v. 15.4.2013. 328 Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff. (279). 329 Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (43 f.). 330 Das BKartA zieht demgegenüber eine Anpassung des Kartellverfahrens an das europäische Verfahren im Sinne einer Ausgliederung aus dem Bußgeldverfahren zur

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(2) Einbuße der Effektivität des Bonusprogramms? Schwerer wiegt allerdings der Einwand, die Einführung eines „Kartellstraftatbestandes“ würde das in der Bonusregelung des Bundeskartellamtes implementierte Kronzeugenprogramm beeinträchtigen.331 Die Bonusregelung, die Kartellbeteiligten eine (vollständige) Reduktion der Geldbuße in Aussicht stellt, wenn sich diese beim Bundeskartellamt selbst anzeigen, hat in der Vergangenheit zu einer erhöhten Aufdeckung von höchst konspirativen Kartellen geführt.332 Wären Kartellbeteiligungen für natürliche Personen strafbar, würden diese allein im Bußgelderlass gegenüber dem beteiligten Unternehmen wohl kaum mehr einen Anreiz zur Selbstanzeige sehen, wenn sie nicht selbst gegen eine Strafe immunisiert wären. Dieses Problem stellt sich jedoch bereits heute bei Submissionsabsprachen, ohne dass deshalb die Existenzberechtigung des Straftatbestands des Submissionsbetrugs in neuerer Zeit in Zweifel gezogen worden wäre. Abhilfe kann zudem eine Anpassung der neuen Kronzeugenregelung des § 46b StGB schaffen.333 Die Vorschrift erfasst bereits mit ihrem Verweis auf § 100a Abs. 2 StPO Submissionsabsprachen, obgleich sie nur Tätern „hilft“, die sich eines besonders schweren Falls des Submissionsbetrugs gemäß § 264 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben.334 Dass dies womöglich rechtspolitisch nicht erwünscht ist, bedarf hier keiner weiteren Vertiefung. Fakt ist, wie Beispiele im internationalen Vergleich zeigen,335 dass es jedenfalls nicht unmöglich ist, die Kronzeugenregelung gesetzlich zu manifestieren, ohne ihre Effektivität zu gefährden. Es ist daher nicht ersichtlich, dass eine strafrechtliche Verfolgung von Hardcore-Kartellen zwingend zu einer schlechteren Aufdeckungswahrscheinlichkeit führen würde.

Erreichung größtmöglicher Effektivität und Effizienz vor. Vgl. dessen Stellungnahme in: Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, Hintergrundpapier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 4.10.2012, S. 25 ff. 331 Klocker/Ost, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 229 ff. (242). 332 Zur Bonusregelung noch vertiefend: Teil 2 § 4 F. (S. 297 ff.). 333 Wagner-von-Papp, WuW 2010, S. 268 ff. (275 f.); bereits vor der Integration des § 46b StGB ähnlich auch: Biermann, ZWeR 2007, S. 1 ff. (46). 334 Dies ergibt sich daraus, dass § 46b Abs. 1 StGB nur Straftaten, die mit einer im Mindestmaß erhöhten Freiheitsstrafe bedroht sind, erfasst. Aus der Regierungsbegründung zur Einführung der Kronzeugenregelung lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber für „einfache“ Fällen davon ausging, dass ein Strafverfahren bereits nach den §§ 153 ff. StPO eingestellt werden kann oder aber eine Strafmilderung nach § 46 StGB in Betracht komme. Vgl. BReg, Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (StrÄndG), BR-Drs. 353/07, S. 2, 6; BT-Drs. 16/6268, S. 2, 9, 10, 16. 335 Zu den Kronzeugenregelungen in Großbritannien und den USA: Wagner-vonPapp, WuW 2010, S. 268 ff. (275 f. Fn. 57, 62).

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cc) Ergebnis Im Ergebnis können die gegen die Annahme der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit von Hardcore-Kartellen vorgebrachten Argumente nicht überzeugen.336 Soweit sich die Kritik auf die Effizienz des Verfahrens bezieht, stellt sie schon nicht in Frage, dass Hardcore-Kartelle grundsätzlich eine Strafe verdienen. Vielmehr spricht die kumulative Verletzung individueller und überindividueller Interessen evident für die Strafbarkeit von Hardcore-Kartellen.337 Mit der Einführung eines Straftatbestands müsste freilich sichergestellt sein, dass die Gerichte auch bereit oder je nach Ausgestaltung des Straftatbestands gezwungen sind, Freiheitsstrafen zu verhängen, um eine erhöhte Abschreckungswirkung zu erzielen. Zudem bedürfte es einer klaren Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Bundeskartellamt und der Staatsanwaltschaft sowie der Absicherung der Attraktivität und damit der Effektivität der Bonusregelung. Diese (nicht unüberwindlichen) organisatorischen Schwierigkeiten sind indes hier nicht von entscheidender Relevanz; für die Bewertung der Reichweite des Verfolgungsermessens ist vielmehr entscheidend, dass Hardcore-Kartelle – jedenfalls der Sache – nach strafwürdig und strafbedürftig sind. c) Folgen für die Reichweite des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes aa) Regelmäßige Verfolgungs- und Ahndungspflicht bei Hardcore-Kartellen Die Strafwürdigkeit und -bedürftigkeit von schwerwiegenden Hardcore-Kartellen spricht dafür, dass an ihre Verfolgung ähnliche Maßstäbe anzulegen sind, wie bei Straftaten, da ein erhebliches öffentliches Interesse an ihrer Ahndung kaum zu bestreiten ist.338 Hinzu kommt, dass die Sanktionierung von Ordnungswidrigkeiten, insbesondere im Wettbewerbsrecht, verstärkt dem Zweck positiver339 wie negativer340 Spezial- und Generalprävention dient341 und das Bedürfnis der Öf336 Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der Einordnung schweren Kartellunrechts in das Recht der Ordnungswidrigkeiten zweifelt hingegen Achenbach an einer überzeugenden Argumentation für die Strafbarkeit von Kartellen vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Vgl. Achenbach, ZStW 119 (2007), S. 789 ff. (814); Achenbach, GA 2008, S. 1 ff. (17). 337 Ebenso schon Abanto Vásquez, Die Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen mit strafrechtlichen Mitteln, S. 17 f. 338 Inzident auch Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4. 339 Für den Vorrang positiver Generalprävention im Sinne einer Stärkung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit vor dem Ziel der Abschreckung: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 362. 340 Vorrangig den Abschreckungszweck der Geldbuße in Anlehnung an das europäische Verständnis betont neuerdings der Gesetzgeber, vgl. v. a. den BRegE zur 7. GWBNovelle, BT-Drs. 15/3640, S. 2, 42, 43. 341 Vgl. bereits Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.) und die dort aufgeführten Nachweise.

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fentlichkeit nach strikter Verfolgung vor dem Hintergrund anhaltender europaund weltökonomischer Krisen gestiegen sein dürfte.342 Insoweit dient die Ahndung kartellrechtswidrigen Verhaltens auch der Festigung der Rechtsüberzeugung der Allgemeinheit und dem „Glauben an Gerechtigkeit“. Denn mit der Geldbuße ist auch die Feststellung verbunden, dass die Kartellbeteiligten eine Ordnungswidrigkeit nach § 1 Abs. 1 OWiG und damit eine rechtswidrige und vorwerfbare Tat begangen haben, sodass die Geldbuße – der fehlenden sozialethischen Missbilligung zum Trotz – einen symbolhaften Tadel, nämlich den des mangelnden Rechtsbewusstseins der betroffenen Kartellbeteiligten, enthält.343 Diese Vorhaltung offenbart, dass das Verhalten der Kartellbeteiligten diesen auch „zur Last gelegt wird“ (§ 66 Abs. 1 Nr. 3 OWiG) und beruht gemäß §§ 11, 12 OWiG letztlich auf denselben Elementen wie die strafrechtliche Schuld. Der symbolische Fingerzeig verschafft Geschädigten eines Kartells ferner Genugtuung. Obgleich der Vergeltungswunsch bei Bagatelldelikten in Abwägung mit Effektivitäts- und Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten nicht anerkennenswert sein mag, ergibt sich doch ein anderes Bild, sobald der Eingriff in die Freiheitsrechte anderer so gravierend und unerträglich ist, dass dieser auch ohne entsprechende Strafandrohung einer Straftat sehr nahe steht. Die mangelnde Strafbarkeit besonders verwerflichen, rechtswidrigen Tuns bei elementar wichtigen Rechtsgütern von verfassungsmäßigem Rang rechtfertigt sich nach Maßgabe des BVerfG mit Hinweis auf das Übermaßverbot nämlich nur, wenn der Gesetzgeber sicherstellt, dass er seinen auf der grundrechtlichen Werteordnung gründenden Schutzpflichten gegenüber anderen Grundrechtsträgern entsprechend dem Untermaßverbot344 auf eine mildere Art und Weise, aber ebenso effektiv erfüllt.345 Die von Verfassungs wegen bestehende Pflicht zum Schutz (über-)individueller Rechte erschöpft sich also nicht in der Kodifikation gesetzlicher Regelungen.346 Vielmehr verpflichten grundrechtliche Schutzpflichten gemäß Art. 1 Abs. 3 GG alle drei Gewalten und damit auch die Exekutive.347 Dementsprechend begrenzen das

342 A. A. BKartA, Kartellbußgeldverfahren zwischen deutschem Systemdenken und europäischer Konvergenz, Hintergrundpapier zur Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht am 4.10.2012, S. 26 („Ein gesellschaftlicher Konsens für eine Kriminalisierung scheint derzeit nicht erkennbar.“). 343 Achenbach, GA 2008, S. 1 ff. (16) mit Verweis auf Appel, Verfassung und Strafe, S. 467, 505, der vom „Vorhalt der defizitären Einstellung zur Norm“ spricht. 344 Das Untermaßverbot wurde ursprünglich in der Literatur entwickelt und schließlich vom BVerfG in seinen Abtreibungs-Entscheidungen angewendet. Grdl. Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 15; ferner auch Götz, in: Isensee/Kirchhof HStR III 1988, § 79 Rn. 30 f.; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 39, 45 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 111 Rn. 165. 345 Vgl. Teil 2 § 3 B. I. 2. b) und den dort genannten Verweisen. 346 Calliess, JZ 2006, S. 321 ff. (328). 347 BVerfG, Urt. v. 16.10.1977, Az. 1 BvQ 5/77 – Schleyer, BVerfGE 46, 160 (164), Rn. 13 (juris).

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Über- und Untermaßverbot nicht nur die gesetzgeberische Entscheidungsprärogative hinsichtlich der Frage, ob ein Verhalten kriminalisiert werden soll, sondern bilden gleichzeitig für die Exekutive einen gewichtigen Maßstab zur (und die äußerste Ermessensgrenze bei der) Anwendung des § 47 Abs. 1 OWiG.348 Zwar mag man die elementare Wichtigkeit des kollektiven Rechtsguts Wettbewerb und die mit dessen Verteidigung ebenfalls geschützten Grundrechte der Berufsfreiheit, des Rechts auf freie, unternehmerische Entfaltung und der allgemeinen Handlungsfreiheit – entgegen der hier vertretenen Auffassung – bestreiten. Zuzugeben ist, dass diese Rechtsgüter im Vergleich zum Grundrecht auf Leben, das im Mittelpunkt der zum Untermaßverbot ergangenen Abtreibungs-Entscheidungen des BVerfG stand, zweifellos eine untergeordnete Rolle spielen. Aus diesem Grund verstößt der Gesetzgeber auch nicht gegen das Untermaßverbot, wenn er keinen Anlass zu einer Kriminalisierung von Kartellen sieht.349 Allerdings ist das Bundeskartellamt als vom Gesetzgeber beauftragter „Hüter des Wettbewerbs“ verpflichtet, bei der Ausübung seines Verfolgungsermessens das in den Tatbeständen der §§ 81 Abs. 1, Abs. 2 i.V. m. § 1 GWB und Art. 101 AEUV abstrakt beschriebene Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitsurteil und die hieraus folgende, gesteigerte Bedeutung des Untermaßverbots als Teil zweckmäßiger, d.h. pflichtgemäßer Ermessensausübung zu berücksichtigen.350 Dies gilt umso mehr, als dass bei ausbleibender Sanktionierung der Kartellbeteiligten für diese ein ungerechtfertigter Wettbewerbsvorteil zum Nachteil ihrer rechtstreuen Konkurrenten und Kunden in vollem Umfang aufrechterhalten bleibt. Diese rechtsstaatlich bedenklichen Konsequenzen können nicht mit dem Verweis auf das Opportunitätsprinzip und mit Effizienzerwägungen sachlich gerechtfertigt werden. Zudem darf der Aspekt der Gleichbehandlung der Täter vergleichbaren Unrechts nicht vernachlässigt werden. Oben wurde aufgezeigt, dass das Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren nur dadurch gerechtfertigt ist, dass Ordnungswidrigkeiten keine elementaren Rechtsgüter zu schützen bestimmt sind. Bei dem Wettbewerb als freiheitssicherndes Mittel einer Vielzahl von Marktteilnehmern handelt es sich zumindest um ein hochwertiges Rechtsgut, dessen gravierende Beschränkung nach hier vertretener Auffassung auch unter Strafe gestellt werden könnte, weil diese, vergleichbar mit Vermögensdelikten, auch Marktteilnehmer individuell schädigen kann. Stuft der Gesetzgeber in Ausübung seiner Einschätzungsprärogative Kartelle dennoch als Ordnungswidrigkeiten ein, so überträgt er damit seine Pflicht zur Sicherstellung der Gleichbehandlung aller Täter auf das Bundeskartellamt. Dieses setzt wiederum mit jeder Entscheidung einen Prä-

348 So auch allgemein zur Auswirkung grundrechtlicher Schutzpflichten und das Untermaßverbot auf die drei Gewalten: Calliess, JZ 2006, S. 321 ff. (328); Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 227. 349 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 227. 350 Ähnlich Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 190, 227.

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zedenzfall, an dem es sich auch in künftigen Fällen zur Erreichung einer gleichmäßigen Verwaltungspraxis orientieren muss. Zumindest in Fällen gravierender Wettbewerbsverstöße bedarf es daher einer besonderen Rechtfertigung, wenn gegen Kartellbeteiligte kein Bußgeldverfahren eingeleitet wird oder sich diese mit Verpflichtungszusagen einer Sanktion entziehen können, während andere eine Kartell-Geldbuße in ihrer vollen Härte zu spüren bekommen.351 Das Opportunitätsprinzip kann daher im Kartell-Bußgeldverfahren eine Ungleichbehandlung der Kartelltäter nicht rechtfertigen. Folgerichtig führen das Untermaßverbot und das Gebot der Gleichbehandlung zu einer Begrenzung des Ermessensspielraums des Bundeskartellamtes. Verdächtigt dieses Unternehmen und natürliche Personen der Beteiligung an einem horizontalen Hardcore-Kartell, kann es unter Beachtung der verfassungsrechtlich intendierten Schutzpflichten als Rechtmäßigkeitsvoraussetzung einer pflichtgemäßen Ermessensausübung im Regelfall nicht von einer Verfolgung innerhalb eines Bußgeldverfahrens und – sofern sich der Verdacht bestätigt – von der Verhängung einer Geldbuße absehen. Wenn keine Besonderheiten des Einzelfalls, insbesondere spezifische, die effektive und effiziente Durchsetzung des Kartellrechts berührende Gesichtspunkte, das öffentliche Interesse an einer Ahndung entfallen lassen, reduziert sich der Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes auf null und begründet eine Verfolgungs- und Ahndungspflicht.352 Dies gilt vorrangig für die von der Zuwiderhandlung unmittelbar profitierenden Unternehmen. Unter Berücksichtigung der Sanktionszwecke und des erheblichen öffentlichen Interesses muss das Bundeskartellamt seinen Fokus allerdings auch auf die Drahtzieher des Kartellverstoßes, nämlich die verantwortlichen, natürlichen Personen des Unternehmens, richten.353 Daraus folgt gleichermaßen, dass bei typischen Hardcore-Kartellen354 in der Regel kein Raum für alternative Reaktionsmittel bleibt.355 Das Bundeskartellamt 351

Ebenso: Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (63 f.). So bereits Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 177; ebenso Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 198 im Anschluss an Gutzler, in: Gutzler/ Herion/Kaiser, Wettbewerb im Wandel, S. 169 ff. (172 f.) (mit Verweis auf die Entstehungsgeschichte des § 47 OWiG); Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 244 und ohne nähere Begr. Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (595 f.) Dies erklärt auch die ausdrückliche Ausnahme von Hardcore-Kartellen aus dem Anwendungsbereich der Bagatellbekanntmachung: Als Kernbeschränkungen können sie nach Auffassung des BKartA in ihren Auswirkungen auf den Wettbewerb grundsätzlich nicht geringfügig sein, sodass eine Verfolgung stets geboten ist, vgl. insoweit Abschnitt D. Rn. 13–15 der Bagatellbekanntmachung. Zur Bagatellbekanntmachung noch detaillierter: Teil 2 § 4 B. 353 Ähnlich auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 188 f. 354 Etwas anderes mag für die weniger wettbewerbsschädlichen vertikalen Wettbewerbsverstöße gelten. 355 In diese Richtung auch Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (68) („Je eindeutiger und gravierender eine Wettbewerbsbeschränkung ausfällt, desto wichtiger ist auch die harte Sanktionierung einschließlich einer Ahndung des vergangenen Fehlverhaltens.“). 352

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kann das fragliche kartellrechtswidrige Verhalten also nicht zum Gegenstand eines Verwaltungsverfahrens machen. Mit anderen Worten tangiert die Art und Schwere der Zuwiderhandlung nicht nur die Entscheidung über das „Ob“ der Verfolgung, sondern gleichermaßen auch diejenige über das „Wie“ im Sinne der Ergreifung der angemessenen, staatlichen Reaktion. Damit korrespondiert auch die weit verbreitete Auffassung in der Literatur zu Art. 9 VO 1/2003, der Vorbildregelung des § 32b GWB, der die Zulässigkeit von Verpflichtungszusagen regelt.356 In Erwägungsgrund 13 der VO 1/2003 findet sich der Hinweis, dass „Entscheidungen bezüglich Verpflichtungszusagen [. . .] für Fälle ungeeignet [sind], in denen die Kommission eine Geldbuße aufzuerlegen beabsichtigt.“ Über dessen Klarstellung hinaus, dass eine Kombination von Geldbuße und Verpflichtungszusagenentscheidung nicht zulässig ist,357 weil letztere keine Feststellung über das Vorliegen einer Zuwiderhandlung beinhaltet, wird der Erwägungsgrund vielfach auch als Ermessensschranke interpretiert.358 Deuten die bisherigen Ergebnisse der kartellbehördlichen Ermittlungen darauf hin, dass es sich bei der vermuteten Zuwiderhandlung um eine solche gravierender Art handelt, kann die Kommission dem öffentlichen Interesse nicht allein mit einer Abstellungsverfügung oder einer Verpflichtungszusagenentscheidung gerecht werden.359 Der deutsche Gesetzgeber hat im Rahmen seiner Begründung zur Kodifikation des § 32b GWB explizit auf Satz 4 des Erwägungsgrundes 13 der VO 1/2003 verwiesen360 und damit dessen Sinn und Zweck auch in den Anwendungsbereich des GWB übertragen.361

356

Ähnlich, jedoch enger: Bach, in: IM/GWB, § 32b Rn. 8. Ausschließlich auf diese verweisend: Bauer, in: MK/EU WettbewerbsR, Art. 9 Rn. 29 f.; de Bronett, Kartellverfahrensrecht, Art. 9 Rn. 4; Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 7. 358 Jaeger, in: FK/Kartellrecht, Art. 9 VO 1/2003 Rn. 8; Dalheimer, in: Dalheimer/ Feddersen/Miersch, VO 1/2003, Art. 9 Rn. 4; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, Rn. S. 116, Rn. 73; Klees, Europäisches Kartellverfahrensrecht, § 6 Rn. 122; wohl auch Anweiler, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 9 VO 1/2003 Rn. 9; ebenso und daher zu Unrecht den vorstehenden Auffassungen krit. gegenüber: Hennig, Settlements im europäischen Kartellverfahren, S. 118 ff., der den Verfassern unterstellt, eine Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 9 VO 1/2003 zu vertreten und selbst einräumt, dass die Art und Schwere der Zuwiderhandlung bei der Entscheidung, ob eine Verpflichtungsentscheidung erlassen wird, zu berücksichtigen ist. 359 So wohl auch das Selbstverständnis der Kommission, Commitment decisions (Article 9 of Council Regulation 1/2003 providing for a modernised framework for antitrust scrutiny of company behaviour), MEMO/04/217 v. 17.9.2004 („it [the Commission] can consider such a decision if and when: [. . .] the case is not one where a fine would be appropriate (this therefore excludes commitment decisions in hardcore cartel cases), [. . .].“). 360 Begr. BRegE zur 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 34. 361 Ebenso: Rehbinder, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 32e GWB Rn. 4; Jaeger, in: FK/Kartellrecht, § 32b Rn. 11. 357

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bb) Die relative Weite des Verfolgungsermessens bei geringfügigeren Wettbewerbsverstößen Bei Wettbewerbsverstößen mit geringerem Unrechtsgehalt besteht demgegenüber keine generelle Ermessensreduktion auf null. Bei diesen lässt sich bereits deren Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit nicht zweifelsfrei feststellen. Aber auch die grundrechtlichen Schutzpflichten und das darauf beruhende Untermaßverbot entfalten bei durchschnittlichen bis geringfügigen Wettbewerbsverstößen nicht mehr zwangsläufig ihre ermessensbeschränkende Funktion. Selbst wenn es in diesen Fällen zu individuellen Schädigungen gekommen ist, kann das öffentliche Interesse an einer leistungsfähigen Kartellbehörde durchaus den Vergeltungswunsch des Geschädigten überwiegen, sodass dieser unbedenklich auf den Zivilrechtsweg verwiesen werden kann. Ferner rechtfertigt die geringere Wettbewerbsschädigung im Vergleich zu Hardcore-Kartellen auch eine Ungleichbehandlung, soweit diese nicht willkürlich ist. Für horizontale und vertikale Wettbewerbsverstöße mit geringfügigeren wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen verbleibt es im Umkehrschluss, je nach den Umständen des Einzelfalls, bei dem bereits unter § 2 dargestellten Ermessensspielraum.362 Denn das öffentliche Interesse an der Verfolgung sinkt – trotz der gleichwohl unverändert hohen Bedeutung des Wettbewerbs für die Allgemeinheit – mit der abnehmenden Reichweite der intendierten oder bereits bewirkten Wettbewerbsschädigung. Bei geringfügigen Wettbewerbsverstößen kann dementsprechend auch eine Verfolgung gänzlich ausbleiben. Bei „normalen“ Wettbewerbsverstößen hat das Bundeskartellamt stets die betroffenen Interessen sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Dabei kann es etwa zu dem Ergebnis gelangen, dass zumindest ein Verwaltungsverfahren notwendig ist, um sinnvoll und gleichermaßen effektiv, aber milder als mit einem Bußgeldverfahren, auf Zuwiderhandlungen zum Schutz des Wettbewerbs zu reagieren. Das durch das individuelle Unrecht bestimmte öffentliche Interesse an der Verfolgung bestimmt letztlich die Reichweite des Ermessensspielraums im konkreten Einzelfall. cc) Kritik in der Literatur Entgegen dem hier gefundenen Ergebnis wird die Ermessensreduzierung im Verhältnis zur Schwere des Wettbewerbsverstoßes in der Literatur zum Teil bestritten. Nehme man eine Ermessensreduktion auf null bei bestimmten Wettbewerbsverstößen an, werde die Kartellbehörde durch die Hintertür faktisch dem Legalitätsprinzip unterworfen und damit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers unter Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz ausgehöhlt.363 362 Gutzler, in: Gutzler/Herion/Kaiser, Wettbewerb im Wandel, S. 169 ff. (173); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 198. 363 Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 124.

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Auch die im Verwaltungsrecht entwickelten Ermessensfehler sähen keine Ermessenreduktion im Verhältnis zur Schwere des ordnungswidrigen Verhaltens vor.364 Im Übrigen widerspreche eine „derart restriktive Auslegung“ dem Zweck des Bußgeldverfahrens, durch erhöhte Flexibilität eine effizientere Kartellverfolgung zu erreichen.365 dd) Stellungnahme Den kritischen Stimmen ist zuzustimmen, soweit sie eine generelle Umdeutung des in § 47 Abs. 1 OWiG zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willens ablehnen.366 An der gesetzgeberischen Entscheidung für das Opportunitätsprinzip wird durch das gefundene Ergebnis allerdings nicht gerüttelt. Eine Ermessensreduzierung anhand des Schweregrades des Wettbewerbsverstoßes führt weder zu einer umfassenden Geltung des Legalitätsprinzips im Kartell-Bußgeldverfahren, noch soll eine generelle Verfolgungspflicht entgegen dem gesetzgeberischen Willen etabliert werden. Vielmehr hat die Untersuchung gezeigt, dass nur bei in ihren Auswirkungen besonders krassen Fällen ein unbedingtes öffentliches Bedürfnis an der Sanktionierung besteht, welches mangels entgegenstehender gleich- oder höherrangiger Interessen eine Verfolgungs- und Ahndungspflicht durch Ermessensreduktion auf null auslöst. Im Übrigen verbleibt es im konkreten Einzelfall bei einem mehr oder weniger weiten Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes. Insoweit kann auch der Hinweis auf die intendierte Effektivität der Kartellbehörde nicht überzeugen. Zum einen ist nicht jede Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften des GWB und des AEUV derart gravierend, dass sie eine Verfolgungspflicht auslöst. Das Bundeskartellamt bleibt also befähigt, seine finanziellen und personellen Ressourcen in Bezug auf nicht-gravierende Wettbewerbsverstöße schonend einzusetzen. Zum anderen findet der Gedanke der Effektivität und Wirtschaftlichkeit seine verfassungsrechtliche Grenze im Untermaßverbot, das den Staat positiv zum Schutz der Grundrechte Einzelner verpflichtet. Dies kann auch dazu führen, dass die dem Bundeskartellamt zur Verfügung stehenden Mittel im öffentlichen Interesse notfalls aufgestockt werden müssen. Ferner greift der Hinweis auf die Ermessensfehlerlehre zu kurz. Unabhängig davon, dass diese im behördlichen Bußgeldverfahren ohnehin nur von beschränkter Aussagekraft ist367 und es außer Frage stehen dürfte, dass die Ermessensfehlerlehre nicht jedes Sonderproblem explizit benennen kann, sondern jene vielmehr generalisierend zusammenfasst, ist der Ermessensfehler der Ermessensüberschreitung durch Setzen einer unzulässigen Rechtsfolge anerkannt. Ein solcher 364 Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 123. 365 Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 250. 366 Zum intendierten Ermessen siehe: Teil 2 § 3 B. II. (S. 120 ff.). 367 Vgl. Teil 1 § 3 (S. 71 ff.).

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Fall liegt nicht erst vor, wenn sich die Verfolgungsbehörde einer Maßnahme bedient, die die Rechtsfolgenseite der Norm nicht vorsieht, sondern auch schon dann, wenn die grundsätzlich zulässige Maßnahme im konkreten Einzelfall die äußersten Grenzen des Ermessens, wie sie allen voran durch die Verfassung gesetzt sind, überschreitet.368 Anerkannt ist insoweit etwa der Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw. das Übermaßverbot.369 Umgekehrt kann nichts anderes für den Verstoß gegen das Untermaßverbot gelten, das als verfassungsrechtliches Prinzip einen Mindeststandard an Grundrechtsschutz garantiert. Mit den vorgebrachten Argumenten lässt sich dementsprechend eine Abhängigkeit der Reichweite des Ermessensspielraumes von dem Grad der Sozialschädlichkeit kartellrechtswidrigen Verhaltens nicht leugnen. IV. Zusammenfassung Das Bundeskartellamt hat die Ausübung seines Verfolgungsermessens mangels ausdrücklich in § 47 Abs. 1 OWiG geregelter Maßstäbe entscheidend an dem Zweck der Vorschrift zu orientieren. § 47 Abs. 1 OWiG dient der Sicherstellung der Akzeptanz des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts und damit seines Bestands, da es nur durch ein entsprechendes Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung durchgesetzt werden kann. Letzteres kann nur erzielt werden, wenn die zuständige Verfolgungsbehörde denjenigen, der die Ge- und Verbote missachtet, nachdrücklich in Form einer Sanktion zur Wahrung seiner Pflichten ermahnt. Denn nur auf diese Weise finden sich rechtstreue Bürger in ihrem Verhalten bestätigt. Angesichts massenhafter Bagatelldelikte, die das ursprüngliche gesetzgeberische Vorstellungsbild von der Ordnungswidrigkeit prägen, ist eine uneingeschränkte Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten allerdings unmöglich. Daher sollte die Verfolgungsbehörde mit der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG in die Lage versetzt werden, abzuwägen, ob eine Sanktionierung im Wege der Geldbuße im konkreten Fall erforderlich ist, um den unbedingten Geltungsanspruch des materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht im öffentlichen Interesse Nachdruck zu verleihen. Freilich weist das heutige materielle Ordnungswidrigkeitenrecht nicht mehr ausschließlich Bagatelldelikte auf. Vielmehr hat der Gesetzgeber zahlreiche ihrer 368 Statt aller Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 75 f., 82 ff.; Kopp/ Ramsauer, VwVfG, Rn. 64; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 40 Rn. 33 ff.; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 93 ff.; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 58 ff. 369 Dazu etwa BVerfG, Urt. v. 16.3.2004, Az. 1 BvR 1778/01 – Kampfhunde, BVerfGE 110, 141 (164 ff.); Beschl. v. 24.5.2005, Az. 1 BvR 1072/01 – Verfassungsschutzbericht „Junge Freiheit“, BVerfGE 113, 63 (80); Beschl. v. 2.9.2004, Az. 1 BvR 1860/02, NVwZ 2005, 203 (204); BVerwG, Urt. v. 30.1.2002, Az. 9 A 20/01, BVerwGE 115, 373 (382); Urt. v. 16.12.2004, Az. 1 C 30/03, BVerwGE 122, 293 (298); Kopp/ Ramsauer, VwVfG, Rn. 65; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 40 Rn. 37; Aschke, in: Bader/Ronellenfitsch, VwVfG, § 40 Rn. 94; Sachs, in: Stelkens/Bonk/ Sachs VwVfG, § 40 Rn. 83; Ruffert, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 40 Rn. 59.

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Natur nach schwerwiegendere Delikte als Ordnungswidrigkeiten qualifiziert. Damit hat er gleichsam seinen ursprünglichen Erwägungen ihre Grundlage entzogen. Denn wenn durch Bußgeldtatbestände geschützte, bedeutende Rechtsgüter in gravierender Weise verletzt werden, ist ein Einschreiten der Verfolgungsbehörde nahezu immer geboten, um den Rechtsfrieden und den Bestand des Rechtsguts im Interesse der Allgemeinheit auf Dauer zu sichern, und dem dadurch zunehmend auch zu berücksichtigenden Genugtuungsinteresse individuell Geschädigter gerecht zu werden. Der Gesetzgeber hat im materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht u. a. durch erheblich voneinander abweichende Bußgeldrahmen und Verjährungsfristen eine typologische Unterscheidung der Ordnungswidrigkeiten nach ihrem Unrechtsgrad vorgenommen. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, und in Anerkennung der in § 17 Abs. 3 OWiG und in § 153 StPO zum Ausdruck kommenden Wertungen, ist die zuständige Verfolgungsbehörde daher zwingend dazu berufen, bei der Ausübung ihres Verfolgungsermessens der im Bußgeldtatbestand zum Ausdruck kommenden Bedeutung des jeweils geschützten Rechtsguts und die Art und Vorwerfbarkeit seiner Schädigung, die zusammen das öffentliche Interesse an der Ahndung determinieren, Rechnung zu tragen, und damit typologische Unterschiede zwischen den materiellen Ordnungswidrigkeiten konsequent verfahrensrechtlich nachzuvollziehen.370 Daraus folgt, dass sich die Reichweite des Ermessensspielraums der Verfolgungsbehörden umgekehrt proportional zum Schweregrad der Ordnungswidrigkeit verhält.371 Für das Bundeskartellamt bedeutet dies, dass es die Bedeutung des Wettbewerbs für die Allgemeinheit feststellen und dessen Schädigung durch die konkret im Raum stehende Zuwiderhandlung ermitteln muss. Die Untersuchung ergab, dass das Rechtsgut Wettbewerb wegen seiner wirtschaftlichen Steuerungsfunktion und seinen wünschenswerten gesellschaftspolitischen Effekten, insbesondere der Freiheitssicherung aller Marktteilnehmer, von fundamentaler Bedeutung für die Allgemeinheit als auch für jeden einzelnen Marktteilnehmer ist. Seine Beschränkung führt regelmäßig zu nachlassender Qualität, zu einem beschränkten Angebot und zu höheren Preise und hat damit für eine unüberschaubare Vielzahl von Marktteilnehmern erhebliche Konsequenzen. Dem hat der Gesetzgeber durch die Kodifikation von – im Vergleich zur Regelhöchstgeldbuße des § 17 Abs. 1 OWiG – überproportional hohen Geldbußen und einer erheblichen Verlängerung der Verjährungsfrist Rechnung getragen. Eine überpositive Bewertung von Kartell-Ordnungswidrigkeiten ergab darüber hinaus, dass sie in ihrer schwerwiegendsten Form aufgrund (i) der Schutzwürdigkeit des Wettbewerbs als Zwischen370 So auch Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 155; Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4; ferner auch: Monopolkommission, Folgeprobleme der europäischen Kartellverfahrensreform, S. 50 Rn. 64. 371 Inzident auch Mitsch, OWiR, § 23 Rn. 4, der die undifferenzierte Anwendung des Opportunitätsprinzips ablehnt und eine Ausrichtung des Ermessens am Schweregrad der Ordnungswidrigkeit favorisiert.

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rechtsgut, (ii) ihren prinzipiell gravierenden Konsequenzen für die Allgemeinheit und einzelne Marktteilnehmer und (iii) der unzureichenden Abschreckungswirkung selbst „extrem“ hoher Geldbußen strafwürdig und strafbedürftig sind. Ihre qualitative Nähe zu Straftaten verpflichtet das Bundeskartellamt dazu, die das Legalitätsprinzip begründenden und rechtfertigenden Grundsätze, namentlich (i) die Tatsache, dass nur eine regelmäßig zwingende Verfolgung zu einem effektiven, aus Sicht der Öffentlichkeit widerspruchsfreien Rechtsgüterschutz führt, (ii) die Gleichbehandlung aller Täter und (iii) die Interessen Geschädigter aufgrund des versagten Selbsthilferechts, seinen Ermessenserwägungen entscheidend zu berücksichtigen. Aus der Zusammenschau der vorstehenden Kriterien ergibt sich, dass das Bundeskartellamt einer pflichtgemäßen Ausübung des Verfolgungsermessen jedenfalls bei Wettbewerbsverstößen, die in ihrer Art und in ihren Auswirkungen am schwerwiegendsten sind, vorwiegend also bei horizontalen Hardcore-Kartellen, im Regelfall nur zu dem Ergebnis gelangen kann, das eine (Verfolgung und) Ahndung geboten und erforderlich ist. Aufgrund der Zweckbindung des § 47 Abs. 1 OWiG reduziert sich das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamt mithin regelmäßig auf null, da das öffentliche Interesse an einem effektiven Wettbewerbsschutz, an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden und die sich aus den Grundrechten Geschädigter ergebenden Schutzpflichten eine staatliche Reaktion in Form eines spürbaren Pflichtenappells erfordern, der sowohl auf das Rechtsbewusstsein der Zuwiderhandelnden, als auch auf potentielle, dritte Täter einwirkt.372

C. Zusammenfassung Das in seiner theoretischen Reichweite sehr weite Verfolgungsermessen erfährt in der Wettbewerbspraxis deutliche Eingrenzungen. Aufgrund europäischer Implikationen ist die Ermessensausübung des Bundeskartellamts faktisch beschränkt, da es innerhalb des ECN zur Kooperation mit den übrigen Kartellbehörden angehalten ist. Gegenüber der Kommission wird die Kartellbehörde zudem wegen des bestehenden Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 zu „Wohlverhalten“ gezwungen. Will das Bundeskartellamt nicht riskieren, dass ihm ein in das ECN eingestellter Fall entzogen wird, muss es seine Verfolgungspraxis im eigenen Interesse zumindest an derjenigen der Kommission orientieren. Darüber hinaus besteht eine erhebliche Begrenzung des Verfolgungsermessens durch die im Pflichtmäßigkeitsbegriff des § 47 Abs. 1 OWiG angelegte Zweckbindung der Ermessensausübung. Dieser zwingt das Bundeskartellamt das öffentliche Interesse an der Durchsetzung materiellen Wettbewerbsrechts zur Erreichung eines stabilen 372 Lemke/Mosbacher, OWiG, § 47 Rn. 2 und Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 31 ff., 64 ff. plädieren daher de lege ferenda für die Festlegung einer Verfolgungspflicht im Sinne einer Ausnahme vom Opportunitätsprinzip bei schwerwiegenden Ordnungswidrigkeiten.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Wettbewerbsschutzes und das bei gravierenden Schädigungen anzuerkennende Interesse betroffener Dritter an „Bestrafung“ zu berücksichtigen. Dies führt bei gravierenden Wettbewerbsbeeinträchtigungen wegen der besonderen Bedeutung des Wettbewerbs für die Allgemeinheit und jeden einzelnen Marktteilnehmer dazu, dass das Bundeskartellamt im Regelfall nicht von einer Verfolgung und Ahndung des Wettbewerbsverstoßes absehen kann. Zu einer derartigen, unter einem Atypikvorbehalt stehenden Ermessensreduktion auf null kommt es insbesondere in Fällen horizontaler Hardcore-Kartelle.

§ 4 Die einen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigenden Ermessenskriterien aus der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamtes Nachdem die Reichweite des Ermessensspielraums des Bundeskartellamtes abstrakt genau als möglich definiert wurde, soll nunmehr geprüft werden, inwieweit sich die Kartellverfolgungspraxis des Bundeskartellamtes innerhalb dieser Grenzen hält. Da das Bundeskartellamt nach hier vertretener Auffassung im Regelfall zur Verfolgung von horizontalen Hardcore-Kartellen verpflichtet ist und nur bei „durchschnittlichen“ bis geringfügigen Wettbewerbsverstößen über einen im Einzelfall mehr oder weniger großen Ermessensspielraum verfügt, beschränkt sich die Arbeit, ausgehend von einer Untersuchung zur Übertragbarkeit der Ermessenskriterien der §§ 153 ff. StPO auf § 47 Abs. 1 OWiG (A.), auf zwei Fragen: Zunächst soll untersucht werden, wann das Bundeskartellamt von einem geringfügigen Wettbewerbsverstoß ausgeht und inwieweit diese Wertung mit der hier vertretenen Auffassung korrespondiert (B.). Dazu ist insbesondere die Bagatellbekanntmachung des Bundeskartellamtes in den Blick zu nehmen. Der Schwerpunkt dieses Abschnitts wird anschließend darauf liegen, die Kriterien, die aus Sicht des Bundeskartellamtes ein (partielles) Absehen von der Verfolgung und Ahndung von schwerwiegenden Hardcore-Kartellen rechtfertigen können, herauszuarbeiten und ihre Vereinbarkeit mit den oben dargestellten heteronomen Grenzen zu überprüfen sowie ihre praktische Anwendung durch das Bundeskartellamt an rechtsstaatlichen Grundsätzen zu messen (C.–F.). Wenngleich diesem Unterfangen mangels der Verpflichtung des Bundeskartellamtes, Entscheidungen zu veröffentlichen, rein tatsächlich Grenzen gesetzt sind und daher weit überwiegend auf die – alle zwei Jahre gemäß § 53 Abs. 1 GWB zu veröffentlichenden – Tätigkeitsberichte, Fallberichte und Pressemitteilungen der Kartellbehörde zurückgegriffen werden muss, hat es gegenüber der abstrakten Katalogisierung von Ermessenskriterien373 zwei entscheidende Vorteile. Zum einen 373 So betonen etwa Rspr. und Lit. zumeist, die Behörde habe alle Umstände des Einzelfalls zu würdigen, „insbesondere das Gewicht und die Auswirkungen der Zuwiderhandlung, die Schwere des Verschuldens, die Einstellung des Betroffenen zur Tat, sein

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spiegelt diese Vorgehensweise die praktische Relevanz einzelner Faktoren wider und vermeidet daher rein theoretische Diskussionen. Zum anderen ermöglicht sie etwaige Fehlerquellen ausfindig zu machen, die für eine Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes noch von Interesse sein können.

A. Vorüberlegung: Der Rückgriff auf die Rechtsgedanken der §§ 153 ff. StPO zur Bestimmung der unteren Ermessensgrenzen In der Literatur zum allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht wird diskutiert, inwieweit die Opportunitätsvorschriften der Strafprozessordnung auch im Bußgeldverfahren Anwendung finden können. Wenngleich ein Rückgriff auf die §§ 153 ff. StPO im Wege einer Analogie unter Hinweis auf den dogmatischen und systematischen Unterschied zwischen den Ausnahmen zum Legalitätsprinzip im Strafverfahren und dem Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren weitestgehend abgelehnt wird,374 kann man sich dem Gehalt der Vorschriften wohl nicht vollständig verschließen. Systematisch spricht nämlich bereits die Verweisungsvorschrift des § 46 OWiG dafür, dass das Bußgeldverfahren nicht in völliger Abstinenz des Strafverfahrensrechts existiert. Vielmehr ist es entwicklungsgeschichtlich auf dieses zurückzuführen.375 Auch wird man kaum bestreiten können, dass Gesichtspunkte, die bereits das öffentliche Interesse an der Ahndung von Straftaten verringern und der Staatsanwaltschaft bzw. den Gerichten einen Ermessensspielraum hinsichtlich der strafrechtlichen Verfolgung eröffnen, erst recht auch im Verfahrensrecht der qualitativ-quantitativ geringeres Unrecht umfassenden Ordnungswidrigkeiten Berücksichtigung finden müssen („argumentum a maiore ad minus“). Insoweit räumen auch die Analogiekritiker ein, dass ein Absehen von der Verfolgung zumindest nahe liegt, wenn die Voraussetzungen der §§ 153 ff. StPO erfüllt sind,376 zumal sie teilweise die in der Literatur zur Ausübung des Verfolgungsermessens anerkanntermaßen zu berücksichtigenden Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG konkretisieren. Die Kritik ist nichtsdestotrotz berechtigt, da es jedenfalls an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt. Denn eine Analogie kommt nur in Betracht, wenn die Regelungsabsicht des Gesetzgebers nicht vollständig umgesetzt worden ist, nicht aber, wenn die

Verhalten nach der Tat und die Gefahr der Wiederholung.“ Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737), Rn. 167 (juris); Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86, Rn. 3; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 196. 374 Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 1; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 1; Mitsch, OWiR, § 3 Rn. 1; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 47 Rn. 20; a. A. Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 107 ff. (für Analogie unter Ausschluss von § 153a StPO). 375 Vertiefend zur Geschichte des Ordnungswidrigkeitenrecht etwa Mitsch, OWiR, § 4. 376 So Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 1; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 1.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Norm dem gesetzgeberischen Plan entspricht und bestimmte Rechtsfragen durch ihre Auslegung beantwortet werden können.377 Letzteres ist bei § 47 Abs. 1 OWiG der Fall. Der Gesetzgeber hat sich, wie bereits dargelegt wurde,378 explizit für die offene Formulierung des § 47 Abs. 1 OWiG, ohne Integration von Tatbestandsmerkmalen und konkreten Ermessensmaßstäben entschieden. Ferner hat die Auslegung des Pflichtmäßigkeitsbegriffs ergeben, dass die zu treffende Einzelfallentscheidung das Ergebnis einer Gesamtabwägung aller, das öffentliche Interesse an der Verfolgung markierenden Umstände, insbesondere der Art und Bedeutung der Zuwiderhandlung, der Praktikabilität, der Effizienz, aber auch der Verhältnismäßigkeit sein muss. Für eine unmittelbare Anwendung der §§ 153 ff. StPO im Wege der Analogie besteht demnach kein Bedürfnis. Allerdings bietet es sich an, die in den strafprozessualen Regelungen der §§ 153 ff. StPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken als indiziellen Katalog von Umständen für ein fehlendes oder entfallendes, öffentliches Interesse an Ahndung zu begreifen, da die strafprozessualen Opportunitätsvorschriften, wie § 47 Abs. 1 OWiG, dem Bedürfnis der Allgemeinheit nach Verfahrensökonomie, Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege und Verhältnismäßigkeit im Einzelfall Rechnung tragen.379 Die Auslegung des Pflichtmäßigkeitsbegriffs des § 47 Abs. 1 OWiG erlaubt es daher die Rechtsgedanken der §§ 153 ff. StPO im Rahmen der Ermessenserwägungen zu berücksichtigen.380

B. Die geringe Bedeutung der Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot Die Untersuchung hat aufgezeigt, dass sich der durch § 47 Abs. 1 OWiG eröffnete Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes reziprok zum öffentlichen Interesse, was maßgeblich durch das verwirklichte Unrecht bestimmt ist, entwickelt, sodass bei geringen (zu erwartenden) Auswirkungen auf den Wettbewerb, der Handlungsspielraum besonders groß ist. In diesen Fällen ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich die Kommission, soweit der zwischenstaatliche Handel be377 Zum Ganzen vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 187 ff.; Rogall, in: KK/OWiG, § 3 Rn. 51; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn. 9. 378 Siehe Teil 2 § 3 B. III. 1. b) aa) (S. 125 ff.). 379 Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 152 Rn. 40, 59; Weßlau, in: SK-StPO III, Vor §§ 151 ff. Rn. 7 f. 380 Freilich muss eine pauschale Übertragung sämtlicher strafprozessualer Grundgedanken scheitern, da es etwa bereits an Ordnungswidrigkeiten fehlt, wie sie beispielsweise §§ 153c Abs. 5, 153d, 153e StPO (Staatsschutzdelikte) im Auge haben. Nichtsdestotrotz sind einige Rechtsgedanken der §§ 153 ff. StPO, wie sogleich aufgezeigt wird, auch dem Bußgeldverfahren zugänglich. Vgl. auch die vertiefende Überprüfung der Übertragbarkeit jeder einzelnen strafprozessualen Opportunitätsvorschrift bei Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 120 ff. und Bibbo, Kriterien zur Konkretisierung des Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren, S. 82 ff.

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troffen ist, des Falls bemüht.381 Entscheidend ist damit, wann von einem geringfügigen Verstoß gegen § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV auszugehen ist. I. Kartellindividuelle, antizipierte Ausübung des negativen Verfolgungsermessens hinsichtlich bagatellhafter Zuwiderhandlungen Mit seiner Bagatellbekanntmachung vom 13. März 2007 382 gibt das Bundeskartellamt eine Antwort auf diese Frage für potentielle Betroffene, um die Ausübung seines Verfolgungsermessens transparenter und vorhersehbarer zu machen. 1. Gegenstand der Bagatellbekanntmachung

Das Bundeskartellamt geht davon aus, dass Vereinbarungen, abgestimmte Verhaltensweisen oder Unternehmensbeschlüsse im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB lediglich geringe Auswirkungen auf den Wettbewerb zeitigen, und aus diesem Grund kein Einschreiten erfordern,383 wenn erstens bestimmte Marktanteilsschwellen nicht überschritten werden, und es sich zweitens nicht um Hardcore-Verstöße (sog. Kernbeschränkungen) handelt. Bei Vereinbarungen zwischen tatsächlichen oder potentiellen Wettbewerbern (horizontalen Vereinbarungen)384 darf der insgesamt von den beteiligten Unternehmen gehaltene Marktanteil auf keinem betroffenen Markt die Marke von 10 % übersteigen; bei allen sonstigen nicht-horizontalen Vereinbarungen gilt eine Marktanteilsschwelle von 15 % für jedes beteiligte Unternehmen auf jedem betroffenem Markt.385 Erweist sich die Einordnung der in Frage stehenden Vereinbarung als schwierig, soll im Zweifel die niedrigere 10 %-Schwelle gelten.386 Begründen hingegen eine Vielzahl ähnlich wirkender Vereinbarungsnetze einen kumulativen Marktabschottungseffekt, der nach Ansicht des Bundeskartellamtes regelmäßig dann anzunehmen ist, wenn die Vereinbarungen 30 % des betroffenen Marktes abdecken, sinkt die Geringfügigkeitsschwelle auf 5 %.387 Selbst wenn die beteiligten Unternehmen die vorstehenden Marktanteilsschwellen nicht errei381 Nur eine Entscheidung in der Sache unter Einschluss des deutschen Marktes hindert das BKartA endgültig an der Eröffnung eines eigenen Bußgeldverfahrens, vgl. schon Teil 2 § 3 A. I. (S. 103 ff.). 382 Bekanntmachung Nr. 18/2007 des BKartA über die Nichtverfolgung von Kooperationsabreden mit geringer wettbewerbsbeschränkender Bedeutung („Bagatellbekanntmachung“), im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/w Deutsch/download/pdf/Merkblaetter/Merkblaetter_deutsch/07Bagatellbekanntmachung. pdf (Stand: 31.12.2013). 383 Rn. 6 der Bagatellbekanntmachung. 384 Rn. 5 der Bagatellbekanntmachung. 385 Rn. 7 bis 9 der Bagatellbekanntmachung. 386 Rn. 10 der Bagatellbekanntmachung. 387 Rn. 11 der Bagatellbekanntmachung.

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chen, handelt es sich bei Preisabsprachen und Vereinbarungen, die den Bezug oder den Absatz von Waren oder Dienstleistungen bzw. die Produktion Ersterer betreffen, quasi von Natur aus um nicht geringfügige Zuwiderhandlungen.388 Erfüllen wettbewerbswidrige Verhaltensweisen diese Voraussetzungen, beabsichtigt das Bundeskartellamt im Rahmen seines Verfolgungsermessens regelmäßig von der Einleitung eines Bußgeldverfahrens abzusehen.389 Allerdings behält es sich kartellrechtliche Maßnahmen insbesondere für Fälle vor, wenn sich durch Vereinbarungen die Marktbedingungen insgesamt verschlechtern würden; in diesen Einzelfällen erwägt das Bundeskartellamt ein Verwaltungsverfahren zu eröffnen und gegen die Beteiligten eine Abstellungsanordnung mit angemessener Fristsetzung zu erlassen.390 2. Qualifikation der Bagatellbekanntmachung

Das Bundeskartellamt gibt an, mit der Bagatellbekanntmachung Ermessensgrundsätze festzulegen, nach denen es wegen Geringfügigkeit kein Bußgeldverfahren einleitet. Der Sache nach handelt es sich um eine abstrakt-generelle Regelung verfahrensrechtlichen Inhalts, die eine einheitliche und für Marktteilnehmer transparente Ausübung des Verfolgungsermessens aller Beschlussabteilungen des Bundeskartellamtes sicherstellen soll.391 Die Bagatellbekanntmachung wendet sich also in erster Linie an die Amtsträger der Kartellbehörde als verbindliches Innenrecht und entfaltet damit weder für Gerichte392 noch für Betroffene eine unmittelbar verbindliche Außenwirkung. Indem das Bundeskartellamt allerdings für die Zukunft zusichert, nach oben stehender Definition geringfügige Vereinbarungen regelmäßig nicht aufzugreifen, bindet es sich selbst.393 Die Parteien der Vereinbarung haben daher über Art. 3 Abs. 1 GG und den Vertrauensgrundsatz einen Anspruch darauf, dass die zuständige Beschlussabteilung auf die Einleitung eines Bußgeldverfahrens verzichtet, sofern kein atypischer Fall vorliegt, dem eine inhaltsgleiche Unterlassungspflicht der Beschlussabteilung korrespondiert.394 Dementsprechend ist die Bagatellbekanntmachung als ermessenslenkende Verwaltungsvorschrift zu qualifizieren.395

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Rn. 13 bis 15 der Bagatellbekanntmachung. Rn. 1, 12 der Bagatellbekanntmachung. 390 Rn. 12 der Bagatellbekanntmachung. 391 Vgl. BKartA, PM v. 13.3.2007. 392 Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 53 Rn. 3; Pfeiffer, in: MK/GWB, § 53 Rn. 16; Becker, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 53 Rn. 3; Klaue, in: IM/GWB, § 53 Rn. 5; Wiedemann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 1 Rn. 45. 393 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 205; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 12. 394 Siehe dazu bereits Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.). 389

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 161 3. Bewertung

Mit der Bagatellbekanntmachung übt das Bundeskartellamt sein Verfolgungsermessen quasi antizipiert aus. Sofern keine besonderen Umstände vorliegen, die ausnahmsweise ein Einschreiten gebieten und rechtfertigen, kann es nicht von seiner „Zusicherung“ abweichen, kein Bußgeldverfahren einzuleiten. Selbst wenn jedoch eine Verschlechterung der Marktbedingungen zu erwarten ist, ist das Auswahlermessen des Bundeskartellamtes angesichts seiner Ankündigung, in der Regel auf ein Bußgeldverfahren zu verzichten, mangels besonderer Begründung396 grundsätzlich auf die Durchführung eines Verwaltungsverfahrens reduziert. Dieses Vorgehen überzeugt. Inwieweit es auch zulässig ist, soll nachfolgend untersucht werden. a) Zulässige Ermessensbindung hinsichtlich der Durchsetzung des § 1 GWB Grundsätzlich kann der Präsident des Bundeskartellamtes kraft seiner Organisations- und Geschäftsleitungsbefugnis Verwaltungsvorschriften erlassen; die Befugnis ist der Exekutive inhärent.397 Wie bereits § 53 Abs. 1 S. 3 GWB zeigt,398 schließt sie auch ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften mit ein, vorausgesetzt sie sind Ausdruck der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG. Dies ist bei der Bagatellbekanntmachung der Fall. Es bedarf weder einer nach dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes notwendigen, gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, noch verstößt die Bagatellbekanntmachung gegen bestehende Gesetze und Rechtsgrundsätze.399 § 47 Abs. 1 OWiG gestattet es dem Bundeskartellamt von der Einleitung eines Bußgeldverfahrens abzusehen oder ein solches einzustellen, wenn es nach 395 So auch Lübbig, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 7 Rn. 85; Wiedemann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 1 Rn. 46. Vertiefend zu Verwaltungsrichtlinien siehe Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.). 396 So auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 70. 397 BVerfG, Beschl. v. 15.7.1969, Az. 2 BvF 1/64 – Eisenbahnkreuzung, BVerfGE 26, 338 (396 f.), Rn. 196 (juris); BVerwG, Urt. v. 2 C 34/80, BVerwGE 67, 222 (229), Rn. 16 (juris); Beschl. v. 2.3.1999, Az. 2 BvF 1-94, NVwZ 1999, 977 (978), Rn. 47 (juris); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 33; Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 1 Rn. 212; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 2 Rn. 66; Möstl, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 20 Rn. 18. 398 § 53 Abs. 1 S. 3 GWB lautet: „Es [das BKartA] veröffentlicht ferner fortlaufend seine Verwaltungsgrundsätze.“ Dabei handelt es nach ganz allgemeiner Meinung um selbst auferlegte, das BKartA bindende Verwaltungsrichtlinien bzw. -vorschriften. Vgl. etwa Becker, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 53 Rn. 3; Klaue, in: IM/GWB, § 53 Rn. 4; Wiedemann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 1 Rn. 45; Jungermann, in: FK/ Kartellrecht, § 53 Rn. 16; Pfeiffer, in: MK/GWB, § 53 Rn. 10. 399 Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung beinhaltet nach herrschender Meinung als Teilgewährleistungen den Vorbehalt und den Vorrang des Gesetzes. Vgl. insoweit noch vertiefend: Teil 2 § 4 E. V. 1. (S. 216 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

pflichtgemäßer Ermessensausübung zu dem Ergebnis kommt, dass eine Durchführung des Verfahrens nicht sachgerecht wäre. Nach der herrschenden Wesentlichkeitstheorie bedarf es einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage, wenn die zu regelnde Materie, insbesondere wegen der Grundrechtsrelevanz staatlichen Handelns, so „wesentlich“ ist, dass die einzig demokratisch legitimierte Staatsgewalt, der Gesetzgeber, die Einzelheiten regeln muss.400 Dies wäre jedenfalls zu diskutieren, wenn das Bundeskartellamt mit der Bagatellbekanntmachung ordnungswidriges Verhalten generell und verbindlich, im Sinne einer zugesicherten „Sanktionslosigkeit“ freistellen und damit mittelbar für rechtmäßig erklären würde.401 Das Bundeskartellamt betont jedoch ausdrücklich, dass die Bagatellbekanntmachung keine antizipierte kartellrechtliche Würdigung über die beschriebenen Verhaltensweisen vornimmt, und dass es nicht ausschließt, dass das fragliche Verhalten einen Kartell-Bußgeldtatbestand des § 81 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 i.V. m. Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB erfüllt.402 Die Bagatellbekanntmachung dient daher nicht einmal der inhaltlichen Präzisierung des von der herrschenden Meinung in § 1 GWB identifizierten,403 ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Spürbarkeit.404 Vielmehr nimmt das Bundeskartellamt allein die ihm vom Gesetzgeber zugewiesene Aufgabe wahr, nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 47 Abs. 1 OWiG zu entscheiden, ob es ein Bußgeldverfahren einleitet oder nicht. Vor dem Hintergrund, dass der Gesetzgeber der Behörde keine ausdrücklichen Maßstäbe für ihre Ermessensausübung an die Hand gegeben 400 Vgl. hier nur Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 107. Die Wesentlichkeitstheorie wird noch vertieft an anderer Stelle behandelt. Siehe insoweit Teil 4 § 2 C. I. 1. (S. 503 ff.). 401 Ähnlich Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 205 m.w. N. 402 Rn. 2 der Bagatellbekanntmachung. 403 Zur Rechtslage vor der 7. GWB-Novelle: grundlegend BGH, Urt. v. 14.10.1976, Az. KZR 36/75 – Fertigbeton, WuW/E BGH 1458 (1461); Rn: 22 ff. (juris); ferner Beschl. v. 13.1.1998, Az. KVR 40/96 – Carpartner, WuW/E DE-R 115, Rn. 29 (juris); Beschl. v. 9.3.1999, Az. KVR 20/97 – Lottospielgemeinschaft, WuW/E DE-R 289 (295), Rn. 33 (juris); Beschl. v. 8.5.2001, Az. KVR 12/99 – Ost-Fleisch, WuW/E DE-R 711 (717), Rn. 39 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 29.12.2004, Az. VI-Kart 17/04 (V) – PPK-Entsorgung, WuW/E DE-R 1453 (1460), Rn. 94 (juris); BKartA, Beschl. v. 25.8.1999, Az. B6-22131-M-49/99 – Stellenmarkt für Deutschland II, WuW/E DE-V 209 (213); Verf. v. 25.10.2005, Az. B1-248/04 – Hintermauerziegelkartell, WuW/E DEV 1142 (1144 f.). Trotz der Änderung des Wortlauts des § 1 GWB hält die herrschende Meinung in der Literatur an dem Merkmal weiterhin zu Recht fest. Der Gesetzgeber habe keine Aufgabe des Merkmals gewollt, sondern im Gegenteil eine weitere Annäherung an das europäische Recht bezweckt. Vgl. etwa Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 1 Rn. 30; Roth/Ackermann, in: FK/Kartellrecht, § 1 Rn. 91; Schroeder, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 8 Rn. 103 ff.; Nordemann, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 1 Rn. 141; Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 165; a. A. Fikentscher, GRUR Int. 2004, S. 727 ff. (729). 404 Insoweit unterscheidet sich die Bagatellbekanntmachung 2007 von der Vorgängerbekanntmachung, für welche zum Teil angenommen wurde, dass sie das Spürbarkeitskriterium deklaratorisch bestätige: Vgl. etwa Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 249 sowie die Nachweise bei Pfeffer/Wegner, BB 2007, S. 1173 ff. (1173 Fn. 4).

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hat,405 ist das Anliegen des Bundeskartellamtes, mehr Rechtssicherheit für Unternehmen und natürliche Personen zu schaffen, zudem zu begrüßen. Der Entscheidung gegen die Durchführung eines Bußgeldverfahrens fehlt es aus der Sicht vermeintlich Kartellbeteiligter im Übrigen an einem Eingriffscharakter. Einzig etwaig Geschädigte könnten mittelbar betroffen sein, wobei diese bei Wettbewerbsbeschränkungen geringer Intensität wegen des in diesem Fall regelmäßig überwiegenden öffentlichen Interesses an der Leistungsfähigkeit des Bundeskartellamtes unproblematisch auf den Zivilrechtsweg verwiesen werden können.406 Dementsprechend ist die Präzisierung von Kriterien zur Feststellung von Bagatellkartellen nicht als wesentlich zu qualifizieren, die ausnahmsweise eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich machen würde. Die mit der Zusicherung künftigen Nichteinschreitens regelmäßig bewirkte „Freistellung“ von Kartell-Ordnungswidrigkeiten widerspricht auch nicht dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes. Falls die unter die Bagatellbekanntmachung fallenden Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen im konkreten Fall überhaupt den Wettbewerb spürbar beeinflussen,407 erweisen sich die Ermessenskriterien des Bundeskartellamtes letztlich als sachgerecht, um regelmäßig von der Einleitung eines Bußgeldverfahrens abzusehen. Bei Absprachen zwischen Wettbewerbern, die gemeinsam nicht mehr als 10 % des Marktes auf sich vereinigen, kann gewöhnlich davon ausgegangen werden, dass diese keinen erheblich negativen Einfluss auf den Wettbewerb haben, zumal Vereinbarungen in diesen Fällen umgekehrt zu positiven Wettbewerbseffekten führen können. So bewirkt zwar eine Einkaufskooperation von kleineren Unternehmen, dass ein Anbieter seine bestehende Marktmacht in Verkaufsverhandlungen nicht vollständig ausspielen kann und/oder marktmächtigere Nachfrager einen ausgleichenden Wettbewerbsnachteil erleiden. In der Gesamtbetrachtung können Einkaufskooperationen mittelständischer Unternehmen aber den Bedingungen auf einem Nachfragemarkt förderlich sein, indem sie Marktungleichgewichte durch Erhöhung des Wettbewerbsdrucks auf marktmächtige Nachfrager und Anbieter ausgleichen.408 Jedenfalls sind die bewirkten Schädigungen des freien Wettbewerbs zwischen den kooperierenden Unternehmen und die Nachteile für Wettbewerber und Anbieter aufgrund der Deckelung der Beteiligungsmöglichkeit auf maximal 10 % des Marktes zu vernachlässigen. 405 Zur Verfassungsmäßigkeit der Norm im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz siehe bereits Teil 2 § 3 B. III. (S. 122 f.). 406 Siehe Teil 2 § 3 B. I. 2. b) (S. 115 ff.). 407 Das BKartA hat vor der Einleitung eines Bußgeldverfahrens stets zu prüfen, ob die vorliegenden Anhaltspunkte dafür sprechen, dass ein Kartell-Bußgeldtatbestand erfüllt sein könnte. Dies schließt die Frage der Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung der vermuteten Vereinbarung mit ein. Vgl. zur Verfahrenseröffnungsvoraussetzung des Anfangsverdachts: Teil 2 § 1 B. (S. 77 ff.). 408 Zu den positiven Wirkungen von Einkaufskooperationen auf den Nachfragewettbewerb etwa Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 270 ff.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Mit dem Ausschluss von Preis-, Quoten- und Marktaufteilungskartellen hat das Bundeskartellamt ferner sichergestellt, dass die schädlichsten Wettbewerbsbeschränkungen selbst von kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht dazu benutzt werden dürfen, Umsatzsteigerungen auf Kosten der Marktgegenseite durchzusetzen. Dies entspricht der hier vertretenen Auffassung, wonach Hardcore-Kartelle im Regelfall zur Verfolgung verpflichten, für einen grundsätzlichen Verzicht auf Ahndung also kein Raum ist. Bei derart definierten geringfügigen Kartellverstößen ist grundsätzlich nicht damit zu rechnen, dass diese zu einer wesentlichen Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen beitragen. Daher kann das Bundeskartellamt zu Recht generalisierend davon ausgehen, dass es in diesen Fällen an einem öffentlichen Interesse an deren Ahndung fehlen wird, auch weil der Grad der Vorwerfbarkeit dieser Kartellverstöße, gemessen an dem Unrechtsgehalt von Hardcore-Kartellen als gering einzuschätzen ist. Damit trägt die Bagatellbekanntmachung des Bundeskartellamtes auch dem Rechtsgedanken des § 153 Abs. 1 StPO Rechnung, der es selbst bei Straftaten ermöglicht, ein Ermittlungsverfahren wegen geringer Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse einzustellen. Im Übrigen stellt das Bundeskartellamt mit seiner Bagatellbekanntmachung unmissverständlich klar, dass es sich nicht seiner Aufgabe begibt, gemäß § 47 Abs. 1 OWiG in jedem Einzelfall von seinem Verfolgungsermessen Gebrauch zu machen. Neben dem Wortlaut, wonach ein Verfahren bei geringfügigen Zuwiderhandlungen „regelmäßig“ nicht eingeleitet wird, macht der Atypikvorbehalt in Randnummer 12 der Bagatellbekanntmachung deutlich, dass sich das Bundeskartellamt in jedem Einzelfall zur Prüfung verpflichtet, ob kartellbehördliche Maßnahmen trotz Unterschreitens der Schwellenwerte erforderlich sind. Mit der Implementierung der Ausnahmeregelung verhindert das Bundeskartellamt den Eindruck, quasi verbindliches, dem Gesetzgeber vorbehaltenes Recht zu schaffen und stellt zugleich sicher, dass die Beschlussabteilungen in jedem Einzelfall ihrer dem Opportunitätsprinzip immanenten Pflicht zur Berücksichtigung aller besonderen Umstände nachkommen.409 b) Zulässige Ermessensbindung hinsichtlich der Durchsetzung des Art. 101 AEUV In der europäischen Kartellrechtspraxis und -rechtsprechung wurde bereits früh versucht, eine Überdehnung des Kartellverbots durch die Ausklammerung nicht ins Gewicht fallender Wettbewerbsbeschränkungen aus dessen Anwendungsbereich zu verhindern. Im Wege einer teleologischen Reduktion entwi409 Daher bejahen auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 205 die Rechtmäßigkeit der Bagatellbekanntmachung; widersprüchlich, aber wohl ebenso Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 12. Krit. dazu im Hinblick auf die dadurch in ihrem Ausmaß „wünschenswerte“ Rechtssicherheit für Unternehmen: Pfeffer/Wegner, BB 2007, S. 1173 ff. (1173 f.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 165

ckelte die Praxis die zusätzliche Anwendungsvoraussetzung der Spürbarkeit.410 Unter das Kartellverbot gemäß Art. 101 Abs. 1 AEUV fallen demnach nur Vereinbarungen und abgestimmte Verhaltensweisen von Unternehmen sowie Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, die spürbar den Wettbewerb beschränken, verhindern oder verfälschen. Die Kommission hat in ihrer de minimis-Bekanntmachung411 das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der Spürbarkeit näher definiert und sich ausdrücklich dazu verpflichtet, geringfügige Wettbewerbsbeschränkungen weder auf Antrag noch von Amts wegen zu verfolgen, wenn die in der Bekanntmachung beschriebenen quantitativen Voraussetzungen erfüllt sind.412 Aus der Bagatellbekanntmachung des Bundeskartellamtes wird hingegen deutlich, dass es diese grundsätzlich auch im Anwendungsbereich des Art. 101 AEUV für einschlägig betrachtet.413 Zwar hat sich das Bundeskartellamt mit dem Ziel, eine Angleichung an die Kartellrechtspraxis der Kommission zu erreichen, bei der Installation seiner Bagatellbekanntmachung inhaltlich nahezu vollständig an der de minimis-Bekanntmachung orientiert.414 Für den Regelfall, nämlich dann, wenn das Bundeskartellamt bei Unterschreiten der Schwellenwerte keinen Anlass sieht, kartellbehördliche Maßnahmen zu ergreifen, kommt es daher, wenngleich auf anderem Wege, zu dem gleichen Ergebnis. Problematisch erscheint allerdings die Situation, in der das Bundeskartellamt nach einer Würdigung der Umstände im Einzelfall zu dem Ergebnis kommt, dass wegen einer insgesamt drohenden Verschlechterung der Marktbedingungen ein Eingreifen geboten ist. Während die Kommission davon ausgeht, dass Unternehmen, welche die beschriebenen Marktanteile nicht erreichen, mit Vereinbarungen, die keine Kernbeschränkungen beinhalten, regelmäßig nicht einmal den Tatbestand des Art. 101 AEUV erfüllen, schließt das Bundeskartellamt eine diesem Ergebnis widerspre410 Zur Anerkennung des Merkmals vonseiten des EuGH: Urt. v. 30. 6. 1966, Rs. 92/ 63 – Société Technique Minière/Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 281 (306); ferner Urt. v. 9.7.1969, Rs. 5/69 – Völk/Vervaecke, Slg. 1969, 295 (302); Urt. v. 6.5.1971, Rs. 1/71 – Cadillon/Höss, Slg. 1971, 351 (355 ff.); Urt. v. 10.7.1980, Rs. 99/79 – Lancôme/Etos, Slg. 1980, 2511 (2536 f.); Urt. v. 11.12.1980, Rs. 31/80 – L’Oréal/De Nieuwe Amck, Slg. 1980, 3775 (3792); Urt. v. 21.1.1999, verb. Rs. C-215/96 u. C-216/96 – Bagnasco/ Banca Popolare, Slg. 1999, I-135, Rn. 34. 411 Kommission, Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft [jetzt: Art. 101 Abs. 1 AEUV] nicht spürbar beschränken, ABl. EG v. 22.12.2001, Nr. C 368, S. 13 ff. Auf einen engeren Anwendungsbereich der Bagatellbekanntmachung im Hinblick auf die Regelungen der Kernbeschränkungen weisen Pfeffer/Wegner, BB 2007, S. 1173 ff. (1174 f.) hin. Soweit dies tatsächlich zu einer Abweichung von den Zusicherungen der Kommission führt, gelten folgende Ausführungen zum Atypikvorbehalt entsprechend. 412 Rn. 4 der de minimis-Bekanntmachung. 413 Rn. 2 der Bagatellbekanntmachung. 414 Vgl. insoweit die explizite Anerkennung der Schwellenwerte der Kommission, auch für den Sonderfall der Einkaufskooperationen, in: TB 2005/2006, BT-Drs. 16/ 5710, S. 10 f.

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chende, rechtliche Würdigung nicht ausdrücklich aus. Leitete es also ein Verwaltungs- oder Bußgeldverfahren ein, würde es von der de minimis-Bekanntmachung abweichen. Es stellt sich daher die Frage, ob das Bundeskartellamt im Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV die de minimis-Bekanntmachung berücksichtigen muss, mit der Folge, dass sein Verfolgungsermessen auf null zu einer Pflicht zur Duldung reduziert würde. aa) Rechtliche Bindungswirkung der de minimis-Bekanntmachung? Die Kommission hat sich zur Definition des Kriteriums der Spürbarkeit der Form der Bekanntmachung bedient. Die „Bekanntmachung“ findet sich nicht in dem in Art. 288 AEUV hinterlegten Kanon der verbindlich wirkenden Rechtsakte der Europäischen Union. Sie ist vielmehr, wie auch sonstige Leitlinien und Mitteilungen der Kommission, ein Akt sui generis, der gegenüber nationalen Behörden und Gerichten zunächst grundsätzlich keine rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen kann.415 Inwieweit sich eine rechtliche Bindungswirkung aus einer nationalen, einfachgesetzlichen Verbindlichkeitserklärung des deutschen Gesetzgebers oder aber dessen expliziter Zustimmung zur Anwendung der durch die Kommission entwickelten Leitlinien ergeben kann,416 bedarf hier keiner weiteren Diskussion, da es jedenfalls an beiden Voraussetzungen hinsichtlich der de minimis-Bekanntmachung fehlt. Nachzugehen ist allerdings dem in der Literatur vorgebrachten Einwand, wonach sich eine Verpflichtung zur Beachtung von Bekanntmachungen der Kommission jedenfalls aus dem „effet utile“-Grundsatz ergebe.417 Aus der Pflicht, die Union bei der Verfolgung ihrer Ziele zu unterstützen, folge, dass nationale Kartellbehörden durch Bekanntmachungen der Kommission quasi unweigerlich ebenfalls verpflichtet würden. Andernfalls werde das in der Netzwerkbekanntmachung erklärte Ziel einer einheitlichen Geltung und Durchsetzung europäischen Wettbewerbsrechts418 gefährdet. Folgte man diesem 415 Thomas, EuR 2009, S. 423 ff. (435); Pampel, EuZW 2005, S. 11 ff. (12 f.); Immenga/Mestmäcker, in: IM/GWB, Einleitung Rn. 87; Pohlmann, WuW 2005, S. 1005 ff. (1008). Zur Bindungswirkung von Bekanntmachungen und Leitlinien monographisch: Walzel, Bindungswirkungen ungeregelter Vollzugsinstrumente der EU-Kommission, S. 162 ff., sowie vertiefend zu Mitteilungen im Kartellrecht S. 374 ff. 416 Zu diesem Komplex, allerdings unter Hinweis auf die verfassungsrechtliche Problematik im Hinblick auf das Demokratieprinzip sowie der Auslegungshoheit des Gerichtshofs Thomas, EuR 2009, S. 423 ff. (432 ff.). 417 Schweda, WuW 2004, S. 1133 ff. (1140 ff.); ebenso, wenngleich verhaltender Geiger, EuZW 2000, S. 325 ff. (325) („faktische Bindung“); wohl auch Bahr/Loest, EWS 2002, S. 263 ff. (271); ohne nähere Begr. wohl auch Weitbrecht, EuZW 2003, S. 69 ff. (72) („[d]ie Kommission kann ihre Anwendung und Beachtung [der Leitlinien] jedoch sowohl gegenüber nationalen Behörden als auch nationalen Gerichten durchsetzen.“). 418 Vgl. insoweit die Netzwerkbekanntmachung der Kommission, ABl. EG Nr. C 101/43 v. 27.4.2004, Rn. 43.

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Ansatz, wäre allerdings Art. 288 AEUV nicht nur überflüssig. Die in der Vorschrift hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit programmierte Differenzierung zwischen verschiedenen Rechtsakten würde überdies ad absurdum geführt, wenn jede schriftliche Stellungnahme der Kommission eine umfassende Bindungswirkung für die Organe der Mitgliedstaaten auslöste.419 Im Übrigen kann ein Rückgriff auf die allgemeine Regelung des Art. 4 Abs. 3 EUV nur dann überzeugen, wenn das Sekundärrecht selbst keine vollständige Ausgestaltung der sich aus dem „effet utile“-Grundsatz ergebenden Pflichten bereithält.420 Davon kann bei der VO 1/2003 jedoch nicht ausgegangen werden, da Art. 16 Abs. 2 VO 1/2003 ein konkretes Abweichungsverbot für von der Kommission bereits entschiedene Fälle gegenüber nationalen Kartellbehörden statuiert. Die Sonderregelung spricht dafür, dass an die Loyalitätspflichten der Mitgliedstaaten gedacht, diese aber auf die Durchsetzung europäischen Kartellrechts im konkreten Einzelfall begrenzt wurden.421 Eine abstrakt-generelle Bindungswirkung war also nicht gewollt. Ferner ist die allgemeine Loyalitätspflicht hinreichend durch die Vorschriften der VO 1/2003 über die enge und kooperative Zusammenarbeit der Kartellbehörden und Gerichte konkretisiert. Dementsprechend haben die Unionsgerichte der Kommission die Kompetenz versagt, ohne entsprechende Ermächtigungsgrundlage im verbindlichen Primäroder Sekundärrecht rechtverbindliche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten zu begründen.422 Die Kommission beansprucht ihrerseits aber auch keine von ihren Bekanntmachungen ausgehende Bindungswirkung.423 Laut Randnummer 21 lit. b der Gemeinsamen Erklärung des Rates und der Kommission will die Kommission von ihrem Revokationsrecht gemäß Art 11 Abs. 6 VO 1/2003 vor allem dann Gebrauch machen, wenn eine nationale Kartellbehörde ersichtlich von der gefestigten Wettbewerbspraxis abzuweichen plant. Dieses Hinweises hätte es nicht bedurft, sähe die Kommission eine rechtliche Verpflichtung der Kartellbehörden zur Beachtung ihrer Leitlinien. Für die de minimis-Bekanntmachung hat die Kommission ebendies auch ausdrücklich betont. Die Bekanntmachung solle

419 Zutreffend mit dem Hinweis auf die bereits bestehende Notwendigkeit einer Ermächtigungsgrundlage für den Verordnungserlass, Thomas, EuR 2009, S. 423 ff. (435). 420 EuGH, Urt. 13.10.1993, Rs. C-378/92 – Kommission/Spanien, Slg. 1993, I-5095, Rn. 6; Urt. v. 28.9.1994, Rs. C-65/94 – Kommission/Belgien Slg. 1994, I-4627, Rn. 5; Urt. v. 19.1.1995, Rs. C-66/94 – Kommission/Belgien, Slg. 1995, I-149, Rn. 6; Urt. v. 2.5.1996, Rs. C-133/94 – Kommission/Belgien, Slg. 1996, I-2323, Rn. 56. 421 Pohlmann, WuW 2005, S. 1005 ff. (1006 f.); Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, Rn. 56 ff. 422 EuGH, Beschl. v. 30.9.1987, Rs. 229/86 – Brother Industries, Slg. 1987, 3757 (3763); EuG, Urt. v. 13.12.1990, Rs. T-116/89 – Prodifarma, Slg. 1990, II-843, Rn. 79; speziell zur de minimis-Bekanntmachung: EuGH, Urt. v. 14.6.2011, Rs. C360/09 – Pfleiderer/BKartA, Slg. 2011, I-5161, Rn. 21; Urt. v. 13.12.2012, Rs. C-226/11 – Expedia/Autorité de la concurrence u. a., Slg. 2012, I-0000, Rn. 27–33. 423 Ebenso Pohlmann, WuW 2005, S. 1005 ff. (1007 f.).

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den nationalen Kartellbehörden als Leitfaden dienen, „auch wenn sie für diese nicht verbindlich ist.“ 424 Nach alledem kann eine rechtliche Verpflichtung des Bundeskartellamtes zur Berücksichtigung der de minimis-Bekanntmachung nicht angenommen werden. bb) Faktische Bindungswirkung der de minimis-Bekanntmachung Freilich schließt das vorstehende Ergebnis eine faktische Bindungswirkung nicht aus. So betonte etwa das OLG München im Fall Tankstelle Germering, dass die einheitliche Auslegung europäischen Rechts für die Schaffung eines Binnenmarktes von besonderer Bedeutung ist; es sah sich daher nur bei schwerwiegenden Gründen in der Lage, von den in der de minimis-Bekanntmachung hinterlegten Kriterien abzuweichen.425 Ähnlich argumentierte das LG Frankfurt im Fall Autovermietungsagenturen. Obgleich die de minimis-Bekanntmachung nicht verbindlich sei, orientiere sich das Gericht im Rahmen des Art. 10 EG [heute: Art. 4 Abs. 3 EUV] an den dort vorgenommenen Wertungen.426 Diese Auffassung teilt auch der EuGH, der zur Frage der Verbindlichkeit von Empfehlungen der Kommission darauf hinwies, dass diese zwar keine rechtliche Bindungswirkung entfalten, jedoch – insbesondere wenn sie verbindliche Rechtsakte der Union ergänzen – zumindest bei Entscheidungen der Gerichte als Auslegungshilfe zu berücksichtigen seien.427 Unabhängig davon, wird faktischer Druck durch das Revokationsrecht der Kommission erzeugt, da sie dem Bundeskartellamt jederzeit einen Kartellfall entziehen kann.428 Die de minimis-Bekanntmachung bildet damit zwar keine echte, heteronome Grenze des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes. Allerdings ist letzteres, will es keine Rechtsmittel wegen der abweichenden Auslegung des Art. 101 Abs. 1 AEUV 429 oder einen Entzug seines Falls provozieren, faktisch gezwungen, die Maßstäbe der de minimis-Bekanntmachung zur Verwirklichung des Ziels 424

Rn. 4 der de minimis-Bekanntmachung. OLG München, Urt. v. 1.8.2002, Az. U (K) 5658/01 – Tankstelle Germering, WuW/E DE-R 991 (992 f.). 426 LG Frankfurt, Urt. v. 15.11.2002, Az. 3-11 O 87/02 – Autovermietungsagenturen, WuW/E DE-R 1200 (1201 f.). 427 EuGH, Urt. v. 13.12.1989, Rs. C-322/88 – Salvatore Grimaldi, Slg. 1989, 4407, Rn. 18; Urt. v. 11.9.2003, Rs. C-207/01 – Altair Chimica, Slg. 2003, I-8875, Rn. 41; Urt. v. 24.4.2008, Rs. C-55/06 – Arcor/Deutschland, Slg. 2008, I-2931, Rn. 94; Urt. v. 18.3.2010, verb. Rs. C-317/08, C-318/08, C-319/08 u. C-320/08 – Alassini, Slg. 2008, I-2213, Rn. 40; der Rechtsprechung des EuGH ausdrücklich folgend: BVerwG, Urt. v. 2.4.2008, Az. 6 C 15/07, NVwZ 2008, 1359 (1361), Rn. 24 (juris); BFH, Urt. v. 23.6. 2009, Az. VII R 41/07, Rn. 16 (juris). 428 Vgl. schon Teil 2 § 3 A. I. (S. 103 ff.). 429 Auf diese Gefahr weisen zu Recht Geiger, EuZW 2000, S. 325 ff. (325) und Pohlmann, WuW 2005, S. 1005 ff. (1008) hin. 425

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einer einheitlichen Auslegung und Anwendung europäischen Wettbewerbsrechts maßgeblich zu berücksichtigen.430 Daher wird es wohl von kartellbehördlichen Maßnahmen wegen geringfügiger Wettbewerbsverstöße absehen. Das Bundeskartellamt hat diese faktische Bindung selbst anerkannt. So verfolgte es etwa eine Einkaufskooperation zwischen der Hansestadt Hamburg und dem Land Niedersachsen nicht weiter, obwohl die nach damaligen Recht noch als Rationalisierungskartell angemeldete Kooperation bei der Beschaffung und Bewirtschaftung von Polizeibekleidung nach der Auffassung des Bundeskartellamtes gegen § 1 GWB verstieß und nicht freistellungsfähig war.431 Seiner Entscheidung lag die Bewertung der Kommission in Rn. 130 ihrer Leitlinien über die Anwendbarkeit des Art. 81 EGV [heute: Art. 101 Abs. 1 AEUV] auf horizontale Kooperationen in der Fassung v. 6.1.2001432 zugrunde, die Einkaufskooperationen in der Regel für nicht wettbewerbsschädlich einstufte, wenn der gemeinsame Marktanteil der Parteien einen Schwellenwert von 15 % nicht übersteigt. Zwar berief sich das Bundeskartellamt in dem Fall nicht auf die de minimis-Bekanntmachung; der in den Horizontalleitlinien von 2001 seitens der Kommission bestimmte Schwellenwert entspricht jedoch dem Zweck der de minimis-Bekanntmachung, geringfügige, nicht spürbare Wettbewerbsbeschränkungen von dem Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV auszuschließen. Obgleich das Bundeskartellamt zum damaligen Zeitpunkt die Kooperation allein nach nationalem Recht zu beurteilen hatte und ausdrücklich darauf hinwies, keine Entscheidung darüber getroffen zu haben, inwieweit die Kooperation mit dem seit dem 1.5.2004 pflichtig anzuwendenden, europäischen Kartellrecht vereinbar sei, orientierte es sich bereits an den Leitlinien der Kommission. cc) Ergebnis Die Bagatellbekanntmachung des Bundeskartellamtes bewegt sich innerhalb der durch das Europarecht und die Wettbewerbspraxis der Kommission gesetzten Schranken. Auf europäischer Ebene ist ebenfalls kein oder lediglich ein geringes öffentliches Interesse an der Verfolgung und Ahndung von Vereinbarungen anzunehmen, wenn die beteiligten Unternehmen die in der de minimis-Bekanntmachung festgelegten Schwellenwerte nicht überschreiten. Die Bagatellbekanntmachung entspricht weitestgehend der de minimis-Bekanntmachung, sodass nur wenige Fälle denkbar sind, in denen die Auffassungen der Kommission und des Bundeskartellamtes kollidieren könnten. Wenngleich die Kommission annimmt, dass die beschriebenen Vereinbarungen nicht zu einer spürbaren Wettbewerbsbe430 So auch Immenga/Mestmäcker, in: IM/GWB, Einleitung Rn. 87; Heckenberger, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., Anhang zu Art. 81 Horizontale Kooperationen Rn. 26; Pohlmann, WuW 2005, S. 1005 ff. (1008 f.); Thomas, EuR 2009, S. 423 ff. (437); Polley/Seeliger, WRP 2001, S. 494 ff. (506); Pfeffer/Wegner, BB 2007, S. 1173 ff. (1173). 431 Vgl. insoweit TB 2003/2004, BT-Drs. 15/5790, S. 40, 90 f. 432 ABl. EG Nr. C 3, S. 19 ff.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

schränkung führen, der Tatbestand des Art. 101 AEUV also nicht verwirklicht ist, kommt das Bundekartellamt durch die mit der Bagatellbekanntmachung bewirkte Selbstbindung ihres Verfolgungsermessens regelmäßig zu dem gleichen Ergebnis. Lediglich der die Ermessensbindung erst rechtfertigende Atypikvorbehalt der Bagatellbekanntmachung kann zu Friktionen führen. Das Bundeskartellamt widerspricht aber weder dem „effet utile“-Grundsatz, noch seiner Loyalitätspflicht gegenüber der Kommission, wenn es entgegen der de minimis-Bekanntmachung eine Vereinbarung unterhalb der Schwellenwerte aufgreift. Es hat allerdings die Wertung der de minimis-Bekanntmachung bei seinen Erwägungen zu berücksichtigen und muss gute Gründe für ein solches Vorgehen vorbringen können. Denn, obgleich, die de minimis-Bekanntmachung das Bundeskartellamt rechtlich nicht bindet, ist doch anerkannt, dass sich die Kartellbehörden an der Auslegung, wie sie die Kommission vorgenommen hat, orientieren sollten, um eine einheitliche Anwendung europäischen Wettbewerbsrechts sicherzustellen. Damit bindet die de minimis-Bekanntmachung jedenfalls faktisch das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes. Einerseits droht ihm nämlich die Ausübung des Revokationsrechts durch die Kommission, die ihrerseits gemäß Art. 10 Abs. 1 VO 1/2003 eine für das Bundeskartellamt bindende Feststellung treffen kann, dass die Vorschrift des Art. 101 Abs. 1 AEUV auf die vom Bundeskartellamt ins Auge gefasste Vereinbarung nicht anwendbar ist.433 Andererseits besteht auch ein größeres Risiko, dass die Betroffenen Rechtsmittel gegen die vom Bundeskartellamt am Ende des Verfahrens ergehende Verfügung einlegen. II. Täterindividuelle Berücksichtigung der geringfügigen Kartellbeteiligung Neben der rein objektiven Gesamtbewertung des Kartellunrechts hat das Bundeskartellamt in der Vergangenheit auch wiederholt das individuell von den einzelnen Kartellbeteiligten durch ihren Tatbeitrag verwirklichte Unrecht zur Grundlage seiner Entscheidung für oder gegen die Verfolgung herangezogen. So hat es sich mehrmals dazu entschlossen, nur gegen einzelne Mitglieder eines Kartells Geldbußen zu verhängen, obgleich es zunächst gegen alle Kartellbeteiligten ein Bußgeldverfahren eröffnet hatte. Jüngere Beispiele sind etwa der Fall Umzugskartell, in welchem zahlreiche deutsche Möbelspediteure Mindestpreise für das Verpacken und den Transport von privaten Umzugsgut US-amerikanischer Soldaten über zwei Jahre hinweg absprachen,434 oder der Fall Hildesheimer Apotheken, in welchem rund 50 Apotheken Preise für ausgewählte, rezeptfreie Medikamente absprachen und gemeinsam bewarben, um den Markteintritt einer „DiscountApotheke“ zu erschweren oder bestenfalls zu verhindern.435 In beiden Fällen er433 434 435

Siehe dazu Teil 2 § 3 A. I. (S. 103 ff.). TB 2005/2006, BT-Drs. 16/5710, S. 149. TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 127.

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ließ das Bundeskartellamt lediglich Geldbußen gegen die führenden Mitglieder des Kartells und stellte die Bußgeldverfahren gegen die übrigen Beteiligten wegen der Geringfügigkeit ihres Tatbeitrags ein. Die Fälle erscheinen vor dem Hintergrund des Ergebnisses in Abschnitt Teil 2 § 3 B. III. interessant, da es sich bei beiden Wettbewerbsverstößen um Hardcore-Preiskartelle handelte, die aufgrund ihrer grundsätzlich gravierenden Auswirkungen auf den Wettbewerb in der Regel als verfolgungspflichtig qualifiziert wurden. Unabhängig davon, dass es sich in beiden Fällen um Kernbeschränkungen handelte, war die Bagatellbekanntmachung bereits aufgrund des Ausmaßes beider Kartelle nicht anwendbar. Im ersten Fall wurde der Wettbewerb auf dem Spezialmarkt für Umzugsleistungen für US-amerikanische Soldaten und im zweiten Fall der Wettbewerb auf dem Markt für rezeptfreie Medikamente in Hildesheim infolge der Beteiligung nahezu aller Anbieter schier ausgeschlossen. Gerade vor diesem Hintergrund ist fraglich, ob es rechtmäßig war, einige Kartellbeteiligte von einer Geldbuße zu verschonen. Mangels konkreter Sachverhaltsangaben kann diese Frage nicht mit letztverbindlicher Sicherheit beantwortet werden. Die Erwägungen des Bundeskartellamtes sind allerdings zutreffend. Entscheidend kann nicht allein der absolute Unrechtsgehalt des Kartells sein, der durch das Zusammenwirken aller Kartellbeteiligten bewirkt wird. Vielmehr sind bei gemeinsam verübten Ordnungswidrigkeiten auch der Unrechtsgrad der individuellen Beteiligungshandlung und die individuelle Vorwerfbarkeit der Entscheidung für oder gegen die Verfolgung und Ahndung zugrunde zu legen. Dies ergibt sich aus dem in Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip, wonach jede Sanktion die individuelle Schuld des Täters voraussetzt und an dieser gleichermaßen zu messen ist.436 Dementsprechend hat die individuelle Vorwerfbarkeit der Zuwiderhandlung auch bei der Bußgeldbemessung gemäß § 17 Abs. 3 OWiG Berücksichtigung zu finden.437 Die Kartellbeteiligten haben also nicht gleichrangig für das gesamte Unrecht einstehen, sondern nur dem Grad ihrer individuellen Schuld entsprechend, wobei in diesem Zusammenhang freilich das durch die Addition ihrer Beiträge verwirklichte Gesamtunrecht zu berücksichtigen ist. Daher ist es folgerichtig und sachgerecht, die der Bußgeldzumessung vorausgehende Frage, ob die Kartellbeteiligung überhaupt geahndet werden soll, ebenfalls mithilfe des individuell verwirklichten Unrechts zu beantworten. Dieser Befund wird letztlich auch von dem in § 153 Abs. 1 StPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken bestätigt, der ein Absehen von der Strafverfolgung gerade in Fällen individuell geringfügiger Schuld und fehlendem öffentlichen Interesse erlaubt. Diese Voraussetzungen können bei unwesentlichen Beteiligungen an Hardcore-Kartellen durchaus vorliegen.

436 St. Rspr. des BVerfG seit dem Urt. v. 10.5.1957, Az. 1 BvR 550/52 – „Homosexuellen-Urteil“, BVerfGE 6, 389 (439), Rn. 182 (juris); vertiefend dazu noch in Teil 3. 437 Vgl. dazu Teil 3 § 3 B. III. 1. c) (S. 446 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Insoweit ist auch kein Verstoß gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden allgemeinen Gleichheitssatz zu befürchten, der die öffentliche Gewalt dazu verpflichtet, wesentlich gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln und bei unterschiedlichen Sachverhalten zu differenzieren, sofern eine (Un-)Gleichbehandlung willkürlich oder jedenfalls nicht durch besondere Umstände sachlich gerechtfertigt wäre.438 In Fällen, in denen einzelne Kartellmitglieder nur in einem geringfügigen Umfang beteiligt waren, kann es bereits an dem Merkmal „wesentlich gleicher Sachverhalte“ fehlen. Im Übrigen stellt der verwirklichte Unrechtsgrad jedenfalls aber ein sachliches Differenzierungskriterium dar. Je nachdem, wie hoch die Unterschiede zwischen den einzelnen Tatbeiträgen zu qualifizieren sind, kann daher auch eine Ungleichbehandlung durch das vereinzelte Absehen von einer Bußgeldverhängung sachlich gerechtfertigt sein. III. Zusammenfassung Die Verfolgungspraxis des Bundeskartellamtes im Hinblick auf geringfügige Wettbewerbsverstöße ist nicht zu beanstanden. Das Bundeskartellamt legt seiner Entscheidung sowohl das absolut durch das Kartell verwirklichte Unrecht mithilfe seiner Bagatellbekanntmachung, als auch das relativ, d. h. im Vergleich zu den übrigen Beteiligten, durch jeden einzelnen Kartellbeteiligten, verwirklichte Unrecht zugrunde. Damit berücksichtigt es nicht nur zutreffend das Schuldprinzip, sondern entsprechend der hier vertretenen Auffassung auch das an der Art und Schwere des Unrechts orientierte, öffentliche Interesse. Die sowohl mit Art. 20 Abs. 3 GG, als auch mit dem primären und sekundären Unionsrecht vereinbare Bagatellbekanntmachung wird letzterem ausnahmslos gerecht, indem sie insbesondere Hardcore-Kartelle als Kernbeschränkungen von ihrem Anwendungsbereich ausschließt und lediglich Vereinbarungen von Unternehmen erfasst, die zusammen einen kleinen Marktanteil halten. Die unter einem Atypikvorbehalt bewirkte Selbstbindung des Bundeskartellamtes ist zulässig. Unabhängig davon kann das Bundeskartellamt aus faktischem Zwang in der Regel keine kartellbehördlichen Maßnahmen ergreifen, wenn dies mit der de minimis-Bekanntmachung, die mit der Definition des Spürbarkeitskriteriums die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens ausschließt, nicht zu vereinbaren ist. 438 Zur klassischen Willkürformel etwa: BVerfG, Urt. v. 23.10.1951, Az. BvG 1/51 – Südweststaat, BVerfGE 1, 14 (52), Rn. 18 (juris); Urt. v. 16.3.1955, Az. 2 BvK 1/54 – Abgeordnetenentschädigung, BVerfGE 4, 144 (155), Rn. 37 (juris); zur Formel der sachlichen, verhältnismäßigen Rechtfertigung: Beschl. v. 7.10.1980, Az. 1 BvL 50/79, 1 BvL 89/79, 1 BvR 240/79 – Präklusion, BVerfGE 55, 72 (88), Rn. 49 ff. (juris); zur Vereinigung beider Formeln im Sinne eines einheitlichen, je nach Grad der Ungleichbehandlung gestuften Rechtsfertigungsmaßstabs: BVerfG, Beschl. v. 26.1.1993, Az. 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92 – Geschlechtsumwandlung, BVerfGE 88, 87 (96 f.), Rn. 34 ff. (juris); Beschl. v. 21.6.2011, Az. BvR 2035/07 – BAföG-Rückzahlungsregelung, NVwZ 2011, 1316, Ls. 1.

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C. Die unverzügliche Einstellung wettbewerbswidrigen Verhaltens In den Tätigkeitsberichten des Bundeskartellamtes finden sich häufig Hinweise, dass das Bundeskartellamt von der Durchführung eines Bußgeldverfahrens abgesehen hat, wenn Kartellbeteiligte ihr Verhalten nach der Aufdeckung des Kartells sofort eingestellt haben. Die Berücksichtigung des Nachtatverhaltens der Kartellbeteiligten wird zunächst dem bisherigen Ergebnis gerecht, wonach die in § 17 Abs. 3 OWiG geregelten Sanktionszumessungskriterien, insbesondere der dem Kartellbeteiligten zu machende Vorwurf, auch bei der Ausübung des Verfolgungsermessens beachtet werden müssen. Fraglich ist jedoch, ob die mit der alleinigen Einstellung des wettbewerbswidrigen Verhaltens offenbarte Einsicht und möglicherweise die fehlende Wiederholungsgefahr einen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigen können. I. Der Fall „All Star“ In seinem Tätigkeitsbericht 2009/2010 berichtete das Bundeskartellamt von der Untersuchung zahlreicher vermuteter Wettbewerbsverstöße in der bekleidungs- und schuhherstellenden Industrie.439 So hatte etwa der Geschäftsführer des Turnschuhherstellers All Star, der Schuhe unter der Marke Converse vertreibt, in einem veröffentlichten Interview geäußert, gegen Händler vorgehen zu wollen, die sich nicht an die „unverbindliche“ Preisempfehlung seines Unternehmens halten würden. Das Bundeskartellamt erklärte, dass es in diesem Fall – wie auch bei vergleichbaren einmaligen Zuwiderhandlungen gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV und § 1 GWB – von einer Einleitung eines Bußgeldverfahrens abgesehen hat, da die Unternehmen die Zuwiderhandlung unverzüglich abgestellt und dies auch glaubhaft nachgewiesen hätten.440 All Star sei der Aufforderung des Bundeskartellamtes und der schweizerischen Kartellbehörde insoweit nachgekommen, als dass es ein Schreiben an seine Abnehmer versendet habe, in dem es darauf hingewiesen habe, dass unverbindliche Preisempfehlungen nicht verpflichtend und die Händler dementsprechend in ihrer Preisfestsetzung frei seien. Das Bundeskartellamt überprüfte die Versendung der Schreiben stichprobenartig durch Einsichtnahme in die Empfangsbestätigungen. Obwohl es sich in dem Fall nicht um ein horizontales Hardcore-Kartell handelte, stellt sich nichtsdestotrotz die Frage, ob es pflichtgemäß war, in dem bei439

TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 81. Ähnlich handelte das BKartA etwa in verschiedenen Fällen im Bereich Orthopädietechnik und Ärztliche Dienstleistungen, in denen Verbände detaillierte Preisempfehlungen herausgaben bzw. Discountpreise (unter Androhung von Abmahnungen) verboten. Nach Rücknahme der Verbandsbeschlüsse und Erklärung gegenüber den Mitgliedern, dass diese in ihrer Preisgestaltung frei seien, hatte das BKartA die Verfahren eingestellt. Vgl. insoweit TB 2005/2006, BT-Drs. 16/5710, S. 11, 37, 169. 440

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

spielhaft aufgeführten Fall All Star von der Einleitung eines Bußgeldverfahrens abzusehen. Unabhängig davon, dass bei einseitigen, nachdrücklichen „Empfehlungen“ die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise des § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV zweifelhaft sein kann,441 stand aufgrund der Veröffentlichung des Interviews jedenfalls außer Zweifel, dass es sich bei den „unverbindlichen Preisempfehlungen“ der Sache nach um gezielte Mindestpreisbindungen handelte. Der Hersteller hatte unmissverständlich deutlich gemacht, gegen solche Händler vorgehen zu wollen, die sich nicht an die Vorgaben All Stars halten würden, um einen „Preisverhau“ zu verhindern. Sofern eine derartige Drohung dazu führt, dass Abnehmer auf eine autonome Preissetzung verzichten und sich an die vermeintlichen „Preisempfehlungen“ halten, wirken sie de facto verbindlich. Diese sogenannten Preisbindungen der zweiten Hand führen regelmäßig zu gravierenden Wettbewerbsbeschränkungen.442 Mit der Festsetzung der Weiterverkaufspreise kommt es im relevanten Markt zu einer erhöhten Transparenz, die sowohl zu einer Kollusion zwischen den Anbietern, als auch auf der Vertriebsebene führen kann. Dem Hersteller geht der Anreiz verloren, durch Senkung der Preise gegenüber dem Handel Verkaufssteigerungen zu erreichen. Umgekehrt können marktstarke, nachfragende Weiterverkäufer den Hersteller zu Lasten (potentiell) konkurrierender, kleinerer Händler veranlassen, die Empfehlungspreise oberhalb des Preisniveaus auf einem freien Markt zu heben. Auf diese Weise wird der Marktzugang und die Expansion kleinerer Händler verhindert. Neben fehlendem Preiswettbewerb zwischen den Händlern können sich Preisbindungen auch direkt auf den Verbraucher auswirken, wenn die dem Weiterverkäufer garantierte, im Vergleich zu konkurrierenden Produkten höhere Marge ihn dazu veranlasst, Verbraucher gezielt zum Kauf dieser Produkte zu veranlassen, ohne auf deren Bedürfnisse einzugehen. Die Kommission hat daher insbesondere durch Druck erzeugte vertikale Preisbindungen als Kernbeschränkung explizit von einer Gruppenfreistellung gemäß Art. 4 lit. a 441 Der EuGH nimmt eine Vereinbarung an, wenn sich aus dem Verhalten der Händler zumindest eine stillschweigende Zustimmung entnehmen lässt, insb. in Fällen, in denen der Hersteller hinreichend deutlich macht, dass das Nichtbefolgen der erstrebten Maßnahme Konsequenzen für das weitere Vertriebsverhältnis hat und sich der Händler diesem beugt, vgl. EuGH, Urt. v. 6.1.2004, verb. Rs. C-2/01 P und C-3/01 P – Bayer, Slg. 2004, I-23, Rn. 78 ff., 102; Urt. v. 12.7.1979, verb. Rs. 32/78, 36/78 bis 82/78 – BMW, Slg. 1979, 2453, Rn. 15 f.; Urt. v. 18.9.2003, Rs. C-338/00 P – VW, Slg. 2003, I9189, Rn. 60. Insofern ist die überwiegende Befolgung durch die Abnehmer jedenfalls ein Indiz für die konkludente Zustimmung. Vertiefend zu dem Problem v. a. Lettl, WRP 2011, S. 710 ff. Sofern die Vereinbarung nicht nachweisbar ist, kommt im Übrigen auch der „Auffangtatbestand“ des § 21 Abs. 2 GWB in Betracht, der Umgehungen um § 1 GWB verhindern soll. Im Fall Phonak Hörgeräte v. 14.10.2009, Az. B3-69/08 beurteilte das BKartA etwa die Ausübung von Druck zur Durchsetzung unverbindlicher Preisempfehlungen ausschließlich nach § 21 Abs. 2 GWB. 442 Vgl. die Leitlinien der Kommission für vertikale Beschränkungen, ABl. EU Nr. C 130/1, Rn. 223 ff., auf die hinsichtlich der negativen Auswirkungen auch im Folgenden Bezug genommen wird.

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Vertikal-GVO443 ausgenommen. Auch das Bundeskartellamt erblickt in Preisbindungen der zweiten Hand grundsätzlich einen Hardcore-Wettbewerbsverstoß.444 Wenngleich vertikale Preisbindungen auch positive Wirkungen auf den Wettbewerb zeitigen können, bedarf es dazu jedenfalls eines entsprechenden Vortrages der Parteien, um möglicherweise eine Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 GWB zu erreichen. All Star hat – soweit ersichtlich – jedoch keine positiven Wirkungen vorgetragen. Wegen der besonderen Schädlichkeit des Verhaltens wäre zunächst davon auszugehen, dass das Ermessen des Bundeskartellamtes auf die Verfolgung der Zuwiderhandlung hin intendiert war. Die Entscheidung des Bundeskartellamtes ist im Ergebnis gleichwohl zu begrüßen. Es berücksichtigte, dass es sich bei der Zuwiderhandlung von All Star – mangels gegenteiliger Anhaltspunkte – um einen einmaligen und nur kurzfristigen Fehltritt handelte. Das Unternehmen hatte ferner auf einen entsprechenden Hinweis der Kartellbehörde unverzüglich reagiert und die mit der indirekten Androhung von Repressalien verbundenen, negativen Auswirkungen auf den Wettbewerb auf diese Weise verhindert bzw. wieder gut gemacht. Damit konnte nicht nur eine befürchtete Breitenwirkung der Verstöße und Signalwirkung auf den Verbraucher zumindest eingedämmt werden. Die Entscheidung des Bundeskartellamtes entspricht auch dem Gedanken des § 153a StPO. Die Vorschrift ermöglicht es der Staatsanwaltschaft von der Verfolgung eines Vergehens abzusehen, weil den Beschuldigten durch die freiwillige Erfüllung bestimmter Auflagen und Weisungen ein mit der Strafe vergleichbares Übel trifft.445 § 153a StPO kombiniert auf diese Weise verschiedene Zwecke446: Zum einen ermöglicht die Norm – entkriminalisierend und justizentlastend – eine spürbare staatliche Einwirkung ohne Strafe und Vorbestraftsein in Fällen, in denen die Sanktionsbedürftigkeit zwar zweifelhaft ist, jedoch vorwiegend aus Gründen der Prävention notwendig erscheint.447 Die Anordnungen selbst bewirken zudem sozialpolitisch wünschenswerte Effekte, wie etwa die Schadenswiedergutmachung und die Stärkung des Täter-Opfer-Ausgleichs. Dieser Kompensationsgedanke hat, wenngleich in weit geringerem Umfang, auch im Ordnungswidrigkeitenrecht seine Berechtigung. Zwar verbietet es § 47 Abs. 3 OWiG ausdrücklich, die Einstellung des 443 Verordnung (EU) Nr. 330/2010 der Kommission vom 20. April 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. EU Nr. L 102/1 v. 23.4.2010. 444 Vgl. Rn. 14 der Bagatellbekanntmachung; Rn. 35 des Merkblatt des BKartA über Kooperationsmöglichkeiten für kleinere und mittlere Unternehmen (März 2007); Ents. v. 14.10.2009, Az. B 3-69/08 – Phonak Hörgeräte. 445 Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 2. 446 Gesetzesentwurf der Bundesregierung eines Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB), BT-Drs. 7/550, S. 298. 447 Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rn. 2; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 4.

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Bußgeldverfahrens von der Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung oder an eine sonstige Stelle abhängig zu machen oder sie damit in Zusammenhang zu bringen, sodass eine vollständige oder sinngemäße Übertragung der in § 153a StPO geregelten Kompensationsmöglichkeiten, insbesondere des – Geldbetragsleistungen ermöglichenden – § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StPO, ausgeschlossen ist. Eine darüber hinausgehende Beschränkung ist dem Wortlaut des § 47 Abs. 3 OWiG hingegen nicht zu entnehmen. Dagegen wird zwar zum Teil angeführt, dass es bedenklich sei, die Einstellung als Gegenleistung zu akzeptieren, da das Ordnungswidrigkeitenrecht lediglich Geldleistungen als Rechtsfolge vorsehe.448 Allerdings verfängt dieses Argument nicht. Anders als behauptet, hält das Ordnungswidrigkeitenrecht, etwa mit der Einziehung gemäß § 22 OWiG oder dem Fahrverbot gemäß § 25 StVG, auch andere Reaktionsmittel bereit. Zudem hatte der Gesetzgeber mit der Einfügung des § 47 Abs. 3 OWiG und seinem Ziel, Massenbagatelle möglichst effektiv der Verfolgung zuzuführen,449 anscheinend vor allem im Sinn, eine Unterminierung der an die rechtskräftige Bußgeldverhängung zu knüpfenden, sogenannten Nebengeschäfte, etwa Eintragungen in das Verkehrszentralregister,450 zu verhindern.451 Sofern solche Nebengeschäfte, wie etwa bei Kartellordnungswidrigkeiten, nicht einschlägig sind, steht es dem intendierten Zweck des Gesetzgebers nicht entgegen, andere Kompensationsleistungen zu berücksichtigen. Darüber hinaus betonte der Gesetzgeber bei der Einfügung des § 47 Abs. 3 OWiG, dass die Beschränkung – wie der Wortlaut der Norm explizit zum Ausdruck bringe – allein für Geldleistungen gelte,452 sodass eine Erstreckung der Norm auf andere Leistungen im Wege einer insoweit allenfalls in Betracht kommenden Analogie mangels planwidriger Regelungslücke nicht in Betracht kommt. Nach der überwiegenden Meinung in der Literatur sind daher etwa nicht-geldwerte Leistungen, die dem Gedanken des § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO entsprechend zu einer Schadenswiedergutmachung führen, nicht durch § 47 Abs. 3 OWiG ausgeschlossen.453 Gleiches muss schließlich gelten, wenn es noch nicht zu einem erkennbaren Schaden gekommen ist und sich der Schädiger freiwillig der „Anordnung“ der Behörde unterwirft, den rechtswidrigen Zustand zu beseitigen.454 So lag der Fall in der Sache All Star. Das Unter448

Bohnert, in: KK/OWiG, § 47 Rn. 147. Vgl. vertiefend Teil 2 § 3 B. III. 1. b) aa) (S. 125 ff.). 450 Vgl. etwa Mitsch, in: KK/OWiG, § 89 Rn. 19. 451 BRegE des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB), BT-Drs. 7/550, S. 148; ebenso kürzlich erst der Gesetzgeber selbst bei der Kodifizierung von Verständigungen im Strafverfahren, vgl. BRegE eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BT-Drs. 16/12310, S. 15. 452 BRegE des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB), BT-Drs. 7/550, S. 148. 453 Lemke/Mosbacher, OWiG, § 47 Rn. 43; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 27. 454 Ebenso Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 34; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 27; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 47 Rn. 43; vgl. auch BT-Drs. 7/550, S. 348. 449

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nehmen hatte bereits öffentlich angekündigt, dass es seine „unverbindlichen Preisempfehlungen“ als feststehende Preise durchzudrücken gedenkt. Durch die unverzügliche Aufgabe seines Verhaltens und vor allem die Rücknahme seiner Äußerungen gegenüber seinen Abnehmern unter Erläuterung der Rechtslage hat All Star den kartellrechtswidrigen Zustand und mögliche Schäden beseitigt bzw. verhindert. II. Der Fall „Tubenhersteller“ Anders wird zum Teil der schon etwas zurück liegende Fall Tubenhersteller beurteilt.455 Eine Reihe von Herstellern von Tuben, Standtuben und Dosen aus Aluminium, Blei und Zinn hatten einen Marktinformationsvertrag geschlossen, nach welchem sich die Vertragsparteien verpflichteten, innerhalb von vier Tagen nach der Abgabe eines Angebots, einer Abschluss- oder Auftragsbestätigung oder der Rechnungsstellung, eine Abschrift oder Kopie des jeweiligen Dokuments einer eigens zur Verwirklichung des Vertrages eingerichteten Meldestelle zur Verfügung zu stellen. Gleiches sollte für nicht aus den Dokumenten ersichtliche, schriftliche oder mündliche (Zusatz-)Vereinbarungen gelten. Die Meldestelle sollte wiederum auf Anfrage der anderen Vertragsparteien Auskunft über die mitgeteilten wettbewerbsrelevanten Informationen erteilen. Nach der Präambel des Marktinformationsvertrages wollte man verhindern, dass Abnehmer die Hersteller gegeneinander ausspielen und ständig neue Preiszugeständnisse zu erwirken versuchen. Das Bundeskartellamt kam zu dem Ergebnis, dass der Abschluss des Marktinformationsvertrags den Tatbestand des § 1 GWB a. F. erfüllte und die Beteiligten dementsprechend ordnungswidrig gemäß § 38 Abs. 1 Nr. 1 GWB a. F.456 gehandelt haben. Das Marktinformationsverfahren wurde bereits seit mehreren Jahren betrieben und hatte dazu geführt, dass der weitaus größere Teil der Aluminium-Tuben-Industrie nicht mehr frei mit Marktpreisen arbeitete, was wiederum seit Jahren zu hohe Preise für Tuben zur Folge hatte. Berücksichtigt man allein den Schweregrad und die Dauer der Zuwiderhandlung war ein Einschreiten des Bundeskartellamtes gegenüber allen profitierenden Beteiligten geboten. Gleichwohl beschränkte sich das Bundeskartellamt darauf, lediglich 12 von 17 zuvor abgemahnten Vertragsparteien zu bebußen, was schließlich auch vom Kammergericht Berlin bestätigt wurde.457 Drei der fünf nicht geahndeten Unternehmen hatten den Marktinformationsvertrag entweder bereits gekündigt, beteiligten sich nicht mehr an dem Informationsverfahren oder ließen ihre Beteiligung bis zur Entscheidung des Bundeskartellamtes ruhen. Bei einem Vertragspartner kam es zu einem Geschäftsführerwechsel. Das Bundeskartellamt 455 BKartA, Beschl. v. 14.5.1971, Az. B5-388560-A-47/69 – Tubenhersteller, WuW/E BKartA 1351 ff. 456 Die Norm entspricht inhaltlich in etwa dem heutigen § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB. 457 KG Berlin, Urt. v. 24.3.1972, „Tubenhersteller II“, WuW/E OLG 1253 (1264).

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entschloss sich daher die Beteiligung letzteren Unternehmens zunächst nicht zu ahnden und das Verhalten des neuen Geschäftsführers abzuwarten. Das fünfte Unternehmen konnte das Bundeskartellamt schließlich davon überzeugen, dass es das Marktinformationsverfahren nicht praktiziert hatte, da es praktisch nur Tuben für den eigenen Bedarf herstellte. In der Literatur wird diese Entscheidung teilweise kritisiert.458 Die schwerwiegenden Auswirkungen des Kartells hätten stärker berücksichtigt werden müssen; vor allem sei das Bundeskartellamt verpflichtet gewesen, zumindest den Mehrerlös459 der Betroffenen zu ermitteln, da dieser die in Geld ausgedrückte Größe der Schädigung der Allgemeinheit und damit das wichtigste Ermessenskriterium darstelle. Stünde der Fall in der heutigen Zeit zur Entscheidung, wäre dieser Auffassung in der Tat voll und ganz zuzustimmen. Der Marktinformationsvertrag hatte schwerwiegende Auswirkungen auf den Preiswettbewerb in der Tubenindustrie. Das Meldeverfahren ermöglichte es den Beteiligten, von Vereinbarungen über Verkaufspreise und andere wettbewerbsrelevante Konditionen abzusehen und stattdessen mittelbar und auf Dauer ihr Preisverhalten untereinander abzustimmen. Mit Hilfe der Meldestelle wurden identifizierbare Angebote und Abschlussmeldungen der Hersteller gebündelt und auf Nachfrage den Wettbewerbern mitgeteilt. Auf diese Weise ging die Ungewissheit der Marktteilnehmer über ihre Wettbewerbssituation verloren. Die hohe Markttransparenz förderte die Reaktionsverbundenheit der Wettbewerber und auf diese Weise die Gleichförmigkeit der Preise auf hohem Niveau, indem sie Preisvorstöße wegen der drohenden, unmittelbaren Reaktion der Konkurrenten zum Nachteil des vorstoßenden Marktteilnehmers unterband. Derartige Marktinformationsverfahren, die unmittelbare Rückschlüsse auf einzelne Kunden und Geschäftsvorgänge zulassen, werden daher in der heutigen Wettbewerbspraxis zweifellos als wettbewerbsbeschränkend qualifiziert und in ihren Wirkungen mit Hardcore-Preiskartellen verglichen.460 Das bloße Abstandnehmen von vier der Beteiligten nach jahrelanger Einschrän458

Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 256 f. § 81 Abs. 2 GWB a. F. erweiterte den Bußgeldrahmen für Unternehmen über den Regelbußgeldrahmen in Höhe von 500.000 Euro hinaus bis zur dreifachen Höhe des durch die Zuwiderhandlung erlangten Mehrerlöses. 460 So für das europäische Recht: EuGH, Urt. v. 28.5.1998, Rs. C-7/95 P – Deere, Slg. 1998, I-3111, Rn. 90; Urt. v. 2.10.2003, Rs. C-194/99 P – Thyssen Stahl, Slg. 2003, I-10821, Rn. 81; Urt. v. 23.11.2006, Rs. C-238/05 – Asnef-Equifax, Slg. 2006, I11125, Rn. 51; für das deutsche Recht: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.7.2002, Az. Kart 37/01 (V) – Transportbeton Sachsen, WuW/E DE-R 949 ff., Rn. 14 (juris), ferner schon BGH, Beschl. v. 29.1.75, Az. KRB 4/74 – Aluminiumhalbzeug, WuW/E BGH 1337 (1344), Rn. 18 ff. (juris); Beschl. v. 18.11.1986, Az. KVR 1/86 – Baumarkt-Statistik, NJW 1987, 1821, Rn. 12 ff. Zum Ganzen im Überblick etwa: Zimmer, in: IM/EU KartellR, Art. 81 Abs. 1 Rn. 337 ff. sowie Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 303 ff. m.w. N. aus der Rechtsprechung und Praxis der Kartellbehörden; zu der neuerlichen Tendenz des BKartA auch bei nicht identifizierbaren Geschäftsvorgängen einen Kartellverstoß anzunehmen, vgl. zum Fall Luxuskosmetik, PM v. 20.2.2008 u. v. 10.7.2008 sowie Stancke, BB 2009, S. 912 ff. 459

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kung des Preiswettbewerbs und Schädigung der Abnehmer könnte daher nach heutigen Erkenntnissen sicherlich nicht ausreichen, um das öffentliche Interesse an Verfolgung und Ahndung entfallen zu lassen. Da die Schädigung bereits eingetreten war und eine Wiedergutmachung des Schadens, wie im Falle All Star, nicht mit der bloßen Einstellung des rechtswidrigen Verhaltens möglich war, müsste man von einem weiterhin bestehenden, gesteigerten Interesse an der Ahndung ausgehen. Allerdings unterschätzt die vorstehende Auffassung einen ganz entscheidenden Faktor in ihrer Bewertung, nämlich den der unklaren Rechtslage.461 Das Bundeskartellamt hatte 1971 zu entscheiden. Das GWB bestand seit 1958 und die deutsche Wettbewerbspraxis steckte buchstäblich noch „in den Kinderschuhen“. In den 1960er Jahren kam in der Literatur eine Diskussion um die wettbewerbliche Beurteilung von Marktinformationsverfahren auf. Eine gerichtliche oder kartellbehördliche Klärung stand seinerzeit noch aus. Zunächst hatte sich das Bundeskartellamt sogar noch in Zurückhaltung geübt. Erst der Fall Tubenhersteller begründete für das Bundeskartellamt erstmals Anlass zu einer eindeutigen Stellungnahme. Zwei Jahre vor seiner Bußgeldentscheidung hatte das Bundeskartellamt den Vertragspartnern eine formelle Abmahnung geschickt und die Einleitung eines Verfahrens angedroht.462 Jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt war nicht eindeutig, ob die Kartellbehörde das Meldesystem überhaupt als wettbewerbsbeschränkend werten würde. Besteht jedoch eine unklare Rechtslage und würde das Bußgeldverfahren erst dazu genutzt, wichtige Zweifelsfragen hinsichtlich der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Vorwerfbarkeit eines Verhaltens zu klären, sollte dies auch in der Ermessensentscheidung des Bundeskartellamtes Berücksichtigung finden, da das Ordnungswidrigkeitenrecht gerade nicht dazu dient, Einzelheiten „bis ins Letzte hin zu durchleuchten“, um zur Bejahung eines ordnungswidrigen Verhaltens zu gelangen.463 Vielmehr wird man hier zugunsten der Betroffenen davon ausgehen müssen, dass sie jedenfalls bis zur eindeutigen Stellungnahme des Bundeskartellamtes nicht von der Kartellrechtswidrigkeit ihres Verhaltens ausgegangen sind, ihnen ihr Verhalten also wegen der unklaren Rechtslage nicht vorgeworfen werden kann. Dies würdigte das Bundeskartellamt einerseits, indem es den Zeitraum der vorwerfbaren Zuwiderhandlung entsprechend auf denjenigen zwischen der Kenntniserlangung durch die Abmahnung und der Entscheidung eingrenzte, und andererseits diejenigen Betroffenen richti461 Der Autor meint ausdrücklich: „Sieht man einmal von der aus damaliger Sicht schwierigen Einstufung des Marktinformationsverfahrens als verbotene wettbewerbsbeschränkende Handlung ab, interessiert hier vor allem, ob es tatsächlich pflichtgemäß war, die genannten fünf Unternehmen nicht ebenfalls zu verfolgen.“, vgl. Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 255. 462 Vgl. der Brief des BKartA an die Tubenhersteller v. 18.4.1969, WuW/E BKartA 1293 ff. 463 Zutreffend: Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 4a; ihm folgend Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 4.

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gerweise nicht bebußte, die nach der formellen Abmahnung des Amtes ihre Beteiligung an dem Marktinformationsvertrag einstellten.464 Ebenso hat das Bundeskartellamt zu Recht darauf verzichtet die Beteiligung des Unternehmens zu ahnden, welches lediglich für den eigenen Bedarf Tuben herstellte. Dieses konnte die identifizierbaren Angebote tatsächlich nicht dazu verwenden, den Wettbewerb zu den anderen Vertragspartnern einzuschränken.465 Da die abweichende Behandlung der fünf Unternehmen im Vergleich zu den Adressaten der Bußgeldentscheidung auf dem nachvollziehbaren, sachlich gerechtfertigten Grund ihres Nachtatverhaltens beruhte, war sie nicht willkürlich und verstieß nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG.466 III. Der Fall „Elektronische Tischrechner“ Auch im Fall Elektronische Tischrechner stellte das Bundeskartellamt ein Bußgeldverfahren ein, nachdem die Beteiligten ihre wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen eingestellt hatten.467 Das Nachtatverhalten der Kartellbeteiligten war jedoch nicht allein der ausschlaggebende Punkt für die Einstellungsentscheidung. Vielmehr beeinflusste die internationale Verflechtung der Vereinbarung die Ermessensausübung des Bundeskartellamtes. Auf dem Markt für elektronische Tischrechner hatten japanische Hersteller exportbeschränkende Vereinbarungen praktiziert, die trotz gleichbleibender Nachfrage zu rückläufigen Importen und einer spürbaren Beeinträchtigung der Bezugsmöglichkeiten für den Handel führten. Ermittlungen des Bundeskartellamtes ergaben, dass die Vereinbarungen zwar auf einer autonomen Entscheidung der Hersteller beruhten, jedoch von staatlichen Stellen Japans angeregt worden waren. Nachdem das Bundeskartellamt im Gespräch mit den japanischen Behörden klarstellte, dass die Vereinbarungen wegen ihrer Wirkungen auf den deutschen Markt gegen § 98 Abs. 2 GWB a. F.468 i.V. m. § 1 GWB a. F. verstießen, und das Kartell im Anschluss aufgegeben wurde, stellte das Bundeskartellamt das Verfahren ein. Wie im Fall Tubenhersteller handelte es sich um eine schon länger andauernde Zuwiderhandlung, die in ihrer Form als Quotenkartell darüber hinaus zu einer der schwerwiegendsten Hardcore-Kartellverstöße zählt. Angesichts der Schwere und Dauer des Wettbewerbsverstoßes wäre dementsprechend die bloße Aufgabe des Verhaltens als alleiniger Einstellungsgrund nicht tragfähig gewesen. 464 Dies gilt unabhängig davon, ob die Beteiligung lediglich ruhte, der Vertrag gekündigt wurde oder aber eine Erfüllung aufgrund eines Geschäftsführerwechsels nur rein faktisch unterbrochen war. 465 Insoweit zutreffend Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 255. 466 KG Berlin, Beschl. v. 24.3.1972, Az. Kart B 20/71 – Tubenhersteller II, WuW/E OLG 1253 (1264). 467 TB 1975, BT-Drs. 7/5390, S. 66. 468 § 130 Abs. 2 GWB n. F.

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Allerdings konnte die „Beteiligung“ der japanischen Behörden nicht unberücksichtigt bleiben, sodass die Entscheidung des Bundeskartellamts im Ergebnis richtig erscheint. Durch die „Anstiftung“ der staatlichen Stellen wäre es für das Bundeskartellamt praktisch äußerst schwierig gewesen, den Beteiligten Wissen um die Kartellrechtswidrigkeit ihres Verhaltens nachzuweisen; diesbezüglich hätte das Bundeskartellamt möglicherweise auch Nachforschungen hinsichtlich japanischen Kartellrechts anstellen müssen.469 Der Ermittlungsaufwand wäre dementsprechend sehr hoch und nicht zweifelsfrei erfolgsversprechend gewesen. Hinzu kommt, dass die Ahndung des Quotenkartells wahrscheinlich zu einer Belastung des Verhältnisses zwischen der deutschen Kartellbehörde und den japanischen Stellen geführt hätte. Unabhängig von dem Gedanken der Verfahrensökonomie und den bestehenden Beweisschwierigkeiten hat das Bundeskartellamt diplomatisches Geschick bewiesen, indem es einerseits deutlich zum Ausdruck brachte, dass Quotenkartelle nach deutschem Recht rechtswidrig sind und nicht hingenommen werden, andererseits jedoch berücksichtigte, dass die Beteiligten womöglich keine positive Kenntnis von ihrem Fehlverhalten hatten und dieses nach Intervention des Bundeskartellamtes unverzüglich einstellten. Mit dem Verzicht auf Repression konnte das Bundeskartellamt ferner den Boden für eine verbesserte Zusammenarbeit mit den japanischen Stellen, kombiniert mit einer mittelbaren Steuerung des Wettbewerbsverhaltens japanischer Unternehmen bereiten. Zwar hat die Berücksichtigung außerökonomischer und wirtschaftspolitischer Ziele grundsätzlich im Rahmen der Ermessensausübung nach § 47 Abs. 1 OWiG zu unterbleiben.470 In diesem konkreten Fall waren diese Erwägungen, sofern sie das Bundeskartellamt anstellte, allerdings wettbewerblicher Natur und zielten auf eine Aufklärung mit „gehobenen Zeigefinger“ zugunsten des Wettbewerbsschutzes. Im Übrigen kann insoweit wiederum auf die Rechtsgedanken der Opportunitätsvorschriften der StPO zurückgegriffen werden. Bei Straftaten mit Auslandsbezug stellen es die §§ 153c bis 153f StPO explizit in das Ermessen der Staatsanwaltschaft, von der Verfolgung einer Straftat abzusehen, die im Ausland begangen worden ist. Freilich ist der Handlungsort der Ordnungswidrigkeit gemäß § 7 OWiG, wie der Tatort bei Straftaten sowohl der Begehungs- als auch der Erfolgsort, sodass es sich im Fall Elektronische Taschenrechner wegen der Auswirkung der Quotenabsprache auf den inländischen Markt um eine Inlandstat handelte. § 153c Abs. 3 StPO macht jedoch deutlich, dass auch bei sogenannten Distanztaten, also Inlandstaten mit Auslandsbezug eine Abwägung mit anderen öffentlichen Interessen, als derjenigen an der Bestrafung zu dem Ergebnis kommen kann, dass das Verfolgungsinteresse zurücktreten muss. So lag der Fall hier. Berücksichtigt man, dass an die entgegenstehenden öffentlichen Interessen im 469 470

Zutreffend Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 258. Vgl. noch Teil 2 § 4 D. (S. 183 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Ordnungswidrigkeitenrecht, entsprechend dem verwirklichten, im Vergleich etwa zu Kapitalverbrechen geringeren Unrecht weniger hohe Anforderungen zu stellen sind, kann man annehmen, dass die mit der Einstellung wohl auch verbundene Hoffnung des Bundeskartellamtes, eine positive, generalpräventive Wirkung auf das japanische Wettbewerbsverhalten zu erreichen, das Verfolgungsinteresse überwogen.471 Jedenfalls erscheint das Vorgehen des Bundeskartellamtes angesichts der ohnehin bestehenden kulturellen Differenzen überlegt und sachgerecht. IV. Ergebnis Die exemplarisch untersuchten Fällen offenbaren deutlich, dass bei schwerwiegenden Wettbewerbsverstößen das alleinige Aufgeben des kartellrechtswidrigen Verhaltens infolge kartellbehördlichen Tätigwerdens nicht ausreichen kann, um die hier vertretene, grundsätzlich in derartigen Fällen bestehende Verfolgungspflicht des Bundeskartellamtes zu revidieren. Folgerichtig hat das Bundeskartellamt in allen Fällen zunächst ein Verfahren eingeleitet bzw. die betroffenen Unternehmen unmissverständlich abgemahnt. Aufgrund besonderer, atypischer Umstände, die es zutreffend berücksichtigte, ist das Bundeskartellamt in den dargestellten Einzelfällen allerdings zu Recht ausnahmsweise zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Ahndung mittels Geldbuße nicht erforderlich und/oder angemessen war. Zusammenfassend lassen sich drei Gründe festhalten, die zusammen mit der endgültigen Aufgabe kartellrechtswidrigen Verhalten ein Absehen von der weiteren Verfolgung und anschließenden Ahndung rechtfertigen können: Erstens, die schwerwiegende Zuwiderhandlung war nur von äußerst begrenzter Dauer, sodass sie noch keine oder zumindest umkehrbare Wettbewerbsschädigungen zeitigen konnte. Oder zweitens, hinsichtlich des fraglichen wettbewerblichen Verhaltens bestehen Unsicherheiten über die Rechtslage; mit dem Tätigwerden der Kartellbehörde nehmen die Beteiligten aber vorsorglich und unverzüglich von ihrem Verhalten Abstand. Oder drittens, aufgrund voraussehbarer, erheblicher Beweisschwierigkeiten verbunden mit anderen, das öffentliche Wettbewerbsinteresse berührenden Umständen von gewichtiger Bedeutung erscheint eine weitere Verfolgung mit der Einstellung des Verhaltens ineffektiv und nicht mehr geboten. Vor allem im ersten, wohl praktisch relevantesten Fall ist das Absehen von der Ahndung nicht nur verhältnismäßig, weil die Androhung eines Bußgeldverfahrens in der Regel eine ähnlich abschreckende Wirkung haben kann, wie die Ahndung selbst. Vor dem Hintergrund angemessener Ressourcenallokation ist die Linie des Bundeskartellamtes auch folgerichtig und ermöglicht eine effektive, kostensparende und auf gravierende Wettbewerbsverstöße fokussierte Kartellverfolgung. Es soll an dieser Stelle allerdings nochmals betont werden, dass die 471

So schon zutreffend Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 258.

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 183

Aufgabe des rechtswidrigen Verhaltens für sich genommen nicht ausreicht, wenn eine gravierende Wettbewerbsschädigung bereits eingetreten ist und keine besonderen Umstände, wie in den beiden anderen Fallgruppen, hinzukommen, um eine ausbleibende Ahndung zu rechtfertigen. Einer Wiedergutmachung durch Geldleistungen, wie sie etwa das Strafprozessrecht in § 153a StPO vorsieht, schließt § 47 Abs. 3 OWiG nämlich gerade aus.

D. Wettbewerbsfremde, rechtspolitische Kriterien Der Fall Elektronische Taschenrechner hat ein Problem gestreift, womit sich die Wettbewerbspraxis und die Literatur schon seit Jahrzehnten beschäftigen. Konkret geht es um die Frage, inwieweit übergeordnete, außerwettbewerbliche Interessen bei der rechtlichen Würdigung gemäß § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV oder jedenfalls bei der Ausübung des Verfolgungsermessens Berücksichtigung finden können. Ohne die Frage hier in allen Einzelheiten ausloten zu können, kann jedenfalls thesenartig festgehalten werden, dass das Bundeskartellamt in früheren Entscheidungen Beschränkungen des Wettbewerbs insbesondere von Zielen des Gesundheits- und Umweltschutzes, von arbeits- und sozialrechtlichen Belangen, aber auch von wirtschaftspolitisch gewünschten Effekten aufgewogen sah. Dogmatisch löste es bestehende Zielkonflikte zwischen dem Wettbewerbsschutz und dem Schutz anderer Rechtsgüter zunächst über eine Tatbestandsrestriktion des § 1 GWB, sodass es im Ergebnis einen (freistellungsbedürftigen) Kartellverstoß, ähnlich den Fällen der anerkannten Immanenztheorie,472 von vornherein ablehnte.473 Später entwickelte es, wohl auch unter dem Eindruck der Rechtsprechung und der wachsenden Kritik in der Literatur,474 eine neue Strategie, um den Interessenkollisionen Herr zu werden. So stellte es (teilweise) nicht mehr einen 472 Die Immanenztheorie besagt, dass bestimmte Nebenvereinbarungen wettbewerbsbeschränkenden Charakters einer wettbewerbsförderlichen Absprache immanent sind, und wegen des zivilrechtlich gebotenen Hauptzwecks nicht durch das Kartellrecht verboten sein können. Dies sind etwa Wettbewerbsverbote in Gesellschaftsverträgen. Zum Ganzen etwa Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 175 ff.; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 1 Rn. 29; Roth/Ackermann, in: FK/Kartellrecht, § 1 Rn. 88 und Nordemann, in: LMR/ Kartellrecht, 2. Aufl., § 1 Rn. 147 ff., der allerdings begrifflich nicht scharf zwischen der Rule of Reason und der Immanenztheorie unterscheidet. 473 So vor allem in den Fällen kollidierenden Gesundheitsschutzes: vgl. BKartA, Ents. v. 20.2.1960, WuW/E BKartA 145 (149) – Doppelstecker; Ents. v. 6.7.1961, WuW/E BKartA 370 ff. – Handfeuerlöscher; TB 1966, BT-Drs. V/1950, S. 58 – Zigarettenwerbung; TB 1976, BT-Drs. 8/704, S. 79 – Zigarettenwerbung. 474 KG Berlin, Beschl. v. 26.2.1986, Az. 1 Kart 7/85 – Selex-Tania, WuW/E OLG 3737 (3746); Beschl. v. 29.5.1996, Az. Kart 18/95 – CP-System (carpartner), WuW/E OLG 5677 (5693); Immenga, Politische Instrumentalisierung des Kartellrechts?, 1976; Kloepfer, JZ 1980, S. 781 ff.; Bock, WuW 1996, S. 187 ff. (193); Bunte, in: LB/GWB (8. Aufl. 1998), § 1 Rn. 118; Immenga, in: IM/GWB, 2. Aufl. § 1 Rn. 376, 387 ff.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Verstoß gegen § 1 GWB in Frage, sondern entschied sich diesen im Rahmen seines Verfolgungsermessens zu dulden, um „übergeordnete“, wettbewerbsfremde Interessen und Ziele nicht zu vereiteln.475 In seinem Tätigkeitsbericht von 1995/ 96 distanzierte sich das Bundeskartellamt ferner ausdrücklich von seinem ursprünglichen Vorgehen und betonte, dass eine Rechtsgüterabwägung, die zu einer generellen Entscheidung zu Lasten des Wettbewerbs aus wettbewerbsfremden Erwägungen führt, grundsätzlich allein dem Gesetzgeber vorbehalten sei und eine Bilanzierung im Rahmen des § 1 GWB „ernsthaften Zweifeln“ an der Vereinbarkeit mit der Grundkonzeption des GWB begegne.476 In der Tat dient das GWB allein dem Wettbewerbsprinzip und sieht jedenfalls im Hinblick auf das Kartellverbot keine Einschränkungen durch andere, außerhalb seines Schutzzweckes stehende Interessen vor.477 Selbst der Freistellungstatbestand des § 2 GWB toleriert lediglich solche Kartelle, die nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs führen und ökonomische Vorteile versprechen.478 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Tatbestandsmerkmal der Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts. Der Gesetzgeber hat mit der 7. GWB-Novelle ausweislich der Gesetzesbegründung eine Angleichung der §§ 1, 2 GWB an Art. 101 AEUV bezweckt. Seit der Einführung des Legalausnahmesystems erlaubt Art. 101 Abs. 3 AEUV, an welchen § 2 GWB angepasst wurde, grundsätzlich keine unmittelbare Berücksichtigung von allgemeinpolitischen Zielen der Union (mehr).479 Dies hat auch die Kommission ausdrücklich anerkannt und ihre Praxis, nach der sie außerwettbewerbliche Unions-

475 So vor allem BKartA, Brief v. 31.1.1961, WuW/E BKartA 339 (340) – Sonnabendarbeitszeit; TB 1983/84, BT-Drs. 10/3350, S. 86 – kindergesicherte Verpackungen; TB 1991/92, BT-Drs. 12/5200, S. 132 – DSD (Der Grüne Punkt), TB 1993/94, BT-Drs. 13/ 1660, S. 128 – DSD. 476 TB 1995/96, BT-Drs. 13/7900, S. 39. 477 Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 199, 201; Säcker, in: MK/GWB, § 1 Rn. 53; Nordemann, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 1 Rn. 246; jeweils m.w. N.; a. A. Roth/Ackermann, in: FK/Kartellrecht, § 1 Rn. 105 ff. Insoweit unterscheidet sich das der Verhinderung künstlich bewirkter, wettbewerbsbeschränkender Marktbedingungen dienende Kartellverbot von der der präventiven Bewahrung wettbewerbsförderlicher Strukturen dienende Fusionskontrolle. Nach § 42 Abs. 1 GWB kann ein untersagter Zusammenschluss wegen überragender, wettbewerbsfremder Interessen der Allgemeinheit vom Bundesminister für Wirtschaft und Technologie erlaubt werden. 478 Fuchs, in: IM/GWB, § 2 Rn. 67, 88; Nordemann, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 2 Rn. 19; zurückhaltender: Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 199 („allenfalls“). 479 Quellmalz, WRP 2004, S. 461 ff. (466 ff.); Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13 Rn. 76 f.; Fuchs, in: IM/GWB, § 2 Rn. 68; Schuhmacher, in: Grabitz/Hilf EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 269; einschränkend: Pohlmann, in: FK/ Kartellrecht, Art. 81 Abs. 3 Rn. 37 ff., 68 ff. (Rn. 77: „[A]ndere Vertragsziele [sind] zu berücksichtigen, wenn ihre ernsthafte Gefährdung droht.“) mit zahlreichen weiteren Nennungen; a. A. Schröter, in: v.d.Groeben/Schwarze EUV/EGV, Art. 81 Abs. 3 Rn. 304; Frenz, Hdb. EuR, Bd. 2, § 7 Rn. 1006 ff.; Roth, in: Engel/Möschel, Recht und spontane Ordnung, S. 411 ff. (431 ff.).

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interessen im Rahmen des Freistellungstatbestandes berücksichtigte,480 explizit aufgegeben.481 Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH, der grundsätzlich das Prinzip unverfälschten Wettbewerbs betont und lediglich in zwei Fällen feststellte, dass eine Freistellung der Kommission unter Berücksichtigung wünschenswerter, wettbewerbsfremder Ziele möglich sei, wenn diese eine Folge der Effizienzsteigerung sei bzw. zumindest mit einer solchen in Zusammenhang stehen.482 Vor diesem Hintergrund kann das Bundeskartellamt im Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 3 AEUV unter dem Primat des Effektivitätsgebots keine wettbewerbsfremden Gesichtspunkte berücksichtigen. Gleiches gilt für § 2 GWB. Dem Gesetzgeber wäre es möglich gewesen, für rein innerstaatliche Sachverhalte einen Freistellungstatbestand nach dem Vorbild des § 3 GWB zu schaffen. Mit der 7. GWB-Novelle hat er indes sogar die Ministererlaubnis, die noch in § 8 GWB a. F. verankert war, restlos gestrichen. Dies, zusammen mit der Gesetzesbegründung, nach der die nationale Rechtslage an den nunmehr verfolgten, wettbewerbsbezogenen Ansatz der Kommission angepasst werden sollte,483 spricht eindeutig gegen eine Berücksichtigung übergeordneter Gesichtspunkte im Rahmen des § 2 GWB,484 zumal auch nach alter Rechtslage die rechtspolitische Prüfung des Kartellverstoßes allein dem Bundesminister und gerade nicht dem für die rein wettbewerbliche Beurteilung zuständigen Bundeskartellamt vorbehalten war.485

480 Vgl. etwa Komm., Ents. v. 4.7.1984, COMP/IV/30.810 – Kunstfasern, Rn. 37 f.; Ents. v. 18.5.1994, COMP/IV/33.640 – Exxon/Shell, Rn. 67 f.; Ents. v. 24.1.1999, COMP/IV.F.1/36.718 – CECED, Rn. 47 ff.; Ents. v. 17.9.2001, COMP/34493 u. a. – DSD u. a., Rn. 142 ff. 481 Weißbuch der Kommission über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag [heute: Art. 101 und 102 AEUV], Arbeitsprogramm der Kommission Nr. 99/027, ABl. EG v. 12.5.1999, Nr. C 132, S. 1 (17, Rn. 57); Leitlinien der Kommission zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag [heute: Art. 101 Abs. 3 AEUV], ABl. EU v. 27.4.2004, Nr. C 101, S. 97 ff., Rn. 42 i. Vom 59 ff.; vgl. auch die Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Artikel 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU v. 14.1.2011, Nr. C 11, S. 1 ff., in welchen die Kommission mehrfach betont nur wettbewerbsförderliche Effizienzen zu berücksichtigen, etwa in den Rn. 20 f., 48 f., vor allem im Vergleich zu den Vorgänger Horizontalleitlinien, Rn. 193 und 192, in denen Nettovorteile bei der Umweltbelastung noch als Vorteile qualifiziert wurden. 482 Zu Recht: EuGH, Urt. v. 25.10.1977, Rs. 26/76 – Metro/Kommission, Slg. 1977, 1875 Rn. 43; Urt. v. 11.7.1985, Rs. 42/84 – Remia u. a./Kommission, Slg. 1985, 2545, Rn. 42; Schuhmacher, in: Grabitz/Hilf EUV/AEUV, Art. 101 AEUV Rn. 269. 483 Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 27. 484 So auch Fuchs, in: IM/GWB, § 2 Rn. 70. 485 Ebenso Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 247. Dies entspricht der noch heute geltenden Rechtslage in der Fusionskontrolle: Wettbewerbsfremde übergeordnete Ziele sollen allein durch den Bundeswirtschaftsminister geprüft werden. Vgl. dazu etwa auch BKartA, Beschl. v. 6.6.2007, Az. B3-69/07 – LBK Hamburg/Mariahilf, WuW/E DE-V 1407 ff., Rn. 273 ff.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Aus den oben stehenden Argumenten lassen sich auch Konsequenzen für die Ermessensausübung des Bundeskartellamtes ableiten. Es wäre inkonsistent, wenn das Bundeskartellamt bei der Anwendung von Art. 101 AEUV und den §§ 1, 2 GWB wettbewerbsfremde Interessen nicht, wohl aber im Rahmen der Abwägung für oder gegen die Verfolgung eines Kartellverstoßes, berücksichtigen dürfte. Auf diese Weise würde der vom materiellen Kartellrecht intendierte Wettbewerbsschutz relativiert, dessen möglichst umfassende Durchsetzung § 47 Abs. 1 OWiG zu dienen bestimmt ist.486 Das Bundeskartellamt würde sich ferner zu einer politischen Kartellbehörde aufschwingen, obgleich seine Kompetenzen eindeutig auf die Durchsetzung des Wettbewerbs beschränkt sind.487 Seiner Entscheidung für oder gegen die Verfolgung eines Wettbewerbsverstoßes hat das Bundeskartellamt daher ausschließlich wettbewerbs- und ordnungswidrigkeitenrechtliche Gesichtspunkte zugrunde zu legen. Dies scheint das Bundeskartellamt in neuerer Zeit erfreulicherweise zu beherzigen. Jedenfalls hat es seit seiner eindeutigen Stellungnahme – soweit ersichtlich – auch von seiner Duldungspraxis Abstand genommen.488

E. Vereinfachung und Beschleunigung von Bußgeldverfahren durch Settlements Obgleich es auf den ersten Blick den Anschein macht, ist das Verhältnis zwischen Betroffenen eines Bußgeldverfahrens und dem Bundeskartellamt nicht stets subordinativ. So hat nicht nur der Gesetzgeber mit der Einfügung der Verpflichtungszusagen in § 32b GWB das Verwaltungsverfahren für eine Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten geöffnet. Das Bundeskartellamt tendiert auch zunehmend zu einer kooperativen Ausgestaltung des Bußgeldverfahrens. Dazu zählt zum einen das in seiner Bonusregelung verlautbarte Kronzeugenprogramm des Bundeskartellamtes.489 Zum anderen erstrebt das Bundeskartellamt neuerdings (wieder),490 genauer gesagt seit etwa 2007 und damit wohl in Nach486

Siehe umfassend: Teil 2 § 3 B. (S. 111 ff.). So schon Bock, WuW 1996, S. 187 ff. (193); ihm folgend Zimmer, in: IM/GWB, § 1 Rn. 201. 488 So explizit auch für die umstrittene Praxis hinsichtlich des Dualen System Deutschlands: TB 2001/2002, BT-Drs. 15/1226, S. 223 – DSD. 489 Dazu noch unter Teil 2 § 4 F. (S. 297 ff.). 490 Seit den 1990er Jahren bedient sich das BKartA des Modells einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen. Während zu Beginn der Praxis noch eine „enorme“ Anzahl von Fällen durch Verhandlungen mit Kartellbeteiligten erledigt wurde, ist diese Praxis allerdings zeitweise wieder „eingeschlafen“, da Betroffene überwiegend Bußgeldbescheide anfochten. Vgl. die Stellungnahme des BKartA im Rahmen des OECD Competition Committees v. 17.10.2006, in: „OECD Working Party No. 3 on Co-Operation and Enforcement, Plea Bargaining/Settlement of Cartel Cases: The Federal Republic of Germany“, DAF/COMP/WP3/WD(2006)77 („OECD Arbeitspapier“) Rn. 10, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/OECD/Plea _Bargaining_Roundtable.pdf bzw. in: „OECD Roundtables, Plea Bargaining/Settle487

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vollziehung der europäischen Entwicklungen,491 durch eine Einigung oder zu neudeutsch durch ein „Settlement“ bewirkte einvernehmliche „Verfahrensbeendigungen“. Dabei handelt es sich um im Rahmen von informellen Vergleichsgesprächen getroffene Vereinbarungen, die komplexe Entscheidungsprozesse und potentielle Konflikte zwischen den Verfahrensbeteiligten zu bewältigen bestimmt sind. Die Komplexität basiert im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht einerseits auf der faktischen Schwierigkeit, geheime Kartelle aufzudecken, Beweismittel zu ermitteln sowie höchst vielschichtige, wirtschaftliche Sachverhalte rechtlich zu beurteilen, andererseits aber auch auf einer wachsenden Anzahl an Fällen.492 Konsensuale Entscheidungen mildern die Komplexität, indem sie intensive Ermittlungsmaßnahmen sowie die mit einem erheblichen Begründungsaufwand verbundenen, rechtlichen Gutachten teilweise obsolet machen, da sie, wie noch nachfolgend aufgezeigt wird, einer Vereinbarung über den Sachverhalt folgen. Gegenstand eines Settlements ist darüber hinaus die Vereinbarung einer direkt oder indirekt begrenzten Ahndung. Ausgehend von einer Darstellung ihres Zwecks und ihres Gegenstands (I.), ihrer rechtlichen Qualifikation (II.) und ihrer Einordnung als Aspekt des Verfolgungsermessens (III.) ist daher angesichts des bisherigen Ergebnisses, wonach das Bundeskartellamt im Regelfall zur Verfolgung von Hardcore-Kartellen verpflichtet ist, zu untersuchen, ob die Kartellbehörde berechtigt ist, einen partiellen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht zu verments“, DAF/COMP(2007)38, S. 104, im Internet abrufbar unter: http://www.oecd.org/ dataoecd/12/36/40080239.pdf (Stand: 31.12.2013). Siehe ferner auch schon die sehr frühen Entscheidungen des BKartA, in denen es bußgeldmindernd berücksichtigte, dass die Betroffenen erklärten die Bußgeldfestsetzung hinzunehmen: Ents. v. 28.10.1976, WuW/E BKartA 1670 (1675) – Kaltprofile; Ents. v. 16.6.1977, WuW BKartA 1689 (1693) – Heizungs- und Klimatechnik. 491 Am 26.10.2007 rief die Kommission zu Stellungnahmen zu ihren Vorschlägen über Verständigungsverfahren in Kartellsachen auf, vgl. PM IP/07/1608. Nach der Analyse der Stellungnahmen und der Konsultation der nationalen Kartellbehörden (vgl. PM v. 30.6.2008, IP/08/1056) wurde das Vergleichsverfahren in Kartellfällen mit einer entsprechenden Änderung der VO 773/2004 eingeführt und durch die von der Kommission am 2.7.2008 veröffentlichte Settlement-Mitteilung konkretisiert. Vgl. VO 622/2008 v. 30.6.2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen, ABl. EU v. 1.7.2008, Nr. L 171, S. 3 ff. sowie die Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen, ABl. EU v. 2.7.2008, Nr. C 167, S. 1 ff. Die Eckpunkte seiner Settlement-Praxis konkretisierte das BKartA erstmals im TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500 v. 22.6.2009, S. 36 und in dem Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 3. Vgl. nun auch das Merkblatt des BKartA zum Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Publikation/DE/Merkbl% C3%A4tter/Merkblatt-Settlement.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Stand: 31.12.2013). 492 Diese gehen sowohl auf den großen Erfolg der Bonusregelung als auch auf den Ausbau der Kartellverfolgung durch das BKartA zurück, das in zwischen 2005 und 2011 drei ausschließlich für die Kartellverfolgung zuständige Beschlussabteilungen installiert hat.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

einbaren (IV.). Mit der Beantwortung dieser Frage kann die Untersuchung jedoch nicht stehen bleiben, da für eine umfassende Beurteilung, inwieweit sich die derzeitige Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes in den Grenzen einer pflichtgemäßen Ausübung des Verfolgungsermessens bewegt, die Rechtsstaatlichkeit ihrer konkreten Ausgestaltung zu überprüfen ist (V.). I. Zweck und Gegenstand der Settlement-Praxis Das Bundeskartellamt verspricht sich von Settlements vor allem eine deutliche Reduzierung des Verfahrensaufwands und einen beschleunigten, endgültigen Abschluss von Bußgeldverfahren.493 Vor dem Hintergrund steigender Fallzahlen und der zunehmenden Komplexität der Anwendung des Kartellrechts494 führt eine frühzeitige Einigung der Beteiligten zu einer spürbaren Arbeitsentlastung der Kartellbehörde und schont ihre zeitlichen, finanziellen, personellen und sachmittelspezifischen Ressourcen, ohne dass sie dabei auf die Ahndung eines Kartellverstoßes verzichten müsste. Denn Voraussetzung und Grundlage eines jeden Settlements ist ein Geständnis der am Kartell beteiligten natürlichen Personen und eine diesem sachlich entsprechende,495 sogenannte Settlement-Erklärung496 der beteiligten Unternehmen. Analog zum strafprozessualen Geständnis müssen die Betroffenen mit diesen Erklärungen zwar nicht den Kartellverstoß zugeben und damit der durch das Bundeskartellamt vorgenommenen rechtlichen Würdigung folgen.497 Allerdings sind die dem Tatvorwurf zugrunde liegenden Fakten 493 So die öffentlichen Stellungnahmen des BKartA, vgl. OECD Arbeitspapier (Fn. 490) Rn. 14, 16; TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 41 sowie Mundt, Vortrag auf dem 44. Innsbrucker Symposium (vgl. Fn. 494), S. 2, 15. 494 Auf diesen Gesichtspunkt wies der amtierende Präsident des BKartA im Rahmen seines Vortrags auf dem 44. Innsbrucker Symposium des FIW am 10. März 2011 in Innsbruck hin, vgl. Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 2, im Internet abrufbar unter: http:// www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede _auf_dem_44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013). Abgesehen davon, dass das BKartA bei der Erfüllung der Zwischenstaatlichkeitsklausel jedenfalls auch zur Anwendung europäischen Rechts berufen ist, stellen insbesondere wirtschaftlich komplexe Sachverhalte eine enorme Herausforderung für die Beurteilung der Freistellungsfähigkeit eines Kartellverstoßes dar. 495 Da Unternehmen nur durch gesetzliche Fiktion Rechtspersönlichkeit besitzen, wird Ihnen die Fähigkeit zur Abgabe eines Geständnisses abgesprochen. 496 Im Folgenden wird aus stilistischen Gründen weitestgehend auf eine Differenzierung zwischen „Geständnis“ und „Settlement-Erklärung“ verzichtet. Entsprechend der in dieser Arbeit – Unternehmen und natürliche Personen – zusammenfassenden Bezeichnung als „Betroffene“ eines Bußgeldverfahrens umfasst der in der nachstehenden Untersuchung verwendete Begriff des „Geständnisses“ auch die „Settlement-Erklärung“ der Unternehmen. 497 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 3; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (21); missverständlich insoweit das OECD Arbeits-

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durch die kartellbehördliche „Beschreibung der prozessualen Tat“ einzuräumen.498 Darüber hinaus haben kooperationswillige Unternehmen weitere Informationen, insbesondere Angaben über den durch den Kartellverstoß erlangten Umsatzgewinn, ihren Gesamtumsatz und ihre finanzielle Leistungsfähigkeit, preiszugeben.499 Außerdem müssen sie eine vom Bundeskartellamt vorläufig ermittelte Höchstgeldbuße anerkennen.500 Auf Basis dieser Informationen kann das Bundeskartellamt bereits in einem frühen Stadium des Bußgeldverfahrens das fragliche Verhalten abschließend rechtlich qualifizieren und die aus seiner Sicht angemessene Geldbuße ermitteln. Dies spart weitere Ermittlungen und vermeidet regelmäßig, wie die Praxis belegt,501 eine weitere Ressourcenbelastung im Rahmen eines gerichtlichen Hauptverfahrens, wenngleich ein Rechtsmittelverzicht nicht Teil der Verständigung ist.502 Ferner müssen die Betroffenen zugunsten einer weiteren Beschleunigung des Kartell-Bußgeldverfahrens in der Regel auf eine vollständige Akteneinsicht verzichten, und, sofern es das Bundeskartellamt noch nicht verschickt, auch auf ein Beschuldigtenschreiben.503

papier des BKartA (Fn. 490) Rn. 11 („confession of the offence“) und Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (591), der sich sowohl auf das Arbeitspapier der OECD als auch auf den Fallbericht Kaffeeröster bezieht und von einem „umfangreichen Geständnis des Kartellverstoßes“ ausgeht. 498 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 3; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352); BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 2. Anders noch Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (476) („admission of the infringement“). 499 BKartA, TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 36; Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 3; BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 2; so auch Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (21). 500 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 4; BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 2; Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (22); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352). 501 Seit dem verstärkten Rückgriff auf Settlements ist es jedenfalls bis 2011 nach Auskunft des BKartA noch zu keiner Anfechtung des daraufhin ergehenden Bußgeldbescheides gekommen, vgl. Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 16, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310 _Rede_auf_dem_44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351). 502 Vgl. TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 35; Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 4; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351). 503 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 4; BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 2 f.; Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (473 f.); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (22).

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Zur „Belohnung“ für die Eingehung dieser weitreichenden Verpflichtungen erhalten die Kartellbeteiligten eine Reduktion des vom Bundeskartellamt vorgesehenen Bußgeldes von bis zu 10 %.504 Zu diesem Zweck offenbart das Bundeskartellamt den Betroffenen im Rahmen der Settlement-Gespräche zwar noch keine finale Geldbuße, allerdings gibt es dessen maximalen Wert an, sodass diese bereits zu einem frühen Zeitpunkt wissen, was sie erwartet und Planungssicherheit haben. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass frühzeitige SettlementGespräche de facto zu einem weiteren „Vor-Settlement-Abzug“ bei der Geldbuße führen können, indem der der Bußgeldbemessung durch das Bundeskartellamt zugrunde gelegte, tatbezogene Umsatz505 durch eine tatsächliche Eingrenzung des Tatvorwurfs verringert wird. Hat die Kartellbehörde noch nicht alle Beweismittel gesichtet, ist durch das Zugeständnis des ermittelten Sachverhalts möglicherweise auch eine Vernachlässigung anderer, noch nicht zur Kenntnis des Bundeskartellamtes gelangter Tatbeiträge möglich, wobei dies angesichts der bis dahin bereits durchgeführten Ermittlungen wohl eher die Ausnahme sein dürfte und sollte.506 Das Bundeskartellamt hat allerdings signalisiert, auch bereits ermittelte, geringere Tatteile bei einer sehr frühzeitigen Gesprächsbereitschaft bei der Bußgeldbemessung unberücksichtigt zu lassen.507 Neben dieser sachlichen Beschränkung des Tatvorwurfs grenzt die Behörde die Verfolgung des Kartellverstoßes womöglich auch zeitlich ein, indem es etwa nur die Zuwiderhandlung nach dem Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle ahndet.508 Da das Bundeskartellamt regelmäßig auch nicht die zulässigen Höchstbußgeldsätze ansetzt, kann ein Geständnis schon aus diesem Grund „lohnend“ sein. Zudem profitieren Betroffene von der Verkürzung des Bußgeldverfahrens und der damit einhergehenden Reduktion der Kosten, etwa durch rechtliche Beratung.509 Dass Betroffene darüber hinaus über die rechtliche Würdigung des tatsächlichen Verhaltens verhandeln könnten, wird in den neueren Stellungnahmen des Bundeskartellamtes nicht mehr erwähnt; es soll jedoch übliche Praxis gewesen sein.510 In einzelnen Fällen konnte zudem

504 BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 3. Bis zur Settlementmitteilung der Kommission lag der Bußgeldrabatt bei etwa 15 %, vgl. Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (475). 505 Siehe dazu noch: Teil 3 § 3 B. I. (S. 416 ff.). 506 Zum problematischen Verhältnis mit der Aufklärungspflicht des BKartA, siehe Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.). 507 TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 36; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352). 508 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (474); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (21 f.). Dies ist auch vorteilhaft für das BKartA, da es sich z. B. auf die Bemessung der Geldbuße entsprechend seinen aktuellen Bußgeldleitlinien beschränken kann. Dazu noch sogleich unter: Teil 3 § 2 C. (S. 413 ff.). 509 Allerdings ist hier einschränkend zu bemerken, dass Verteidigungskosten in voller Höhe steuerlich abzugsfähig sind. Vgl. Engelsing/Schneider, in: MK/EU WettbewerbsR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 176.

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eine Einigung über die Einstellung des Bußgeldverfahrens gegenüber einzelnen natürlichen Personen erreicht werden, obschon jeweils besondere Umstände vorlagen.511 Zum Teil wurden auch Ratenzahlungsvereinbarungen getroffen.512 Außerdem eröffnet die zuständige Beschlussabteilung den Betroffenen in den meisten Fällen auch die Gelegenheit über die Hauptpunkte der finalen Presseerklärung des Bundeskartellamtes zu verhandeln, allerdings stets mit dem Hinweis, dass die endgültige Entscheidung nicht die Beschlussabteilung selbst, sondern der Präsident des Bundeskartellamtes trifft.513 In der Regel ist jedoch zumindest die Abstimmung des Zeitpunkts der Presseerklärung möglich, damit die Unternehmen diese zeitnah kommentieren können. Von entscheidendem Vorteil ist für Betroffene schließlich, dass das Bundeskartellamt auf der Grundlage des Geständnisses lediglich einen Kurzbescheid mit den pflichtigen Mindestangaben gemäß § 66 OWiG erlässt.514 Dieser enthält allein die Angabe zur Person des Betroffenen bzw. der Nebenbetroffenen, die Bezeichnung der Tat, den Ort und die Zeit ihrer Begehung, die angewandten Bußgeldvorschriften, die Tatbestandsmerkmale der Ordnungswidrigkeit, die Angabe der Beweismittel und die erlassene Geldbuße. Darüber hinaus findet sich in dem Bescheid keine rechtliche Würdigung des wettbewerbswidrigen Verhaltens und, was für Betroffene insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender privater Schadensersatzklagen interessant ist, keine detaillierten Angaben zu den Umständen des Kartellverstoßes und etwa zu Größenordnungen getroffener Preisabsprachen, die für eine Kalkulation des der Marktgegenseite entstandenen Schadens relevant sein könnten. Erwächst der Kurzbescheid in Rechtskraft kann das Bundeskartellamt das Bußgeldverfahren in Bezug auf diese Betroffenen und den – dann abschließend vom

510 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (474) sowie der dazugehörige Bericht im Rahmen der Panel IV discussion, S. 433; eine entsprechende Andeutung findet sich auch in BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 11. 511 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (475); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352) nennt etwa das hohe Alter und/ oder den Austritt der Person aus dem betreffenden Unternehmen, wenn gleichzeitig der Zeitraum zwischen der Zuwiderhandlung und der Ahndung sehr groß ist. 512 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (477). 513 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (476). Im Hinblick auf mögliche Follow-on – Klagen haben Nebenbetroffene ein starkes Interesse daran, dass das BKartA so wenige Fakten, wie möglich, offenbart. Insbesondere Angaben über konkrete Preisabsprachen, ihren Zeitpunkt und die vereinbarte Höhe, erleichtern Geschädigten die Schadensermittlung und Beweisführung. Vgl. etwa die Fallberichte zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 2; Fallbericht v. 14.12.2007, 26.2. 2008, 12.12.2009 u. 9.4.2009, Az. B11-20/05 – Flüssiggas, S. 3. 514 BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 2 f.; Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (474); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (354); Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 39.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Bußgeldbescheid erfassten – Verfahrensgegenstand nach dem „ne bis in idem“Grundsatz nicht erneut aufnehmen, auch wenn ihm im Nachhinein weitere Tatsachen bekannt werden.515 II. Rechtliche Qualifikation des Settlements und des Settlement-Verfahrens In zeitlicher Dimension finden Settlement-Gespräche den Stellungnahmen des Bundeskartellamtes zufolge frühestens nach Sichtung erster Ermittlungsergebnisse statt.516 Zu diesem Zeitpunkt, nämlich mit dem Ergreifen der ersten Ermittlungsmaßnahme, hat das Bundeskartellamt bereits seinen Verfolgungswillen offenbart und damit ein Bußgeldverfahren offiziell eingeleitet.517 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Bundeskartellamt nicht von Anfang an ein Settlement-Verfahren anstelle eines herkömmlichen Bußgeldverfahrens eröffnet. Auch stellt es das herkömmliche Bußgeldverfahren nicht etwa ein, wenn sich die Betroffenen auf die informelle Anfrage des Bundeskartellamtes hin für das Vergleichsverfahren entscheiden. Vielmehr führt das Bundeskartellamt das Bußgeldverfahren quasi abgewandelt fort. Lehnen die Betroffenen eine einvernehmliche Lösung demgegenüber ab oder ignorieren sie eine diesbezügliche informelle Anfrage des Bundeskartellamtes, führt es das Kartell-Bußgeldverfahren in seiner ursprünglichen Form „streitig“ fort. Dies gilt auch für den Fall, dass andere, von dem gleichen Bußgeldverfahren Betroffene das Angebot des Bundeskartellamtes angenommen haben. In diesem Fall kann das Bundeskartellamt das Verfahren in ein „Settlement-Verfahren“ und ein reguläres Bußgeldverfahren splitten (sog. hybride Settlement-Verfahren).518 Dementsprechend handelt es sich bei dem als „Settlement-Verfahren“ bezeichneten Bußgeldverfahren nicht um ein aliud zum herkömmlichen Bußgeldverfah515

Vgl. insoweit bereits die ausführliche Darstellung in Teil 2 § 1 C. I. (S. 81 ff.). BKartA, TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 35; BKartA, Merkblatt SettlementVerfahren v. 23.12.2013, S. 3; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (353). Bereits in seiner früheren Praxis nannte das BKartA überzeugende Beweise als Voraussetzung für einvernehmliche Verfahrensbeendigungen, vgl. BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 12b („strong evidence regarding the offence“). 517 KG Berlin, Beschl. v. 21.6.1974, Az. Kart 2/74 – Laboruntersuchungen, WuW/E OLG 1687 (1700); Urt. v. 2.12.1977, Az. Kart 14/76 – Interfunk, WuW/E OLG 1965 ff.; Urt. v. 17.3.1993, Az. Kart 16/91 – Treibstoffzuschläge, WuW/E OLG 5121 (5125); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 202; Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 36; Klesczewski, OWiR, § 10 Rn. 839; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 27. 518 BKartA, TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 41; BKartA, Merkblatt SettlementVerfahren v. 23.12.2013, S. 1. Siehe etwa: PM v. 25.10.2011 – Mühlenkartell; Ents. v. 10.2.2011, Az. B12-11/09, Fallbericht v. 18.2.2011 – Feuerwehrfahrzeuge; Ents. v. 26.11.2010, Az. B12-13/08, Fallbericht v. 13.12.2010 – Chemiegroßhandel; PM v. 16.12.2011 – Hydrantenkartell; PM v. 18.10.2011 – Instant-Cappuccino und PM v. 10.8.2011 – Betonrohre. 516

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 193

ren, sondern um eine vereinfachte, beschleunigte Variante desselben, an dessen Ende – wie im herkömmlichen Verfahren – ein Bußgeldbescheid gemäß § 63 OWiG ergeht, wenngleich dieser den Besonderheiten des Settlements entsprechend stark verkürzt ist. Ziel eines Settlement-Verfahrens ist daher auch nicht etwa das Erreichen eines Vergleichs im rechtlichen Sinne. Zwar mag man ein gegenseitiges Nachgeben zur Beseitigung einer ungewissen Rechtslage im Sinne des § 779 BGB bzw. der §§ 54 S. 2, 55 VwVfG darin erblicken, dass die Betroffenen die seitens des Bundeskartellamtes ermittelten Tatsachen (teilweise) anerkennen, auf gewisse Verteidigungsrechte verzichten und die Kartellbehörde im Gegenzug eine reduzierte Geldbuße erlässt.519 Unabhängig davon, dass das beiderseitige Nachgeben jedoch nicht der Beseitigung einer ungewissen Rechtslage dient, begründet es auch keine rechtlich durchsetzbaren Leistungsverpflichtungen, welche gerade Zweck eines gegenseitigen (öffentlichen) Vergleichsvertrages sind.520 Dies gilt unter Beachtung der Vorschriften des OWiG und der strafrechtlichen Verfahrensrechte sowohl für das Bundeskartellamt als auch für den Betroffenen. Das Bundeskartellamt kann bereits aufgrund des „nemo tenetur“-Grundsatzes kein Geständnis rechtlich einfordern.521 Zudem würde eine entsprechende Forderung „unzulässigen Druck“ auf den Betroffenen im Sinne des § 46 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 136a StPO auslösen.522 Umgekehrt haben Betroffene auch keinen Anspruch auf Erlass eines Bußgeldbescheides gegen sich selbst. Darüber hinaus lässt es die Qualität des behördlichen Bußgeldverfahrens als Vorverfahren nicht zu, dass das Bundeskartellamt eine verbindliche Entscheidung des Gerichts vorwegnimmt.523 Sollte der Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einlegen, obliegt es letztlich dem Gericht, über die angemessene Sanktion zu befinden; etwas anderes gilt freilich nur hinsichtlich der Vereinbarung über die sachliche und personelle Beschränkung des Verfahrensgegenstands.524 Das Bundeskartellamt scheint ebenso sichtlich bemüht, untechnische, irreführende Bezeichnungen zu vermeiden und spricht im Zusammenhang mit Settlements – im Gegensatz zur Kommission – überwiegend von einer „Verständi519 So schon Schünemann, NJW 1989, S. 1895 ff. (1895) zu Verständigungen im Strafverfahren. 520 Vgl. zum öffentlichen Vergleichsvertrag etwa: BVerwG, Urt. v. 19.1.1990, Az. 4 C 21/89, NJW 1990, 1926; Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 55 Rn. 26; Kopp/ Ramsauer, VwVfG, § 55 Rn. 21. 521 Zum „nemo tenetur“-Grundsatz, insbesondere dessen Anwendbarkeit auf juristische Personen und Personenvereinigungen sogleich vertiefend in: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) (S. 237 ff.). 522 Wohl auch Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 31 für das Geständnis im Strafverfahren. 523 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 106. 524 Siehe: Teil 1 § 2 B. III. (S. 69 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

gungslösung“ (bzw. von „einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen“), die durch „Gespräche“, und nicht durch „Verhandlungen“ erzielt werden soll.525 Die Verständigung der Beteiligten zielt der Sache nach auf eine beschleunigte, weniger formalisierte Entscheidungsvorbereitung durch das Bundeskartellamt, indem die Beteiligten über das Verfahren und dessen Gegenstand teilweise disponieren. Mit anderen Worten sollen informelle, konsensuale Elemente in das herkömmliche Bußgeldverfahren integriert werden, ohne dieses freilich gänzlich zu „entformalisieren“. Aus diesem Grund sah sich das Bundeskartellamt wohl auch in der Pflicht, zur Erhöhung der Transparenz des Verfahrens zumindest die Eckpunkte des Settlement-Verfahrens darzulegen.526 III. Thematische Zuordnung der Settlement-Praxis als Problem des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes Das Bundeskartellamt sieht sich in Ausübung seiner Organisationsgewalt und dem ihm eingeräumten Ermessen zur Durchführung von „Settlement-Verfahren“ berechtigt.527 Fraglich ist, welches Ermessen das Bundeskartellamt pflichtgemäß auszuüben meint.528 Ein typisches Settlement beinhaltet zwei Hauptelemente: Zum einen beschränkt das Bundeskartellamt regelmäßig die Verfolgung eines bestimmten Kartellverstoßes zeitlich, räumlich, sachlich oder auch hinsichtlich der grundsätzlich verfolgbaren Personen. Zum anderen folgt aus der Kooperation der Beteiligten nach Maßgabe des Settlements eine offizielle Reduktion der anderenfalls vollständig vom Bundeskartellamt verhängten Geldbuße um bis zu 10 %. Damit tangiert ein Settlement sowohl die Reichweite der kartellbehördlichen Verfolgung und zum Teil die Frage des „Ob“ der Ahndung, also das Verfolgungsermessen, als auch die kartellbehördliche Festlegung der konkreten Bußgeldhöhe und damit das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes. Für die Bestimmung des korrekten Anknüpfungspunkts der Settlement-Praxis wird man daher auf ihren Zweck zurückgreifen müssen.

525 BKartA, Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 2. Abweichend jedoch Mundt („Vergleichsverhandlungen“; „Vergleiche“), in: Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 14 ff., im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/down load/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_dem_44._Innsbrucker_Symposium_des _FIW.pdf (Stand: 31.12.2013). 526 BKartA, TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 35; TB 2009/2010, BT-Drs. 17/ 6640, S. 41; Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Az. B11-18/08, S. 4. Vgl. nunmehr das Merkblatt zum SettlementVerfahren v. 23.12.2013, S. 2. 527 Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351); inzident auch das BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 2 f. 528 Zur Zulässigkeit der Settlement-Praxis vertiefend: Teil 2 § 4 E. IV. (S. 196 ff.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 195

Im Unterschied zum Verfolgungsermessen gemäß § 47 Abs. 1 OWiG hat der Gesetzgeber die pflichtgemäße Ausübung des Sanktionszumessungsermessens durch § 17 Abs. 3 OWiG näher konkretisiert. Bei der Bußgeldbemessung muss die Behörde bestimmte Gesichtspunkte beachten, vor allem die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und den den Täter treffenden Vorwurf. Die Geldbuße soll demnach sowohl an objektiven Kriterien als auch an den individuellen Schuldvorwurf anknüpfen. Insoweit ist etwa anerkannt, dass ein Geständnis als Indiz für die einsichtige und reumütige Haltung des Täters – dem § 46 StGB entsprechend – als sanktionsmindernder Umstand berücksichtigt werden kann.529 Insoweit fragt sich allerdings, inwieweit das lediglich infolge eines Vorteilsversprechens abgegebene und noch dazu seinem Inhalt nach verhandelte Zugeständnis bloßer Tatsachen, ohne einem daran zumindest anknüpfenden „Schuldeingeständnis“, für eine honorierungswürdige Einsicht des Kartellbeteiligten sprechen soll. Dies offenbart, dass es nicht vornehmliches Ziel eines Settlements sein kann, die Einsicht der Betroffenen zu belohnen. Die einvernehmliche Verfahrensbeendigung dient ganz überwiegend, wenn nicht ausschließlich der Entlastung des Bundeskartellamtes und dem zügigerem Abschluss des Bußgeldverfahrens. Diese verfahrensökonomischen Erwägungen vermögen aber nicht zur Bußgeldbemessung zu passen. Sie sind vielmehr Kriterien des dem Bundeskartellamt in § 47 Abs. 1 OWiG eingeräumten Verfolgungsermessens. Wie bereits im Teil 2 § 3 B. I. 2. d) festgestellt wurde, bildet der Effektivitäts- und Wirtschaftlichkeitsgedanke nicht nur einen wichtigen Aspekt bei der Entscheidung, ob und wenn ja, in welchem Umfang eine Ordnungswidrigkeit verfolgt werden soll; er begründet darüber hinaus auch die Rechtfertigung des herrschenden Opportunitätsprinzips im Bußgeldverfahren. Die vom Bundeskartellamt in Aussicht gestellte Bußgeldreduktion dient als notwendiger Anreiz demnach vorrangig der Ressourcenschonung. Ferner wird die Geldbuße regelmäßig auch faktisch aufgrund der Einschränkung des Gegenstands des Bußgeldverfahrens, etwa durch Teileinstellungen, reduziert. Die dieser faktischen Bußgeldreduktion zugrunde liegenden Erwägungen werden jedoch schon im Rahmen der der Bußgeldentscheidung vorgelagerten Ermittlungsphase angestellt und damit in Ausübung des Verfolgungsermessens gemäß § 47 Abs. 1 OWiG. Die bereits in diesem frühen Verfahrensstadium in Aussicht gestellte Bußgeldreduktion offenbart jedoch, dass die Sanktionszwecke der Geldbuße und vor allem die Sanktionszumessungskriterien, die sich aus § 17 Abs. 3 OWiG ergeben, als Rechtmäßigkeitsgrenzen der Settlementpraxis zu berücksichtigen sind.530 529 Vgl. nur BGH, Urt. v. 10.4.1951, Urt. v. 10.4.1951, Az. 1 StR 88/51, BGHSt 1, 105 (106); KG, Urt. v. 26.2.1994, Az. Kart. 13/94 – Geldbuße bei Anzeigepflichtverletzung, WuW/E OLG 5361 (5363); BKartA, Beschl. v. 19.7.1971, Az. B5-384370-A-271/ 68, WuW/E BKartA 1426 (1248); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 381; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 11. 530 Dazu noch in Teil 2 § 4 E. V. 2. (S. 237 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

IV. Ermächtigung zur Verständigung über den Umfang der Verfolgung und Ahndung von Hardcore-Kartellen Soweit der Gegenstand eines Kartell-Bußgeldverfahrens ein geringfügiger Wettbewerbsverstoß ist, steht dem Bundeskartellamt ein mehr oder weniger weites Verfolgungsermessen zu. Da das Bundeskartellamt in diesem Fall untätig bleiben oder andere kartellbehördliche Maßnahmen ergreifen kann,531 ist auch eine zeitliche, sachliche oder personelle Begrenzung des Gegenstands eines Bußgeldverfahrens unproblematisch zulässig. Demgegenüber lässt sich diese Feststellung bei schwerwiegenden Hardcore-Kartellen nicht derart eindeutig treffen, da das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes nach der hier vertretenen Auffassung regelmäßig auf null reduziert, das Bundeskartellamt also prinzipiell zur Ahndung der Zuwiderhandlung verpflichtet, ist.532 An dieser Stelle muss daher der Frage nachgegangen werden, ob die regelmäßig bestehende Verfolgungspflicht das Bundeskartellamt grundsätzlich auch dazu zwingt, jeden Aspekt eines einheitlichen, rechtswidrigen Handlungsgeschehens bzw. jede einzelne Zuwiderhandlung des vermeintlichen Kartellbeteiligten zu verfolgen. Damit untrennbar verknüpft ist gleichsam die Frage, ob das Bundeskartellamt prinzipiell zum Abschluss von Settlements befugt ist. Denn weder das GWB im Besonderen noch das OWiG im Allgemeinen ermächtigen das Bundeskartellamt ausdrücklich zur Vornahme „verfahrensbeendender“ Vereinbarungen. 1. Die Theorie von der dem Opportunitätsprinzip immanenten Verständigungslösung

Im vorangegangenen Abschnitt wurde bereits angedeutet, dass das Bundeskartellamt „pauschal“ annimmt, durch das im Bußgeldverfahren geltende Opportunitätsprinzip ermächtigt zu sein, Settlements unter der Zusage einer Bußgeldreduktion und zumindest der teilweisen Einstellung des Kartell-Bußgeldverfahrens zu treffen.533 Unterstützung findet die Kartellbehörde in der Literatur, die einvernehmliche Lösungen teilweise im System des Bußgeldverfahrens angelegt sieht, da es einen kooperativen Charakter und Wesenszüge eines Vergleichsverfahrens innehabe.534 Die Bußgeldentscheidung sei letztlich ein im behördlichen Vorschaltverfahren getroffener, vorläufiger Spruch, der nur dann rechtskräftig werde, wenn der Betroffene ihn nicht durch Einspruch anfechte. Damit stelle der Bußgeldbescheid gewissermaßen ein „Angebot“ an den Betroffenen dar, den Tat-

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Teil 2 § 3 B. III. 2. c) bb) (S. 151 ff.). Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.). 533 Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351); inzident auch das BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 2 f. 534 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 248. Krit gegenüber dieser Interpretation: Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 2. 532

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vorwurf und die Pflichtenmahnung sachinhaltlich anzuerkennen, welches der Betroffene „annehme“, wenn er sich der behördlichen Entscheidung unterwerfe.535 2. Stellungnahme

In der Tat wandelt sich der Bußgeldbescheid nach dem Einspruch des Betroffenen in eine Beschuldigung, sodass er – mit der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft vergleichbar – lediglich vorläufiger Natur ist.536 Das Gericht überprüft nicht den Bußgeldbescheid, sondern entscheidet in der Sache, wie sie durch die Beschuldigung sachlich, persönlich und zeitlich vorgegeben ist, nach pflichtgemäßem Ermessen selbst.537 Dass die gesetzgeberische Entscheidung, das Bußgeldverfahren in ein Vor- und Hauptverfahren zu unterteilen, jedoch gleichsam die Annahme rechtfertigt, es trage Wesenszüge eines Vergleichsverfahrens in sich, mag jedenfalls vor dem Hintergrund bezweifelt werden, dass das „Angebot“ der Verfolgungsbehörde – unter Ausblendung der hier gerade noch auf ihre Zulässigkeit zu untersuchenden Absprachen – grundsätzlich nicht verhandelt wird. Vielmehr erlaubt es dem Betroffenen – vergleichbar mit der Reaktion auf geschlossene Fragen – nur eine Antwort mit „Ja“ oder „Nein“. Entsprechendes gilt letztlich auch für ein von seinem Wesen her stärker autoritatives erstinstanzliches Strafurteil, welches der Verurteilte an- bzw. hinnehmen kann oder im Wege der Berufung anzufechten vermag.538 Im Berufungsverfahren wird der Verurteilte, entsprechend dem Adressaten eines Bußgeldbescheids im gerichtlichen Bußgeldverfahren, Gesichtspunkte vorbringen, die entweder der Bestrafung selbst oder aber der Art und Höhe der Sanktion entgegenstehen. Dennoch misst wohl niemand dem Strafverfahren einen kooperativen Charakter zu. Sicherlich ist zuzugeben, dass ein behördliches Verfahren nur begrenzt mit einem Strafverfahren vergleichbar ist. Dennoch darf eine Annäherung des Bußgeldverfahrens, in welchem der Betroffene dem Staat in einem Subordinationsverhältnis gegenübertritt, an ein Vergleichsverfahren, in welchem sich die Beteiligten grundsätzlich in einem Gleichordnungsverhältnis gegenüberstehen, eher bezweifelt werden. Denn das für 535 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 248. Insoweit auch die Begr. zum BRegE des OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 32 Nr. 4, 91 f.; ferner: OLG Frankfurt, Beschl. v. 3.11.1975, Az. 1 Ws (B) 189/75 OWiG, NJW 1976, 337; OLG Stuttgart, Beschl. v. 14.1.1976, Az. 3 Ss 744/75, NJW 1976, 1905; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 65 Rn. 6; Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 8; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 145; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351). 536 Allgem. M., vgl. etwa: BGH, Beschl. v. 8.10.1970, Az. 4 StR 190/70, NJW 1970, 2222; OLG Köln, Beschl. v. 17.10.1969, Az. 1 Ws (OWi) 126/69, NJW 1970, 211 f.; OLG Frankfurt, Beschl. v. 3.11.1975, Az. 1 Ws (B) 189/75 OWiG, NJW 1976, 337; Kurz, in: KK/OWiG, § 65 Rn. 8; Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 65 Rn. 8; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 145; Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 248. 537 Vgl. dazu bereits oben: Teil 1 § 2 B. III. (S. 69 ff.). 538 Ähnlich auch Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 2.

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einen Vergleich erforderliche gegenseitige Nachgeben und damit der partielle Verzicht beider Seiten im Sinne eines Kompromisses ist dem Bußgeldverfahren im Ausgangspunkt nicht immanent,539 jedenfalls nicht ohne einen Zirkelschluss über die Zulässigkeit von Verständigungen. Wenngleich das Wesen des behördlichen Bußgeldverfahrens damit nicht evident für die Zulässigkeit von Verständigungen spricht, ist der pauschale Verweis auf das Verfolgungsermessen gemäß § 47 Abs. 1 OWiG nicht sofort von der Hand zu weisen. Wenn das Bundeskartellamt nämlich schon nicht verpflichtet ist, jeden Kartellverstoß zu verfolgen und zu ahnden, warum soll es dann nicht auch berechtigt sein, über den Umfang der Verfolgung im Rahmen von Verständigungen mit dem Kartellanten zu disponieren? In der Literatur zum allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht ist jedenfalls gemeinhin anerkannt, dass sich die Behörden gemäß § 47 Abs. 1 OWiG auch auf die Verfolgung bestimmter Handlungen eines Betroffenen beschränken, sprich den Umfang der Verfolgung sachlich und rechtlich begrenzen, können.540 Dies erklärt freilich noch nicht die Zulässigkeit einer vereinbarten Verfolgungsbeschränkung, vor allem nicht in Bezug auf Hardcore-Kartelle. Inwieweit das in § 47 Abs. 1 OWiG zum Ausdruck kommende Opportunitätsprinzip tatsächlich zu verfolgungs- und ahndungsgrenzenden Verständigungen im behördlichen Kartell-Bußgeldverfahren ermächtigt, kann – mangels expliziter Erwähnung – letztlich nur durch eine Auslegung der Norm ermittelt werden. a) Entstehungsgeschichte des § 47 Abs. 1 OWiG Das dem heutigen OWiG vorangegangene OWiG von 1952 sah die Möglichkeit von sogenannten Unterwerfungsverhandlungen vor. Sofern das materielle Ordnungswidrigkeitenrecht die Vorschrift für anwendbar erklärte, konnte sich der Betroffene eines Bußgeldverfahrens nach § 67 Abs. 1 OWiG 1952 „in einer die wesentlichen Tatumstände und die verletzten Normen enthaltenen Niederschrift einer zugleich festzusetzenden Geldbuße, der Abführung des Mehrerlöses sowie der Einziehung unterwerfen“, wenn er die Ordnungswidrigkeit vorbehaltlos einräumte. Unterwerfungsverhandlungen sollten unterbleiben, wenn gegen den Betroffenen wegen eines gleichartigen Verstoßes schon einmal eine Unterwerfungsverhandlung geführt wurde (Abs. 4). Nach § 67 Abs. 5 S. 1 OWiG 1952 stand die schließlich vereinbarte Unterwerfung einem rechtskräftigen Bußgeldbescheid gleich. Bis 1968 enthielt das OWiG also eine Ermächtigungsgrundlage zur Durchführung einer Art Vergleichsverfahrens, deren Vorgaben zu weiten Teilen mit der Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes übereinstimmen. Allerdings

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Siehe hierzu: Teil 2 § 4 E. II. (S. 192 ff.). Seitz, in: Göhler, OWiG, § 47 Rn. 24 ff.; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 9; Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 42 ff. Ferner: Teil 2 § 2 B. (S. 94 ff.). 540

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sah sich der Gesetzgeber zu einer ausgefeilteren Regelung außerhalb der das Verfolgungsermessen gewährenden Vorschrift des § 7 OWiG 1952 veranlasst und begriff das Unterwerfungsverfahren als besonderes Verfahren neben dem „klassischen“ Bußgeldverfahren. Dies könnte gegen die Annahme sprechen, Verhandlungslösungen seien von dem allgemeinen Opportunitätsprinzip gedeckt, wie es zum damaligen Zeitpunkt § 7 OWiG 1952 regelte. Lagen nämlich die in § 67 OWiG 1952 kodifizierten Voraussetzungen, insbesondere der erforderliche Verweis aus dem materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht – wie im Fall des am 1. Januar 1958 in Kraft getretenen GWB in seiner Ursprungsfassung als auch in seiner Fassung541 nach der ersten GWB Novelle von 1965542 – nicht vor, durfte im Rahmen des der Behörde verbleibenden Verfolgungsermessens nicht von Unterwerfungsverhandlungen Gebrauch gemacht werden. Mit der Neufassung des OWiG hat die Vorschrift des § 67 OWiG 1952 keinen Eingang in das heute in seiner Struktur weiterhin geltende OWiG von 1968 gefunden. Grund dafür war jedoch nicht der explizite Wunsch des Gesetzgebers, Verständigungen im Bußgeldverfahren nicht mehr zuzulassen. Vorausgegangen war eine Entscheidung des BVerfG, das das Unterwerfungsverfahren für verfassungswidrig erklärte, da es nicht allein den Rechtsschutz in zulässiger Weise erschwere,543 sondern dessen Ziel vielmehr sei, im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung den Rechtsschutz des Betroffenen, mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar, endgültig und vollständig auszuschließen.544 Obgleich es dem Gesetzgeber möglich gewesen ist, § 67 Abs. 5 OWiG 1952, abzuändern und die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts durch eine Neuregelung nachzuvollziehen,545 entschloss er sich ohne weitere Begründung zur völligen Streichung des Unterwerfungsverfahrens. Da der Gesetzgeber eine allumfassende, das Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren regelnde Norm schuf und das BVerfG nicht die Verhandlungslösung als solche kritisierte, sondern nur den Ausschluss des Rechtsschutzes, ist durchaus denkbar, dass der Gesetzgeber nichtsdestotrotz Verständigungen im Bußgeldverfahren im Rahmen des § 47 Abs. 1 OWiG für zulässig hielt. Mangels expliziten Hinweises des Gesetzgebers erscheint diese Interpretation freilich sehr hypothetisch. Umgekehrt vermag die bloße Aufgabe des 541

BGBl. I 1957, S. 1081. BGBl. 1966, S. 37. 543 Eine „nicht unzumutbare“ Erschwerung des Rechtsschutzes durch formale Voraussetzungen hatte das BVerfG zuvor für zulässig gehalten, vgl. Beschl. v. 17.3.1959, Az. 1 BvL 5/57, BVerfGE 9, 199 f., Rn. 19 (juris); Ents. v. 12.1.1960, Az. 1 BvL 17/59 – verwaltungsgerichtlicher Kostenvorschuss, BVerfGE 10, 264 (267), Rn. 13 f. (juris). 544 BVerfG, Ents. v. 6.6.1967, Az. 2 BvR 375/60 u. a. – Strafgewalt der Finanzämter, BVerfGE 22, 49 (82), Rn. 115 (juris). Die Entscheidung erging zu dem in § 445 AO a. F. ähnlich geregelten Unterwerfungsverfahren. 545 So wäre etwa eine einfache Streichung des Wortes „rechtskräftig“ vorstellbar gewesen, sodass die Unterwerfung allein einem noch anfechtbaren Bußgeldbescheid gleich gestellt worden wäre. 542

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Unterwerfungsverfahrens sicherlich auch nicht dazu auszureichen, Verständigungen im Bußgeldverfahren als unzulässige Verfahrenslösung abzulehnen.546 b) Systematischer Kontext des § 47 Abs.1 OWiG An mehreren Stellen dieser Untersuchung wurde deutlich, dass die Reichweite des Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes nur im systematischen Kontext mit dem materiellen Kartellrecht, dem Strafrecht und dem Strafprozessrecht hinreichend bestimmt werden kann. Die Unrechtsnähe mancher Kartelle, aber auch der sich aus den Verweisungsvorschriften der §§ 46, 71 OWiG ergebende Bezug des OWiG zum Strafverfahrensrecht, macht daher erneut einen Blick in das Strafprozessrecht notwendig. Zuvor soll es jedoch nicht versäumt werden, Anhaltspunkte für die (Un-)Zulässigkeit von verfahrensbeendigenden Absprachen dem OWiG zu entnehmen. aa) Vereinbarkeit mit § 47 Abs. 3 OWiG Zum Teil werden „verfahrensbeendende“ Vereinbarungen unter Verweis auf § 47 Abs. 3 OWiG, der es verbietet die Einstellung eines Bußgeldverfahrens von der Zahlung einer Geldleistung abhängig zu machen, generell abgelehnt. Aus dem systematischen Kontext mit § 47 Abs. 1 OWiG ergebe sich, dass die Norm allgemein einen Leistungsaustausch mit dem Ziel der Verfahrensbeendigung, also ein „Erkaufen“ der Einstellung, verbieten wolle; die Norm sei daher auch einschlägig, wenn der Betroffene eine Zeugenaussage oder ein Geständnis als „Gegenleistung“ anbiete.547 Wollte man die Regelung des § 47 Abs. 3 OWiG, wie diese Auffassung präferiert, über deren eigentlichen Wortlaut hinaus auch auf nicht-geldwerte Leistungen erstrecken, so ginge dies nur im Wege einer Analogie. Diese scheitert zwar nicht an dem der Vorschrift zum Teil pauschal zugewiesenen, vermeintlichen „Ausnahmecharakter“,548 da dies wiederum implizieren würde, dass Austauschleistungen generell zulässig sind, sodass sich der Hinweis wiederum dem Vorwurf eines Zirkelschlusses ausgesetzt sieht. Allerdings widerspricht eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des § 47 Abs. 3 OWiG dem expliziten Willen des Gesetzgebers, der lediglich verhindern wollte, dass Geldleistungen in Zusammenhang mit der Einstellung von Bußgeldverfahren gebracht werden und als alternative Form der Sanktion dazu benutzt werden, die an Geldbußen teilweise gekoppelten Nebenwirkungen zu verhindern.549 Ein Austausch nicht-geldwerter Leistungen widerspricht weder diesem Anliegen, noch erweckt 546

Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 98. Zur Kooperation von Kronzeugen: Gillmeister, Ermittlungsrechte im deutschen und europäischen Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, S. 35 f. 548 So aber Lutz, BB 2000, S. 677 ff. (681). 549 BRegE des Einführungsgesetzes zum Strafverfahren, BT-Drs. 7/550, S. 347 f. 547

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er den Eindruck der Käuflichkeit der Verfolgungsbehörden. Da der Gesetzgeber den Austausch dieser Leistungen erkennbar nicht übersehen hat, fehlt es damit für eine Analogie des § 47 Abs. 3 OWiG bereits an einer planwidrigen Regelungslücke.550 § 47 Abs. 3 OWiG ist vielmehr ein Fall beredeten Schweigens.551 Die Vorschrift steht verfahrensbeendigenden Verständigungen dementsprechend nicht entgegen. bb) Die Verweisungsvorschrift des § 78 Abs. 2 OWiG § 78 Abs. 2 OWiG regelt für das gerichtliche Bußgeldverfahren die Anwendbarkeit zweier Vorschriften aus der StPO, die die Mitteilungspflicht des Vorsitzenden bei abgeschlossenen Verständigungen im Strafprozess und deren Protokollierung anordnen. § 78 Abs. 2, 1. Hs. OWiG i.V. m. § 243 Abs. 4 StPO verlangt vom Beschwerdegericht die Mitteilung des konkreten Inhalts einer Verständigung, soweit eine solche im Rahmen von Erörterungen zwischen den Verfahrensbeteiligten vor der mündlichen Verhandlung getroffen wurde. Sofern es hingegen im Vorfeld oder innerhalb der mündlichen Verhandlung zu keiner Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten gekommen ist, bedarf es nach § 78 Abs. 2, 2. Hs. OWiG i.V. m. § 273 Abs. 1 lit. a StPO keiner Aufnahme in das Verhandlungsprotokoll. Wenn § 78 Abs. 2 OWiG also gewisse Anforderungen für „verfahrensbeendende“ Absprachen aus dem Strafprozess übernimmt bzw. ausschließt, impliziert dies zugleich die Zulässigkeit von verfahrensbeendigenden Verständigungen im gerichtlichen Bußgeldverfahren. Allerdings ist die Vorschrift – mangels entsprechender Anordnung – nicht im behördlichen Bußgeldverfahren anwendbar. Die isolierte Betrachtung des § 78 Abs. 2 OWiG hilft daher zur Beurteilung der Zulässigkeit behördlicher, „verfahrensbeendender“ Absprachen nicht weiter. cc) Exkurs: Der Weg zur gesetzlichen Regelung von Verständigungen im Strafprozess Die Vorschrift des § 78 Abs. 2 OWiG ist allerdings noch sehr jung und geht auf neuere Entwicklungen im Strafprozessrecht zurück. Wie bereits angedeutet wurde, sind verfahrensbeendigende Verständigungen im Strafprozessrecht zwischenzeitlich gesetzlich geregelt worden. Ihre Kodifikation bildet das vorläufige Ende einer im Strafprozessrecht bereits über einem Vierteljahrhundert währenden 550 Siehe oben: Teil 2 § 4 C. I. Ebenso Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 252; Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (598), der jedoch von einer unzulässigen doppelten Analogie ausgeht, da neben der Anwendung auf nicht-geldwerte Leistungen, das Verfahren im Rahmen von Settlements nicht eingestellt werde. Dies ist allerdings bei Teileinstellungen durchaus der Fall. 551 Zu den Begriffen der planwidrigen Regelungslücke und des beredeten Schweigens: Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 191 ff., 194.

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Diskussion über verfahrensbeendigende Absprachen.552 Seit einer Entscheidung des BVerfG im Jahre 1987, in der es Verständigungen im Strafprozess nicht grundsätzlich für verfassungswidrig erklärt hat,553 wurde in der Literatur und der Rechtsprechung mit den Voraussetzungen, die an eine verfassungsmäßige Verständigung zu stellen sind, gerungen. Zwischenzeitlich entwickelten sich Absprachen zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidiger im Ermittlungsverfahren sowie zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten im Hauptverfahren zunehmend zu einer offenen, gängigen und angesichts der zunehmenden Arbeitsbelastung der Justiz wohl auch unumkehrbaren Rechtspraxis praeter legem.554 In dem Bewusstsein gegen den Druck der unteren Instanzen wenig ausrichten zu können, entwickelte der BGH in mehreren Entscheidungen verschiedene „Spielregeln“ für ordnungsgemäße Prozessabsprachen, um systemwidrige „Mauscheleien“ unter Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze zu verhindern.555 Diese sind schließlich im Jahre 2005 vom Großen Senat für Strafsachen zusammenfassend gebilligt worden.556 Dieser betonte in Anerkennung der Kritik in der Literatur, dass der 552 Erste Beiträge stammen aus den frühen 1980er Jahren, vgl. insbesondere der von Weider unter dem Pseudonym „Rechtsanwalt Detlef Deal aus Mauschelhausen“ veröffentlichte und berüchtigte Aufsatz in: StV 1982, S. 545 ff., der auf die bis dahin heimliche Verhandlungspraxis der Gerichte erstmals öffentlich aufmerksam machte und damit die Diskussion um verfahrensbeendigende Absprachen im Strafverfahren auslöste. Angesichts der bis heute unüberschaubaren Fülle an Publikationen wird im Übrigen auf die einschlägigen Kommentierungen und Monographien verwiesen, vgl. nur MeyerGoßner, StPO, Einleitung Rn. 119 ff. 553 Bereits im Jahr 1987 hatte das Bundesverfassungsgericht für das Strafverfahren entschieden, dass eine Verständigung der Parteien zulässig sei, sofern kein „Handel mit Gerechtigkeit“ erfolge. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NStZ 1987, 419. Das BVerfG machte deutlich, dass damit „die Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung in einer Hauptverhandlung [nicht] ins Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts“ gestellt werden dürften. Insbesondere bilde die „Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung“ des Angeklagten die Grenze der informellen Verständigung. Der Angeklagte dürfe niemals durch ein gesetzlich nicht vorgesehenes Vorteilsversprechen oder durch Täuschung zu einem Geständnis gedrängt werden. 554 Weigend, NStZ 1999, S. 57 ff. (63); Meurer, NJW 2000, S. 2936 ff. (2944). 555 BGH, Urt. v. 7.6.1989, Az. 2 StR 66/89, BGHSt 36, 210 ff. = NJW 1989, 2270 ff.; Urt. v. 23.1.1991, Az. 3 StR 365/90, BGHSt 37, 298 ff. = NJW 1991, 1692 ff.; Urt. v. 30.10.1991, Az. 2 StR 200/91, BGHSt 38, 102 ff. = NJW 1992, 519 ff.; Urt. v. 20.2. 1996, Az. 5 StR 679/95, BGHSt 42, 46 ff. = NJW 1996, 1763 ff.; Urt. v. 17.7.1996, Az. 5 StR 121/96, BGHSt 42, 191 ff. = NJW 1996, 3018 ff.; Urt. v. 28.8.1997, Az. 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195 ff. = NJW 1998, 86 ff.; Urt. v. 10.6.1998, Az. 2 StR 156/98, NJW 1999, 370 ff. 556 Vgl. BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, BGHSt 50, 40 ff. = NJW 2005, 1440 ff. Inhaltlich bestätigte der Große Senat das Urteil des 4. Senats des BGH v. 28.8.1997, BGHSt 43, 195 ff. und konkretisierte lediglich die darin aufgestellten Kriterien. Danach galten einvernehmliche Lösungen im Hauptverfahren als zulässig, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Alle am Strafprozess Beteiligten müssten in die Verhandlungen miteinbezogen werden. Die Verständigung habe öffentlich zu erfolgen und müsse protokollarisch festgehalten werden. Dem Angeklagten dürfe zur Abgabe eines

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StPO zwar kein konsensuales Urteilsverfahren immanent sei, sie vielmehr wegen des gesetzlich verankerten Aufklärungsgrundsatzes im Grundsatz sogar eine vergleichsfeindliche Ausgestaltung erfahren habe; indes habe es der „Einführung eines Verständigungsverfahrens“ durch die Rechtsprechung in das streng formalisierte Strafverfahren bedurft, da andernfalls die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege gefährdet gewesen sei.557 Dem Großen Senat war dabei durchaus bewusst, dass er sich mit der Anerkennung einer Verständigungslösung in die Rechtsprechung der einzelnen Strafsenate des BGH einreihte, die sich zumindest am Rande der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung bewegte. Aus diesem Grund appellierte der Große Senat eindringlich an den Gesetzgeber, dem Bedürfnis der Praxis gerecht zu werden und Verständigungen, soweit er diese für zulässig halte, gesetzlich zu regeln.558 Der Gesetzgeber ist diesem „faktischen Auftrag“ nach längerem Zögern mit dem Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009559 schließlich nachgekommen. In der neu eingefügten Kernvorschrift des § 257c StPO kodifizierte er nahezu deckungsgleich die vom Großen Senat aufgestellten Grundsätze für zulässige Absprachen innerhalb des Hauptverfahrens. Daneben integrierte der Gesetzgeber mit den §§ 160b, 202a, 212 StPO Ermächtigungsgrundlagen für einen verfahrensfördernden, kommunikativen Austausch zwischen den Verfahrensbeteiligten im früheren Stadium des Ermittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahrens, der nach dem Willen des Gesetzgebers560 auch verfahrensbeendigende Verständigungen beinhalten kann.561

Geständnisses weder mit einer höheren Strafe gedroht werden, noch dürfe ihm ein unzulässiger Vorteil, insb. eine außer Verhältnis zum Unrechtsgehalt der Tat und zur Schuldangemessenheit stehende Strafe, versprochen werden. Gleichsam sei es dem Gericht nicht gestattet eine verbindliche Zusage über die Höhe der zu verhängenden Strafe zu machen. Die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts, insb. als Gegenleistung für einen Strafrabatt, sei unwirksam. Der Angeklagte könne jedoch nach Urteilsverkündung und nachdem er seitens des Gerichts „qualifiziert“ darüber belehrt wurde, dass es ihm ungeachtet der Absprache grundsätzlich frei stehe, Rechtsmittel einzulegen, den Rechtsmittelverzicht wirksam erklären. Schließlich sei das Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen. Liegen diese Voraussetzungen vor, werde das Gericht (nicht aber der Betroffene) an die Absprache gebunden. 557 BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442 ff.), Rn. 46 f., 49, 52–57 (juris). In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von einem „rechtspolitischen Coup“ des Großen Senats gesprochen, Verständigungen im Strafprozess mit einem Staatsnotstand zu begründen, vgl. Fischer, NStZ 2007, S. 433 ff. (434); sehr krit. Malek, StV 2011, S. 559 ff. (565) („Lüge fehlender Ressourcen“). 558 BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1447), Rn. 88 (juris). 559 BGBl. I, 2353. 560 Wenn im Folgenden von der Begründung bzw. dem Willen des Gesetzgebers die Rede ist, so meint dies die Begr. BRegE des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren v. 18.3.2009, BT-Drs. 16/12310, S. 1 ff. (im Folgenden „Begr. BRegE StVVerstG“ zitiert). 561 Vgl. Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 1 (11 f.). Der deutsche Richterbund und Teile der Literatur sehen die Regelungen als unnötig, wenn auch unschädlich an, so etwa Jahn/Müller, NJW 2009, S. 2625 ff. (2627). Kooperationsgespräche

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Das BVerfG hat das Verständigungsgesetz in einem kürzlich ergangenen Urteil für derzeit verfassungsgemäß erklärt, da es Schutzvorkehrungen für die verfassungsrechtlich abgesicherten, strafprozessualen Grundsätze und Rechte der Angeklagten getroffen habe, die sich noch nicht als unzureichend bzw. lückenhaft erwiesen hätten.562 Der in der Praxis noch auszumachende, erheblich defizitäre Vollzugs des Verständigungsgesetzes gründe nicht auf gegenwärtig auszumachenden, strukturellen Unzulänglichkeiten des Gesetzes, sondern auf einem unzureichend ausgeprägtem Bewusstsein der Praxis; entsprechende Anpassungen seien erst notwendig, wenn der Gesetzgeber auch nach einiger Zeit feststellen sollte, dass die Schutzmechanismen des Gesetzes weiterhin umgangen würden.563 Ohne an dieser Stelle auf ihre einzelnen Voraussetzungen einzugehen, kann damit konstatiert werden, dass Verständigungen im Vorfeld und innerhalb der Hauptverhandlung des Strafprozesses jedenfalls nach heutiger Rechtslage zulässig sind. Die materielle Rechtmäßigkeit von Verständigungen im Allgemeinen und die Verfassungsmäßigkeit des § 257c StPO im Besonderen werden hingegen von einem Teil der Literatur nach wie vor bestritten.564 dd) Die sinngemäße Anwendung des § 257c StPO im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren Mit dem Gesetz über die Regelung der Verständigung im Strafverfahren hatte der Gesetzgeber vor allem das Strafprozessrecht im Blick. Unter Berücksichtigung des normativen Kontextes des Bußgeldverfahrens als Mittel zur Umsetzung des Ordnungswidrigkeitenrechts als „kleine Schwester des Strafrechts“ sah er sich nichtsdestotrotz auch veranlasst, „notwendige Folgeregelungen“ 565 für das Bußgeldverfahren zu treffen. Letztlich fand allerdings allein die bereits erörterte Vorschrift des § 78 Abs. 2 ihren Weg in das OWiG.566 Eine separate Ermächtigung für Verständigungen im behördlichen Bußgeldverfahren, lehnte der Gesetzgeber ab. In der Gesetzesbegründung betont dieser vielmehr, dass im Bußgeldverfahren Verständigungen regelmäßig ungeeignet sind,567 und nur für ermittlungsintensive Bußgeldverfahren wegen schwerwiegender Ordnungswidrigkeiten, außerhalb des Hauptverfahrens hätten in der Sache schon immer stattgefunden. Zuzugeben ist der Ansicht, dass § 153a StPO vertragsähnliche Gestaltungen der Staatsanwaltschaft schon früher ermöglichte. 562 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068 f.), Rn. 108 ff. 563 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1070), Rn. 120 f. 564 Dieser Kritik wird noch im Folgenden nachgegangen, soweit sie sich auf das Bußgeldverfahren übertragen lässt. 565 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 2. 566 Siehe Teil 2 § 4 E. IV. 2. b) bb) (S. 201 ff.). 567 Zu den Gründen siehe noch: Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) (S. 206 ff.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 205

auf ein umfassendes Verbot von Absprachen im behördlichen Bußgeldverfahren verzichtet wurde.568 Für diese Ausnahmefälle sei keine separate Ermächtigung erforderlich, da die Generalverweisungen der §§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG ausreichend sicherstellten, dass die strafprozessualen Anforderungen und Bedingungen auch im Bußgeldverfahren sinnvoll zur Anwendung gelangen.569 Wenngleich sich der Gesetzgeber innerhalb seiner Gesetzesbegründung etwas undifferenziert ausdrückt, gilt § 257c StPO über die Verweisungsvorschrift des § 46 Abs. 1 OWiG lediglich für das gerichtliche Bußgeldverfahren.570 Dies ergibt sich aus der – für Verfolgungsbehörden gegenüber dem § 46 Abs. 1 OWiG – spezielleren Vorschrift des § 46 Abs. 2 OWiG, nach der die Verfolgungsbehörde dieselben Rechte und Pflichten wie der Staatsanwaltschaft habe, soweit das OWiG keine andere Regelung trifft. Die Vorschriften der StPO über richterliche Befugnisse konkretisieren daher nicht die Kompetenzen der Verfolgungsbehörden im Bußgeldverfahren.571 Eine spezielle Regelung, die die Verfolgungsbehörde zu Verständigungen ermächtigt, hat der Gesetzgeber bewusst nicht in das OWiG aufgenommen. In der Gesetzesbegründung heißt es: „Auf eine Regelung, die auch der Verwaltungsbehörde explizit die im Strafverfahren dem Gericht eingeräumten Befugnisse zur Verständigung gewährt, wird verzichtet. Hierfür ist nicht nur kein nennenswerter praktischer Bedarf erkennbar, eine solche Regelung würde auch das summarische Verfahren der Verwaltungsbehörde übermäßig formalisieren. Dieser Verzicht entspricht im Übrigen auch der für das Verfahren bis zum Erlass eines Strafbefehls vorgesehenen Rechtslage. Dies hindert die Verfahrensbeteiligten nicht, auch zukünftig im behördlichen Verfahren im Ausnahmefall eine „informelle“ Verständigung zu erreichen, wobei bereits das auch hier geltende Gebot des fairen Verfahrens es unverändert erfordert, dabei die zentralen rechtsstaatlichen Anforderungen, die der Entwurf nun im Detail für das Strafverfahren regelt, zu beachten.“ 572

Die Gesetzesbegründung offenbart, dass der Gesetzgeber das Opportunitätsprinzip als ausreichende Ermächtigungsgrundlage für Verständigungen im behördlichen Bußgeldverfahren erachtet. Auffällig und bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang sogar Maßstäbe für eine pflichtgemäße Ermessensausübung in Zusammenhang mit der verfahrensbeendigenden Verständigung, nämlich das Gebot fairen Verfahrens und die „zentralen“ rechtsstaatlichen Anforderungen des § 257c StPO, benennt.573 Wie die Hervorhebung des Wortes „informell“ deutlich macht, soll es nach dem Willen des Gesetzgebers in 568

Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 15 f. Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16. 570 Ohne Begr. auch Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351, 353); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (15, 24). 571 Seitz, in: Göhler, OWiG, § 46 Rn. 7. 572 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16. 573 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16. 569

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Zukunft nur noch formelle Verständigungen geben. Demzufolge gilt § 257c StPO mit anderen Worten im behördlichen Kartell-Bußgeldverfahren, wenn auch nur mittelbar. c) Teleologische Auslegung des § 47 Abs. 1 OWiG Nachdem vorstehend der eindeutige Wille des Gesetzgebers festgestellt werden konnte, bleibt an dieser Stelle nur noch Raum für eine Begutachtung, inwieweit die Vorstellungen des Gesetzgebers mit dem Sinn und Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG zu vereinbaren sind. aa) Der verbesserte Rechtsgüterschutz als zulässiger Zweck „verfahrensbeendender“ Verständigungen Die zuständige Verfolgungsbehörde soll mithilfe des ihr gemäß § 47 Abs. 1 OWiG eingeräumten Ermessens, dem materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen Rechte der Betroffenen auf ökonomisch vertretbare Art und Weise die größtmögliche Geltung verschaffen.574 Dies kann es im Einzelfall rechtfertigen, dass die Behörde auf die Verfolgung einer weniger gewichtigen Ordnungswidrigkeit gänzlich zugunsten höherer Kapazitäten für Ermittlungen in einem anderen bedeutsameren Fall verzichtet oder den Gegenstand des Bußgeldverfahrens auf ein überschaubares Maß beschränkt,575 um ihre Funktionsfähigkeit und die Effizienz ihrer Bemühungen zum Schutz des Rechtsguts aufrechtzuerhalten. 576 Der Bestand des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts hängt also nicht zwangsläufig von der unbedingten Ausschöpfung der jeweils zulässigen Sanktionsmöglichkeiten ab. Ohnehin kann man nur idealtypisch davon ausgehen, dass Täter, Geschädigte und Verwaltungsbehörde die letztlich ausgesprochene Sanktion gleichermaßen für gerecht halten,577 die verhängte Geldbuße also stets ihren Zwecken vollumfänglich gerecht wird. Während der Geschädigte regelmäßig eine hohe Sanktion fordern wird, vermag der Täter etwa keine „Reue“ zeigen und eine Geldbuße insgesamt ablehnen. Wenn es nun aber gelingt, das Bündel von Interessen auf den gemeinsamen Nenner einer allseits noch als gerecht empfundenen Sanktion zu bringen, kann ein partieller Verzicht auf dem im materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht verbrieften, maximal zulässigen Sanktionsanspruch den mit der Verhängung einer Geldbuße verfolgten 574

Teil 2 § 3 B. I. 3. (S. 120 ff.). Etwas anderes gilt im Strafverfahren, in dem die tatsächlichen Feststellungen grundsätzlich nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten stehen. Vgl. BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1063), Rn. 73; BGH, Urt. v. 21.6.2012, Az. 4 StR 623/11, NJW 2012, 3113 (3114 f.), Rn. 16 (juris). 576 Siehe insoweit die Ausführungen in Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.). 577 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 97. 575

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 207

Sanktionszwecken höchst dienlich sein.578 Denn in diesem Fall wird dem öffentlichen Interesse an der Ahndung der Ordnungswidrigkeit und dem Vergeltungswunsch Geschädigter jedenfalls (teilweise) entsprochen. Eine reduzierte, von der Allgemeinheit aber noch gebilligte, da nicht „ausgehandelte“ und angemessene „Strafe“ kann die allgemeine Akzeptanz des materiellen Wettbewerbsrechts, das Rechtsbewusstsein und das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechts stärken. Im Idealfall wird der Täter zudem zu Besserem bekehrt, indem er einerseits, trotz milder Ahndung, einen nach wie vor eindringlichen Pflichtenappell erhält, mit der Aussicht einer härteren Sanktion im Wiederholungsfalle, und andererseits durch die Nachsicht der Verfolgungsbehörde eher die Rechtmäßigkeit der Ahndung akzeptiert und die daran geknüpfte Wertung bei seinem künftigen Verhalten „im Hinterkopf“ behält. Der Ansatz, den Täter (und die Rechtsgemeinschaft) von Rechtschaffenheit zu überzeugen, statt ihn im Höchstmaß zu „bestrafen“, kann dementsprechend, wenn auch auf Kosten der dadurch verminderten Repressionswirkung der Geldbuße, zu einer verbesserten Spezial- und Generalprävention führen, was gleichermaßen den vom materiellen Ordnungswidrigkeitenrecht intendierten Rechtsgüterschutz optimiert.579 Diese Wirkung wird ferner verstärkt, wenn die durch verkürzte Verfahren entlasteten Entscheidungsträger, mit unveränderten Ressourcen, im öffentlichen Interesse mehr Ordnungswidrigkeiten verfolgen können. Die mit der Modifikation der Bußgeldverfahren verbundene Verkürzung des Bußgeldverfahrens entspricht gleichzeitig dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgten Recht auf Strafverhandlung innerhalb angemessener Frist, welches als völkerrechtliche Bestimmung mit dem Rang eines Bundesgesetz unmittelbare Geltung in Deutschland entfaltet,580 sowie seinem anerkannten, wenngleich ungeschriebenen,581 verfassungsrechtlichem Pendant: dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung.582 Das 578 A. A. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (42 f.) Zu den Sanktionszwecken der Geldbuße vgl. bereits Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 579 Krit. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (42 f.), der in der Verhandelbarkeit und ausnahmslos allen Tätern zur Verfügung stehenden Aussicht auf Bußgeldminderung eine verminderte Repressions- und Abschreckungswirkung sieht und die Suche nach abschöpfbaren Vorteilen aufgrund der bezweckten Beschleunigung für sinnlos erklärt. 580 BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3410), Rn. 30 (juris) m.w. N. Für das Verwaltungsverfahren ist Art. 41 Abs. 1 GRCh zu beachten. 581 In der StPO und dem OWiG findet sich kein explizit ausgesprochener Beschleunigungsgrundsatz, vgl. nur Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 110. 582 Dieser ergibt sich nach der Rechtsprechung der BVerfG aus dem Recht auf ein faires Verfahren als Element des Rechtsstaatsprinzips, vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.10. 1977, Az. 2 BvR 80/77, BVerfGE 46, 17 (28 f.), Rn. 45 (juris); Beschl. v. 12.1.1983, Az. 2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45 (68 f.), Rn. 69 (juris); Beschl. v. 5.2.2003, Az. 2 BvR 327/02, 2 BvR 328/02, 2 BvR 1473/02, NJW 2003, 2225, Rn. 33 f. (juris); Beschl. v. 21.1.2004, Az. 2 BvR 1471/03 – absolute Verjährungsfrist, NJW 2004, 2398, Rn. 29 ff. (juris); Beschl. v. 4.9.2009, Az. 2 BvR 1089/09, Rn. 3 (juris); Beschl. v. 8.6. 2010, Az. 2 BvR 432/07, 2 BvR 507/08, NJW 2011, 591 (593 f.), Rn. 36 f. (juris).

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Beschleunigungsgebot gilt nicht nur für Strafverfahren, sondern darüber hinaus uneingeschränkt auch für Bußgeldverfahren,583 und ist daher als Maßstab für eine pflichtgemäße Ermessensausübung anzuerkennen. Wenn „verfahrensbeendende“ Verständigungen als Instrument der Konfliktbewältigung also nicht allein zu dem zumeist allein betonten verringerten Verfahrensaufwand und damit zu wirtschaftlich zu begrüßenden Effekten führen,584 sondern gleichsam dem unbedingten Geltungsanspruch des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts gerecht werden, indem sie quasi als Katalysatoren des Rechtsgüterschutzes wirken, sind sie nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG zu begrüßen. Dann rechtfertigt ihre effizienz- und effektivitätssteigernde Wirkung, dass die Verfolgungsbehörde auf eine umfassende Verfolgung und Ahndung der fraglichen Ordnungswidrigkeit zugunsten eines insgesamt optimierten Rechtsgüterschutzes verzichtet. bb) Keine generelle Eignung von Verständigungen im Bußgeldverfahren Vor diesem Hintergrund offenbart sich, dass der pauschale Verweis auf das den Verfolgungsbehörden im Rahmen des § 47 Abs. 1 OWiG eingeräumte Ermessen nicht genügt, um die prinzipielle Zulässigkeit von Verständigungen im Bußgeldverfahren zu begründen. Denn im idealtypischen Fall der Bagatell-Ordnungswidrigkeit wird die Verfolgungsbehörde nach pflichtgemäßer Ermessensausübung in der Regel zu dem Ergebnis gelangen, dass eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung weder zu einer Verfahrensverkürzung noch zu einem verbesserten Rechtsgüterschutz beiträgt. Vielfach, vor allem bei der Verfolgung von Verkehrsordnungswidrigkeiten, werden bereits keine langwierigen Beweiserhebungen notwendig sein.585 Selbst wenn die Fakten zum Nachweis einer Bagatell-Ordnungswidrigkeit nicht auf der Hand liegen, ist es in der Regel sachgerechter, das Ver583 BVerfG, Beschl. v. 19.3.1992, Az. 2 BvR 1/91, NJW 1992, 2472 f., Rn. 23 ff. (juris); BGH, Beschl. v. 4.11.2003, Az. KRB 20/03 – Frankfurter Kabelkartell, WuW/E DE-R 1233 (1235 f.), Rn. 22 (juris); OLG Bamberg, Beschl. v. 4.12.2008, Az. 3 Ss OWi 1386/08, NJW 2009, 2468 (2469), Rn. 12 (juris); OLG Düsseldorf, Urteil v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2 – 6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 573 ff. (juris); allgemein EGMR, Urt. v 21.2.1984, Nr. 8544/79 – Öztürk v Germany, Serie A Bd. 85, NJW 1985, 1273 (1274), §§ 53 ff. 584 So vor allem das BKartA, welches überwiegend auf die Vorteile beschleunigter Verfahren, geringeren Verfahrensaufwands und der in der Regel vermiedenen Folgeprozesse hinweist, vgl. etwa TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 41; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (355); Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, Rn. 2, 15, 16, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310 _Rede_auf_dem_44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013); vgl. auch Schweitzer, ERCL 2009, S. 175 ff. (177) für das europäische Settlementverfahren. 585 So bedarf es etwa keiner langwierigen Ermittlung bei einem in einer Parkverbotszone abgestellten Fahrzeugs.

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fahren einzustellen, als intensive Ermittlungen durchzuführen.586 Andernfalls stünde der Ermittlungsaufwand schnell außer Verhältnis zur Bedeutung der Ordnungswidrigkeit, die das öffentliche Interesse an der Verfolgung maßgeblich bestimmt. Denn bei massenhaft begangenen Bagatelldelikten sollten sich die Ermittlungen der Verfolgungsbehörde in Grenzen halten, um dem Wirtschaftlichkeitsprinzip und dem – im Einzelfall – regelmäßig geringen öffentlichen Interesse an der Verfolgung Rechnung zu tragen. Zudem fehlt es bei Alltagsdelikten an geeigneten Kontrollsystemen, um eine notwendige Abschreckung für die Zukunft sicherzustellen. Damit zerschlägt sich gleichsam die Hoffnung auf eine optimierte Spezialprävention. Abgesehen davon würde eine einvernehmliche Lösung wohl vielfach faktisch am Widerstand der Täter scheitern, die eher darauf spekulieren, dass der Verfolgungsbehörde auch nach intensiven Ermittlungen kein Nachweis der Tat gelingt und das Risiko einer späteren Bebußung angesichts der zu erwartenden, vergleichsweise niedrigen Sanktion in Kauf nehmen. Damit offenbart sich zugleich, dass auch das nach dem Rechtsgedanken des § 17 Abs. 3 OWiG grundsätzlich im Rahmen des Verfolgungsermessens zu beachtende, positive Nachtatverhalten keine andere Bewertung zulässt. Denn das verhandelte, taktische „Geständnis“ spricht gerade nicht für eine Einsicht oder gar Reue des Täters;587 eine solche kann letztlich nur bei einem Geständnis angenommen werden, das auf einem autonomen Entschluss beruht. Vergleichsverhandlungen sind daher in der Mehrzahl der Fälle nicht nur ungeeignet, um den Zweck verbesserten Rechtsgüterschutzes gerecht zu werden. Sie können noch dazu, wie bei Verfahren wegen Verkehrsordnungswidrigkeiten, schädlich sein, wenn sie durch einen Teilerlass des sonst, also ohne Geständnis, von der Behörde erlassenen Bußgeldes die zur Informationsgewinnung intendierten Nebengeschäfte, die an die Ahndung mit einer Geldbuße gewisser Höhe anknüpfen, untergraben.588 Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber mit der Einführung der Verständigungen im Strafverfahren auch betont, dass er Vergleichsverfahren bei idealtypischen, bagatellhaften Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich für „ungeeignet“ hält. Einvernehmliche Verfahrensbeendigungen sind daher für das Gros der Ordnungswidrigkeiten nicht im Rahmen des § 47 Abs. 1 OWiG intendiert und damit keine „natürliche“ Folge des Opportunitätsprinzips.589 586

Auch explizit die Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 15. Krit. zum verhandelten Geständnis im Strafverfahren: Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1392); Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 16; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (72); Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 21; jeweils m.w. N.; a. A. BGH, Urt. v. 28.8.1997, Az. 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195 (209), Rn. 40 f. (juris). 588 § 28 Abs. 3 Nr. 3 StVG sieht etwa erst eine Eintragung im Verkehrszentralregister ab einer Geldbuße in Höhe von 40 Euro vor. 589 Hingegen für die nicht nach der Bedeutung der Ordnungswidrigkeiten differenzierende Anwendbarkeit der Strafprozessvorschriften im gerichtlichen Einspruchsverfahren: Krumm, NZV 2011, S. 376 ff.; Fromm, NZV 2010, S. 550 ff. 587

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

cc) Eignung von Verständigungen im Kartell-Bußgeldverfahren Freilich hat die gesetzliche Qualifikation schwerwiegender, rechtswidriger Taten als Ordnungswidrigkeiten zu zahlreichen Problemen hinsichtlich der Einordnung des Opportunitätsprinzips im behördlichen Bußgeldverfahren geführt. Wie bereits an mehreren Stellen der Untersuchung deutlich wurde, ist anhand der Bedeutung des begangenen Unrechts und dem daraus zu ermittelnden öffentlichen Interesse ein differenzierendes Bild des gewährten Verfolgungsermessens zu zeichnen. Da bei gravierenden Ordnungswidrigkeiten in der Regel auch ein gesteigertes öffentliches Interesse an ihrer Verfolgung und Ahndung besteht, darf der Aufwand, der zur Überführung des Täters notwendig ist, im Vergleich zu massenhaften Bagatelldelikten um ein Vielfaches höher sein. In der Regel überwiegen die mit der Geldbuße bezweckten Ziele Effizienzerwägungen, sodass ein Absehen von der Verfolgung und Ahndung regelmäßig nicht zu rechtfertigen ist. Indes führt ein erhöhter Verfahrensaufwand zu einer Ressourcenverknappung der konkreten Verfolgungsbehörde mit der Folge, dass sich Verfahren entweder unangemessen verlängern oder aber die Behörde faktisch nicht mehr alle bedeutsamen Fälle mit derselben Intensität verfolgen kann. Einem solchen Dilemma ist insbesondere das Bundeskartellamt ausgesetzt, da es überwiegend in der Verborgenheit praktizierte und zunehmend verschleierte, wettbewerbswidrige Verhaltensweisen aufdecken muss und sich dabei nicht nur schwierigen Beweislagen gegenübersieht, sondern darüber hinaus auch der Herausforderung, stets neue, wirtschaftlich komplexe Entwicklungen konsequent nachzuvollziehen, rechtlich zu bewerten und innerhalb der Bußgeldbescheide ausreichend zu begründen. Nicht zu unterschätzen ist ferner, dass sich die Fallzahlen der Kartellbehörde seit der Einführung des Kronzeugenprogramms und einer verbesserten personellen Ausstattung deutlich erhöht haben, ohne dass die Fallzahlen in anderen Tätigkeitsbereichen des Bundeskartellamtes, wie etwa der Fusionskontrolle, evident zurückgegangen wären.590 Die gestiegenen Fallzahlen vermögen zwar zum Teil von den erhöhten Kapazitäten aufgefangen worden sein. Gleichsam wird jedoch deutlich, dass Kartelle nicht zurückgegangen sind und das Bundeskartellamt den Wettbewerbsschutz vielmehr vor der Installation der zusätzlichen Beschlussabteilungen und der Einführung der Bonusregelung, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, nicht hinreichend sicherstellen konnte. Inwieweit eine weitere Aufstockung der Ressourcen und ein fortschreitender Ausbau des Bundeskartellamtes mit dem Wirtschaftlichkeitsprinzip vereinbar sind, vermag diese Arbeit nicht festzustellen; dies würde ihren Rahmen sprengen. Jedenfalls bedarf es dazu 590 Das BKartA spricht von einer Verdreifachung der eingeleiteten Kartell-Bußgeldverfahren von 7 im Zeitraum zwischen 1994 und 1997 und 20 Verfahren im Zeitraum zwischen 2006 und 2009, vgl. BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, Rn. 7 f. Hinsichtlich der angemeldeten Fusionsvorhaben vgl. etwa TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. VIII, 21 f., in welchem das BKartA erstmals seit 2003 wieder einen Rückgang der Fallzahlen aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrisen verzeichnete.

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weiterer Haushaltsmittel und womöglich langwieriger politischer Entscheidungen. Nicht ausgeschlossen ist demgegenüber, dass das Bundeskartellamt, unabhängig von einer solchen Entscheidung, seine Effektivität mit verfahrensbeendigenden Verständigungen steigern kann, indem es unter Schonung seiner personellen und finanziellen Ressourcen im Einzelfall, eine größere Anzahl von Kartellen verfolgen kann, ohne gleichsam auf die Sanktionierung einzelner Kartellverstöße gänzlich verzichten zu müssen. Ein empirischer Beleg für einen verbesserten Wettbewerbsschutzes kann angesichts der kurzen Anwendungspraxis an dieser Stelle zwar praktisch nicht erbracht werden und ist überdies angesichts vieler anderer Begleitumstände auch in absehbarer Zeit wohl kaum zu erbringen.591 Allerdings dürfte die psychologische Auswirkung nicht zu unterschätzen sein, die von steigenden Fallzahlen ausgeht. Es macht zudem den Anschein, dass SettlementVerfahren für Betroffene durchaus attraktiv sind. Jedenfalls wurden im Berichtszeitraum 2009/2010 laut den Angaben des Bundeskartellamtes 15 Verfahren ganz oder teilweise einvernehmlich beendet;592 im Berichtszeitraum 2007/2008 waren es noch sieben Verfahren.593 Wenn man bedenkt, dass im Zeitraum zwischen 2006 und 2009 insgesamt 14 Bußgeldverfahren mit der Verhängung eines Bußgeldes abgeschlossen wurden,594 sind wohl mehr als die Hälfte aller Verfahren einvernehmlich beendet wurden. Gleichzeitig stieg die Anzahl der abgeschlossenen Verfahren von neun im Zeitraum zwischen 2002 bis 2005 auf 14 im Zeitraum von 2006 bis 2009, also um etwa 50 %. Inwieweit die Zunahme auch auf die Bonusregelung und die Einrichtung der drei auf Kartellordnungswidrigkeiten spezialisierten Beschlussabteilungen zurückzuführen ist, kann nicht eindeutig belegt werden. Allerdings muss auch kein stichhaltiger Beweis für den Erfolg des Settlement-Programms erbracht werden, um dessen Zulässigkeit im Rahmen pflichtgemäßer Ermessensausübung zu begründen. Eines derartigen Grads an ex ante Wissen und Belegbarkeit der Wirksamkeit eines Verfolgungsinstruments bedarf es nicht. Ausreichend ist, dass das angewandte Mittel nicht vollkommen ungeeignet erscheint, um den Wettbewerbsschutz zu intensivieren. Dafür bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Im Gegenteil. Neben erzielbaren Effizienz- und Effektivitätsgewinnen vermag eine „Konsenslösung“ sowohl dem öffentlichen Interesse, als auch dem Vergeltungsinteresse der Geschädigten gerecht zu werden. Die in Aussicht gestellte Bußgeldreduktion um bis zu 10 % erscheint angemessen und dürfte das Prinzip schuldangemessenen Strafens nicht in Frage stellen.595 Sofern darüber hinaus keine erhebliche, zu einer unangemesse591 Umfassend zu den Schwierigkeiten der theoretischen Herleitung einer effektivitätssteigernden Wirkung von Verständigungen und ihres empirischen Nachweises: Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 354 ff. 592 TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 41. 593 TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 35. 594 Vgl. BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 8. 595 Hierzu noch vertiefend: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) dd) (S. 221 ff.) und Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

nen Sanktionierung führenden Beschränkung des sachlichen, räumlichen und zeitlichen Gegenstands des Bußgeldverfahrens vereinbart wird, ein Handel mit Gerechtigkeit also ausgeschlossen ist, dürfte das der Rechtsgleichheit dienende Schuldprinzip ebenfalls nicht tangiert sein. Gleiches gilt für das Rechtsempfinden der Allgemeinheit und die generalpräventive Wirkung der Geldbuße. Zudem besteht eine reale Chance, dass – trotz ihrer Reduktion – weiterhin durchaus hohe Geldbußen Betroffene von weiteren Zuwiderhandlungen abhalten. In jedem Fall droht ihnen im Wiederholungsfalle eine zumindest an die zulässige Höchstgrenze heranreichende Geldbuße, wobei Betroffenen durchaus bewusst sein wird, dass das Bundeskartellamt über effiziente Kontrollmechanismen verfügt. Settlements können daher eine allseits noch als gerecht empfundene Sanktionierung kartellrechtswidrigen Verhaltens bewirken, was durch die Stärkung der Spezial- und positiven Generalprävention zu einem verbesserten Wettbewerbsschutz beiträgt.596 Mit Blick auf die Gesetzesbegründung zur Reformierung des Strafprozessrechts kann außerdem konstatiert werden, dass die Situation des Bundeskartellamtes mit derjenigen der Staatsanwaltschaften und Strafgerichte vergleichbar erscheint. Wenngleich man mit der Annahme einer ohne die Verständigungslösung gefährdeten Funktionsfähigkeit des Bundeskartellamtes zurückhaltend sein sollte, spricht der ähnlich hohe Ermittlungsaufwand zum Nachweis von Kartellen für eine Orientierung des Kartell-Bußgeldverfahrens an die bestehende strafprozessuale Rechtslage. Im Strafprozessrecht waren verfahrensbeendigende Absprachen bereits vor der Installation des § 257c StPO höchstrichterlich anerkannt. Die Literatur hat sie überwiegend als unumkehrbares, strafprozessuales Faktum akzeptiert bzw. sich mit ihnen abgefunden.597 Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die der Gesetzgebung vorausgegangene Kritik der Literatur nicht vorrangig auf der von den Senaten des BGH entwickelten Form der strafprozessualen Absprachen gründet, sondern vielmehr auf der Praxis der Strafgerichte, Verfahrensprinzipien wie den trotz Konsenslösung uneingeschränkt geltenden Untersuchungsgrundsatz, den Öffentlichkeitsgrundsatz und das Prinzip der schuldangemessenen Strafe zu negieren.598 Diesen Argumenten wird sogleich noch nachzugehen sein, sofern sie sich auf das behördliche Bußgeldverfahren übertragen 596 Dies übersieht Brenner, der die Möglichkeit verbesserten Wettbewerbsschutzes ausschließlich von dem Beweiswert des individuellen Geständnisses abhängig macht. Vgl. Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (596 ff.). Siehe schon: Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) (S. 206 ff.). 597 Meyer-Goßner, StPO, Einleitung Rn. 119a. 598 Meyer-Goßner, StPO, Einleitung Rn. 119a; Fischer, in: KK/StPO, § 244 Rn. 30 f. Vgl. zur – an den Verfahrensgrundsätzen orientierten – Kritik statt vieler: Schünemann, NJW 1989, S. 1895 ff.; ders., JZ 1989, S. 984 ff.; ders., StV 1993, S. 657 ff.; ders., in: Hanack, Festschrift für Peter Riess zum 70. Geburtstag am 4. Juni 2002, S. 525 ff.; ders., StraFO 2005, S. 177 ff. (179 f.); Zschockelt, NStZ 1991, S. 305 ff.; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, S. 435, 439 ff.; Pfeiffer, StPO, Einleitung Rn. 16c ff.; Pfeiffer/Hannich, in: KK/StPO, Einleitung Rn. 29a ff.; jeweils m.w. N.

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lassen. An dieser Stelle ist jedoch von Bedeutung, dass Verhandlungslösungen selbst im vom Legalitätsprinzip beherrschten Strafverfahren bereits vor ihrer gesetzlichen Implementierung anerkannt waren. Es ist kein Grund ersichtlich, warum dies nicht auch im Bußgeldverfahren für ebenso schwierig zu ermittelnde und wegen ihres Unrechtsgrads verfolgungsbedürftige Ordnungswidrigkeiten gelten soll.599 Sinn und Zweck der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG ist es, dass die Verfolgungsbehörden materiellem Ordnungswidrigkeitenrecht, so effektiv und kostensparend wie möglich, die größtmögliche Geltung verschaffen. Dem kann das Bundeskartellamt durch eine angemessene, beschränkte Verfolgung und Ahndung im Wege von Settlements gerecht werden. Dies hat der Gesetzgeber zutreffend anerkannt und bei der Implementierung der Verständigungslösung in Strafprozessrecht auf ein ausdrückliches Verbot von einvernehmlichen Verständigungen im Bußgeldverfahren verzichtet, um das Konsensmodell für die „Ausnahmefälle“ schwerwiegender Ordnungswidrigkeiten offenzuhalten, wobei das Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht exemplarisch genannt wurde.600 d) Ergebnis Die Auslegung des § 47 OWiG hat ergeben, dass sich eine Ermächtigung zu verfahrensbeendigenden Verständigungen in Kartell-Bußgeldverfahren nicht allein mit dem pauschalen Verweis auf das Opportunitätsprinzip begründen lässt. Zwar ergab die Entstehungsgeschichte des § 47 OWiG kein eindeutiges Ergebnis. Bestätigt wurde dieses Ergebnis jedoch letztlich durch eine systematische und teleologische Auslegung des § 47 Abs. 1 OWiG. Verfahrensbeendigende Verständigungen sind danach nur insoweit zulässig, wie sie dem Zweck der unbedingten Durchsetzung materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts nützlich sind. Insoweit ist der Auffassung des Gesetzgebers zuzustimmen, dass Verständigungen im Bußgeldverfahren wegen idealtypischer Bagatellordnungswidrigkeiten zwar grundsätzlich deplatziert sind, da sie in der Regel keine prozessökonomische Wirkung entfalten können, allerdings in den „wenigen geeigneten Fällen“ zuzulassen sind,601 die insoweit „atypisch“ erscheinen, als dass sie wegen des verwirklichten, schwerwiegenden Unrechts eine Verfolgung erfordern und die Verfolgungsbehörde gleichzeitig vor die Herausforderung eines hohen Ermittlungsaufwands und der damit verbundenen Kosten stellen. Settlements sind geeignet, den Verfahrensaufwand des Bundeskartellamtes zu verringern, Verfahren zu verkürzen und auf diese Weise einen verbesserten Wettbewerbsschutz zu bewirken. Denn sie können zu einer verbesserten General- und 599 Ebenso Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 30; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 250 f. 600 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16. 601 So explizit Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16.

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Spezialprävention der erlassenen Geldbußen führen, indem mit ihrer Hilfe mehr Fälle bearbeitet werden können, was möglicherweise zu einem verbesserten Abschreckungseffekt beiträgt, wohl aber zu einem stärkeren Rechtsbewusstsein bei Tätern und der Allgemeinheit, soweit sich der neben der Bußgeldreduktion in Höhe von 10 % gegebenenfalls gewährte Verfolgungs- und Ahndungsverzicht noch in einem angemessenen Rahmen bewegt. Dafür sprechen de facto die hohe Akzeptanz der Settlements und die an gestiegenen Fallzahlen ablesbare, gesteigerte Effektivität des Bundeskartellamtes. Settlements werden damit dem Sinn und Zweck der Regelung des § 47 Abs. 1 OWiG gerecht, dem materiellen Kartellrecht unter Berücksichtigung der verfassungsmäßigen Rechte der Betroffenen auf ökonomisch vertretbare Art und Weise die größtmögliche Geltung zu verschaffen. Daraus folgt, dass das Bundeskartellamt auch und gerade im Hinblick auf Hardcore-Kartelle zu einer begrenzten Ermessensentscheidung im Rahmen von Verständigungen ermächtigt ist, das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes also nicht auf eine vollumfängliche Verfolgung (unter Ausschöpfung der maximal zulässigen Sanktionshöhe602) reduziert ist. Freilich muss sich die prinzipiell (allein) zulässige, beschränkte Verfolgung in den durch das Schuldprinzip und das öffentliche Interesse gesetzten Grenzen halten. Ein „partieller“ Verfolgungs- und Ahndungsverzicht, der etwa dadurch bewirkt wird, dass ein erheblicher Umfang des ermittelten Zeitraums der Zuwiderhandlung oder eine bedeutende kartellbehaftete Produktgruppe nicht zum Gegenstand des Bußgeldverfahrens gemacht werden, dürfte die Grenzen zulässiger Ermessensausübung überschreiten. V. Settlements im Spiegel des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte Jedes staatliche Handeln muss gemäß Art. 20 Abs. 3 GG zuvorderst dem Rechtsstaatsprinzip entsprechen, welches, obgleich nicht ausdrücklich in dem in Art. 20 Abs. 1 GG kodifizierten Katalog der Grundentscheidungen der Bundesrepublik Deutschland erwähnt, eines der elementaren Grundprinzipien des Grundgesetzes bildet.603 Das Rechtsstaatsprinzip kommt insbesondere in einer Vielzahl von Einzelgarantien des Grundgesetzes zum Ausdruck.604 Darüber hinaus ver602

Zum Sanktionszumessungsermessen noch: Teil 3 (S. 333 ff.). BVerfG, Ents. v. 12.12.1957, Az. 1 BvR 678/57 – Einkommenssteuergesetz BVerfGE 7, 194 (196), Rn. 5 (juris); Beschl. v. 25.10.1966, Az. 2 BvR 506/63 – nulla poena sine culpa, BVerfGE 20, 323 (331), Rn. 33 (juris). 604 Als Hauptelemente werden vor allem genannt: die Bindung der staatlichen Gewalt an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), die Grundrechtsbindung der Gewalten (Art. 1 Abs. 3 GG), der Gerichtsschutz sowie die Justizgewährrechte (Art. 19 Abs. 4, Art. 97 Abs. 1, 101, 102, 104 GG) und der Grundsatz nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG). Vgl. etwa Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 22 ff.; Sachs, GG, Art. 20 Rn. 77 f.; Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 2; Katz, Staatsrecht, § 10 Rn. 162. 603

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steht die wohl überwiegende Meinung den Gedanken des Rechtsstaats als integralen Bestandteil der Verfassung mit einem über die besonderen Regelungen hinausgehenden, selbstständigen Gehalt,605 welcher rechtliche Ableitungen, also Bindungen der hoheitlichen Gewalt erlaubt, sofern das Grundgesetz für den fraglichen Sachbereich keine Regelungen enthält.606 Das BVerfG hat in zahlreichen Entscheidungen ungeschriebene, spezielle Elemente des Rechtsstaatsprinzips identifiziert und dieses damit konkretisiert.607 Die gegenwärtige Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes muss sich an diesen Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte der Betroffenen messen lassen. Dabei sind vor dem Hintergrund, dass sich Settlement-Verfahren als modifizierte Form des Kartell-Bußgeldverfahrens für Betroffene besonders eingriffsintensiv darstellen, strenge Maßstäbe anzusetzen. Letztlich bleibt nämlich, unabhängig von der bezweckten Verkürzung und Begrenzung des Kartellverfahrens, die Verhängung einer sanktionierenden Geldbuße uneingeschränktes Ziel eines Settlements, welche die Grundrechte auf freie unternehmerische Entfaltung und das Recht auf Gleichbehandlung und das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren berührt, die national durch Art. 2 Abs. 1 GG, 3 Abs. 1, 12 und 14 GG und auf europäischer Ebene durch Art. 15, 16, 17, 41 und 47 der Grundrechtecharta garantiert werden.608 Im Folgenden wird die Settlement-Pra605 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 42 ff., insb. 44; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 399 ff.; Breuer, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch u. a., Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 223 ff. (226); Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 8; Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 3; ferner bereits Stern, StR I, S. 778 ff.; a. A. Kunig, Das Rechtstaatsprinzip, passim, insb. S. 98 ff., 109 f., 457 ff.; Schnapp, in: v. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 24 f., die das Rechtsstaatsprinzip lediglich als Sammelbezeichnung für die ausdrücklich verbürgten Einzelgarantien verstehen, wobei letztere ausreichend seien, um alle relevanten Rechtsfragen zu lösen. 606 BVerfG, Beschl. v. 17.6.2004, Az. 2 BvR 383/03 – Parteienfinanzierung, BVerfGE 111, 54 (82). Die verfassungsmäßige Verankerung des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips ist jedoch weiterhin unklar. Das BVerfG hat es zunächst aus einer Gesamtschau der Regelungen des Art. 20 Abs. 3 GG, den Einzelgarantien sowie der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes entwickelt. In jüngerer Zeit beschränkt es sich jedoch zunehmend auf die Zitierung von Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. etwa Urt. v. 4.7.1995, Az. 1 BvF 2/86 u. a. – Kurzarbeitergeld, BVerfGE 92, 365 (409), Rn. 157 (juris); Beschl. v. 20.6.1995, Az. 1 BvR 166/93, BVerfGE 93, 99 (107), Rn. 29 (juris); Beschl. v. 15.10.1996, Az. 1 BvL 44/92, 1 BvL 48/92 – Mietpreisbindung, BVerfGE 95, 64 (82), Rn. 92 (juris); Beschl. v. 24.3.2011, Az. 1 BvR 2493/10, Rn. 15 (juris); Beschl. v. 7.12.2011, Az. 2 BvR 2500/09, 2 BvR 1857/10 – Beweisverwertung, NJW 2012, 907 (909); einstw. AO v. 30.3.2012, Az. 1 BvR 711/12, Rn. 19 (juris). So wohl auch die überwiegende Literatur: Stern, StR I, S. 172 f., 779; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof, HStR II, § 26 Rn. 90; Sachs, GG, Art. 20 Rn. 76; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 44 ff.; krit. Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 4; Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 7 ff.; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 21 Rn. 86; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 24. 607 Zu den Einzelheiten etwa Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 49 ff. 608 Zum Recht auf freie unternehmerische Entfaltung im deutschen Recht: BVerfG, Ents. v. 16.5.1961, Az. 2 BvF 1/60 – Spinnweber-Zusatzsteuer, BVerfGE 12, 341 (347);

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xis des Bundeskartellamtes daher anhand einzelner Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte untersucht. Dabei handelt es sich um die Einzelgewährleistungen des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (1.), den verfassungsrechtlich garantierten, strafgesetzlich konkretisierten Verfahrens- und Verteidigungsrechten der Betroffenen (2.) und dem allgemeinen Gleichheitssatz (3.). 1. Die Vereinbarkeit der Settlements mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung

Als „Herzstück der rechtsstaatlichen Ordnung“ bindet Art. 20 Abs. 3 GG die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht.609 Aus dieser Bindung der Exekutive folgt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,610 der wiederum zwei Aspekte beinhaltet: zum einen den Vorrang des Gesetzes, der positiv die Ausrichtung des Verwaltungshandelns an die bestehenden Gesetzen fordert sowie negativ gegen diese verstoßende Maßnahmen verbietet,611 und zum anderen den Vorbehalt des Gesetzes, der jedenfalls in bestimmten Bereichen eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für das Tätigwerden der Verwaltung verlangt.612 Die Rn. 33 f. (juris); Ents. v. 7.5.1969, Az. 2 BvL 15/67 – lex Rheinstahl, BVerfGE 25, 371 (407), Rn. 119 (juris); Urt. v. 1.3.1979, Az. 1 BvR 532/77 u. a. – Mitbestimmungsgesetz, BVerfGE 50, 290 (366), Rn. 179 f. (juris); Beschl. v. 9.10.2000, Az. 1 BvR 1627/95 – Importarzneimittel-Boykott, WuW/E DE-R 557 ff., Rn. 27 (juris) m.w. N.; ferner aus der Literatur umfassend Erichsen, in: Isensee/Kirchhof HStR VI, § 152 Rn. 60 ff.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 76 ff., 126 ff. Zum Recht auf freie unternehmerische Entfaltung im europäischen Recht: EuGH, Urt. v. 19.9.1985, verb. Rs. 63/84 und 147/84 – Finsider, Slg. 1985, 2857, Rn. 23; Urt. v. 21.2.1991, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415, Rn. 72 ff.; Urt. v. 9.9. 2004, Rs. C-184/02 u. C-223/02 – Spanien u. Finnland/EP u. Rat, Slg. 2004, I-7789, Rn. 51 ff.; aus der Literatur etwa Schwarze, EuR 2009, S. 171 ff. (180); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EUV Rn. 25 m.w. N. 609 Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 50. 610 Zum Teil wird der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung auch allein mit dem Grundsatz des Gesetzesvorrangs gleichgestellt. So etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 148. 611 BVerfG, Beschl. v. 28.10.1975, Az. 2 BvR 883/73 u. a., BVerfGE 40, 237 (248 f.), Rn. 28 f. (juris); Beschl. v. 3.4.1990, Az. 1 BvR 1186/89 – nichtehelicher Lebenspartner als Mieter, BVerfGE 82, 6 (12), Rn. 20 (juris); Stern, StR I, S. 801 f.; Kunig, Das Rechtstaatsprinzip, S. 316 ff.; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 65 ff.; Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, S. 104 ff.; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 72 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 2; Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, § 26 Rn. 10; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 62; krit. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 44 Rn. 45, der im Grundsatz des Gesetzesvorrangs lediglich eine Kollisionsregel erblickt. 612 BVerfG, Urt. v. 14.7.1998, Az. 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218 (251), Rn. 132 (juris); Reimer, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 9 Rn. 24 f.; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 75; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 65; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 44 Rn. 46; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 3.

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Frage, ob für die Settlement-Praxis eine spezielle formelle Ermächtigungsgrundlage notwendig ist, wird an dieser Stelle zunächst zurückgestellt. Sie stellt sich für mehrere kartellbehördliche Maßnahmen im Bußgeldverfahren, die auf das dem Bundeskartellamt eingeräumte Ermessen gestützt werden und soll daher erst nach einer übergreifenden Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes im Bußgeldverfahren beantwortet werden.613 Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht die Untersuchung, inwieweit die gegenwärtige Settlement-Praxis mit dem Untersuchungsgrundsatz (a)) und den Rechtsgedanken des § 257c Abs. 2 StPO (b)) vereinbar ist. a) Die Vereinbarkeit der Settlement-Praxis mit der Aufklärungspflicht des Bundeskartellamtes Im Kartell-Bußgeldverfahren gilt – ebenso wie im Kartell-Verwaltungsverfahren614 und im Strafverfahren – der Aufklärungsgrundsatz, der auch als Prinzip der materiellen Wahrheit, als Ermittlungsgrundsatz oder als Untersuchungsmaxime bezeichnet wird.615 Die Pflicht zur Erforschung der materiellen Wahrheit trifft die Gerichte gemäß §§ 155 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO und die Staatsanwaltschaft gemäß § 160 Abs. 1 StPO im Strafprozess gleichermaßen.616 Über die Verweisungsvorschrift des § 46 Abs. 2 OWiG werden die Pflichten der Staatsanwaltschaft auch dem Bundeskartellamt zu Teil. Es hat daher gemäß § 46 Abs. 2 OWiG i.V. m. § 160 Abs. 1, 2 StPO von Amts wegen den Sachverhalt zu erforschen und dabei sowohl belastende als auch entlastende Umstände zu ermitteln, soweit sie für die Untersuchung der Tat bedeutsam sind.617 aa) Bedeutung des Aufklärungsgrundsatzes Seiner Zielsetzung nach will der Aufklärungsgrundsatz zunächst zugunsten des Betroffenen sicherstellen, dass die Entscheidung des Bundeskartellamtes auf 613

Vgl. Teil 4 § 2 D. III. 1. (S. 542 ff.). Der Aufklärungsgrundsatz im Kartell-Verwaltungsverfahren ergibt sich aus – dem die allgemeine Vorschrift des § 24 VwVfG ersetzenden – § 57 Abs. 1 GWB. Vgl. Begr. BRegE GWB, BT-Drs. II/1158, S. 50; KG Berlin, Beschl. v. 7.2.1989, Az. Kart 13/88, WuW/E OLG 4341; Bracher, in: FK/Kartellrecht, § 57 Rn. 5; Schmidt/Bach, in: IM/ GWB, § 57 Rn. 1; Becker, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 57 Rn. 1; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 57 Rn. 1; Klose, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 53 Rn. 105. 615 Vgl. Pfeiffer/Hannich, in: KK/StPO, Einleitung Rn. 7; Klesczewski, OWiR, Rn. 686; Bechtold, GWB, 6. Aufl., Vor § 81 Rn. 5. 616 BVerfG, Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NJW 1987, 2662 (2663); zur Aufklärungspflicht der Gerichte im Bußgeldverfahren gemäß § 77 Abs. 1 OWiG auch: OLG Bamberg, Beschl. v. 26.1.2011, Az. 3 Ss OWi 2/11, Rn. 10 (juris); OLG Köln, Beschl. v. 8.8.2000, Az. Ss 306/00, NZV 2001, 391, Rn. 11 (juris). 617 Seitz, in: Göhler, OWiG, Vor § 59 Rn. 53a; Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 5; unklar, aber wohl a. A. Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (596); auf den im Verwaltungsrecht geltenden Aufklärungsgrundsatz abstellend: Klesczewski, OWiR, Rn. 686. 614

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

einer umfassenden Ausschöpfung der ihr zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen und aller erreichbaren Erkenntnismittel basiert.618 Die Ahndung einer Ordnungswidrigkeit soll auf einer fundierten, materiellen Entscheidungsgrundlage beruhen und auf diese Weise dem indisponiblen Schuldprinzip widersprechende Fehlentscheidungen vermeiden.619 Wenngleich sich der Gesetzgeber zur stärkeren Betonung des an die Ordnungswidrigkeit nicht geknüpften, sozialethischen Unwerturteils gegen die Definition der Ordnungswidrigkeit als „schuldhafte, rechtwidrige Tat“ entschlossen und sie in § 1 Abs. 1 OWiG stattdessen als „vorwerfbare, rechtswidrige Handlung“ qualifiziert hat,620 ist es ganz allgemeine Meinung, dass in der Sache – entsprechend der strafrechtlichen Schuld – die Verantwortlichkeit des Handelnden für das von ihm begangene Unrecht gemeint ist.621 Damit gilt im Ordnungswidrigkeitenrecht, wie im Strafrecht, das normative Schuldprinzip,622 dem die Aufklärungspflicht der Verfolgungsbehörde zu dienen bestimmt ist.623 Daneben soll die Wahrheitserforschungspflicht die Funktionsfähigkeit staatlicher Verfolgungsapparate zum Zwecke des – im unabweisbaren Interesse der Allgemeinheit und Einzelner stehenden – effektiven Rechtsgüterschutzes gewährleisten.624 Denn wie bereits deutlich wurde,625 lässt 618 BVerfG, Beschl. v. 7.9.1994, Az. 2 BvR 2093/93, NJW 1995, 2024 (2025), Rn. 16 (juris); BGH, Beschl. v. 17.10.1983, Az. GSSt 1/83, BGHSt 32, 115 (122), Rn. 18 (juris). 619 Thieß, OWiR, Rn. 475. Zum Untersuchungsgrundsatz im Strafverfahren: BVerfG, Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, NJW 1981, 1719 (1722), Rn. 66 (juris); Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NStZ 1987, 419; Beschl. v. 20.5.2010, Az. 2 BvR 1413/09, NJW 2010, 2937 (2938), Rn. 10 (juris); Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1060, 1067 f.), Rn. 56, 102, 104; Eisenberg, Beweisrecht, 1. Kap. Rn. 2. 620 Begr. BRegE eines Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (EOWiG), BT-Drs. V/ 1269, S. 46; Begr. BRegE eines Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB), BT-Drs. 7/550, S. 341; Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 30; Förster, in: RRH/ OWiG, Vor § 1 Rn. 45; Rogall, in: KK/OWiG, § 1 Rn. 8. 621 Klesczewski, OWiR, Rn. 320; Mitsch, OWiR, § 10 Rn. 2. 622 Förster, in: RRH/OWiG, Vor § 1 Rn. 45; Rogall, in: KK/OWiG, § 1 Rn. 8. 623 BVerfG, Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, NJW 1981, 1719 (1722), Rn. 66 (juris); Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NStZ 1987, 419; Beschl. v. 20.5.2010, Az. 2 BvR 1413/09, NJW 2010, 2937 (2938), Rn. 10 (juris); Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1060), Rn. 56. 624 BVerfG, Beschl. v. 13.10.1970, Az. 1 BvR 226/70, NJW 1970, 2205 (2206 f.); Beschl. v. 8.3.1972, Az. 2 BvR 28/71, NJW 1972, 1123 (1124); Beschl. v. 19.7.1972, Az. 2 BvL 7/71, NJW 1972, 2214 (2216); Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81, NJW 1981, 1719 (1722); Beschl. v. 22.8.2000, Az. 1 BvR 77/96, NJW 2001, 507 f.; BVerfG, Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, NJW 1981, 1719 (1722), Rn. 66 (juris); Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NStZ 1987, 419; Beschl. v. 20.5.2010, Az. 2 BvR 1413/09, NJW 2010, 2937 (2938), Rn. 10 (juris); Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1060), Rn. 57. 625 Vgl. bereits Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.).

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sich effektiver Rechtsgüterschutz nur realisieren, wenn die gesetzlichen Ge- und Verbote innerhalb der Bevölkerung auf allgemeine Anerkennung stoßen, weil diejenigen, die Schutzgesetze übertreten, im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten, also schuldangemessenen „Bestrafung“ zugeführt werden626 bzw. jederzeit damit rechnen müssen, dass die Verfolgungsbehörden den staatlichen Sanktionsanspruch durchsetzen werden. Bleibt die notwendige Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten mangels hinreichender Ermittlung der wahren Umstände aus, nimmt das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung und mit diesem die Effektivität des Rechtsgüterschutzes ab. bb) Durch Settlements begründete, mögliche Verletzungen des Aufklärungsgrundsatzes Die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes erlaubt, dass Tatbeiträge, die im Zusammenhang mit einem Kartell stehen, nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst aus der Verfolgung und späteren Ahndung ausgeklammert werden, nämlich dann, wenn das Bundeskartellamt zu einer Einigung mit den Betroffenen gelangt, obwohl es noch nicht alle Beweismittel vollständig gesichtet hat.627 Zwei Fälle aus der jüngsten Fallpraxis des Bundeskartellamtes offenbaren, dass dies nicht nur theoretisch möglich ist, sondern vom Bundeskartellamt wohl auch tatsächlich so gehandhabt wurde. Obgleich die Pressemitteilungen des Bundeskartellamtes die Settlement-Verfahren nicht näher erläutern, wurden Vergleichsgespräche nach der Darstellung von Vollmer, einem langjährigen Beamten des Bundeskartellamtes, in den Fällen Dekorpapier628 und Werbezeitenvermarkter629 bereits kurz nach den Durchsuchungen aufgenommen.630 Aufgrund der Kooperation jeweils aller Beteiligten konnten die Bußgeldverfahren in beiden Fällen schon nach wenigen Monaten mit einem Bußgelderlass abgeschlossen werden. Im Fall Werbezeitenvermarkter einigten sich die Verfahrensbeteiligten etwa drei Monate nach den Durchsuchungen, woraufhin das Bundeskartellamt weitere zwei Monate später die Bußgelder verhing.631 Im Fall Dekorpapier kam eine Einigung noch weit früher zustande, sodass das Bundeskartellamt nach weniger als drei Monaten die Bußgeldbescheide erließ.632 Vergleicht man die Dauer der Verfahren mit anderen 626 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1060), Rn. 57 m.w. N. 627 Vgl. Teil 2 § 4 E. I. (S. 188 ff.). 628 Vgl. PM v. 5.2.2008. 629 Vgl. PM v. 30.11.2007. 630 Vgl. Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (353). 631 Die Durchsuchungen fanden am 19.6.2007 statt. Eine Einigung konnte Anfang Oktober 2007 erzielt werden. Die Bußgeldbescheide ergingen am 30.11.2007. Vgl. PM v. 30.11.2007. 632 Die Durchsuchungen fanden am 6.11.2007 statt. Ende Januar erließ das BKartA bereits die Bußgeldbescheide gegen drei Hersteller und fünf Verantwortliche. Vgl. PM v. 5.2.2008.

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(nicht hybriden) Settlement-Verfahren, so fällt auf, dass diese erheblich kürzer ausgestaltet waren.633 Sicherlich unterscheidet sich jeder Fall aufgrund einer Vielzahl von Kriterien, wie der Anzahl der Beteiligten, der Art, Dauer und Umsetzung der Zuwiderhandlung sowie der Masse und Durchschaubarkeit der ermittelten Beweismittel. Daher kann ein Vergleich der jeweils individuellen Verfahrensdauer allein kein stichhaltiger Beweis für eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung sein. Angesichts der Tatsache, dass das Bundeskartellamt in den vorstehenden Fällen nach eigenen Angaben jedoch „umfangreiches“ Beweismaterial sichergestellt hatte und – soweit ersichtlich – nicht einmal Bonusanträge vorlagen,634 erscheint eine Verfahrensdauer von gerade einmal einem viertel Jahr schon bemerkenswert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich die zuständigen Kartellbeamten in Vorbereitung der unmittelbar im Anschluss an die Durchsuchungen stattgefundenen Settlement-Gespräche überhaupt ein genaues Bild über den jeweiligen Sachverhalt gemacht haben konnten. Dies ist zwar nicht ausgeschlossen, erscheint jedoch in Anbetracht der beschriebenen Umstände eher unwahrscheinlich. Jedenfalls besteht in beiden Fällen zumindest die Möglichkeit, dass das Bundeskartellamt nicht alle (wichtigen) Umstände trotz der ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel ermittelt hat. Fraglich ist, wie dieses Vorgehen mit dem Aufklärungsgrundsatz zu vereinbaren wäre. Während sich in der Literatur zum Ordnungswidrigkeitenrecht kaum Stellungnahmen zum durch Vergleichsverfahren tangierten Aufklärungsgrundsatz finden,635 hat sich die strafprozessuale Rechtswissenschaft gerade mit diesem Problem jahrzehntelang auseinandergesetzt. An dieser Stelle kann und soll nicht die gesamte strafprozessuale Diskussion wiedergegeben werden. Allerdings ist ein Blick in das Strafprozessrecht zum einen notwendig, soweit es sich um den – auch sinngemäß für das Bundeskartellamt geltenden – Umfang der Ermittlungs-

633 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08 (fünfeinhalb Monate, allerdings kooperierten alle Betroffenen auch aktiv durch Inanspruchnahme der Bonusregelung, vgl. S. 3 des Fallberichts); PM v. 23.11.2011 Calonit/Somat (min. 1 Jahr trotz Beteiligung von nur zwei Herstellern, wobei Henkel wegen eines Bonusantrags kein Settlement schloss); PM v. 27.7.2011 Feuerwehrdrehleitern (mehr als 1 Jahr trotz Bonusantrag); PM v. 17.3.2011 Konsumgüterhersteller (mehr als 2 Jahre trotz Bonusantrag); vgl. auch den Fall Bunker (Schweröle): Im Januar 2007 wurden zwei Unternehmen durchsucht (TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500. S. 74). Ein Unternehmen und seine Verantwortlichen wurden 2008 nach Abschluss eines Settlements bebußt. Gegen das zweite Unternehmen und seine Verantwortlichen ergingen erst am 7.11.2011 die Bußgeldbescheide nach Abschluss eines Settlements. Siehe insoweit die PM v. 8.11.2011. Die Verfahrensdauer betrug damit mehr als viereinhalb Jahre. 634 Vgl. die Pressemeldungen in Fn. 628 und 629. 635 Soweit ersichtlich sind hier nur die (kurzen) Beiträge von Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 169 f., Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (596) und Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 27 zu nennen.

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pflicht der Staatsanwaltschaft handelt. Zum anderen erscheint dies auch lohnenswert, da das Bundeskartellamt trotz geltendem Opportunitätsprinzip bei schwerwiegenden Hardcore-Kartellen in der Regel zu Ermittlungen verpflichtet ist. Damit besteht eine vergleichbare Situation wie im Strafprozess, in welchem die Staatsanwaltschaft aufgrund des Legalitätsprinzips generell zur Verfolgung von Straftaten verpflichtet ist. cc) Standpunkt der Literatur Einem Vergleich der im Straf- und Bußgeldverfahren geltenden Prinzipien liegt auch eine Auffassung in der Literatur zugrunde, wonach der Aufklärungsgrundsatz grundsätzlich nicht durch die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes tangiert ist. Der Aufklärungsgrundsatz verlange nur, dass Gericht, Staatsanwaltschaft und Bundeskartellamt den Sachverhalt, sofern dies geboten ist, selbst ermitteln, ohne dabei an Anträge gebunden zu sein. Im Strafverfahren sei die Untersuchung gemäß § 152 Abs. 2 StPO stets geboten, wenn zureichende Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen. Demgegenüber sei eine Untersuchung im Bußgeldverfahren nicht geboten, da das Bundeskartellamt wegen des im Bußgeldverfahren geltenden Opportunitätsprinzips nicht zur Verfolgung jedes Kartells verpflichtet, sondern ihm diese vielmehr ins pflichtgemäße Ermessen gestellt sei.636 dd) Kritik/Stellungnahme Im Grundsatz überzeugt der Ansatz, nach dem der Aufklärungsgrundsatz untrennbar mit dem Legalitätsprinzip im Strafverfahren bzw. mit dem Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren verbunden ist, indem er letztere konkretisiert.637 Die Staatsanwaltschaft kann ihrer Aufgabe, jede ihr zur Kenntnis gelangende Straftat zu verfolgen, nämlich nur gerecht werden, wenn sie die vollständige, das heißt sachliche „Wahrheit“ ermittelt. Umgekehrt macht es sicherlich keinen Sinn, der Verfolgungsbehörde im Bußgeldverfahren eine umfassende Aufklärungspflicht aufzuerlegen, wenn sie jederzeit auf die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit aus Opportunitätsgründen verzichten kann. Allerdings greift die Argumentation der im Ansatz zutreffenden Auffassung möglicherweise zu kurz, da sie nicht hinreichend zwischen den vom Ordnungswidrigkeitenrecht umfassten, unterschiedlichen Unrechtstypen differenziert.

636 Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 27; ihnen folgend Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (596); in diese Richtung, wenngleich allgemeiner auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 251; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352 f.); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (17). 637 Für das Strafrecht auch Griesbaum, in: KK/StPO, § 160 Rn. 3.

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(1) Im Hinblick auf die Aufklärungspflicht der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren Dies gilt zunächst für das Strafverfahren. Wie die Vorschriften der §§ 153 ff. StPO offenbaren, muss die Staatsanwaltschaft – trotz bestehenden Anfangsverdachts und gegebener Verfahrensvoraussetzungen – nicht jede Straftat (weiter)verfolgen. So kann sie etwa Strafverfahren wegen eines Vergehens gemäß § 153 Abs. 1 StPO wegen geringer Schuld und mangels öffentlichen Interesses einstellen und Geschädigte auf den Privatklageweg verweisen638. Dann ist – trotz des im Strafprozessrecht geltenden Legalitätsprinzips – keine weitere Aufklärung geboten und erforderlich.639 Dies gilt jedenfalls, soweit die festgestellte Rechtsgutsverletzung nicht als schwerwiegendes Unrecht zu qualifizieren ist, und aus diesem Grund kein öffentliches Interesse an einer Bestrafung640 besteht. Besteht hingegen ein öffentliches Interesse an Bestrafung, kann die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nicht gemäß § 153 Abs. 1 StPO einstellen, auch wenn die Schuld des Beschuldigten nicht gravierend ist.641 Gemäß § 153a Abs. 1 StPO „kann“ 642 sie jedoch von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen und den Beschuldigten stattdessen zur Erbringung einer Geldleistung oder einer gemeinnützigen Leistung verpflichten, wenn dieser und das zuständige Gericht zustimmen. Der Täter kann sich auf diese Weise quasi freiwillig einem Strafverfahren und einer Bestrafung mit all ihren Konsequenzen, insbesondere dem damit verbundenen sozialethischen Unwerturteil und etwa einer Eintragung in das Bundeszentralregister entziehen.643 Eine derartige Verständigung zwischen den Verfahrensbeteiligten setzt jedoch voraus, dass die Auflagen oder Weisungen der Staatsanwaltschaft „geeignet sind, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen“, was wohl nur in den wenigen Fällen in Betracht kommt, in denen 638

RiStBV Nr. 86. Griesbaum, in: KK/StPO, § 160 Rn. 17. 640 Zwar spricht § 153 Abs. 1 StPO von dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung. Richtigerweise ist die Strafverfolgung jedoch kein die Verfahrensfortführung rechtfertigender Selbstzweck. Daher ist allein das öffentliche Interesse an Bestrafung anzuerkennen. So zu Recht Rieß, NStZ 1981, S. 2 ff. (8); Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153 Rn. 28. 641 Zur Unbestimmtheit des Schuldbegriffs im Rahmen des § 153a StPO („keine schwere Schuld“) und den Deutungsversuchen der Literatur: Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 32. Gänzlich ablehnend Weßlau, in: SK-StPO III, § 153a Rn. 27 („Schuldschwere-Floskel“). 642 Zum eingeschränkten Ermessen der Staatsanwaltschaft vgl. bereits Teil 1 § 2 A. II. 2. b) (S. 63 ff.). 643 Die Weisungen und Auflagen der Staatsanwaltschaft werden zu Recht überwiegend als Sanktion nicht-strafrechtlicher Art angesehen. Vgl. u. a. BGH, Urt. v. 11.7. 1978, Az. 1 StR 232/78, BGHSt 28, 69 (70), Rn. 10 (juris); BGHSt 28, 174 (176), Rn. 9 (juris); Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rn. 12, 60; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 8 f.; Beulke/Fahl, NStZ 2001, S. 426 ff. (428); Weigend, ZStW 109 (1997), S. 103 ff. (106); Weßlau, in: SK-StPO III, § 153a Rn. 2; Schoreit, in: KK/ StPO, § 153a Rn. 1, überwiegend m.w. N. 639

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die Öffentlichkeit oder einzelne Mitglieder der Rechtsgemeinschaft persönlich nicht stark betroffen waren.644 Um einerseits dem Beschuldigten die Übernahme bestimmter Pflichten zumuten und andererseits die Geeignetheit der Maßnahme zur Beseitigung des öffentlichen Interesses an der Bestrafung beurteilen zu können, muss die Staatsanwaltschaft naturgemäß einen gewissen Grad an Kenntnis von der dem Beschuldigten vorgeworfenen Straftat haben. Die herrschende Meinung verlangt aus diesem Grund, dass die Staatsanwaltschaft ihrer nach § 152 Abs. 2 StPO i.V. m. § 160 Abs. 1 StPO auferlegten Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts auch im Rahmen der „Opportunitätsvorschrift“ des § 153a StPO vollumfänglich nachkommt.645 Mit anderen Worten kann die Staatsanwaltschaft nur beurteilen, ob sie zu einer „verfahrensbeendenden“ Absprache berechtigt ist, wenn sie den zugrunde liegenden Sachverhalt – soweit als möglich und zumutbar – ermittelt hat und davon überzeugt ist, dass sich der Beschuldigte objektiv und subjektiv strafbar gemacht hat,646 sodass er bei Weiterführung des Verfahrens nach der Einschätzung der Staatsanwaltschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit verurteilt würde.647 Bereits die nähere Beleuchtung der §§ 153 Abs. 1, 153a Abs. 1 StPO zeigt deutlich, dass selbst im Strafprozessrecht für Pauschalisierungen bezüglich des Aufklärungsgrundsatzes kein Platz ist. Zwar ist die Staatsanwaltschaft unter Geltung des Legalitätsprinzips zur Erforschung des Sachverhalts, 644 Schoreit, in: KK/StPO, § 153a Rn. 13. Daher rührt auch die z. T. heftige Kritik an der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Dr. Helmut Kohl, insbesondere an dem Zustimmungsbeschluss des LG Bonn v. 28.2.2001, Az. 27 AR 2/01, NJW 2001, 1736 ff. Vgl. Hamm, NJW 2001, S. 1694 ff. und zurückhaltender, aber immer noch deutlich Beulke/Fahl, NStZ 2001, S. 426 ff. Ferner zur Kritik an der Regelung des § 153a StPO vor diesem Hintergrund, aber auch aus verfassungsrechtlichen und dogmatischen Gründen im Ganzen Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 12 ff. 645 Eckl, JR 1975, S. 99 ff. (101); Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 39; Beulke/Fahl, NStZ 2001, S. 426 ff. (428); Griesbaum, in: KK/StPO, § 160 Rn. 17; Erb, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 160 Rn. 33; Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rn. 7, 46; Schoreit, in: KK/StPO, § 153a Rn. 10; Pfeiffer, StPO, § 153a Rn. 2; Walther, in: AnwK/StPO, § 153a Rn. 4; vgl. auch LG Landshut, AnwBl 1981, 205 (206). 646 Die gegenteilige Auffassung des LG Bonn, Beschl. v. 28.2.2001, Az. 27 AR 2/01, NJW 2001, 1736 (1738) („als weiterer alternativer oder zusätzlicher Einstellungsgrund gilt in der Rechtspraxis auch die Ungewissheit über das Ergebnis“) ist schon deshalb abzulehnen, weil andernfalls der Beschuldigte wegen eines bloß möglicherweise strafbaren Verhaltens „bestraft“ würde, was dem Schuldprinzip jedoch evident widerspricht. 647 Der für die Anwendung des § 153a StPO erforderliche Grad des Tatverdachts ist zwar umstritten. Einigkeit besteht jedoch insoweit, dass zumindest ein hinreichender Tatverdacht für das Vorliegen eines Vergehens vorliegen muss. Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 6.12.1995, Az. 2 BvR 1732/95, NStZ-RR 1996, 168 (169), Rn. 11 (juris) und die in Fn. 645 genannten Beiträge. Z. T. wird „darüber hinaus“ eine Schuldfeststellung oder die Überzeugung des Staatsanwalts von der Schuld gefordert. Diese Auffassung geht jedoch in dieselbe Richtung, da sie letztlich nur verlangt, dass bei Zweifeln an der Schuld des Beschuldigten § 153a StPO keine Anwendung finden kann. So Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 40. § 153a StPO verlangt lediglich eine Schuldwahrscheinlichkeit, nicht jedoch eine Schuldfeststellung. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.1. 1991, Az. 1 BvR 1326/90, NJW 1991, 1530 (1531 f.), Rn. 19 ff. (juris).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

also insbesondere bei vorgeworfenen Verbrechensdelikten, uneingeschränkt verpflichtet. Die StPO räumt der Staatsanwaltschaft jedoch bei Vergehen ein beschränktes „Verfolgungsermessen“ ein, was sie teilweise dazu ermächtigt, auf die Ermittlung der sachlichen Wahrheit zu verzichten (§ 153 Abs. 1 StPO), teilweise aber weiterhin der uneingeschränkten Aufklärungspflicht unterwirft (§ 153a Abs. 1 StPO). (2) Im Hinblick auf die Aufklärungspflicht der Verfolgungsbehörde im Bußgeldverfahren Im Bußgeldverfahren ist der vorstehenden Literaturmeinung zuzustimmen, soweit es der Verfolgung eines Bagatelldelikts dienen würde, die letztlich wegen des jedenfalls geringen öffentlichen Interesses nicht unbedingt geboten ist. Dementsprechend muss die Behörde den der Rechtsgutsverletzung zugrunde liegenden Sachverhalt auch nicht ermitteln, wenn sie sich nach pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens gegen eine Verfolgung entscheidet. (a) Verfolgungspflicht bei Hardcore-Kartellen Dieser Gedanke lässt sich jedoch nicht eins zu eins auf Kartellordnungswidrigkeiten übertragen. In den vorangegangenen Kapiteln wurde festgestellt, dass sich für die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot, die als besonders schwerwiegende Ordnungswidrigkeiten eingestuft wurden, Besonderheiten gegenüber der Verfolgung von typischen Bagatelldelikten ergeben.648 Wendet man den Ansatz der Literatur, nach dem die Aufklärung von Ordnungswidrigkeiten nur insoweit geboten ist, wie die zuständige Verfolgungsbehörde zu ihrer Verfolgung verpflichtet ist, auf die in dieser Untersuchung bislang gefundenen Ergebnisse konsequent an, kommt man regelmäßig zu einem anderen Ergebnis, als die Literatur: Da das Bundeskartellamt regelmäßig zur Verfolgung von HardcoreKartellen verpflichtet ist,649 ist auch die Aufklärung der materiellen Wahrheit in den Grenzen der Zumutbarkeit geboten. Dem steht nicht entgegen, dass Settlements mit der regelmäßigen Pflicht zur Verfolgung von Hardcore-Kartellen vereinbar sind, da ein (angemessener) partieller Verfolgungs- und Ahndungsverzicht aufgrund des erstrebten verbesserten Wettbewerbsschutzes und der Verfahrensbeschleunigung sachlich gerechtfertigt ist.650 Settlements können nämlich nur dann ein Absehen von der Verfolgung eines oder mehrerer Tatbeiträge und eine Reduktion der eigentlich „tat- und schuldangemessenen“ Geldbuße rechtfertigen, wenn sie den mit der Ahndung 648 649 650

Umfassend Teil 2 § 3 B. III. (S. 122 ff.) sowie Teil 2 § 4 E. IV. 2. (S. 197 ff.). Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.). Vgl. Teil 2 § 4 E. IV. 2. (S. 197 ff.).

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von Kartellen verfolgten Zwecken de facto nicht entgegenstehen.651 Ermittelt das Bundeskartellamt einen vermuteten Kartellverstoß nicht aus, kann es den Wert eines Geständnisses nicht sachgerecht beurteilen und gewichten, da es womöglich relevante Tatbeiträge oder gar in Zusammenhang stehende andere Wettbewerbsverstöße übersieht und mithin unvollständige Feststellungen über die Dauer und Schwere der Zuwiderhandlung(en) trifft. Dann ist es nicht in der Lage, eine angemessene Geldbuße, die sowohl die Bedeutung des Kartellverstoßes als auch dessen Vorwerfbarkeit und den Wert des „Geständnisses“ ausreichend berücksichtigt, zu ermitteln. Dies kann wiederum das unantastbare Schuldprinzip und den mit der Geldbuße letzten Endes bezweckten Wettbewerbsschutz konterkarieren, nämlich dann, wenn die nach der Beweislage (schuld)angemessene Sanktion und der damit verbundene Pflichtenappell in seiner erforderlichen Nachdrücklichkeit ausbleiben und die Betroffenen den nachhaltigen Eindruck gewinnen, dem Bundeskartellamt „ein Schnippchen geschlagen zu haben“. (b) Rechtsgedanke des § 153a Abs. 1 StPO Bestätigt wird diese Bilanz auch vor dem Hintergrund des § 153a StPO. Wenngleich festgestellt wurde, dass sich eine analoge Anwendung dieser Vorschrift im Bußgeldverfahren, insbesondere aufgrund des spezielleren § 47 Abs. 3 OWiG, verbietet,652 ist es nicht ausgeschlossen dessen Rechtsgedanken für das Bußgeldverfahren fruchtbar zu machen, soweit ein Austausch von Leistungen im Rahmen des § 47 Abs. 1, Abs. 3 OWiG zulässig ist.653 Dies bietet sich deshalb an, weil die Staatsanwaltschaft gemäß § 153a Abs. 1 StPO über ihre Funktion als Anklagebehörde hinaus ein Ermittlungsverfahren mit sanktionierenden Auflagen abschließen kann, und Beschuldigten damit auf vergleichbare Weise, wie das Bundeskartellamt Betroffenen, gegenübertritt. Dabei ist die Staatsanwaltschaft auch im Rahmen der „Opportunitätsvorschrift“ des § 153a StPO zur Aufklärung der vermutenden Straftat verpflichtet, damit sie sachgerecht beurteilen kann, inwieweit Auflagen das öffentliche Interesse an einer Bestrafung beseitigen. Nichts anderes kann letztlich für das Bundeskartellamt gelten, wenn es über einen vorzeitigen Verfahrensabschluss mit den Betroffenen verhandelt. Die Ausgangslage ist bei „verfahrensbeendenden“ Verständigungen im Ermittlungs- und behördlichen Bußgeldverfahren vergleichbar. In beiden Fällen besteht ein öffentliches Interesse an der Verfolgung und Ahndung des vermutlich begangenen Unrechts. Zwar ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen geringfügiger Vergehen, während das Bundeskartellamt Kartellordnungswidrigkeiten verfolgt. Die gesetzgeberi651 Zu den Kriterien einer ordnungsgemäßen Bußgeldbemessung: Teil 3 § 2 B. (S. 372 ff.). Zu den Sanktionszwecken der Geldbuße: Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 652 Teil 2 § 4 C. I. (S. 173); vgl. auch zur Ablehnung der analogen Übertragung der §§ 153 ff. StPO insgesamt Teil 2 § 4 A. (S. 157). 653 Siehe insoweit die Ausführungen in Teil 2 § 4 E. IV. 2. b) aa) (S. 200 f.).

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sche Einordnung der Kartelle als Ordnungswidrigkeiten kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine überpositive qualitative Unrechtsnähe zwischen Hardcore-Kartellen und Straftaten besteht,654 welche das Bußgeldverfahren letztlich nicht nur hinsichtlich seiner Voraussetzungen655 an das Strafverfahren annähert. Wie die Staatsanwaltschaft verfolgt das Bundeskartellamt mit Settlements das Ziel, eine schnellere Abwicklung des Bußgeldverfahrens und einen verbesserten Rechtsgüterschutz zu erreichen.656 Beide Behörden sanktionieren das (wahrscheinlich) begangene Unrecht, ohne gleichzeitig ein sozialethisches Unwerturteil, wie es der Strafe immanent ist, auszusprechen. Den Sanktionen fehlt also die „Ernsthaftigkeit“ der Strafe im Sinne des materiellen Strafrechts. Insbesondere sind Betroffene und Beschuldigte am Ende beider Verfahren nicht vorbestraft. Abgesehen von der abweichenden Rechtsnatur der Verfahren bestehen damit lediglich zwei relevante Unterschiede: Während die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Ermittlungsverfahrens an die Erfüllung der erteilten Auflagen knüpft und damit die Schuldfrage – mangels Geständnis657 – letztlich offen lässt,658 schließt das Bundeskartellamt das Bußgeldverfahren mit einem die Vorwerfbarkeit des Kartellverstoßes feststellenden Bußgeldbescheid ab, wobei die Geldbuße sowohl repressiven als auch (und insoweit vorrangig) präventiven Zwecken dient.659 Dementsprechend weisen Geldbußen, wie sie in jüngster Zeit seitens des Bundeskartellamtes verhängt werden, für Betroffene einen stärker einschneidenden und damit schwerwiegenderen Eingriffscharakter auf, als die vornehmlich zur Bekämpfung der Kleinkriminalität erteilten Auflagen der Staatsan654

Vgl. bereits Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). Zum Erfordernis des Anfangsverdachts und dem Verbot der Mehrfachahndung vgl. bereits Teil 2 § 1 (S. 75 ff.). 656 Zur Entkriminalisierungsfunktion (Kleinkriminalität) des § 153a StPO und dessen Zweck, das Strafverfahren zu beschleunigen: BT-Drs. 7/550, S. 298; BT-Drs. 7/551, S. 43; BT-Drs. 7/1261, S. 26 ff.; Pfeiffer, StPO, § 153a Rn. 1; Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 3, wobei dieser die Entkriminalisierungsfunktion für nachrangig hält; zum Zweck der Verfahrensbeschleunigung ferner Meyer-Goßner, StPO, § 153a Rn. 2; Walther, in: AnwK/StPO, § 153a Rn. 1; krit. zur Entkriminalisierungsfunktion Naucke, in: Samson/Dencker/Frisch u. a., Festschrift für Gerald Grünwald, S. 403 ff. (409 ff.). 657 Die Zustimmung zu den Auflagen und ihre Erfüllung sind nicht als Schuldeingeständnis zu werten. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.1.1991, Az. 1 BvR 1326/90, NJW 1991, 1530 f., Rn. 18 ff. (juris); Beschl. v. 6.12.1995, Az. 2 BvR 1732/95, NStZ-RR 1996, 168 (169), Rn. 11 (juris); OVG Sachsen-Anhalt, Urteil v. 22.6.2006, Az. 1 L 118/05, Rn. 28 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.3.2008, Az. III-5 Ss 42/07-41/07 IV, StV 2008, 12 (13), Rn. 5 (juris); BFH, Beschl. v. 17.8.2011, Az. VI R 75/10, wistra 2012, 37 (38), Rn. 11 (juris). 658 Zur Vereinbarkeit mit der Unschuldsvermutung: BVerfG, Beschl. v. 16.1.1991, Az. 1 BvR 1326/90, NJW 1991, 1530 f., Rn. 18 ff. (juris); BGH, Urt. v. 13.11.1978, Az. AnwSt (R) 13/78, BGHSt 28, 174 (176); OLG Frankfurt, Beschl. v. 12.7.1996, Az. 1 Ws 82/96, NJW 1996, 3353 (3354); ferner Weßlau, in: SK-StPO III, § 153a Rn. 11 ff. und Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 14, jeweils m.w. N. 659 Siehe insoweit bereits Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 655

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 227

waltschaft.660 Die Unterschiede vermögen die hier vertretene Auffassung der uneingeschränkt geltenden Aufklärungspflicht jedoch nicht zu erschüttern, sondern vielmehr zu bestätigen. Denn wenn die Staatsanwaltschaft den vermuteten Sachverhalt schon für eine vereinbarte Verfahrensbeendigung ohne Schuldfeststellung aufklären muss, um einen hinreichenden Tatverdacht zu gewinnen und eine angemessene, das öffentliche Interesse an der Bestrafung beseitigende Auflage zu ermitteln, kann erst recht nichts anderes für das Bundeskartellamt gelten, das ein Bußgeldverfahren vorzeitig mit der Feststellung der Vorwerfbarkeit der Zuwiderhandlung infolge eines Settlements abschließt, und für Betroffene darüber hinaus noch einschneidendere Sanktionen verhängt, um das öffentliche Interesse an der Ahndung zu kompensieren („argumentum a maiore ad minus“). (c) Rechtsgedanke des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO Indem das Bundeskartellamt neben der Verfolgung zumindest vorläufig für die Ahndung von Kartellverstößen zuständig ist, übernimmt es eine dem Strafrichter vergleichbare Funktion. Daher erscheint es sachgerecht, die Wertung des § 257c StPO zu berücksichtigen, der die rechtsstaatlichen Anforderungen, die an Verständigungen im Strafverfahren zu stellen sind, kodifiziert. Dies entspricht auch der zutreffenden Auffassung des Gesetzgebers, wonach es der in Art. 6 EMRK verbürgte Grundsatz des fairen Verfahrens verlangt, dass das Bundeskartellamt die in § 257c StPO geregelten „zentralen“ rechtsstaatlichen Anforderungen bei Verständigungen im Bußgeldverfahren beachtet.661 § 257c Abs. 1 S. 2 StPO stellt klar, dass die das Strafgericht im Hauptverfahren treffende Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO auch im Falle von Verständigungen uneingeschränkt gilt. Es ist wohl kaum zu bestreiten, dass der im Hauptverfahren geltende Untersuchungsgrundsatz, schon aufgrund seiner elementaren Bedeutung für die Durchsetzung des Schuldprinzips,662 eine solche zentrale rechtsstaatliche Anforderung darstellt. Entscheidend ist daher, wie die Aufklärungspflicht im Rahmen von Verständigungen im Strafprozess tatsächlich umgesetzt wird, um Rückschlüsse auf das Bußgeldverfahren ziehen zu können. Bereits vor der Kodifikation des § 257c StPO hat das BVerfG, indem es die Pflicht zur Wahrheitsfindung im Hinblick auf das Schuldprinzip wiederholt als 660 Beulke weist daraufhin, dass etwa 98 % aller von den Staatsanwaltschaften erteilten Auflagen Geldzahlungen beinhalten, die regelmäßig geringer Höhe sind. Vgl. Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 153a Rn. 29 f. 661 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16. Dies erkennt nunmehr auch ausdrücklich das BKartA an, vgl. Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12.2013, S. 1. 662 Dies betonte kürzlich erneut das BVerfG in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des § 257c StPO, vgl. Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1060, 1067 f.), Rn. 56, 102 ff. Ferner: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) aa) (S. 217 ff.).

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zentrales Anliegen des Strafprozesses663 und als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips664 bezeichnete, den Untersuchungsgrundsatz als quasi „unverrückbares Prinzip in Stein gemeißelt“.665 Der BGH sah bislang keinen Widerspruch zwischen der Aufklärungspflicht des Gerichts und der Verständigung der Verfahrensbeteiligten im Hauptverfahren, wenn der Schuldspruch nicht zum Gegenstand der Vereinbarung gemacht wurde666 und sich das Gericht nicht mit einem ersichtlich unzutreffenden Geständnis zufrieden gab, sondern vielmehr dessen Glaubhaftigkeit sorgfältig prüfte.667 Diesem Verständnis hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich angeschlossen.668 Gewichtige Stimmen in der Literatur nehmen hingegen an, dass ein unauflöslicher Widerspruch zwischen dem Untersuchungsgrundsatz und dem Wesen und Zweck einer Verständigung bestehe. Beides stehe sich einander bipolar gegenüber,669 sodass das gesetzgeberische Festhalten am Untersuchungsgrundsatz bei gleichzeitiger Zulassung von Verständigungen eine bloße „Farce“ sei.670 Wenn das Gericht seiner Wahrheitserforschungspflicht nachkomme, müsse es, ungeachtet des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten, alle sich aufdrängenden Beweismittel verwerten; damit verliere eine Verständigung jedoch ihren Sinn als verfahrensbeschleunigendes Instrument und erweise sich als wertlos.671 So glänzt 663 BVerfG, Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81, NJW 1981, 1719 (1722), Rn. 64 (juris); Beschl. v. 12.1.1983, Az. 2 BvR 864/81, NJW 1983, 1043 f., Rn. 50 f. (juris); vgl. auch BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442), Rn. 36 ff. (juris). 664 BVerfG, Beschl. v. 1.10.1987, Az. 2 BvR 1434/86, NJW 1988, 329 (330). 665 So zutreffend plastisch Jahn, ZStW 118 (2006), S. 427 ff. (437 f.). 666 BGH, Urt. v. 28.8.1997, Az. 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195 (204), Rn. 26 (juris); Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1441 f.), Rn. 33 ff. (juris); Beschl. v. 5.12.2008, Az. 2 StR 495/08, NStZ-RR 2009, 147, Rn. 9 (juris). 667 BGH, Urt. v. 28.8.1997, Az. 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195 (204), Rn. 26 (juris); Beschl. v. 15.1.2003, Az. 1 StR 464/02, BGHSt 48, 161 (167), Rn. 18 (juris); Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1441 f.), Rn. 33, 42 (juris); Beschl. v. 1.7.1998, Az. 3 StR 242/98, StV 1999, 407; Urt. v. 10.6.1998, Az. 2 StR 156/98, StV 1999, 410 (411), Rn. 14 f. (juris); Beschl. v. 21.1.2003, Az. 4 StR 472/02, NStZ 2003, 563, Rn. 9 (juris); Beschl. v. 13.6.2007, Az. 3 StR 162/07, NStZ-RR 2007, 307 (309), Rn. 18 (juris); vgl. auch: BVerfG, Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NJW 1987, 2662 (2663). 668 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 8 f. 669 Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 395; Malek, StV 2011, S. 559 ff. (565 ff.); Murmann, ZIS 2009, S. 526 ff. (532); Fischer, in: KK/StPO, § 244 Rn. 31; Fischer, StraFO 2009, S. 177 ff. (181); Wohlers, NJW 2010, S. 2470 ff. (2474); Fezer, NStZ 2010, S. 177 ff. (179); Schünemann, ZRP 2009, S. 104 ff. (106); Heintschel-Heinegg, in: KMR/StPO, § 257c Rn. 24, 72; Hassemer, in: Hassemer/Kempf/Moccia, In dubio pro libertate, S. 207 ff. (221). 670 Leipold, NJW-Spezial 2009, S. 520 f. (521); ähnlich Schünemann, ZRP 2009, S. 104 ff. (106); Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (329) („Leugnung des Faktischen“); Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 3 („nicht mehr als ein Lippenbekenntnis“); Heintschel-Heinegg, in: KMR/StPO, § 257c Rn. 23, 69; schärfer Fezer, NStZ 2010, S. 177 ff. (181) (gesetzgeberische „Lüge“). 671 Wohlers, NJW 2010, S. 2470 ff. (2474).

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das intendierte Verständigungsmodell nach Einschätzung weiter Teile der Strafrechtswissenschaft denn auch nicht gerade mit Praxistauglichkeit.672 In Wirklichkeit würden zumeist höchst unverfängliche Geständnisse abgelegt, die genau oder größtenteils der Aktenlage entsprechen und seitens des Gerichts aus diesem Grund(!) 673 oder gerade nur mit diesem Inhalt als „glaubhaft“ befunden werden. Nachdem kritische Rückfragen des Gerichts entweder ganz unterlassen oder von der Verteidigung nicht gestattet würden, werde damit ein einseitig unter der Verdachtshypothese der Staatsanwaltschaft ermittelter Sachverhalt zur „materiellen Wahrheit“.674 De facto transformiere die Praxis den Tatverdacht in einen Beweisbefund.675 Angesichts dessen hätte der Gesetzgeber besser daran getan, Verständigungen entweder gänzlich aus dem Strafprozess zu verdrängen, oder aber sich offen zu einer zumindest partiellen Verfügbarkeit des Anklagevorwurfs zu bekennen.676 Einzelne Stimmen in der Literatur treten dieser Kritik entgegen. Zum Teil wird die Vereinbarkeit von Amtsermittlungsgrundsatz und Verständigungen aus dem Wortlaut des § 244 Abs. 2 StPO geschlossen, wonach das Gericht nur jene Beweismittel berücksichtigen muss, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Wenn sich alle Verfahrensbeteiligten über einen Umstand oder mehrere Umstände der vorgeworfenen Tat einig sind, sei eine weitere Beweisaufnahme nicht für eine Bestrafung von Bedeutung und damit nicht geboten.677 Andere interpretieren das Prinzip der materiellen Wahrheit als ein für den Angeklagten verzichtbares Recht.678 Der hier nur äußerst verkürzt dargestellte Streit in der Literatur offenbart, dass der nach dem Willen des Gesetzgebers von Verständigungen unangetastete Aufklärungsgrundsatz gemäß § 244 Abs. 2 StPO in der gerichtlichen Praxis und 672 Zur Verfahrenswirklichkeit statt vieler Fezer, NStZ 2010, S. 177 ff. (179) m.w. N.; ferner mit einem schockierenden Bsp. auch Malek, StV 2011, S. 559 ff. (565). 673 Vgl. insoweit die Rechtsprechung des Großen Senats des BGH zu Verständigungen im Strafverfahren, nach der das Gericht zu prüfen habe, „ob [das Geständnis] derart mit der Aktenlage in Einklang steht, dass sich hiernach keine weitergehende Sachverhaltsaufklärung aufdrängt.“, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442), Rn. 42 (juris); ferner auch BGHR StPO § 302 Abs. 1 S. 1 Rechtsmittelverzicht 25. 674 Sehr kritisch Fischer, StraFO 2009, S. 177 ff. (181); Schünemann, in: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwaltvereins, Strafverteidigung im Rechtsstaat, S. 827 ff. (832). 675 Schünemann, in: Lorenz/Trunk/Eidenmüller u. a., Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, S. 1177 ff. (1192). 676 Schünemann, ZRP 2009, S. 104 ff. (106); Heintschel-Heinegg, in: KMR/StPO, § 257c Rn. 8a; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (329); Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 8. 677 Jahn, ZStW 118 (2006), S. 427 ff. (441 ff.). 678 So Ignor, in: Beulke/Müller, Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, S. 321 ff. (329 f.) und (ähnlich) Weichbrodt, Das Konsensprinzip strafprozessualer Absprachen, S. 152 f., die den Grundsatz der freien Beweiswürdigung als dem Aufklärungsgrundsatz vorrangig erachten.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Strafrechtswissenschaft stark unter Druck geraten ist. Davon zeugt auch eine jüngere Entscheidung des BGH, der sich nochmals gezwungen sah, darauf hinzuweisen, dass der Untersuchungsgrundsatz auch im Falle einer Verständigung im Hauptverfahren unangetastet bleibe. Der BGH stellte fest, dass es nicht ausreiche, wenn der Angeklagte seine Bereitschaft signalisiere, ein in Aussicht gestelltes Strafhöchstmaß wegen eines bestimmten Sachverhalts hinzunehmen; der Angeklagte müsse zumindest die Tatsachen einräumen, die der Anklageschrift zugrunde lägen.679 Aber selbst letzteres genügt dem BVerfG nicht. In seinem kürzlich ergangenen Urteil zur Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über Verständigungen im Strafverfahren stellte es klar, dass ein im Strafprozess abgegebenes Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit im Wege der Beweiserhebung zu überprüfen sei; ein Abgleich des Geständnisses mit der Anklage werde dem Transparenzanliegen des Gesetzes und der Ermöglichung einer wirksamen Kontrolle verständigungsbasierter Urteile nicht gerecht, da jene keine hinreichende Grundlage für die erforderliche Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung i. S. d. § 261 StPO darstelle.680 Als unerlässliche Voraussetzung für die Verwirklichung des Schuldprinzips unterliege die Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit weder der Disposition des Gesetzgebers, noch könne über die Handhabung der Wahrheitserforschung, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafzumessung in der Hauptverhandlung, die letztlich mit einem Urteil zur Schuldfrage abschließen soll, durch die Verfahrensbeteiligten frei verfügt werden.681 Damit betonte das BVerfG erneut, dass vertragsähnliche, verfahrensbeendigende Vergleichsabschlüsse „im Gewand“ eines Urteils, die zu einem Handel mit Gerechtigkeit führen, im Strafverfahren ausgeschlossen sind.682 Angesichts der einerseits unmissverständlichen Betonung der Unverrückbarkeit der Aufklärungspflicht im Strafverfahren durch das BVerfG, der aber andererseits nicht zu vernachlässigenden, unterschiedlichen Ausgestaltung des behördlichen Bußgeldverfahrens, das nicht von einer vergleichbaren Vorschrift wie den §§ 244 Abs. 2, 261 StPO dominiert wird, fällt eine Schlussfolgerung über die Einwirkung des § 257c StPO auf das Kartell-Bußgeldverfahrens auf den ersten Blick schwer. Allerdings ist sich zu vergegenwärtigen, dass im Kartell-Bußgeldverfahren staatsanwaltschaftliche und vorläufig quasi richterliche Rechte und Pflichten bei der Kartellbehörde zusammenfallen. Der Untersuchungsgrundsatz erfordert im Strafprozess, dass sich das Strafgericht im Rahmen des Möglichen 679

BGH, Beschl. v. 22.9.2011, Az. 2 StR 383/11, StV 2012, 133 (134), Rn. 3 (juris). BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1063, 1071), Rn. 71, 129. 681 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068), Rn. 104 f. 682 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068), Rn. 105. 680

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und Zulässigen jedes erreichbaren Beweismittels bedient.683 Hierzu kann es auch auf die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft zurückgreifen, darf allerdings selbst dann nicht auf eine Beweisaufnahme verzichten, wenn der Angeklagte gesteht, um sich über die Glaubhaftigkeit der Einlassung zu vergewissern. Hingegen genügt das Bundeskartellamt im behördlichen Kartell-Bußgeldverfahren seiner Aufklärungspflicht, wenn es das von den kooperierenden Kartellbeteiligten abgegebene Geständnis auf seine Glaubhaftigkeit im Wege eines Abgleichs mit der Aktenlage überprüft. Denn das Bundeskartellamt ermittelt den vermuteten Kartellverstoß selbst, erhebt Beweise und ist zu deren vorläufiger Würdigung berufen. Eine freie Überzeugungsbildung einer unabhängigen Instanz innerhalb des behördlichen Bußgeldverfahrens ist im Gesetz gerade nicht vorgesehen. Aus diesem Umstand folgt allerdings gleichsam zwingend, dass das Bundeskartellamt dem Aufklärungsgrundsatz im – der Beweiswürdigung vorausgehenden – Ermittlungsverfahren uneingeschränkt beachtet und den Sachverhalt, wenngleich einseitig, vollständig ermittelt. Denn die Kartellbehörde ist in ihrer der Staatsanwaltschaft korrespondierenden Funktion ausschließlich für den Akteninhalt verantwortlich, auf deren Grundlage sie die Glaubhaftigkeit des Geständnisses bewertet. Da ein weiteres „Kontrollgremium“ im behördlichen Bußgeldverfahren nicht zur Verfügung steht und ein Rechtsschutzbegehren derjenigen Kartellbeteiligten, die sich zu einer Kooperation entschließen, eher unwahrscheinlich ist,684 muss das Bundeskartellamt sicherstellen, dass die „Glaubhaftigkeit“ eines Geständnisses und mithin die ermittelte „Wahrheit“ über die vermutete Zuwiderhandlung nicht auf einer „oberflächlichen“ Teilsichtung der Beweismittel basiert. Andernfalls besteht eine nicht auszuschließende Gefahr, dass das Bundeskartellamt zu einer dem Schuldprinzip widersprechenden, der Zuwiderhandlung und der Vorwerfbarkeit unangemessenen Sanktion gelangt, was wiederum die Rechtsgleichheit aller gegen das Kartellverbot verstoßenden Täter und speziell der Beteiligten ein und desselben Kartells unzulässigerweise negieren würde. Letzteres wird relevant, wenn bei hybriden Settlements infolge einer streitigen Fortführung des Bußgeldverfahrens gegen nicht kooperierende Kartellbeteiligte sämtliche Beweismittel ausgewertet werden und das Bundeskartellamt eine größere Ausdehnung des Kartellverstoßes feststellt, als es den abgeschlossenen Settlements und den daraufhin erlassenen Bußgeldbescheiden zugrunde gelegt hat. Würde das Bundeskartellamt nunmehr die Geldbußen gegen die nicht-kooperierenden Kartellbeteiligten anhand des ausermittelten Sachverhalts bemessen, verletzte es den

683 BGH, Urt. v. 4.4.1951, Az. 1 StR 54/51, BGHSt 1, 94 (96); Urt. v. 19.11.1956, Az. 2 StR 493/56, BGHSt 10, 116 (118); Urt. v. 21.11.1969, Az. 3 StR 249/68, BGHSt 23, 176 (187), Rn. 53 (juris); Urt. v. 10.10.1979, Az. 3 StR 281/79 (S), BGHSt 29, 109 (112); Rn. 8 (juris); Urt. v. 30.10.1986, Az. 4 StR 499/86, BGHSt 34, 209 (210); Urt. v. 18.5.2000, Az. 4 StR 647/99, BGHSt 46, 73 (79), Rn. 1 (juris). 684 Siehe bereits: Teil 2 § 4 E. I. (S. 188 ff.); ferner noch: Teil 4 § 2 E. I. 3. (S. 555 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG, da es die kooperierenden Kartellbeteiligten ohne sachliche Rechtfertigung, entgegen dem Schuldprinzip, milder sanktioniert hätte.685 Das umfassende Geständnis der kooperierenden Kartellbeteiligten kann eine solche, zusätzlich indirekt gewährte Sanktionsmilderung nicht rechtfertigen. Um verfassungswidrige, schuldunangemessene Kartellbußgelder auszuschließen und die Rechtsstaatlichkeit des behördlichen Kartell-Bußgeldverfahrens sicherzustellen, ist es daher von elementarer Bedeutung, dass das Bundeskartellamt zumindest alle ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel vor der Aufnahme von Settlement-Gesprächen sichtet, um eine vollständige, der sachlichen Wahrheit entsprechende oder zumindest nahe kommende Akte zu erstellen und einen sachgerechten Settlement-Vorschlag zu erarbeiten. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass im (unwahrscheinlichen) Falle eines von einem kooperierenden Kartellbeteiligten angestrengten, gerichtlichen Bußgeldverfahrens der letztlich aufgrund des Settlements ergehende Bußgeldbescheid den Verfahrensgegenstand sachlich, örtlich und personell begrenzt, sodass eine Ausweitung der Ahndung unmöglich ist, selbst wenn zu einem späteren Zeitpunkt Beweismittel gesichtet werden, die einen umfassenderen Tatvorwurf begründen.686 Auch nach dem im Bußgeldverfahren zu berücksichtigenden Rechtsgedanken des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO besteht demnach eine uneingeschränkte Aufklärungspflicht des Bundeskartellamtes. (3) Ergebnis Der Aufklärungsgrundsatz beansprucht im Kartell-Bußgeldverfahren wegen Hardcore-Kartellen seine volle Geltung. Dem Bundeskartellamt verbleibt in der Regel kein Entscheidungsspielraum, ob es ein Hardcore-Kartell verfolgt oder nicht, da das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes auf null reduziert ist. Zwar ist es trotz dieser grundsätzlichen Verfolgungspflicht durchaus möglich, auf die Verfolgung einzelner Tatbeiträge zu verzichten. Dies setzt allerdings bewusstes Handeln des Bundeskartellamtes voraus, wie die auf das Bußgeldverfahren anzuwendenden Rechtsgedanken des § 153a Abs. 1 StPO und des § 257c Abs. 1 S. 2 StPO offenbaren. Das Bundeskartellamt wird nämlich überhaupt erst mit der umfassenden Erforschung des Sachverhalts zu der Beurteilung praktisch in die Lage versetzt, auf der Basis welches Settlements (i) das öffentliche Interesse an der Ahndung des Kartellverstoßes kompensiert werden kann und (ii) eine noch 685 Zur Funktion des Schuldprinzips, die Gleichbehandlung aller Täter sicherzustellen: BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1067), Rn. 102. Ferner: Teil 2 § 3 B. I. 1 (S. 112 ff.). Vertiefend zur Vereinbarkeit der Settlements mit dem allgemeinen Gleichheitssatz: Teil 2 § 4 E. V. 3. (S. 291 ff.). 686 Zur Bindungswirkung des Settlements siehe noch: Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (2) (S. 271 ff.); zur Funktion des Bußgeldbescheids als „Anklageschrift“ im gerichtlichen Bußgeldverfahren: Teil 1 § 2 B. III. (S. 69 ff.).

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schuldangemessene, gerechte Geldbuße möglich erscheint. Die Glaubhaftigkeit eines Geständnisses kann es nämlich nur überprüfen, wenn es die verfügbaren Beweise hinreichend gesichtet hat.687 ee) Konsequenzen für die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes Aus alledem ergibt sich, das Settlement-Verfahren den Aufklärungsgrundsatz verletzen, wenn sie vor dem Abschluss der vollständigen Sichtung aller dem Bundeskartellamt zur Verfügung stehenden Beweismittel stattfinden. Dies gilt insbesondere für bereits unmittelbar nach den Durchsuchungen initiierte Settlement-Gespräche. Denn der Aufklärungsgrundsatz verpflichtet das Bundeskartellamt, alle ihm möglichen und zumutbaren Beweise zu erheben, um den mutmaßlichen Sachverhalt zu erforschen.688 Diese Pflicht umfasst jedenfalls, die naheliegenden, da verfügbaren und sich geradezu aufdrängenden Beweise auszuwerten, und das Geständnis anschließend anhand der Beweise einer sorgfältigen Würdigung hinsichtlich seiner Glaubhaftigkeit und seines Beweiswertes zu unterziehen.689 Kann der Sachverhalt aufgrund der beschlagnahmten Asservate im Wesentlichen rekonstruiert werden, muss das Bundeskartellamt – um dem mit Settlements verfolgten Ziel beschleunigter Verfahren gerecht zu werden – keine zusätzlichen Beweise erheben. Selbst in Fällen, in denen die Erforschung des mutmaßlichen Kartellverstoßes Probleme bereitet, ist nicht in jedem Fall eine weitere Beweismittelerhebung unbedingt geboten. Der Aufklärungsgrundsatz verpflichtet das Bundeskartellamt nur, sich der in zumutbarer Weise zu erlangenden Beweismittel zu bedienen. Hingegen muss das Bundeskartellamt nicht jeder denkbaren Erkenntnisquelle nachgehen, um das Bußgeldverfahren nach Sichtung der vorhandenen Beweise mittels Settlement abschließen zu dürfen.690 Denn das Kartell-Bußgeldverfahren ist auch in seiner regulären Form bereits auf Indizienbeweise angelegt.691 687 Ähnlich, ohne Begr. und im Ergebnis mit Hinweis auf das „weite Ermessen“ des BKartA zurückhaltender: Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352 f.); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (17); vgl. auch BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 16. 688 So auch schon Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 170. 689 Ähnlich zur Bonusregelung auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 250 und Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 180 ff. in Anerkennung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH. 690 Missverständlich, aber wohl enger Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (596), der „ein Settlement, das den Verzicht auf eine weitere Sachverhaltsaufklärung beinhaltet“ nur bei unverhältnismäßigem Ermittlungsaufwand zulassen will. Ein explizit vereinbarter Aufklärungsverzicht wäre allerdings rechtsstaatlich bedenklich und missbrauchsanfällig. Settlements können daher den Verzicht auf weitere Aufklärung allenfalls in oben beschriebenen Konstellationen zulässigerweise bewirken. Im Übrigen ist lediglich ein partieller Verfolgungs- und Ahndungsverzicht wirksam vereinbar. 691 Tiedemann, Kartellrechtsverstöße und Strafrecht, S. 171 m.w. N.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

b) Vereinbarkeit mit den Rechtsgedanken des § 257c Abs. 2 StPO § 257c Abs. 2 StPO zählt enumerativ692 die zulässigen Gegenstände einer Absprache im Strafverfahren auf. Dazu zählen die Rechtsfolgen, die Inhalt des Urteils sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen im Erkenntnisverfahren, das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten sowie, normativ intendiert, das Geständnis des Angeklagten. Hingegen darf insbesondere der Schuldspruch nach Satz 3 der Vorschrift, also die tatsächlichen Feststellungen und die rechtliche Würdigung,693 nicht verhandelt werden. Das Bundeskartellamt verlangt im Gegenzug für den versprochenen Sanktionsrabatt und gegebenenfalls eine Teileinstellung die Abgabe eines „Geständnisses“, den Verzicht auf volle Akteneinsicht und die Akzeptanz der seinerseits ermittelten Höchstgeldbuße. Jedenfalls vom Wortlaut des § 257c Abs. 2 S. 1 und 2 StPO sind diese Forderungen des Bundeskartellamtes, einschließlich der beschränkten Verteidigungsrechte als Regelungen des Prozessverhaltens der Betroffenen,694 gedeckt, sodass sich ein Verstoß gegen den Rechtsgedanken des § 257c Abs. 2 StPO nicht feststellen lässt.695 Auch wurde bereits festgestellt, dass im Rahmen des im Bußgeldverfahren geltenden Opportunitätsprinzips bewusst vorgenommene, angemessene Begrenzungen des Verfahrensgegenstands, abweichend vom Strafverfahren, zulässig sind, soweit dem Schuldprinzip ausreichend Rechnung getragen ist.696 Problematisch erscheint allerdings die eingangs erwähnte, zumindest frühere Praxis des Bundeskartellamtes,697 mit Betroffenen auch über die rechtliche Subsumtion der zugestandenen Tatsachen zu verhandeln. Burrichter hat in seinem schriftlichen Beitrag698 zum 13. Annual EU Competition Law and Policy Workshop vom 6. bis 7. Juni 2008 in Florenz699 und der in diesem Rahmen stattfin-

692

Vgl. nur Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 11. BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1063), Rn. 73. 694 Zur Frage der Vereinbarkeit mit den Verteidigungsrechten der Betroffenen: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) (S. 237 ff.) zum Geständnis und Teil 2 § 4 E. V. 2. b) (S. 254 ff.) zum Verzicht auf Akteneinsicht. 695 Inwieweit die Beschränkung des Akteneinsichtsrechts und die Pflicht zur Anerkennung der ermittelten Geldbuße mit höherrangigen Prinzipien kollidiert, wird noch an anderer Stelle untersucht: Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (b) (S. 274 ff.). 696 Vgl. Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) cc) (S. 210 ff.) und Teil 2 § 4 E. V. 1. a) dd) (2) (c) (S. 227 ff.). 697 Teil 2 § 4 E. I. (S. 188 ff.). 698 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. 699 Marquis, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. xxix ff. (xxix). 693

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 235

denden Diskussion des Panels IV davon berichtet,700 dass Settlement-Gespräche gewöhnlich auch die rechtliche Würdigung der Zuwiderhandlung beinhalteten. So sei es in einem Fall etwa möglich gewesen, anstelle des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung einen vertikalen Kartellverstoß anzunehmen, obgleich in einer früheren Fusionskontrollentscheidung festgestellt wurde, dass es sich bei dem betreffenden Unternehmen um einen führenden Marktteilnehmer gehandelt habe, der zusammen mit anderen Marktführern eine kollektive marktbeherrschende Stellung inne gehabt habe.701 In „angemessenen“ Fällen sei auch die Annahme einer fahrlässigen anstelle einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung möglich gewesen, was wesentlichen Einfluss auf die Geldbuße, nämlich eine Reduktion um 50 %, gehabt habe.702 Ein solches Vorgehen könnte, sofern § 257c Abs. 2 StPO als zentrale rechtsstaatliche Anforderung auch im Bußgeldverfahren mittelbare Geltung erlangt, gegen den Rechtsgedanken des Satzes 3 der Vorschrift verstoßen, wenn es sich um eine Verständigung über den „Schuldspruch“ handelte. Dies ist mit Hilfe des Sinns und Zwecks des gesetzlichen Verbots zu klären. Entscheidend ist daher, welchem Prinzip es dient, den Schuldspruch nicht zur Disposition der Verfahrensbeteiligten zu stellen. Der Gesetzgeber hat sich mit dieser Frage nicht weiter auseinander gesetzt, sondern lediglich auf die seines Erachtens nach sachrichtige Entscheidung des Großen Senats des BGH verwiesen.703 Dieser hat wiederum das Urteil des 4. Senats des BGH vollumfänglich bestätigt, nach dem das Recht des Angeklagten auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren es gleichermaßen erfordere, dass das Gericht seiner richterlichen Aufklärungspflicht nachkomme, wie es „von vornherein“ eine Absprache über den Schuldspruch ausschließe; Grundlage einer Verständigung dürfe immer nur der nach der Überzeugung des Gerichts tatsächlich gegebene Sachverhalt sein, dessen strafrechtliche Bewertung und Einordnung einer Vereinbarung nicht zugänglich sei.704 Die Judikatur des BGH baut auf den verfassungsrechtlichen Vorgaben des BVerfG auf, dass bereits 1987 feststellte, dass es dem Ziel, die materielle Wahrheit zu erforschen, welches gleichermaßen der Sicherheit der Bürger und ihrem Vertrauen in eine funktionsfähige Strafrechtspflege, als auch dem materiellen Schuldprinzip und der Gleichberechtigung der Straftäter dient, widerspricht,

700 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 423 ff. (430 ff.). 701 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (474); Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 423 ff. (431). 702 Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (474). 703 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 1 (5, 11). 704 BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442), Rn. 37 (juris); Urt. v. 28.8.1997, Az. 4 StR 240/97, NStZ 1998, 31 (33), Rn. 26 (juris).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

einen „Handel mit Gerechtigkeit“ zuzulassen.705 Aus diesem Grund dürfe die Handhabung der richterlichen Aufklärungspflicht, die rechtliche Subsumtion und die Grundsätze der Strafbemessung in einer Hauptverhandlung nicht ins Belieben oder zur freien Disposition der Verfahrensbeteiligten und des Gerichts gestellt werden.706 Daraus folgt, dass der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO nochmals unmissverständlich festzuhalten bezweckte, dass der Geltungsgrund für ein Strafurteil allein vom materiellen Recht, nicht aber von dem Willen der Verfahrensbeteiligten abhängig ist.707 Die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit gilt auch im Kartell-Bußgeldverfahren uneingeschränkt, sofern die Kartellbehörde zur Verfolgung einer Zuwiderhandlung verpflichtet ist oder aber sich zumindest für eine solche ermessensfehlerfrei entschieden hat.708 Der Bußgeldbescheid trifft eine (zumindest vorläufige) Feststellung über die materielle Wahrheit und dient mit der Festsetzung einer der Vorwerfbarkeit angemessenen Sanktion allen zu berücksichtigenden Interessen gleichermaßen. Die Orientierung rechtlicher Subsumtion an der materiellen Wahrheit verhindert die Übervorteilung der (kooperierenden) Betroffenen und beugt dem Eindruck vor, das Bundeskartellamt verfolge einen Handel mit Gerechtigkeit. Gleichermaßen führt nur eine rechtsfehlerfreie Subsumtion der festgestellten, wahren Tatsachen zu einer Kompensation des öffentlichen Interesses und des Genugtuungsinteresses der Geschädigten mit dem Bußgelderlass. Daher widerspricht es dem Schuldprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und dem Aufklärungsgrundsatz, wenn über die rechtliche Beurteilung einer festgestellten Zuwiderhandlung verhandelt wird, mit dem Ziel den Vorwurf, der den die Kartellbeteiligten zu machen ist, und damit die Geldbuße verdeckt abzumildern.709 Damit lässt sich auch feststellen, dass die Vorschrift des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO eine zentrale rechtsstaatliche Anforderung beinhaltet, die im Kartell-Bußgeldverfahren zu beachten ist. Die noch von Burrichter beschriebene Praxis der betreffenden Beschlussabteilungen ist damit zweifellos rechtswidrig gewesen. So bleibt zu hoffen, dass die in den neueren Stellungnahmen des Bundeskartellamtes nicht mehr beschriebene Praxis ein Zeichen dafür sind, dass Verständigungen über die rechtliche Subsumtion eingestellt wurden.

705

BVerfG, Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NStZ 1987, 419. BVerfG, Beschl. v. 27.1.1987, Az. 2 BvR 1133/86, NStZ 1987, 419; diese Grundsätze jüngst erneut bekräftigend: BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068 f.), Rn. 102 ff. 707 So auch Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 7, 11 und nunmehr das BVerfG: Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1063 f.), Rn. 73 f. 708 Vgl. bereits Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.). 709 Zum Strafverfahren: BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/ 10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068), Rn. 109. 706

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 237 2. Vereinbarkeit mit den Verfahrens- und Verteidigungsrechten der Betroffenen

Während Settlements im vorausgegangenen Abschnitt 1. vor allem aus der Perspektive der Öffentlichkeit überprüft worden sind, soll an dieser Stelle die Perspektive eines vom Bußgeldverfahren Betroffenen eingenommen werden. Denn Settlementverfahren bleiben für Betroffene belastende und eingriffsintensive, wenngleich verkürzte Bußgeldverfahren. Dementsprechend verlangt die Verfassung nicht nur Ermächtigungsgrundlagen für Eingriffe in Grundrechte, sondern gewährt Betroffenen – bei grundsätzlich gerechtfertigten Eingriffen – auch gewisse Verteidigungs- und Verfahrensrechte. Der strafähnliche Charakter der Geldbuße zwingt das Bundeskartellamt diese bei der Ausübung seines Ermessens zu wahren. Zu den Verfahrens- und Verteidigungsrechten zählen namentlich das Recht, sich nicht selbst einer Ordnungswidrigkeit bezichtigen zu müssen, das Recht auf rechtliches Gehör und auf Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz sowie das Recht auf ein faires Verfahren. An diesen soll die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes im Folgenden gemessen werden. a) Die „Pflicht“ zur Abgabe eines Geständnisses Bedingung eines Settlements ist es laut den veröffentlichten Eckpunkten des Bundeskartellamtes, dass Betroffene und Nebenbetroffene den vom Bundeskartellamt ermittelten Sachverhalt anerkennen. Formal verlangt die Kartellbehörde ein Geständnis. Diese Forderung könnte mit dem Verbot, sich nicht selbst einer Kartell-Ordnungswidrigkeit bezichtigen zu müssen („nemo tenetur se ipsum accusare“), kollidieren. aa) Bedeutung des Aussageverweigerungsrechts im Bußgeldverfahren Das Recht, sich nicht selbst einer sanktionsbewährten Gesetzesübertretung bezichtigen zu müssen, ist nach Auffassung des BVerfG verfassungsrechtlich in Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG verbürgt.710 Seine positivrechtliche Ausgestaltung hat das vor allem im Strafverfahren traditionelle und elementare Verfahrensrecht in den §§ 136, 136a und 342 Abs. 5 StPO gefunden. Danach steht es dem einer Straftat Beschuldigten frei, sich zu dem Tatvorwurf zu äußern oder zu schweigen.

710 BVerfG, Beschl. v. 13.1.1981, Az. 1 BvR 116/77 – Selbstbezichtigung des Gemeinschuldners, BVerfGE 56, 37 (44), Rn. 18 (juris); Beschl. v. 26.2.1997, Az. 1 BvR 2172/96 – Aufzeichnungspflicht, BVerfGE 95, 220 (241) Rn. 84 (juris); Urt. v. 8.7.1997, Az. 1 BvR 2111/94 u. a. – Stasi-Fragen, BVerfGE 96, 171 (181), Rn. 38 (juris); Beschl. v. 27.4.2010, Az. 2 BvL 13/07, Rn. 54 (juris); Beschl. v. 28.10.2010, Az. 2 BvR 535/ 10, Rn. 18 (juris).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Gemäß § 46 Abs. 1 OWiG kommt dieses Schweigerecht Betroffenen eines Bußgeldverfahrens uneingeschränkt zu Gute.711 Der Begriff „Betroffener“ ist hierbei technisch zu verstehen, umfasst zunächst also allein natürliche Personen, gegen die ein Kartell-Bußgeldverfahren eröffnet wurde, insbesondere die Organe juristischer Personen. Im Hinblick auf die Körperschaften, die gemäß § 30 OWiG zu Nebenbetroffenen eines Kartell-Bußgeldverfahrens werden können, ist nach wie vor streitig, inwieweit diesen ein „Aussageverweigerungsrecht“ zusteht. Richtigerweise wird natürlich darum gerungen, inwieweit sich die Vertreter der juristischen Person, die naturgemäß nicht zu einer eigenen Sinneswahrnehmung fähig ist, auf das Recht berufen können, zum Schutz vor einer Belastung der juristischen Person zu schweigen.712 Das BVerfG hat die Ausdehnung des „nemo tenetur“-Grundsatzes auf juristische Personen abgelehnt und dessen Organen ein abgeleitetes Aussageverweigerungsrecht versagt.713 Zur Begründung führte es aus, dass das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, vor allem der Wahrung der Menschenwürde diene; der Beschuldigte solle nicht in einen Zweispalt gebracht werden, entweder sich eigener Verfehlungen bezichtigen zu müssen oder aber weitere Straftaten durch Falschaussagen zu begehen.714 Die innere Koppelung an die Menschenwürde und das Recht allgemeiner Persönlichkeitsentfaltung schließe eine Übertragung auf juristische Personen aus, da diese nicht in einen vergleichbaren Zwiespalt geraten können; Art. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG seien daher ihrem Wesen nach nicht auf juristische Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG anwendbar.715 Die gegen Unternehmen festgesetzte Geldbuße enthalte zudem keinen Schuldvorwurf und keine ethische Missbilligung, sondern wolle nach ihrer Zielsetzung Unternehmen nur die aus einer rechtswidrigen Tat erlangten Vorteile entziehen.716 Diese Auffassung des BVerfG wird in der heutigen Literatur weitestgehend abgelehnt. Verfassungsrechtlich ergebe sich das Aussageverweigerungsrecht auch aus dem Gleichheitssatz und dem Rechtsstaatsprinzip,717 jedenfalls aber aus dem Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren, 711 BVerfG, Beschl. v. 22.10.1980, Az. 2 BvR 1172/79, 2 BvR 1238/79, BVerfGE 55, 144 (150), Rn. 17 (juris); Beschl. v. 13.5.2009, Az. 2 BvL 19/08 – Tabaksteuergesetz, Rn. 77 (juris); ferner Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 237; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 39; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 55 Rn. 8; Hannich, in: RRH/OWiG, § 55 Rn. 9; Wache, in: KK/OWiG, § 55 Rn. 14. 712 Zutreffend Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 215. 713 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1997, Az. 1 BvR 2172/96 – Aufzeichnungspflicht, BVerfGE 95, 220 (241 f.), Rn. 85 f. (juris). 714 BVerfG Beschl. v. 26.2.1997, Az. 1 BvR 2172/96 – Aufzeichnungspflicht, BVerfGE 95, 220 (241 f.), Rn. 84 (juris). 715 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1997, Az. 1 BvR 2172/96 – Aufzeichnungspflicht, BVerfGE 95, 220 (241 f.), Rn. 85 (juris). 716 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1997, Az. 1 BvR 2172/96 – Aufzeichnungspflicht, BVerfGE 95, 220 (241 f.), Rn. 86 (juris). 717 Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 188; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 216; Dannecker, ZStW 111 (1999), S. 256 ff. (285 f.); befürwortend auch

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 239

wie es in Art. 6 EMRK ausdrücklich verankert und vom BVerfG anerkannt wurde.718 Aus diesem Grund bestehe auch für Unternehmen ein Aussageverweigerungsrecht, welches durch natürliche Personen wahrgenommen werde, die den Verband in der Rolle als „Beschuldigte“ vertreten.719 Zumindest aber sei den Organen juristischer Personen aus § 55 StPO (analog) ein Zeugnisverweigerungsrecht zuzugestehen, wenn sie nicht selbst Betroffene eines Bußgeldverfahrens geworden sind.720 Die Auffassung der Literatur überzeugt. Es erscheint in der Tat naheliegend, das Aussageverweigerungsrecht als Errungenschaft und traditionelles Kernrecht moderner, rechtsstaatlicher Strafverfahren zu begreifen und dessen verfassungsrechtliche Verwurzelung daher zumindest ergänzend im Rechtsstaatsprinzip zu suchen. Daneben spricht jedenfalls die mit den §§ 1, 81 GWB, § 30 OWiG erfolgte, gesetzliche Anerkennung der Fähigkeit (eigentlich handlungsunfähiger) juristischer Personen, „Täter“ eines Kartells und Nebenbetroffene eines Bußgeldverfahrens zu sein, dafür juristischen Personen ein Aussageverweigerungsrecht zuzugestehen. Denn wenn staatliche Behörden Unternehmen „beschuldigen“ und gemäß § 81 Abs. 4 GWB (i.V. m. §§ 17, 30 OWiG) strafähnlich721 sanktionieren können, muss diesen auch die Möglichkeit zur Verteidigung gewährt werden. Mit der Geldbuße ist – entgegen der Auffassung des BVerfG – auch ein Schuldvorwurf verbunden, nämlich in Form eines Tadels für den innerhalb der juristischen Person vorherrschenden, vorwerfbaren Organisationsmangel, der das rechtswidrige Tun von deren Stellvertretern erst ermöglichte.722 Die Geldbuße dient nicht allein der Abschöpfung wirtschaftlicher Vorteile und soll, wie § 81 Abs. 5 S. 2 GWB offenbart, auch allein zu ahndenden Zwecken verhängt werden können.723 Daher wird man zumindest heute, mehr als ein Jahrzehnt nach der Entscheidung des BVerfG, in einer Zeit, in der juristische Personen innerhalb eines Bußgeldverfahrens eine emanzipiertere Rolle einnehmen und ihnen einschneidende, wirtKlusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 37; vgl. auch BGH, Urt. v. 9.12.1988, Az. 2 StR 279/88, NJW 1989, 1228 (1229), Rn. 23 (juris); vgl. auch EGMR, Urt. v. 3.5.2001, Nr. 31827/96 – J.B./Schweiz, NJW 2002, 499 (501), § 64. 718 Weiß, NJW 1999, S. 2236 ff. (2237); Schuler, JR 2003, S. 265 ff.; Burrichter, in: IM/EU KartellR, Vorbem. zu Art. 17–22 VO 1/2003 Rn. 44; Schwarze, EuR 2009, S. 171 ff. (197); Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (150); Seitz, EuR Beiheft 2/2011, S. 71 ff. (99 f.); zum „fair trail“-Grundsatz noch: Teil 2 § 4 E. V. 2. b) aa) (S. 255 ff.). 719 Dazu abweichend zu der o. g. Entscheidung (Fn. 713): BVerfG, Beschl. v. 26.2.1975, Az. 2 BvR 820/74, BB 1975, 1315; ferner Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, Vor § 81 Rn. 215; Dannecker, ZStW 111 (1999), S. 256 ff. (285 f.); Gillmeister, Ermittlungsrechte im deutschen und europäischen Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, S. 38 f.; Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 177, 188 ff. m.w. N. 720 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 217. 721 Siehe bereits: Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 722 Siehe bereits: Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.). 723 So schon zutreffend Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 60.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

schaftliche Folgen drohen, die Ausdehnung des Selbstbelastungsverbots auf juristische Personen kaum mehr ablehnen können. bb) Verletzung durch Zwang zum Geständnis? Der „nemo tenetur“-Grundsatz ist durch die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes jedoch nicht tangiert, wenn Betroffene freiwillig, also ohne Zwang „gestehen“. Zwar ist der Zwangsbegriff schwierig zu definieren, allerdings hilft insoweit eine Betrachtung des Sinn und Zwecks des „nemo tenetur“-Grundsatzes. Wenn das Aussageverweigerungsrecht nämlich darauf zielt, dem Einzelnen die Wahl über sein Erklärungsverhalten zu überlassen, ergibt sich daraus im Umkehrschluss, dass jedenfalls Praktiken im Anwendungsbereich des § 136a StPO oder eine ähnlich wirkende, rechtliche Verpflichtung zur Aussage Zwang im Sinne des „nemo tenetur“-Grundsatzes begründet.724 Aussage unter Zwang bedeutet damit gleichsam, dass der Nichtgeständige durch Gewalt, bewusstseinsstörende Mittel oder durch Androhung eines unzulässigen Nachteils, der seine Lage ohne Geständnis verschlechtert, „bewegt“ wird (§ 136a Abs. 1 S. 1, 2 StPO), oder aber dass ihm ein gesetzlich nicht vorgesehener Vorteil versprochen wird (§ 136a Abs. 1 S. 3 StPO). (1) Keine Androhung negativer Konsequenzen Zunächst kann unproblematisch festgehalten werden, dass das Bundeskartellamt Geständnisse nicht unter Androhung unzulässiger Maßnahmen verlangt. Verweigern die Kartellbeteiligten 725 die Aussage, wird das Bußgeldverfahren regulär weiter geführt. Insbesondere droht den Betroffenen keine härtere Bußgeldbemessung, wenn sie (vollständig) schweigen.726 Die Bemessung der regulären Geldbuße findet für jeden Kartellbeteiligten anhand der Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG statt, unabhängig davon, ob dieser kooperiert. Nur im Fall der Kooperation folgt im Anschluss die Reduzierung der Geldbuße um bis zu 10 %. Die Verweigerung eines Geständnisses wirkt daher nicht sanktionsschärfend. Dies ist ein 724

Schaefer, NJW-Spezial 2010, S. 120 ff. (121). Der Einfachheit halber wird im Folgenden allgemein von „Kartellbeteiligten“, „Kartellmitglied“ oder „Betroffenen“ gesprochen. Soweit es um das Aussageverweigerungsrecht der juristischen Person geht, bezieht sich eine mögliche Zwangsausübung seitens des BKartA freilich auf die für sie handelnden, vertretungsberechtigten Geschäftsführer. 726 BVerfG, Beschl. v. 7.7.1995, Az. 2 BvR 326/92 – Schweigen des Angeklagten, NStZ 1995, 555, Rn. 32 (juris); BGH, Urt. v. 26.5.1992, Az. 5 StR 122/92, BGHSt 38, 302 (305); Rn. 17 (juris); Beschl. v. 13.5.1996, Az. GSSt 1/96, BGHSt 42, 139 (152), Rn. 40 (juris); Beschl. v. 19.1.2000, Az. 3 StR 531/99, BGHSt 45, 367 (368 f.), Rn. 7 (juris); speziell zum (Kartell-)Bußgeldverfahren: Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 40a; Wache, in: KK/OWiG, § 55 Rn. XVII; Hannich, in: RRH/ OWiG, § 55 Rn. 10; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 55 Rn. 10. 725

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relevanter Unterschied zwischen dem Kartell-Bußgeldverfahren des Bundeskartellamtes und dem Kartellverfahren der Kommission. Letztere will nämlich die Verweigerung der Kooperation als erschwerenden Umstand im Rahmen der Bußgeldbemessung berücksichtigen.727 Eine solche Ankündigung verletzt nach nationalem Verständnis evident den „nemo tenetur“-Grundsatz, da die (passive) Verteidigung der Betroffenen letztlich durch eine Bußgelderhöhung „bestraft“ wird.728 Insofern ist die abweichende Handhabung des Bundeskartellamts zu begrüßen. Im Übrigen erscheint ein Geständnis, das auf die Ankündigung einer Belohnung mit einer Bußgeldermäßigung folgt, jedenfalls formalrechtlich gesehen, freiwillig,729 denn der „nemo tenetur“-Grundsatz verlangt grundsätzlich nicht, dass Geständigen und Nichtgeständigen gleichermaßen (finanzielle) Vorteile erwachsen müssen.730 Derjenige, der nicht gesteht, hat daher keine unmittelbaren „Nachteile“. (2) Unzulässige Vorteilsgewährung? § 136a Abs. 1 S. 3 StPO verbietet es, Betroffenen rechtswidrige Vorteile zu versprechen. Ein solcher unzulässiger und damit Zwang verursachender Vorteil ist eindeutig gegeben, wenn das Bundeskartellamt eine in ihren bußgeldrechtlichen Konsequenzen mildere, rechtliche Bewertung im Gegenzug für ein Geständnis in Aussicht stellt, da dies nach § 257c Abs. 2 S. 3 StPO ausdrücklich verboten ist und dieses Verbot im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren uneingeschränkt auch im Bußgeldverfahren beachtet werden muss.731 727 Rn. 28, 2. Spiegelstrich der Leitlinien der Kommission für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EU Nr. C 210c. 1.9.2006, S. 2 ff. Dazu zu Recht krit. Schwarze/ Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 54; Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 49; Dannecker, in: IM/ EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 157. 728 BVerfG, BVerfG, Beschl. v. 7.7.1995, Az. 2 BvR 326/92 – Schweigen des Angeklagten, NStZ 1995, 555, Rn. 32 (juris); BGH, Urt. v. 26.5.1992, Az. 5 StR 122/92, NJW 2304 (2305 f.), Rn. 11 ff. (juris); Beschl. v. 13.5.1996, Az. GSSt 1/96, BGHSt 42, 139 (152), Rn. 40 (juris); Beschl. v. 19.1.2000, Az. 3 StR 531/99, BGHSt 45, 367 (368 f.), Rn. 7 (juris). 729 So zur Bonusregelung: Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 270; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (615) sowie zur europäischen Settlement-Praxis: Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 743. Auch die ständige europäische Rechtsprechung bejaht (die Freiwilligkeit ausschließenden) Zwang nur bei sanktionsbewährten Auskunftspflichten der Kartellbeteiligten: vgl. etwa EuGH, Urt. v. 15.10.2002, verb. Rs. C-238/99, C-244/99, C-245/99, C-247/99, C-250/99 bis C252/99 u. C-254/99 – Limburgse Vinyl Maatschappij NV (LVM) u. a., Slg. 2002, I-8375, Rn. 279; Urt. v. 25.1.2007, Rs. C-407/04 P – Dalmine, Slg. 2007, I-829, Rn. 35; EuG, Urt. v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 u. T252/01 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2004, II-1181, Rn. 409 f. 730 Jessberger, Kooperation und Strafzumessung, S. 138; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (615). 731 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 1. b) (S. 234 ff.).

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Abgesehen von diesem Fall bleibt zu überlegen, ob bewirkte faktische Zwangslagen den „nemo tenetur“-Grundsatz berühren.732 Denkbar ist insoweit, dass die vom Bundeskartellamte versprochene Vergünstigung bei Betroffenen einen – mit der drohenden Schlechterstellung vergleichbaren – psychischen Druck bewirkt, das Angebot zur Vermeidung eines „regulären“, also höheren Bußgeldes annehmen „zu müssen“.733 Würde man die Bewirkung psychischen Drucks bei jedem behördlich gesetzten Anreiz als Zwang und damit als Eingriff in das Aussageverweigerungsrecht qualifizieren, bedürfte allerdings jede bußgeldmindernde Berücksichtigung positiven Nachtatverhaltens des Kartellbeteiligten einer sachlichen Rechtfertigung.734 Demgegenüber setzt § 17 Abs. 3 OWiG gerade voraus, dass die Geldbuße anhand der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und des den Täter treffenden individuellen Vorwurfs bemessen wird.735 Der individuelle Tatvorwurf bemisst sich wiederum nicht allein nach den Umständen während der Tat, sondern auch nach dem Verhalten des Täters nach der Tat.736 Aus diesem Grund ist das alleinige Angebot einer bis zu 10 %igen Reduktion des Bußgeldes für das Zugeständnis der ermittelten Tatsachen grundsätzlich nicht als unzulässige Zwangsausübung anzusehen.737 Dies entspricht auch der Haltung der europäischen Gerichte, die die Anreizsetzung in Form von Bußgeldermäßigungen durch die Kommission generell nicht als unzulässige, gegen den „nemo tenetur“Grundsatz verstoßende Zwangsausübung qualifizieren, sodass die Aufklärungshilfe von Kartellbeteiligten grundsätzlich freiwillig erfolge und von der Kommission bußgeldmindernd berücksichtigt werden dürfe.738

732 Diese Erwägungen wurden insbesondere bei der Beurteilung von Kronzeugenregelungen angestellt, vgl. etwa Schwarze, EuR 2009, S. 171 ff. (189 ff.); Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 192; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (615); Kölbel, NStZ 2003, S. 232 ff. 733 Für Absprachen im Strafprozess etwa auch Kölbel, NStZ 2003, S. 232 ff. (235 ff.); Weigend, JZ 1990, S. 774 ff. (778). 734 Ebenso Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 743 f. 735 Zu den Zumessungskriterien vgl. noch die vertieften Ausführungen in: Teil 3 § 2 B. I. (S. 373 ff.). 736 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 53; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 18, 23; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 270; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 381. Vgl. auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/ 05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737), Rn. 167 (juris). 737 So auch zur Bonusregelung OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737), Rn. 152 ff.; ihm folgend auch Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 29; a. A. für das Inaussichtstellen einer Strafmilderung gegen ein Geständnis: Kölbel, NStZ 2003, S. 232 ff. (235). 738 EuGH, Urt. v. 18.10.1989, Rs. 374/87 – Orkem, Slg. 1989, 3283, Rn. 34 f.; Urt. v. 16.11.2000, Rs. C-298/98 P – Metsä-Serla Sales Oy („Finnboard“), Slg. 2000, I-10157, Rn. 56 ff., insb. 58; Urt. v. 14.7.2005, verb. Rs. C-65/02 P u. C-73/02 P –

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Allerdings dürfen die vorstehenden, stark verallgemeinerten Überlegungen nicht darüber hinweg täuschen, dass durch Settlement-Verfahren die Möglichkeit eröffnet wird, Anreize zu setzen, die im Einzelfall dazu führen können, dass Betroffenen faktisch nur die Option des Geständnisses verbleibt, weil die „Alternative“, nämlich die insgesamt aus einem regulären Bußgeldverfahren erwachsenen Konsequenzen, für diese praktisch inakzeptabel ist. (a) Psychischer Zwang nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte In der europäischen Literatur wird in diesem Zusammenhang vielfach auf das schon länger zurück liegende Urteil des EGMR in Sachen Deewer v. Belgien739 verwiesen.740 In dem Fall ging es um einen Fleischer, dem ein Verstoß gegen ein Dekret zur Begrenzung der Fleischpreise vorgeworfen wurde. Die Staatsanwaltschaft ordnete daraufhin an, dass der Fleischer sein Geschäft – wie in solchen Fällen üblich741 – innerhalb der nächsten 48 Stunden vorläufig schließen müsse. Die Schließung sollte aufrechterhalten bleiben, bis das noch einzuleitende Gerichtsverfahren abgeschlossen sein würde oder aber der Fleischer zur einvernehmlichen Beendigung des Verfahrens 10.000 belgische Francs zahlt.742 Der Fleischer zahlte die Vergleichssumme noch am folgenden Tag, vor allem um der vorläufigen Schließung seines Geschäfts zu entgehen. Bei einer Verurteilung durch das Gericht hätten ihm bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe oder eine Geldbuße zwischen 3.000 und 30 Mio. belgischen Francs gedroht. Das Risiko einer Verurteilung war allerdings vergleichsweise gering, da die Gerichte das Dekret für rechtswidrig hielten und die überwiegende Anzahl der Verfahren eingestellt wurden.743 Der Fleischer wollte mit seiner Individualbeschwerde festgestellt wissen, dass die Vorgehensweise des Staatsanwalts seine in Art. 6 Abs. 1 bis 3 EMRK verbürgten Rechte verletzte. Der EGMR gab der Beschwerde statt und stellte eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. Dabei hob der EGMR hervor, dass zwar grundsätzlich ein Verzicht auf die in Art. 6 EMRK verbürgten Garantien möglich sei, dieser zu seiner Wirksamkeit jedoch ohne Zwang erfolgen müsse.744 Letzteres war nach Auffassung des EGMR im Fall Deewer nicht gegeben. Zwar sei der durch das drohende GeThyssenKrupp, Slg. 2005, I-6773, Rn. 51 ff.; EuG, Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-311/94 – BPB, Slg. 1998, II-1129, Rn. 323 f. 739 EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35. 740 Wils, World Competition 2008, S. 335 ff. (350 f.); Waelbroeck, in: Gheur/Petit, Alternative enforcement techniques in EC competition law, S. 221 ff. (252 f.); zuletzt auch Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 757 ff. 741 EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35, § 14. 742 EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35, § 9. 743 EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35, § 19. 744 EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35, § 49.

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richtsverfahren bewirkte psychische Druck, sofern der Beschwerdeführer angesichts der guten Einstellungschancen einen solchen überhaupt vernommen habe, allein nicht geeignet gewesen, einen mit Art. 6 EMRK unvereinbaren Zwang hervorzurufen; dem Fleischer sei aber praktisch keine andere Wahl geblieben, als das Vergleichsangebot anzunehmen.745 Denn bis zu einem rechtskräftigen Urteil wäre das Geschäft des Fleischers womöglich über Monate geschlossen geblieben, was ihm nicht nur seines Einkommens beraubt, sondern darüber hinaus dem Risiko ausgesetzt hätte, seine Angestellten weiter bezahlen zu müssen und, nach Wiedereröffnung des Geschäfts, seine früheren Kunden nicht zurückzugewinnen. Der Druck, den schon die lediglich leicht über der gesetzlich vorgeschriebenen Mindesthöhe liegende Vergleichssumme bewirkt habe, sei durch die mit einer Geschäftsschließung drohenden Konsequenzen nochmals verstärkt worden. Die „Milde“ des Vergleichsangebots habe daher einen derart zwingenden Druck erzeugt, „dass es nicht überrascht, dass Herr Deewer nachgab.“ 746 Mit anderen Worten bewirkte das „eklatante Missverhältnis“ zwischen den Alternativen „Vergleich“ und „streitigem Gerichtsverfahren“, dass ein freiwilliger Verzicht auf die Garantien des Art. 6 EMRK unmöglich wurde. (b) Die der Rechtsprechung des EGMR entsprechende Judikatur des BGH zur „Sanktionsschere“ Der Deewer-Fall ist auch für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von nationale Strafverfahren abschließenden Vereinbarungen beachtenswert. Zwar wurde die EMRK in das deutsche Recht mittels Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG transformiert747 und hat als völkerrechtlicher Vertrag damit „nur“ den Rang eines Bundesgesetzes, sodass ihre Gewährleistungen nicht den unmittelbaren Prüfungsmaßstab des BVerfG bilden.748 Allerdings dienen sie anerkanntermaßen als Auslegungshilfen für die Bestimmung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes, sofern sie nicht zu einer Einschränkung des Gewährleistungsstandards des Grundgesetzes

745 Die folgende Begründung ist in EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35, §§ 49–54, insb. § 51 (b) nachzulesen. 746 „The moderation rendered the pressure so compelling that it is not surprising that Mr. Deewer yielded.“, EGMR, Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v. Belgien, Serie A Bd. 35, § 51b. 747 Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 7.8.1952, BGBl. 1952 II, 685; in Kraft getreten am 3.9.1953 gem. der Bekanntmachung v. 15.12.1953, BGBl. II 1954, 14; Neubekanntmachung der Konvention in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls, BGBl. II 2002, 1054. 748 BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987, Az. 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85 – Privatklageverfahren, BVerfGE 74, 358 (370), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 29.5.1990, Az. BvR 254/88, 2 BvR 1343/88 – Unschuldsvermutung, BVerfGE 82, 106 (120); Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3408), Rn. 31 (juris).

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führen.749 Dies gebietet die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, die sich aus der Zusammenschau der Präambel, der Art. 23, 24 und 25 Abs. 2 GG sowie aus Art. 59 Abs. 2 GG ergibt.750 Inhalt und Umfang der Gewährleistungen der EMRK werden wiederum maßgeblich vom EGMR bestimmt, der gemäß Art. 32 EMRK zu deren Auslegung berufen ist. Obgleich Urteile des EGMR die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nicht rechtlich binden, wenn sie keine Partei des zugrunde liegenden Verfahrens war (Art. 46 Abs. 1 EMRK), entfalten sie nichtsdestotrotz eine Orientierungswirkung für konventionsgemäßes, hoheitliches Verhalten.751 Staatliche Organe sollten nationales Recht daher unter Berücksichtigung des Gebots der Völkerrechtsfreundlichkeit nach Möglichkeit so anwenden und auslegen, dass kein Konflikt mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsteht. Daher sind nationale Behörden und Gerichte faktisch auch an jene Urteile des EGMR gebunden, die nicht die Bundesrepublik unmittelbar betreffen.752 Der „nemo tenetur“-Grundsatz zählt zum inhaltlichen Kern des in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgten und vom BVerfG überdies anerkannten753 Rechts auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren („fair trail“).754 Das Deewer-Urteil ver749 BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987, Az. 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85 – Privatklageverfahren, BVerfGE 74, 358 (370), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 29.5.1990, Az. 2 BvR 254/88, 2 BvR 1343/88 Unschuldsvermutung, BVerfGE 82, 106 (115), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 14.11.1990, Az. 2 BvR 1462/87 – Bewährungsauflage, BVerfGE 83, 119 (128), Rn. 43 (juris); Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3408), Rn. 32 (juris); ferner: Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 2 Rn. 48; Frenz, Hdb. EuR, Bd. 4, S. 84. Art. 53 EMRK selbst will keinen weitergehenden Schutz nationaler Grundrechte verhindern. 750 BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987, Az. 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85 – Privatklageverfahren, BVerfGE 74, 358 (370), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3408), Rn. 33 (juris); BVerwG, Urt. v. 16.12.1999, Az. 4 Cn 9/98, BVerwGE 110, 203 (210), Rn. 19 (juris); ferner in der Literatur etwa: Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 ff. (18); Frenz, Hdb. EuR, Bd. 4, S. 83 ff. 751 BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3409), Rn. 38 (juris); BVerwG, Urt. v 15.4.1997, Az. 9 C 38/96, BVerwGE 104, 265 (275), Rn. 20 (juris); BVerwG, Urt. v. 16.12.1999, Az. 4 Cn 9/98, BVerwGE 110, 203 (210), Rn. 17 (juris). 752 BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987, Az. 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85 – Privatklageverfahren, BVerfGE 74, 358 (370), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3408 f.), Rn. 38 ff. (juris); BVerwG, Urt. v. 16.12.1999, Az. 4 CN 9/98, NVwZ 2000, 810 (811), Rn. 17 (juris); Beschl. v. 30.7.2001, Az. 4 BN 41/01, NVwZ 2002, 87, Rn. 6 (juris); ferner die h. M. in der Literatur, vgl. etwa: Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, S. 15 ff. (18); Frenz, Hdb. EuR, Bd. 4, S. 86 ff.; Ress, EuGRZ 1996, S. 350 ff. (350); a. A. Cremer, S. 683 ff. (692 ff.) (rechtliche Bindungswirkung). 753 Siehe dazu noch Teil 2 § 4 E. V. 2. b) aa) (S. 255 ff.). 754 EGMR, Urt. v. 8.2.1996, Nr. 18731/91 – John Murray v. Großbritannien, EuGRZ 1996, 587 (590), § 45; Urt. v. 8.4.2004, Nr. 38544/97 – Weh v. Österreich, JR 2005, 423 (424), § 39; Urt. v. 11.7.2006, Nr. 54810/00 – Jalloh v. Deutschland, NJW 2006, 3117

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pflichtet daher zumindest Strafgerichte mittelbar dazu, keine – durch ein „eklatantes Missverhältnis“ zwischen drohender Strafe und angebotener Sanktion bewirkten – zwingenden Vorteile im Rahmen von Vergleichsangeboten zu versprechen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung des Großen Senats des BGH zum „Deal“ im Strafverfahren755 wird dem gerecht. In seinem Grundsatzurteil stellte der Große Senat, der Judikatur des BVerfG folgend,756 fest, dass sich die aufgrund einer Verständigung in Aussicht gestellte, gemilderte Strafe noch in einem angemessenen Verhältnis zum Unrechtsgehalt der Tat, deren Gefährlichkeit und der persönlichen Schuld halten, und sich daher zumindest innerhalb des unteren Rahmens des für vergleichbare Fälle Üblichen bewegen müsse:757 „Die Differenz zwischen der absprachegemäßen und der bei einem „streitigen Verfahren zu erwartenden Sanktion darf nicht so groß sein („Sanktionsschere“), dass sie strafzumessungsrechtlich unvertretbar und mit einer angemessenen Strafmilderung wegen eines Geständnisses nicht mehr erklärbar ist. Dies gilt sowohl für den Fall, dass die ohne Absprache in Aussicht gestellte Sanktion das vertretbare Maß überschreitet, so dass der Angekl. [sic.] inakzeptablem Druck ausgesetzt wird (vgl. BGH, NStZ 2004, 577 = StV 2004, 470), als auch für den Fall, dass das Ergebnis des Strafnachlasses unterhalb der Grenze dessen liegt, was noch als schuldangemessene Sanktion hingenommen werden kann.“ 758

Wie der EGMR stellt der BGH damit zur Feststellung, inwieweit der Angeklagte „inakzeptablem“, mithin also zwingend wirkendem Druck ausgesetzt wird, auf die bestehende Lücke zwischen den drohenden Sanktionen im regulären Strafverfahren und im Verständigungsverfahren ab. Den durch eine „Sanktionsschere“ bewirkten Zwang qualifiziert der BGH, der positivrechtlichen Rechtslage in Deutschland entsprechend, allerdings nicht als faktischen, sondern als rechtlichen Zwang i. S. d. § 136a Abs. 1 S. 3 StPO.759 (3123), § 100; Urt. v. 18.3.2010, Nr. 13201/05, Krumpholz v. Österreich, NJW 2011, 201 202), § 31. 755 Vgl. BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, BGHSt 50, 40 ff. = NJW 2005, 1440 ff. 756 BVerfG, Beschl. v. 24.11.1983, Az. 2 BvR 121/83 – Vorprüfungsausschuss, NJW 1984, 967 f., Rn. 11 (juris); jüngst auch: Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1069), Rn. 113. 757 BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442), Rn. 39 (juris). 758 BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442), Rn. 44 (juris) [kursive Hervorh. durch Verf.]. 759 Dazu statt vieler: Gieg, in: Wabnitz/Janovsky Hdb. d. Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 24. Kapitel Rn. 143; Meyer-Goßner, ZRP 2009, S. 107 ff. (109); Meyer-Goßner, StPO, Vor § 213 Rn. 16; Eschelbach, in: KMR/StPO, Vor § 213 Rn. 86, 138; Schöch, NJW 2004, S. 3462 ff. (3465); Diemer, in: KK/StPO, § 136a Rn. 30 ff.; aus der Rspr.: BGH, Beschl. v. 9.6.2004, Az. 5 StR 579/03, NStZ 2004, 577 (578), Rn. 28 (juris); Beschl. v. 12.1.2005, Az. 3 StR 411/04, NStZ 2005, 393; Urt. v. 27.4.2007, Az. 2 StR 523/06, NStZ 2007, 655 (656 f.), Rn. 11 f. (juris); Beschl. v. 14.8.2007, Az. 3 StR 266/07, NStZ 2008, 170 f., Rn. 6 ff. (juris).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 247

(c) Übertragung der Judikatur des EGMR und des BGH auf das Bußgeldverfahren Die inhaltlich im Wesentlichen übereinstimmende Rechtsprechung des EGMR und des BGH ist auf das behördliche Bußgeldverfahren zu übertragen. Dies gilt für den vom BGH entwickelten Rechtsgedanken der „Sanktionsschere“ bereits deshalb, weil er sowohl auf dem Schuldprinzip als auch auf dem „nemo tenetur“-Grundsatz gründet, die als zentrale rechtsstaatliche Garantien in jeglichen staatlichen Sanktionsverfahren uneingeschränkte Geltung beanspruchen.760 Darüber hinaus bildet das Aussageverweigerungsrecht eine spezifische Teilgewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren,761 dessen Geltung im Bußgeldverfahren vom BVerfG anerkannt wurde.762 Art. 6 EMRK, wie er vom EGMR ausgelegt wurde, findet unmittelbare Anwendung im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren. Zwar schützt Art. 6 EMRK nach seinem Wortlaut nur Personen, gegen die eine strafrechtliche Anklage erhoben wurde, wobei es sich bei der Kartellbehörde weder um ein Gericht handelt,763 noch das Bußgeldverfahren als konventionelles Strafverfahren qualifiziert werden kann.764 Allerdings versteht der EGMR den Begriff „strafrechtlich“ nicht zwingend traditionell. In seiner vielbeachteten Engel-Entscheidung765 stellte er drei Kriterien auf, nach welchen die „strafrechtliche“ Natur einer Sanktion zu beurteilen sei: Erstens müsse die nationale Einordnung der Sanktion berücksichtigt werden, welche zweitens und drittens einer weiteren Überprüfung anhand der Natur der rechtswidrigen Handlung und der Schwere der Sanktion unterliege. Aufgrund der hochgradigen Sozialschädlichkeit der Kartelle, die sowohl den Verbraucher als auch Volkswirtschaf-

760 Zum „Straßenverkehrsordnungswidrigkeitenverfahren“: Krumm, NZV 2011, S. 376 ff. (377). 761 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1069), Rn. 112. 762 Umfassend dazu sogleich: Teil 2 § 4 E. V. 2. b) aa) (S. 255 ff.). 763 Böse, Strafen und Sanktionen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 141; Kindhäuser, in: FK/Kartellrecht, EG-Vertrag, Art. 81 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 112; Tiedemann, in: Vogler, Festschrift für Hans-Heinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, S. 1411 ff. (1415). 764 Der EU wurde bislang keine strafrechtliche Kompetenz überantwortet. Die personalisierte Strafgewalt geht nach wie vor von den unmittelbar durch das Volk legitimierten, nationalen Gesetzgebern aus. Die EU hätte also, selbst wenn sie Kriminalstrafen im Kartellrecht anstrebte, zum derzeitigen Stand keine strafrechtliche Hoheitsgewalt. Siehe insoweit die Protokollerklärung der deutschen Delegation, Ratsdokument 15435/02 ADD 1 v. 10.12.2002; Engelsing/Schneider, in: MK/Europäisches Wettbewerbsrecht, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 12 f.; Kindhäuser, in: FK/Kartellrecht, EG-Vertrag, Art. 81 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 112; Dannecker, in: IM/Europäisches Kartellrecht, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 290. 765 EGMR, Urt. v. 8.6.1976, Nr. 5100 bis 5102/71, 5354/72, 5370/72 – Engel u. a. v Pays Bas, Serie A Bd. 22, § 82.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

ten in ihrer Gesamtheit schädigen,766 und der hohen Eingriffsintensität von Kartellgeldbußen, die wie die Strafe im engen Sinne gezielt repressiv und präventiv eingesetzt werden, ist der Strafcharakter der Geldbuße nach hier vertretener Auffassung eindeutig gegeben.767 Auch der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass die Engel-Kriterien zu einer breiteren Anwendung der strafrechtlichen Garantien der EMRK auf Fälle führen, die im traditionellen Verständnis nicht zum Kriminalstrafrecht gehörten.768 Dazu zählten namentlich auch Verfahren wegen Wettbewerbsverstößen, die zu verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen.769

766 Monti, Fighting Cartels – Why and How?, Rede vor der Dritten Nordischen Konferenz für Wettbewerbspolitik am 11.9.2000 in Stockholm, im Internet abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/00/295&format= HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en (Stand: 31.12.2013); ferner: Teil 2 § 3 B. III. 2. b) (S. 132 ff.). 767 Vgl. Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). Ebenso zu den von der Kommission erlassenen Geldbußen die ganz h. M. in der Literatur: Möschel, DB 2010, S. 2377 ff. (2378 f.) („Alles andere wäre eine Lebenslüge.“); Dannecker, in: IM/Europäisches Kartellrecht, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 295, 299; Dannecker/Fischer-Fritsch, Das EG-Kartellrecht in der Bußgeldpraxis, S. 6 ff.; Kindhäuser, in: FK/Kartellrecht, EG-Vertrag, Art. 81 EG Bußgeldrechtliche Folgen Rn. 112, 114; Tiedemann, in: Vogler, Festschrift für HansHeinrich Jescheck zum 70. Geburtstag, S. 1411 ff. (1417); Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 252; Winkler, Die Rechtsnatur der Geldbuße im Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, S. 80 ff., 86; Schwarze/Weitbrecht, Kartellverfahrensrecht, § 7 Rn. 5 ff., insb. 17 ff.; Marsden, Competition Law International 2/2009, S. 24 ff. (25) („quasi-criminal nature“); Weiß, ECLR 2011, S. 186 ff. (192) („quasicriminal“); für die Qualifikation der Geldbuße als Strafe: Kerse/Khan, EC Antitrust Procedure, Rn. 3-004, 7-008 („criminal“) und Schwarze, EuZW 2003, S. 261 ff. (268), der die Bußgeldbemessung auch als „Strafzumessung“ bezeichnet; Heitzer, Punitive Sanktionen im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 26; Böse, Strafen und Sanktionen im europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 148; Dieckmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 46 Rn. 1; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 21 Rn. 9. Ähnlich die überwiegende Auffassung der Generalanwälte: GA Sharpston, Schlussanträge v. 10.2.2011, Rs. C272/09 P – KME/Kommission, Slg. 2011-0000, Rn. 64; GA Versterdorf, Schlussanträge v. 10.7.1991, Rs. T-1 bis 15/89 – Rhône-Poulenc u. a., Slg. 1991, II-867 (885); GA Colomer, Schlussanträge v. 11.2.2003, verb. Rs. C-204/00 P, C205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P – Buzzi Unicem, Slg. 2004, I-267, Rn. 29; GA Léger, Schlussanträge v. 3.2.1998, Rs. C-185/95 P – Baustahlgewerbe GmbH, Slg. 1998, I-8417, Rn. 31; zurückhaltender: GA Roemer, Schlussanträge v. 19.12.1968, Rs. 14/68 – Walt Wilhelm, Slg. 1969, 1 (24); GA Mayras, Schlussanträge v. 16.6.1975, verb. Rs. 40 bis 48/73 u. a. – Europäische Zuckerindustrie, Slg. 1975, 1663 (2141); GA Kokott, Schlussanträge v. 3.7.2007, Rs. C-280/06 – Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato/Ente tabacchi italiani, Slg. 2007, I-10893, Rn. 71; ähnlich GA Mayras, Schlussanträge v. 29.11.1972, Rs. 7/72 – Boehringer II, Slg. 1972 (1281); ablehnend dagegen: GA Gand, Schlussanträge v. 10.6.1970, Rs. 41/69 – ACF Chemiefarma, Slg. 1970, 661 (706, 726). A. A. auch Ortiz Blanco, EC Competition Procedure, Rn. 11.11 und Frenz, Hdb. EuR, Bd. 2, Rn. 1586, die die verwaltungsrechtliche Art der europäischen Geldbußen und dessen vermeintlich alleinigen Zweck, nämlich die Aufrechterhaltung einer ordnungsgemäßen Verwaltung und der wirksamen Durchsetzung des Unionsrechts hervorheben. 768 EGMR, Urt. v. 21.2.1980, Nr. 8544/79 – Öztürk v Germany, Serie A Bd. 73, § 53; Urt. v. 27.2.1980, Nr. 6903/75 – Deewer v Belgium, Serie A Bd. 35, §§ 41 ff.; Urt. v.

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 249

Nur dieses Ergebnis wird auch den Konsequenzen der dem US-amerikanischen Recht entlehnten, in der deutschen Rechtsprechung schon lange anerkannten770 und nunmehr in Art. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG kodifizierten business judgement rule gerecht.771 Die Vorschrift begründet für den Vorstand einer Aktiengesellschaft ebenso wie für die Geschäftsführung einer GmbH772 einen safe harbour im Hinblick auf eine mögliche gesellschaftsrechtliche Haftung. Danach haftet die Geschäftsführung prinzipiell nur für sorgfaltswidriges Verhalten, nicht aber für jeden mit einem ausgebliebenen Erfolg eingetretenen Schaden. Prinzipiell wird ihr ein weiter Ermessenspielraum zugestanden, der unternehmerisches Handeln erst ermöglicht.773 Die Geschäftsführung kann frei zwischen verschiedenen Alternativen wählen, also auch risikoreiche, womöglich jedoch wirtschaftlich sinnvolle Geschäftsmodelle wählen. Dabei unterliegt sie gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG bzw. § 43 Abs. 1 GmbHG lediglich der Sorgfaltspflicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers. Demgemäß schließt § 93 Abs. 1 S. 2 AktG eine haftungsbegründende Pflichtverletzung aus, wenn die Geschäftsführung auf 25.8.1987, Nr. 9912/82 – Lutz v. Germany, Series A 123, § 55; Urt. v. 1.11.2001, Nr. 34619/97 – Janosevic v. Sweden, ECHR 2002-VII, § 68. 769 EGMR, Urt. v. 23. 11. 2006, Az. 73053/01 – Jussila v Finland, § 43; Urt. v. 27.9.2011, Nr. 43509/08 – Menarini v Italy, §§ 38 ff., insb. § 44; vgl. ferner schon der Bericht der EKommMR v. 30.5.1991 im Fall Société Stenuit v France, Series A No. 232-A, welche die Einschlägigkeit der „strafrechtlichen Anklage“ im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK für ein Kartell-Bußgeldverfahren bejahte. Obgleich der EGMR darauf hinwies, dass der graduelle Unterschied zwischen der Geldbuße und der Kriminalstrafe, der sich im Wesentlichen aus der fehlenden Stigmatisierung bei Geldbußen ergebe, nicht unberücksichtigt bleiben dürfe und die durch Art. 6 Abs. 1 EMRK vermittelten strafrechtlichen Garantien daher nicht in ihrer „absoluten Strenge“ gelten würden, kann dies wohl nicht so verstanden werden, dass damit das zentrale Recht auf Aussageverweigerung gemeint ist. Jedenfalls stellte der EGMR bislang lediglich fest, dass es Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht widerspreche, wenn eine Behörde für die Verhängung der Geldbuße verantwortlich sei, sofern ihre Entscheidung gerichtlich voll überprüfbar bleibe. Vgl. EGMR, Urt. v. 27.9.2011, Nr. 43509/08 – Menarini v Italy, §§ 59 ff.; Urt. v. 23.11. 2006, Az. 73053/01 – Jussila v Finland, § 43; dem EGMR folgend: GA Sharpston, Schlussanträge v. 10.2.2011, Rs. C272/09 P – KME/Kommission, Slg. 2011-0000, Rn. 64 ff.; siehe auch: Pache/Rösch, EuR 2009, S. 769 ff. (786); Weiß, ECLR 2011, S. 186 ff. (190 f.). 770 BGH, Urt. v. 1.4.1997, Az. II ZR 175/95 – ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (253), Rn. 22 (juris); Urt. v. 3.12.2001, Az. II ZR 308/99, NZG 2002, 195 (196), Rn. 9 (juris). 771 Allgemein zur business judgement rule etwa: Fleischer, in: Spindler/Stilz, AktG, § 43 Rn. 24 ff.; Kocher, CCZ 2009, S. 215 ff.; Spindler, in: MK/AktG Bd. 2, § 93 Rn. 35 ff. 772 BGH, Urt. v. 1.4.1997, Az. II ZR 175/95 – ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 ff.; Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG Bd. 2, § 43 Rn. 68; Schneider, in: Scholz, GmbHG II, § 43 Rn. 54; Zöllner/Noack, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, § 43 Rn. 22. 773 BGH, Urt. v. 1.4.1997, Az. II ZR 175/95 – ARAG/Garmenbeck, BGHZ 135, 244 (253), Rn. 22 (juris); Urt. v. 23.6.1997, Az. II ZR 132/93 – Siemens/Nold, BGHZ 136, 133 (140), Rn. 20 ff. (juris).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

der Grundlage angemessener Informationen davon ausgehen durfte, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Zum Wohle der Gesellschaft kann sich nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls auch eine Entscheidung gegen ein Settlement und für eine intensive Verteidigung auswirken. Etwas anderes müsste allerdings angenommen werden, wenn ein Settlement-Angebot nach der Rechtsprechung des EGMR und des BGH eklatant unverhältnismäßig wäre. Dann bestünde eine dringende Gefahr der Haftungsbegründung für den Fall, dass sich die Geschäftsführung gegen eine Kooperation entscheidet, sodass die wirtschaftliche Entschließungsfreiheit der Geschäftsführung beschränkt würde, da das Settlement für diese zwingend wirkte. Dem kann nur durch die Anerkennung der Judikatur des BGH und des EGMR im behördlichen Bußgeldverfahren entgegen gewirkt werden. (d) Existenz einer „Sanktionsschere“ in der Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes? Die Literatur hat sich bislang nicht mit der Frage auseinander gesetzt, inwieweit Settlements des Bundeskartellamtes Zwang im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 3 StPO begründen können. Demgegenüber sind die diesbezüglichen Stellungnahmen zum Settlement-Verfahren der Kommission mit Blick auf das Deewer-Urteil geteilt.774 Zum Teil wird die Rechtmäßigkeit der Gewährung finanzieller Vorteile im Rahmen von Vergleichsverfahren generell bezweifelt.775 Andere erblicken in dem Vergleichsverfahren der Kommission hingegen keinen Widerspruch mit der Rechtsprechung des EGMR, da eine Ermäßigung in Höhe von 10 % angesichts der von der Kommission gewöhnlich verhängten Geldbußen kein „eklatantes Missverhältnis“ bewirken könne.776 Die wohl herrschende Meinung der deutschen Literatur zu Vereinbarungen im Strafprozess lokalisiert die Zulässigkeitsschwelle in Aussicht gestellter Strafreduktionen in etwa bei einem Drittel der zu erwartenden Strafe. Der Anreiz zur Abgabe eines verfahrensbeschleunigenden, glaubhaften Geständnisses müsse sich unterhalb der Grenzen von 20 bis 33 % halten; andernfalls würde nicht nur der Grundsatz schuldangemessenen Strafens missachtet, sondern auch die Gefahr überproportional steigen, dass sich unschuldige Angeklagte dem durch den ange774 Zur nachfolgenden Darstellung schon: Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 762 f. 775 Waelbroeck, in: Gheur/Petit, Alternative enforcement techniques in EC competition law, S. 221 ff. (252 ff.). 776 Wils, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 27 ff. (45). Unter Hinweis darauf, dass die Vorteile des Settlements regelmäßig nicht die Vorteile eines Rechtsmittels übersteigen: Nikpay/Waters, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 499 ff. (506); allgemein auch: Ashworth/Redmayne, The criminal process, S. 316.

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 251

botenen Vorteil bewirkten psychologischen Druck unterwerfen.777 Der BGH und das BVerfG haben diese „mathematische Betrachtung“ der Literatur jüngst abgelehnt; entscheidend seien immer die Verhältnisse des Einzelfalls.778 Der Auffassung des BGH und des BVerfG ist zuzustimmen. In der Tat würde eine pauschale Anwendung eines „Drittel-Maßstabs“ die besonderen Umstände des Einzelfalls ausblenden, die letztlich auch die Basis der vorstehend dargestellten Billigkeitsentscheidungen des BGH und des EGMR bildeten. Bei diesen besteht allgemein das Problem, dass sich generalisierende Aussagen schwer ableiten lassen, da die den Entscheidungen zugrunde liegenden Einzelumstände regelmäßig nicht in anderen Fällen, in der gleichen Art und Kombination, gegeben sein werden und ihre individuelle Gewichtung im Rahmen der Gesamtwürdigung der Gerichte nicht deutlich herausgestellt werden. Als Richtwert ohne Absolutheitsanspruch trägt der von der Literatur vorgeschlagene Maßstab jedoch zu mehr Rechtssicherheit bei und sollte daher nicht gänzlich „verteufelt“ werden. Immerhin hat auch der BGH bei einer im Gegenzug für ein Geständnis angebotenen Strafmilderung um etwa die Hälfte eine eindeutige Grenze zum Zwang festgestellt.779 Ähnlich entschied das BVerfG, das eine übermäßige Differenz jedenfalls bei einer in Aussicht gestellten Verurteilung zu einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe anstelle von drei Jahren Freiheitsstrafe gegeben sah.780 Die Wahrheit wird daher – wie so oft – in der Mitte liegen, sodass im Einzelfall wohl auch eine Sanktionsmilderung von bis zu 50 % zulässig sein kann. Entscheidend ist und bleibt allerdings, ob ein Betroffener angesichts des Angebots überhaupt noch in der Lage ist, eine rationale, selbstbestimmte Entscheidung auf der Grundlage einer Abwägung der Vor- und Nachteile eines „Geständnisses“ zu treffen. 777 Altenhain/Hagemeier/Haimerl, NStZ 2007, S. 71 ff. (78); Schöch, NJW 2004, S. 3462 ff. (3465) („höchstens 30 %“); Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder StGB, § 46 Rn. 41 e; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 19; Altvater, in: Bernsmann/Fischer, Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag am 25. Januar 2011, S. 1 ff. (20). 778 BGH, Beschl. v. 20.10.2010, Az. 1 StR 400/10, NStZ 2011, 592, Rn. 17 (juris); BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1071), Rn. 130. 779 BGH, Beschl. v. 12.1.2005, Az. 3 StR 411/04, StV 2005, 201: „gravierender Unterschied“ bei drei Jahren sechs Monaten gegenüber sechs bis sieben Jahren; ferner Beschl. v. 14.8.2007, Az. 3 StR 266/07, NStZ 2008, 170 f., Rn. 6 f. (juris): „unzulässiges Druckmittel“ bei einem Angebot von 3 1/2 Jahren gegenüber 7 bis 8 Jahren Freiheitsstrafe). Ein derart weitreichender Ahndungsverzicht würde zudem das Schuldprinzip und das öffentliche Ahndungsinteresse negieren. Das Settlement müsste nämlich noch angemessen sein, um einen partiellen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht zu rechtfertigen. Siehe insoweit ausführlich oben: Teil 2 § 4 E. IV. (S. 196 ff.). 780 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1071), Rn. 29, 130. Dem Beschwerdeführer wurde im Falle eines Geständnisses eine Verurteilung wegen zweifachen Raubes in minder schweren Fällen (§ 250 Abs. 3 StGB) anstelle von zweifachen schweren Raubes (§ 250 Abs. 1 StGB) in Aussicht gestellt, wobei die zu bildende Gesamtstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden sollte. Dieses Angebot erscheint bereits angesichts des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO zweifelhaft.

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Um die Frage beantworten zu können, ob im konkreten Einzelfall eine „Sanktionsschere“ vorliegt, darf jedoch, wie der EGMR im Deewer-Fall deutlich machte, nicht allein auf den Sanktionsabstand der Geldbuße im Falle der Fortführung des streitigen Verfahrens von derjenigen im Falle des Eintritts in das Vergleichsverfahren abgestellt werden. Vielmehr hat der EGMR die im Falle eines streitigen Verfahrens entstehenden, durch den Vergleich ausbleibenden, mittelbaren wirtschaftlichen Schäden in seine Erwägungen miteinbezogen. Erst die Kombination beider „Vergünstigungen“ (mildere Geldstrafe und ununterbrochene Fortführung des Geschäfts) bewirkte nach Auffassung des EGMR ein erzwungenes Geständnis des Beschwerdeführers und damit die Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren. Aus diesem Grund ist Bueren im Grundsatz dahingehend zuzustimmen, dass zur Feststellung, ob ein eklatantes Missverhältnis zwischen den Sanktionsalternativen besteht, neben dem offensichtlichen Vorteil der auch von der Kommission gewährten Geldbußenreduktion in Höhe von maximal 10 %, alle mittelbaren Vergünstigungen im Settlementverfahren bzw. alle negativen Konsequenzen im streitigen Verfahren miteinzubeziehen sind.781 Daher muss berücksichtigt werden, wenn mit dem Settlement etwaige Tatbeiträge oder weitere Zuwiderhandlungen geringeren Ausmaßes nicht weiterverfolgt werden, die Verfolgung und Ahndung der Zuwiderhandlung auf den Zeitraum seit der Geltung der Bußgeldleitlinien beschränkt wird und/oder das Bundeskartellamt weitere (indirekte) Ermäßigungen der Geldbuße gewährt, indem es etwa bei der Bußgeldbemessung auf die Ansetzung eines Abschreckungsaufschlags verzichtet bzw. diesen verringert und das Settlement als positives Nachtatverhalten bußgeldmindernd berücksichtigt.782 Eine auf diese Weise kombiniert-reduzierte Geldbuße mag in krassen Einzelfällen zumindest ein starkes Missverhältnis begründen. Ob es darüber hinaus auch „eklatant“ im Sinne einer Sanktionsschere sein würde, ist angesichts der vom BGH bislang erst bei einer Sanktionsmilderung von 50 % festgestellten Grenze eher fraglich, wenngleich auch nicht ausgeschlossen. Hingegen stößt der Vorschlag Buerens, wonach auch indirekte, durch ein Settlement gewährte Vorteile bzw. indirekt aufgrund des regulären Bußgeldverfahrens drohende Nachteile für die Betroffenen in die Gesamtabwägung einzustellen sind,783 auf Bedenken. Diese sind bereits praktischer Natur. Denn wie sollen durch eine streitige Fortführung des Bußgeldverfahrens verursachte etwaige Reputationsverluste, Geschäftseinbußen und ein damit womöglich einhergehender Verlust an Kreditwürdigkeit in Abgrenzung zu vergleichbaren, aber womöglich 781

Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 763. Zum Abschreckungsaufschlag und dem bußgeldmildernden Umstand positiven Nachtatverhaltens: Rn. 15 und 17 der Bekanntmachung Nr. 38/2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 Abs. 4 S. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen – Bußgeldleitlinien – v. 15.9.2006. So auch Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 763 f. 783 Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 763. 782

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weniger weitreichenden Nachteilen im Falle eines Settlements während der Vergleichsgespräche vorhergesehen und noch dazu „beziffert“ werden? Ferner besteht der Schutzzweck des Aussageverweigerungsrechts „nur“ darin vor Zwängen staatlicher Verfolgungsbehörden zu schützen, die von diesen konkret und unmittelbar zurechenbar verursacht worden, also auf gezielten staatlichen Anordnungen, Handlungen oder Unterlassungen beruhen. Es ist allerdings nicht einmal sicher, ob und inwieweit etwa verhandelte, verkürzte oder abgemilderte Stellungnahmen des Bundeskartellamtes sämtliche, von der Geldbuße unabhängige, Negativfolgen abmildern können. Denn oftmals gibt das Bundeskartellamt bereits zum Zeitpunkt der Durchsuchung eine Pressemitteilung heraus; der bloße Verdacht einer Zuwiderhandlung kann jedoch erste negative Konsequenzen nach sich ziehen. Ferner publiziert das Bundeskartellamt, mit oder ohne Settlement, die mit dem Abschluss des Bußgeldverfahrens verhängte Geldbuße und damit die Feststellung, dass die Betroffenen eine Zuwiderhandlung begangen haben. Die Gefahr von Markenschädigungen, Schadensersatzklagen und Geschäftseinbußen besteht daher in beiden Fällen, zumal jedenfalls Art und Dauer der geahndeten Zuwiderhandlung in den Pressemitteilungen und etwaigen Zeitungsberichten regelmäßig offenbart werden. Zuzugeben ist lediglich, dass die preisgegebenen Fakten im Falle eines Settlements womöglich reduzierter sind und der Kurzbescheid für Geschädigte keinen wesentlichen Vorteil zur Erlangung von Beweisen für deren Schädigung mit sich bringt. Doch auch wenn all diese Faktoren im konkreten Fall zur Verhandlungsmasse eines Settlements gehören und – aus einer ex post Sicht – Vergünstigungen für die Betroffenen bewirken, sind diese ex ante nicht messbar und können mangels konkreter Bestimmbarkeit etwaiger Nachteile des streitigen Verfahrens, nicht ins Verhältnis gesetzt werden. Dies ist der Unterschied zum Deewer-Fall, in welchem zumindest klar vorhergesehen werden konnte, dass der Beschwerdeführer bei einer Schließung seines Geschäfts sein (bestimmbares) Einkommen verloren und durch die Pflicht, sein Personal (zumindest für eine gewisse Zeit) weiter bezahlen zu müssen, konkret messbare Schäden erlitten hätte. Würde ein Bußgeldverfahren zu einer vergleichbaren, klar vorhersehbaren Existenzbedrohung eines Betroffenen oder eines Unternehmen führen, müsste das Bundeskartellamt dies berücksichtigen. Dann wäre zweifellos ein „eklatantes Missverhältnis“ zwischen einem Settlement-Angebot und der drohenden Sanktion im streitigen Verfahren anzunehmen, sodass jenen praktisch nur die einzig zwingende Handlungsalternative des Geständnisses verbleibt. cc) Ergebnis Mit dem Angebot eines Settlements stellt es das Bundeskartellamt den von einem Bußgeldverfahren betroffenen natürlichen Personen frei, die vom Bundeskartellamt ermittelten Tatsachen zuzugeben. Das Gleiche gilt auch für Unternehmen. Der Geschäftsführung ist die Wahrnehmung des – nach hier vertretener Auffassung – auch Körperschaften zustehenden Rechts zuzubilligen, „die Aus-

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

sage zu verweigern“, sodass die Geschäftsführung das Unternehmen nicht belasten muss. Die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes zielt nicht auf die Verletzung dieses Schweigerechts. Im Regelfall bewirken Settlements keinen rechtlichen Zwang zum Geständnis. Zum einen droht Betroffenen bei streitiger Fortführung des Bußgeldverfahrens keine Schlechterstellung, da das Bundeskartellamt das Schweigen der Betroffenen zutreffend nicht als bußgeldschärfenden Umstand wertet. Zum anderen führt das Angebot, die Geldbuße im Gegenzug für ein Settlement um bis zu 10 % zu reduzieren und den Verfahrensgegenstand partiell einzugrenzen, regelmäßig nicht zu psychologischen Zwang in dem Sinne, dass der Verzicht auf ein Settlement aus Sicht des Betroffenen wegen der angebotenen Vorteile und andernfalls drohenden Nachteile keine praktisch realisierbare Option mehr ist. Nur in krassen Ausnahmefällen mag ein Settlementangebot zwingend im Sinne des § 136a Abs. 1 S. 3 StPO sein. Dies ist einerseits der Fall, wenn das Bundeskartellamt einen gesetzlich unzulässigen Vorteil anbietet, etwa eine – unter Missachtung des Rechtsgedankens des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO – sich in der Bußgeldbemessung milder auswirkende, rechtliche Würdigung. Folgt man der Rechtsprechung des EGMR und des BGH entsteht Zwang zweitens, wenn ein Vergleich zwischen der im regulären Bußgeldverfahren drohenden und der im Settlement-Verfahren angebotenen Sanktion ein eklatantes Missverhältnis offenbart. Eine solches wird man allerdings erst bei einer übermäßigen Beschränkung des Verfahrensgegenstands und/oder einer weiteren, verdeckten Bußgeldreduzierung, neben der ohnehin gewährten, offenen Bußgeldreduktion von bis zu 10 %, annehmen können, wobei indirekte, nicht dem Bundeskartellamt zurechenbare Vergünstigungen außer Betracht bleiben. Jedenfalls besteht eine „Sanktionsschere“ zweifellos dann, wenn, wie im Deewer-Fall, die Existenz des Betroffenen bei Verzicht auf ein Settlement bedroht ist, oder, entsprechend der Rechtsprechung des BGH zu Verständigungen im Strafprozess, wenn das Bundeskartellamt ein Settlement anbietet, das die wohl absolute Grenze addierter Vergünstigungen von rund 50 % der andernfalls, d.h. bei streitiger Fortführung des Bußgeldverfahrens, drohenden Sanktionen erreicht. Nur in diesen Fällen wird man eindeutig davon ausgehen können, dass die Betroffenen nicht mehr zu einer autonomen Entscheidung fähig sind. Der nicht zu bestreitende Anreiz von Vergünstigungen unterhalb dieser Schwellen kann nicht mit „Zwang“ gleichgesetzt werden. Zwar besteht gleichwohl die Gefahr, dass sich (unbesonnene) Betroffene quasi ad hoc für ein Geständnis entscheiden, obgleich sie womöglich gute Verteidigungsaussichten hätten. Dies unterliegt allerdings dem Risikobereich der Betroffenen. b) Die „Pflicht“ zum Verzicht auf volle Akteneinsicht und „formelle“ Anhörung Das Bundeskartellamt verlangt im Settlement-Verfahren von den Betroffenen in der Regel, dass diese auf vollständige Akteneinsicht verzichten.784 Einblick in die „wichtigsten“ Beweismittel werde nichtsdestotrotz gewährt, soweit dies nicht

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sonstige Ermittlungen in dem Verfahren gefährde. Zur Vorbereitung auf die Settlement-Gespräche werde den Betroffenen zumindest eine Kurzzusammenfassung der ersten Ermittlungsergebnisse zugesandt.785 Die Anhörung finde in der Regel durch die Zusendung des Kurzbescheides statt.786 Diese der Verfahrensbeschleunigung dienenden Forderungen des Bundeskartellamtes zielen auf die Beschränkung des Anspruchs der Betroffenen auf rechtliches Gehör. aa) Bedeutung und Umfang des Gehörsrechts im Bußgeldverfahren Der Anspruch auf rechtliches Gehör vor den Gerichten ist als grundrechtsgleiches Prozessrecht in Art. 103 Abs. 1 GG verankert.787 Nach allgemeiner Meinung erfasst das Recht drei Verwirklichungsstufen: erstens das eigentliche Anhörungsrecht, zweitens die zu seiner Absicherung im Vorfeld bestehende Informationspflicht des Gerichts und drittens die Beachtenspflicht des Gerichts im Nachgang der Anhörung.788 Die Informationspflicht zwingt das Gericht nicht nur zur Mitteilung über die Einleitung, den Inhalt und Stand des Verfahrens, sondern gewährt den Betroffenen auch ein Recht auf Einsicht in die Gerichtsakten.789 Obgleich der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG behördliche Verfahren explizit nicht erfasst,790 besteht Einigkeit darüber, dass das Gehörsrecht in den dargestellten Ausprägungen auch für behördliche Verfahren im Rechtsstaatsprin784 Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 4. 785 Fallbericht Kaffeeröster v. 14.1.2010, Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 3. 786 Fallbericht Kaffeeröster v. 14.1.2010, Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 4. 787 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 3. 788 St. Rspr., vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 9.2.1982, Az. 1 BvR 1379/80, BVerfGE 60, 1 (5), Rn. 16 (juris); Urt. v. 18.4.1984, Az. 1 BvR 869/83, BVerfGE 67, 39 (41), Rn. 9 (juris); Beschl. v. 30.1.1985, Az. 1 BvR 876/84, BVerfGE 69, 145 (148), Rn. 11 (juris); Urt. v. 8.7.1997, Az. 1 BvR 1621/94, BVerfGE 96, 205 (216), Rn. 43 (juris); Beschl. v. 26.6.2002, Az. 1 BvR 670/91 – Psychosekte, BVerfGE 105, 279 (311), Rn. 99 (juris); Beschl. v. 7.12.2006, Az. 2 BvR 722/06, BVerfGK 10, 41 (45), Rn. 22 (juris); zuletzt Beschl. v. 20.9.2012, Az. 1 BvR 1633/09, Rn. 11 (juris); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 69 m.w. N. 789 BVerfG, Ents. v. 9.3.1965, Az. 2 BvR 176/63, BVerfGE 18, 399 (405), Rn. 18 ff. (juris); Urt. v. 12.1.1983, Az. 2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45 (60), Rn. 47 ff. (juris); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 74; Kunig, in: v. Münch/ Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 15; Rüping, in: BK/GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 29. 790 BVerfG, Ents. v. 14.10.1969, Az. 1 BvR 30/66 – verzögerte Postauslieferung, BVerfGE 27, 88 (103), Rn. 44 (juris); Urt. v. 5.3.1974, Az. 1 BvR 712/68 – Schallplattenumsatzsteuer, BVerfGE 36, 321 (330), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 18.1.2000, Az. 1 BvR 321/96 – faires Verfahren, BVerfGE 101, 397 (404), Rn. 26 (juris); Kunig, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 5; ders., Das Rechtstaatsprinzip, S. 373; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 62; Meyer-Goßner, StPO, Einleitung Rn. 25; zweifelnd Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 121; a. A. wohl Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 63; Klose, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 53 Rn. 94.

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zip,791 der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde792 und den Grundrechten793 verankert ist.794 Das BVerfG ordnet den Anspruch auf rechtliches Gehör dem durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Rechtsstaatsprinzip795 gewährleisteten Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren („fair trail“) zu.796 Niemand dürfe zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht werden; ihm müsse daher die Möglichkeit gegeben werden, vor einer seine Rechte berührenden Entscheidung zu Wort zu kommen. Damit erhebt das BVerfG die in Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Ausdruck kommenden Einzelgewährleistungen797 einfachgesetzlichen Rangs, nämlich insbesondere das Recht auf Akteneinsicht,798 das Recht auf Anhörung799 und den Gedanken der Waffengleichheit800 in den Rang verfassungsrechtlicher Prozessgrundrechte.801 791 Amtliche Begründung zum Entwurf des VwVfG, BT-Drs. 7/710, S. 51; BVerfG, Beschl. v. 8.1.1959, Az. 1 BvR 396/55 – Haftbefehlsverfahren, BVerfGE 9, 89 (95), Rn. 22 (juris); Ents. v. 14.10.1969, Az. 1 BvR 30/66 – verzögerte Postauslieferung, BVerfGE 27, 88 (103), Rn. 44 (juris); Beschl. v. 18.1.2000, Az. 1 BvR 321/96 – faires Verfahren, BVerfGE 101, 397 (404), Rn. 24 (juris). 792 Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 63; Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 121. 793 Zum Teil wird hier auf spezielle Gewährleistungen abgestellt, zum Teil auf eine allgemeine verfahrensrechtliche Schicht der Grundrechte. Zum Ganzen: Kunig, Das Rechtstaatsprinzip, S. 373 ff. 794 Zur Geltung des Rechts auf ein faires Verfahren im Bußgeldverfahren: BVerfG, Beschl. v. 19.3.1992, Az. 2 BvR 1/91, NJW 1992, 2472, Rn. 23 (juris); Beschl. v. 8.12. 2004, Az. 2 BvR 52/02, NJW 2005, 1344 (1345), Rn. 35 (juris). 795 Zum Teil auch i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.1.1959, Az. 1 BvR 396/55 – Haftbefehlsverfahren, BVerfGE 9, 89 (95), Rn. 22 (juris); Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, BVerfGE 57, 250 (274 f.), Rn. 64 (juris). 796 BVerfG, Beschl. v. 8.1.1959, Az. 1 BvR 396/55 – Haftbefehlsverfahren, BVerfGE 9, 89 (95), Rn. 22 (juris); BVerfG, Ents. v. 14.10.1969, Az. 1 BvR 30/66 – verzögerte Postauslieferung, BVerfGE 27, 88 (103), Rn. 44 (juris); Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, BVerfGE 57, 250 (274 f.), Rn. 64 (juris); Beschl. v. 18.1.2000, Az. 1 BvR 321/96 – faires Verfahren, BVerfGE 101, 397 (404), Rn. 24 (juris); Beschl. v. 19.2.2007, Az. 1 BvR 510/03, Rn. 11 (juris). 797 Zu diesen vertiefend: Paeffgen, in: SK-StPO X, Art. 6 EMRK Rn. 50 ff.; Gollwitzer, in: LR/StPO Bd. 11, 26. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 55 ff. 798 EGMR, Urt. v. 28.8.1991, Nr. 1170/84, 12876/87, 13468/87 – Brandstetter/Österreich, NJW 1992, 3085 (nicht abgedr.), §§ 67 ff.; Urt. v. 18.3.1997, Nr. 22209/93 – Foucher/Frankreich, Slg. 1997-II Nr. 36, §§ 32 ff.; Urt. v. 14.5.2005, Nr. 39553/02 – Menet/Frankreich, §§ 41 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 115. 799 EGMR, Urt. v. 28.8.1991, Nr. 1170/84, 12876/87, 13468/87 – Brandstetter/Österreich, NJW 1992, 3085 (3087), § 52; Urt. v. 13.7.2006, Nr. 17671/02 – Ressegatti/ Schweiz, §§ 13 ff.; zum Ganzen Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 101 ff. 800 EGMR, Ents. v. 22.2.1996, Nr. 17358/90 – Bulut/Österreich, Slg.1996-II, 359, § 47; Gollwitzer, in: LR/StPO Bd. 11, 26. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 64 ff.; Paeffgen, in: SK-StPO X, Art. 6 EMRK Rn. 79 ff.; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 179 f. m.w. N. 801 So wohl auch Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 73.

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Für das Bußgeldverfahren hat der Gesetzgeber zudem einfachrechtliche Konkretisierungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör geschaffen. § 55 Abs. 1 OWiG statuiert für Betroffene eines Bußgeldverfahrens das Recht, sich zur Beschuldigung der Verfolgungsbehörde äußern zu dürfen. Die Anhörung hat gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 163a Abs. 1 StPO vor dem Abschluss der Ermittlungen zu erfolgen, sofern das Verfahren nicht gänzlich eingestellt wird.802 Zudem ist Betroffenen Einsicht in die Akten der Verfolgungsbehörde zu gewähren (§ 46 OWiG i.V. m. § 147 StPO). bb) Beschränkung des Gehörsrecht durch Settlements Im regulären Bußgeldverfahren stellt das Bundeskartellamt den Betroffenen zumeist nach Abschluss seiner Ermittlungen ein Beschuldigtenschreiben zu. Darin präzisiert es seinen Tatvorwurf, mit dem es die Unternehmen und betroffenen natürlichen Personen bereits bei seinen Ermittlungsmaßnahmen konfrontiert hat, und erläutert die den Tatvorwurf stützenden Beweise. Mit dem Beschuldigtenschreiben wird den Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer gleichzeitig festgesetzten Frist gegeben. Da das Beschuldigtenschreiben regelmäßig mit Abschluss der Ermittlungen im Sinne des § 61 OWiG versendet wird, ist jedenfalls zu diesem Zeitpunkt auch Akteneinsicht zu gewähren, da die Ermittlungen des Bundeskartellamtes nicht mehr gefährdet werden können (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 147 Abs. 1, 2 StPO). Im Settlement-Verfahren sollen die kooperierenden Betroffenen demgegenüber auf eine vollständige Akteneinsicht verzichten. Finden Settlement-Gespräche vor Versendung des Beschuldigtenschreibens statt, behält sich das Bundeskartellamt außerdem vor, selbst die Einsicht in die „wichtigsten“ Beweismittel zu versagen, wenn dadurch das Bußgeldverfahren gefährdet werden könnte. Dies hat selbstredend Auswirkungen auf die sachgerechte Ausübung des Anhörungsrechts, da sich Betroffene mangels Akteneinsicht kein Bild über die Belastungssituation machen können. Die Anhörung soll zudem nur aufgrund des Kurzbußgeldbescheides stattfinden, der lediglich die gemäß § 66 OWiG notwendigen Angaben, insbesondere den Tatvorwurf, nicht aber die umfassende Beweisführung und Begründung, enthält. De facto findet die Anhörung zwar zum Teil zu einem früheren Zeitpunkt statt. Im Rahmen der Settlement-Gespräche ist nämlich nicht nur vorgesehen, dass das Bundeskartellamt den Settlement-Vorschlag vorstellt, sondern darüber hinaus auch, dass Betroffene zum Tatvorwurf und zum Sachverhalt Stellung nehmen können.803 Wurde ihnen bereits ein ausführliches Beschuldig-

802 Griesbaum, in: KK/StPO, § 163a Rn. 1, 41; Meyer-Goßner, StPO, § 163a Rn. 3; Wache, in: KK/OWiG, § 55 Rn. 3; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 239. 803 Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (18).

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tenschreiben zugesandt, können sich die Betroffenen auch intensiv auf die Gespräche vorbereiten, da sie einen umfassenden Überblick über die gegen sie erhobenen Vorwürfe gewinnen und zumindest die Beweislage vage einschätzen können. Finden Settlements-Gespräche demgegenüber nach Versendung einer bloßen Kurzzusammenfassung statt, ist die Situation freilich anders. Informationen werden dann nur „stückchenweise“ in den Gesprächen offenbart, was den Betroffenen die Stellungnahme erschwert. In beiden Fällen ist jedenfalls eine umfassende Äußerung mangels unbegrenzter Akteneinsicht eingeschränkt. Dementsprechend wird das Akteneinsichtsrecht und – jedenfalls teilweise – auch das Anhörungsrecht der Betroffenen beschränkt. cc) Kein Eingriff wegen wirksamem Verzicht auf die Ausübung des Gehörsrechts Da die Beschränkung des Akteneinsichts- und Anhörungsrechts auf eine – vom Bundeskartellamt zur Bedingung für ein Settlement gemachte – Einwilligung der Betroffenen zurückgeht, stellt sich die Frage, ob diese auf ihr – Prozessgrundrechten gleich stehendes – Recht auf Akteneinsicht und Anhörung wirksam verzichten können. Obgleich bei weitem noch nicht alle Einzelprobleme geklärt sind, herrscht heute weitgehend Einigkeit, dass die Verfügung über Grundrechtspositionen eine wesentliche Form der Grundrechtsausübung darstellt.804 Um der personellen Selbstbestimmung und freien Entfaltung der Persönlichkeit willen existiert grundsätzlich keine Pflicht zur Ausübung des Grundrechts, und mehr noch, keine Pflicht zu dessen vernünftigen Gebrauch.805 Aus diesem Grund können Grundrechtsträger auf die Ausübung ihrer der freien persönlichen Entfaltung dienenden Grundrechte jedenfalls im konkreten Einzelfall, nicht aber insgesamt und für alle Zeit, verzichten und in eine Grundrechtsbeschränkung einwilligen.806 Mit einer wirksamen Einwilligung besteht dann trotz der Beschränkung des Grundrechts kein Grundrechtseingriff.807 Ein wirksamer „Grundrechtsver804 Siehe u. a.: Bleckmann, JZ 1988, S. 57 ff. (58 f.); Stern, in: StR III/2, § 86; Spieß, Der Grundrechtsverzicht, passim; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 228 ff.; Sachs, VerfR II, A 8 Rn. 34 ff.; Dreier, in: Dreier, GG I, Vorbe. Rn. 129; Merten, in: Merten/Papier Hdb. GR III, § 73; Bethge, in: Isensee/Kirchhof HStR IX, § 203; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 146 ff.; Epping, GR, Rn. 111; Hillgruber, in: BeckOK GG, Art. 1 Rn. 74 f.; Sachs, GG, Vor Art. 1 Rn. 54 ff.; Dieterich/Schmidt, in: ErfK/ArbR, Einleitung Rn. 63; jeweils m.w. N.; aus der Rspr. etwa VGH BW, Beschl. v. 23.7.2010, Az. 1 S 501/10, MMR 2011, 277 (278), Rn. 25 (juris); a. A. noch BVerwG, Urt. v. 22.2.1962, Az. II C 145/59, NJW 1962, 1532 (1534), Rn. 42 (juris). 805 Sachs, GG, Vor Art. 1 Rn. 57; Dieterich/Schmidt, in: ErfK/ArbR, Einleitung Rn. 63. 806 Vgl. die Nachweise in Fn. 804. 807 VGH BW, Beschl. v. 23.7.2010, Az. 1 S 501/10, MMR 2011, 277 (278), Rn. 25 (juris); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 69; Epping, GR, Rn. 111; a. A. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, Art. 2 Rn. 55 f.

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zicht als Grundrechtsgebrauch“ 808 setzt nach allgemeiner Auffassung voraus, dass das Grundrecht erstens nicht auch öffentlichen Interessen zu dienen bestimmt ist, der Grundrechtsträger zweitens einwilligungsfähig ist, er sich drittens nicht seiner Menschenwürde beraubt, und viertens freiwillig in die Grundrechtsbeschränkung einwilligt.809 Obgleich das Gehörsrecht nach der Auffassung des BVerfG auch im Rechtsstaatsprinzip verankert ist, dient das Akteneinsichts- und Anhörungsrecht überwiegend der effektiven Verteidigung der Betroffenen im Bußgeldverfahren.810 Zwar trägt die Anhörung auch zur Erforschung der Wahrheit bei und dient damit auch öffentlichen Interessen. Wenn sich Betroffene allerdings dazu entschließen, von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, wird dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung womöglich auch nicht (gänzlich) entsprochen. Dies ist jedoch hinzunehmen, da das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, als grundgesetzlich geschütztes Recht das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt. Folgerichtig ist auch der Verzicht zur Ausübung seiner Rechte zu respektieren, da es keinen Unterschied macht, ob der Betroffene schlicht schweigt oder ausdrücklich erklärt, nichts zu erklären. Der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens ist zudem dadurch Genüge getan, dass den Betroffenen die Wahl bleibt, sich für das Recht zur Akteneinsicht und zur Stellungnahme im Rahmen eines streitigen Bußgeldverfahrens zu entscheiden. Dieses Recht wird durch die Offerte zum Abschluss eines Settlements nicht beschnitten. Willigen Betroffene in die Beschränkung des Gehörsrechts ein, berauben sie sich ferner nicht ihrer Menschenwürde. Zwar ist das Prozessrecht auch Ausfluss der Menschenwürde, da niemand zum bloßen Objekt staatlicher Verfahren gemacht werden darf,811 allerdings würde man Betroffene bei Versagung der Verzichtsmöglichkeit faktisch zu einer Stellungnahme und Akteneinsicht zwingen. Dies würde wiederum dem „nemo tenetur“-Grundsatz widersprechen und gegebenenfalls die 808

Geiger, NVwZ 1989, S. 35 ff. (36 f.). Vgl. etwa, vereinzelt mit leichten Abweichungen: Bleckmann, JZ 1988, S. 57 ff. (58 f.); Jarass, NJW 1989, S. 857 ff. (860); Stern, StR III/2, § 86 II; Hillgruber, in: BeckOK GG, Art. 1 Rn. 74; Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, Rn. 149 ff.; Epping, GR, Rn. 111 ff.; Sachs, VerfR II, A 8 Rn. 37 ff.; Sachs, GG, Vor Art. 1 Rn. 52 ff.; Dieterich/ Schmidt, in: ErfK/ArbR, Einleitung Rn. 64 ff.; jeweils m.w. N.; speziell zur Schranke des Wesensgehalts der Grundrechte, der Unantastbarkeit der Menschenwürde: BVerfG, Urt. v. 21.6.1977, Az. 1 BvL 14/76, BVerfGE 45, 187 (229), Rn. 146 (juris) („Die Würde des Menschen ist etwas Unverfügbares.“); BVerwG, Urt. v. 15.12.1981, Az. 1 C 232/79, NJW 1982, 664 (665), Rn. 22 (juris); Urt. v. 17.10.2000, Az. 2 WD 12/00, 2 WD 13/00, NJW 2001, 2343 (2344), Rn. 3 (juris); BSG, Urt. v. 6.5.2009, Az. B 11 AL 11/08, NJW 2010, 1627 (1630), Rn. 25 (juris); weitergehend (genereller Grundrechtsverzicht möglich): Geiger, NVwZ 1989, S. 35 ff. 810 Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 45; Wache, in: KK/ OWiG, § 55 Rn. 4. 811 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.1.1959, Az. 1 BvR 396/55 – Haftbefehlsverfahren, BVerfGE 9, 89 (95), Rn. 22 (juris); Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, BVerfGE 57, 250 (274 f.), Rn. 64 (juris). 809

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

allgemeine Handlungsfreiheit Betroffener unnötig beschränken, wenn diese die vorgeworfene Ordnungswidrigkeit etwa von vornherein einräumen und das von der Behörde verhängte Bußgeld akzeptieren. Dies offenbart den vordergründigen Zweck des Gehörsrechts, nämlich der freien Entfaltung der Persönlichkeit durch Gewährung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten zu dienen. Daher ist allgemein anerkannt, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör den Betroffenen eines Bußgeldverfahrens zwar ein Recht gewährleistet, nicht aber eine Pflicht zur Stellungnahme und zur Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts.812 Die Gewährleistungen des Gehörsrechts dienen den Betroffenen; ihre Ausübung geschieht in ihrem eigenen Interesse.813 Daher können Betroffene eines Kartell-Bußgeldverfahrens ihr Recht auf rechtliches Gehör auch „verwirken“, sofern sie ihrer Obliegenheit nicht fristgerecht nachkommen. Dann muss folgerichtig auch ein freiwilliger, ausdrücklicher oder konkludenter Verzicht auf das Gehörsrecht möglich sein.814 Im Settlement-Verfahren erfolgt, die Einwilligungsfähigkeit der Betroffenen unterstellt, der Verzicht auf die Ausübung des Akteneinsichts- und Stellungnahmerecht auch freiwillig. Die Entscheidung der Betroffenen basiert nicht auf einer Täuschung durch das Bundeskartellamt. Im Regelfall kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Settlementangebot unzulässigen, rechtlichen Zwang bewirkt. Insoweit kann uneingeschränkt auf die Ergebnisse aus dem vorhergehenden Abschnitt zum „nemo tenetur“-Grundsatz verwiesen werden.815 dd) Ergebnis Das Settlement-Verfahren des Bundeskartellamtes führt zu keiner Verletzung des verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs der Betroffenen auf rechtliches Gehör. Das Gehörsrecht vermittelt ihnen ein Recht, nicht aber die Pflicht zur Stellungnahme und Akteneinsicht. Daher können sie – vollständig oder teilweise – darauf verzichten, Einblick in die Akten des Bundeskartellamtes zu nehmen und sich zu der ermittelten Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot zu äußern. Das vom Bundeskartellamt im Gegenzug für den Gehörsverzicht angebotene Settlement begründet in der Regel keinen die Freiwilligkeit ausschließenden Zwang bei den Betroffenen. Eine den wirksamen Verzicht auf das Gehörsrecht 812 BVerwG, Beschl. v. 29.4.1983, Az. 9 B 1610/81, NVwZ 1983, 668 f., SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 81 ff. m.w. N. 813 BVerwG, Beschl. v. 29.4.1983, Az. 9 B 1610/81, NVwZ 1983, 668 f., Rn. 4 (juris); BSG, Urt. v. 11.3.1982, Az. 5b/5 RJ 150/80, NVwZ 1983, 576, Rn. 13 (juris); BFH, Urt. v. 5.10.1967, Az. V B 29/67, NJW 1968, 1111 (1112), Rn. 5 (juris). 814 Wache, in: KK/OWiG, Vor § 53 Rn. 63. Dies gilt auch für das durch die GRCh (Art. 41, 48) verbürgte Gehörsrecht, hierzu umfassend Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 746 ff.; zur Verzichtbarkeit der Menschenrechte der EMRK: EGMR, Urt. v. 25.2.1992, Nr. 10802/84 – Pfeifer u. Plankl/Österreich, NJW 1992, 1873 f., §§ 37 ff. 815 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 261

ausschließende Zwangslage ist nur in dem Fall gegeben, in dem ein grobes Missverhältnis zwischen der durch das Settlement gewährten Sanktion und der im streitigen Bußgeldverfahren „regulär“ erlassenen Geldbuße besteht. c) Die Stellung der Betroffenen im Falle des Scheiterns des Settlements Verläuft ein Settlement-Verfahren ohne Komplikationen, weil sich das Bundeskartellamt und die Betroffenen einig sind, und die vorstehend für relevant erachteten Bedingungen eingehalten werden, birgt es jedenfalls aus Sicht der Betroffenen keine rechtsstaatliche Probleme. Doch was passiert, wenn die Verfahrensbeteiligten während oder mit Abschluss des Settlement-Verfahrens ihre Meinung ändern und von einem (geplanten) Settlement Abstand nehmen wollen? Um die Stellung der Betroffenen im Settlementverfahren bewerten zu können, ist entscheidend, welche Rechtswirkungen von den abgegebenen Erklärungen der Verfahrensbeteiligten, vor allem vom Settlement-Vorschlag des Bundeskartellamtes und von dem Geständnis der Betroffenen ausgehen. Diese Frage ist noch weitgehend ungeklärt. Ihr hat sich auch das Bundeskartellamt in seinen veröffentlichten Eckpunkten bislang nicht angenommen. Allerdings äußerte sich der Kartellbeamte Vollmer in einem Aufsatz und verwies weitestgehend auf die strafprozessuale Rechtslage.816 Auf seine Argumentation wird zurückzukommen sein, wenn im Folgenden – mangels expliziter gesetzlicher Regelungen für das Bußgeldverfahren – auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Verfahrensrechte zurückgegriffen wird, um die Stellung der Betroffenen im Settlement-Verfahren, insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Bindungswirkungen der von den Verfahrensbeteiligten abgegebenen Erklärungen, untersucht wird. Dabei sind vor allem das Recht der Betroffenen auf ein faires Verfahren und der Vertrauensgrundsatz zu berücksichtigen. Zeitlich unterscheidet die Arbeit grob zwischen den Verfahrensabschnitten „vor“ und „nach“ Abgabe des Geständnisses. aa) Bindungswirkungen vor Abgabe des Geständnisses Innerhalb der Diskussionsphase sind zwei Szenarien denkbar: Die Betroffenen erkennen für sich keine ausreichenden Vorteile und ziehen sich aus den Gesprächen zurück, oder aber das Bundeskartellamt will die Gespräche einstellen, weil es beispielsweise keinen Fortschritt erkennt. Ebenso ist vorstellbar, dass das Bundeskartellamt nach seinen Ermittlungsmaßnahmen von vornherein ein Settlement-Verfahren ablehnt, den Betroffenen eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung also gar nicht erst anbietet. In den beiden letztgenannten Fällen stellt sich die Frage, inwieweit Betroffene womöglich einen Anspruch auf (1) Durchführung und (2) Fortführung eines Settlement-Verfahrens haben. Umgekehrt ist 816

Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff.

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zu problematisieren, ob und wie sich Betroffene von möglichen Einlassungen während der Diskussionsphase lösen können (3). (1) Anspruch auf Durchführung/Wechsel in ein Settlementverfahren? Settlements sind eine Form ausgeübten Verfolgungsermessens durch das Bundeskartellamt.817 Es obliegt also dem pflichtgemäßen Ermessen der Kartellbehörde, ob sie ein Settlementverfahren durchführt oder nicht. Damit haben Betroffene eines regulären Kartell-Bußgeldverfahrens grundsätzlich keinen Anspruch auf Modifizierung des Verfahrens in die beschleunigte Variante des Settlementverfahrens.818 Ob ihnen zumindest ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Bundeskartellamtes zukommt, ist zweifelhaft.819 Settlements berühren zwar auch die finanziellen Interessen der Betroffenen, da sie zu einer Abmilderung drohender Vermögensschäden durch Bußgeldreduktion und etwa der Erschwerung von privaten Schadensersatzklagen führen. Allerdings gesteht die ganz herrschende Meinung dem Bürger kein allgemeines subjektiv-öffentliches Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung zu, sondern macht dessen Gewährung davon abhängig, dass der gesetzliche Tatbestand der Ermessensnorm zumindest auch den individuellen Interessen des Bürgers zu dienen bestimmt ist820 und diesem einen Anspruch gewähren will.821 Dies sei insbesondere anzunehmen, wenn Grundrechte auf die Ermessensnorm ausstrahlen und bei ihrer Auslegung maßgeblich zu berücksichtigen sind,822 nicht jedoch, wenn der Einzelne nur mit817

Vgl. Teil 2 § 4 E. II. (S. 192 ff.). Dies ist soweit ersichtlich unstreitig. Vgl. nur Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (16); indirekt Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (355). Gleiches gilt im europäischen Settlementverfahren, vgl. die Settlement-Mitteilung der Kommission, Rn. 6. 819 So aber Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 874 ff. zum Settlement-Verfahren der Kommission. 820 Sog. Schutznormtheorie. Vgl. etwa BVerfG, Ents. v. 17.12.1969, Az. 2 BvR 23/65 – Zweitbescheid, BVerfGE 27, 297 (307), Rn. 29 (juris); Beschl. v. 27.4.1971, Az. 2 BvR 708/65, BVerfGE 31, 33 (39 f.), Rn. 20 (juris); BVerfGE 116, 1 (11 f.), Rn. 29 ff. (juris); Beschl. v. 26.4.2010, Az. 2 BvR 2179/04, NVwZ-RR 2010, 555 (557), Rn. 35 (juris); BVerwG, Urt. v. 22.1.1971, Az. VII C 48.69, BVerwGE 37, 112 (113), Rn. 14 (juris); Urt. v. 7.1.1972, Az. IV C 49.68, BVerwGE 39, 235 (237), Rn. 36 (juris); Urt. v. 4.11.1976, Az. II C 40.74, BVerwGE 51, 264 (267), Rn. 28 (juris); Urt. v. 26.9.2002, Az. 3 C 9/02, NJW 2003, 601 (602), Rn. 8, 10 (juris); Beschl. v. 17.7.2012, Az. 1 WB 56/11, Rn. 32 f. (juris); zum Ganzen, jeweils m.w. N. Wahl/Schütz, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, § 42 Rn. 84 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 131 ff. 821 Zu dem Kriterium der intendierten Durchsetzbarkeit individueller Interessen bei Ermessensnormen insb. BVerwG, Urt. v. 24.9.1998, Az. 4 CN 2/98, BVerwGE 107, 215 (220), Rn. 14 ff. (juris); Urt. v. 28.6.2000, Az. 11 C 13/99, BVerwGE 111, 276 (280), Rn. 33 (juris). 822 BVerfG, Beschl. v. 9.1.1991, Az. 1 BvR 207/87 – Pensionistenprivileg, BVerfGE 83, 182 (194), Rn. 44 ff. (juris); BVerwG, Urt. v. 23.9.1992, Az. 6 C 2/91, BVerwGE 91, 24 (39 f.), Rn. 23 ff. (juris); ferner Sachs, GG, Vor Art. 1 Rn. 32 f. m.w. N. 818

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 263

telbar, aus Gründen des Allgemeininteresses, quasi aus Reflex begünstigt wird.823 Genau dies hat die Auslegung des § 47 Abs. 1 OWiG, der hier als zulässige Ermächtigungsgrundlage für Settlements erachtet wurde,824 jedoch ergeben. Die Vorschrift dient der Durchsetzung des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts im öffentlichen Interesse.825 Die mit dem Settlement-Verfahren verbundene Chance auf Reduzierung der finanziellen Nachteile für die Betroffenen und Unternehmen bildet lediglich den Reflex zu der im öffentlichen Interesse getroffenen Entscheidung, zum Zwecke verbesserter Effektivität des Wettbewerbsschutzes von einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen Gebrauch zu machen. Die gewährten Vorteile sind lediglich Mittel zum Zweck. Dementsprechend wird man einen (durchsetzbaren) Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Durchführung eines Settlementverfahrens ablehnen müssen. Nichtsdestotrotz bleibt das Bundeskartellamt im öffentlichen Interesse verpflichtet, ermessensfehlerfrei über die Durchführung des Settlementverfahrens zu entscheiden. Die zu treffende, auf einer Gesamtabwägung beruhende Entscheidung hat daher auf sachgerechten Kriterien zu beruhen.826 Dies sind insbesondere die die Settlements grundsätzlich rechtfertigenden und im Einzelfall auf ihre Erreichbarkeit zu prüfenden Ziele der Verfahrensbeschleunigung und der Ressourcenschonung827 sowie der damit bezweckte, verbesserte Wettbewerbsschutz. Das Bundeskartellamt hat bislang nur knapp dazu Stellung genommen, anhand welcher Gesichtspunkte es in der Praxis über das Angebot eines Settlements entscheidet. Zum einen hat es betont, dass sich ein Settlement-Verfahren insbesondere dann „lohne“, wenn der Sachverhalt sehr komplex ist und es bislang noch nicht über ausreichende bzw. zufriedenstellende Beweise verfügt.828 In diesem Fall wird sich aber wohl der Wunsch der Betroffenen in Grenzen halten, ein Settlement zu erzielen. Zum anderen ist durchaus vorstellbar, dass sich das Bundeskartellamt an vergleichbaren Momenten, wie die Kommission orientiert. Letztere hat in ihrer Settlement-Mitteilung insbesondere auf die Wahrscheinlichkeit, ob mit den Betroffenen innerhalb einer angemessenen Frist ein Einver-

823 BVerfG, Beschl. v. 27.4.1971, Az. 2 BvR 708/65, BVerfGE 31, 33 (39 f.), Rn. 20 (juris); Beschl. v. 9.1.1991, Az. 1 BvR 207/87 – Pensionistenprivileg, BVerfGE 83, 182 (194), Rn. 44 (juris); Beschl. v. 23.5.2006, Az. 1 BvR 2530/04 – Insolvenzverwalter, BVerfGE 116, 1 (12), Rn. 29 (juris); Beschl. v. 26.4.2010, Az. 2 BvR 2179/04, NVwZRR 2010, 555 (557), Rn. 35 (juris). 824 Vgl. Teil 2 § 4 E. IV. 2. a) (S. 198 ff.). 825 Siehe dazu: Teil 2 § 3 B. I. 3. (S. 120 ff.) und Teil 2 § 3 B. III. 1. b) (S. 125 ff.). 826 So auch das BVerfG zur Entscheidung des Parlaments über die Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten: Urt. v. 17.12.2001, Az. 2 BvE 2/00 – Pofalla II, NJW 2002, 1111 (1114), Ls. 1, Rn. 87 (juris). 827 BKartA, TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 35; TB 2009/2010, BT-Drs. 17/ 6640, S. 41; OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 16. 828 BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 16.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

nehmen über die Beschwerdepunkte erzielt werden könne, abgestellt.829 Diese Erfolgsprognose macht die Kommission davon abhängig, wie viele Parteien an dem Verfahren beteiligt sind, ob sich absehbare Schwierigkeiten bei der Haftungszurechnung stellen und inwieweit der Sachverhalt bestritten wird, wobei sich die letztere Frage wohl erst in der Diskussionsphase stellt. Umgekehrt hat sich das Bundeskartellamt „vorbehalten“, ein Settlement abzulehnen, wenn ein reguläres Bußgeldverfahren zur Rechtsfortbildung notwendig und sinnvoll ist.830 Das ist sachgerecht, da durch Settlements die Gefahr eines „Konkretisierungsvakuums“ steigt, Rechtsunsicherheiten bezüglich neuerer unternehmerischer Verhaltensweisen also nicht abschließend geklärt werden können.831 Dies liegt darin begründet, dass einvernehmliche Verfahrensbeendigungen zum einen de facto weniger Beschwerdeverfahren nach sich ziehen832 und die vom Bundeskartellamt erlassenen Kurzbescheide zum anderen keine rechtliche Würdigung beinhalten. Demgegenüber tragen in regulären Verfahren getroffene Bußgeldentscheidungen833, sofern sie zumindest zusammenfassend veröffentlicht werden,834 vor allem aber gerichtliche Urteile zu mehr Rechtssicherheit bei. (2) Anspruch auf Fortführung des Settlementverfahrens? Problematisch erscheint ferner der Fall, dass das Bundeskartellamt zunächst in Vergleichsgespräche getreten ist, aber aus welchem Grund auch immer, wieder in das Standardverfahren wechseln will. Zu diesem Zeitpunkt hat es bereits einen Settlement-Vorschlag abgegeben und den Verfahrensbeteiligten gegebenenfalls die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben.835 Ist das Bundeskartellamt nun verpflichtet die Verhandlungen fortzuführen?

829 Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen v. 2.7.2008, Nr. C 167, S. 1 ff., Rn. 5. 830 BKartA, TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 41; OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 18. 831 Ablehnend Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 16, im Internet abrufbar unter: http:// www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede _auf_dem_44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013). Vgl. zu diesem Problem noch vertiefend: Teil 4 § 2 E. II. (S. 558 ff.). 832 Teil 4 § 2 E. I. 3. (S. 555 ff.). 833 Dies gilt mehr noch für die umfangreichen Kommissionsentscheidungen. Zu deren Orientierungswirkung: Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 231 f. 834 Das BKartA ist nicht zur Veröffentlichung seiner Bußgeldbescheide verpflichtet. Es muss gemäß § 53 Abs. 1 GWB lediglich alle zwei Jahre einen Bericht über seine Tätigkeit sowie über die Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet vorlegen. Dies verlangt nicht vertieft zu jedem einzelnen Fall Stellung zu beziehen. 835 Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (354); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (18).

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Eine solche Verpflichtung könnte sich zunächst aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes ergeben, der als tragende Teilgewährung des – im Rechtsstaatsprinzip zum Ausdruck kommenden – Grundsatzes der Rechtssicherheit anerkannt ist836 und im Hinblick auf das Strafverfahren zum Teil aus dem Recht auf ein faires Verfahren abgeleitet wird.837 Er schützt das Vertrauen des Bürgers in die Kontinuität von Recht im Sinne individueller Erwartungssicherheit.838 Unter Umständen kann das schutzwürdige Vertrauen eines Bürgers also auch gegen die Beseitigung einer hoheitlichen, ihn begünstigenden Maßnahme sprechen. Die dadurch bewirkte Selbstbindung der Verwaltung ist bei informellem Verwaltungshandeln aufgrund gesetzlich eingeräumter Ermessensspielräume jedoch eher gering. Denn nach allgemeiner Meinung schützt der Vertrauensgrundsatz nur denjenigen, der nicht mit einer Änderung der hoheitlichen Maßnahme rechnen musste,839 etwa, weil ein Verwaltungsakt bereits bestandskräftig geworden ist, sich die Verwaltung seit geraumer Zeit gleich verhalten oder dem Bürger rechtlich verbindliche Zusagen gemacht hat. Hingegen kann eine bloße Absichtserklärung oder Mitteilung einer Rechtslage kein schutzwürdiges Vertrauen begründen, weil die Behörde ihre Beurteilung noch ändern kann, und, sofern sie vormals nicht im Einklang mit der Rechtsordnung stand, dazu schon im Allgemeininteresse an der Durchsetzung der Gesetze und ihrer Ziele verpflichtet ist.840 In vergleichbarer Weise hat der BGH in neuerer Rechtsprechung wiederholt eine mögliche Bindungswirkung „informeller Verständigungen“ im Vorfeld des Hauptverfahrens abgelehnt.841 Zwar begründete das Gericht seine Entscheidung auch 836 BVerfG, Ents. v. 19.12.1961, Az. 2 BvL 6/59, BVerfGE 13, 261 (271), Rn. 49 (juris); Ents. v. 14.3.1963, Az. 1 BvL 28/62, BVerfGE 15, 313 (324), Rn. 27 (juris); Beschl. v. 16.12.1981, Az. 1 BvR 898/79 u. a. – Einziehung eines Vertriebenenausweises, BVerfGE 59, 128 (152), Rn. 79 (juris); Beschl. v. 25.5.1993, Az. 1 BvR 1509/91, 1 BvR 1648/91 – Anpassung der Baukredite der DDR, BVerfGE 88, 384 (403), Rn. 108 (juris); Beschl. v. 20.2.2002, Az. 1 BvL 19 bis 21/97, 1 BvL 11/98 – Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz 1996, BVerfGE 105, 48 (57), Rn. 3 (juris); vgl. zum Ganzen Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 69 ff.; monographisch etwa Altmeyer, Vertrauensschutz im Recht der Europäischen Union und im Deutschen Recht, 2003; Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, 2000; Leisner-Egensperger, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002; Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002; speziell zur Problematik bei Verständigungen im Strafverfahren: Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen, 2006. 837 BGH, Urt. v. 6.7.1983, Az. 2 StR 222/83, NStZ 1983, 567 (568), Rn. 24 (juris); Beschl. v. 12.7.2011, Az. 1 StR 274/11, Rn. 3 (juris). 838 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 69. 839 BVerwG, Urt. v. 13.6.1980, Az. IV C 31.77, NJW 1981, 67, Rn. 17 f. (juris); Urt. v. 11.5.2006, Az. 5 C 10/05, NVwZ 2006, 1184 (1188), Rn. 57 (juris); Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 25. 840 BGH, Beschl. v. 12.3.1991, Az. KVR 1/90 – Verbandszeichen, NJW 1991, 3152 (3155), Rn. 55 f. (juris). 841 BGH, Beschl. v. 14.4.2011, Az. 1 StR 458/10, wistra 2011, 335 ff., Rn. 38 (juris); Beschl. v. 6.10.2010, Az. 2 StR 354/10, wistra 2011, 28, Rn. 2 (juris); Beschl. v. 4.8.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

damit, dass verbindliche Verständigungen außerhalb des Hauptverfahrens der StPO widersprechen. Allerdings ist der den Erwägungen zugrunde liegende Gedanke uneingeschränkt auf das Bußgeldverfahren übertragbar. Verfahrensfördernde Erörterungen, wie sie nunmehr § 202a StPO explizit erlaubt, dienen der unverbindlichen Vorbereitung einer späteren Verständigung. Sie lösen, ihrem Zweck entsprechend, jedoch weder eine Bindung des Gerichts aus, noch lassen sie einen „durch den fair-trail-Grundsatz geschützte[n] Vertrauenstatbestand“ entstehen.842 Dies gilt auch für den Settlement-Vorschlag. Damit sichert das Bundeskartellamt nicht im Sinne des § 38 VwVfG zu, das Bußgeldverfahren zu den dargebotenen Bedingungen zu beenden, sondern will vielmehr eine Basis für eine Diskussionsgrundlage schaffen. Es handelt sich also um ein Angebot über eine etwaige Teileinstellung des Bußgeldverfahrens und/oder eine Bußgeldreduktion um bis zu 10 %, das unmissverständlich unter mehreren Bedingungen steht. Dazu zählen zuvorderst das erstrebte „Geständnis“ und der partielle Verzicht auf das Gehörsrecht, aber auch, wie das Bundeskartellamt bereits 2005 in seinem OECD Arbeitspapier hervorhob, dass die Vergleichsgespräche ernsthaft und glaubwürdig geführt werden. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Betroffenen nur Zeit schinden oder die Gespräche nutzen wollen, um die maximal zu erwartende Bußgeldhöhe abzuschätzen.843 Angesichts dessen wissen Betroffene im Vorfeld, dass durchaus die Möglichkeit besteht, dass sie nicht in den Genuss der Bußgeldermäßigung kommen. Der Grundsatz des Vertrauensschutzes kann daher nicht zu einer Verpflichtung des Bundeskartellamtes führen, ein Settlementverfahren fortzuführen. Aus denselben Gründen ist auch ein Anspruch auf Gleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG abzulehnen. Wenn Betroffene – im Unterschied zu anderen Verfahrensbeteiligten – nicht an dem beschleunigten Abschluss des Verfahrens mitwirken, verhalten sie sich nicht nur „ungleich“, eine Ermäßigung ihrer Geldbuße wäre auch sachlich nicht gerechtfertigt.844 (3) Widerruflichkeit während der Diskussionsphase eingeräumter Tatsachen Umgekehrt können sich Betroffene von ihrem ursprünglichen Settlement-Interesse in der Diskussionsphase jederzeit distanzieren. Es besteht grundsätzlich keine rechtliche Pflicht, das zunächst erstrebte verkürzte Settlement-Verfahren fortzuführen. Unabhängig davon, dass Settlements an sich keine Vertragsqualität besitzen,845 ist die Signalisierung einer generellen Gesprächsbereitschaft auch noch nicht als verbindliche Willenserklärung zu bewerten, da das Settlement erst 2010, Az. 2 StR 205/10, NStZ 2011, 107 (108), Rn. 14 ff. (juris); Beschl. v. 12.7.2011, Az. 1 StR 274/11, StV 2011, 645 (646), Rn. 3 (juris). 842 Beschl. v. 12.7.2011, Az. 1 StR 274/11, StV 2011, 645 (646), Rn. 3 (juris). 843 BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 490), Rn. 12a, 18. 844 Dazu noch vertieft: Teil 2 § 4 E. V. 3. (S. 291 ff.). 845 Insbesondere handelt es sich nicht um einen öffentlichen Vergleichsvertrag. Vgl. Teil 2 § 4 E. II. (S. 192 ff.).

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durch die Gespräche erzielt werden soll. Das Bundeskartellamt setzt den Betroffenen in der Regel eine Frist zur Annahme ihres (womöglich durch die Verhandlungen abgeänderten) Settlement-Vorschlages, um eine Verfahrensverschleppung zu verhindern.846 Lassen die Betroffenen die Frist verstreichen oder stellen sie die Vergleichsgespräche schon zu einem früheren Zeitpunkt ein, führt das Bundeskartellamt das Bußgeldverfahren streitig fort und verfasst ein Beschuldigtenschreiben, sofern es sich bislang auf eine Kurzzusammenfassung beschränkt hat. Hingegen wird eine Einstellung des Kartell-Bußgeldverfahrens jedenfalls bei schwerwiegenden Kartellen schon wegen des bestehenden öffentlichen Interesses an der Ahndung des Kartells regelmäßig nicht in Betracht kommen.847 Hinzu kommt, dass das Bundeskartellamt in diesem Verfahrensstadium in der Regel bereits umfangreiche Ermittlungsmaßnahmen ergriffen hat und daher auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot Rechnung tragen muss, da § 47 Abs. 1 OWiG auch fiskalische Interessen zugrunde liegen.848 Abgesehen davon, dass die Verfolgungsbehörde möglichst nur solche Ordnungswidrigkeiten verfolgen soll, die den behördlichen Ermittlungsaufwand „wert“ sind, bestimmt § 90 Abs. 2 OWiG, dass die von einer Bundesbehörde erlassenen Geldbußen in die Bundeskasse fließen. Daher hat sich das Bundeskartellamt im Rahmen seiner pflichtgemäßen Ermessensausübung zu jedem Zeitpunkt des Bußgeldverfahrens fragen, ob eine Einstellung angesichts seines bisherigen Verfahrensaufwands unweigerlich zu einer defizitären Verfahrensgestaltung führen würde.849 Der Entscheidung, Vergleichsverhandlungen abzubrechen, gehen in der Regel frühzeitige Zweifel an der Durchführung des Settlement-Verfahrens voraus. Daher ist wohl anzunehmen, dass anwaltlich gut beratene Betroffene in der Diskussionsphase keine (weitreichenden) Einlassungen zu den Tatsachenfeststellungen des Bundeskartellamtes abgeben. Sofern sie hingegen Tatsachen zugestanden haben, ist die Aussage nach ihrer freiwilligen Entäußerung erst einmal in der Welt. Im Strafprozessrecht gelten freiwillig, also ohne Zwang i. S. d. § 136a StPO, abgegebene Geständnisse als Beweismittel, deren Bestand vom Geständigen nicht mehr zerstört werden kann. So ist anerkannt, dass in einem anhängigen Verfahren eingereichte, schriftliche Erklärungen des Angeklagten gemäß § 249 Abs. 1 S. 1 StPO verlesen werden können, selbst wenn sich der Angeklagte in der Verhandlung weigert, Angaben zu machen.850 Auch soll die Vernehmung von Poli-

846 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Beschl. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 4; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (354). 847 In diesem Verfahrensstadium wird wohl schon ausgeschlossen worden sein, dass einer von den oben in Teil 2 § 4 B.–C. beschriebenen Fälle vorliegt. 848 Vgl. Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.). 849 Ebenso Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 133 f. 850 BGH, Urt. v. 24.8.1993, Az. 1 StR 380/93, BGHSt 39, 305 (306), Rn. 5 (juris); Beschl. v. 13.12.2001, Az. 4 StR 506/01, wistra 2002, 154, Rn. 5 (juris).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

zeibeamten, der Staatsanwaltschaft oder des Ermittlungsrichters, die Zeuge eines mündlichen Geständnisses des Angeklagten geworden sind, mit dem Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren vereinbar sein,851 wobei dem „Zeugen vom Hörensagen“ gemäß § 253 Abs. 1 StPO sogar die bei der Vernehmung gefertigten, schriftlichen Protokolle vorgehalten werden dürfen.852 Unmittelbarer Beweis ist in einem solchen Fall zwar die Zeugenaussage, mittelbar wird damit jedoch das Geständnis des Angeklagten in den Prozess eingeführt. Inwieweit Geständnisse auch bei Scheitern eines strafrechtlichen Vergleichs und im Kartell-Bußgeldverfahren bei Scheitern eines Settlements verwertet werden dürfen, soll noch an anderer Stelle beleuchtet werden.853 Hier kann jedoch bereits festgehalten werden, dass ein einfacher Widerruf eingeräumter Tatsachen der strafprozessualen Rechtslage entsprechend keine Auswirkungen zeitigt („argumentum a maiore ad minus“). Allerdings ist das Bundeskartellamt, selbst wenn man ein Verwertungsverbot ablehnt, schon nach dem im Bußgeldverfahren geltenden Aufklärungsgrundsatz verpflichtet, die Glaubhaftigkeit der Einlassung anhand der verfügbaren, sich aufdrängenden Beweismittel zu überprüfen.854 Dazu zählen nicht nur sich bereits im Besitz des Bundeskartellamtes befindliche Asservate. Vor dem Hintergrund, dass das Zugeständnis widerrufen wurde, wird man, sofern diese Beweise nicht ausreichen, auch eine Verpflichtung des Bundeskartellamtes anzunehmen haben, alle im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren erreichbaren Beweismittel zu verwerten. Für das Strafverfahren ist ferner anerkannt, dass der Strafrichter über den Inhalt des Geständnisses hinaus sowohl die Umstände seiner Entstehung als auch die Umstände und Gründe seines Widerrufs prüfen muss.855 Dies ist auch im Kartell-Bußgeldverfahren zu fordern, da pflichtgemäße Ermessensausübung bedeutet, alle Umstände des Einzelfalls in die Erwägungen miteinzubeziehen.

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Grdl. BVerfG, Beschl. v. 18.9.1952, Az. 1 BvR 612/52 – Ahndungsgesetz (Hessen), BVerfGE 1, 418 (429), Rn. 46 (juris); Beschl. v. 26.5.1981, Az. 2 BvR 215/81 – Zeuge vom Hörensagen, BVerfGE 57, 250 (273 ff.), Rn. 61 ff. (juris); Beschl. v. 11.4. 1991, Az. 2 BvR 196/91, NJW 1992, 168, Rn. 9 (juris); Beschl. v. 19.7.1995, Az. 2 BvR 1142/93, NJW 1996, 448, Rn. 23 (juris); Beschl. v. 20.12.2000, Az. 2 BvR 591/00 – mittelbare Beweisführung, NJW 2001, 2245 ff., Rn. 38 ff. (juris); Beschl. v. 8.10. 2009, Az. 2 BvR 547/08 – Zeugenbefragung, NJW 2010, 925 f., Rn. 9 ff. (juris); BGH, Urt. v. 3.12.2004, Az. 2 StR 156/04, NStZ 2005, 224 (225), Rn. 9 (juris). 852 BGH, Urt. v. 28.11.1950, Az. 2 StR 50/50, BGHSt. 1, 4 (8); Urt. v. 2.10.1951, Az. 1 StR 421/51, BGHSt. 1, 337 (338). 853 Siehe noch Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (4) (S. 284 ff.). 854 Siehe insoweit schon Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.), insbesondere: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) dd) (2) (c) (S. 227 ff.) und Teil 2 § 4 E. V. 1. a) ee) (S. 233 f.). 855 BGH, Urt. v. 28.7.1967, Az. 4 StR 243/67, NJW 1967, 2020 f., Rn. 13 ff. (juris); Urt. v. 31.8.1994, Az. 5 StR 232/94, NStZ 1994, 597, Rn. 6 ff. (juris); für den umgekehrten Fall auch OLG Köln, Urt. v. 14.4.1961, Az. Ss 19/61, NJW 1961, 1224; Schmidt, JZ 1970, S. 337 ff. (342).

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bb) Auswirkungen gescheiterter Settlement-Vereinbarungen Sofern es nach der Erzielung eines Settlements zu einem Bruch zwischen dem Bundeskartellamt und dem Betroffenen kommt, ergeben sich zwei Problemschwerpunkte. Erstens könnte sich das Bundeskartellamt nicht an seine Zusage gebunden fühlen, von der Verfolgung eines abtrennbaren, relevanten Tatverhaltens abzusehen bzw. ein zunächst eingestelltes Verfahren nicht wieder zu eröffnen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, ob das Bundeskartellamt die in Aussicht gestellte Bußgeldreduktion bei der Bußgeldbemessung berücksichtigen muss. Zweitens ist problematisch, ob das Bundeskartellamt ein bereits abgelegtes Geständnis und/oder Einlassungen in Settlement-Gesprächen verwerten kann, wenn es ins reguläre Bußgeldverfahren zurückkehrt. (1) Vorüberlegung: Übertragung des Rechtsgedankens der §§ 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO § 257c Abs. 4 StPO normiert unmittelbar, wenngleich unvollständig, die Auswirkungen gescheiterter Verständigungen im strafrechtlichen Hauptverfahren. Die Sätze 1 und 2 der Vorschrift regeln, wann das Gericht an eine Vereinbarung mit dem Angeklagten nicht gebunden ist. Satz 3 etabliert „in diesen Fällen“ ein Beweisverwertungsverbot des Geständnisses des Angeklagten. Das Gesetz setzt damit jedenfalls stillschweigend die grundsätzliche Bindung des Gerichts an die zunächst rechtmäßig geschlossene, jedoch gescheiterte Verständigung voraus.856 Hingegen sieht es keinen gegenüber dem Angeklagten bestehenden „Erfüllungsanspruch“ vor.857 Dies ist wegen des Schutzzwecks des „nemo tenetur“-Grundsatzes folgerichtig, da ein Geständnis nicht erzwingbar ist, und die Anwendung von (vertraglichem) Zwang gegen § 136a StPO verstoßen würde.858 Die Verständigung begründet daher lediglich eine den Angeklagten „bindende“ Obliegenheit in dem Sinne, dass dieser nur in den Genuss einer Strafmilderung kommt, wenn er gesteht. Erfüllt er diese Bedingung nicht, wird das Hauptverfahren regulär zu Ende geführt. Mangels Bedingungseintritt ist das Gericht gemäß § 257c Abs. 4 S. 2 StPO von vornherein auch nicht an das Versprechen gebunden, dem Ange-

856 Allg. M., statt aller: Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 28; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 25; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 30; Weigend, in: Bloy/Böse/ Hillenkamp u. a., Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, S. 829 ff. (841); vgl. auch Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 14. Zu den dadurch begründeten Widersprüchen mit Art. 97, 101 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK und § 261 StPO: Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1396); Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 30 m.w. N. 857 Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 31; Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, StVVerstG, § 257c Rn. 8; Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1396). 858 Ähnlich auch Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 31.

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klagten eine Strafmilderung zu gewähren.859 Umgekehrt soll im Nachhinein der Erfüllungsanspruch des Angeklagten entfallen, wenn das Gericht gemäß § 257c Abs. 4 S. 1 StPO rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen hat oder sich solche nachträglich ergeben und das Gericht daraufhin zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- und schuldangemessen ist. Über die Voraussetzungen und Folgen einer solchen Abweichung des Gerichts ist der Angeklagte gemäß § 257c Abs. 5 StPO zu belehren. Der Gesetzgeber hat in seiner Begründung zum Gesetz zur Einführung von Verständigungen im Strafverfahren ausdrücklich betont, dass die „zentralen rechtsstaatlichen Anforderungen“, wie sie nunmehr in § 257c StPO geregelt sind, unter Berücksichtigung des Rechts auf ein faires Verfahren auch im behördlichen Bußgeldverfahren Anwendung finden müssen, sofern dort Verständigungen zulässig sind.860 Nach seinem subjektiv-rechtlichen Gehalt als Auffangprozessgrundrecht soll der „fair trail“-Grundsatz861 insbesondere die „Waffengleichheit“ unter den Verfahrensbeteiligten eines Sanktionsverfahrens sicherstellen.862 § 257c Abs. 4 und Abs. 5 StPO bilden die einfachgesetzliche Ausformung dieses Gedankens. Die Vorschriften tragen dem Umstand Rechnung, dass die Verständigung als solche nicht verfahrensbeendigend wirkt, der Angeklagte jedoch zu Vorleistungen motiviert wird, mit welchen er seine Verteidigungsposition aufgibt.863 Sowohl der Angeklagte als auch das Gericht sollen vor Missbrauch geschützt werden: der Angeklagte vor missbräuchlichen Abweichungen von der in Aussicht gestellten Strafmilderung unter Ausnutzung seines Geständnisses; das Gericht vor missbräuchlichen, „schlanken“, dem Schuldprinzip widersprechenden Geständnissen oder unnützer Verfahrensverschleppung. Damit sichert § 257c Abs. 4 StPO durch „sanften Druck“ auf beide Seiten gleichsam den Bestand der Verständigung.864 § 257c Abs. 5 StPO gewährleistet darüber hinaus, dass der Angeklagte die Tragweite und Risiken der Mitwirkung an einer Verständigung einzuschätzen weiß.865 Im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren hat das Settle859 Dies dürfte unstreitig sein, vgl. etwa Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 45. Zu dem sonst sehr weit gefassten Wortlaut der Vorschrift kritisch mit Tendenz zu einer engen Auslegung: Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 27; Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 42. 860 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 16; siehe dazu bereits Teil 2 § 4 E. IV. 2. b) dd) (S. 204). 861 Teil 2 § 4 E. V. 2. b) aa) (S. 255). 862 Vgl. dazu vertiefend etwa Paeffgen, in: SK-StPO X, Art. 6 EMRK Rn. 79 ff.; Gollwitzer, in: LR/StPO Bd. 11, 26. Aufl., Art. 6 MRK Rn. 59 ff., 210 ff. 863 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1063, 1067, 1069, 1071), Rn. 68, 99, 112, 126; Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 37. 864 Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 37, 41. 865 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1063, 1067, 1069, 1071), Rn. 68, 99, 112, 126.

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ment ebenfalls keinen verfahrensabschließenden Charakter, sondern bereitet diesen, der durch den Erlass des Bußgeldbescheides erfolgt, lediglich vor. Dementsprechend bestehen für die Verfahrensbeteiligten im Kartell-Bußgeldverfahren vergleichbar große Unsicherheiten wie bei Verständigungen im Strafprozess. Die ihrem Zweck nach diesen Unsicherheiten entgegen wirkenden Vorschriften des § 257c Abs. 4, Abs. 5 StPO normieren daher „zentrale“ rechtsstaatliche Anforderungen, denen auch Verständigungen im behördlichen Bußgeldverfahren entsprechen müssen.866 Kooperationswillige Betroffene sind daher zuvorderst darüber zu belehren, dass von Settlements keine absolute Bindungswirkung ausgeht. Wie weit ihre Bindungswirkung entsprechend § 257c Abs. 4 StPO genau reicht und welche Auswirkungen gescheiterte Settlement-Gespräche haben, wird im Folgenden zu untersuchen sein. (2) Auswirkungen von durch das Bundeskartellamt zu vertretenden Gründen für das Scheitern des Settlements An anderer Stelle wurde bereits festgestellt, dass Einzelfälle vorstellbar sind, in denen ein Settlement-Vorschlag derart weitreichende Vergünstigungen beinhaltet, dass er Betroffene nicht nur motiviert, sondern regelrecht zwingt, ein Geständnis abzulegen, weil die Ausübung des Schweigerechts angesichts der andernfalls drohenden Nachteile keine realistische Option ist.867 Derartige, den „nemo tenetur“Grundsatz verletzende Settlement-Angebote sind ihrem Inhalt nach ebenso rechtswidrig, wie – gegen den Rechtsgedanken des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO verstoßende – Zusagen über die rechtliche Beurteilung eines kartellrechtswidrigen Verhaltens.868 Folgerichtig kommt ein wirksames Settlement von Anfang an nicht zustande, mit der Folge, dass es nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 StPO auch keine Bindungswirkung entfalten kann.869 Zieht sich das Bundeskartellamt (aus diesem oder einem anderen Grund) aus den Settlement-Gesprächen zurück, haben Betroffene demzufolge keinen Anspruch auf Gewährung der „vereinbarten“ Vergünstigungen.

866 Davon scheint auch das BKartA – jedenfalls bezüglich § 257c Abs. 4 StPO – auszugehen. Vgl. Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (353), der zur Feststellung der maximalen Bindungswirkung von Settlements die Vorschrift des § 257c Abs. 4 StPO rekurriert. 867 Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.). 868 Teil 2 § 4 E. V. 1. b) (S. 234 ff.). 869 Für das Strafverfahren: BGH, Beschl. v. 4.8.2010, Az. 2 StR 205/10, NStZ 2011, 107 f., Rn. 14 f. (juris); Beschl. v. 6.10.2011, Az. 2 StR 354/10, StV 2011, 74 f., Rn. 2 (juris); Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 32; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 30; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 4; Meyer, HRRS 2011, Heft 1, S. 17 ff. (18); Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen, S. 456 ff.; ders., HRRS 2008, Heft 3, S. 122 ff. (127, 131).

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Umgekehrt kann die Bindungswirkung eines zunächst wirksamen, da rechtmäßigen Settlements870 nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO wieder entfallen, wenn das Bundeskartellamt wichtige Beweise übersehen hat oder solche nachträglich erlangt hat. Dies ist der Fall, wenn die Beweise neue Erkenntnisse über das Ausmaß der Zuwiderhandlung liefern, die zwingend zu einer Neubewertung des Kartells führen müssen. Gelangt das Bundeskartellamt danach zu dem Ergebnis, dass der Settlement-Vorschlag der Bedeutung der Kartell-Ordnungswidrigkeit und dem Vorwurf, der den Betroffenen zu machen ist, nicht (mehr) gerecht wird, ist es nicht an seine Zusagen gebunden. Das ist insofern problematisch, als das die Betroffenen mögliche Nachlässigkeiten des Bundeskartellamtes bei der Sachverhaltserforschung „ausbaden“ müssen.871 Andererseits soll die Erfüllung der Aufklärungspflicht gerade sicherstellen, dass eine sachrichtige und dem Schuldprinzip gerecht werdende Entscheidung im KartellBußgeldverfahren getroffen wird.872 Wenn das Bundeskartellamt neue Erkenntnisse gewinnt, obgleich „zu spät“, kann und darf es diese im öffentlichen Interesse nicht unberücksichtigt lassen. Das ist zwar ein Umstand, der für die Betroffenen bitter sein kann. Es ist jedoch der einzige Weg zu Erreichung eines gerechten Ergebnisses. Allerdings sollte die Übertragung des Rechtsgedankens des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO dahingehend einschränkt werden, dass der Wegfall der Bindungswirkung nur gerechtfertigt ist, wenn das Bundeskartellamt sicher ausschließen kann, dass die getätigten Zusagen nicht mehr tat- und schuldangemessen sind. (3) Bindungswirkung des Settlement-Vorschlags bei von Betroffenen zu vertretenden Gründen Wenn an dieser Stelle von „Settlement-Vorschlag“ gesprochen wird, meint dies das finale Angebot des Bundeskartellamtes nach den Settlement-Gesprächen, die festgestellte Zuwiderhandlung höchstens mit der „vereinbarten“ Maximalgeldbuße zu ahnden und das Bußgeldverfahren hinsichtlich einzelner Tatbeiträge einzustellen. Von diesem Angebot darf das Bundeskartellamt nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 StPO grundsätzlich nicht abweichen. Dementsprechend reduzieren sich sowohl das Verfolgungs- als auch das Sanktionszumessungsermessen der Kartellbehörde. Damit korrespondiert ein Anspruch der Betroffenen gegenüber dem Bundeskartellamt auf ermessensfehlerfreie Entschei-

870 An der Rechtmäßigkeit der Settlement-Praxis bestehen insbesondere mit Blick auf den geforderten Verzicht auf Akteneinsicht schwerwiegende Bedenken. Siehe Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (b) (S. 274 ff.). 871 Ähnlich zur Rechtslage im Strafverfahren: Murmann, ZIS 2009, S. 526 ff. (538). 872 Vgl. bereits Teil 2 § 4 E. V. 1. a) aa) (S. 217 ff.). Damit begründet auch der Gesetzgeber die Vorschrift des § 257c Abs. 4 S. 1 StPO: Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 1 (18).

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dung innerhalb der durch das Settlement gesetzten Grenzen, sofern sie die seitens des Bundeskartellamtes aufgestellten Bedingungen erfüllen.873 Scheitert das Settlement aufgrund eines in dem Prozessverhalten der Betroffenen liegenden Grundes, tritt die Bindungswirkung des Settlements nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO von Anfang an nicht ein. Die Vorschrift steht in der strafrechtlichen Literatur in der Kritik. Ihr weiter Wortlaut begründe die Gefahr, dass das Gericht „verständigungsfremdes“ Prozessverhalten zur Loslösung von einer Verständigung „missbrauche“.874 Die Vorschrift müsse daher eng ausgelegt werden; entscheidend sei nur, was aufgrund der Verständigung und der vorangegangenen Gespräche von dem Angeklagten zu erwarten gewesen sei.875 Der Auffassung ist, jedenfalls mit Blick auf das hier interessierende Settlementverfahren, zuzustimmen. Würde es dem Bundeskartellamt erlaubt sein, nicht unmittelbar mit den Settlementgesprächen in Zusammenhang stehendes Verhalten zu berücksichtigen, gründete es seine Entscheidung zur Praktizierung des Settlements auf sachwidrigen Erwägungen, letztlich also auf einer pflichtwidrigen Ermessensentscheidung. (a) Abstandnahme vom Geständnis In Übertragung des mithin eng auszulegenden § 257c Abs. 4 S. 2 StPO geht von einem Settlement jedenfalls zweifelsfrei keine Bindungswirkung aus, wenn die Betroffenen kein Geständnis abgeben,876 oder dieses nachträglich widerrufen. Dass das Bundeskartellamt die Gewährung der Sanktionsmilderung und des partiellen Verfolgungsverzichts von einem Zugeständnis der ermittelten Tatsachen abhängig machen darf, ergibt sich sowohl aus der oben beschriebenen Zulässigkeit im Strafverfahren („argumentum a maiore ad minus“),877 als auch mittelbar aus § 17 Abs. 3 OWiG, der die Berücksichtigung des Nachtatverhaltens eines Täters bei der Bewertung des ihm zu machenden Vorwurfs vorsieht. Folge873

So auch: Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 29 für Verständigungen im Strafverfahren. Zur Frage der gerichtlichen Durchsetzbarkeit dieses Anspruchs siehe noch Teil 2 § 4 E. V. 2. c) cc) (S. 288 ff.). 874 Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 27; ferner Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 45; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 32; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (330 f.); Eisenberg, Beweisrecht, 1. Kap. Rn. 55. 875 Vgl. die Nachweise in Fn. 874; ferner Andrejtschitsch, in: Büchting/Heussen, Beck RA Hdb., § 11 Rn. 193; zurückhaltender wohl Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 32 („ausdrücklich“ zugesagtes Verhalten). 876 Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (353), der beschreibt, dass es einen solchen Fall wohl bereits gab und das BKartA eine Geldbuße ohne die „versprochene“ Bußgeldreduktion erließ. Ferner: Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (24). 877 A.A. zum ausbleibenden – wohl auch im Kartell-Bußgeldverfahren überwiegend einschlägigen – taktischen Geständnis des Angeklagten: Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 45, da § 46 StGB ein solches nicht honorieren wolle, sodass mangels Konnexität auch kein Anpassungsbedarf bei Ausbleiben des Geständnisses besteht. Dazu sogleich: Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (b) (S. 274 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

richtig hat auch das OLG Düsseldorf die entsprechende Vorgehensweise des Bundeskartellamtes gemäß der Bonusregelung akzeptiert, wonach es das regulär bemessene Bußgeld nur bei tatsächlich erbrachter, aktiver Aufklärungshilfe durch die Kartellbeteiligten (auf null) reduziert.878 (b) Abstandnahme von dem partiellen Verzicht auf Ausübung des Gehörsrechts und verweigerte Akzeptanz des in Aussicht gestellten Höchstbußgeldes Problematisch erscheint demgegenüber, ob das Bundeskartellamt auch berechtigt ist, die im Settlement-Vorschlag vorgesehenen Vorteile zu verwehren, wenn die Betroffenen trotz grundsätzlicher „Einigung“ volle Akteneinsicht begehren und/oder das vereinbarte Maximalbußgeld nicht ausdrücklich anerkennen wollen. Da das Bundeskartellamt beides für ein wirksames Settlement voraussetzt, müsste man annehmen, dass die Nichterfüllung dieser Bedingungen einen in der Person der Betroffenen liegenden, zum „Wegfall“ der Bindungswirkung führenden Grund darstellt. Allerdings könnten die vom Bundeskartellamt einseitig gestellten Bedingungen für die versprochene Teileinstellung des Bußgeldverfahrens und die Geldbußenreduzierung rechtswidrig sein. Soweit ersichtlich, hat sich die Literatur zum Settlementverfahren des Bundeskartellamtes dieser Frage noch nicht angenommen. Hingegen gelangt Bueren nach umfangreicher Prüfung des europäischen Settlement-Verfahrens zu dem Ergebnis, dass die nahezu identischen Anforderungen der Kommission unverhältnismäßig seien.879 Der „Anerkennung“ des in Aussicht gestellten Höchstbußgeldes komme keine rechtliche Bedeutung zu, da sie die Kommission nicht ihrer Pflicht zur eigenen juristischen Prüfung und zur Einhaltung der formellen Vorgaben für einen wirksamen Bußgeldbeschluss enthebe, weshalb sie auch nicht zur Verfahrensbeschleunigung und zu einem verbesserten Wettbewerbsschutz beitrage.880 Hinsichtlich des Verzichts auf volle Akteneinsicht ergebe eine Abwägung der mit Settlements verfolgten Ziele mit den Einschränkungen, die sowohl für die Unternehmen, als auch für den rechtsstaatlichen Charakter des Kartellverfahrens selbst verbunden sind,881 dass letzteren ein höheres Gewicht zukomme, 878 OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737), Rn. 156 ff. Vgl. auch die einschlägige Kommentarliteratur, die diese Frage gar nicht erst problematisiert. 879 Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 821–856. 880 Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 823 f. 881 Bueren stellt in diesem Zusammenhang überzeugend auf den über den Rechtsschutz der Unternehmen hinausgehenden, objektiv-rechtlichen Gehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör ab (Sicherung der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens, der Sachrichtigkeit der behördlichen Entscheidung und der Effektivität gerichtlicher Kontrolle). Vgl. Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 848 ff.; a. A. Ortega González, ECLR 2011, S. 170 ff. (174).

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zumal die theoretisch positiven Auswirkungen von Settlements bislang nicht empirisch belegt seien.882 Die mit der Ausrichtung dieser Arbeit korrespondierende Orientierung Buerens am Zweck des – auch im Kommissionsverfahren geltenden – Opportunitätsprinzips und der Settlements überzeugt. Auf den ersten Blick erscheint seine Argumentationslinie im deutschen Recht nichtsdestotrotz einen entscheidenden Haken zu haben: § 257c Abs. 2 StPO erlaubt nämlich ausdrücklich, das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten in die Verhandlungsmasse miteinzubeziehen, wenn dies der Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung dient.883 Aus diesem Grund wurde bereits festgestellt, dass der geforderte Verzicht auf die Ausübung des uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts und die beanspruchte ausdrückliche Akzeptanz der Maximalgeldbuße zunächst einmal gesetzmäßig zu sein scheint, da beides vom Wortlaut der Vorschrift gedeckt ist.884 Indes kritisiert die strafrechtliche Literatur die weite Fassung des § 257c Abs. 2 StPO. Der Gesetzgeber habe in seiner Gesetzesbegründung selbst angemerkt, dass § 257c StPO die zentralen prozessualen Grundsätze, insbesondere die Verteidigungsrechte des Angeklagten, den Untersuchungsgrundsatz und die Grundsätze der Strafzumessung unberührt lasse;885 vor diesem Hintergrund müsse man sich fragen, warum das Prozessverhalten der Beteiligten als zulässiger Verständigungsgegenstand in die Regelung des § 257c Abs. 2 StPO aufgenommen wurde.886 Die Kritik hat im Strafverfahren ihre Berechtigung, denn zwischen der Unterlassung von Beweisanträgen, Richterablehnungsgesuchen und Vertagungs- oder Aussetzungsanträgen, die im Gegenzug für eine Strafmilderung von der Justiz „erstrebenswert“ sind, besteht – wie zu Recht betont wird887 – keine Konnexität mit den Strafzumessungsgründen des § 46 Abs. 1 StGB. Die Honorierung unterlassener Verteidigungshandlungen, die über ein Geständnis hinausgehen, stellt

882

Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 853 ff. Für das Strafverfahren: Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1394); Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 14; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 17; vgl. auch Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 14. 884 Teil 2 § 4 E. V. 1. b) (S. 234 ff.). 885 Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 13. 886 Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 14; sehr krit. auch Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1394 f.); Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 17; Weigend, in: Bloy/Böse/Hillenkamp u. a., Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, S. 829 ff. (836); Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (330 f.). 887 Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 16; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 17; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 14; Weigend, in: Bloy/Böse/Hillenkamp u. a., Gerechte Strafe und legitimes Strafrecht, S. 829 ff. (832); Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (330); jeweils m.w. N. 883

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

zudem die Fairness des Strafverfahrens in Frage.888 Derjenige, der bis zur Abgabe seines Geständnisses zur Sachverhaltsaufklärung durch Beweisanträge mitwirkt, würde, obgleich das Strafverfahren vom weiterhin geltenden Untersuchungsgrundsatz dominiert und das Verhalten der Verteidigung daher von der Rechtsgemeinschaft eigentlich gewollt ist, gegenüber denjenigen Angeklagten benachteiligt, die „der Aktenlage entsprechend“ gestehen. Damit besteht jedoch die Gefahr, dass der vom Strafverfahren betroffene Mensch, seiner Beteiligung an dem Strafverfahren entbunden, „verobjektiviert“ und zu Wohlverhalten gezwungen wird, da er andernfalls nicht in den Genuss der gerichtlichen Bindung an die Verständigung gemäß § 257c Abs. 4 StPO kommt.889 Zwar wurde bereits festgestellt, dass das Recht zur Ausübung des Akteneinsichtsrechts disponibel ist und durch Settlements im Regelfall kein rechtlicher Zwang zu dessen Verzicht begründet wird.890 Allerdings hat die Kritik der strafrechtlichen Literatur auch im Settlement-Verfahren ihre Berechtigung, zumindest soweit sie auf den objektiv-rechtlichen Schutzgehalt des Gehörsrechts abstellt. Denn obgleich nicht zu verkennen ist, dass Betroffene eines Kartell-Bußgeldverfahrens nicht an einer zu ihren Lasten führenden Wahrheitsfindung gelegen ist, gewährleisten die Verteidigungsrechte, allen voran das Akteneinsichtsrecht, – neben dem Untersuchungsgrundsatz – die Sachrichtigkeit des im Verfahren gefundenen Ergebnisses.891 So können Betroffene durch Wahrnehmung ihres Akteneinsichtsrechts etwa Unterlagen ausfindig machen, die den vom Bundeskartellamt ermittelten Sachverhalt ganz oder zum Teil in einem anderen Licht erscheinen lässt. Mit der Verknüpfung des Verzichts auf die Ausübung des Akteneinsichtsrechts und dem (direkt und durch Teileinstellung indirekt gewährten) Bußgeldnachlass wächst das Risiko, dass die im öffentlichen Interesse erfolgende Wahrheitsfindung zurückgedrängt wird, indem die einseitige, auf einem Informationsvorsprung beruhende Bewertung der Kartellbehörde durch gezielt verhinderte korrigierende Darstellungen der Betroffenen den Anreiz erhöht, eine für beide Seiten akzeptable, ziel- und ergebnisorientierte, aber weniger am materiellen Wettbewerbsrecht ausgerichtete Lösung zu finden.892 Die diesem Ergebnis zugrunde gelegte „Wahrheit“ kann zu einer dem öffentlichen Interesse nicht ge888 Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 14; Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 17. Jedenfalls darf dem Angeklagten nicht die Zusage abgenommen werden, auf jede Verteidigung zu verzichten: BGH, Beschl. v. 18.5.2006, Az. 4 StR 153/06, NStZ 2006, 586. 889 Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 27; Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 42; Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1394 ff.). 890 Hierzu ausführlich: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) (S. 237 ff.). 891 Engelhardt, in: KK/StPO, § 406 e Rn. 1; Kempf, StraFo 2004, S. 299 ff. (302 f.); ferner schon Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 850 f. 892 Diese Gefahr wird letztlich dadurch erhöht, dass mit Settlements das Risiko unzureichender Sachverhaltsermittlung steigt: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.).

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recht werdenden, fehlerhaften (da übermäßigen oder unzureichenden) Sanktionierung der Betroffenen führen, was letztlich der positiven Generalprävention der Geldbußen abträglich ist. Der Eindruck verhandelter „Wahrheit“ lässt nämlich letztlich das Vertrauen in die Unantastbarkeit der den Wettbewerbsschutz garantierenden Rechtsordnung abnehmen. Dem hilft auch nicht die Zusage des Bundeskartellamtes ab, stets Einsicht die „wichtigsten“ Beweismittel zu gewähren.893 Denn letztlich obliegt die Definition, was wichtig ist und was nicht, der wiederum ungeprüften und unüberprüfbaren Einschätzung der Kartellbehörde.894 Durch die Zurückdrängung der ausgleichenden Verteidigung der Betroffenen wird letztlich auch die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens in Frage gestellt. Denn die (subjektive) Freiwilligkeit des Verzichts auf Akteneinsicht kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der durch das Bundeskartellamt gesetzte Anreiz einen gewissen Druck ausübt, auf das Recht auf ein faires Verfahren zu verzichten. Dieses umfasst nach seinem objektiven Schutzgehalt jedoch das zentrale Prinzip der Waffengleichheit als konkrete Ausformung des Rechtsstaatsprinzips, das Verfolgungsbehörden auch ohne individuelle Geltendmachung durch die Betroffenen zu beachten haben. Dieses Ergebnis wird zudem dadurch bestätigt, dass § 17 Abs. 3 OWiG ebenso wenig wie § 46 StGB eine Sanktionsmilderung für „schickliches“ Verhalten der Betroffenen erlaubt. Der Vorwurf, der Kartellbeteiligten zu machen ist, hängt nicht von ihrem Verteidigungsverhalten ab.895 Zwar kann ein (frühzeitiges) Geständnis, ebenso wie das sofortige Abstellen der Zuwiderhandlung, in dubio pro reo als Zeichen der Einsicht gewertet werden und den Vorwurf mildern.896 Auch kann den Betroffenen in diesem Zusammenhang zugute gehalten werden, wenn sie die Ziele des im Bußgeldverfahren herrschenden Opportunitätsprinzips, nämlich die Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Verfolgungsbehörde, durch ein verfahrensbeschleunigendes Geständnis, das auf einer positiven Grundhaltung gegenüber der Rechtsordnung beruht, fördern.897 Allerdings ist nicht zu übersehen, dass das ausgehandelte „Geständnis“ überwiegend auf verfahrenstaktischen Erwägungen beruht. Eine zugunsten der Betroffenen streitende Vermutung einer reuigen Einstellung gegenüber der Zuwiderhandlung kann da-

893 BKartA, Fallbericht zum Bußgeldverfahren gegen Kaffeeröster wegen Preisabsprachen v. 14.1.2010, Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 4. 894 Krit. auch Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (152). 895 Daher darf die Verweigerung der Kooperation auch nicht sanktionsschärfend berücksichtigt werden: BVerfG, BVerfG, Beschl. v. 7.7.1995, Az. 2 BvR 326/92 – Schweigen des Angeklagten, NStZ 1995, 555, Rn. 32 (juris); BGH, Urt. v. 26.5.1992, Az. 5 StR 122/92, NJW 2304 (2305 f.), Rn. 11 ff. (juris); Beschl. v. 13.5.1996, Az. GSSt 1/ 96, BGHSt 42, 139 (152), Rn. 40 (juris); Beschl. v. 19.1.2000, Az. 3 StR 531/99, BGHSt 45, 367 (368 f.), Rn. 7 (juris). 896 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 64; ferner: Teil 2 § 4 C. (S. 173 ff.) zum sofortigen Abstellen der Zuwiderhandlung. 897 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 64.

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her nicht ohne weiteres festgestellt werden.898 Dies offenbart (erneut), dass das Bundeskartellamt weit überwiegend den verfahrensbeschleunigenden Effekt von Geständnissen bußgeldmindernd honoriert.899 Selbst wenn man berücksichtigt, dass an die Geldbuße abweichend von der Strafe kein sittliches Unwerturteil geknüpft ist, sodass „Reue“ im strafrechtlichen Sinne für die Bußgeldbemessung weniger Gewicht zu haben scheint, begegnet die vollständige Abkopplung der „Belohnung“ von der mit einem Geständnis zumindest zu offenbarenden positiven Haltung gegenüber der Rechtsordnung nichtsdestotrotz Bedenken. Wenn nunmehr der Verzicht auf das Recht uneingeschränkter Akteneinsicht darüber hinaus allein aus prozesstaktischen Gründen verlangt und honoriert wird, ist die evidente Missachtung der Wertung des § 17 Abs. 3 OWiG kaum mehr zu bestreiten. In Zusammenschau der vorstehenden Erwägungen widerspricht der vom Bundeskartellamt geforderte Verzicht auf vollständige Akteneinsicht im Settlement-Verfahren damit jedenfalls dem Rechtsstaatsprinzips und dem Prinzip der materiellen Wahrheit. Diese Beeinträchtigungen wären nur dann gerechtfertigt, wenn sie durch mit dem Verzicht auf Akteneinsicht verbundene Ziele die aufgewogen werden könnten. Angesichts dessen, dass das Bundeskartellamt nach hier vertretener Auffassung jedoch nur zu Settlements ermächtigt ist, weil mit Effizienzsteigerungen der Behörde ein verbesserter Wettbewerbsschutz erzielt werden kann, besteht allerdings bereits kein abwägungsfähiges Interesse. Denn der Verzicht auf Akteneinsicht führt, wie aufgezeigt, vielmehr zu einer Tendenz abnehmender positiver Generalprävention. Im Übrigen steht das alleinige Ziel reduzierten Aufwands und beschleunigter Verfahren in keinem Verhältnis zu den vorstehenden, gravierenden rechtsstaatlichen Bedenken. Die Forderung ist mithin unzulässig. Gleichermaßen problematisch mutet die Forderung des Bundeskartellamtes an, wonach Betroffene eine von diesem ermittelte maximale Geldbuße anzuerkennen haben. Selbst wenn man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – die bloße Verfahrensbeschleunigung als zulässigen Sanktionsmilderungsgrund anerkennt, würde dies die geforderte „Einverständniserklärung“ der Betroffenen nicht rechtfertigen. Denn die Akzeptanz der ermittelten Höchstgeldbuße mindert weder den Verfahrensaufwand des Bundeskartellamtes noch beschleunigt sie das Bußgeldverfahren. Sie ist trägt als Produkt einer durch die Betroffenen vorgenommenen Prüfung der Sanktionszumessungsgründe nicht den (Settlements erst ermächtigenden) Zwecken des Opportunitätsprinzips bei. Vielmehr beinhaltet die Erklärung einerseits lediglich die Bestätigung der höchstens zu erwartenden Geldbuße, 898 Krit. zum verhandelten Geständnis im Strafverfahren: Murmann, in: Heinrich/Jäger/Schünemann u. a., Strafrecht als Scientia Universalis, S. 1385 ff. (1392); Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 16; Altenhain/Haimerl, JZ 2010, S. 327 ff. (72); Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 21; jeweils m.w. N.; a. A. BGH, Urt. v. 28.8.1997, Az. 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195 (209), Rn. 40 f. (juris). 899 Vgl. Teil 2 § 4 E. II. (S. 192 ff.).

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die allerdings verfahrensbedingt auf „Halbwissen“ beruht.900 Andererseits bewirkt die bloße Anerkennung, wie Verpflichtungserklärungen gemäß § 32b Abs. 1 S. 1 GWB, keine unmittelbare Sanktionierung. Diese erfolgt erst nach der Erklärung im Wege der vom Bundeskartellamt erlassenen Verfügung, sei es durch die im Verwaltungsverfahren getroffene Zusagenverfügung, mit der die Verpflichtungserklärung für bindend erklärt wird,901 oder durch den die Zuwiderhandlung feststellenden Bußgeldbescheid. Um letzteren erlassen zu können, muss das Bundeskartellamt diejenige Geldbuße ermitteln, die dem öffentlichen Ahndungsinteresse und dem Schuldprinzip gleichermaßen gerecht wird. Damit obliegt die Zumessung des Bußgeldes einzig und allein dem Bundeskartellamt. Ferner ist die Anerkennung des veranschlagten Maximalbußgeldes kein die Sanktionsmilderung rechtfertigender Ausdruck der Kooperationsbereitschaft der Betroffenen.902 Würde man die Erklärung derartig bewerten, beinhaltete die Forderung des Bundeskartellamtes zugleich, dass sich der Betroffene ausdrücklich und endgültig mit dem Bußgeld „abfindet“, also indirekt darlegt, keinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid zu erheben. Eine Verständigung, die einen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand hat, ist jedoch nach § 302 Abs. 1 S. 2 StPO ausgeschlossen.903 Dessen Rechtsgedanke ist als wesentliche, einfach-gesetzliche Umsetzung des Rechts auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren auch dem behördlichen Bußgeldverfahren zu Grunde zu legen.904 Im Übrigen ist der Erklärung der Betroffenen auch keine andere rechtliche Wirkung immanent, die dem Bundeskartellamt in einem Einspruchsverfahren insoweit zugutekäme, als dass sie den Bestand des Bußgeldbescheids schützen und daher eine Verhältnismäßigkeitsprüfung notwen900 Ähnlich Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 823, 825. 901 Vgl. bereits Teil 2 § 2 A. I. (S. 90 f.). 902 Ohne Wertung auch: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 381 mit Verweis auf ältere Entscheidungen des BKartA. 903 § 302 Abs. 1 S. 2 StPO verbietet nach seinem Wortlaut zwar nur den Fall des Rechtsmittelverzichts nach dem Abschluss einer Verständigung. Allerdings wird mit der stRspr ganz allgemein ein über den Wortlaut hinausgehender Anwendungsbereich zugunsten des Angeklagten angenommen; der Gesetzgeber wollte den Rechtsmittelverzicht bei Verständigungen gänzlich ausschließen, um eine volle Überprüfbarkeit sicherzustellen: Begr. BRegE StVVerstG, BT-Drs. 16/12310, S. 1 (2, 9); BGH, Urt. v. 28.8. 1997, Az. 4 StR 240/97, BGHSt 43, 195 (204), Rn. 28 (juris); Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1444 f.), Rn. 58 ff. (juris); ferner auch zu den Umgehungen der Regelung: Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 18; Eisenberg, Beweisrecht, 1. Kap. Rn. 49; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 15b; Jahn/Müller, NJW 2009, S. 2625 ff. (2630); Fischer, ZRP 2010, S. 249 ff. (250 f.). 904 Unter Bezugnahme auf die stRspr auch Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351, 354); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (26); Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 30; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 55; zur Rechtslage im Bußgeldverfahren allgemein, auch unter Darstellung der wohl nicht mehr vertretbaren Ansicht des BGH (NJW 1974, 66), nach welchem ein Rechtsmittelverzicht auch vor Beginn der Einspruchsfrist möglich sein sollte: Bohnert, in: KK/OWiG, § 67 Rn. 119.

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dig machen würde. Denn der Bußgeldbescheid wandelt sich mit dem Einspruch der Betroffenen in eine Art Anklageschrift, sodass er seine ursprüngliche Funktion voll und ganz einbüßt. Das Gericht entscheidet nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen über die festgestellte Zuwiderhandlung und nicht allein über die Rechtmäßigkeit des Bußgeldbescheides.905 Die Akzeptanz der Geldbuße kann damit auch nicht als endgültiges, verfahrensbeendendes Schuldanerkenntnis interpretiert werden,906 zumal sie das Bundeskartellamt weder von seiner Pflicht zur Sachverhaltserforschung907 noch von der rechtlichen Prüfung und anschließenden Bußgeldzumessung entbindet. Es käme allenfalls ein tatsächliches Anerkenntnis ohne Rechtsbindungswillen in Betracht, was im Zivilprozess zu einer Beweislastumkehr führt.908 Ein solches scheitert im Bußgeldverfahren jedoch ebenfalls an der Aufklärungspflicht des Bundeskartellamtes, der Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung des OLG Düsseldorf sowie an der Unschuldsvermutung.909 Schließlich ist auch die Annahme treuwidrigen Verhaltens, etwa der Einwand „venire contra factum proprium“ verfehlt, da das Bundeskartellamt für die Sanktionszumessung die alleinige Verantwortung trägt.910 Aus alledem ergibt sich, dass die seitens des Bundeskartellamtes verlangte Anerkennung der vorgeschlagenen Höchstgeldbuße weder Auswirkungen auf das kartellbehördliche, noch auf das gerichtliche Bußgeldverfahren zeitigt. Dementsprechend ist die Forderung des Bundeskartellamtes zur Erreichung der mit der Einräumung des Verfolgungsermessens bezweckten Ziele ungeeignet und damit unverhältnismäßig. (c) Folgen für die Bindungswirkung des Settlements Freilich nützt die Feststellung der Rechtswidrigkeit der kartellbehördlichen Forderungen den Betroffenen nichts, wenn die Berufung auf ihre Rechte de facto zu Nachteilen führt. Dies ist deshalb zu befürchten, weil die Verständigung für das Bundeskartellamt nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 StPO nur dann bindend ist, wenn sie wirksam zustande gekommen ist. Daran soll es aber 905

Vertiefend: Teil 1 § 2 B. III. (S. 69 ff.). Dazu zählt sowohl ein Anerkenntnis im Sinne des § 307 ZPO, als auch ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis, das dem Schuldner im Zivilprozess die Geltendmachung von Einwendungen abschneidet. 907 Teil 2 § 4 E. V. 1. a) aa) (S. 217 ff.). 908 Hierzu etwa Bacher, in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 38. Kap. Rn. 25 ff., 29 (zur Beweislastumkehr). 909 Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 823 für das Kartellverfahren der Kommission. 910 Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 825. Insoweit könnte man allenfalls die Anerkennung der Angemessenheit des Abschreckungsaufschlags annehmen, der jedoch – ebenso wie die Verständigung selbst – für das Gericht nicht bindend ist. 906

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gerade bei rechtswidrigen Zusagen fehlen.911 Dies würde bedeuten, dass Settlements, wie sie derzeit vereinbart werden, grundsätzlich keine Bindungswirkung für das Bundeskartellamt entfalten. Es mag sein, dass sich eine Vielzahl von Betroffenen den Forderungen des Bundeskartellamtes beugen, um die ihnen in Aussicht gestellten Vorteile nicht zu riskieren, sodass sich die Kartellbehörde im Gegenzug auch an ihre Zusagen halten wird, um ihre Settlement-Praxis nicht zu gefährden. Mit Vollzug des Settlements wird allerdings nicht dessen Unwirksamkeit beseitigt. Für Betroffene ergibt sich daraus ein Dilemma: Üben sie ihr Akteneinsichtsrecht aus, um sich über die Einschätzung des Bundeskartellamtes zu vergewissern und zu entscheiden, ob ein „Geständnis“, wie es das Bundeskartellamt erstrebt, sinnvoll ist, so wird sich die Kartellbehörde sehr wahrscheinlich nicht mehr an ihre Zusagen gebunden fühlen. Tun sie es nicht, wissen sie regelmäßig nicht, ob die Akte auch Beweismittel enthält, die für ihre Verteidigung günstig wären und schließen überdies ein – nach hier vertretener Auffassung – rechtswidriges Settlement ab. Diese Lage der Betroffenen ist schon deshalb unerträglich, weil sie nicht selbstverschuldet ist. Indem das Bundeskartellamt den Verzicht auf Akteneinsicht und die Akzeptanz der maximalen Geldbuße einseitig zur Bedingung eines Settlementverfahrens macht, haben die Betroffenen nämlich keine Möglichkeit auf ein wirksames Settlement hinzuwirken. In der strafrechtlichen Literatur will man diesem Problem mit verfassungsrechtlichen Erwägungen begegnen. Mit der Unwirksamkeit der Verständigung entstehe zwar ihre gesetzlich intendierte Bindungswirkung nicht. Damit entfalle jedoch nicht der verfassungsrechtlich verankerte Schutz des Vertrauens- und „fair trail“-Grundsatzes.912 Ist die durch das Scheitern der Verständigung bewirkte Verletzung des Vertrauenstatbestandes vor allem den Straforganen zuzurechnen, habe der Angeklagte jedenfalls einen Anspruch auf Folgenbeseitigung in Form eines Beweisverwertungsverbots oder Aufhebung des Urteils, dass auf der Verletzung beruht.913 Velten geht noch darüber hinaus. Die Strafmaßzusage des Gerichts müsse nach dem Grundsatz der Selbstbindung auch bei Scheitern der Verständigung Orientierungsmaßstab für die zu verhängende Strafe sein, wenn die Verständigung nur teilweise rechtswidrig sei.914 Dies gelte selbst dann, wenn der Fehler für das Scheitern in der Sphäre des Angeklagten zu suchen sei. 911 BGH, Beschl. v. 4.8.2010, Az. 2 StR 205/10, NStZ 2011, 107 f., Rn. 14 f. (juris); Beschl. v. 6.10.2011, Az. 2 StR 354/10, StV 2011, 74 f., Rn. 2 (juris); Velten, in: SKStPO V, § 257c Rn. 32; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 30; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 4; Meyer, HRRS 2011, Heft 1, S. 17 ff. (18); Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen, S. 456 ff.; Graumann, HRRS 2008, Heft 3, S. 122 ff. (127, 131). 912 So Meyer, HRRS 2011, Heft 1, S. 17 ff. (18). 913 Meyer, HRRS 2011, Heft 1, S. 17 ff. (18); Graumann, Vertrauensschutz und strafprozessuale Absprachen, S. 451 ff., 467; Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 31; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 30; Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 49. 914 Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 32.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Entscheidend sei, dass auch der obere Bereich der zugesagten Strafe noch tatund schuldangemessen im Sinne des § 46 StGB ist; die in § 257c Abs. 4 S. 1 StPO zum Ausdruck kommende Einschränkung finde daher auch – zugunsten des Angeklagten – in Satz 2 analoge Anwendung.915 Dementsprechend reiche es nicht aus, wenn sich das Gericht zur Anhebung des Strafrahmens berechtigt fühle; die Anhebung müsse sicher angemessen sein.916 Die Auffassung Veltens ist im Strafverfahren im Ergebnis überzeugend, soweit die Ursache für das Scheitern der Verständigung letztlich in der Rechtswidrigkeit des gerichtlichen Angebots zu suchen ist. Dann erschiene es nämlich ungerecht, wenn der Angeklagte der einzig Leidtragende der – nicht in seinem Einfluss stehenden – fehlgeschlagenen Verständigung ist. Denn falls ein Beweisverwertungsverbot überhaupt greift, hilft es wohl nur beschränkt weiter, da es nicht umfassend schützt.917 Im Settlement-Verfahren ist die Situation der Betroffenen mit derjenigen des Angeklagten vergleichbar. Geben sie ein Geständnis, also den Kernbestandteil des Settlements, trotz Ausübung ihres Akteneinsichtsrechts und/oder einer ausbleibenden, ausdrücklichen Akzeptanz des Bußgeldes, ab und kommen damit ihrer Hauptobliegenheit nach, muss ihre berechtigte Erwartung, nämlich die zugesagte Teileinstellung und Bußgeldreduktion, erfüllt werden. Nehmen die Betroffenen ihr Akteneinsichtsrecht wahr, kann sich nämlich nichtsdestotrotz der Verfahrensaufwand des Bundeskartellamtes verringern und das Verfahren insgesamt verkürzen, wenn sie die Sachverhaltsdarstellung des Bundeskartellamtes nach Einsicht in die Akten nicht umfassend bestreiten und sich das Bundeskartellamt dadurch weitere Ermittlungsmaßnahmen, gegebenenfalls die Versendung eines Beschuldigtenschreibens und den Erlass eines umfangreich begründeten Bußgeldbescheids erspart. Zudem ist das Geständnis die einzige vom Bundeskartellamt gestellte Bedingung, die dem „fair trail“-Grundsatz und den Sanktionszumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG gerecht wird und dessen Erfüllung das Bundeskartellamt im Sinne des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO fairerweise erwarten durfte. Ob allerdings ein Anspruch der Betroffenen auf Erfüllung des Settlements durch Selbstbindung des Bundeskartellamtes besteht, mag bezweifelt werden. Denn es wurde bereits festgestellt, dass Betroffene grundsätzlich keinen Anspruch auf Erlass eines Bußgeldbescheids gegen sich selbst haben.918 Ferner könnte den Betroffenen entgegen gehalten werden, dass die anfängliche Unwirksamkeit einer Abrede, ähnlich wie bei Zusicherungen, keinen Vertrauenstatbestand begründet.919 Sachgerechter erscheint vor diesem Hintergrund die An915

Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 45. Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 41. 917 Dazu sogleich noch unter Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (4) (S. 284 ff.). 918 Teil 2 § 4 E. II. (S. 192 ff.). 919 Vgl. etwa Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 38 Rn. 54 ff.; Liebetanz, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 38 Rn. 47 f.; Henneke, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 38 Rn. 27. 916

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nahme einer die Vermutung der Gesamtnichtigkeit zerstörenden Teilunwirksamkeit entsprechend § 139 BGB bzw. § 59 Abs. 3 VwVfG.920 Nach diesen Vorschriften ist eine Vereinbarung, obgleich nur einzelne Teile rechtwidrig sind, in ihrer Gesamtheit unwirksam, wenn nicht anzunehmen ist, dass die Parteien den Vertrag auch ohne den unwirksamen Teil gewollt haben.921 Rechtswidrige Inhalte einer Absprache sind im Umkehrschluss nichtig, ohne die gesamte Vereinbarung anzutasten, wenn die Parteien aus Sicht einer verständigen Vertragspartei die Vereinbarung auch ohne den nichtigen Teil vernünftigerweise geschlossen hätten. Da das Bundeskartellamt die mit Settlements verfolgten Ziele auch und überwiegend (allein) mit einem Geständnis erreichen kann, ist nicht davon auszugehen, dass es sich einem Settlement verschließen würde, wenn es sich der Rechtswidrigkeit seiner übrigen Forderungen bewusst wäre. Ferner ist die vereinbarte direkte und indirekte Bußgeldermäßigung wohl regelmäßig eine „noch“ angemessene Gegenleistung für den nichtsdestotrotz ersparten Verfahrensaufwand. Daher überzeugt nur eine interessengerechte Übertragung des Rechtsgedankens der teleologisch reduzierten Vorschrift des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO, mit der Folge, dass rechtmäßige Zusagen des Bundeskartellamtes die gesetzlich intendierte Bindungswirkung entfalten, wenn die Betroffenen ihre zugesagten, rechtmäßigen Obliegenheiten erfüllen.922 Dieses Ergebnis entspricht der im Schrifttum weitestgehend anerkannten Entscheidung des BGH, derzufolge das unzulässige Versprechen des Angeklagten, auf ein Rechtsmittel zu verzichten, nicht die Bindungswirkung einer im Übrigen erfüllten Verständigung beseitigen kann.923 Da das Akteneinsichtsrecht auch und vor allem der Verteidigung der Betroffenen dient, entspricht es auch der im Zivilrecht anerkannten Regel, wonach bei einer Teilnichtigkeit eines Rechtsgeschäfts das Geschäft im Übrigen wirksam bleibt, wenn

920 BVerwG, Urt. v. 24.10.1956, Az. V C 236.54, BVerwGE 4, 111 (119), Rn. 38 (juris); ähnlich BGH, Urt. v. 19.11.1982, Az. V ZR 161/81, BGHZ 85, 315 (318), Rn. 17 (juris) („Auslegungsregel § 139 BGB“). 921 Zum öffentlichen Recht: BVerwG, Urt. v. 25.11.2005, Az. 4 C 15/04, NVwZ 2006, 336 (338), Rn. 30 (juris); aus der Literatur statt aller: Bonk, in: Stelkens/Bonk/ Sachs VwVfG, § 59 Rn. 61; Kopp/Ramsauer, VwVfG, § 59 Rn. 29 f.; Schliesky, in: Knack/Henneke, VwVfG, § 59 Rn. 45 ff.; Bernsdorff, in: Obermayer/Fritz, VwVfG, § 59 Rn. 103 ff.; zum Privatrecht etwa BGH, Urt. v. 30.10.1974, Az. VIII ZR 69/73, BGHZ 63, 132 (136 f.), Rn. 14 ff. (juris); Urt. v. 30.1.1997, Az. IX ZR 133/96, NJWRR 1997, 684 (685), Rn. 35 (juris); ferner etwa Busche, in: MK/BGB, § 139 Rn. 30 ff. 922 So kann auch die Stellungnahme von Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 30 verstanden werden: („Inhaltlich rechtswidrige Zusagen entfalten allerdings keine Bindungswirkung [. . .].“). 923 BGH, Urt. v. 12.3.2008, Az. 3 StR 433/07, NJW 2008, 1752 (1754), Rn. 10 (juris) mit Anm. Fezer (S. 1059 ff.); so auch Lindemann, JR 2009, S. 82 ff. (83 f.); Rieß, in: Eser, Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, S. 645 ff. (652); Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 45; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 395e; Meyer-Goßner, StPO, Vor § 213 Rn. 15, § 257c Rn. 15b; a. A. (vor der Entscheidung des BGH): Fahl, ZStW 117 (2005), S. 605 ff. (619); weitere Nachweise bei Lindemann, JR 2009, S. 82 ff. (83 f.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

gegen ein Gesetz verstoßen wurde, das eine Vertragspartei vor Nachteilen schützen will.924 Daraus folgt, dass das Bundeskartellamt bei Scheitern des Settlements an die versprochenen Gegenleistungen gebunden ist, wenn sich die „Leistung“ der Betroffenen im Rahmen dessen hält, was das Bundeskartellamt fairerweise erwarten durfte. Dies ist einzig und allein die Abgabe eines Geständnisses, sofern die Ziele des Settlements nicht durch umfangreiches Bestreiten des vom Bundeskartellamt ermittelten Sachverhalt gefährdet sind und die versprochene Sanktionsmilderung (inklusive der mittelbaren Vorteile durch die Teileinstellung) im öffentlichen Interesse noch tat- und schuldangemessen im Sinne des § 17 Abs. 3 OWiG ist. (4) Verwertbarkeit des Geständnisses? Dem Regelungsgehalt des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO entsprechend darf das von Betroffenen abgegebene Geständnis nicht verwertet werden, wenn das Bundeskartellamt nachträglich vom Settlementverfahren in das reguläre Verfahren wechselt, weil es neue Erkenntnisse aus seiner Sicht zwingend erforderlich machen, die Zuwiderhandlung umfassender zu verfolgen oder das Prozessverhalten der Betroffenen nicht der Prognose des Bundeskartellamtes entspricht. Letzteres gilt entsprechend dem Ergebnis des Abschnitts (3) wohl überwiegend für den Fall, dass sich Betroffene nachträglich dazu entschließen, ihr Geständnis zu widerrufen.925 Der Widerruf entspricht nicht der berechtigten Erwartung des Bundeskartellamtes, sodass es in Anwendung des Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO nicht mehr an seine Zusagen gebunden ist. Dementsprechend gilt das Verwertungsverbot. Die Nichtanwendung der außerhalb von Verständigungen im Strafverfahren anerkannten Praxis, wonach das Geständnis verwertet werden darf, wenn der Widerruf auf keinen plausiblen Grund zurückzuführen ist, das Geständnis frei von Zwängen abgegeben wurde und nach der Aktenlage glaubhaft erscheint,926 ist auch bei Settlements angesichts der besonderen Situation der Betroffenen im Verständigungsverfahren berechtigt. Denn Betroffene räumen die vom Bundeskartellamt ermittelten Tatsachen (im Regelfall) nicht aus eigenem Antrieb ein. Vielmehr beruht ihre Motivation auf den in Aussicht gestellten Vergünstigungen. Das Settlement zwingt sie allerdings zur Vorleistung. Erkennen 924 Ebenso schon Lindemann, JR 2009, S. 82 ff. (84); zur Rechtslage im bürgerlichen Recht statt aller Busche, in: MK/BGB, § 139 Rn. 10 ff.; Ellenberger, in: Palandt BGB, § 139 Rn. 18; jeweils m.w. N. 925 Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 46; Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 33; für den Fall des Dissenses auch Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 396 d. 926 Vgl. schon Teil 2 § 4 E. V. 2. c) aa) (3) (S. 266 ff.) und die dort angeführten Nachweise; ferner das noch kurz vor Inkrafttreten des Verständigungsgesetzes ergangene Urt. des BGH, Beschl. v. 22.7.2009, Az. 5 StR 238/09, StV 2009, 629 f., in welchem dieser auf das nunmehr bestehende Verwertungsverbot hinweist.

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Betroffene nachträglich, dass sie überstürzt gehandelt haben und einem Fehler unterlegen sind, etwa weil sie eigene, zur Verteidigung geeignete Unterlagen übersehen haben, was angesichts des durch das Bußgeldverfahren erzeugten Drucks auf Unternehmen durchaus von praktischer Relevanz ist,927 entfällt aus ihrer Sicht die „Geschäftsgrundlage“ für das Settlement. Folgerichtig ist in Anerkennung ihres Rechts auf ein faires Verfahren, insbesondere des Grundsatzes der Waffengleichheit, eine Art Leistungskondiktion zuzulassen.928 Schwieriger zu beurteilen sind allerdings die Fälle, in denen Betroffene aufgrund (von Anfang an) unzulässiger Versprechungen des Bundeskartellamtes gestanden haben. Vor dem Hintergrund, dass rechtlich zwingende Angebote quasi zu den essentialia negotii des Settlements zählen, stellt sich die Frage, wie sich ihre anfängliche Rechtswidrigkeit auf die Geständnisverwertung auswirkt. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO soll das Verwertungsverbot nur für diejenigen Fälle des § 257c Abs. 4 S. 1 und S. 2 StPO gelten, in denen die Bindungswirkung nachträglich durch einseitige (konkludente) Lösung von der Verständigung entfällt. Eine Übertragung des Verwertungsverbots auf die Fälle anfänglich unwirksamer Verständigungen setzte also eine analoge Anwendung der Vorschrift im Strafverfahren und eine entsprechende Übertragung des auf diese Art gewonnenen Rechtsgedankens auf das Settlement-Verfahren voraus. Eine Analogie wäre grundsätzlich möglich, da das Verwertungsverbot den Angeklagten (und im Bußgeldverfahren den Betroffenen) begünstigt und damit dem Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG nicht entgegensteht.929 Allerdings hat der BGH einer entsprechenden Anwendung der Vorschrift auf Fälle, in 927 Der Druck wird durch die Aussicht auf die Verhängung sehr hoher Geldbußen, der möglichen Kooperation anderer (vermeintlicher) Kartellbeteiligter im Rahmen der Bonusregelung und generell durch die Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere Durchsuchungen und Zeugenbefragungen, des BKartA bewirkt. Gerade bei größeren Unternehmen, bei denen die Geschäftsführung keine Kenntnis von dem fraglichen Kartellverstoß hatte, ist die Gefahr überstürzten Handelns nicht nur theoretischer Natur. Zu den Auswirkungen der neueren Ermessenspraxis des BKartA noch vertiefend: Teil 4 § 2 E. I. (S. 550 ff.). 928 Ähnlich Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 46; zur Aufkündigung durch das Gericht auch: Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 28. Allerdings besteht für diesen Fall nach der wohl noch herrschenden Meinung keine Fernwirkung des Verwertungsverbots. 929 Aus dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG folgt nach ganz allgemeiner Meinung ein Analogieverbot zu Lasten des Angeklagten im Strafverfahren und des Betroffenen eines Bußgeldverfahrens. StRspr., vgl. nur BVerfG, Ents. v. 3.7.1962, Az. 2 BvR 15/62 – Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, NJW 1962, 1339 f., Rn. 33 ff. (juris); Beschl. v. 23.10.1985, Az. 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomplakette, BVerfGE 71, 108 (115), Rn. 16 (juris); Beschl. v 19.12.2002, Az. 2 BvR 666/02, Rn. 24 (juris); Beschl. v. 1.6.2006, Az. 1 BvR 150/03 – Nazi-Parole, NJW 2006, 3050, Rn. 9 (juris); Beschl. v. 18.5.2009, Az. 2 BvR 2202/08 – Naziparolen, NJW 2009, 2805, Rn. 9 (juris); ferner ausführlich Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 224 ff.; speziell für das Ordnungswidrigkeitenrecht: Rogall, in: KK/OWiG, § 3 Rn. 51; Förster, in: RRH/OWiG, § 3 Rn. 8 f.; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn. 9; jeweils m.w. N.

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denen sich die Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren – entgegen § 257c Abs. 2 S. 3 StPO – über den Schuldspruch geeinigt haben, eine Absage erteilt. Das Verwertungsverbot gelte nur für die gesetzlich ausdrücklich benannten Fälle; auch das Prinzip der Verfahrensfairness gebiete ein Verwertungsverbot nur dann, wenn die Geschäftsgrundlage für das Geständnis durch nachträgliche Loslösung des Gerichts von der Verständigung entfallen sei.930 Dieser Auffassung ist zu widersprechen. Ein derart enges Verständnis verletzt den Grundsatz der Waffengleichheit und damit den „fair trail“-Grundsatz. Im Bußgeldverfahren würde das Bundeskartellamt nämlich, obgleich es die anfängliche Unwirksamkeit des Settlements allein zu vertreten hat, ein verwertbares Geständnis erlangen, während die Betroffenen ihre Verteidigungsposition restlos einbüßten.931 Damit würde dem Bundeskartellamt eine ungerechtfertigte, gegenüber den Betroffenen erdrückende Verhandlungsposition zuteil. Denn die aufgrund der derzeitigen Praxis des Bundeskartellamtes an einer umfassenden Akteneinsicht gehinderten Betroffenen, können sich erstens kein hinreichendes Bild über die Überzeugungskraft der Beweismittel machen, die den vom Bundeskartellamt ermittelten Sachverhalt stützen. Zweitens macht das Bundeskartellamt den Betroffenen einseitig ein Settlement-Angebot, das, soweit es wegen seiner übermäßigen Vorteilsaussicht rechtlich zwingend wirkt, von den Betroffenen naturgemäß nicht ausgeschlagen werden kann. Und drittens kann das Bundeskartellamt, wenn es rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen hat, „unsanktioniert“ von dem Settlement-Angebot Abstand nehmen. Diese Rechtslage „lädt“ es regelrecht zu Settlement-Gesprächen auf nicht hinreichend tragfähiger Grundlage ein, nämlich auf der Grundlage eines nicht hinreichend ermittelten Sachverhalts932 und/oder einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung. Denn was kann das Bundeskartellamt schon verlieren, wenn es Betroffene mit übermäßigen Vergünstigungen zu einem Geständnis „bewegt“ und sich im Nachhinein, aus welchen Gründen auch immer, nicht an die Verständigung hält? Obgleich zuzugeben ist, dass die SettlementPraxis des Bundeskartellamtes auf Dauer nur auf einer hinreichenden Vertrauensbasis funktioniert, sodass es im Interesse des Bundeskartellamtes liegt, Settlements im Regelfall zu erfüllen, ändert es nichts daran, dass Zusagen zwingenden Charakters, indem sie den „nemo tenetur“-Grundsatz verletzen, evident den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens widersprechen. Unabhängig von der aus den gleichen Gründen zu gewährleistenden, vollständigen Akteneinsicht kann der Gefahr einer Unterminierung der Stellung der Betroffenen im Settle930 BGH, Beschl. v. 19.8.2010, Az. 3 StR 226/10, StV 2011, 76 (77), Rn. 7 (juris); Beschl. v. 1.3.2011, Az. 1 StR 52/11, NJW 2011, 1526 f.; Beschl. v. 16.3.2011, Az. 1 StR 60/11, StV 2012, 134 f., Rn. 5 f. (juris); ihm folgend auch OLG Nürnberg, Beschl. v. 29.2.2012, Az. 1 St OLG Ss 292/11, Rn. 12 ff. (juris). 931 So schon überzeugend zur vergleichbaren Lage der Angeklagten im Strafverfahren: Velten, StV 2012, S. 172 ff. (173); ders., in: SK-StPO V, § 257c Rn. 48 f. 932 Zu der nicht rein theoretischen Gefahr mangelnder Sachverhaltsermittlung: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.).

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ment-Verfahren nur dadurch abgeholfen werden, dass es jedenfalls bei rechtlichen Zwang ausübenden Settlement-Angeboten die Konsequenzen seines rechtswidrigen Tuns in Form eines Verwertungsverbots des Geständnisses zu tragen hat. Fraglich ist jedoch, wie weit dieses Beweisverwertungsverbot reicht. Die Rechtsprechung und wohl herrschende Meinung in der Literatur lehnen im Strafverfahren eine Fernwirkung des Verbots auf mit Hilfe des Geständnisses gewonnene Beweismittel ab.933 Folgt man dieser Auffassung auch im Settlement-Verfahren besteht die Gefahr, dass das Bundeskartellamt auf das preisgegebene Wissen der Betroffenen zurückgreift und mit gezielten Ermittlungsmaßnahmen über den Inhalt des Geständnisses Beweis erhebt. Aus diesem Grund fordert ein Teil der Lehre zu Recht eine Fernwirkung des Verwertungsverbots, wenn der Strafrichter bzw. im Settlement-Verfahren das Bundeskartellamt rechtswidrig gehandelt haben und die Verständigung aus diesem Grund scheitert.934 Dies entspricht auch einer konsequenten Fortführung der Auffassung des EuGH, der rechtswidrig erlangte Beweise einem Verwertungsverbot unterworfen hat.935 Der Streit um das Beweisverwertungsverbot im Allgemeinen und dessen Fernwirkung im Besonderen offenbart nochmals die Sachrichtigkeit des im vorangegangenen Abschnitt gefundenen Ergebnisses, wonach die Wahrnehmung des uneingeschränkten Akteneinsichtsrechts und die Verweigerung der Anerkennung des vom Bundeskartellamt vorgeschlagenen Höchstbußgeldes das Bundeskartellamt nicht berechtigen, von seinem (rechtmäßigen) Settlementvorschlag zurückzutreten. Die Verständigung bleibt für das Bundeskartellamt bindend, sodass es das Geständnis der Betroffenen und auf diese zurückzuführende, andere Beweismittel 933 BVerfG, Beschl. v. 29.5.1996, Az. 2 BvR 66/96, Rn. 37 ff. (juris); BGH, Urt. v. 18.4.1980, Az. 2 StR 731/79, NJW 1980, 1700 f., Rn. 8 ff. (juris); Urt. v. 28.1987, Az. 5 StR 666/86, BGHSt 34, 362 (364 f.), Rn. 8 (juris); Urt. v. 6.8.1987, Az. 4 StR 333/ 87, NJW 1988, 1223 (1224), Rn. 9 (juris); Beschl. v. 7.3.2006, Az. 1 StR 316/05, NJW 2006, 1361 (1363), Rn. 22 (juris); Beschl. v. 14.9.2010, Az. 3 StR 573/09, NJW 2011, 1523 (1524), Rn. 13 (juris); Meyer-Goßner, StPO, § 257c Rn. 28; Niemöller, in: Niemöller/Schlothauer/Weider, StVVerstG, § 257c Rn. 150; Heintschel-Heinegg, in: KMR/ StPO, § 257c Rn. 52; Altvater, in: Bernsmann/Fischer, Festschrift für Ruth Rissing-van Saan zum 65. Geburtstag am 25. Januar 2011, S. 1 ff. (27); für das Kartell-Bußgeldverfahren: Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 30. Zur Vereinbarkeit mit Art. 3 EMRK bei unzulässiger Androhung von Folter auch EGMR, Urt. v. 1.6.2010, – Nr. 22978/05 – Gäfgen/Deutschland, NJW 2010, 3145 (nicht abgedr.), §§ 87 ff., 92. 934 Jahn/Müller, NJW 2009, S. 2625 ff. (2629); Murmann, ZIS 2009, S. 526 ff. (538); Fischer, StraFO 2009, S. 177 ff. (187); Schlothauer/Weider, StV 2009, S. 600 ff. (605); Eschelbach, in: BeckOK StPO, § 257c Rn. 37; Velten, in: SK-StPO V, § 257c Rn. 51; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 396c; allgemein krit. im Hinblick auf das Kartell-Bußgeldverfahren auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 233. 935 EuGH, Beschl. v. 26.3.1987, Rs. 46/87 R – Hoechst/Kommission, Slg. 1987, 1549 ff. (1558), Rn. 34; dazu etwa Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 337 AEUV Rn. 11.

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verwerten kann. Dies dient sowohl dem Bundeskartellamt als auch den Betroffenen. Das Bundeskartellamt kann mit den erhobenen Beweismitteln das Verfahren zügig beenden und muss keinen Streit über die sachgerechte Berücksichtigung der Kooperation führen. Die Betroffenen müssen nicht um ihre Verteidigungsposition bangen. Die Lösung trägt von Anfang an zu klaren Verhältnissen und Rechtssicherheit bei, ohne einen Verfahrensbeteiligten zu benachteiligen. cc) Gerichtliche Durchsetzung Die vorstehenden Ergebnisse scheinen angesichts der bestehenden Rechtslage, wonach das OLG Düsseldorf im Falle eines Einspruchs der Betroffenen gegen den (die vorstehenden Ansätze nicht berücksichtigenden) Bußgeldbescheid zur Ersetzung der behördlichen Verfügung berufen ist, zunächst weitestgehend relativiert zu sein. Denn was nützt es den Betroffenen, wenn die zuständige Beschlussabteilung an ihren Settlement-Vorschlag gebunden ist, das nach dem Einspruch zur Letztentscheidung berufene OLG Düsseldorf jedoch nicht? Auch fragt sich, was passiert, wenn ein Settlement wegen rechtswidriger Zusagen scheitert und das Bundeskartellamt nichtsdestotrotz das – im Glauben an dessen Bindungswirkung – abgelegte Geständnis verwertet. Im Verwaltungsprozess hebt das Gericht eine ermessensfehlerhafte, belastende Verfügung auf.936 Die Behörde kann anschließend, unter Berücksichtigung der Wertungen des Gerichts, eine neue Entscheidung treffen. Im Strafverfahren hebt das Berufungsgericht gemäß § 328 Abs. 1 StPO das Strafurteil auf, sofern es Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Verständigung hat und entscheidet in der Sache selbst. Dabei ist es wiederum an die Vorschrift des § 257c StPO gebunden. Vor allem hat es dessen Regelungen zum Verwertungsverbot des Geständnisses zu beachten. Gemeinsam ist sowohl dem Straf- als auch dem Verwaltungsprozess, dass die Kontrollinstanzen die vorausgegangene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen. Gerade dies ist im gerichtlichen Bußgeldverfahren jedoch nicht der Fall. Wenn das OLG Düsseldorf allerdings unter Ausblendung des Settlements des Bundeskartellamtes neu entscheiden würde, wirkte eine das Vertrauen des Betroffenen verletzende, rechtsstaatlich zweifelhafte Praxis fort, ohne dass der Betroffene Rechtsmittel zu deren Beseitigung hätte. Dies würde sein Recht auf freien Zugang zu den Gerichten gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verletzen. Letztlich kann das OLG Düsseldorf die vom Bundeskartellamt begangenen Ermessensfehler bei seiner eigenen Ermessensentscheidung daher nicht ignorieren und hat diese im Rahmen seiner pflichtgemäßen Ermessenausübung zu heilen.937 Dementsprechend wird es etwa eine zu Unrecht nicht gewährte Bußgeldermäßigung und Teileinstellung des Bußgeldverfahrens wegen des wahrgenommenen Rechts auf Akteneinsicht in seinem Urteil umsetzen müssen. Glei936 937

Statt aller: Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 11. Ähnlich schon Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 108.

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chermaßen wird es im Fall gescheiterter Settlements das Verwertungsverbot des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO zu beachten haben. dd) Ergebnis Die Durchführung und Fortführung eines Settlementverfahrens steht im pflichtgemäßen Ermessen des Bundeskartellamtes. Ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung ist den Betroffenen eines Bußgeldverfahrens nicht zuzugestehen, da § 47 Abs. 1 OWiG ausschließlich dem öffentlichen Interesse dient. Settlements sind zudem nicht in jedem Fall geeignet, eine Verfahrensbeschleunigung und einen geringeren Verfahrensaufwand zum Zwecke verbesserten Wettbewerbsschutzes zu erreichen. Daher muss es dem Bundeskartellamt möglich sein, Bußgeldverfahren auch streitig fortzuführen. Dies gilt auch für den Fall, das neuartiges wettbewerbsrelevantes Verhalten noch nicht abschließend rechtlich gewürdigt worden ist. Dann entspricht es dem öffentlichen Interesse an Rechtssicherheit, wenn das Bußgeldverfahren streitig geführt wird, um offene Rechtsfragen zu klären. Ein wirksames Settlement entfaltet nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 StPO sowohl für das Bundeskartellamt als auch für die Betroffenen eine Bindungswirkung, wenngleich unterschiedlicher Art. Während das Bundeskartellamt grundsätzlich verpflichtet ist, seine wirksamen Zusagen gegenüber den Betroffenen zu erfüllen, besteht eine korrespondierende Pflicht der Betroffenen zur Ablegung eines Geständnisses wegen ihres Aussageverweigerungsrechts nicht. Ihnen obliegt vielmehr in ihrem eigenen Interesse die Erfüllung der zugesagten „Gegenleistung“, um in den Genuss der in Aussicht gestellten Vergünstigungen zu kommen. Räumen sie die vom Bundeskartellamt ermittelten Tatsachen nicht ein, tritt auch die Bindungswirkung des Settlements nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 S. 2 StPO ex tunc nicht ein; gleiches gilt im Fall des Widerrufs ihrer Erklärungen. Daraus folgt, dass es ermessensfehlerhaft ist, wenn das Bundeskartellamt den durch das Settlement begründeten Anspruch der Betroffenen auf (in)direkte Bußgeldreduktion nicht erfüllt, obwohl diese ein den Erwartungen des Bundeskartellamt jedenfalls im Wesentlichen entsprechendes Geständnis abgelegen. Dies gilt vor allem für den Fall, dass die Betroffenen auf die Ausübung ihres Akteneinsichtsrechts nicht verzichten und die vom Bundeskartellamt ermittelte Höchstgeldbuße nicht ausdrücklich akzeptieren. Der insoweit grundsätzlich einschlägige § 257c Abs. 2 S. 1 StPO, nach dessen Rechtsgedanken das abweichende Prozessverhalten der Betroffenen die Bindungswirkung des Settlements ex tunc entfallen lässt, bedarf einer teleologischen Reduktion. Prinzipiell ist ein Entfallen der Bindungswirkung des Settlements nur dann gerechtfertigt, wenn das Bundeskartellamt das ausgebliebene bzw. verweigerte Prozessverhalten berechtigterweise erwarten durfte, weil es geeignet und verhältnismäßig war, um die mit Settlements verbundenen Ziele zu erreichen. Dazu zählt der Ver-

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zicht auf Ausübung des Akteneinsichtsrechts nicht, da dieses, obgleich subjektiv disponibel, nach seinem objektiv-rechtlichen Schutzgehalt auch der Sicherstellung der im öffentlichen Interesse erfolgenden Wahrheitsfindung und der Sachrichtigkeit der behördlichen Entscheidung dient. Daher stellt es die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens in Frage, wenn das Bundeskartellamt die Betroffenen mit einer Sanktionsmilderung dazu bewegt, auf ihr Akteneinsichtsrecht zu verzichten. Angesichts der Tatsache, dass der Verzicht auf Ausübung der Verteidigungsrechte nicht einmal ein anerkanntes, die Sanktionsmilderung rechtfertigendes Kriterium nach § 17 Abs. 3 OWiG bildet, und das Prinzip der materiellen Wahrheit durch einseitige kartellbehördliche Ermittlungen gefährdet wird, ist die Forderung des Bundeskartellamtes nicht nur evident unverhältnismäßig; da zu befürchten ist, dass mit der zunehmenden Verdrängung der Wahrheitsfindung im Settlement-Verfahren auch die positive Generalpräventionswirkung der Settlements und damit die – sie allein rechtfertigende – Durchsetzung des Wettbewerbsschutzes nachlässt, besteht bereits kein mit dem Rechtsstaatsprinzip konkurrierendes, abwägungsfähiges Interesse. Letzteres gilt auch für die geforderte Akzeptanz des Bußgeldes. Diese führt weder zu einer Beschleunigung des Vorverfahrens, noch hat sie Auswirkungen auf das Ergebnis im Einspruchsverfahren, da das Gericht den Bußgeldbescheid nach pflichtgemäßem Ermessen durch eine eigene Entscheidung ersetzt. Die Rechtswidrigkeit dieser Forderungen des Bundeskartellamtes führen nicht zur Gesamtunwirksamkeit des Settlements. Insoweit ergibt eine Begutachtung des mutmaßlichen Willens der Verfahrensbeteiligten im Sinne des § 139 BGB bzw. § 59 Abs. 3 VwVfG, dass diese an den „Hauptleistungspflichten“ festhalten würden, wenn ihnen die Unwirksamkeit der Forderungen bewusst wäre. Das Ziel der Verfahrensbeschleunigung und Verringerung des Verfahrensaufwandes ist letztlich, wenngleich womöglich in einem geringen Umfang, weiterhin zu erreichen. Dieses Ergebnis erscheint auch im Hinblick auf die Situation sachgerecht, in der das Settlement nach Abgabe des Geständnisses scheitert. Zwar darf das Bundeskartellamt das Geständnis nach dem Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO nicht verwerten, wenn es aufgrund des Prozessverhaltens der Betroffenen oder neuer Erkenntnisse nicht mehr an das Settlement gebunden ist. Dies gilt jedoch nach der noch herrschenden, wenngleich hier abgelehnten Auffassung im Strafrecht nicht für Beweismittel, die mithilfe des Geständnisses gewonnen werden konnten. Würde man mit der Gegenauffassung annehmen, dass das Bundeskartellamt wegen der Rechtswidrigkeit seiner Forderungen an das Settlement insgesamt nicht gebunden wäre, dürfte es alle, auf den Geständnissen der Betroffenen beruhende Beweise verwerten. Damit würde deren Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren negiert, indem die Vorleistungspflicht der Betroffenen zu ihren Lasten ausgenutzt würde. Im Übrigen muss aus den gleichen Gründen die Verwertbarkeit zugestandener Tatsachen im Rahmen der Settlement-Gespräche und innerhalb des Geständnisses unterbleiben, wenn die Ursache für das an-

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fängliche Scheitern eines Settlements letztlich beim Bundeskartellamt zu suchen ist. Bietet dieses nämlich außerhalb der Einflusssphäre der Betroffenen unzulässige Zusagen an, widerspricht es dem Grundgedanken der Waffengleichheit, wenn den vorleistungspflichtigen Betroffenen – über die Versagung eines Anspruchs auf diese Leistungen hinaus – ihre Verteidigungsposition endgültig entzogen wird, weil das Bundeskartellamt ihre Einlassung und die mit ihrer Hilfe erhobenen Beweise verwerten darf. Die Gefahr des Missbrauchs ist auch in diesem Fall evident und kann nicht durch die alleinige Beschwörung gegenseitigen Vertrauens im Settlement-Verfahren kaschiert werden. Auf die Einhaltung dieser Rechtsgrundsätze kann und muss notfalls das OLG Düsseldorf im Rahmen seiner pflichtgemäßen Ermessensausübung im Hauptverfahren hinwirken. 3. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG

Zwar lässt sich aus dem Umstand, dass Betroffenen anderer Bußgeldverfahren Settlements angeboten worden sind, kein Anspruch auf Gleichbehandlung für Betroffene des fraglichen Bußgeldverfahrens herleiten,938 da jedem Bußgeldverfahren jeweils unterschiedliche Sachverhalte und Beweissituationen zugrunde liegen, sodass nicht von vornherein feststeht, dass das fragliche Bußgeldverfahren geeignet ist, die mit Settlements erstrebten Ziele zu erreichen. Es fehlt also im Vergleich zu Betroffenen anderer Verfahren bereits an der Voraussetzung „wesentlich gleicher Sachverhalte“, um einen Gleichbehandlungsanspruch zu begründen. Fraglich ist allerdings, inwieweit sogenannte hybride Settlements mit dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar sind. Das Bundeskartellamt gewährt nämlich auch dann die Möglichkeit einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen, wenn sich nicht alle Kartellbeteiligten zu einem Settlement bereit erklären.939 Gleichermaßen bricht es nicht mit allen Betroffenen eines Verfahrens Settlement-Gespräche ab, wenn eine einvernehmliche Lösung mit einem oder einigen Kartellbeteiligten scheitert. Vereinbart es daraufhin nur mit einem Betroffenen eines Kartell-Bußgeldverfahren ein Settlement, so wird dieser gegenüber den übrigen Betroffenen privilegiert, gegen die das Bußgeldverfahren „streitig“ und ohne Gewährung einer (in)direkten Bußgeldreduktion fortgeführt wird. Letztere müssen zwangsläufig auch höhere Verfahrenskosten und das Risiko einer genaueren kartellbehördlichen Untersuchung tragen.940 Diese Nachteile werden dadurch verschärft, dass 938 Allgemein zur Frage, ob sich aus Art. 3 Abs. 1 GG überhaupt ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung ableiten lässt: BVerfG, Beschl. v. 23.5.2006, Az. 1 BvR 2530/04 – Insolvenzverwalter, BVerfGE 116, 1 (12), Rn. 31 (juris); BVerwG, Urt. v. 17.9.2003, Az. 6 C 4/03, NVwZ-RR 2004, 269 (270), Rn. 25 ff. (juris); Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 40 Rn. 143 m.w. N. 939 Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (353). 940 Zur Vereinbarkeit des Settlementverfahren mit dem Untersuchungsgrundsatz: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.).

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die Geständnisse der kooperierenden Betroffenen gegen nicht-kooperierende Betroffene verwendet werden dürfen und erstere nicht mehr von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen dürfen, sobald der Bußgeldbescheid in Rechtskraft erwachsen ist.941 Die Pflicht hoheitlicher Organe gegenüber jeder natürlichen und juristischen Person,942 vergleichbare Sachverhalte gleich zu behandeln und zwischen unterschiedlichen Sachverhalten zu differenzieren, sofern ausnahmsweise keine besonderen Umstände ein Abweichen sachlich rechtfertigen, ist national in Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verankert und beansprucht im Unionsrechts, obgleich bereits seit langem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt,943 mit Art. 20 GRCh nunmehr primärrechtlichen Rang. Zum Teil wird zwar bereits bezweifelt, dass Differenzierungen aufgrund kooperativer Beiträge einzelner Betroffenen eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG bewirken können, da kooperative und nicht-kooperative Betroffene unterschiedliche Vergleichsgruppen bildeten.944 Für die Feststellung ungleicher Sachverhalte ist jedoch nicht das Nachtatverhalten der Betroffenen entscheidend, sondern die für jeden Betroffenen aufgrund seiner Beteiligung an ein und demselben Kartell feststellbare Verwirklichung des Bußgeldtatbestands. Der Beurteilung des Bundeskartellamtes liegt damit – absolut betrachtet – der gleiche Sachverhalt zugrun-

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Teil 2 § 4 E. I. (S. 188 ff.). Art. 3 Abs. 1 GG ist nach ganz h. M. i. S. d. Art. 19 Abs. 3 GG seinem Wesen nach auf juristische Personen anwendbar, vgl. nur BVerfG, Urt. v. 20.7.1954, Az. 1 BvR 459/52 u. a. – Investitionshilfe, BVerfGE 4, 7 (12), Rn. 16 (juris); Beschl. v. 12.3.1980, Az. 1 BvR 643/77, 1 BvR 644/77, BVerfGE 53, 336 (345), Rn. 33 (juris); Beschl. v. 8.4.1997, Az. 1 BvR 48/94 – Altschulden, BVerfGE 95, 267 (317); Urt. v. 20.4.2004, Az. 1 BvR 905/00 – Ökosteuer, BVerfGE 110, 274 (290 f.), Rn. 51 ff. (juris); Dürig/ Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 289; Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 3 Rn. 102; jeweils m.w. N. Der auch auf nationaler Ebene zu beachtende Art. 20 GRCh differenziert nicht einmal zwischen juristischen und natürlichen Personen, sondern gewährt allen „Personen“ ein Recht auf Gleichbehandlung. 943 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. EU v. 14.12.2007, S. 17 ff. (24); grdl. EuGH, Urt. v. 13.11.1984, Rs. 283/83 – Racke, Slg. 1984, 3791; ferner u. a. aus neuerer Zeit: Urt. v. 13.4.2000, Rs. C-292/97 – Karlsson, Slg. 2000, 2737, Rn. 39; Urt. v. 10.1.2006, Rs. C-344/04 – IATA und ELFAA, Slg. 2006, I-403, Rn. 95; Urt. v. 3.5.2007, Rs. C-303/05 – Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633, Rn. 56; Urt. v. 16.12.2008, Rs. C-127/07 – Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., Slg. 2008, I-9895, Rn. 23; Urt. v. 14.9.2010, Rs. C-550/07 P – Akzo Nobel, Slg. 2010, I-8301, Rn. 54 f.; Urt. v. 20.1.2011, Rs. C-155/09 – Kommission/Hellenische Republik, Slg. 2011, I-65, Rn. 68. 944 So (zu Kronzeugenregelungen) Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 149; a. A. Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 213; Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 120; Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 260; zur Settlementpraxis der Kommission inzident auch Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 864 ff.; ebenso unter Einschluss der Settlementpraxis des BKartA: Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (43). 942

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 293

de,945 der für kooperierende Betroffen günstigere sanktionsrechtliche Konsequenzen zur Folge hat, als für jene, die nicht kooperieren.946 Die sich für die Betroffenen ergebenden erheblichen Unterschiede sind zwar nicht das Ergebnis einer willkürlichen Behandlung, denn das Bundeskartellamt bietet allen Betroffenen eines Verfahrens ein Settlement an, verwehrt es einzelnen Betroffenen also gerade nicht aus sachwidrigen Erwägungen. Die Berücksichtigung der Kooperation ist überdies ein im Verhalten der Betroffenen begründeter, sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung. Denn es verhilft dem Bundeskartellamt durch die schnellere Bearbeitung eines Falls und die Ersparung von Ressourcen, die es gezielt zur Bearbeitung anderer Fälle einsetzen kann, zu einer Intensivierung des Wettbewerbsschutzes und erleichtert den Nachweis des in Frage stehenden Kartells. Allerdings sind die Anforderungen, die an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zu stellen sind, im deutschen Verfassungsrecht immer noch Gegenstand der Rechtsfortbildung des BVerfG.947 Nach neuerer Rechtsprechung des BVerfG sollen in Abhängigkeit vom Gewicht der Ungleichbehandlung, unterschiedliche Rechtfertigungsgründe notwendig sein, die „stufenlos von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitsanforderungen reichen können.“948 Letzteres entspricht den Ansprüchen des EuGH, der die Rechtfertigungsmöglichkeit davon abhängig macht, dass die Ungleichbehandlung in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten legitimen Zweck steht.949 In Anbetracht der mithin umfangreicheren Gewährleistung des europäischen Gleichbehandlungsgebots wird man sich schon, um eine Diskriminierung inländischer Sachverhalte auszuschließen, nicht auf eine reine Willkürkontrolle beschränken können. Zudem erfordern wohl bereits die dargestellten Auswirkungen der Ungleichbehandlung auf die Verteidigung und finanziellen Interessen nicht-kooperierender Betroffener einen strengeren Maßstab im Sinne einer Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird daran gemessen, inwieweit das fragliche staatliche Organ einen legitimen Zweck, mit einem geeig-

945 Nur im Ausnahmefall können gravierende Unterschiede im Grad der Beteiligung die Annahme ungleicher Sachverhalte rechtfertigen, etwa wenn ein Unternehmen nur zu Beginn eines jahrzehntelangen Kartells an ein oder zwei Vereinbarungen beteiligt war. Im Übrigen ist Unterschieden im Grad der Beteiligung und damit in der Vorwerfbarkeit im Rahmen der Bußgeldzumessung Rechnung getragen. 946 Sehr kritisch dazu Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (43). 947 Dazu sowie zum Versuch der Literatur, die Rechtsprechung dogmatisch zu erklären im Überblick etwa: Kischel, in: BeckOK GG, Art. 3 Rn. 24 ff. 948 BVerfG, Beschl. v. 21.6.2011, Az. BvR 2035/07 – BAföG-Rückzahlungsregelung, NVwZ 2011, 1316 Ls. 1. 949 Vgl. etwa EuG, Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-347/94 – Mayr-Melnhof, Slg. 1998, II1751, Rn. 352; Urt. v. 28.2.2002, Rs. T-86/95 – FEFC, Slg. 2002, II-1011, Rn. 487; Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-79/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 80; Urt. v. 20.1.2011, Rs. C-155/09 – Kommission/Hellenische Republik, Slg. 2011, I-65, Rn. 68.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

neten, erforderlichen und angemessenen Mittel verfolgt.950 Das vom Bundeskartellamt verfolgte Ziel des durch Vereinfachung des Bußgeldverfahrens verbesserten Wettbewerbsschutzes ist legitimer Zweck für eine die Ungleichbehandlung begründende (in)direkte Bußgeldreduktion.951 Settlements sind auch nicht a priori völlig ungeeignet dieses Ziel zu erreichen, da Kartellbeteiligte durch den Bonus zu Geständnissen motiviert werden und damit dem Bundeskartellamt sowohl erheblichen Begründungsaufwand als auch lange Verfahren und regelmäßig gerichtliche Bußgeldverfahren ersparen. Darüber hinaus sind Settlements, jedenfalls soweit das Bundeskartellamt das Einräumen tatsächlicher Umstände verlangt, auch erforderlich. Jedenfalls ist nicht ersichtlich, welches weniger eingriffsintensive Mittel existiert, um Bußgeldverfahren gleichheitswahrend zu vereinfachen und zu verkürzen. Die Ungleichbehandlung geht auch nicht über das erforderliche und angemessene Maß hinaus, wenn und soweit die den kooperierenden Betroffenen unterbreiteten Settlementangebote anhand sachlich angemessener Kriterien und unter Wahrung des Schuldprinzips, des Aufklärungsgrundsatzes und den „fair trail“-Grundsatzes erstellt wurden, also insbesondere keine über die Schwelle des bloßen Anreizes hinausgehende, faktisch zwingende, schuldunangemessene Geldbuße in Aussicht gestellt wurde.952 Etwas anderes gilt jedoch, wenn das Settlementverfahren scheitert, weil Betroffene sich weigern, das in Aussicht gestellte, maximale Bußgeld zu akzeptieren und/oder auf ihr Akteneinsichtsrecht zu verzichten. Da diese Forderungen des Bundeskartellamtes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen,953 müsste man annehmen, dass eine darauf gründende Ungleichbehandlung gemäß Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 GRCh gerügt werden kann. Allerdings ist für die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 GG,954 ebenso wie im europäischen Recht955 und speziell für Art. 20 950 St. Rspr. des BVerfG, vgl. etwa Beschl. v. 26.4.1992, Az. 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94, BVerfGE 92, 262 (273), Rn. 52 (juris); Urt. v. 4.5.2011, Az. 2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 – Sicherungsverwahrung, Rn. 96 ff. (juris) zu den einzelnen Voraussetzungen im Überblick statt vieler: Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 110 ff. 951 Vgl. Teil 2 § 4 E. IV. (S. 196 ff.) und Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (S. 272 ff.). 952 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.) und die dort genannten Rechtsprechungs- und Literaturnachweise. Speziell zur Gefahr schuldunangemessener Geldbußen bei unzureichender Sachverhaltsermittlung: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) dd) (2) (c) (S. 227 ff.). Zur Verhältnismäßigkeit von Bußgeldermäßigungen wegen tatsächlicher Geständnisse im Kronzeugenprogramm: OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737), Rn. 153 zum deutschen Recht sowie EuG, Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-347/94 – Mayr-Melnhof, Slg. 1998, II-1751, Rn. 305 ff.; EuGH, Urt. v. 16.11. 2000, Rs. C-297/98 P – SCA Holding, Slg. 2000, I-10101, Rn. 36; Urt. v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 P – SGL Carbon AG, Slg. 2007, I-3921, Rn. 83 zum europäischen Recht. 953 Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (b) (S. 274 ff.). 954 BVerfG, Beschl. v. 17.3.1959, Az. 1 BvR 53/56, BVerfGE 9, 213 (223); Beschl. v. 17.1.1979, Az. 1 BvL 25/77 – Unterhaltspflichtverletzung, BVerfGE 50, 142, 166 = NJW 1979, 1445 (1448); Beschl. v. 9.10.2000, Az. 1 BvR 1627/95 – Importarzneimittel-

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GRCh956 einerseits anerkannt, dass eine Gleichheit im Unrecht nicht schützenswert ist, ein Anspruch auf Gleichbehandlung also scheitert, wenn er darauf gerichtet ist, in den Genuss eines Bonus zu kommen, den ein staatliches Organ einem anderen rechtswidrig gewährt hat. Andererseits überprüft das OLG Düsseldorf den Bußgeldbescheid nicht auf seine Rechtmäßigkeit. Den Betroffenen bleibt damit nur, dem OLG Düsseldorf darzulegen, dass das vom Bundeskartellamt verhängte Bußgeld überhöht war, da sie ihrer Obliegenheit, die relevanten Tatsachen einzuräumen, nachgekommen sind, und das Bundeskartellamt ihnen daher die in Aussicht gestellten Vergünstigungen hätte gewähren müssen, diese aber unter Verweis auf den verweigerten Verzicht auf Akteneinsicht bzw. wegen der nicht anerkannten Geldbuße verwehrt hat. Nach hier vertretener Auffassung müsste das OLG Düsseldorf diesen Umstand bei seiner Ermessensausübung berücksichtigen.957 VI. Zusammenfassende Bewertung Settlements entsprechen in ihrer Zielsetzung, Kartell-Bußgeldverfahren zu beschleunigen, zu vereinfachen und auf diese Weise insgesamt zu einem effektiveren Wettbewerbsschutz zu gelangen, dem öffentlichen Interesse, welches das Bundeskartellamt seiner Ermessensentscheidung gemäß § 47 Abs. 1 OWiG maßgeblich zugrunde zu legen hat. Wenngleich sich ein positiver Einfluss auf den Wettbewerb empirisch noch nicht belegen lässt, bestehen derzeit keine grundsätzlichen Bedenken gegen die generelle Eignung der – in der Praxis weitreichend akzeptierten – Settlements, den Wettbewerbsschutz zu intensivieren. Daher können sie einen partiellen, nicht wesentlichen Verzicht des Bundeskartellamtes auf die grundsätzlich pflichtige Verfolgung und Ahndung von Hardcore-Kartellen rechtfertigen. Denn es entspricht dem öffentlichen Interesse an dem Bestand des Kartellrechts, wenn das Bundeskartellamt zur Erreichung einer erhöhten Schlagkraft einzelne Kartell-Bußgeldverfahren sachlich, persönlich und/oder zeitlich beschränkt und auf diese Weise – neben der in Aussicht gestellten BußgeldredukBoykott, GRUR 2001, 266 (270), Rn. 52. Ausführlich dazu etwa Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 164 ff. 955 Vgl. nur EuG, Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-347/94 – Mayr-Melnhof, Slg. 1998, II1751, Rn. 352; Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-327/94 – SCA Holding, Slg. 1998, II-1373, Rn. 179; Urt. v. 11.9.2002, Rs. T-13/99 – Pfizer Animal Health, Slg. 2002, II-3305, Rn. 479; Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-16/99 – Lögstör Rör, Slg. 2002, II-1633, Rn. 350; Urt. v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01 und T-251/01 bis T-252/01 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2004, II-1181, Rn. 316, 398; EuGH, Urt. v. 4.7. 1985, Rs. 134/84 – Williams, Slg. 1985, 2225, Rn. 14; Urt. v. 9.10.1984, Rs. 188/83 – Witte, Slg. 1984, I-3465, Rn. 15. 956 EuG, Urt. v. 11.9.2002, Rs. T-13/99 – Pfizer Animal Health/Rat, Slg. 2002, II3305, Rn. 479; Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 20 GrCh Rn. 16; Streinz, EUV/EGV, Art. 20 GRCh Rn. 12; Mayer, in: Grabitz/Hilf EUV/AEUV, nach Art. 6 EUV, Rn. 229. 957 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. c) cc) (S. 288 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

tion in Höhe von 10 % – milder ahndet, um mit den dadurch gewonnenen Ressourcen einen größeren Wirkradius durchgesetzten Wettbewerbsrechts zu erreichen. Gleichsam eröffnen Settlements die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, die das öffentliche Interesse, das Genugtuungsinteresse etwaiger Geschädigter und das Interesse der Kartellbeteiligten an einer möglichst milden Sanktion austariert. Die schlussendlich erlassene, nicht unbedingt weniger nachdrückliche Geldbuße kann damit als allseits zumindest annähernd gerecht empfundene Sanktion zu erhöhter positiver General- und Spezialprävention beitragen, ohne ihren (vermeintlichen) Abschreckungseffekt zu verlieren. Nur angesichts dessen und der mit immenser Ermittlungsarbeit verbundenen, schwierigen Aufdeckung der Kartellverstöße ist das Bundeskartellamt durch das Opportunitätsprinzip im Bußgeldverfahren dazu ermächtigt, sich im Wege einer Verständigung auf einzelne Aspekte einer Zuwiderhandlung zu beschränken und die Ahndung durch Bußgeldreduktion abzumildern. Allerdings hat es bei der Ausgestaltung des Settlements im Übrigen die zentralen rechtsstaatlichen Grundsätze und Rechtsgedanken des § 257c StPO sowie die Verteidigungsrechte der Betroffenen zu wahren. Dem entspricht das Bundeskartellamt mit seiner derzeitigen Praxis nicht in Gänze. Um die – auch im öffentlichen Interesse liegende – Rechtsstaatlichkeit und Fairness des Settlement-Verfahrens sicherzustellen, müsste das Bundeskartellamt nach hier vertretener Auffassung folgende Anforderungen erfüllen: Erstens trifft das Bundeskartellamt auch im Kartell-Bußgeldverfahren die der materiellen Wahrheit geschuldete Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts gemäß § 46 Abs. 2 OWiG i.V. m. § 160 Abs. 1, 2 StPO. Es ist daher gehalten alle im Rahmen des Möglichen und Zumutbaren verfügbaren Beweise auszuwerten, bevor es mit den Betroffenen in Settlement-Gespräche eintritt, um ein von den Betroffenen abgelegtes Geständnis auf seine Glaubhaftigkeit überprüfen zu können. Zweitens darf das Bundeskartellamt, um das nach hier vertretener Auffassung auch juristischen Personen zustehende Aussageverweigerungsrecht nicht zu verletzen, keine rechtlich unzulässigen Vorteile versprechen, um die Betroffenen zur Einlassung zu bewegen (§ 136a Abs. 1 S. 2 StPO). Dazu zählen insbesondere Verständigungen über die rechtliche Bewertung des festgestellten Verhaltens. Außerdem dürfen die Versprechen nicht dazu führen, dass der Rahmen „tat- und schuldangemessener“ Sanktionen verlassen wird und das Angebot des Bundeskartellamtes zwingend wirkt. Dies ist anzunehmen, wenn zwischen den durch das streitige Verfahren bewirkten Nachteilen für die Betroffenen und den im Falle ihrer Einlassung drohenden Nachteilen ein eklatantes Missverhältnis besteht. Wenngleich eine solche, bislang erst bei einer durch Verständigungen bewirkten Sanktionsmilderung um die Hälfte angenommene „Sanktionsschere“ im Settlement-Verfahren wohl nur selten zu befürchten ist, muss das Bundeskartellamt den Settlement-Vorschlag nichtsdestotrotz gewissenhaft prüfen, da es auch diejenigen durch das Settlement indirekt bewirkten Vorteile berücksichtigen muss, die über die offene Bußgeldermäßigung von bis zu 10 % hinausgehen,

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nämlich insbesondere Nachlässe durch Teileinstellungen und mildere Bußgeldaufschläge bzw. größere Bußgeldabschläge. Drittens ist es nach hier vertretener Auffassung unzulässig, das Settlementangebot von dem Verzicht der Akteneinsicht und der ausdrücklichen Anerkennung des in Aussicht gestellten Bußgelds abhängig zu machen. Zwar können Betroffene grundsätzlich auf ihr Recht auf rechtliches Gehör als Teilgewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren verzichten. Der verhandelte Verzicht der Akteneinsicht ist jedoch unverhältnismäßig, da das Akteneinsichtsrecht in seiner objektiv-rechtlichen Schutzrichtung auch der Sachrichtigkeit und damit der Rechtsstaatlichkeit des Bußgeldverfahrens zu dienen bestimmt ist. Die Akzeptanz der Geldbuße ist zudem zur Erreichung des mit dem Settlement verfolgten intensivierten Wettbewerbsschutzes ungeeignet; sie beschleunigt nicht einmal das Bußgeldverfahren. Beide Forderungen widersprechen ferner dem Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren, indem sie zu einem sachlich nicht gerechtfertigten Waffenungleichgewicht führen. Daraus folgt viertens, dass das Bundeskartellamt die vorstehenden Handlungen nicht im Sinne des insoweit teleologisch zu reduzierenden § 257c Abs. 4 S. 2 StPO berechtigterweise erwarten durfte und den Betroffenen die zugesagten Vorteile daher nicht verwehren darf, wenn diese der Verständigung entsprechend im Wesentlichen gestehen, es sei denn neue Erkenntnisse zwingen zu einer umfassenderen Sanktion. In diesem Fall, aber auch im Falle des Widerrufs der Einlassung und unzulässiger Versprechungen des Bundeskartellamtes darf das Bundeskartellamt das Geständnis allerdings fünftens nach dem insoweit weiter zu interpretierenden Rechtsgedanken des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO nicht verwerten, wenn das Settlement scheitert. Dieses Verwertungsverbot hat nach Auffassung der Verfasserin zudem eine Fernwirkung auf die mit dem Geständnis erlangten Beweise, denn nur so kann dem drohenden Ungleichgewicht der Verfahrensbeteiligten begegnet und die Verteidigungsposition der Betroffenen gesichert werden, die andernfalls das alleinige Vollzugsrisiko des Settlements tragen müssten.

F. Aufdeckung und Zerschlagung von Kartellen durch aktive Aufklärungsbeiträge im Rahmen der Bonusregelung Nachdem die Kommission bereits 1996 ihre erste Kronzeugenmitteilung bekanntgegeben und das Bundeskartellamt ohnehin bereits Aufklärungsbeiträge von Kartellbeteiligten bußgeldmindernd berücksichtigt hatte,958 veröffentlichte

958 BKartA, PM v. 19.4.2000 – Bonusregelung für Hardcore-Kartelle; Böge, in: Baudenbacher, Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, S. 149 ff. (155). Ein zuvor initiierter Vorstoß der BReg zur gesetzlichen Regelung der bußgeldmindernden Selbstanzeige wurde in der 6. GWB-Novelle nicht umgesetzt. Vgl. Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drs. 13/9720, S. 45.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

es erstmals am 17. April 2000 eine Bonusregelung,959 die zum 15. März 2006 von der heute geltenden, eng an die neue Kronzeugenregelung der Kommission960 angelehnten Bonusregelung abgelöst wurde.961 Darin stellt das Bundeskartellamt Kartellbeteiligten eine im Vergleich zu Settlements ungleich höhere Bußgeldreduktion in Aussicht, wenn sie aktiv kooperieren. Das Bundeskartellamt lockt mit einem vollständigen Bußgelderlass oder jedenfalls mit einer relativ hohen Bußgeldermäßigung, im Gegenzug für eine Selbstanzeige und die Mitwirkung bei der Aufdeckung, Aufklärung und Zerschlagung des fraglichen Kartells. Das Angebot, die Geldbuße bis auf null zu reduzieren, wirft die Frage nach der Vereinbarkeit der Bonusregelung mit dem hier gefundenen Ergebnis, wonach das Bundeskartellamt regelmäßig verpflichtet ist, Hardcore-Kartelle zu ahnden, noch dringlicher auf als bei Settlements. Gleiches gilt – angesichts der vorstehend im Rahmen der Settlements dargestellten Rechtsprechung zur „Sanktionsschere“ 962 – für die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem „nemo tenetur“-Grundsatz. Zudem erscheint problematisch, dass das Bundeskartellamt die Bußgeldermäßigung generell verspricht, ohne sich – wie noch zu zeigen sein wird – eine Einzelfallabwägung vorzubehalten. Diesen rechtsstaatlichen Bedenken soll ausgehend von einer Betrachtung des Zwecks (I.), der einzelnen Regelungen der Bonusregelung (II.) und ihrer Qualifikation sowie Einordnung in das Verfolgungsermessen (III.) schwerpunktpunktmäßig im Abschnitt IV. nachgegangen werden. I. Zweck der Bonusregelung Während sich aus der aktuellen Bonusregelung keine Angaben zu den mit ihr verfolgten Zielen entnehmen lassen, hatte das Bundeskartellamt noch in der Einleitung der Vorgängerregelung dazu ausführlich Stellung bezogen.963 Danach soll die Bonusregelung für Kartellbeteiligte mit dem Inaussichtstellen einer (vollständigen) Bußgeldreduktion einen sanktionsrechtlichen Anreiz schaffen, aus dem 959 BKartA, Bekanntmachung Nr. 68/2000, BAnz. v. 4.5.2000, Nr. 84, S. 8336; zu dieser umfassend: Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 2006; Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, 2004; Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, 2004; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. 960 Kommission, Mitteilung über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EG v. 19.2.2002, Nr. C 45, S. 3 ff.; nunmehr abgelöst durch die Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartellsachen, ABl. EU v. 8.12.2006, Nr. C 298, S. 17 ff. 961 BKartA, PM v. 19.4.2006; Bekanntmachung Nr. 9/2006 über den Erlass und die Reduktion von Geldbußen in Kartellsachen – Bonusregelung – vom 7.3.2006, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Merk blaetter/Merkblaetter_deutsch/06_Bonusregelung.pdf (Stand: 31.12.2013). 962 Umfassend zum Zwang begründenden Versprechen unzulässiger Vorteile: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.). 963 BKartA, Bekanntmachung Nr. 68/2000, BAnz. v. 4.5.2000, Nr. 84, S. 8336.

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Kartell auszutreten und es mit der Offenbarung gegenüber dem Bundeskartellamt quasi „von innen heraus aufzubrechen“. Dem liegt die Erfahrung der Kartellbehörden zugrunde, dass Kartelle regelmäßig nur schwer aufzudecken und nur unter erheblichem Aufwand nachzuweisen sind. Kartelle werden zumeist äußerst konspirativ praktiziert.964 Ohne entsprechende Hinweise von potentiell Geschädigten wird das Bundeskartellamt daher nur in wenigen Fällen auf mögliche Wettbewerbsverstöße durch öffentliches Verhalten der Kartellbeteiligten auf ein Kartell aufmerksam. Selbst wenn das Bundeskartellamt einen Anfangsverdacht hat, besteht oft eine schwierige Beweissituation, da Kartellbeteiligte regelmäßig nur wenige Unterlagen produzieren und aufbewahren bzw. Beweise dem potentiellen Zugriff des Bundeskartellamtes entziehen. Mit der Bonusregelung verspricht sich das Bundeskartellamt daher allen voran eine Verbesserung dieser Ausgangslage: Indem Kartellbeteiligten ein Bonus offeriert wird, sollen diese einerseits dazu bewogen werden, im Verborgenen betriebene Wettbewerbsverstöße anzuzeigen. Andererseits sollen sie darüber hinaus auch Beweismittel liefern, mit denen das Bundeskartellamt „gerichtsfest“ zu einer Ahndung des jeweiligen Kartells gelangen kann. Der allgegenwertige Bonus zielt ferner darauf, Kartelle insgesamt zu destabilisieren, weil dessen Teilnehmer jederzeit damit rechnen müssen, dass einer ihrer konspirativen „Partner“ auf den Gedanken kommt, dass die Selbstanzeige, wirtschaftlich gesehen, die einzig verbleibende, sinnvolle Alternative ist.965 Ein solcher Fall kann eintreten, wenn sich marktschwächere Mitglieder des Kartells zunehmend übergangen bzw. ausgebotet fühlen, oder aber wenn der Erwerber eines Unternehmens von dessen Kartellbeteiligung erfährt.966 Mit der Bonusregelung streut das Bundeskartellamt gezielt Misstrauen, um die Beziehungen zwischen den Kartellbeteiligten zu erschüttern und die von ihnen etablierte „Mauer des Schweigens“ zum Bröckeln zu bringen. Auf diese Weise erhofft es sich zum einen eine höhere Aufklärungs- und Zerschlagungsrate. Zum anderen sollen Kartelle wegen der bestehenden Unsicherheiten insgesamt an Attraktivität einbüßen.967 Die Bonusregelung soll daher als Instrument der Kartellbeseitigung und der Abschreckung zugunsten eines effektiven Wettbewerbsschutzes buchstäblich „zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“. II. Die Regelungen der Bonusregelung im Überblick Nach Randnummer 1 der aktuellen Bonusregelung findet diese sachlich allein auf Kartelle, insbesondere auf die gravierendsten Formen, nämlich Preis-, Quoten-, Submissions- und Marktaufteilungskartelle, Anwendung, und zwar unab964

Vgl. auch BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 17. BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 17. 966 Auf letzteren Fall verweist etwa auch das BKartA in seiner Pressemitteilung zur Neubekanntmachung der Bonusregelung v. 15.3.2006. 967 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 17. 965

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

hängig davon, ob diese national begrenzt sind oder zwischenstaatliche Auswirkungen im Sinne des Art. 101 Abs. 1 AEUV haben.968 Im Umkehrschluss sind demgegenüber vertikale Wettbewerbsverstöße von der Bonusregelung nicht erfasst.969 Ihr persönlicher Anwendungsbereich erstreckt sich sowohl auf natürliche Personen, als auch Unternehmen und Unternehmensvereinigungen. Das Bundeskartellamt erlässt einem Kartellbeteiligten das Bußgeld, wenn dieser die Existenz des Kartells (als erster) zu einem Zeitpunkt offenbart, in dem das Bundeskartellamt noch nicht über ausreichende Beweismittel verfügt, und die Kartellbehörde mit Informationen und gegebenenfalls Beweismitteln in die Lage versetzt, einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken.970 Die zu gewährenden Informationen müssen gemäß § 102 StPO i.V. m. § 46 Abs. 1 OWiG also einen konkreten Anfangsverdacht begründen,971 der nach allgemeiner Auffassung dann besteht, wenn nach kriminalistischer Erfahrung die begründete Aussicht besteht, den Zweck der Durchsuchung, nämlich das Auffinden von Beweisen, zu erreichen.972 Alternativ und subsidiär will das Bundeskartellamt in der Regel auch dann die Geldbuße erlassen, wenn es zwar schon einen Durchsuchungsbeschluss erwirken kann, allerdings die Zuwiderhandlung erstens noch nicht nachweisen kann, seine Position zweitens nicht auf das Whistleblowing eines anderen Kartellbeteiligten zurückzuführen ist, und der sich anzeigende Kartellbeteiligte drittens Informationen zur Verfügung stellt, mit denen das Bundeskartellamt den Kartellverstoß nachweisen kann.973 Die Anforderungen sind angesichts der für das Bundeskartellamt prinzipiell besseren Ausgangsposition ungleich höher. Bislang hat es wohl auch aus diesem Grund, soweit ersichtlich, erst einen Fall gegeben, in dem das Bundeskartellamt einen Bußgelderlass gewährte, obgleich es bereits einen Durchsuchungsbeschluss hätte erwirken können.974 968 Abschnitt E., Rn. 13 der Bonusregelung; dazu etwa: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 419. 969 Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 124; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 93d; für eine diesbezügliche Ausweitung sprechen sich aus: Schroeder, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 437 ff. (445); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 419; Panizza, ZWeR 2008, S. 58 ff. (63 f.); ablehnend: Engelsing, ZWeR 2006, S. 179 ff. (185). 970 Abschnitt A., Rn. 3 der Bonusregelung. 971 So auch Voet van Vormizeele, wistra 2006, S. 292 ff. (294); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 424; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 16. Zum Anfangsverdacht siehe ferner: Teil 2 § 1 B. (S. 77 f.). 972 Meyer-Goßner, StPO, § 102 Rn. 2; Nack, in: KK/StPO, § 102 Rn. 3; Hegmann, in: BeckOK StPO, § 102 Rn. 1. Dazu reichen bloße Vermutungen nicht aus: BVerfG, Beschl. v. 23.1.2004, Az. 2 BvR 766/03, NStZ-RR 2004, 143 f.; Beschl. v. 9.2.2005, Az. 2 BvR 1108/03, NStZ-RR 2005, 207. 973 Abschnitt A., Rn. 4 der Bonusregelung. 974 Vgl. die PM v. 20.9.2011 und der Fallbericht v. 19.10.2011 in Sachen B12-15/08 – Spanplatten, OSB-Platten und anderen Holzstoffprodukten: Das BKartA ist durch eine „umfassende“ Anzeige eines anonymen Kunden auf das Kartell aufmerksam geworden. Die Durchsuchung des BKartA hat dann den „frühzeitigen“ Bonusantrag des Herstellers

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In beiden Konstellationen darf es sich bei dem selbstanzeigenden Kartellbeteiligten jeweils nicht um den alleinigen Anführer des Kartells handeln, also demjenigen, der eine führende Rolle bei der Initiierung und Organisation des Kartells übernommen hat,975 oder um einen Teilnehmer, der etwa aufgrund seiner überwiegenden Marktmacht andere Unternehmen zur Teilnahme an dem Kartell gezwungen hat.976 Ferner muss der sich anzeigende Kartellbeteiligte ununterbrochen und uneingeschränkt mit dem Bundeskartellamt im weiteren Bußgeldverfahren kooperieren. Für all jene Kartellbeteiligte, die die vorstehenden Voraussetzungen nicht (vollständig) erfüllen, dem Bundeskartellamt aber nichtsdestotrotz Informationen zur Verfügung stellen, die wesentlich dazu beitragen, das Kartell nachweisen zu können und die im Übrigen im weiteren Verfahren gleichfalls kooperieren, stellt das Bundeskartellamt eine Reduktion der Geldbuße um bis zu 50 % in Aussicht.977 Der konkret gewährte Abschlag soll sowohl von der Reihenfolge der gestellten Anträge als auch von dem Nutzen der Aufklärungsbeiträge abhängig sein. Mit dem ausschließlich dem ersten Kartellbeteiligten gewährten Bußgelderlass und der Berücksichtigung des zeitlichen Eingangs der übrigen Selbstanzeigen schafft die Bonusregelung ein strenges Prioritätsprinzip,978 was den Effekt des bezweckten „Windhundrennens“ zwischen den Kartellbeteiligten verstärken soll.979 Zur transparenten Durchsetzung dieses Prinzips und der Sicherstellung der jeweiligen Position der kooperationswilligen Kartellbeteiligten bedient sich das Bundeskartellamt eines Markersystems.980 Danach können Kartellbeteiligte zunächst ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit (Marker) gegenüber dem Bundeskartellamt erklären. Der Zeitpunkt der Markersetzung, der vom Bundeskartellamt schriftlich dokumentiert und den Kartellbeteiligten bestätigt wird,981 ist für deren Rang entscheidend,982 also insbesondere für die Frage, ob sie Aussicht auf einen Bußgelderlass oder „nur“ eine Bußgeldreduktion haben, und welche voraussichtliche Höhe letztere hat. Das Bundeskartellamt gewährt den Kartellbeteiligten nach der Markersetzung eine Frist von maximal acht Wochen, um diejenigen Informationen im Rahmen eines Bonusantrags vorzutragen, die für den Erlass oder Egger ausgelöst, dem aus diesem Grund ein vollständiger Bußgelderlass gewährt wurde. Hierzu auch: Heinz/Rolova, in: Goodman, The Public Competition Enforcement Review, S. 212 ff. (214). 975 Engelsing, ZWeR 2006, S. 179 ff. (186 f.); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 428. 976 Punkt 3 der Rn. 3 und 4 der Bonusregelung. 977 Abschnitt C., Rn. 5 der Bonusregelung. 978 Ohle/Albrecht, WRP 2006, S. 866 ff. (870). 979 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 7, 18. 980 Abschnitt E., Rn. 11-20 der Bonusregelung. 981 Abschnitt E., Rn. 18 der Bonusregelung. 982 Abschnitt E., Rn. 11 der Bonusregelung.

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die Reduktion der Geldbuße erforderlich sind.983 Nach der schriftlichen Einreichung oder dem mündlichen Vortrag des Bonusantrags klärt das Bundeskartellamt den Kartellbeteiligten über seinen Rang auf. Hat der Kartellbeteiligte das Bundeskartellamt auf das Kartell aufmerksam gemacht, sichert es ihm den Bußgelderlass unter der Bedingung zu, dass dieser weiterhin kooperiert und sich nicht herausstellt, dass er Anführer des Kartells war.984 In allen anderen Fällen stellt es lediglich fest, dass die kooperierenden Beteiligten grundsätzlich für einen Bußgelderlass bzw. eine Bußgeldreduktion in Frage kommen.985 Die Kooperationspflichten der Antragsteller im weiteren Verfahren hat das Bundeskartellamt in Abschnitt D der Bonusregelung konkretisiert. Danach müssen die Kartellbeteiligten alle Informationen und Beweismittel zur Verfügung stellen, die sie von aktuellen und ehemaligen Beschäftigten des Unternehmens beschaffen können.986 Darüber hinaus haben sie den Kartellverstoß sofort einzustellen und sind bis zu der ausdrücklichen Entbindung durch das Bundeskartellamt zur Vertraulichkeit der Zusammenarbeit, die den weiteren Ermittlungserfolg sicherstellen soll, verpflichtet.987 III. Rechtliche Qualifikation und thematische Zuordnung der Bonusregelung zum Verfolgungsermessen Die Bonusregelung soll der Systematisierung und der Transparenz der Ermessensausübungspraxis des Bundeskartellamtes dienen.988 Die abstrakt-generelle Regelung richtet sich an die Beschlussabteilungen des Bundeskartellamtes und verpflichtet diese bei Selbstanzeigen von Kartellbeteiligten die vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen. Dementsprechend bindet das Bundeskartellamt das ihm gewährte Ermessen selbst.989 Unternehmen und natürliche Personen erhalten einen Anspruch darauf, dass das Bundeskartellamt nicht ohne wichtigen Grund von den in der Bonusregelung beschriebenen Grundsätzen abweicht. Damit beinhaltet die Bonusregelung ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften.990 Wie 983 Abschnitt E., Rn. 14 der Bonusregelung. Ausnahmsweise befreit es den Kartellbeteiligten auch von der Antragspflicht, wenn dieser bei der Kommission einen Kronzeugenantrag stellen will/gestellt hat, und diese nach der Netzwerkbekanntmachung die besonders gut geeignete Behörde zur Verfolgung des Kartells ist. Vgl. Rn. 13 der Bonusregelung. 984 Abschnitt E., Rn. 19 der Bonusregelung. 985 Abschnitt E., Rn. 20 der Bonusregelung. 986 Abschnitt D., Rn. 8, 10 der Bonusregelung. 987 Abschnitt D., Rn. 7, 9 der Bonusregelung. 988 BKartA, PM v. 19.4.2000 sowie v. 15.3.2006. 989 BKartA, PM v. 19.4.2000; Böge, in: Baudenbacher, Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, S. 149 ff. (12). 990 Pfeiffer, in: MK/GWB, § 53 Rn. 19; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 93d; zur Bonusregelung aus dem Jahre 2000 auch schon: Hetzel, Kron-

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bei der Settlements-Praxis erweist sich indes ihre Zuordnung zum Verfolgungsund/oder Sanktionszumessungsermessen als schwierig. Hinsichtlich der Entscheidung, das Bußgeld vollständig zu erlassen, kann zunächst unproblematisch festgestellt werden, dass diese im Rahmen der Ausübung des Verfolgungsermessens getroffen wird. Das Bundeskartellamt entschließt sich bei der Einleitung des Verfahrens zunächst grundsätzlich auch dazu, das Verhalten des selbstanzeigenden Kartellmitglieds zu verfolgen und aufzuklären, dieses aber schlussendlich wegen seiner Selbstanzeige nicht zu ahnden (Frage des „Ob“ der Ahndung). Dieses Verständnis entspricht auch der Regelung des § 17 Abs. 1 OWiG, nach der die zu verhängende Geldbuße mindestens fünf Euro zu betragen hat; ein Bußgelderlass kommt daher bei der Bußgeldbemessung nicht in Betracht.991 Diese Überlegungen können allerdings nicht eins zu eins auf die Fälle übertragen werden, in denen das Bußgeld reduziert werden soll. Soweit das Bundeskartellamt eine Bußgeldminderung in Aussicht stellt, betrifft dies eigentlich nicht die sich im Rahmen des § 47 Abs. 1 OWiG stellende Frage des „Ob“ der Verfolgung und Ahndung, sondern die sich im Anschluss an deren Bejahung stellende Frage des „Wie“, die grundsätzlich nach den Maßstäben der § 81 Abs. 4 GWB i.V. m. § 17 OWiG zu beantworten ist. § 17 Abs. 3 OWiG sieht vor, dass die Sanktion auch eine angemessene Reaktion auf den den Täter treffenden Vorwurf sein soll, wobei sich der Vorwurf nach überwiegender Meinung unter anderem auch danach richtet, inwieweit der Täter bei der Aufklärung komplizierter Sachverhalte mitwirkt.992 Dementsprechend ordnete wohl auch das Bundeskartellamt, jedenfalls bis zur Novellierung seiner Bonusregelung, die Bußgeldminderung seinem Sanktionszumessungsermessen zu.993 Der Gesetzgeber hat im Rahmen der 7. GWB-Novelle zu der Frage keine eindeutige Position bezogen, sondern sich – mangels konsequenter Anwendung der Begrifflichkeiten – sogar noch in Widersprüche verstrickt: Ausweislich der Gesetzesbegründung wollte der Gesetzgeber dem Bundeskartellamt mit der Integration der Regelung des § 81 Abs. 7 GWB, nach dem es Verwaltungsgrundsätze zeugenregelungen im Kartellrecht, S. 240 f.; Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 108; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (609); Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 118 f.; allgemein zu (ermessenslenkenden) Verwaltungsvorschriften: Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.). 991 Insoweit zutreffend: Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 83. 992 Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 18; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 65; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 18; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 270; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 381; ferner: BKartA, Ents. v. 20.8.1975, WuW/E BKartA 1586, 1590 – Preisaufkleber. 993 TB 1999/2000, BT-Drs. 14/6300, S. 43 („Ermessen bei der Festsetzung von Geldbußen“); PM v. 19.4.2000 („Das BKartA berücksichtigt die Kooperationsbereitschaft von Kartellmitgliedern schon bislang im Rahmen seines Ermessens bußgeldmindernd, [. . .].“).

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über die Bemessung des Bußgeldes erlassen kann, einerseits auch die Kompetenz zum Erlass einer Bonusregelung zuweisen.994 Andererseits konkretisieren die von § 81 Abs. 7 GWB erfassten Verwaltungsgrundsätze nach Auffassung des Gesetzgebers in zulässiger Weise das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes.995 Die individuelle Bemessung des Bußgeldes unterliegt jedoch dem Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes, das § 81 Abs. 4 GWB i.V. m. § 17 OWiG gewährt, nicht aber § 47 Abs. 1 OWiG. Auch in der Literatur sind die Stellungnahmen nicht eindeutig. Soweit ersichtlich hat sich einzig Wiesner mit dem Problem explizit auseinandergesetzt und festgestellt, dass sowohl für die Bußgeldreduktion als auch für den Bußgelderlass das Verfolgungsermessen gemäß § 47 Abs. 1 OWiG richtiger Anknüpfungspunkt sei.996 Die Bonusregelung gründe auf Effizienzerwägungen und diene damit ausschließlich der Kriminaltaktik. Die an den individuellen Vorwurf knüpfenden Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG passten vor diesem Hintergrund schlecht, denn im Rahmen des Verfolgungsermessens werde geklärt, ob der bestehende staatliche Sanktionsanspruch zum Teil oder ganz durchgesetzt werde. Der Auffassung ist zuzustimmen; sie deckt sich mit dem hier zu den Settlements gefundenen Ergebnis. Das Inaussichtstellen der Bußgeldreduktion ist, wie bei Settlements, die zwingende Folge der vorgelagerten Idee, die Durchsetzung des materiellen Wettbewerbsrechts mithilfe der Kartellbeteiligten zu erleichtern und zu intensivieren. Ohne Anreizsetzung würden diese sich nämlich regelmäßig nicht bereit erklären, mit der Kartellbehörde zu kooperieren. Dafür spricht auch, dass das mit gestaffelten Sanktionsnachlässen nach dem Vorbild der Spieltheorie997 ausgelöste „Windhundrennen“ überwiegend erst die Einleitung und den Abschluss von Kartell-Bußgeldverfahren mittels Bußgeldverhängung ermöglichen soll. Zudem ergibt sich bereits aus der Bußgeldbemessungspraxis des Bundeskartellamtes, dass jedenfalls überwiegend das Verfolgungsermessen betroffen sein muss. Denn nach Randnummer 18 der Bußgeldleitlinien 2013998 nimmt das Bundeskartellamt die entsprechend der Bonusregelung gewährte Bußgeldermäßigung erst nach der Bemessung der regulären Geldbuße vor. Damit berücksichtigt 994

Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 67. Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 67. 996 Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 82 ff.; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (609 f.); ebenso, ohne Problematisierung und Begründung: Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 117 ff.; Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 248 ff.; Lutz, BB 2000, S. 677 ff. (679); a. A. wohl Steinberg, WuW 2006, S. 719 ff. (724 ff.). 997 Dazu etwa Seitz, GRUR-RR 2012, S. 137 ff. (139). 998 BKartA, Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren v. 25.6.2013; so auch schon Rn. 23 der Bekanntmachung Nr. 38/2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 Abs. 4 S. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen – Bußgeldleitlinien – v. 15.9.2006. 995

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das Bundeskartellamt die Kooperation im Rahmen des Bonusprogramms also nicht als einen den Vorwurf und mithin das Bußgeld mildernden Umstand im Sinne des § 17 Abs. 3 OWiG. Denn die Gewährung der Bußgeldreduktion wird bereits im Vorfeld, nämlich in der Ermittlungsphase, seinem Rechtsgrund nach festgestellt, auch wenn sich die konkrete Höhe erst am Ende des Verfahrens anhand des Werts der übermittelten Informationen feststellen lässt. Wenngleich die Bonusregelung damit überwiegend das Ergebnis ausgeübten Verfolgungsermessens ist, kann sie wegen der im Vorfeld angestellten Erwägungen hinsichtlich der angemessenen Sanktionsmilderungen nicht losgelöst von den Sanktionszumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG betrachtet werden. Dessen Grenzen waren bei der Schaffung der Bonusregelung zu beachten und determinieren damit auch ihre (Un-)Rechtmäßigkeit.999 IV. Die Bonusregelung im Spiegel der Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechte Nach einer mehr als einem Jahrzehnt währenden Anwendung der Bonusregelung durch das Bundeskartellamt, eingehenden Diskussionen in der Literatur1000 und der Akzeptanz ihrer sachlichen Legitimation durch das OLG Düsseldorf 1001 kann es nicht das Ziel dieser Arbeit sein, die Bonusregelung erneut einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle zu unterziehen. Stattdessen sollen an dieser Stelle gezielt nur drei ausgewählte Probleme vertieft werden: Erstens drängt sich angesichts der bisherigen Ergebnisse nahezu die Frage auf, ob die Bonusregelung mit der grundsätzlich bestehenden Ahndungspflicht von Hardcore-Kartellen vereinbar ist (1.). Zweitens ist ihre Vereinbarkeit mit dem Gebot der Einzelfallbetrachtung gemäß § 47 Abs. 1 OWiG zu untersuchen (2.). Und schließlich muss die Bonusregelung drittens angesichts der Tatsache, dass Bonusanträge aus heutiger Sicht zum kartellbehördlichen Alltag zählen, erneut an dem Verbot der erzwungenen Selbstbezichtigung gemessen werden (3.). Die Probleme sind zwar nicht neu und auch bereits vertieft diskutiert worden, sie werden allerdings für die umfassende Bewertung des Ermessensspielraums des Bundeskartellamtes im Kartell-Bußgeldverfahren in Teil 4 der Arbeit eine entscheidende Rolle spielen.

999 Dies hat sich bereits bei der Betrachtung der Rechtmäßigkeit der Settlements hinsichtlich der Einschränkung der Verfahrensrechte der Betroffenen gezeigt. Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.)., Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (S. 272 ff.) und Teil 2 § 4 E. V. 2. c) dd) (S. 289 f.). 1000 Statt vieler seien hier insbesondere die monographischen Abhandlungen erwähnt: Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, 2004; Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, 2004; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, 2006. 1001 OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1738 f.), Rn. 167 ff. (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 48 ff. (juris).

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Im Übrigen können die Ergebnisse aus der Begutachtung der Settlement-Praxis auf die Bonusregelung teilweise übertragen werden. So verstößt diese etwa nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, weil das Bundeskartellamt nur kooperierenden Tätern eine Bußgeldreduktion (auf null) gewährt und diese damit im Unterschied zu denjenigen Tätern, die keinen Bonusantrag stellen, privilegiert. Denn die Kooperation, durch welche die Aufdeckung oder zumindest der Nachweis eines Kartells wesentlich erleichtert wird, rechtfertigt die Ungleichbehandlung sachlich und erfolgt vor diesem Hintergrund auch nicht willkürlich.1002 Die Bonusregelung verpflichtet die Antragsteller, mit Ausnahme des Aussageverweigerungsrechts, auch nicht im Rahmen der Kooperation dazu, auf ihre Verfahrensund Verteidigungsrechte, insbesondere das Akteneinsichtsrecht und das Recht auf rechtliches Gehör, zu verzichten. Dies gilt jedenfalls solange, wie das Bundeskartellamt den Antragstellern nicht den versprochenen Bonus entzieht, weil diese trotz Erfüllung ihrer Kooperationspflichten einige vom Bundeskartellamt ermittelte Tatsachen bestreiten, sich also verteidigen. Reichen Antragsteller belastende Unterlagen ein und halten sich auch im Übrigen an die in Randnummer D der Bonusregelung angeführten Pflichten, darf eine Verteidigung nicht als Einschränkung der Kooperationsbereitschaft gewertet werden.1003 Die übrigen Betroffenen, die sich gegen eine Kooperation entscheiden, werden ebenfalls nicht um ihre Verteidigungsrechte beschnitten. Dies gilt insbesondere für das Recht auf rechtliches Gehör, sofern das Bundeskartellamt trotz der eingehenden Bonusanträge seiner Aufklärungspflicht nachkommt und die Vorträge der sich verteidigenden Betroffenen zur Kenntnis nimmt und bei seiner Entscheidung berücksichtigt.1004 Der im Kartell-Bußgeldverfahren geltende Aufklärungsgrundsatz verpflichtet das Bundeskartellamt nämlich dazu, die Beiträge der Antragsteller auf ihre Glaubwürdigkeit und auf ihre Konsistenz mit den übrigen, von der Kartellbehörde ermittelten oder sich aus den Stellungnahmen der übrigen Täter ergebenden Fakten zu überprüfen.1005 Dementsprechend würde das Bundeskartellamt der Aufklä1002 Vgl. die die vertiefte Darstellung zur Settlementpraxis in Teil 2 § 4 E. V. 3. (S. 291 ff.). 1003 Krit. zu den Kooperationspflichten daher Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 70. 1004 Das Recht auf rechtliches Gehör beinhaltet eine sog. Beachtenspflicht, vgl. etwa BVerfG, Ents. v. 14.6.1960, Az. 2 BvR 96/60, BVerfGE 11, 218 (220), Rn. 5 (juris); Urt. v. 7.12.1982, Az. 2 BvR 1118/82, NJW 1983, 2187, Rn. 19 (juris); BFH, Beschl. v. 8.3.2011, Az. IV S 14/10, Rn. 4 (juris); vertiefend Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 94 ff. Diese Pflicht ist auch Teil der Schutzgewährung des Art. 6 Abs. 2 EMRK, vgl. EGMR, Urt. v. 19.4.1994, Az. 16034/90 – Van de Hurk/ Netherlands, Serie A Bd. 288, § 59, vertiefend dazu Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6 Rn. 41 ff., sowie des Art. 47 Abs. 2 GRCh, vgl. Jarass, GRCh, § 40 Rn. 35. Siehe auch schon Teil 2 § 4 E. V. 2. b) aa) (S. 255). 1005 Vgl. die vertieften Ausführungen in Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.), insb. den Abschnitt ee) (S. 233 ff.) zu den Konsequenzen für die Ermessensausübung des BKartA sowie zu den seitens des BGH an den Deal im Strafverfahren gestellten Anforderungen in: Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, NJW 2005, 1440 (1442), Rn. 36 ff. (juris).

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rungspflicht nur dann nicht genügen, wenn es sich trotz gegenteiliger Anhaltspunkte und Widersprüchlichkeiten, die auf Informationen der sich verteidigenden Betroffenen beruhen, auf die Bonusanträge der kooperierenden Betroffenen verlässt und weitere Ermittlungen unterlässt.1006 In der Bonusregelung von 2000 hatte das Bundeskartellamt noch explizit angekündigt, die Aussagen der Antragsteller mit Vorsicht zu würdigen und grundsätzlich anhand anderer Beweismittel zu prüfen. Bislang ist nicht ersichtlich, dass es von dieser Selbstverpflichtung mit der geltenden Bonusregelung abgerückt ist. 1. Die Vereinbarkeit mit der im Regelfall bestehenden Pflicht zur Ahndung von Hardcore-Kartellen

Die Diskussion um die grundsätzliche Zulässigkeit der Bonusregelung hat in den letzten Jahren spürbar nachgelassen; Kritiker sind nahezu gänzlich verstummt.1007 So wird vor allem kaum noch bezweifelt, dass die mit der Bonusregelung verfolgten Ziele erstens einen vollständigen Bußgelderlass sachlich rechtfertigen können, und zweitens, dass die Bonusregelung im Ganzen zur Erreichung der erstrebten Ziele geeignet ist. Dabei drängen sich diese Fragen nach über zehn Jahren praktischer Erfahrung förmlich auf. a) Die vom Bundeskartellamt, von der Rechtsprechung und der Literatur vorgebrachten sachlichen Rechtfertigungsgründe Den Stellungnahmen des Bundeskartellamtes zufolge soll die Bonusregelung erstens nahezu unüberwindbare Hürden in der Aufdeckung höchst konspirativer Kartelle beseitigen und zweitens im Sinne einer negativen Generalprävention vor Kartellbildungen insgesamt abschrecken.1008 Der Gesetzgeber erachtet diese Zielsetzungen offenbar als hinreichende, objektive Rechtfertigungsgründe für einen vollständigen Bußgelderlass. Denn mit der Einfügung des § 81 Abs. 7 GWB hat er dem Bundeskartellamt ausdrücklich die Kompetenz zur Verfassung von 1006 Dies allein begegnet der Gefahr, dass Kronzeugen ihren eigenen Beitrag herunterspielen, um, ohne Aufschläge wegen einer führenden Rolle zu riskieren (Rn. 16 der Bußgeldleitlinien des BKartA), in den Genuss einer erheblichen Bußgeldreduktion zu kommen oder gar die Voraussetzungen für einen Bußgelderlass erst zu schaffen. Auf diese Gefahr weist auch das OLG Düsseldorf hin: Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2– 6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 414 (juris); ferner: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 442; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 69 f.; im Hinblick auf die europäische Kronzeugenregelung auch Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 34 sowie kürzlich Soltész, WuW 2012, S. 141 ff. (148 f.). 1007 Dem tritt erstaunlicherweise (erneut) ausgerechnet Stockmann entgegen, der ehemalige Vizepräsident des BKartA: vgl. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (29 ff.); ders., in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (564 ff.). 1008 Teil 2 § 4 F. I. (S. 298 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Verwaltungsrichtlinien verliehen, die es erlauben, auf die Verhängung einer Geldbuße zu verzichten, wenn Kartellbeteiligte zur Aufklärung eines Kartells beitragen.1009 Unter Berücksichtigung dieser Gesetzesbegründung, aber auch der anerkanntermaßen zu beachtenden Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG, insbesondere der Einstellung des Täters zur Tat, seines Nachtatverhaltens und der Gefahr der Wiederholung sowie der „Tatsache, dass ein Kartell regelmäßig nur von innen aufgedeckt werden kann“, kam auch das OLG Düsseldorf in den Fällen Papierkartell und Transportbeton zu dem Ergebnis, dass das Bundeskartellamt die Ausübung seines Verfolgungsermessen mit seiner (ersten) Bonusregelung aus dem Jahr 2000 in zulässiger Weise konkretisiert habe.1010 Zum Teil wurde auch versucht, den in Aussicht gestellten Bußgelderlass unter Rückgriff auf das Strafprozessrecht zu rechtfertigen. So verweist Maiazza auf den Rechtsgedanken des § 154c Abs. 1 StPO, aus dem sich ergebe, dass die Nichtverfolgung ermessensfehlerfrei sei, wenn durch den Beitrag des Selbstanzeigenden eine weitaus gravierendere Ordnungswidrigkeit aufgeklärt werden könne.1011 Ein solcher Fall sei etwa gegeben, wenn kleinere Unternehmen marktmächtigere Unternehmen belasten. b) Stellungnahme: Der einzig überzeugende Legitimationsgrund der verbesserten Wettbewerbsbedingungen § 154c StPO will Personen, denen mit der Offenbarung einer von diesen oder ihm nahe stehenden Personen begangenen Straftat gedroht wurde, von einer Bestrafung freistellen, wenn sie die Nötigung bzw. Erpressung anzeigen und die Bestrafung der Tat, deren Offenbarung angedroht wurde, nicht wegen ihrer Schwere unbedingt erforderlich ist. Die Vorschrift dient dem Schutz des Opfers einer Nötigung bzw. Erpressung und findet anerkanntermaßen auch im Bußgeldverfahren über die Verweisungsvorschrift des § 46 Abs. 1 OWiG Anwendung.1012 In dem Fall, dass ein Kartellbeteiligter sich selbst anzeigt, ist § 154c StPO daher nur einschlägig, wenn diesem mit der Veröffentlichung seiner Beteiligung gedroht wurde. Eine derartige Situation wird allerdings höchst selten sein, weil Außenstehende nur selten von dem Kartell Kenntnis erlangen. Zudem dürfte eine Anwendung des Rechtsgedankens der Vorschrift bereits deshalb scheitern, weil angesichts der Schwere des mit der Kartellbeteiligung verwirklichten Unrechts eine Sanktion unerlässlich erscheint. Etwas anderes könnte allenfalls dann angenommen werden, wenn ein kleinerer Wettbewerber durch das Agieren marktmächtigerer Wettbewerber regelrecht gezwungen war, sich an der Zuwiderhand1009

Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 67. OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1738 f.), Rn. 167 ff. (juris); Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart 10/ 08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 48 ff. (juris). 1011 Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 149 f. 1012 Beulke, in: LR/StPO Bd. 5, 26. Aufl., § 154c Rn. 3; Meyer-Goßner, StPO, § 154c Rn. 2; Schoreit, in: KK/StPO, § 154c Rn. 2. 1010

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 309

lung zu beteiligen, wobei man jedoch auch in diesem Fall von dem selbstanzeigenden Unternehmen hätte erwarten können, sich früher, nämlich zum Zeitpunkt der entstehenden Zwangslage, an das Bundeskartellamt zu wenden. Wenngleich die Selbstanzeige zweifellos honorierungswürdig ist, führt sie entgegen Maiazza auch nicht zu einer Schadenswiedergutmachung,1013 sondern lediglich zu einer Verhinderung weiteren Schadens. Mit dem Rechtsgedanken des § 154c StPO lässt sich daher ein Bußgelderlass nicht rechtfertigen. Die bisherige Untersuchung hat des Weiteren gezeigt, dass jedenfalls der alleinige Verweis auf die das Verfolgungsermessen konkretisierenden Wertungen des § 17 Abs. 3 OWiG1014 für sich genommen nicht ausreichen kann, um einen Ahndungsverzicht bei Hardcore-Kartellen zu rechtfertigen. Schwerwiegende Zuwiderhandlungen gegen § 1 GWB und Art. 101 AEUV, die bereits zu einer gravierenden Wettbewerbsschädigung geführt haben, bedürfen einer Ahndung zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens, auch im Hinblick auf das Genugtuungsinteresse Geschädigter, und zur Stärkung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit, um den Bestand des materiellen Wettbewerbsrechts zu sichern. Zudem darf die ohnehin eingeschränkte negativ generalpräventive Wirkung des Kartell-Ordnungswidrigkeitenrechts durch eine allzu nachgiebige Verfolgungspolitik, mit Hinweis auf die positive Einstellung des Täters und die fehlende Wiederholungsgefahr, nicht noch zusätzlich entwertet werden.1015 Daher ist auch eine vollständige Einstellung des Bußgeldverfahrens nach hier vertretener Auffassung nur in besonderen Fällen sachlich gerechtfertigt, nämlich, wenn Kartellbeteiligte ihr Verhalten unverzüglich einstellen und eine Unsicherheit über die Rechtslage bestand oder jedenfalls ein konkurrierendes, anderweitiges öffentliches Wettbewerbsinteresse für einen Ahndungsverzicht spricht.1016 Im Übrigen können die Kriterien des positiven Nachtatverhaltens und der fehlenden Widerholungsgefahr, wie das OLG Düsseldorf meint, auch nicht ergänzend als sachliche Rechtfertigungsgründe für die von der Bonusregelung vorgesehenen, erheblichen Bußgeldreduktionen und erst recht nicht für den vollständigen Bußgelderlass herangezogen werden. Denn die Bonusregelung offenbart eindeutig, dass das Bundeskartellamt die Aufdeckung bzw. die Mitwirkung bei der Aufklärung eines Kartells nicht als einen die Vorwerfbarkeit mildernden Ausdruck von Einsicht oder positi1013

Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 150. Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 65; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 18; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 381; ferner: Teil 2 § 3 B. III. 1. b) bb) (S. 126 ff.). 1015 Vgl. bereits die Feststellungen in Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.), nach denen sich eine Abschreckung durch hohe Geldbußen bislang nicht belegen lässt. Lässt man nun auch noch gelten, dass die Einstellung des Täters und die durch die Selbstanzeige in der Regel ausgeschlossene Wiederaufnahme des Kartells zu einem Bußgelderlass führen, wird das Rechtsbewusstsein der sich legal verhaltenen Unternehmen enttäuscht, sodass die Geldbuße ihre positive generalpräventive Wirkung verliert. 1016 Teil 2 § 4 C. II.–IV. (S. 177 ff.). 1014

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

ver Haltung gegenüber der Rechtsordnung bußgeldmindernd berücksichtigt. Die auf der Grundlage der Bonusregelung gewährte Bußgeldreduktion soll nämlich erst nach der Ermittlung der „regulären“ Geldbuße erfolgen.1017 Im Rahmen der Bußgeldbemessung muss jedoch bereits der dem jeweiligen Kartellbeteiligten zu machende Vorwurf festgestellt und als entscheidender, die konkrete Bußgeldhöhe prägender Umstand gemäß § 17 Abs. 3 OWiG „verwertet“ werden.1018 Wenn das Bundeskartellamt die Geldbuße im Gegenzug für die Kooperation im Rahmen des Bonusprogramms also erst nach der Berücksichtigung der – gegebenenfalls bereits wegen des positiven Nachtatverhaltens geminderten – Vorwerfbarkeit (auf null) reduziert, wird deutlich, dass es zur Rechtfertigung eines vollständigen oder jedenfalls weitreichenden Ahndungsverzichts nicht auf die wertenden Kriterien des § 17 Abs. 3 OWiG abstellt. Dies wäre ihm auch schon deshalb abgeschnitten, weil die Bemessung des ahndenden Teils der Geldbuße eine Gesamtwürdigung aller Umstände1019 und damit einen einheitlichen Vorgang voraussetzt. Eine Aufsplittung der Vorwerfbarkeit im Sinne tatrelevanter und nachtatrelevanter Schuld erscheint schon aus diesem Grunde fraglich und überdies künstlich. Ferner vermag die Berücksichtigung der Kooperation der Kartellbeteiligten als vorwurfsminderndes Kriterium im Sinne des § 17 Abs. 3 OWiG zwar eine Bußgeldreduktion zu rechtfertigen, vor dem Hintergrund des § 17 Abs. 1 OWiG, der eine Mindestgeldbuße von fünf Euro vorschreibt, nicht aber einen vollständigen Bußgelderlass. Im Übrigen lässt sich – entgegen der Auffassung des Bundeskartellamtes – von der stetig wachsenden Anzahl an Kartell-Bußgeldverfahren, der sich in den letzten Jahren weder regressiven noch signifikant geänderten Anzahl an Selbstanzeigen1020 und von den jeweils ermittelten Umständen der aufgedeckten Kartelle1021 „immer noch“ keine nachhaltig abschreckende Wirkung der Bonusregelung ablesen. 1017

Vgl. Teil 2 § 4 F. III. (S. 302 ff.). Siehe noch Teil 3 § 2 B. I. 2. (S. 376 ff.). 1019 Teil 3 § 1 B. I. (S. 336 ff.). 1020 Vgl. insoweit BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 8 (Abb. 1) und S. 19 (Abb. 4) sowie die Angaben der Anzahl der Bonusanträge in den Tätigkeitsberichten des Bundeskartellsamts: TB 2005/06, BT-Drs. 16/5710, S. 33 (2005: 69 in 13 Verfahren, 2006: 7 in 6 Verfahren; TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 9 (2007: 41 in 12 Verfahren, 2008: 39 in 25 Verfahren); TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 37 (2009: 24 in 20 Verfahren, in 2010: 54 in 25 Verfahren). Wie hier: Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (34). 1021 Der in den Kartellfällen festgestellte Zeitraum der Zuwiderhandlung spricht weder für eine abschreckende Wirkung der Bonusreglung von 2000, noch für eine solche der Nachfolgebekanntmachung von 2006. Vgl. beispielhaft die in den Pressemeldungen angegebene Kartelldauer in Sachen: Flüssiggas v. 15.4.2009 (1997–2005); Kaffeeröster v. 21.12.2009 (2000–2008); Kabelfüllmischungen v. 24.6.2010 (2004–2008); Druckchemikalien v. 7.10.2010 (teilw. über 20 Jahre bis 2008, vgl. insoweit den Fallbericht v. 4.11.2010); Chemiegroßhandel v. 7.12.2010 (über Jahrzehnte bis 2007); Feuerwehrfahrzeuge v. 10.2.2011 (min. seit 2001–2009/2010); Konsumgüter v. 17.3.2011 (mehrere 1018

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Dementsprechend kann einzig die erleichterte Kartellaufdeckung und -aufklärung als hinreichender Legitimationsgrund für den zugesicherten (partiellen) Ahndungsverzicht anerkannt werden. In dieser Hinsicht kann die Zweckmäßigkeit der Bonusregelung nämlich kaum noch bestritten werden. Denn das Bundeskartellamt verweist regelmäßig und zu Recht stolz auf die seit seiner Etablierung gestiegene Anzahl an Bonusanträgen, die überwiegend erst die Einleitung eines Kartell-Bußgeldverfahrens ermöglichten.1022 Ferner führen die Kooperationspflichten, insbesondere die Beibringung belastender Informationen und Beweise zum Nachweis des Kartells, dazu, dass Bußgeldverfahren effizienter geführt und in ihrem Ablauf beschleunigt werden können. Die dadurch insgesamt bewirkte, gesteigerte Effektivität der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts und womöglich zunehmende „Entkartellisierung“ der Märkte1023 entsprechen dem öffentlichen Interesse an der Schaffung eines möglichst von künstlichen Wettbewerbsverzerrungen ungehinderten, freien Wettbewerbs zwischen den Marktteilnehmern. Der (partielle) Ahndungsverzicht kann daher letztlich allein von der durch die Kooperation der Kartellbeteiligten ermöglichten faktischen Verbesserung der Wettbewerbsverhältnisse gerechtfertigt sein.1024 c) Mit der Anerkennung des Legitimationsgrunds verbundene Nachteile Allerdings, und insoweit ist die Situation misslich, steht und fällt der Erfolg der Bonusregelung mit der Gewährung eines Bußgeldnachlasses für den selbstanzeigenden Informanten. Ein Kartellbeteiligter würde angesichts einer drohenden Geldbuße von bis zu 10 % seines Vorjahres-Gesamtumsatzes nämlich kaum in Versuchung geraten, ein Kartell „platzen“ zu lassen, wenn ihm selbst unter bußgeldmindernder Berücksichtigung der Anzeige kein zusätzlicher Nachlass gewährt würde. Selbst eine in Aussicht gestellte Reduktion in Höhe von 50 % oder mehr dürfte angesichts der wirtschaftlichen Vorteile der Zuwiderhandlung inJahre bis 2008); Feuerwehrdrehleitern v. 27.7.2011 (1998–2007); Span- u. OSB-Platten v. 20.9.2011 (2002–2007 u. 2004–2006); Mühlenkartell v. 25.10.2011 (2000–2008); Schwer-/Bunkeröl v. 8.11.2011 (2005–2007); Hydrantenkartell v. 16.12.2011 (z. T. bereits seit 1995–2007); Betonrohre u. -pflastersteine v. 1.3.2012 (2006–2010). Immerhin (mindestens) acht der festgestellten Kartelle, die Gegenstand dieser dreizehn Verfahren waren, wurden vermutlich erst nach Einführung der Bonusreglung etabliert. 1022 Vgl. etwa TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 16 sowie die positive Stellungnahme der BReg, S. VII; TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 10, 32 f. sowie die positive Stellungnahme der BReg, S. V f. 1023 Dies kann angesichts der festgestellten, fehlenden Abschreckungswirkung der Bonusregelung allerdings auch bezweifelt werden. Wenn Kartelle nämlich wie „Pilze aus dem Boden schießen“ erscheint die erleichterte Zerschlagung derselben trotzdem nur wie ein Kampf gegen Windmühlen. 1024 Beispielhaft kann in diesem Zusammenhang wiederum auf die in der Fn. 1021 genannten Fälle verwiesen werden. Acht der insgesamt dreizehn Kartell-Bußgeldverfahren wurden durch einen Bonusantrag ausgelöst. Insoweit ebenfalls anerkennend: Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (34).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

effektiv sein. Andererseits lässt sich das vollständige Ausbleiben einer Sanktion für den ersten selbstanzeigenden Kartellbeteiligten kaum und selbst die Bußgeldreduktion um bis zu 50 % für die übrigen Betroffenen eines Bußgeldverfahrens nur schwierig mit den die Ausübung des Verfolgungsermessens wesentlich mitbestimmenden Sanktionszwecken der Geldbuße vereinbaren. Zwar bedarf es bei Selbstanzeigen nicht notwendigerweise eines nachdrücklichen Pflichtenappells in Form einer Geldbuße,1025 da das Bundeskartellamt nichtsdestotrotz gegenüber sämtlichen Kartellbeteiligten, einschließlich des Informanten, einen (zumeist veröffentlichten) ernsthaften „Tadel“ über die begangene Zuwiderhandlung mit Erlass des Bußgeldbescheids ausspricht. Zudem vermögen außerhalb des Einflussbereichs des Bundeskartellamtes liegende, durch das Bekanntwerden des Kartells möglicherweise erfolgende, „fühlbare“ Mahnungen zumindest teilweise das (partielle) Ausbleiben der „strafenden“ Geldbuße aufzufangen. Denn mit der Veröffentlichung kann zumindest eine mittelbare „Vergeltung“ der Kartellbeteiligung im Wege eines Reputations- und Markenimageverlusts sowie drohender Schadensersatzklagen eintreten. Allerdings dürfen diese privatrechtlichen Repressionen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ausbleibende staatliche Sanktionierung aus Sicht der Geschädigten und sich rechtskonform verhaltenden Unternehmen unerträglich ist. Der Wunsch der Geschädigten nach gerechter „Bestrafung“ aller Kartellbeteiligten wird, obgleich ihr Genugtuungsinteresse aufgrund der regelmäßig durch Hardcore-Kartelle bewirkten, gravierenden Schäden anzuerkennen ist, ebenso enttäuscht, wie das berechtigte Interesse rechtschaffener Bürger und Unternehmen, die eine Bestätigung ihrer Rechtsüberzeugung und ihres Verhaltens erwarten.1026 Die bewusste Vernachlässigung dieser Interessen erfährt mit der Randnummer 23 der Bonusregelung eine fatale Aufwertung. Danach soll dem Kartellbeteiligten, der ohnehin von einem Bußgelderlass profitiert, in der Regel nicht einmal der aus der Zuwiderhandlung gezogene Gewinn abgeschöpft werden; für alle anderen kooperierenden Täter soll regelmäßig eine Gewinnabschöpfung in der Höhe der gewährten Bußgeldreduktion unterbleiben. Die mit der Wortwahl „in der Regel“ bewirkte Ermessensverdichtung hin zu einer nur in Ausnahmefällen anzuordnenden Gewinnabschöpfung führt dazu, dass sich die 1025 A. A. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (35); zu weit gehend demgegenüber Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (332), der der Geldbuße ihre Repressionsfunktion generell absprechen will. 1026 Zum Zweck der Strafe als Ausgleich der Versagung des Justizgewähranspruchs der Geschädigten sowie zur positiven Generalprävention siehe: Teil 2 § 3 B. I. 1. (S. 112 ff.). Zu letzterem merkt Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (39 f.) zu Recht an, dass es für die Allgemeinheit, selbst wenn dieser die Gründe für die mangelnde Strafbarkeit von Kartellen einleuchten mag, kaum einsichtig ist, warum über einen Betrüger oder Dieb, der einen Schaden von ein paar tausend Euro verursacht, notwendigerweise ein sozialethisches Unwerturteil ausgesprochen werden muss, während ein Kartellbeteiligter, der ein Vielfaches dessen und einen erheblich größeren Geschädigtenkreis verantworten muss, gänzlich ohne spürbare Feststellung der Vorwerfbarkeit seines Verhaltens freigestellt wird.

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Zuwiderhandlung für kooperierende Kartellbeteiligte in der Regel lohnt, da sie die Früchte ihres illegalen Handelns auf Kosten der Geschädigten und rechtstreuen Unternehmen behalten dürfen. Dadurch wird die nach hier vertretener Auffassung fehlende Abschreckungswirkung der Bonusregelung nochmals bestätigt. Wenn Kartellbeteiligte nämlich davon ausgehen können, dass die verhängte Sanktion bei kooperativer Mitwirkung (weitgehend) nicht den erwirtschafteten Gewinn übersteigen wird, kann das geschürte Misstrauen unter den Kartellbeteiligten in Ansehung der nach der Anwendung der Bonusregelung (noch) zu verhängenden Geldbußen nicht von Kartellen abschrecken, da sich das Kartell selbst bei seiner Aufdeckung noch auszahlen kann.1027 Für Geschädigte muss sich dies „wie Hohn anfühlen“, zumal ihnen das Bundeskartellamt darüber hinaus den – für die Prüfung etwaiger Schadensersatzansprüche oftmals notwendigen – Zugang zu den Bonusanträgen und den von den Kartellbeteiligten freiwillig beigefügten Unterlagen nach Randnummer 22 der Bonusregelung verweigern will, um – aus diesem Blickwinkel zweifellos berechtigt – die Attraktivität des Bonusprogramms und seine Effektivität für die öffentliche Durchsetzung des Wettbewerbsrechts nicht zu gefährden, was im Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV wohl auch die sich aus dem „effet utile“-Grundsatz ergebende Pflicht des Bundeskartellamtes ist.1028 Vor allem hilft denn auch ein Verweis der Geschädigten auf die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Bußgeldbescheide nichts, wenn die Kooperation im Rahmen der Bonusregelung, wie das Bundeskartellamt proklamiert,1029 mit Settlements verbunden werden kann, und infolge eines Settlements nur Kurzbescheide erlassen werden.1030 Dies führt – zusammen genommen – dazu, dass Geschädigte und dritte Unternehmen an ihrem rechtstreuen Verhalten zwangsläufig zweifeln müssen. Nachlassendes Rechtsbewusstsein und die fehlende Akzeptanz der Regelungen des § 1 GWB und Art. 101 AEUV ge1027

So zu Recht Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (35). AG Bonn, Beschl. v. 24.9.2008, Az. 51 Gs 1456/08 – Listenpreis, WuW/E DE-R 2503 (2505); Panizza, ZWeR 2008, S. 58 ff. (77 f.); Voet van Vormizeele, wistra 2006, S. 292 ff. (297); umfassend: Mäger/Zimmer/Milde, WuW 2009, S. 885 ff. m.w. N. Der EuGH verlangt aus diesem Grund eine Interessenabwägung im Einzelfall: Urt. v. 14.6.2011, Rs. C-360/09 – Pfleiderer = WuW/E EU-R 1975 (1979 f.), Rn. 19–32, insb. 26–31; einschränkend: AG Bonn, Beschl. v. 18.1.2012, Az. 51 Gs 53/09 – Pfleiderer II, WuW/E DE-R 3499 (3501 f.), Rn. 13 (juris) nach dem in die dem Bonusantrag beigefügten Unterlagen Akteneinsicht gewährt werden müsse, wenn der Antragsteller ein berechtigtes Interesse darlege, das insbesondere (und daher wohl immer) gegeben sei, wenn „es der Prüfung der Frage dienen soll, ob und in welchem Umfang der Verletzte gegen den Beschuldigten Schadensersatzansprüche geltend machen kann.“ Dazu u. a. Busch/Sellin, BB 2012, S. 1167 ff.; krit. Kapp, WuW 2012, S. 474 ff. 1029 Vgl. TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 35; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352). 1030 Zum praktischen Beispiel im Fall Pfleiderer: Kapp, WuW 2012, S. 474 f., der davon berichtet, dass die Bußgeldbescheide den Kartellvorwurf (Abstimmung über Preiserhöhung und Kapazitätsstillegungen in einem bestimmten Zeitraum) lediglich in einem Satz beschreiben, sodass sie für die Schadensermittlung unbrauchbar waren. 1028

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

fährden wiederum den Bestand des materiellen Wettbewerbsrechts zu Lasten eines effektiven Wettbewerbsschutzes. d) Abwägung Die vorstehenden Bedenken werden teilweise als eine Art Kollateralschaden empfunden. Es sei den Geschädigten des Kartells und der gesamten Volkswirtschaft mit der Zerschlagung des Kartells erheblich mehr gedient, „als wenn der Staat auf seinem häufig bloß theoretischen Anspruch auf Bebußung sämtlicher Kartellanten beharrte.“ 1031 Auch wenn diese Haltung angesichts der aufgezeigten Nachteile zunächst wenig überzeugt, ist ihr im Ergebnis zuzustimmen und zwar aus drei Gründen: Erstens kennt selbst das Strafrecht im engeren Sinne mit der Bonusregelung vergleichbare Kronzeugenregelungen, die ein Absehen von der Bestrafung oder dessen Milderung erlauben. Zweitens spricht eine ergebnisorientierte Betrachtung der Selbstanzeige für die Zulassung der Bonusregelung, und drittens können Selbstanzeigen auch zu einer verbesserten positiven Generalprävention führen. Für Straftaten hat der Gesetzgeber durch die Integration „kleiner“ Kronzeugenregelungen bereits früh anerkannt, dass die Effektivität der Strafverfolgung die Gewährung einer Strafmilderung oder den gänzlichen Verzicht auf Ahndung rechtfertigen kann. Dazu zählt neben der nunmehr aufgehobenen Regelung des § 261 Abs. 10 StGB für den Tatbestand der Geldwäsche vor allem die äußerst praxisrelevante Vorschrift des § 31 BtMG. Seit September 2009 ist mit § 46b StGB zudem eine allgemeine, „große“ Kronzeugenregelung in Kraft, die es dem Tatrichter erlaubt, eine aus seiner Sicht sach- und schuldangemessene Strafe zu mildern oder von dieser gänzlich abzusehen, wenn der Täter wesentlich dazu beiträgt, dass eine Katalogtat im Sinne des § 100a Abs. 2 StPO aufgedeckt oder verhindert werden kann. Gemäß § 100a Abs. 2 lit. r StPO zählt hierzu auch der Submissionsbetrug gemäß § 298 StGB. Bei seiner Ermessensentscheidung gemäß § 46b Abs. 2 StGB hat der Tatrichter Art und Umfang der offenbarten Tatsachen, deren Bedeutung für die Aufklärung oder Verhinderung der Tat, den Zeitpunkt der Offenbarung, das Ausmaß der Unterstützung der Strafverfolgungsbehörden durch den Täter und die Schwere der Tat, auf die sich seine Angaben beziehen, zu berücksichtigen und diese Umstände mit der Schuld des Täters und der Schwere seiner Tat in Abwägung zu bringen. Mit Ausnahme der Schwere der „Tat“ decken sich die Kriterien des § 46b StGB mit denjenigen der Bonusregelung des Bundeskartellamtes. Zwar setzt letzteres die Umstände der Aufklärungsbeiträge nicht mit der Schwere der Zuwiderhandlung und der Vorwerfbarkeit der Kartellbeteiligung in Beziehung. Allerdings wird deutlich, dass der Gesetzgeber der Effektivität der „Strafverfolgung“ ein höheres Gewicht einräumt als dem Ge1031

So zuletzt Böge, zitiert in: BKartA, PM v. 15.3.2006.

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 315

nugtuungsinteresse etwaiger Geschädigter eines Submissionsbetrugs. Diese Haltung hat er gleichermaßen in Bezug auf Kartell-Ordnungswidrigkeiten im Rahmen der 7. GWB-Novelle bekräftigt. Diese gesetzgeberische Wertung wird man letztlich berücksichtigen müssen. Im Übrigen ermöglicht die Selbstanzeige des ersten Kartellanten, dem im Gegenzug die Geldbuße vollständig erlassen wird, dass zumindest die Kartellbeteiligung der übrigen Täter (vollständig) geahndet werden kann. Das gilt bereits für den bislang wohl nur einmaligen Fall,1032 dass das Bundeskartellamt zwar einen Verdacht hinsichtlich des in Frage stehenden Kartells hat, die vermeintliche Zuwiderhandlung aber nicht beweisen kann. Hat das Bundeskartellamt nicht einmal Anhaltspunkte für das Bestehen des Kartells, kann es mithilfe der Angaben des Antragstellers einen Durchsuchungsbeschluss erwirken, sodass es, zusätzlich zu den im Übrigen von dem Antragsteller im Rahmen seiner Kooperation einzureichenden Unterlagen, verwertbares Beweismaterial auffinden kann, um eine Sanktionierung der Kartell-Ordnungswidrigkeit zu gewährleisten. In der Praxis zeigt sich zudem, dass in den meisten Fällen auch andere Kartellbeteiligte einen Bonusantrag nachträglich stellen und für weitere „lückenfüllende“ Beweismittel sorgen. In beiden Situationen führt die Kooperation des ersten Kartellbeteiligten dazu, dass der bislang bestehende, aber (gegebenenfalls) unentdeckte Sanktionsbedarf jedenfalls teilweise getilgt wird. Wenn das Bundeskartellamt in die Lage versetzt wird, Geldbußen gegen die übrigen Kartellbeteiligten zu verhängen, bewirkt der Beitrag des Informanten, dass sich die Gesamtmenge des theoretisch ausstehenden Sanktionsbedarfs verringert; damit wird gleichsam verhindert, dass der Sanktionsbedarf konstant bleibt, weil sich alle Kartellbeteiligten in Schweigen üben, und sich möglicherweise durch die Fortführung und Intensivierung des Unrechts sogar noch weiter erhöht.1033 Dieser honorierungswürdige Wert des Bonusantrags ist untrennbar mit dem Inaussichtstellen eines Bußgelderlasses verbunden und muss daher entsprechend anerkannt werden, um die Effektivität der Kartellverfolgung zu erhöhen. Daneben, und dies ist angesichts der beschriebenen Bedenken in Bezug auf die Sanktionszwecke nicht weniger von Bedeutung, kann die Zunahme von Bußgeldentscheidungen, die in den letzten Jahren zu verzeichnen ist, auch das Vertrauen der Allgemeinheit in die Verlässlichkeit des Kartellbußgeldrechts stärken.1034 Mit jedem mit der Verhängung von Geldbußen abgeschlossenen Bußgeldverfahren zeigt das Bundeskartellamt, dass es mit Strin1032 PM v. 20.9.2011 und der Fallbericht v. 19.10.2011 in Sachen B12-15/08 – Spanplatten, OSB-Platten und anderen Holzstoffprodukten; Heinz/Rolova, in: Goodman, The Public Competition Enforcement Review, S. 212 ff. (214). 1033 Zur Betrachtung der Gesamtmenge des Sanktionsbedarfs bezogen auf strafrechtliche Kronzeugenregelungen schon die überzeugende Darstellung von Hoyer, JZ 1994, S. 233 ff. (239); im Hinblick auf die Bonusregelung ihm folgend: Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 134 ff. 1034 Hoyer, JZ 1994, S. 233 ff. (240); zust. Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 134; jeweils m.w. N.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

genz gegen Wettbewerbsverstöße vorgeht, und macht damit deutlich, dass Kartelle keine Kavaliersdelikte sind. Auf diese Weise kann zumindest teilweise der negative Effekt auf die generalpräventive Wirkung des Kartellbußgeldrechts neutralisiert werden, der durch die unterbleibende Ahndung des Informanten hervorgerufen wird. Im Ergebnis kann der mit der Erhöhung der Aufdeckungs- und Ahndungsrate von Kartellen und damit der Durchschlagskraft des Kartellrechts verbundene, verbesserte Wettbewerbsschutz jedenfalls teilweise die negativen Folgen des Ahndungsverzichts aufwiegen und ist daher als sachlicher Rechtfertigungsgrund für einen vollständigen Ahndungsverzicht anzuerkennen. Der – im Vergleich zu Settlements weitreichendere – partielle Ahndungsverzicht durch Bußgeldreduktion ist, sofern die aktive Mitwirkung tatsächlich zu einer erleichterten Nachweisbarkeit der Kartellbeteiligung führt und zu einer schnelleren Bearbeitung des Falls beiträgt, ebenfalls gerechtfertigt. 2. Vereinbarkeit mit der Pflicht zur wertenden Einzelfallbetrachtung

Zu Beginn der Arbeit wurde deutlich, dass die Bedeutung des Ermessens darin begründet ist, dass es die Verfolgungsbehörde in die Lage versetzt, durch eine Abwägung aller Umstände im Einzelfall zu einer billigen Entscheidung zu gelangen.1035 Das behördliche Ermessen ist also quasi der Kompromiss zwischen der für den Gesetzgeber bestehenden faktischen Unmöglichkeit, jede möglicherweise auftretende Variante unternehmerischen Handelns vorherzusehen und – dem Demokratieprinzip entsprechend – in generell-abstrakten Regelungen zusammenfassend zum Ausdruck zu bringen, und dem anzuerkennenden Bedürfnis der Rechtsgemeinschaft nach Rechtssicherheit. Der Auftrag des Bundeskartellamtes besteht daher darin, jede einzelne Zuwiderhandlung nach den ihr eigenen Umständen und jeden Kartellbeteiligten entsprechend dem ihn treffenden Vorwurf individuell zu beurteilen, um zu einem gerechten Ergebnis zu gelangen, das dem öffentlichen Interesse entspricht. Nur dies ist pflichtgemäße Ermessensausübung im Sinne des § 47 Abs. 1 OWiG (und des § 17 Abs. 3 OWiG). Dabei darf sich das Bundeskartellamt, wie bereits am Beispiel der Bagatellbekanntmachung gezeigt,1036 auch ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften bedienen, und soll dies sogar gemäß § 53 Abs. 1 S. 3 GWB, um das kartellbehördliche Handeln für Unternehmen und natürliche Personen – dem Prinzip der Rechtssicherheit entsprechend – vorhersehbarer und transparenter zu machen.1037 Diese müssen jedoch, um das der Ermessensausübung immanente Prinzip der Einzelfallbetrachtung nicht auszuhöhlen, der handelnden Beschlussabteilung wei1035 1036 1037

Teil 1 § 1 A. (S. 40 f.); Teil 1 § 3 (S. 71 ff.). Teil 2 § 4 B. I. 2. (S. 160 ff.). Vgl. Teil 2 § 4 B. I. 3. a) (S. 161 ff.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 317

terhin die Möglichkeit belassen, für jeden individuellen Fall zu prüfen, ob ein Abweichen von der durch sie definierten Regel geboten ist. Dem wird die Bonusregelung im Hinblick auf ihre Randnummer 3 nicht gerecht. Indem dem ersten Kartellbeteiligten das Bußgeld erlassen „wird“, wenn dieser ein Kartell anzeigt, von dessen Bestehen das Bundeskartellamt keine Kenntnis hatte, bindet die Regelung die handelnde Beschlussabteilung endgültig und ausnahmslos. Damit lenkt die Regelung nicht mehr nur das Ahndungsermessen der Beschlussabteilung, sondern reduziert es auf null; sie beseitigt also schlussendlich gesetzeswidrig die mit § 47 Abs. 1 OWiG auferlegte Pflicht zur wertenden Einzelfallbetrachtung.1038 Das Bundeskartellamt schwingt sich auf diese Weise zum Normgeber auf und ändert faktisch eine gesetzliche Vorschrift, wozu es – auch unter Berücksichtigung seiner Organisations- und Geschäftsgewalt – nicht legitimiert ist.1039 Der Gesetzgeber scheint diese Vorgehensweise zu tolerieren. Trotz der scharfen Kritik in der Literatur1040 hat er sich dem Problem nicht angenommen und auch mit der 8. GWB-Novelle keine Klarstellung bewirkt. Die Tatsache, dass die Bonusregelung für den Fall des Ahndungsverzichts keinen Atypikvorbehalt ausdrücklich vorsieht, führt allerdings nicht zur ihrer Rechtswidrigkeit.1041 Als lediglich nach innen verpflichtendes Recht kann es im Außenverhältnis nicht rechtswidrig sein. Vielmehr tritt die durch die Bonusregelung bewirkte, uneingeschränkte Ermessensbindung zurück; Betroffene können also gemäß Art. 3 Abs. 1 GG i.V. m. dem Vertrauensgrundsatz keinen Anspruch auf vollständigen Bußgelderlass aus dem Wortlaut der Bonusregelung herlei1038 Vgl. zum Verwaltungsrecht: Ossenbühl, in: Erichsen, VerwR AT, 11. Aufl., § 10 Rn. 14; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 23; Gerhardt, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 22; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 2 Rn. 69; Jestaedt, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 11 Rn. 10 ff., 61; Möstl, in: Erichsen/Ehlers, Verwaltungsrecht AT, 14. Aufl., § 19 Rn. 4 f., 7 f., § 20 Rn. 20. 1039 Ebenso krit. zur „Erlassautomatik“: Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, Rn. 93 f.; Stockmann, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (565); Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (35 f.); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 425; Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 267 f.; Voet van Vormizeele, wistra 2006, S. 292 ff. (297 f.); vgl. auch Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, Rn. 251, der die Bonusregelung von 2000 nur deshalb für zulässig hielt, weil diese einen Atypikvorbehalt beinhaltete; ähnlich Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 110 f., der allerdings einen Verstoß gegen das Opportunitätsprinzips unter Berufung auf die praktischen Folgen der Anwendung (kein Anspruch auf eine Gleichheit im Unrecht) ablehnt; ferner schon: Tiedemann, NJW 1979, S. 1849 ff. (1855); Gillmeister, Ermittlungsrechte im deutschen und europäischen Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, S. 34 f. 1040 Siehe die Nachweise in vorstehender Fn. 1039. 1041 So aber Stockmann, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (565); ders., ZWeR 2012, S. 20 ff. (35 f.); ähnlich auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 167 f.; wie hier: Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 111; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 271.

318

Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

ten.1042 Eine Verwaltungsrichtlinie kann in ihrer Bindungswirkung nämlich nicht weiter gehen, als die ständige Verwaltungspraxis, die ein Abweichen vom Regelfall aus besonderen Gründen zulässt.1043 Dementsprechend darf die für das jeweils in Frage stehende Bußgeldverfahren zuständige Beschlussabteilung im Ausnahmefall von der in Randnummer 3 der Bonusregelung ausgewiesenen Regel abweichen und handelt umgekehrt im Einzelfall rechtswidrig, wenn sie sich durch die Bonusregelung insgesamt gebunden sieht, also keine Ermessensentscheidung trifft. Dann begeht sie einen Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs.1044 Der mit der Regelung zur „Erlassautomatik“ ersichtlich intendierte Zweck, den Anreiz des Bonusprogramms dadurch zu erhöhen, dass Kartellbeteiligten der Ahndungsverzicht zugesichert wird, kann daher nicht erreicht werden. Vielmehr ist es die Aufgabe des Gesetzgebers, sofern dies sein Wunsch ist, eine entsprechende Regelung zu kodifizieren. 3. Vereinbarkeit mit dem „nemo tenetur“-Grundsatz

Will ein Kartellbeteiligter von den Vergünstigungen der Bonusregelung profitieren, muss dieser dem Bundeskartellamt (ihn selbst) belastende Unterlagen und Informationen zur Verfügung stellen; die das beteiligte Unternehmen vertretenden natürlichen Personen im Sinne der §§ 9, 130 OWiG müssen zudem regelmäßig auch gegen sich selbst aussagen. Der Bonusregelung ist daher eine geständnisgleiche Selbstbezichtigung immanent, die mit dem „nemo tenetur“-Grundsatz1045 kollidieren könnte. Eine Verletzung dieses zentralen Verteidigungsrechts ist nur dann ausgeschlossen, wenn die Betroffenen im Rahmen der Bonusregelung freiwillig, d.h. ohne staatliche Zwänge, kooperieren. Im Zuge der Rechtmäßigkeitsprüfung der Settlements wurde festgestellt, dass eine Kooperation unter Zwang dann anzunehmen wäre, wenn sich das Bundeskartellamt Mittel bediente, die nach § 136a StPO i.V. m. § 46 Abs. 1 OWiG unzulässig sind. Zunächst kann unproblematisch festgehalten werden, dass das Bundeskartellamt nicht mit unzulässigen Nachteilen „droht“. Die Bußgeldbemessung erfolgt für alle Betroffenen eines Bußgeldverfahrens gleich. Im Anschluss daran wird letztlich nur die ermittelte, reguläre Geldbuße für kooperierende Betroffene erlas1042 So für das allgemeine Verwaltungsrecht auch: BVerwG, Beschl. v. 1.6.1979, Az. 6 B 33/79, NJW 1980, 75, Rn. 5 (juris); Urt. v. 18.5.1990, Az. 8 C 48/88, NJW-RR 1990, 1351 (1352), Rn. 23 (juris). 1043 BVerwG, Beschl. v. 11.8.1987, Az. 7 B 133/87, Rn. 6 (juris); in diese Richtung zu Verordnungen auch BVerfG, Beschl. v. 24.3.1996, Az. 2 BvR 616/91, 2 BvR 588/92, 2 BvR 1585/93, 2 BvR 1661/93 – BKatV, NJW 1996, 1809 (1810), Rn. 53 (juris). 1044 Ebenso Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (36), allerdings – unzutreffend – bezogen auf die „generelle“ Ermessensausübung des BKartA in Form der Bonusregelung. 1045 Vertiefend zum „nemo tenetur“-Grundsatz, seiner Anwendbarkeit im Bußgeldverfahren, seiner europa-, verfassungs- und positivrechtlichen Verankerung sowie zu seiner Anwendbarkeit auf juristische Personen: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) aa) (S. 237 ff.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 319

sen oder ermäßigt;1046 dem schweigenden Betroffen erwartet damit keine über die reguläre Geldbuße hinausgehende Sanktion. Der dem nicht-kooperierenden Betroffenen verweigerte Bonus stellt für sich genommen keine formalrechtliche Benachteiligung in Form einer Sanktion dar.1047 Unzulässiger Zwang im Sinne des „nemo tenetur“-Grundsatzes kann nach dem – mit der Rechtsprechung des EGMR konsistenten und zutreffenden – Verständnis des BGH allerdings dadurch entstehen, dass dem Betroffenen ein derart vorteilhaftes Angebot unterbreitet wird, das er dieses praktisch nicht ausschlagen kann, weil es psychisch zwingend wirkt.1048 Eine derartige Situation wird von beiden Gerichten angenommen, wenn ein gravierendes Missverhältnis besteht zwischen den zu erwartenden Konsequenzen im Falle einer Kooperation und denjenigen Konsequenzen, die bei einer regulären Verteidigung drohen. Wann eine solche „Sanktionsschere“ besteht, hat der BGH bislang allerdings nicht mit feststehenden Größen spezifiziert, sondern vielmehr von den Umständen des konkreten Einzelfalls abhängig gemacht.1049 Immerhin identifizierte das Gericht jedenfalls bei einer kooperationsbedingten Reduktion der regulären Sanktion um etwa 50 % eine absolute, Zwang begründende Grenze.1050 Allerdings bezog sich diese Rechtsprechung auf passive

1046 Rn. 23 der Bekanntmachung des BKartA Nr. 38/2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 Abs. 4 Satz 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen – Bußgeldleitlinien – v. 15.9.2006. 1047 So auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 50 (juris), das allerdings die Berücksichtigung der Aufklärungshilfe bereits in § 17 Abs. 3 OWiG angelegt sieht, was nach hier vertretener Auffassung mit der Bonusregelung aber nicht umgesetzt wird. Vgl. Teil 2 § 4 F. IV. 1. b) (S. 308 ff.). Siehe im Übrigen die Erwägungen zur Settlement-Praxis, die hier entsprechend gelten sowie die dort genannten Nachweise der Literatur: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (1) (S. 240 f.). 1048 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (a) und (b) (S. 243 ff.). Inwieweit rechtlicher Zwang i. S. d. § 136a Abs. 1 S. 3 StPO durch den Anreiz der Bonusregelung entsteht, wurde in der überwiegenden Literatur bislang nicht geprüft, vgl. etwa: Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 270; Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 148; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 176 f. Das OLG Düsseldorf hat dies, wie noch aufzuzeigen wird, im Ergebnis zutreffend abgelehnt, ohne allerdings auf die hier für entscheidend gehaltene Höhe der Bußgeldermäßigung abzustellen: Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737 ff.), Rn. 152 ff. (juris); Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 45 ff. (juris). Soweit im Folgenden von dem psychischen Druck, der bei „Kartellbeteiligten“ oder „Betroffenen“ entsteht, die Rede ist, sind im Hinblick auf juristische Personen oder Personenvereinigungen stets die Geschäftsführer gemeint. Siehe insoweit die uneingeschränkt auch auf die Bonusregelung übertragbaren Ausführungen in den eingangs zitierten Abschnitten zu den Settlements. 1049 BGH, Beschl. v. 20.10.2010, Az. 1 StR 400/10, NStZ 2011, 592, Rn. 17. 1050 BGH, Beschl. v. 12.1.2005, Az. 3 StR 411/04, StV 2005, 201: „gravierender Unterschied“ bei drei Jahren und sechs Monaten gegenüber sechs bis sieben Jahren; ferner Beschl. v. 14.8.2007, Az. 3 StR 266/07, NStZ 2008, 170 f., Rn. 6 f. (juris):

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Geständnisse infolge von Verständigungen im Strafverfahren, berücksichtigte also nicht die im Bonusprogramm entscheidende, aktive Mitwirkung bei der Sachverhaltsaufklärung als zusätzlichen, die Geldbußenmilderung rechtfertigenden Grund. Die Judikatur zur Sanktionsschere kann daher nicht als fester Maßstab für die Bonusregelung herangezogen werden. Zudem, und das ist jedenfalls für die Beurteilung des durch die Bonusregelung in Aussicht gestellten Bußgelderlasses entscheidend, äußerte sich der BGH nur zu dem Fall, dass der Angeklagte bereits von staatlichen Stellen mit einem konkreten Vorwurf konfrontiert wurde. Er berücksichtigte also den unmittelbaren Druck, der von Vorteilsversprechen auf einen von staatlicher Strafverfolgung tatsächlich Betroffenen ausgeht, der nicht nur mit einem Vorwurf, sondern bereits mit konkreten Ermittlungsergebnissen und einer daran bemessenen konkreten Höchststrafe konfrontiert wird. Diese Situation des Angeklagten bewirkt, für sich genommen, bereits psychischen Stress, der den vom Angebot ausgehenden Druck erhöht; der von einem individualisierten Vorteilsversprechen im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens ausgehende Druck kann daher nicht mit dem latenten psychischen Druck, den die bloße Existenz der Bonusregelung generell auslöst, verglichen werden. Daher kann die Judikatur zur Sanktionsschere nicht auf diejenigen Fälle angewendet werden, in denen sich ein Kartellbeteiligter entschließt, einen dem Bundeskartellamt bislang unbekannten Wettbewerbsverstoß zu offenbaren. Denn im Vorfeld zu dieser zentralen Entscheidung wird die Geschäftsführung des betreffenden Unternehmens die Vor- und Nachteile eines Bonusantrags hinreichend abgewogen haben, sodass man ein überstürztes, unüberlegtes oder gar „zwanghaftes“ Handeln ausschließen kann. Von „extremer Zeitnot“ kann in dieser Situation ebenfalls keine Rede sein.1051 Selbst wenn die Geschäftsführung bei der Prüfung, ob sie kooperieren sollte, zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Fortführen des Kartells im Falle seiner Entdeckung ruinös wäre, sodass eine Selbstanzeige aus ihrer Sicht die wirtschaftlich einzig sinnvolle und (aus Haftungsgründen auch) einzig verbleibende Option ist,1052 reicht dieser „Druck“ – für sich genommen – nicht aus, um ihn als zwingend zu qualifizieren. Denn insoweit darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Bundeskartellamt zum Zeitpunkt der Entscheidung des Kartellbeteiligten für einen Bonusantrag im Regelfall nicht einmal einen Verdacht hat, dass das Kartell existiert. Die Gefahr der Ahndung hat sich also noch nicht verdichtet. Der psychologische Druck ist dementsprechend von anderer Qualität als derjenige, „unzulässiges Druckmittel“ bei einer Freiheitsstrafe von 31/2 Jahren gegenüber 7 bis 8 Jahren Freiheitsstrafe). 1051 Generalisierend: Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 70 f. 1052 In der Literatur wird die Freiwilligkeit der Kooperation unter der Bonusregelung im Hinblick auf den Corporate Governance Kodex in Frage gestellt. Vgl. Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (150 (Fn. 71)) m.w. N.

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 321

der von Anreizen ausgeht, die erst nach der Einleitung eines Bußgeldverfahrens relevant werden. Dies bestätigen auch die oft erst Jahre nach der Einführung der Bonusregelung gestellten Selbstanzeigen langjähriger Kartellbeteiligter und die oben festgestellte mangelnde Abschreckungswirkung der Bonusregelung.1053 Im Hinblick auf die in der Randnummer 5 der Bonusregelung geregelten Fälle könnte die Rechtsprechung des BGH hingegen teilweise übertragen werden. Denn nach der Einleitung eines Bußgeldverfahrens, also in dem Moment, in dem das Bundeskartellamt Ermittlungsmaßnahmen ergreift und die Regelung relevant wird, dürfte die Situation der Betroffenen ähnlich belastend sein, wie diejenige von Betroffenen, die im Laufe eines Bußgeldverfahrens mit einem Settlementangebot konfrontiert werden. Im Rahmen der zu Beginn des Verfahrens in der Regel stattfindenden, die Betroffenen zumeist „überrumpelnden“ Durchsuchung informieren die Beamten des Bundeskartellamtes die Geschäftsleitung über die Möglichkeit, einen Bonusantrag zu stellen und einen Marker zu setzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt beginnt der bezweckte Wettlauf der Kartellbeteiligten; der durch die Bonusregelung bewirkte, latente Druck wächst bei den Betroffenen zu einem konkreten, psychischen Druck an. Denn zu dem nunmehr relevant gewordenen, anreizbedingten Druck tritt ein zeitlicher und ein unsicherheitsbedingter Stressfaktor,1054 da die Bonusregelung die Höhe des Bonus mit der zeitlichen Reihenfolge der Markersetzung verknüpft. In der Entscheidungssituation stehen Betroffene einem befristeten Angebot zur Bußgeldermäßigung um 50 % gegenüber. Dieses Angebot ist de facto hochgradig unbestimmt, da es mangels kartellbehördlicher Ermittlungsergebnisse und daher mangels Bestimmung der zu erwartenden Geldbuße einerseits nicht beziffert werden kann und Betroffene andererseits nur bedingt Einfluss auf die Erfüllung der zu dessen Erhalt notwendigen Bedingungen haben. Denn es steht nicht in ihrer ausschließlichen Macht sicherzustellen, dass sie zuerst einen Marker setzen und die Kooperationspflichten im Übrigen erfüllen können.1055 Dementsprechend wissen Betroffene weder bei der Markersetzung noch bei Abgabe des Bonusantrags um ihren Rang und die daran anknüpfende Sanktionsmilderung. Sie können daher nicht einschätzen, ob sich eine Kooperation überhaupt „lohnt“ oder ob sie sich nicht besser verteidigen soll1053

Vgl. Teil 2 § 4 F. IV. 1. a) (S. 307 ff.). Zutreffend Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 70 f.; Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (150). 1055 Dies hängt entscheidend davon ab, über welche belastenden Unterlagen das Unternehmen – noch nach der Durchsuchung – verfügt und inwieweit leitende Mitarbeiter des Unternehmens überhaupt zur Aussage bereit sind. Denn (vermeintlich) beteiligte Mitarbeiter fürchten in der Regel finanzielle, möglicherweise auch strafrechtliche (§ 298 StGB) Konsequenzen und sehen allgemein ihre Position im Unternehmen gefährdet, sodass teilweise auch umfangreiche Zugeständnisse, etwa die Freistellung von arbeitsrechtlichen Konsequenzen, nicht ausreichen können, um diese zu einer Kooperation zu bewegen. 1054

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ten.1056 Die Folge des mit diesen Unsicherheiten bezweckten „Windhundrennens“ können übereilte, unreflektierte Markersetzungen und Bonusanträge sein. Nichtsdestotrotz mag bezweifelt werden, dass derartige unüberlegte Handlungen auf „rechtlichen Zwang“ zurückzuführen sind. Denn der durch die Unsicherheiten bewirkte Stress erhöht zwar den psychischen Druck, der bereits von dem durch die Randnummer 5 der Bonusregelung gesetzten Anreiz ausgeht. Allerdings bezieht sich die Judikatur zur Sanktionsschere auf den durch die konkret vorhersehbaren, psychischen Druck erzeugenden Vorteile einer Kooperation, nicht aber auf lediglich mögliche Konsequenzen. Anders als Betroffene zu Beginn des Bußgeldverfahrens haben Angeklagte im Strafverfahren, wie auch Betroffene im Settlementverfahren, regelmäßig bereits eine genaue Vorstellung von der gegen sie bestehenden Beweislast und der drohenden Strafe bzw. Geldbuße. Sie können sich aus diesem Grund ein weitaus besseres Bild von den möglichen Handlungsalternativen machen. Der von der konkret angebotenen Sanktionsmilderung ausgehende psychische Druck kann daher im Settlementverfahren sogar ungleich höher sein als für Betroffene, die gerade erst mit einem Vorwurf konfrontiert werden und den Ausgang des Ermittlungsverfahrens und damit die zu erwartende Geldbuße noch nicht abschätzen können. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der BGH einen freiwilligen Verzicht auf das Aussageverweigerungsrecht bei einer im Gegenzug für ein passives Geständnis gewährten Sanktionsmilderung unter 50 % jedenfalls nicht ausgeschlossen hat. Vor dem Hintergrund, dass mit der Bonusregelung die für die Verfolgungsbehörde und die Allgemeinheit bedeutendere, aktive Aufklärungshilfe honoriert wird und angesichts dessen, dass den Kartellbeteiligten bei noch nicht feststehenden Ermittlungsergebnissen zwangsläufig ein größerer Anreiz geboten werden muss, damit diese an der Sachverhaltsaufklärung mitwirken, wird man das in Randnummer 5 der Bonusregelung vorgesehene Angebot zur Bußgeldreduktion um bis zu 50 % daher (noch) für zulässig erachten können.1057 Der von der Randnummer 4 der Bonusregelung ausgehende Druck auf Kartellbeteiligte dürfte sich ebenfalls in den zulässigen Grenzen halten. Sofern das

1056 Insoweit unterscheidet sich die Bonusregelung erheblich von der strafrechtlichen Regelung des § 46b StGB, nach welcher dem Kronzeugen eine unabhängig davon zu bemessende Sanktionsmilderung gewährt werden kann, ob ein Mittäter den Verfolgungsbehörden bereits dieselben Tatsachen zur Kenntnis gebracht hat. Vgl. Begr. BRegE zum Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe, BT-Drs. 16/6268, S. 12; vgl. zur speziellen Kronzeugenregelung in § 31 BtMG auch BGH, BGHR BtMG § 31 Nr. 1 – Aufdeckung 23; Beschl. v. 8.8.2001, Az. 5 StR 317/01, StV 2002, 260. Krit. in Bezug auf die Bonusregelung daher Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (150 f.); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 71. 1057 A. A. für die insoweit übereinstimmende Kronzeugenregelung der Kommission: Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 54.

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 323

Bundeskartellamt zwar einen konkreten Verdacht hat, aber noch keine Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet hat, wissen die Kartellbeteiligten in der Regel noch nicht, was auf sie zukommt. Der von dem in Aussicht gestellten Bußgelderlass ausgehende Druck entspricht daher demjenigen, der durch den in Randnummer 3 geregelten Anreiz bewirkt wird. Sofern das Bundeskartellamt bereits eine Durchsuchung, wie in dem einzig relevant gewordenen Anwendungsfall der Regelung,1058 eingeleitet hat, besteht aus Sicht der Betroffenen erkennbar nur eine marginale, praktisch nicht realistische Chance auf einen vollständigen Bußgelderlass. Selbst wenn sich die Geschäftsführung nämlich sicher sein sollte, dass in den Geschäftsräumen des betroffenen Unternehmens keine belastenden Beweismittel aufzufinden sind,1059 können sie dies für andere Kartellbeteiligte nicht zweifelsfrei ausschließen, wobei sie davon ausgehen müssen, dass auch diese zeitgleich aufgesucht werden. Zudem ist es auch möglich, dass das Bundeskartellamt Privaträume der Verantwortlichen des Unternehmens durchsucht. Letzten Endes entspricht daher der durch den Anreiz auf vollständigen Bußgelderlass gemäß Randnummer 4 der Bonusregelung bewirkte Druck faktisch demjenigen, der von dem Anreiz auf Bußgeldreduktion um 50 % gemäß Randnummer 5 der Bonusregelung ausgeht. Im Ergebnis kann daher, obgleich ein grobes Missverhältnis zwischen den Konsequenzen, die mit und ohne Kooperation zu erwarten sind, durchaus besteht, nicht zweifelsfrei angenommen werden, dass die Bonusregelung Betroffene zum Verzicht auf ihr Aussageverweigerungsrecht rechtlich zwingt, und damit den „nemo tenetur“-Grundsatz verletzt.1060 Dafür spricht auch, dass die Rechtsprechung gegen vergleichbare Kronzeugenregelungen im Strafrecht, etwa die seit mehr als 30 Jahren geltende Vorschrift des § 31 BtMG und die neue Regelung des § 46b StGB, bislang keine Einwände erhoben hat.1061 § 46b Abs. 1 S. 3 1058 PM v. 20.9.2011 und der Fallbericht v. 19.10.2011 in Sachen B12-15/08 – Spanplatten, OSB-Platten und anderen Holzstoffprodukten. 1059 Dies wird allerdings für größere Unternehmen wegen der Delegation von Verantwortlichkeiten, der Arbeitsteilung und der dadurch begründeten Abschottungsmöglichkeiten nahezu ausgeschlossen werden können. 1060 Im Ergebnis wie hier, mit anderer Begründung: Säcker, WuW 2009, S. 362 ff. (363) („da kein Unternehmen gezwungen ist, die Kronzeugenregelung zu nutzen.“); ähnlich: Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 270; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 172 ff.; vgl. auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 61 ff., die die Bonusregelung erst in Zusammenschau mit der (behaupteten Unbestimmtheit der) Bußgeldandrohung gemäß § 81 Abs. 4 GWB ablehnen. Inzident auch OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1737 ff.), Rn. 152 ff. (juris); Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 45 ff. (juris); zust. Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 182; Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 123. 1061 Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 61 ff. hin.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

StGB stellt es dem Tatrichter auch dann in sein Ermessen, eine Strafmilderung oder einen Straferlass zu gewähren, wenn der Angeklagte über den eigenen Tatbeitrag hinaus die angeklagte Tat aufzudecken hilft. Wenn aktive Aufdeckungsund Aufklärungshilfe also selbst im Strafverfahren zulässig ist, kann nicht zweifelsfrei davon ausgegangen werden, dass ein Angebot zum Bußgelderlass oder zur -reduktion um bis zu 50 % psychischen und damit rechtlichen Zwang bewirkt. Daran ändert auch der Rückgriff auf eine in der strafrechtlichen Literatur vertretende Meinung nichts, nach der man von einer „Sanktionierung des Schweigerechts“ sprechen könne, wenn sich durch Kooperationen der Regelstrafrahmen „schleichend“ erhöhe.1062 Die Auffassung geht davon aus, dass sich aus einer Vielzahl von Fällen ein Regel- bzw. Durchschnittsstrafrahmen bilden lasse.1063 Wenn die Kooperation zum Normalfall werde, sinke besagter Regelstrafrahmen, sodass sich die Tat um ein Vielfaches schwerwiegender darstelle, wenn sich ein Täter gegen die Kooperation entscheide. In diesem Fall würde sich der Strafrahmen für schweigende Täter also schleichend nach oben verschieben. Obgleich man aus dem in den letzten Jahren zu verzeichnenden wachsenden Erfolg der Bonusregelung1064 durchaus annehmen kann, dass die Einreichung von Bonusanträgen „Regelfall“ innerhalb des Kartell-Bußgeldverfahren geworden ist,1065 lässt sich diese Auffassung nicht auf das Kartellbußgeldrecht übertragen. Die in der Tat in den letzten Jahren zu verzeichnenden, stark gestiegenen (regulären) Geldbußen1066 beruhen auf einer geänderten Gesetzeslage und den vom Bundeskartellamt angewandten Bußgeldleitlinien. 1067 Im Übrigen sehen die Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes ausdrücklich vor, dass der Bonus erst im Anschluss an die – sich für alle Kartellbeteiligten nach den gleichen Prinzipien richtende – Bemessung der regulären Geldbuße gewährt wird. Es ist daher faktisch nicht möglich, dass die bonusbedingte, reduzierte Geldbuße Einfluss auf den „Regelbußgeldrahmen“ nimmt.1068 1062 Zutreffend: Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 175 f.; zurückhaltender: Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 148 f.; Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 270. 1063 Jessberger, Kooperation und Strafzumessung, S. 138 f. 1064 BKartA, PM v. 14.7.2011 – Ausbau der Kartellverfolgung; BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 19; TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 16 sowie die positive Stellungnahme der BReg, S. VII; TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 10, 32 f. sowie die positive Stellungnahme der BReg, S. V f. 1065 Ablehnend noch Wiesner, Der Kronzeuge im Kartellrecht, S. 149; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 175; Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 270. Vgl. insoweit die beispielhaft in Fn. 1021 betrachteten, in den letzten 2 Jahren abgeschlossenen Bußgeldverfahren, von denen über die Hälfte (8 von 13) durch einen Bonusantrag eingeleitet wurden und nur in einem einzigen Verfahren kein Bonusantrag gestellt wurde. 1066 Vgl. etwa BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 9 (Abb. 3). 1067 Zur Bußgeldbemessung des BKartA: Teil 3 § 3 B. I. (S. 416 ff.).

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 325

V. Zusammenfassende Bewertung Die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts ist in der Praxis vor ein entscheidendes Problem gestellt: Künstliche Verzerrungen der Marktbedingungen sind regelmäßig die Folge höchst konspirativer Vereinbarungen, die das Bundeskartellamt nicht nur vor die erhebliche Herausforderung des hieb- und stichfesten Nachweises stellen. Sie sind darüber hinaus auch nur schwer zu entdecken, da es in den meisten Fällen an einem persönlich betroffenen „Opfer“ fehlt, das die negativen Konsequenzen wahrzunehmen in der Lage ist und noch dazu bereit ist, das Kartell zur Anzeige zu bringen.1069 Direkte Vertragspartner der Kartellbeteiligten sind regelmäßig Unternehmen. Deren Arbeitsteilung verhindert in der Regel ein individuelles Betroffenheitsgefühl. Selbst wenn innerhalb eines Unternehmens das kartellrechtswidrige Verhalten des Vertragspartners bekannt wird, sieht die Geschäftsführung wahrscheinlich von der Äußerung eines Verdachts ab, wenn sie sich dadurch selbst der Gefahr einer Verfolgung aussetzt1070 oder aber ihre Vertragsbeziehungen gefährdet sieht.1071 Unternehmen, welche von einer Absprache betroffen sind, versuchen dann ihre eigenen Verluste wiederum an ihre Geschäftspartner weiterzureichen. Diese Umstände bewirken in der Regel einen Abschottungseffekt, der die Entdeckung des Kartells verhindert oder jedenfalls erheblich erschwert. Mit der Bekanntmachung der Bonusregelung will das Bundeskartellamt diesen Aufdeckungs- und Beweisschwierigkeiten mit einem Instrument zu begegnen, das die Täter selbst zur Beendigung ihres wettbewerbswidrigen Verhaltens bewegen soll. Es verlässt sich nicht mehr allein darauf, dass die Symptome eines Kartells offenbar werden, sondern will den inneren Verschwiegenheitskreis der Kartellbeteiligten erschüttern und sie dadurch zur Aufgabe ihres Verhaltens „zwingen“. Die Bonusregelung ist in der Literatur und Rechtsprechung, sowohl was ihre Rechtmäßigkeit als auch ihre Zweckmäßigkeit betrifft, heute weitestgehend anerkannt. Dem konnte jedenfalls im Hinblick auf die in dieser Arbeit behandelten Fragestellungen überwiegend zugestimmt werden. Das Prinzip, durch erhebliche bußgeldrechtliche Anreize Misstrauen zwischen den Kartellbeteiligten zu schüren, hat sich in den letzten Jahren durchaus bewährt und zu einer Vielzahl

1068 In diese Richtung auch: EuG, Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-347/94 – Mayr-Melnhof, Slg. 1998, II-1751, Rn. 308; Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 175 f. 1069 BMI/BMJ, Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht 2006, S. 221, im Internet abrufbar unter: http://www.bka.de/nn_193376/DE/Publikationen/JahresberichteUndLage bilder/Perio-discherSicherheitsbericht/psb__node.html?__nnn=true (Stand: 31.12.2013). 1070 Dies ist insbesondere bei Hub-and-Spoke Kartellen denkbar, wenn der für eine Vielzahl von Einzelhändlern tätige Hersteller als gemeinsamer Referenzpunkt für Absprachen im Einzelhandel genutzt wird. Dazu: Röhling/Haus, KSzW 2011, S. 32 ff. 1071 Dieses Phänomen ist insbesondere im Missbrauchsrecht unter der sog. Ross- und Reiterproblematik bekannt: abhängige, anbietende Unternehmen beugen sich (unberechtigter) Forderungen marktmächtiger Nachfrager, um keine Auslistung zu riskieren.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

von Bußgeldverfahren geführt, die andernfalls wohl nicht möglich gewesen wären. Zwar ist die vom Bundeskartellamt ebenfalls intendierte, abschreckende Wirkung der Bonusregelung nach hier vertretener Auffassung bislang nicht erkennbar, zumindest führt sie aber zu einer höheren Aufdeckungsrate und Verfahrenseffizienz. Diese dem Wettbewerb höchst dienlichen Effekte wiegen denn auch überwiegend die Bedenken auf, die sich aus der eingeschränkten oder unterbliebenen Ahndung im Hinblick auf die Sanktionszwecke der Geldbuße ergeben. Wenn ein Kartell nur durch einen Bonusantrag entdeckt oder aufgeklärt werden kann, ist eine eingeschränkte Sanktionierung allemal besser als eine gänzlich unterbleibende Ahndung und Fortführung des wettbewerbsschädlichen Verhaltens. Unterstützen Kartellbeteiligte das Bundeskartellamt, kann es das Bußgeldverfahren, wie bei Settlements, schneller und effizienter führen und auf diese Weise Ressourcen für andere Verfahren sparen. Die im Vergleich zu Settlements höhere Bußgeldermäßigung erscheint vor dem Hintergrund vertretbar, dass „Kronzeugen“ aktive Aufklärungshilfe leisten und nicht nur einseitig ermittelte Fakten gestehen. Die sich aus der Betrachtung der Rechtsprechung zur „Sanktionsschere“ zunächst ergebenden Bedenken in Bezug auf die Vereinbarkeit der Kooperationspflichten mit dem „nemo tenetur“-Grundsatz konnten ebenfalls nicht sicher bestätigt werden. Zwar führen die Kooperationsangebote zu einem gewollt (!) nicht zu unterschätzenden psychischen Druck. Dieser wirkt jedoch trotz des zum Teil „eklatanten“ Unterschieds zwischen den Sanktionsalternativen mit und ohne Kooperation (noch) nicht zwingend i. S. d. § 136a StPO. Als problematisch hat sich jedoch erwiesen, dass sich das Bundeskartellamt mit der Bonusregelung jegliche Einzelfallprüfung abschneiden will, soweit ein Kartellbeteiligter ein Kartell offenbart, dass dem Bundeskartellamt bislang unbekannt war. Die Bonusregelung sieht insoweit einen automatischen Bußgelderlass vor. Wenngleich dies nicht zu ihrer Rechtswidrigkeit führt, handelt jedenfalls die zuständige Beschlussabteilung im Einzelfall rechtswidrig, wenn sie sich durch die Bonusregelung verpflichtet fühlt und sich über die von § 47 Abs. 1 OWiG intendierte Pflicht, eine der Billigkeit dienende Einzelfallabwägung vorzunehmen, hinwegsetzt. Allerdings tendiert die praktische Relevanz dieses Ergebnisses gegen null: Das Bundeskartellamt wird nämlich, um die Wirkung der Bonusregelung nicht zu gefährden, den zugesicherten Bußgelderlass im konkreten Einzelfall nicht verweigern. Es hat vielmehr gerade, um das Vertrauen der Unternehmen und natürlichen Personen in das Bonusprogramm zu stärken und damit den Anreiz zur Kartellaufdeckung zu erhöhen, die noch in der Bonusregelung von 2000 bestehende Einschränkung des Bußgelderlasses auf den Regelfall1072 ersatzlos gestrichen.1073 Umgekehrt wird 1072

Abschnitt A der Bonusregelung von 2000. BKartA, PM v. 15.3.2006. Zuvor hatte Böge schon gemeint, dass der Bußgelderlass „automatisch“ zugesichert werden könne, wenn ein entsprechender Antrag beim BKartA eingereicht werde. Vgl. Böge, in: Baudenbacher, Neueste Entwicklungen im europäischen und internationalen Kartellrecht, S. 149 ff. (159). 1073

§ 4 Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigende Ermessenskriterien 327

sich der selbstanzeigende Kartellbeteiligte kaum über den Bußgelderlass beschweren. Andere Betroffene können einen etwaigen Ermessensnichtgebrauch nicht geltend machen. So können sie insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 GG keinen Gleichbehandlungsanspruch herleiten: zum einen, weil sie die Kriterien der Randnummer 3 oder 4 schon nicht erfüllen würden und zum anderen, weil nach wie vor der Grundsatz „Keine Gleichheit im Unrecht“ anerkannt ist.1074 Im Übrigen ist das OLG Düsseldorf ohnehin nicht an die Bonusregelung gebunden. Da Dritten schließlich der Rechtsweg abgeschnitten ist, besteht im Falle des gewährten Bußgelderlasses de facto keine gerichtliche „Kontrolle“.

G. Zusammenfassung Die Begutachtung der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamts offenbart, dass sich die Kartellbehörde innerhalb der durch den Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG gesetzten Ermessensgrenzen bewegt. So sieht es zutreffend lediglich im Bereich generell oder individuell verwirklichter, geringfügiger Wettbewerbsverstöße regelmäßig von einer Verfolgung und Ahndung ab. Die diesbezüglich erlassene Bagatellbekanntmachung beinhaltet sachgerechte Kriterien zur abstrakt-generellen Bestimmung geringfügiger Wettbewerbsverstöße. Im Übrigen erwiesen sich auch die in der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamts relevant gewordenen Kriterien, die aus Sicht der Kartellbehörde ein (partielles) Absehen von der Verfolgung und Ahndung rechtfertigen, überwiegend als sachgerecht. Dazu zählt, wie das Bundeskartellamt zutreffend feststellte, das sofortige Einstellen wettbewerbswidrigen Verhalten, sofern besondere Umstände hinzutreten. Auch und besonders die aktive und/oder passive Aufklärungshilfe der Betroffenen eines Bußgeldverfahrens rechtfertigt einen (partiellen) Ahndungsverzicht, da diese zu einem verbesserten Wettbewerbsschutz beitragen kann, indem die Entdeckung von Kartellen und ihre erleichterte und beschleunigte Aufklärung die Schlagkraft des Bundeskartellamts erhöht. Bei der Ausgestaltung dieses durch die Bonusregelung und die Settlement-Praxis eingeführten, ungeregelten „Bonussystems“ hat sich das Bundeskartellamt, ebenso wie bei der Bagatellbekanntmachung, an der Praxis der Kommission orientiert, was letztlich die These bestätigt, dass die Ermessensausübung der Kartellbehörde faktisch durch die europäische Wettbewerbspraxis beeinflusst wird. Gerade die Settlement-Praxis begegnet allerdings teilweise erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken und bedarf der Änderung. Ihre Kombination mit der Bonusregelung dürfte zu einer Verletzung des „nemo tene1074 BVerfG, Beschl. v. 17.1.1979, Az. 1 BvL 25/77 – Unterhaltspflichtverletzung, NJW 1979, 1445 (1448), Rn. 59 (juris); Beschl. v. 9.10.2000, Az. 1 BvR 1627/95, GRUR 2001, 266 (270), Rn. 52 (juris); BVerwG, Urt. v. 26.2.1993, Az. 8 C 20/92, NJW 1993, 2065 (2066), Rn. 14 (juris); Urt. v. 13.12.2006, Az. 6 C 17/06, GewArch 2007, 247 ff., Rn. 25 (juris); BGH, Beschl. v. 28.6.2011, Az. 1 StR 282/11, NJW 2011, 2597 (2598), Rn. 13 (juris); Beschl. v. 27.6.2012, Az. XII ZR 89/10, Rn. 47 (juris).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

tur“-Grundsatzes führen. Gleichermaßen kritisch ist die zumindest frühere Praxis des Bundeskartellamts zu bewerten, bei der es im Rahmen der Ausübung seines Verfolgungsermessens wettbewerbsfremde Ziele berücksichtigte und mit diesen letztlich rechtfertigte, einen Wettbewerbsverstoß nicht weiter zu verfolgen und zu ahnden.

§ 5 Fazit zum Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes Das GWB stellt dem Bundeskartellamt ein umfangreiches, durch die 7. GWBNovelle nochmals erweitertes Instrumentarium zur Verfügung, um auf (vermeintliche) Wettbewerbsverstöße angemessen reagieren zu können. Gemäß § 47 Abs. 1 OWiG steht es in seinem pflichtgemäßen Ermessen, ob es eine Zuwiderhandlung gegen § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV im Rahmen eines Bußgeldverfahrens verfolgt und mit dem Erlass einer Geldbuße ahndet, wenn die nicht ausdrücklich erwähnten Verfahrensvoraussetzungen vorliegen. Die Vorschrift gibt dem Bundeskartellamt allerdings ebenso wenig wie das GWB ausdrücklich Maßstäbe an die Hand, von denen es seine Entscheidung für oder gegen die Durchführung eines Bußgeldverfahrens und die Ahndung abhängig machen sollte. Damit hat allen voran der – sich aus den Legitimationsgründen für das Opportunitätsprinzip ergebende – Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG für die Ermessensausübung des Bundeskartellamtes richtungsweisenden Charakter. Dieser verpflichtet das Bundeskartellamt, seiner Entscheidungsfindung maßgeblich das öffentliche Interesse am Bestand des materiellen Wettbewerbsrechts zur Absicherung wettbewerblicher Verhältnisse auf den Märkten, aber auch das Genugtuungsinteresse Geschädigter und das Gleichbehandlungsbedürfnis der Täter, zugrunde zu legen. Damit fällt, was nicht zuletzt auch die Vorschrift des § 17 Abs. 3 OWiG offenbart, insbesondere die Bedeutung des Kartellverstoßes bei der Entscheidungsfindung ins Gewicht. Unter Berücksichtigung der erheblichen Bedeutung des Wettbewerbs und des in den Kartell-Bußgeldtatbeständen zum Ausdruck kommenden, überpositiven qualitativen Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitsurteil reduziert sich daher das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes bei gravierenden Hardcore-Kartellen, unabhängig vom konkreten Tatgeschehen, regelmäßig auf null, hin zu einer Pflicht zur Verfolgung und Ahndung. Denn nur auf diese Weise kann das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit gestärkt und dem unbedingten Geltungsanspruch des materiellen Wettbewerbsrechts zum Zwecke effektiven Wettbewerbsschutzes sowie den legitimen Interessen Geschädigter Rechnung getragen werden.1075 In den übrigen Fällen verbleibt dem Bundeskartellamt ein sehr weiter Ermessensspielraum, der sich im Einzelnen kaum abstrakt anhand allgemeiner Rechtsgrundsätze und den Grundrechten 1075

Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.).

§ 5 Fazit zum Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

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der Kartellbeteiligten weiter eingrenzen lässt. Das Bundeskartellamt hat die Ausübung seines Verfolgungsermessens hinsichtlich dieser Fälle nur in einem sehr begrenzten Anwendungsbereich, nämlich den Fällen der Bagatellkartelle, konkretisiert. Mit der Bagatellbekanntmachung hat es sich zulässigerweise dahingehend gebunden, geringfügige, in ihrer Art nicht gravierende Wettbewerbsverstöße regelmäßig nicht im Wege eines Bußgeldverfahrens zu verfolgen. Im Übrigen berücksichtigt es zutreffend insbesondere die individuelle Vorwerfbarkeit der Kartellbeteiligung. Von der europäischen Kartellrechtspraxis geht hingegen überwiegend keine rechtlich ermessensbeschränkende Wirkung aus. Aufgrund der Loyalitätspflichten innerhalb des ECN und dem Revokationsrecht der Kommission gemäß Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 ist das Bundeskartellamt allerdings faktisch gezwungen, seine Ermessensausübung an den innerhalb des ECN getroffenen Entscheidungen und der Kartellverfolgungspraxis der Kommission zu orientieren. Daraus resultieren insbesondere die Bagatellbekanntmachung, die Bonusregelung und wohl zum Teil auch die wiederbelebte Settlement-Praxis. Trotz der festgestellten Verpflichtung zur Verfolgung und Ahndung von Hardcore-Kartellen verbleibt der Kartellbehörde ein nicht gänzlich berechenbarer Restspielraum, der aus der auf den „Regelfall“ beschränkten Ermessensreduzierung auf null folgt. Zum einen behält das Bundeskartellamt dadurch faktisch eine Art unkontrollierbaren „Beurteilungsspielraum“ hinsichtlich der Identifizierung eines den Verfolgungs- und Ahndungsverzicht rechtfertigenden atypischen Falls.1076 Selbst wenn nämlich die vom Bundeskartellamt angegebenen Gründe für eine sanktionslose Einstellung des Bußgeldverfahrens angesichts der Zwecke des GWB und der intendierten Ahndung nicht sachgerecht erscheinen sollten, wie dies etwa bei wettbewerbsfremden Erwägungen zur Rechtfertigung von Preisabsprachen der Fall ist, kann die Einstellungsentscheidung der Kartellbehörde gerichtlich nicht angefochten werden.1077 Zum anderen können sich auch Einschränkungen aus der Berücksichtigung der – vom Gesetzgeber durch die Unterwerfung des Bußgeldverfahrens unter das Opportunitätsprinzip primär verfolgten – Zwecke der Effektivität und Wirtschaftlichkeit ergeben. Das Bundeskartellamt soll sich nach dem Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG nämlich verfahrensbeschleunigender und ressourcensparender Instrumente bedienen, soweit diese dem öffentlichen Interesse Rechnung tragen, die Effektivität des Wettbewerbsschutzes also nicht gefährden. Dies schließt auch ein (partielles) Absehen von der Verfolgung und Ahndung von Hardcore-Kartellen mit ein.

1076 Dies übersieht Klaue, in: IM/GWB, § 51 Rn. 12, der aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung folgert, dass die Beschlussabteilung nach Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit einer Handlung zum Erlass eines Bußgeldes verpflichtet ist. 1077 Vgl. Teil 1 § 2 B. IV. (S. 71 ff.).

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Gerade letzterer Aspekt hat in der Praxis des Bundeskartellamtes seit der Jahrtausendwende zunehmende Bedeutung erlangt. Spätestens mit der Veröffentlichung der, an der Kronzeugenregelung der Kommission orientierten, Bonusregelung wurde deutlich, dass das Bundeskartellamt seinen Fokus verstärkt auf die Effektivität, aber auch Wirtschaftlichkeit der Kartellverfolgung legt. Die mit dem Ziel erlassene Bonusregelung, die Aufdeckungsrate hochgradig konspirativer Hardcore-Kartelle zu steigern, markiert den Anbeginn eines neuen Selbstverständnisses der Kartellbehörde, das auf zukunftsgerichtete Prävention anstelle von rückwärts gewendeter Ahndung, und auf Verhandlung und Kooperation mit Kartellmitgliedern anstelle von subordinativer Verfolgung setzt.1078 Zusammen mit der im Rahmen der 7. GWB-Novelle verwirklichten Verschärfung des Kartellbußgeldrechts soll die Bonusregelung vor allem den Grad der abschreckenden Wirkung des materiellen Kartellrechts steigern und Marktteilnehmer von Wettbewerbsverstößen abhalten. Ignorieren diese nichtsdestotrotz das Kartellverbot, so reicht das Bundeskartellamt denjenigen Kartellbeteiligten die Hand, die es bei der Entdeckung und Aufklärung des Wettbewerbsverstoßes unterstützen. Dadurch erhöht die Kartellbehörde ihre Schlagkraft, indem ihr die „Fälle“ mitsamt den notwendigen Beweismitteln, ohne eigenes Zutun, von den „Tätern“ zugetragen werden und sie dadurch Zeit, aber auch sachliche und personelle Ressourcen spart. Ferner vermeidet das Bundeskartellamt langwierige, kostenintensive Gerichtsverfahren, wenn Kartellbeteiligte ausreichend von ihrer Kooperation profitieren. Mit der Wiederentdeckung der Settlements hat das Bundeskartellamt diese „neue“ Art der kooperativen und effektiven Durchsetzung des Kartellrechts letztlich fortgeführt und intensiviert. Ähnlich dem „Deal“ im Strafverfahren zielen Settlements auf die Beschleunigung und Abkürzung des Bußgeldverfahrens. Entschließen sich die Kartellbeteiligten dazu, den vom Bundeskartellamt ermittelten Sachverhalt zu gestehen, belohnt das Bundeskartellamt die Zusammenarbeit mit einer Bußgeldreduktion und gegebenenfalls einer Teileinstellung des Bußgeldverfahrens. Für das Bundeskartellamt lohnt sich diese vereinfachte, beschleunigte Form des Bußgeldverfahrens, da es zu einer weiteren Optimierung des Ressourceneinsatzes und der Kosten beiträgt. Die Bonusregelung und Settlements offenbaren eine – nicht zuletzt von der europäischen Kartellrechtspraxis beeinflusste – Neuausrichtung der kartellbehördlichen Ausübung des Verfolgungsermessens im Bußgeldverfahren hin zu einem more economic approach.1079 Grundsätzlich entspricht dies dem Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG, auf eine effiziente und kostengünstige Art und Weise einen möglichst weitreichenden Wettbewerbsschutz zu erzielen. Gerade vor dem Hintergrund wachsender Haushaltslöcher tragen insbesondere Settlements zu einer 1078 Im Hinblick auf die Neuausrichtung des Verwaltungsverfahrens schon: Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff., passim, insb. S. 52 ff. 1079 Zum Verwaltungsverfahren: Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (53 f.); ähnlich Becker/Hossenfelder, Einführung Kartellrecht, S. 35.

§ 5 Fazit zum Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

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Entbürokratisierung und Modernisierung der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamtes bei, die nicht nur Wert auf die Rechtmäßigkeit ihres Handelns legt, sondern darüber hinaus auch auf ihre Wirtschaftlichkeit und Schlagkraft.1080 Durch seine Orientierung an der Kartelldurchsetzung der Kommission, vor allem mit Blick auf die Kronzeugenregelung, und nicht zuletzt mit Unterstützung des Gesetzgebers hat sich das Bundeskartellamt mit dieser auf Effektivität und Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Kartellrechtsdurchsetzung im letzten Jahrzehnt zu einer ernstzunehmenden und effektiven Kartellbehörde emanzipiert. Dies ist zum Schutz des Wettbewerbs grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings hat die Untersuchung gezeigt, dass das Bundeskartellamt mit seinen selbst geschaffenen, ungeregelten Vollzugselementen teilweise die grundlegenden Prinzipien, die an eine pflichtgemäße Ermessensausübung zu stellen sind, nicht ausreichend beachtet. Im Settlementverfahren besteht die reale Gefahr, dass das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung und das nach hier vertretener Auffassung nicht gänzlich zu vernachlässigende Genugtuungsinteresse der Geschädigten übergangen werden, wenn sich das Bundeskartellamt (i) allzu schnell mit einem Geständnis zufrieden gibt, ohne zuvor die Aktenlage vollständig zu prüfen, wenn (ii) das Settlement von dem Verzicht des Akteneinsichtsrecht abhängig gemacht wird, und wenn (iii) Zugeständnisse im Hinblick auf die Veröffentlichung der Entscheidung gemacht und einsichtsfähige Bußgeldbescheide auf ein Minimum reduziert werden. Allgemein tendiert das Bundeskartellamt außerdem dazu, seine Ermessensausübung, vor allem mit Blick auf die Bonusregelung, zu verabsolutieren, sodass die grundsätzlich gebotene Einzelfallabwägung in den Hintergrund zu geraten droht. Hier offenbart die kooperative Verfahrensführung für die Rechtsgemeinschaft, aber auch für geschädigte Dritte ihre durchaus schädliche Seite. Im Settlementverfahren verstößt zwar der geforderte Verzicht auf Akteneinsicht und Anhörung nicht gegen das Gehörsrecht der Betroffenen, sofern sie dessen Ausübung freiwillig aufgeben. Allerdings stellt der vom Bundeskartellamt zur Bedingung eines Settlements gemachte Verzicht auf Akteneinsicht die Rechtsstaatlichkeit des Bußgeldverfahrens in Frage, da die Forderung zu einem unnötigen Waffenungleichgewicht im Verfahren führt und darüber hinaus das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung beeinträchtigt. Die erwünschte, zusätzlich zu der ohnehin durch das „Geständnis“ bewirkte Beschleunigung des Bußgeldverfahrens steht zu diesen Beeinträchtigungen in keinem Verhältnis. Aber auch aus Sicht der Betroffenen mag sich eine Kooperation nicht stets als Gewinn herausstellen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die durch die Bonusregelung in Aussicht gestellte Bußgeldreduktion um bis zu 50 % bei aktiver Kooperation nach Entdeckung des 1080 Dazu bereits Teil 2 § 3 B. I. 2. d) (S. 117 ff.); zum verstärkten Bestreben der BReg nach ziel- und ergebnisorientierter Steuerung des Verwaltungshandelns: www. verwaltung-innovativ.de (Stand: 31.12.2013); dazu allgem. Pitschas, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 2, § 42 Rn. 67 ff. und mit Bezug auf die Durchsetzung des Kartellrechts: Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff.

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Teil 2: Das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamtes

Kartells jedenfalls nah an die Grenze der berüchtigten, Zwang begründenden „Sanktionsschere“ heranreicht. Zwar ist es eher unwahrscheinlich, dass Settlements, für sich genommen, Betroffene praktisch dazu zwingen, mit der Behörde zu kooperieren und ihr Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, konterkariert. Da das Bundeskartellamt in der Praxis jedoch beide Instrumente kombiniert,1081 lässt sich die Gefahr, dass der „nemo tenetur“-Grundsatz im kooperativen Bußgeldverfahren verletzt wird, kaum mehr leugnen.1082

1081 BKartA, TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 35; Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (352); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (22). Vgl. auch etwa die PM im Fall OSB-/ Spanplatten v. 20.9.2011, zum Hydrantenkartell v. 16.12.2011, zum Fall Haribo v. 1.8. 2012, zum Schienenkartell v. 5.7.2012 und zum Fall Chemiegroßhandel v. 15.3.2012. 1082 Wohl auch Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (154).

Teil 3

Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes Mit der Entscheidung, eine Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot zu ahnden, steht das Bundeskartellamt vor der Herausforderung, eine der Bedeutung des verwirklichten Unrechts und den zu erhebenden Vorwurf gerecht werdende Geldbuße zu ermitteln, die zugleich den mit ihr verfolgten Sanktionszwecken gerecht wird. Das Gesetz gewährt dem Bundeskartellamt ein in den Grenzen des § 81 Abs. 4 GWB i.V. m. § 17 OWiG bestehendes Sanktionszumessungsermessen. Die Regelungen beinhalten nominale Mindest- und Höchstgrenzen einer zu verhängenden Geldbuße und – im Unterschied zu § 47 Abs. 1 OWiG – zwingend zu beachtende Maßstäbe, anhand derer die Bußgeldbemessung erfolgen muss. Wie im Strafzumessungsrecht ist naturgemäß keine Formel oder Anleitung „zur Berechnung“ der Geldbuße geregelt, da Bußgeldzumessung stets die individuelle, an die Umstände des Einzelfalls anknüpfende Sanktionierung meint und sich daher arithmetische Mittel grundsätzlich verbieten.1 Durch die pflichtgemäße Anwendung der Zumessungskriterien hat die Bußgeldbemessung zwar bis zu einem gewissen Grad den Charakter einer Rechtsanwendung, allerdings verbleibt der Kartellbehörde auch unter ihrer Berücksichtigung, wie dem Tatrichter bei der Strafzumessung,2 ein Restspielraum3 zwischen einer „schon“ und „noch“ tat- und schuldangemessenen, verhältnismäßigen Sanktion. Dessen tatsächliche Weite soll im Folgenden untersucht werden. Dazu sind zunächst die gesetzlichen Rahmenbestimmungen zu beleuchten, die die äußeren Grenzen des Sanktionszumessungsermessens markieren. Ausgehend von einem Überblick über die Regelungen des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts (§ 1), werden im zwei1 Allg. M., vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.8.1969, Az. 1 Ws (OWi) 510/69, NJW 1970, 158. 2 Die Bußgeldzumessung ist insoweit der Strafzumessung sehr ähnlich, auch wenn die Bemessungskriterien einen anderen Schwerpunkt haben. Während bei der Strafmaßbestimmung die Schuld des Täters im Mittelpunkt steht, ist die Bußgeldbemessung, wie noch aufgezeigt wird, insbesondere an objektiven Kriterien, nämlich allen voran an der Unrechtstiefe ausgerichtet. Zum richterlichen Ermessen bei der Strafzumessung: Teil 1 § 2 A. II. 1. (S. 58 ff.). 3 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.8.1969, Az. 1 Ws (OWi) 510/69, NJW 1970, 158; Beschl. v. 22.12.1998, Az. 3 Ws OWi 667-668-98, NJW 1999, 2686 (2787); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.7.1974, Az. 3 Ss (B) 46/74, NJW 1974, 1883; OLG Köln, Beschl. v. 26.2.1988, Az. Ss 17/88 (B)-30, NJW 1988, 1606 f.; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 30; a. A. offenbar Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 328.

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

ten Abschnitt die sich aus den besonderen Vorschriften des GWB ergebenden Modifikationen für das Kartellbußgeldrecht dargestellt, die zusammen mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen die heteronomen Grenzen des Sanktionszumessungsermessens bilden (§ 2). Davon ausgehend soll die durch das Bundeskartellamt mithilfe der Bußgeldleitlinien konkretisierte Ausübung des Sanktionszumessungsermessens bewertet werden (§ 3).

§ 1 Überblick über das allgemeine Bußgeldrecht: Die Phasen der Bußgeldzumessung Allgemeine, für alle Ordnungswidrigkeiten gleichermaßen geltende Regelungen zur Bußgeldzumessung finden sich in den §§ 9, 17, 30 und 130 OWiG. Die Bußgeldbemessung erfolgt danach grundsätzlich in zwei Phasen. Zunächst ist anhand des § 17 Abs. 1 OWiG der Regelbußgeldrahmen zu bestimmen. Innerhalb dieses Rahmens ist die Verfolgungsbehörde im zweiten Schritt dazu berufen, eine Geldbuße festzusetzen. Die konkrete Zumessung geschieht wiederum zweischrittig. Zuerst hat die Verfolgungsbehörde eine gerechte Sanktion für die Ordnungswidrigkeit anhand der Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG zu ermitteln. Im Anschluss daran sieht § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG vor, dass der durch die Ordnungswidrigkeit gezogene wirtschaftliche Vorteil ermittelt und über den ahndenden Teil der Geldbuße hinaus abgeschöpft wird.

A. Erste Phase: Bestimmung des Bußgeldrahmens Begeht eine natürliche Person vorsätzlich eine Ordnungswidrigkeit und entscheidet sich die Verfolgungsbehörde zur Ahndung, ordnet § 17 Abs. 1 OWiG eine Mindestgeldbuße von fünf Euro an und, soweit ein Gesetz nichts anderes bestimmt, eine Höchstgeldbuße von eintausend Euro. Demgegenüber sollen fahrlässig handelnde, natürliche Personen gemäß § 17 Abs. 2 OWiG maximal mit der Hälfte der geregelten Höchstgeldbuße sanktioniert werden können, sofern der materielle Bußgeldtatbestand nicht zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit differenziert. Die Verfolgungsbehörde ist mit anderen Worten dazu berufen, eine Geldbuße innerhalb des Regelbußgeldrahmens von fünf bis eintausend Euro für vorsätzliche bzw. von fünf bis fünfhundert Euro für fahrlässige Ordnungswidrigkeiten festzusetzen. Dies gilt zuvorderst für solche Personen, die nur deshalb ordnungswidrig handeln, weil auf diese aufgrund ihrer Organwalter-, Stellvertreter- oder Beauftragteneigenschaft ein besonderes persönliches Merkmal, wie etwa die Eigenschaft „juristische Person oder Personenvereinigung“ eines Bußgeldtatbestandes gemäß § 9 Abs. 1 oder Abs. 2 OWiG erstreckt wird.4 Dabei kommt es wegen des im Ordnungswidrigkeitenrecht geltenden Einheitstäterbegriffs gemäß § 14 OWiG zu4

Vertiefend: Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.).

§ 1 Überblick über das allgemeine Bußgeldrecht

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nächst auch nicht darauf an, ob sich die Person im Sinne des § 9 OWiG als Täter oder Teilnehmer beteiligt. Der BGH hat bezüglich der „bloßen“ Beteiligung an einer rechtswidrigen Handlung eines Dritten allerdings bereits früh entschieden, dass Einheitstäter im Sinne des § 14 OWiG nur derjenige ist, der vorsätzlich an einer vorsätzlichen Bezugstat teilnimmt.5 Dementsprechend handelt ein Verantwortlicher im Sinne des § 9 OWiG nur dann ordnungswidrig, wenn er selbst vorsätzlich oder fahrlässig rechtswidrige Handlungen als „Täter“ begeht oder aber wissentlich und willentlich vorsätzliche Taten nicht-leitender Angestellter zumindest mitwirkend kausal fördert, indem er diese ermöglicht, erleichtert oder absichert.6 Die in letzterem Fall ausgeschlossene Ahndung des vorsätzlich handelnden „Täters“ steht der Ahndung der „teilnehmenden“ natürlichen Person im Sinne des § 9 OWiG nicht entgegen.7 Für ihre Beteiligung soll es bereits ausreichen, dass sie mit rechtswidrigen Taten in ihrem Verantwortungsbereich handelnder Personen rechnet und diese billigend in Kauf nimmt, auch wenn ihr die Einzelheiten nicht bekannt sind.8 Nach § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG sind die vorstehenden Regelbußgeldrahmen auch auf Betriebsinhaber und ihre Stellvertreter im Sinne des § 9 OWiG anzuwenden, die vorsätzlich oder fahrlässig Aufsichtsmaßnahmen im Unternehmen oder Betrieb unterlassen haben, welche die Begehung der fraglichen Zuwiderhandlung gegen betriebsbezogene Pflichten zumindest wesentlich erschwert hätten. Gegen die juristische Person, der die Ordnungswidrigkeit eines Betriebsinhabers oder seines Stellvertreters, also eines vertretungsberechtigten Organs, Gesellschafters, Generalbevollmächtigten oder eines mit der Leitung beauftragten, anderen Stellvertreters im Sinne des § 9 OWiG 9 als eigene Ordnungswidrigkeit zugerechnet wird, soll gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG ebenfalls grundsätzlich 5 BGH, Urt. v. 6.4.1983, Az. 2 StR 547/82 – Gütertransporte ohne Genehmigung, WuW/E BGH 2036, Rn. 10 ff. (juris); so auch die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte, vgl. nur OLG Köln, Beschl. v. 31.10.1978, Az. 3 Ss 761 B/78, NJW 1979, 826 (827) und die ganz herrschende Lehre, vgl. etwa: Rengier, in: KK/OWiG, § 14 Rn. 5 ff., 30 ff. m.w. N., auch zur Rechtsprechung; Förster, in: RRH/OWiG, § 14 Rn. 13; Lemke/ Mosbacher, OWiG, § 14 Rn. 5; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 60 ff.; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 69 f.; Cramer/Pananis, in: LMR/ Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 13. 6 Statt aller: Rengier, in: KK/OWiG, § 14 Rn. 22 ff.; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 61 f. 7 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 61. 8 BGH, Urt. v. 24.3.1987, Az. KRB 8/86 – Zweigniederlassung, WuW/E BGH 2394 (2496 ff.); BKartA, Ents. v. 20.3.1996, Az. B3-721111-A-14/94-4 – Straßenstrich, WuW/E BKartA 2871 (2873); Ents. v. 7.5.1997, Az. B7-31301-A-105/96 – Stromkabel, WuW/E BKartA 2892 (2893); ferner: Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 16; krit., vor allem im Hinblick auf die zur Verfügung stehende Auffangnorm des § 130 OWiG: Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 70; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 63. 9 Ordnungswidrigkeiten von Personen im Sinne des § 130 und § 9 OWiG werden der juristischen Person oder Personenvereinigung nur zugerechnet, wenn diese eine der ab-

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eine Geldbuße in Höhe derjenigen Geldbuße, die gegen die natürliche Person erlassen werden kann, festgesetzt werden. Verweist der Bußgeldtatbestand allerdings, wie etwa § 130 Abs. 3 S. 2 OWiG, auf den mit der 8. GWB-Novelle neu eingefügten § 30 Abs. 2 S. 3 OWiG, so verzehnfacht sich das Höchstmaß der für die natürliche Person angedrohten Geldbuße. Hat eine der in den Vorschriften des §§ 30, 130 OWiG aufgezählten Personen ferner gleichzeitig eine vorsätzliche Straftat begangen und wird diese gemäß § 21 OWiG nicht verfolgt oder ergeht kein Strafurteil, beträgt die zulässige Maximalgeldbuße abweichend von § 17 Abs. 1 OWiG zehn Millionen Euro,10 es sei denn der Bußgeldtatbestand bedroht die rechtswidrige Tat ebenfalls mit einer von § 17 Abs. 1 OWiG abweichenden, maximalen Geldbuße, die zehn Millionen Euro übersteigt (§§ 30 Abs. 2 S. 1 und 4, 130 Abs. 3 S. 1 und 4 OWiG).

B. Zweite Phase: Konkrete Bußgeldzumessung I. Ermittlung des ahndenden Teils der Geldbuße Soweit die Geldbuße der alleinigen Ahndung dient, sind „Grundlage“ der Bußgeldzumessung gemäß § 17 Abs. 3 S. 1 OWiG die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der den Täter treffende Vorwurf. Aus dieser Formulierung lassen sich drei Erkenntnisse ableiten. Erstens bildet, anders als im Strafzumessungsrecht, nicht allein die „Schuld“ des Täters den zentralen Ausgangspunkt der Bußgeldzumessung, sondern vielmehr erfolgt diese, entsprechend dem primär zur Durchsetzung eines Ordnungsgefüges und nur sekundär zur „Vergeltung“ dienenden, materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts, vorrangig an dem objektiven Kriterium des begangenen Unrechts.11 Letzteres bestimmt allerdings ein Stück weit auch die Vorwerfbarkeit („Schuld“) des Täters,12 zumal es, wie § 46 Abs. 2 StGB offenbart, auch Auskunft über die Beweggründe und Ziele des Täters zu geben vermag. Zwischen der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwerfbarkeit besteht also ein innerer Zusammenhang, da sich die Bedeutung an dem kausal herbeigeführten, rechtswidrigen und „verschuldeten“ Ausmaß der Ordnungswidrigkeit misst; eine strenge Trennung ist also nicht möglich.13 Vielmehr sind beide Kriterien Ausdruck des verfassungsrechtlichen durch Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 schließend aufgeführten Funktionen in § 30 OWiG innehatte. Hierzu die Hinweise und Literaturverweise in Fn. 116 (S. 98). 10 Im Unterschied zu § 130 Abs. 3 S. 1 OWiG, gilt nach § 30 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 OWiG für die fahrlässige Verwirklichung eines Straftatbestandes eine zulässige Höchstgeldbuße von 5 Mio. Euro. 11 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 32; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 15; Lemke/ Mosbacher, OWiG, § 17 Rn. 12; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 131; verhalten auch Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 251. 12 Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 17; krit. Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 51. 13 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 30; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 251.

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und Art. 20 Abs. 3 GG garantierten Schuldprinzips, wonach nicht nur jede Sanktion „Schuld“ voraussetzt („nulla poena sine culpa“), sondern diese darüber hinaus, und insoweit deckungsgleich mit dem Übermaßverbot, in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat stehen muss.14 Zweitens schließt es § 17 Abs. 3 OWiG nicht aus, weitere Kriterien zur Bußgeldzumessung heranzuziehen. Beispielhaft billigt Satz 2 der Vorschrift die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters bei „normalen“ bis schweren Ordnungswidrigkeiten. Einen wichtigen, anerkannten Aspekt bilden auch die Sanktionszwecke der Geldbuße.15 Aus der Abstufung der Zumessungskriterien lässt sich drittens eine Methode zur Feststellung der „angemessenen“ Geldbuße ableiten: Anhand der Bedeutung der Tat kann innerhalb eines Bußgeldrahmens eine Art Grundbetrag ermittelt werden, der anschließend, vor allem anhand des Vorwurfs, der den Täter trifft, aber auch anhand seiner wirtschaftlichen Verhältnissen und gegebenenfalls weiterer Kriterien nach oben oder unten korrigiert wird. Der Bußgeldrahmen markiert demnach nicht nur die äußeren Grenzen für die denkbar leichtesten und schwersten Fälle einer Ordnungswidrigkeit, sondern normiert gleichzeitig eine kontinuierliche Schwereskala aller möglichen Erscheinungsformen eines Bußgeldtatbestandes. Das Höchstmaß der Geldbuße ist daher nur für die (Ausnahme-) Fälle des denkbar schwersten Unrechts- und Schuldgrades vorgesehen, wenn schlechthin keinerlei Milderungsgründe ersichtlich sind;16 hingegen ist eine Geldbuße regelmäßig im mittleren Bereich für durchschnittlich schwere Fälle und weit unter dem Mittelwert für einfache Fälle festzusetzen.17

14 St. Rspr. des BVerfG seit dem Urt. v. 10.5.1957, Az. 1 BvR 550/52 – „Homosexuellen-Urteil“, BVerfGE 6, 389 (439), Rn. 182; ferner: Beschl. v. 25.10.1978, Az. 1 BvR 983/78, BVerfGE 50, 5 (12), Rn. 21 (juris); Beschl. v. 17.1.1979, Az. 2 BvL 12/77 – Strafbarkeit von Bagatelldelikten, BVerfGE 50, 205 (215), Rn. 38 (juris); Beschl. v. 11.11.1986, Az. 1 BvR 713/83, BVerfGE 73, 206 (253), Rn. 96; Beschl. v. 18.3.2009, Az. 2 BvR 1350/08, Rn. 6 (juris); Beschl. v. 16.11.2010, Az. 2 BvL 12/09, Rn. 92 (juris). Dies gilt ebenso für die strafähnliche Sanktion, vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.10. 1966, Az. 2 BvR 506/63 – nulla poena sine culpa, BVerfGE 20, 323 (331), Rn. 34 (juris); Beschl. v. 23.1.1990, Az. 1 BvL 4–7/87, BVerfGE 81, 228 (237), Rn. 30; Beschl. v. 8.7.1993, Az. 2 BvR 213/93, NJW 1994, 1339, Rn. 11 f. 15 Die Literatur zum allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht behandelt diese zum Teil als Unterkriterium zur Bestimmung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit: Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 42, 47; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 16; wie hier: Bohnert, OWiG, § 17 Rn. 12; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 276 ff.; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 362. 16 Ganz allgem. M., vgl. nur OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.2.2003, Az. 1 SsOWi 16/03 (14/03), SchlHA 2004, 263; BayOLG, Beschl. v. 21.10.1998, Az. 1 ObOWi 542/98, DAR 1999, 36; OLG Köln, Beschl. v. 26.2.1988, Az. Ss 17/88 (B)-30, NJW 1988, 1606; Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 75; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 37; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 25; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 14; jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen. 17 OLG Köln, Beschl. v. 26.2.1988, Az. Ss 17/88 (B)-30, NJW 1988, 1606; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 14; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 25.

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

Obwohl § 30 OWiG nicht explizit auf § 17 Abs. 3 OWiG verweist, finden dessen Bemessungsgrundsätze nach überwiegender Auffassung auch auf die Verbandsgeldbuße Anwendung.18 Allerdings sind sie sinngemäß zu übertragen, da dem Verband das Handeln seiner Vertreter als eigene Ordnungswidrigkeit zugerechnet wird.19 Dementsprechend ist bei der Beurteilung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit ausschließlich auf die Bezugstat der natürlichen Person, also deren Unrechtsgehalt und Auswirkungen auf das geschützte Rechtsgut, abzustellen.20 Im Hinblick auf den „Vorwurf, der den Täter trifft“ kommt es demgegenüber, ebenso wie bei den zu berücksichtigenden, wirtschaftlichen Verhältnissen, auf die juristische Person an.21 Ein den Verband treffendes Organisationsverschulden beinhaltet insbesondere die Ausbildung einer fehlerhaften, kriminellen Geschäftsmentalität, die die individuelle Einstellung der Stellvertreter der juristischen Person beeinflusst hat und in ihren individuellen Handlungen zum Ausdruck gekommen ist.22

18 BGH, Beschl. v. 24.4.1991, Az. KRB 5/90 – Bußgeldbemessung, WuW/E BGH 2718 (2720), Rn. 17 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.5.2008, Az. VI Kart 9–11/07 OWi – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern US-amerikanischer Streitkräfte, Rn. 84 (juris); Urt. v. 11.4.2007, Az. VI-Kart 5/06 (OWi) – Dinnershows, Rn. 81 (juris); Urt. v. 13.9.2006, Az. VI-Kart 2/06 – OTC-Präparate, WuW DE-R 1917 (1919), Rn. 37 (juris); Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1747), Rn. 858 (juris); BKartA, Ents. v. 20.3.1996, Az. B3-721111-A-14/94-4 – Straßenstrich, WuW/E BKartA 2871 (2873 f.); ferner wohl auch OLG Hamm, Beschl. v. 28.6.2000, Az. 2 Ss OWi 604/1999, wistra 2000, 393 (395), Rn. 24 (juris); aus der Literatur: Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 115; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 392; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 232, 247, 281; ohne konkrete Problematisierung im Hinblick auf § 30 OWiG allgemein auch: Cramer/ Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 63, 67 ff.; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 167; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 34; a. A. Korte, NStZ 2001, S. 582 ff. (584); ders., NStZ 2010, S. 22 ff. (25); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 30 Rn. 36a; Hannich, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 43, die auf „allgemeine Zumessungskriterien“ abstellen wollen. 19 Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 115 m.w. N.; Bohnert, OWiG, § 30 Rn. 41. 20 Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 62; BGH, Beschl. v. 24.4.1991, Az. KRB 5/90 – Bußgeldbemessung, WuW/E BGH 2718 (2720), Rn. 18 (juris); KG Berlin, Beschl. v. 21.6.1990, Az. Kart. 12/89 – Steueranteil am Mehrerlös, WuW/E OLG 4572 (4574); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 30 Rn. 36a; Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 115, 117; Bohnert, OWiG, § 30 Rn. 41; Hannich, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 43; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 282; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 392; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 90; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 137; Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 94. 21 Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 118 f.; abw. Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 30 Rn. 36a, der das Verschulden der natürlichen Person der juristischen Person zurechnen will. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang häufig nicht vom „Vorwurf“, der das Unternehmen trifft, sondern von „spezifisch unternehmensbezogenen Zumessungsgründen“ gesprochen, vgl. etwa Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 282 ff.; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 167; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 392; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 30 Rn. 36a; Hannich, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 43.

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II. Ermittlung des abschöpfenden Teils der Geldbuße Da die Geldbuße gemäß § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter mithilfe der Ordnungswidrigkeit erlangt hat, übersteigen soll, darf das oben beschriebene, jeweils zulässige Höchstmaß nochmals gemäß § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG überschritten werden, wenn nur so der gesetzgeberischen Intention Rechnung getragen werden kann. § 30 Abs. 3 OWiG verweist auf die Vorschrift explizit auch für die Verbandsgeldbuße, woraus die ganz herrschende Meinung vor dem Hintergrund des als Sollvorschrift ausgestalteten § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG schließt, dass der dem Verband zugeflossene wirtschaftliche Vorteil die untere Grenze der zu erlassenden Geldbuße bilden muss,23 die (gegebenenfalls) noch um einen Ahndungsanteil zu erhöhen ist.24

22 Allein auf die fehlerhafte Sinnbestimmung des Verbandes abstellend: Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 116, 118; demgegenüber bezieht sich die wohl h. M. (auch) auf das Organisationsverschulden des Verbandes, vgl. Hannich, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 43; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 30 Rn. 36a; Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 94. M. E. schließt das Organisationsverschulden die Ausbildung und Fortführung einer „fehlerhaften Verbandsattitüde“ mit ein. Ähnlich wohl auch die Gerichte, die ein Interesse des Verbandes an dem Erfolg einer Zuwiderhandlung, als ein Element der „Schuld“ bei der Bußgeldbemessung berücksichtigen. Vgl. KG Berlin, Urt. v. 24.3.1982, Az. Kart 26/81 – Aufforderung zur Liefersperre, WuW/E OLG 2698 (2700); Urt. v. 17.9.1992, Az. Kart 12/91 – Einflussnahme auf die Preisgestaltung, WuW/E OLG 5053 (5063); Urt. v. 30.4.1997, Az. Kart 10/96 – Jeans-Vertrieb, WuW/E DE-R 83 (88); ferner etwa auch Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 282 f. 23 Vgl. etwa BGH, Beschl. v. 19.9.1974, Az. KRB 2/74, NJW 1975, 269 (270), Rn. 22 (juris); Beschl. v. 24.4.1991, Az. KRB 5/90 – Bußgeldbemessung, WuW/E BGH 2718 (2720), Rn. 14 (juris); BFH, Urt. v. 9.6.1999, Az. I R 100/97, BB 2000, 234 (236 f.), Rn. 18 (juris); KG Berlin, Beschl. v. 20.10.1999, Az. 2 Ss 256/99 – 5 Ws (B) 565/99, 2 Ss 256/99, 5 Ws (B) 565/99, Rn. 12 (juris); ferner m.w. N. Rogall, in: KK/ OWiG, § 30 Rn. 121. 24 BGH, Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1489 f.), Rn. 23 f. (juris); OLG Karlsruhe, Beschl. v. 3.7.1974, Az. 3 Ss (B) 46/74, NJW 1974, 1883; Beschl. v. 30.12.1974, Az. 3 Ss (B) 117/74, NJW 1975, 793; Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 121; a. A. Brenner, NStZ 1998, S. 557 ff. (559), der entweder eine Ahndungsgeldbuße gegen die natürliche Person und eine Gewinnabschöpfung bei der juristischen Person oder lediglich eine isolierte, gleichzeitig ahndende und abschöpfende Geldbuße gegen die juristische Person gemäß § 30 Abs. 4 OWiG zulassen will, da diese andernfalls gegenüber einem Einzelunternehmer schlechter gestellt wäre. Dies kann jedoch allenfalls dann angenommen werden, wenn ein vertretungsberechtigter Gesellschafter neben der Personenvereinigung persönlich bebußt werden soll, da dieser durch die Verbandsgeldbuße bereits Einbußen erleidet. Gleiches würde etwa für ein Organ gelten, das am Kapital der juristischen Person beteiligt ist. Diesem Umstand kann jedoch bei der Bußgeldbemessung der natürlichen Person Rechnung getragen werden. So schon Begr. BRegE eines Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Protokolls vom 19. Juni 1997 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, BT-Drs. 14/8998, S. 8; Hannich, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 38 f.; Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 156; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 30 Rn. 16, 73; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 106.

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

§ 2 Die heteronomen Grenzen des Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes Der Gesetzgeber hat innerhalb des GWB kein in sich geschlossenes KartellBußgeldrecht geschaffen, sondern vielmehr lediglich zwei für die Bußgeldbemessung maßgebliche Regelungen in § 81 Abs. 4 und Abs. 5 GWB implementiert, die das allgemeine Bußgeldrecht des OWiG modifizieren und verschärfen. Während § 81 Abs. 4 S. 6 GWB und § 81 Abs. 5 GWB, wie noch zu zeigen sein wird, als zwingend zu beachtende Zumessungskriterien überwiegend für die konkrete Bußgeldbemessung von Relevanz sind, geben die Sätze 1 bis 5 des § 81 Abs. 4 GWB Aufschluss über die nominalen Höchstgrenzen der Kartell-Geldbußen, die gemäß § 17 Abs. 1 OWiG mindestens fünf Euro betragen müssen. Die Vorschriften modifizieren einige Vorschriften des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts, insbesondere § 17 Abs. 1 OWiG und die §§ 30 und 130 OWiG. Ausgehend von den geregelten „Bußgeldrahmen“, die die äußersten Grenzen des Sanktionszumessungsermessens bilden (A.), soll dessen Reichweite im konkreten Einzelfall mithilfe der zu beachtenden, einfachgesetzlichen Zumessungskriterien sowie verfassungsrechtlichen Grundsätzen und -rechten so genau als möglich beschrieben werden (B.).

A. Die „Bußgeldrahmen“ für Kartell-Ordnungswidrigkeiten gemäß § 81 Abs. 4 GWB § 81 Abs. 4 OWiG bestimmt abweichend von § 17 Abs. 1 OWiG erheblich höhere Höchstgrenzen für Kartell-Ordnungswidrigkeiten. Die Vorschrift differenziert zwischen leichten und schweren Kartell-Ordnungswidrigkeiten sowie zwischen den „Tätern“ einer Zuwiderhandlung gegen § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV, nämlich zwischen natürlichen Personen und Unternehmen. § 81 Abs. 4 S. 1 GWB beinhaltet den Regelbußgeldrahmen für alle Arten von Wettbewerbsverstößen, der grundsätzlich für natürliche Personen wie auch für Unternehmen gilt. Satz 2 der Vorschrift trifft speziell für Unternehmen darüber hinaus eine Sonderregelung, nach der die Höchstgrenze des Regelbußgeldrahmens in Abhängigkeit von dessen Gesamtumsatz nochmals überschritten werden kann. Der genaue Regelungsgehalt der Vorschriften markiert den äußeren „Rahmen“, innerhalb dessen das Bundeskartellamt nach pflichtgemäßer Ermessensausübung eine tat- und „schuldangemessene“, gerechte Geldbuße festsetzen kann. I. Regelbußgeldrahmen gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 GWB § 81 Abs. 4 GWB führt zu einer Ausweitung des allgemeinen Regelbußgeldrahmens des § 17 Abs. 1 OWiG. Die Vorschrift unterscheidet zunächst zwischen leichten Ordnungswidrigkeiten, bei denen es sich um die behördliche Tätigkeit

§ 2 Die heteronomen Grenzen des Sanktionszumessungsermessens

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störende „Ungehorsamkeiten“, wie etwa die fehlerhafte oder unterlassene Auskunftserteilung, handelt, und schweren Ordnungswidrigkeiten, nämlich den eigentlichen Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht. Während erstere gemäß § 81 Abs. 4 S. 5 GWB „lediglich“ mit einer Geldbuße von bis zu 100.000 Euro geahndet werden können, liegt die reguläre Obergrenze der Geldbußen bei Kartellen gemäß §§ 81 Abs. 4 S. 1, Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 GWB bei einer Million Euro. Unter Berücksichtigung der in § 17 Abs. 1 OWiG festgesetzten, unabänderlichen, absoluten Mindestgeldbuße ergibt sich daraus ein Regelbußgeldrahmen für an einem Kartell beteiligte natürliche Personen im Sinne des § 9 OWiG und für juristische Personen gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG zwischen fünf Euro und einer Million Euro. Da § 81 Abs. 4 GWB selbst nicht zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Verhalten unterscheidet, ist die zulässige Höchstgeldbuße allerdings bei fahrlässigen Zuwiderhandlungen gemäß § 17 Abs. 2 GWB auf 500.000 Euro zu halbieren. Gemäß § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG gelten diese Regelbußgeldrahmen auch für Betriebsinhaber, die ihre Aufsichtspflicht verletzt haben, da sich das Höchstmaß der Geldbuße nach dem für die aktive Zuwiderhandlung drohenden Höchstmaß der Geldbuße richtet, und zwar unabhängig davon, ob der die Zuwiderhandlung begehende Täter sanktioniert werden kann.25 Dies bedeutet, dass eine vorsätzliche Aufsichtspflichtverletzung, die eine vorsätzliche Zuwiderhandlung ermöglichte oder jedenfalls erleichterte, mit einer Geldbuße von bis zu einer Million geahndet werden kann. Bei einer fahrlässigen Aufsichtspflichtverletzung, die zu einer vorsätzlichen Zuwiderhandlung führte, kann gemäß § 17 Abs. 2 OWiG eine Geldbuße zwischen fünf und 500.000 Euro verhängt werden, da § 130 OWiG im Höchstmaß nicht zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit unterscheidet. Handelte der gegen § 1 GWB bzw. Art. 101 AEUV verstoßende Mitarbeiter hingegen ebenfalls fahrlässig, muss die für diesen geltende, gemäß § 17 Abs. 2 OWiG bereits halbierte Bußgeldobergrenze nochmals für den die Aufsichtspflicht fahrlässig verletzenden Betriebsinhaber gemäß § 17 Abs. 2 OWiG halbiert werden.26 Die entgegen diesem Ergebnis verweigerte „doppelte“ Anwendung des § 17 Abs. 2 OWiG im Fall Fotoarbeitstasche27 durch das Bundeskartellamt verstößt gegen den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift28 und die Gesetzessystematik des OWiG. In dem zugrunde liegenden Fall hatte das Bundeskartellamt ermittelt, dass Mit25 Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 21; Rogall, in: KK/OWiG, § 130 Rn. 75 f.; Hannich, in: RRH/OWiG, § 130 Rn. 11. 26 KG Berlin, Urt. v. 17.3.1971, Az. 2 Ws (B) 232/70, JR 1972, 121 (122); Rogall, in: KK/OWiG, § 130 Rn. 105; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 130 Rn. 28; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 130 Rn. 19; Hannich, in: RRH/OWiG, § 130 Rn. 33; Achenbach, in: FK/ Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 86; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 323. 27 BKartA, Ents. v. 17.12.2003, Az. B9-9/03 – Fotoarbeitstasche, WuW/E DE-V 911 ff. 28 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 323; ohne Begr. abl.: Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 86.

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arbeiter einer Drogeriekette nicht nur gelegentlich die kombinierte Fotofilmentwicklung und -abzugerstellung unter Einstandspreis im Sinne des § 20 Abs. 4 GWB „zumindest fahrlässig“ angeboten und damit ordnungswidrig gehandelt haben.29 Der Geschäftsführer der Drogeriekette hatte nach den Feststellungen des Bundeskartellamtes ebenfalls „zumindest fahrlässig“ seine Aufsichtspflicht verletzt. Diese Aufsichtspflichtverletzung war der Drogeriemarktkette gemäß § 30 Abs. 1 OWiG zuzurechnen, sodass das Bundeskartellamt gegen letztere gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG und gegen den Geschäftsführer nach § 130 Abs. 3 S. 2 OWiG eine Geldbuße verhängte. Im Rahmen seiner Bußgeldbemessung lehnte es jedoch die Berücksichtigung der Fahrlässigkeit der (nicht sanktionierten) Mitarbeiter im Rahmen des § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG ab, da Großunternehmen andernfalls entgegen dem Zweck des § 130 OWiG gegenüber inhabergeführten Kleinunternehmen privilegiert würden.30 Der Zweck des § 130 OWiG besteht darin, (bei Kleinunternehmen in der Regel nicht bestehende) Sanktionslücken zu schließen, die durch die Arbeitsteilung in Großunternehmen entstehen können.31 Der Betriebsinhaber soll sich nicht seiner Verantwortlichkeit dafür entziehen können, dass die gesetzlichen Ge- und Verbote eingehalten werden, indem er andere für sich arbeiten lässt; er soll nicht nur von den Vorteilen, die mit der Erweiterung der Handlungsoptionen im Wege der Arbeitsteilung verbunden sind, profitieren, sondern auch die damit verbundenen Risiken tragen.32 Daher werden Handlungen von Betriebsangehörigen, denen auch unter Berücksichtigung der §§ 9, 14 OWiG die Normadressateneigenschaft fehlt, fiktiv tatbestandsmäßig, indem § 130 OWiG die Wirkungen dieser Vorschriften auf einfache Betriebsangehörige überträgt und damit die Sanktionierung des Betriebsinhabers ermöglicht, ohne die Betriebsangehörigen selbst einer Ahnung zugänglich zu machen.33 Könnte Betriebsinhabern eine eigene Beteiligung nachgewiesen werden, würden diese – wie auch Inhaber von Kleinunternehmen34 – primär nach § 9 OWiG haften; eines Rückgriffs auf § 130 OWiG bedürfte es nicht. Daraus erhellt sich, dass § 130 OWiG primär eine gleichmäßige Ahndung von Betriebsinhabern, unabhängig von der jeweiligen Unternehmensorganisation ermöglichen will. Sekundär soll gleichsam die an die bußgeldrechtliche Verantwortung der Betriebsinhaber an29 Das BKartA stellte die Erfüllung des Bußgeldtatbestandes § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB i.V. m. § 20 Abs. 4 OWiG fest, konnte die Mitarbeiter aber wohl wegen fehlender Leitungsfunktion nicht zur Verantwortung ziehen. Vgl. BKartA, Ents. v. 17.12.2003, Az. B9-9/03 – Fotoarbeitstasche, WuW/E DE-V 911 (915). 30 BKartA, Ents. v. 17.12.2003, Az. B9-9/03 – Fotoarbeitstasche, WuW/E DE-V 911 (916). 31 Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.). 32 Vertiefend dazu: Rogall, in: KK/OWiG, § 130 Rn. 1 ff. 33 Rogall, in: KK/OWiG, § 130 Rn. 4, 76. 34 Der Status „Unternehmer“ ist als besonderes persönliches Merkmal i. S. d. § 9 OWiG anerkannt, vgl. Rogall, in: KK/OWiG, § 9 Rn. 35 f.; Förster, in: RRH/OWiG, § 9 Rn. 8; Mitsch, OWiR, § 7 Rn. 35; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 50.

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knüpfende Ahndung von juristischen Personen ermöglicht werden. Daher mag das für Kleinunternehmen aus der doppelten Anwendung des § 17 Abs. 2 OWiG im Rahmen des § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG folgende „Gerechtigkeitsdefizit“ vom Gesetzgeber so nicht intendiert gewesen sein. Allerdings besteht für eine teleologische Reduktion, wie sie das Bundeskartellamt vorgenommen hat, angesichts des eindeutigen und nicht bloß zu weit gefassten Wortlauts des § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG, der auf das Höchstmaß der dem Zuwiderhandelnden drohenden Geldbuße verweist, kein Raum. Ein solches Vorgehen widerspricht auch evident dem Schuldprinzip, da das qualitativ mindere Unrecht der Fahrlässigkeit des Betriebsinhabers unberücksichtigt bliebe, obwohl der Tatbestand des § 130 Abs. 1 OWiG, der Vorsatz oder Fahrlässigkeit verlangt, eindeutig an die den Betriebsinhaber treffende Vorwerfbarkeit der Aufsichtspflichtverletzung und die Vorwerfbarkeit der Handlungen der Zuwiderhandelnden anknüpft. Aus diesem Grund kann § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG nicht uminterpretiert werden, um eine härtere Sanktionierung gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG des von ihm vertretenen Unternehmens zu erreichen, obgleich zuzugeben ist, dass kein wertungsmäßiger Unrechtsunterschied zwischen der eigenverantwortlich begangenen, fahrlässigen Zuwiderhandlung und der durch eine fahrlässige Aufsichtspflichtverletzung ermöglichten Begehung fahrlässiger Zuwiderhandlung besteht. II. Umsatzbezogene „Sonderbußgeldobergrenze“ für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB Bis zur 7. GWB-Novelle konnte das Bundeskartellamt unter gewissen Voraussetzungen den Regelbußrahmen gemäß § 81 Abs. 2 GWB 1999 für Unternehmen und Unternehmensvereinigungen bis zur dreifachen Höhe des durch die Zuwiderhandlung erzielten Mehrerlöses überschreiten, der sich aus der Differenz zwischen den tatsächlichen Einnahmen und denjenigen Einnahmen ergibt, die das betroffene Unternehmen ohne den Wettbewerbsverstoß erzielt hätte.35 Mit dem Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle am 13. Juli 200536 wurde diese Mehrerlösrege35 BGH, Beschl. v. 19.6.2007, Az. KRB 12/07 – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 2225 (2226), Rn. 10 (juris); Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1488), Rn. 15 (juris); Beschl. v. 24.4.1991, Az. KRB 5/90 – Bußgeldbemessung, WuW/E BGH 2718 (2720), Rn. 11 (juris). 36 Nach Art. 4 des Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sollte die 7. GWB-Novelle am 1.7.2005 in Kraft treten. Verkündet wurde das Gesetz jedoch erst am 12.7.2005, vgl. BGBl. v. 12.7.2005, Teil I, S. 1954. Die dadurch bewirkte, unbeabsichtigte Rückwirkung ist gemäß Art. 103 Abs. 2 GG verfassungswidrig, sodass sich der Gesetzgeber gezwungen sah, das Gesetz mit einigen Klarstellungen am 21.12.2007 durch das Gesetz zur Bekämpfung von Preismissbrauch im Bereich der Energieversorgung und des Lebensmittelhandels vom 16. Dezember 2007 (im Folgenden: „Preismissbrauchsnovelle“), BGBl. I S. 2966 neu bekannt zu machen. Entgegen vereinzelter Stimmen in der Literatur ist § 81 Abs. 4 GWB i. d. F. von 2005 selbst jedoch nicht verfassungswidrig, sondern lediglich Art. 4 des Änderungsge-

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lung durch eine neue, umsatzbezogene Regelung in § 81 Abs. 4 S. 2 ersetzt, die den Regelbußgeldrahmen gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 GWB nach „oben hin“ öffnet. Danach kann das Bundeskartellamt bei vorsätzlichen, schweren Kartell-Ordnungswidrigkeiten, also insbesondere den hier im Fokus stehenden HardcoreKartellen, über eine Million Euro hinaus eine Geldbuße von bis zu 10 % des Gesamtumsatzes verhängen, den das kartellbeteiligte Unternehmen im der Entscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielt hat. Bei fahrlässigen Zuwiderhandlungen liegt die Grenze gemäß § 17 Abs. 2 OWiG bei 5 % des Gesamtumsatzes.37 Die Neufassung des § 81 GWB sollte eine Angleichung an das europäische Kartellbußgeldrecht bewirken, um eine einheitliche, dezentrale Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV, insbesondere eine einheitliche Bußgeldzumessungspraxis und ähnlich abschreckende hohe Geldbußen, sicherzustellen.38 In der Fassung von 2005 lautete § 81 Abs. 4 S. 2 GWB noch folgendermaßen: „Wird in diesen Fällen [schwerer Kartellordnungswidrigkeiten] eine Geldbuße verhängt, so darf die Geldbuße für jedes an der Zuwiderhandlung beteiligte Unternehmen oder jede beteiligte Unternehmensvereinigung über Satz 1 [den Regelbußgeldrahmen] hinaus 10 vom Hundert seines bzw. ihres jeweiligen im vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes nicht übersteigen.“

Im Rahmen der Preismissbrauchsnovelle, die am 22. Dezember 2007 in Kraft trat,39 verkündete der Gesetzgeber die Vorschrift unter Vornahme einiger „redaktioneller Änderungen“, die der Klarstellung dienen sollten, neu, um eine vorhersehbare, rechtssichere Anwendung durch das Bundeskartellamt sicherzustellen.40 Der seither geltende § 81 Abs. 4 S. 2 GWB in der Fassung von 2007 lautet:

setzes; auch wurde § 81 Abs. 4 GWB a. F. nicht rückwirkend außer Kraft gesetzt. A.A. Bechtold, GWB, 5. Aufl., § 81 Rn. 1a; Wegner, NJW 2008, S. 3271; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 2; Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (27 ff.). Daraus folgt, dass bis zum Inkrafttreten des § 81 Abs. 4 GWB n. F. am 13. Juli 2005 die alte Rechtslage fortbestand. Zutreffend: OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 600 (juris); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 354; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 3; Bechtold, GWB, 5. Aufl., § 81 Rn. 1a; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 4; Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 80. Teilweise wird auch mit der Regelung des Art. 82 Abs. 2 GG argumentiert und auf den 26. Juli 2005abgestellt: vgl. Bechtold, GWB, 5. Aufl., § 81 Rn. 1a. Den Zeitpunkt des Inkrafttretens offenlassend, im Übrigen jedoch der vorstehenden Auffassung folgend: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 46 ff. 37 Ganz allg. M., vgl. nur Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27; Achenbach, in: FK/ Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 240; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 61. 38 Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 42, 67; ferner auch die Beschlussempfehlung und der Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit, BT-Drs. 15/5049, S. 50. 39 BGBl. 2007 I, S. 2966. 40 Vgl. Begr. BRegE zur Preismissbrauchsnovelle, BT-Drs. 16/5847, S. 1, 9, 12.

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„Gegen ein Unternehmen oder eine Unternehmensvereinigung kann über Satz 1 hinaus eine höhere Geldbuße verhängt werden; die Geldbuße darf 10 vom Hundert des im der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung nicht übersteigen.“

Die „neue“ Regelung gilt für Kartellverstöße, die nach dem Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle begannen (§ 4 Abs. 1 OWiG) oder jedenfalls beendet wurden (§ 4 Abs. 2 OWiG).41 Für vor dem Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle beendete Zuwiderhandlungen bleibt die alte Mehrerlösregelung anwendbar, sofern nicht die neue Regelung für die Unternehmen günstiger ist (§ 4 Abs. 3 OWiG). Diese Arbeit konzentriert sich auf den Regelungsgehalt des geltenden § 81 Abs. 4 GWB in der Fassung vom 22. Dezember 2007, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die alte Mehrerlösregelung ohnehin zunehmend an Bedeutung verliert. Auf die Mehrerlösregelung wird jedoch an geeigneter Stelle zurückzukommen sein. 1. Kappungsgrenze oder Obergrenze eines Sonderbußgeldrahmens?

Aus dem allgemeinen Bußgeldrecht ergeben sich für jede Ordnungswidrigkeit, gegebenenfalls im Zusammenhang mit besonderen Bußgeldtatbeständen, konkret bezifferte Mindest- und Höchstgeldbußen, die die Konturen eines Bußgeldrahmens vorzeichnen. § 81 Abs. 4 S. 2 GWB bildet insoweit ein „abnormes“ Novum, als dieser, abweichend von dem diesem Charakter entsprechenden Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB, die Verhängung einer höheren Geldbuße für zulässig erachtet, die 10 % des Vorjahres-Gesamtumsatzes eines Unternehmens „nicht überschreiten darf“.42 Die Vorschrift offenbart Unternehmen damit nicht im Vorfeld eine feststehende, konkret bezifferte Geldbuße, die für den entsprechend dem Unrechtsgrad des Wettbewerbsverstoßes und der Vorwerfbarkeit denkbar schwersten Fall droht, wie dies im allgemeinen Bußgeldrecht vorgesehen ist.43 Vielmehr fehlt es an einer generellen, oberen Bußgeldgrenze der für Unternehmen geltenden Bußgeldskala, die bei fünf Euro beginnt und anhand derer sich Geldbußen für leichteste, durchschnittliche, schwere und schwerste Kartellverstöße ablesen ließe.44 § 81 Abs. 4 S. 2 GWB macht die zulässige 41 Zu der hier nicht weiter vertieften, sehr komplexen Materie der zeitlichen Geltung des GWB nach der 6. GWB-Novelle, der 7. GWB-Novelle und ihrer Neuverkündung unter, wie der Gesetzgeber meint, bloßen „redaktionellen“ Änderungen durch die Preismissbrauchsnovelle im Überblick etwa Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 79 ff. 42 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 344 und Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (252) sprechen von einem „Fremdkörper“ im deutschen Recht. 43 Teil 3 § 1 B. I. (S. 336 ff.). 44 Nach Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 235 sind durchschnittliche Kartellverstöße etwa bei einem Drittel des Sanktionsrahmens anzusiedeln, leichte Zuwiderhandlungen im unteren Bereich und schwerste Zuwiderhandlungen im oberen Bereich anzusiedeln. Vgl. auch Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (5); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 363.

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Höchstgeldbuße vielmehr abhängig von individuellen, fluktuierenden Umsatzzahlen. Dementsprechend würde sich ein Bußgeldrahmen, wenn man in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB einen Maximalwert erblicken wollte, trotz der feststehenden 10 %-Grenze kontinuierlich und unternehmensabhängig verändern und lieferte damit keinen absoluten Orientierungsmaßstab.45 Die Funktion der Vorschrift ist aus diesem Grund umstritten. a) Die in der Literatur vertretenen Auffassungen Ein Teil der Literatur hat § 81 Abs. 4 S. 2 GWB in der Fassung von 2005 aufgrund dieser Wirkungen als „wandernden“ Sonderbußgeldrahmen verstanden.46 An dieser Interpretation wurde teilweise auch nach der Wortlautänderung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB im Zuge der Preismissbrauchsnovelle festgehalten.47 Hingegen will die weit überwiegende Literatur die Vorschrift angesichts seiner atypischen, an Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 angepassten Formulierung und dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Ziel, mit § 81 Abs. 4 S. 2 GWB eine Harmonisierung des deutschen Kartellbußgeldrechts an das europäische Recht zu erreichen, der europäischen Bußgeldregelung entsprechend qualifizieren. Im Jahr 2005 ist der EuGH in seinem Urteil Dansk Rørindustri dem Verständnis der Kommission gefolgt, nach dem die § 81 Abs. 4 S. 2 GWB inhaltlich entsprechende Vorschrift des Art. 17 Abs. 2 VO 17/62 (heute: Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003) einen selbstständigen Zweck gegenüber den Zumessungskriterien der Schwere und Dauer des Kartells einnehme. Die 10 %-Grenze solle unverhältnismäßig hohe Geldbußen, die über die Leistungsfähigkeit der Unternehmen hinausgehen, verhindern; die Obergrenze diene also dem Schutz der Unternehmen vor einer Existenzgefährdung.48 Dementsprechend führe die Anwendung der Regelung zu einer Absenkung der nach den allgemeinen Zumessungskriterien ermittelten, dem Unrecht nach eigentlich angemessenen Geldbuße auf ein zulässiges Höchstmaß.49 Mit anderen Worten dürfe die Kommission rechnerische Zwischenbeträge bei der Buß45 Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (119); ähnlich auch Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 245. 46 Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1002 f.); Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht Bd. 2, 1. Aufl., § 81 Rn. 58 f.; Buntscheck, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 81 ff. (84 f.); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (253). 47 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 345; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 149 f.; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 78c; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 245 ff.; ferner auch Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (33 ff., insb. 36), die angesichts bestehender verfassungsrechtlicher Bedenken davon ausgehen, dass eine Interpretation der Regelung als Kappungsgrenze a priori ausgeschlossen ist. 48 EuGH, Urt. v. 28.6.2005, verb. Rs. C.189/02 P, C-202/02 P, C-205 bis 208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri, Slg. 2005, I-5425, Rn. 278 ff. 49 EuGH, Urt. v. 28.6.2005, verb. Rs. C.189/02 P, C-202/02 P, C-205 bis 208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri, Slg. 2005, I-5425, Rn. 283.

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geldbemessung heranziehen, die oberhalb dieser Höchstgrenze liegen, sofern die letztlich festgesetzte Geldbuße darunter liegt.50 In der Literatur zum europäischen Kartellbußgeldrecht wird daher – soweit ersichtlich – übereinstimmend vertreten, dass es sich bei Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 nach der Auslegung des EuGH und der Kommission um eine Kappungs- bzw. Belastbarkeitsgrenze handelt.51 Diesem Befund zu Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003als Vorbildregelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB und der gesetzgeberischen Eigeninterpretation52 entsprechend qualifiziert die ganz herrschende Meinung in der Literatur § 81 Abs. 4 S. 2 GWB (heute) als sogenannte Kappungsgrenze.53 b) Die Auffassung des OLG Düsseldorf im Fall Zementkartell Der Kartellsenat 2a des OLG Düsseldorf hat sich im Jahre 2009 im Fall Zementkartell relativ überraschend der in der Literatur vertretenen Mindermeinung 50 EuGH, Urt. v. 28.6.2005, verb. Rs. C.189/02 P, C-202/02 P, C-205 bis 208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri, Slg. 2005, I-5425, Rn. 278 f.; vgl. auch die vorgehenden Ents. des EuG, Urt. v. 15.6.2005, verb. Rs. T-71/03, T-74/03, T-87/03 and T91/03 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2005, II-10, Rn. 368; Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-23/99 – LR AF 1998 (ex Løgtør Rør), Slg. 2002, II-1705, Rn. 287 f.; ferner auch die erneute Bestätigung durch den EuGH, Urt. v. 29.6.2006, Rs. C-308/04 P – SGL Carbon, Slg. 2006, I-5977, Rn. 82 sowie kürzlich durch das EuG, Urt. v. 16.3.2013, T-386/10 – Aloys F. Dornbracht, Slg. 2013, I-0000, Rn. 220; Urt. v. 16.3.2013, T-375/10 – Hansa Metallwerke, Slg. 2013, I-0000, Rn. 72. 51 Vgl. nur Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 245; Buntscheck, EuZW 2007, S. 423; Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (252); Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (119 f.); Engelsing/Schneider, in: MK/EU WettbewerbsR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 70 f.; Dannecker, in: IM/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 101; jeweils m.w. N., auch aus der Kartellrechtspraxis. 52 In der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur Preismissbrauchsnovelle (BT-Drs. 16/7156, S. 11) findet sich etwa folgende Begründung: „Durch die Neuregelung wird klargestellt, dass eine solche Umsatzzurechnung im Konzern auch im Rahmen der K a p p u n g s g re n z e des § 81 Abs. 4 GWB zu erfolgen hat [. . .].“ [Hervorh. durch Verf.]. Ähnlich Begr. BRegE zur Preismissbrauchsnovelle, BT-Drs. 16/5847, S.12. Zudem seien die Leitlinien der Kommission im Rahmen der teleologischen Auslegung mit heranzuziehen. Vgl. Stellungnahme des Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zum BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/ 5049, S. 50. 53 Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 ff. (164); Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33); Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3528); Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (465); Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 95; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 39 ff.; Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (20); Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (5 f.); Buntscheck, EuZW 2007, S. 423 ff. (424) (aber auch krit.: Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (943 f.)); Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (337 f.); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48c; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 60. So auch das BKartA, Bekanntmachung Nr. 38/2006 v. 15.9.2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 Abs. 4 Satz 2 GWB gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, BAnz 2006, Nr. 142, S. 6499 f., Rn. 18.

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angeschlossen und die Vorschrift als Bußgeldobergrenze für Unternehmen gedeutet.54 Der Senat begründete seine Entscheidung mit bestehenden grundlegenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber der Annahme einer Kappungsgrenze. Eine dem – vom OLG Düsseldorf erkannten – eindeutigen Willen des Gesetzgebers widersprechende Auslegung trage dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Schuldprinzip „besser“ Rechnung.55 Was das genau bedeutet, ließ das Gericht offen. Noch bevor es die Regelung als Bußgeldobergrenze qualifizierte, kam es nämlich entgegen der überwiegenden Auffassung der Literatur zu dem Ergebnis,56 dass die Vorschrift verfassungsmäßig sei,57 und betonte dabei, dass es bereits Erfahrungen im Unionskartellrecht mit der an den Umsatz gekoppelten „wandernden Bußgeldhöhe“ gebe, von denen sich der Gesetzgeber bei der Novelle des § 81 Abs. 4 GWB zu Recht habe leiten lassen dürfen. Denn die Rechtmäßigkeit des europäischen Kartellbußgeldrechts sei auch von den Unionsgerichten bestätigt worden, die Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 mit Art. 7 EMRK, dem europäischen Pendant zu Art. 103 Abs. 2 GG, zurückgewiesen haben.58 Wenn der Kartellsenat 2a des OLG Düsseldorf die Vorschrift aber unabhängig von ihrer genauen Qualifikation für verfassungsgemäß erachtet und sich zu dessen Begründung auf eine Rechtsprechung bezieht, die Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 unstreitig als Kappungsgrenze definiert, bedeutet dies zugleich, dass das Gericht auch die Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze für mit der Verfassung vereinbar ansieht. Dafür spricht die Formulierung, dass die Auslegung der Vorschrift als Bußgeldobergrenze dem Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip „besser“ Rechnung trage; die Deutung als Kappungsgrenze wird diesen Prinzipien nach Auffassung des Senats demnach ebenso gerecht, wenn auch „schlechter“.59 Ohne nähere Begründung hat sich nunmehr auch der 1. Kartellsenat des OLG Düsseldorf der Auffassung des Kartellsenats 2a angeschlossen.60

54 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 624 ff. (juris); vgl. aber auch die Gegenauffassung des Vorsitzenden Richters des 1. Kartellsenats des OLG Düsseldorf: Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (20). 55 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 627 (juris). 56 Zu der Problematik noch unten: Teil 4 § 2 D. II. 3. c) bb) (S. 531 ff.). 57 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 606 ff. (juris). 58 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 609 (juris). 59 A. A. Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (716). 60 OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi) – Silostellgebühren I, Ls. 5, Rn. 192 (juris) mit Verweis auf BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 29, der in der Entscheidung allerdings keine eindeutige Stellung bezieht und § 81 Abs. 4 S. 2 GWB weder als Bußgeldobergrenze noch als Kappungsgrenze bezeichnet.

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c) Die Auffassung des BGH im Fall Grauzementkartell In seiner lang erwarteten Revisionsentscheidung zum Fall Zementkartell hat der Kartellsenat des BGH kurz vor der Fertigstellung dieser Arbeit die Auffassung des OLG Düsseldorf bestätigt.61 Zur Begründung führt der Kartellsenat aus, dass unklar bleibe, inwieweit der Gesetzgeber die europäischen Grundsätze bei der Novellierung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB habe übernehmen wollen.62 Der Wortlaut des § 81 Abs. 4 GWB gebe hierzu keinen Aufschluss; der Begriff der „Kappungsgrenze“ werde allein in den Gesetzesmaterialien verwandt.63 Hätte der Gesetzgeber eine andere gesetzliche Regelung einführen wollen, als die Installation eines Bußgeldrahmens, der als wesentliches, rechtsstaatliches Element der Sanktionszumessung anerkannt und erforderlich sei, hätte nach Auffassung des BGH eine ausdrückliche Normierung nahegelegen; an einem solchen, eigens offenbarten Paradigmenwechsel fehle es jedoch.64 Letztlich ließ der BGH allerdings offen, ob der Gesetzgeber tatsächlich eine mit der europäischen Rechtslage übereinstimmende Kappungsgrenze habe einführen wollen, da jedenfalls eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift allein das Verständnis einer Bußgeldobergrenze zulasse.65 Denn die Festlegung einer Ober- und Untergrenze des Sanktionsrahmens stelle einen unverzichtbaren Orientierungsrahmen für die richterliche Abwägung dar.66 Eine Kappungsgrenze gewährleiste die normative Vorprägung des richterlichen, an den gesetzlich installierten Zumessungskriterien orientierten Ahndungsprozess nicht hinreichend, sodass dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz nur genügt sei, wenn § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze verstanden werde.67 d) Stellungnahme § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ist eindeutig als Kappungsgrenze zu qualifizieren. Dem kann auch nicht durch eine der Verfassung „eher“ oder ausschließlich entsprechende Umdeutung abgeholfen werden, wie sie der Kartellsenat 2a des OLG Düsseldorf und der Kartellsenat des BGH ersichtlich vorgenommen haben. Die Argumentation beider Kartellsenate erweckt den Eindruck, dass das von vornherein gewünschte Ergebnis unbedingt und zielorientiert durchgesetzt werden sollte. Offenbar trauten sich die Kartellsenate nicht so recht an die zwangsläufigen Folgen der von ihnen andernfalls angenommenen Verfassungswidrigkeit der Vor61 62 63 64 65 66 67

BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn.

50 ff. 53. 53. 54. 55. 56. 57.

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schrift heran. Über die Interpretation der Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze führt indes, wie im Folgenden aufzuzeigen sein wird, kein Weg vorbei. aa) Verfassungswidrigkeit der „verfassungskonformen“ Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB Die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, die mit Rücksicht auf den Verfassungsgrundsatz der Rechts- und Gesetzesbindung gezogen sind, werden nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG überschritten, wenn sich der Normanwender – unter Negierung des Art. 20 Abs. 2 GG – über seine Funktion hinaus als rechtsetzende Instanz geriert und sich damit der Bindung an Gesetz und Recht gemäß Art. 20 Abs. 3 GG begibt.68 Eine solche unzulässige Rechtsfortbildung sei anzunehmen, wie das BVerfG im Zusammenhang mit der Frage nach der Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung stets wiederholt hat, wenn entgegen dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt und der normative Gehalt der Regelung neu bestimmt werde.69 Eine verfassungskonforme Auslegung sei daher nur statthaft, wenn der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang und der Sinn und Zweck einer Regelung mehrere Deutungen zulasse; dabei gebiete es der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt, in den Grenzen der Verfassung, das Maximum dessen aufrecht zu erhalten, was der Gesetzgeber gewollt aber verfassungswidrig umgesetzt habe.70 Diese anerkannten Auslegungsgrundsätze gelten grundsätzlich für jede Gesetzesdeutung und zwar auch dann, wenn das Gericht eine Regelung bei einer von mehreren Auslegungsvarianten für verfassungswidrig halte.71 Unabhängig von der hier (noch) nicht zu beantwortenden Frage, ob die Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze tatsächlich verfassungswid68 BVerfG, Beschl. v. 3.4.1990, Az. 1 BvR 1186/89 – nichtehelicher Lebenspartner im Mietrecht, BVerfGE 82, 6 (12), Rn. 20; Beschl. v. 12.11.1997, Az. 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 – Kind als Schaden, BVerfGE 96, 375 (397 f.), Rn. 52–54 (juris); Urt. v. 7.6.2005, Az. 1 BvR 1508/96 – Elternunterhalt, BVerfGE 113, 88 (103 f.), Rn. 37 (juris); siehe auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 87. 69 So zuletzt noch BVerfG, Urt. v. 4.5.2011, Az. 2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 – Sicherungsverwahrung, Rn. 160 (juris); ferner auch: Beschl. v. 11.6.1958, Az. 1 BvL 149/52, BVerfGE 8, 28 (34), Rn. 22 (juris); Beschl. v. 24.5.1995, Az. 2 BvF 1/92 – Einigungsstelle Schleswig-Holstein, BVerfGE 93, 37 (81), Rn. 168 (juris); Urt. v. 7.6.2005, Az. 1 BvR 1508/96 – Elternunterhalt, BVerfGE 113, 88 (103 f.), Rn. 37 (juris); Beschl. v. 19.9.2007, Az. 2 BvF 3/02 – Zwangsteilzeit, BVerfGE 119, 247 (274), Rn. 92 f. (juris). 70 BVerfG, Beschl. v. 30.3.1993, Az. 1 BvR 1045/89 u. a. – Konkursvergütung, BVerfGE 88, 145 (166), Rn. 67 (juris). 71 BVerfG, Beschl. v. 30.3.1993, Az. 1 BvR 1045/89 u. a. – Konkursvergütung, BVerfGE 88, 145 (166), Rn. 67 (juris).

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rig ist,72 kann jedenfalls konstatiert werden, dass sich die vom OLG Düsseldorf und BGH vorgenommene, ihrer Auffassung nach dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Schuldprinzip besser bzw. ausschließlich gerecht werdende Auslegung nicht innerhalb dieser Grenzen hielt.73 Zunächst spricht der Wortlaut der Vorschrift entgegen der Auffassung des BGH augenfällig für die Annahme einer Kappungsgrenze.74 Üblicherweise formuliert der Gesetzgeber Bußgeldtatbestände dahingehend, dass Ordnungswidrigkeiten mit einer Geldbuße zwischen zwei konkret bestimmten Beträgen oder aber „bis zu“ einem bestimmten Geldbetrag geahndet werden können. In letzterem Fall bestimmt der (Sonder-)Bußgeldtatbestand, wie etwa auch im Fall des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB, eine abweichend von § 17 Abs. 1 OWiG zulässige Sonderbußgeldobergrenze unter Beibehaltung der in dieser Vorschrift festgehaltenen, allgemeinen Bußgelduntergrenze in Höhe von fünf Euro. Wenn der Gesetzgeber mit der Regelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB tatsächlich die Etablierung einer Bußgeldobergrenze gewollt hätte, wäre es ihm angesichts hunderter, von ihm bislang erlassener Bußgeldvorschriften ein Leichtes gewesen § 81 Abs. 4 S. 2 GWB dahingehend zu formulieren, dass eine Geldbuße gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen „über den Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 1 S. 1 GWB hinaus bis zu einer Höhe von 10 % des Gesamtumsatzes verhängt werden kann“. Dieser Wortlaut hätte auch mit demjenigen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB korrespondiert. Auf diese Weise hätte er eindeutig einen Sonderbußgeldrahmen für Unternehmen neben den Regelbußgeldrahmen für natürliche Personen geschaffen. Der Gesetzgeber entschied sich jedoch dafür, in § 81 Abs. 4 S. 2, 1. Hs. GWB lediglich darauf hinzuweisen, dass gegen Unternehmen (irgend)eine höhere Geldbuße verhängt werden kann. Erst der darauf Bezug nehmende Hs. 2 der Vorschrift stellt klar, dass die Geldbuße die Grenze von 10 % des Umsatzes nicht „überschreiten darf“. Die Vorschrift besagt also gerade nicht, dass eine Sanktion im Höchstmaß von 10 % des Gesamtumsatzes festgesetzt werden darf; vielmehr wird deutlich zwischen der generellen Sanktionsermächtigung und deren Begren-

72

Dazu umfassend: Teil 4 § 2 D. II. (S. 518 ff.). Zum Urteil Zementkartell des OLG Düsseldorf ebenso Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 ff. (164); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 40; allgemein zu OWiR: Rogall, in: KK/OWiG, § 3 Rn. 82; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn. 8; Förster, in: RRH/ OWiG, § 3 Rn. 14; a. A. Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (37 ff.), die wie der BGH und das OLG Düsseldorf vom Ergebnis her denken; trotz korrektem Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG inkonsequent: Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (716). Zum Beschluss Grauzementkartell des BGH wie hier nun auch: Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (312); Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (694 f.); Haus, NZKart 2013, S. 183 ff. (185 f.); a. A. ohne weitere Prüfung: Meyer-Lindemann, NJW 2013, S. 1976; Meinhold-Heerlein/Engelhoven, EWiR 2013, S. 349 f. (350); Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (211). 74 Insoweit zutreffend Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (714 f.). 73

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zung unterschieden.75 Die gewählte Regelungssystematik aber auch der von den sonst üblichen Bußgeldtatbeständen und § 81 Abs. 4 S. 1 GWB auffallend abweichende Wortlaut der Vorschrift sprechen damit eindeutig für die Qualifikation als Kappungsgrenze. Vor diesem Hintergrund vermag die ohne weitergehende Analyse schlicht aufgestellte Behauptung des BGH nicht zu überzeugen, der Wortlaut der Vorschrift gebe keinen eindeutigen Aufschluss über den Willen des Gesetzgebers. Gleichermaßen ist fraglich, auf welche Weise der Gesetzgeber noch „ausdrücklicher“ hätte normieren sollen, dass er die Harmonisierung deutschen Kartellbußgeldrechts mit dem Unionsrecht wünschte. Insoweit wäre es allenfalls möglich gewesen zu formulieren, dass die zu ermittelnde Unternehmensgeldbuße jedenfalls bei 10 % des Gesamtumsatzes des Unternehmens „zu kappen ist“. Allerdings unterscheidet sich diese Formulierung inhaltlich nicht von jener auch im Unionsrecht vorzufindenden Regelung, wonach die Geldbuße 10 % des Gesamtumsatzes nicht überschreiten darf. Dass der Gesetzgeber eine Transformation der europäischen Bußgeldvorschrift in das deutsche Recht einschließlich seiner Kappungsgrenze gewollt hat, lässt sich, wie das OLG Düsseldorf zutreffend erkannt hat76 und letztlich vom BGH trotz entsprechenden Hinweises auf die Gesetzesmaterialien geleugnet wird, nicht überzeugend bestreiten. Der Gesetzgeber hat § 81 Abs. 4 S. 2 GWB höchst selbst als Kappungsgrenze qualifiziert, was der Bericht des Wirtschaftsausschusses77 und neuerdings auch die Gesetzesbegründung zum Regierungsentwurf des 8. GWB-Änderungsgesetzes vom 31. Mai 201278 eindeutig offenbart. Insoweit erscheint die pauschale Unterminierung der rechtlichen Qualifikation des Gesetzgebers als bloße „Begrifflichkeit“, wie sie der BGH vorgenommen hat, als höchst opportun.79 Wie bereits aufgezeigt, kommt der Wille des Gesetzgebers zur Übernahme des europäischen Kartellbußgeldrechts in das deutsche Kartellbußgeldrecht zudem an verschiedenen Stellen der Gesetzesmaterialien unzweifelhaft zum Ausdruck. So weist der Gesetzgeber darauf hin, dass die Leitlinien der Kommission, die Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 unter Billigung der europäischen Rechtsprechung als Kappungsgrenze interpretieren, zur Auslegung des § 81 Abs. 4 75

Zutreffend Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (6). OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 626 (bei juris.) 77 Siehe Fn. 52. 78 Begr. BRegE eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (8. GWB-ÄndG), BT-Drs. 17/9852, S. 34: „Zum Anderen ist der Gesamtumsatz des Unternehmens oder der Unternehmensvereinigung in dem der Behördenentscheidung vorausgegangenen Geschäftsjahr von Bedeutung, wenn es um die Frage geht, o b d i e n a c h d e n a l l g e m e i n e n G r u n d s ä t z e n e r m i t t e l t e G e l d b u ß e n a c h § 8 1 A b s a t z 4 S a t z 2 g e k a p p t w i rd .“ [Hervorh. durch Verf.]. 79 Zu Recht nunmehr auch Achenbach, der in der Rechtsprechung des BGH eine Geringschätzung der historisch-genetischen Auslegungsmethode erblickt. Vgl. WuW 2013, S. 688 ff. (694). 76

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S. 2 GWB zu Rate gezogen werden sollen; ferner sollte die Harmonisierung des deutschen Kartellbußgeldrechts dem „effet utile“-Grundsatz Rechnung tragen, indem in Deutschland wie auf europäischer Ebene die Verhängung ähnlich hoher, abschreckender Geldbußen gesetzlich möglich sein sollte.80 Schon angesichts dieses offensichtlichen Harmonisierungsbestrebens und der wortwörtlichen Transformation des Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ist eine dem europäischen Recht entsprechende Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB geboten. Denn selbst bei einer überschießenden Richtlinienumsetzung besteht nach Auffassung des EuGH ein „offensichtliches Interesse“ an einer einheitlichen Auslegung nationalen und europäischen Rechts, wenn sich der nationale Gesetzgeber nachweislich dazu entschlossen hat, auch rein innerstaatliche Sachverhalte dem europäischen Recht entsprechend zu behandeln.81 Dies hat auch der BGH in früheren Entscheidungen ausdrücklich anerkannt.82 Die Qualifikation als Bußgeldobergrenze macht die Harmonisierungsbestrebungen des Gesetzgebers, die dem „effet utile“-Grundsatz aber auch der Rechtssicherheit der Unternehmen zu dienen bestimmt sind, zunichte. Das OLG Düsseldorf und nunmehr auch der BGH haben den eindeutigen Willen und das wesentliche Ziel des Gesetzgebers bewusst konterkariert, weil sie eine Bußgeldobergrenze im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz und das Schuldprinzip für „besser“ bzw. für ausschließlich verfassungskonform erachteten.83 Eine derartige, die Kompetenzen des Gesetzgebers beschneidende Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB geht über die zulässigen, vom BVerfG eindeutig herausgearbeiteten Grundsätze einer verfassungskonformen Auslegung hinaus. Wenn das OLG Düsseldorf davon ausgegangen wäre, dass § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, interpretiert 80 Begr. BRegE eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, BT-Drs. 15/3640, S. 42, 67; ferner auch die Beschlussempfehlung und der Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit, BT-Drs. 15/5049, S. 50. 81 EuGH, Urt. v. 18.10.1990, verb. Rs. C-297/88 u. C-197/89 – Massam Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 37, 41 f.; Urt. v. 8.11.1990, Rs. C. 231/89 – Krystyna GmurzynskaBscher, Slg. 1990, I-4003, Rn. 24 f.; Urt. v. 17.7.1997, Rs. C-28/95 – Loer Bloem, Slg. 1997, I-4161, Rn. 32, 34; Urt. v. 7.1.2003, Rs. C-306/99 – BIAO, Slg. 2003, I-1, Rn. 92 f. Anders sei nur der Fall zu beurteilen, in dem ein Mitgliedstaat das EU-Recht nur als Muster verwende und die normanwendenden Behörden zu vom EU-Recht abweichende Änderungen ermächtige, vgl. Urt. v. 28.3.1995, Rs. C-346/93 – Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615, Rn. 16 ff. 82 BGH, Urt. v. 10.12.2008, Az. KZR 54/08 – Subunternehmervertrag II, WuW/E DE-R 2554 (2556), Rn. 16 f.; ferner vgl. auch die Stellungnahme des BR zur 7. GWBNovelle, in dessen Rahmen dieser eine einheitliche Auslegung der §§ 1, 2, 4 GWB n. F. angesichts der Anpassung an das europäische Recht für eine „methodische Selbstverständlichkeit“ ansieht, BR-Drs. 441/04 (B), S. 5. 83 Ob dem zuzustimmen ist, kann hier offen gelassen werden. Den Fragen wird an anderer Stelle nachgegangen. Zum Schuldprinzip: Teil 3 § 2 A. II. 3. c) (S. 365 ff.) und Teil 3 § 3 B. II. 3. (S. 429 ff.); zum Bestimmtheitsgrundsatz: Teil 4 § 2 D. II. (S. 518 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

als Kappungsgrenze, verfassungswidrig ist, hätte es gemäß Art. 100 Abs. 1 GG eine Entscheidung des BVerfG einholen müssen.84 Dies wäre nunmehr auch an dem BGH gewesen, hätte der Kartellsenat sich nicht über die m. E. eindeutigen, die Annahme einer Kappungsgrenze belegenden Anzeichen und den gesetzgeberischen Willen hinweggesetzt und schlichte Behauptungen dazu genutzt, das offensichtlich gewollte Ergebnis unter Missachtung der Regeln juristischer Kunst in Stein zu meißeln.85 bb) Verfassungswidrigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, interpretiert als Bußgeldobergrenze Im Übrigen kann der Auffassung des OLG Düsseldorf und des BGH nicht darin gefolgt werden, dass eine Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB „eher“ bzw. – nach Auffassung des BGH – ausschließlich verfassungsrechtlichen Grundsätzen entspricht. Selbst wenn man die – an dieser Stelle noch nicht zu überprüfende – Auffassung der Gerichte akzeptierte, wonach die Vorschrift, verstanden als Bußgeldobergrenze, dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht,86 weil die betroffenen Unternehmen die gegen sie im konkreten Einzelfall maximal zulässige Geldbuße anhand ihres feststehenden Gesamtumsatzes ermitteln und damit hinreichend vorhersehen können, widerspräche § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zwangsläufig dem Schuldprinzip. Dies übersehen das OLG Düsseldorf und der BGH, die – ersichtlich bemüht, die Verfassungsmäßigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zu betonen – ihre verfassungskonforme Auslegung allein auf die Prüfung des Bestimmtheitsgrundsatzes gemäß Art. 103 Abs. 2 GG beschränken. § 81 Abs. 4 S. 3 GWB stellt klar, dass die 10 %-Grenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB anhand des Gesamtumsatzes der „wirtschaftlichen Einheit“ zu bestimmen ist, der das Unternehmen angehört, das dem Kartellverbot zuwiderhandelte. Folgt man dem OLG Düsseldorf und dem BGH, muss die Bußgeldobergrenze also nicht allein anhand des Umsatzes bestimmt werden, den die zuwiderhandelnde juristische Person im Jahr vor der kartellbehördlichen Entscheidung erzielt hat, sondern anhand des Konzernumsatzes.87 Dies führt zu mit dem Schuldprinzip unvereinbaren Folgen. 84 Die Frage der Verfassungsmäßigkeit war entscheidungserheblich, da das OLG Düsseldorf jedenfalls bei der Nebenbetroffen zu 6 zu dem Ergebnis kam, dass die Neuregelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gegenüber der alten Mehrerlösregelung das mildere Gesetz war. Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 684 ff. (juris). 85 Ähnlich nun auch Achenbach, der das Palström-Prinzip bemüht, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf, vgl. WuW 2013, S. 688 ff. (695). 86 Dazu: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 59– 65. Siehe noch vertiefend: Teil 4 § 2 D. II. 3. c) bb) (S. 531 ff.). 87 Siehe dazu noch: Teil 3 § 2 A. II. 3. (S. 360 ff.).

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Das BVerfG hat erst kürzlich erneut betont, dass ein dem Schuldprinzip entsprechender Strafrahmen – gemessen an der Idee der Gerechtigkeit – eine sachgerechte Abstimmung der Unrechtsfolge auf den Unrechtstatbestand voraussetze:88 „Einerseits richtet sich die Strafhöhe nach dem normativ festgelegten Wert des verletzten Rechtsgutes und der Schuld des Täters. Andererseits lässt sich das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt, in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen. Insofern ist auch die Strafandrohung für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung (BVerfGE 25, 269 (286); 27, 18 (29)). Erst von einer differenzierenden Bewertung des Unwertgehaltes der verschiedenen Straftaten her wird die Abstufung der strafrechtlichen Sanktionen verständlich und sachlich gerechtfertigt (BVerfGE 27, 18 (29)).“ 89

Überträgt man diese zum materiellen Strafrecht im engen Sinne entwickelten Anforderungen auf das eng verwandte, quasistrafrechtliche90 Kartellbußgeldrecht muss die Bußgeldandrohung für Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot mit anderen Worten offenbaren, welches Gewicht der Gesetzgeber dem Rechtsgut „Wettbewerb“ und der Vorwerfbarkeit der Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot beimisst. An einer solchen sorgfältigen Abstimmung des normativen Werts des Wettbewerb und der „Schuld“ der Kartellbeteiligten auf die Unrechtsfolge, nämlich die Bußgeldandrohung, fehlt es, wenn der Umsatz des betroffenen Rechtsträgers, ein unrechts- und schuldindifferentes Kriterium, zur Bestimmung der höchst zulässigen Geldbuße herangezogen wird.91 Zwar ermächtigt § 17 Abs. 3 S. 2 OWiG dazu, die Leistungsfähigkeit des ordnungswidrig Handelnden bei der Bestimmung der Geldbuße zu berücksichtigen und zieht damit die Parallele zur Geldstrafe im Strafrecht im engen Sinne. Das OLG Düsseldorf und der BGH übersehen allerdings, dass die Leistungsfähigkeit des Täters, wie im Strafrecht, erst auf der zweiten Stufe, nämlich der Bußgeldzumessung entscheidend zugrunde gelegt werden darf.92 Auf der ersten Stufe, also der Bestimmung des 88

BVerfG, Ents. v. 16.7.1969, Az. 2BvL 2/69, BVerfGE 27, 18 (36 f.) Rn. 31 (juris); Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10. 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068 f.), Rn. 109; zum Kartellrecht auch BGH, Beschl. v. 24.4.1991, Az. KRB 5/90 – Bußgeldbemessung, WuW/E BGH 2718 (2720), Rn. 18 (juris). 89 BVerfG, Urt. v. 19.3.2013, Az. 2 BvR 2628/10. 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – StVVerstG, NJW 2013, 1058 (1068 f.), Rn. 109. 90 Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.). 91 Ebenso Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1003); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (253); Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (717 f.); Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (314); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (37 ff.); Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (339); Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33); Hassemer/ Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 41 f.; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 150; in diese Richtung auch Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27. 92 Ähnlich: Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (37); Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (212): „Nur weil jemand mehr zu leisten vermag, darf er nicht außer Verhält-

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Straf- bzw. Bußgeldrahmens, innerhalb dessen die zur Sanktionierung betraute staatliche Institution zur Auffindung einer tat- und schuldangemessenen Sanktion berufen ist, dürfen – dem unantastbaren, da unter anderem in Art. 1 GG verbürgten Schuldprinzip entsprechend – jedoch einzig und allein das Unrecht der Tat und die Schuld des Täters die Abstufung möglicher Sanktionen bestimmen. Aus diesem Grund ist bei der Geldstrafenzumessung auch zuvorderst der für tatund schuldangemessen erachtete Tagessatz anhand des verwirklichten Unrechts und – darauf aufbauend – der individuellen Schuld zu bestimmen, § 40 Abs. 1 StGB. Erst im zweiten Schritt erfolgt gemäß § 40 Abs. 2 StGB die Ausfüllung des Tagessatzes anhand der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Interpretiert man die Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze, sind aber nicht mehr das an der Bedeutung des Wettbewerbs orientierte Unrecht der Tat und die Vorwerfbarkeit der Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot die ausschließlich normativ bestimmenden Faktoren der maximal zulässigen Geldbuße, sondern – umgekehrt – allein das zur individuellen Bußgeldzumessung bereitgestellte Hilfskriterium der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Letztere ist zur Beschreibung des verwirklichten Unrechts, nämlich der bezweckten oder bewirkten Wettbewerbsbeeinträchtigungen, jedoch völlig ungeeignet. Die Beschreibung der höchstzulässigen Geldbuße mittels der Umsätze eines kartellbeteiligten Unternehmens wäre allenfalls dann zu akzeptieren, wenn diese in irgendeiner Weise das Unrecht der Zuwiderhandlung widerzuspiegeln geeignet wären. Eine solche Annahme setzt voraus, dass das schuldhafte Verhalten der natürlichen Personen, das der juristischen Person oder Personenvereinigung gemäß §§ 30, 130 OWiG zugerechnet wird, in den Umsätzen derselbigen irgendwie zum Ausdruck kommt, da die Schuld der natürlichen Personen maßgebend für die bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit des Unternehmens ist.93 Dies trifft jedoch allenfalls auf den Umsatz zu, der mithilfe des Wettbewerbsverstoßes erzielt wurde, nicht aber auf den Gesamtumsatz der juristischen Person, und erst recht nicht auf den Umsatz des – mit Ausnahme des Kartellbeteiligten „unschuldigen“ – Unternehmensverbundes,94 dem das kartellbeteiligte Unternehmen angeschlossen ist. Auf diesen soll es gemäß § 81 Abs. 4 S. 3 GWB jedoch gerade ankommen. Es erscheint unverständlich, warum der Umsatz eines weltweit operierenden nis zum Anlass belastet werden, womit die Anlassverfehlung zum Bestimmungskriterium der Bußgeldfestsetzung wird.“ 93 BVerfG, Beschl. v. 25.10.1966, Az. 2 BvR 506/63 – nulla poena sine culpa, BVerfGE 20, 323 (335), Rn. 45–47. (juris). 94 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (8 ff.); ders., WuW 2013, S. 688 ff. (699 f.); Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33); Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 ff. (164); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (61 ff.); Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121 ff.); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 43 f.; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 78d; a. A. Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (346 f.); ders., ZWeR 2012, S. 3 ff. (17 f.) unter unzutreffender Annahme einer zulässigen Konzernhaftung.

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Konzerns bei der Bußgeldzumessung gegen eine Tochtergesellschaft für deren Beteiligung an einem örtlich auf das Gebiet der Bundesrepublik beschränkten Kartell berücksichtigt werden soll. Deselaers hat bereits 2006 zutreffend darauf hingewiesen, dass die außerhalb Deutschlands erzielten Umsätze in keiner Beziehung zu dem inländischen Kartell stehen und daher völlig ungeeignet sind, das im Inland begangene Unrecht des Kartellverstoßes zu reflektieren.95 Auch ist nicht recht einzusehen, warum ein und dasselbe Hardcore-Kartell, betrachtet als Gesamtheit, unterschiedliche Unrechtsgrade, also eine unterschiedliche Bedeutung für den Wettbewerb aufweisen soll. Dazu führt jedoch die Auffassung der Kartellsenate, da die Bedeutung der Kartellordnungswidrigkeit unabhängig von der konkret-individuellen Vorwerfbarkeit bei Unternehmen mit hohen Umsätzen schwerwiegender wäre als bei Unternehmen mit niedrigeren Umsatzzahlen. Dies widerspricht nicht nur anerkannten Strafzumessungsgrundsätzen, wonach sich der Strafrahmen aus Einzelstrafen, die durch abstrakt definierte Unrechtsgrade zu bestimmen sind, bildet. Im Ergebnis kann diese Auffassung ferner zu geradezu absurden Ergebnissen führen. Dies ist etwa der Fall, in denen eine an einem nationalen Kartell beteiligte Tochtergesellschaft eines weltweit tätigen Konzerns sehr viel kleiner ist, als andere ausschließlich national tätige Kartellbeteiligte. Vor diesem Hintergrund erscheint es unverständlich, dass der BGH die Zugrundelegung des Konzernumsatzes zur Bestimmung der 10 %-Grenze allein mit systematischen und am Bestimmtheitsgrundsatz orientierten Argumenten begründete,96 dessen verfassungsrechtliche Konformität mit dem Schuldprinzip jedoch nicht einmal problematisierte, obgleich er noch in den kurz zuvor entschiedenen Fällen Versicherungsfusion und Transportbeton II die Systemwidrigkeit einer Konzernhaftung angesichts des auf dem Schuldprinzip fußenden § 30 Abs. 1 OWiG betonte.97 cc) Auswirkungen für die weitere Bearbeitung Angesichts der vorstehenden Erwägungen bleibt nach Auffassung der Verfasserin kein Raum für eine Interpretation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze. Die weitere Untersuchung legt daher die auch in der herrschenden Literatur vertretene Qualifikation der Regelung als Kappungsgrenze zugrunde. 2. Der Begriff des Unternehmens und der Unternehmensvereinigung

Mit der Angleichung des § 81 Abs. 4 GWB an das europäische Bußgeldrecht, namentlich Art. 23 VO 1/2003 ist der Gesetzgeber teilweise über das Ziel hi95 Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121); ebenso Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1002). 96 BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 66–71. 97 So nun auch: Haus, NZKart 2013, S. 183 ff. (187); Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (314).

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nausgeschossen. Ein Beispiel dafür bildet die in § 81 Abs. 4 S. 2, 1. Hs. GWB vorgenommene Bestimmung der Unternehmen bzw. Unternehmensvereinigungen als Bußgeldadressaten. Wenn die Vorschrift es erlaubt gegen „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigungen“ eine das Höchstmaß des Regelbußgeldrahmens des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB überschreitende Geldbuße zu verhängen, so entspricht dies nicht der Systematik des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts, in das sich das Kartellrecht gemäß § 2 OWiG nach dem Willen des Gesetzgebers einfügen muss. Wie bereits dargestellt, kann nämlich nur gegen juristische Personen oder Personenvereinigungen eine Geldbuße gemäß § 30 Abs. 2 OWiG verhängt werden, sofern diesen eine Zuwiderhandlung eines ihrer in § 30 Abs. 1 OWiG abschließend aufgezählten Stellvertreter zuzurechnen ist. Der Begriff des Unternehmens bzw. der Unternehmensvereinigung, der für § 1 GWB und Art. 101 AEUV selbstständig definiert wird, lässt sich daher nicht eins zu eins in das allgemeine Bußgeldrecht übertragen. Vor diesem Hintergrund ist allerdings auch nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber eine (systemwidrige) Übertragung des europäischen, erkennbar wirtschaftlich definierten Unternehmensbegriffs98 in das deutsche Kartell-Bußgeldrecht tatsächlich gewollt hat,99 sondern vielmehr, dass er den Wortlaut des Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 unreflektiert übernommen hat.100 Jedenfalls wäre ein solches Vorhaben zum Scheitern verurteilt, da diesem das Prinzip „nulla poena sine culpa“, das im Rechtsstaatsprinzip wurzelt, unüberwindbar entgegensteht.101 Vielmehr müssen sich die Begriffe „Unternehmen“ und „Unternehmensvereinigung“ in die Typisierungen des § 30 OWiG einfügen;102 sie können nur als

98 Der EuGH definiert Unternehmen als „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“. St. Rspr., vgl. zuletzt Urt. v. 29.9.2011, Rs. C-520/09 P – Arkemea, Slg. 2011, Rn. 37; Urt. v. 20.1.2011, Rs. C-90/09 P – General Química, Slg. 2011, Rn. 34 f., jeweils m.w. N. 99 So aber wohl Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (466 ff.); Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3525); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48b; BGH, Beschl. v. 26.2. 2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 67 ff. 100 In diese Richtung auch Klocker/Ost, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 229 ff. (247, Fn. 61); zweifelnd: Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (171). 101 Vgl. nur Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (11). 102 BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 17 (juris) und Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 55/10 – Versicherungsfusion, WuW/E DE-R 3455 (3459), Rn. 21 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi) – Silostellgebühren I, Rn. 202 ff. (juris) zu § 81 Abs. 4 S. GWB i. d. F. von 2005; Urt. v. 17.12.2012, Az. V-1 Kart 7/12 (OWi), Rn. 29 (juris); Buntscheck, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 81 ff. (89); Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (948 f.); Bechtold, GWB, 7. Aufl., § 81 Rn. 32; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 335 f.; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 241 f.; Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (10); Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (701); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1002); Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (122 f.); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (256); Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 102.

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unpräzise und zum Teil zu weit gehende Umschreibungen für den Bußgeldadressatenkreis des § 30 OWiG verstanden werden. Nur wenn das betroffene Unternehmen gleichzeitig eine juristische Person oder Personenvereinigung ist, die die Zuwiderhandlung begangen hat, richtet sich das Höchstmaß der gegen diese zu verhängenden Geldbuße abweichend von der allgemeinen Regelung des § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG nicht nach der Anknüpfungstat der natürlichen Person, sondern nach dem Gesamtumsatz des „Unternehmens“. Als speziellere Vorschrift verdrängt § 81 Abs. 4 S. 2, 2. Hs. GWB also lediglich den allgemeinen Bußgeldbemessungsmaßstab des § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG.103 Dies gilt uneingeschränkt auch für eine Muttergesellschaft, die ihre Aufsichtspflicht104 gegenüber ihrer Tochtergesellschaft verletzt hat.105 Zwar ist zuzugeben, dass § 130 OWiG als eigenständiger Bußgeldtatbestand selbst nicht in § 81 Abs. 4 S. 1 GWB aufgeführt ist, sodass der sich auf diese Regelung beziehende Satz 2 keine unmittelbare Anwendung finden kann.106 § 130 Abs. 3 S. 2 OWiG bestimmt jedoch, dass sich das Höchstmaß der Geldbuße für die Aufsichtspflichtverletzung nach dem Höchstmaß der Geldbuße für die eigentliche Pflichtverletzung richtet. Achenbach stellt diesbezüglich im Ausgangspunkt zu Recht fest, dass mit dem Begriff der Pflichtverletzung auf § 130 Abs. 1 OWiG verwiesen wird, also die Zuwiderhandlung gegen Pflichten, die den Inhaber treffen, gemeint ist.107 Dann stellt er jedoch fest, dass die in § 130 Abs. 1 OWiG beschriebene Pflichtverletzung nur das Handeln der natürlichen Personen im Sinne des § 9 OWiG meine, deren Zuwiderhandlung der juristischen Person oder Personenvereinigung (Tochtergesellschaft) nach § 30 Abs. 1 OWiG zuzurechnen sei; nur gegenüber diesen natürlichen Personen sei der Vorstand der Konzernobergesellschaft aufsichtspflichtig.108 Dieses Verständnis ist zutreffend, wenn man eine nicht in einen Verbund eingegliederte Gesellschaft 103 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 242; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 336; Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (256). Vgl. auch BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 17 (juris) und Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 55/10 – Versicherungsfusion, WuW/E DE-R 3455 (3459), Rn. 21 (juris). 104 Dies ist nicht in jedem Fall gegeben. Zur Frage, ob überhaupt eine Aufsichtspflicht gegenüber der Tochtergesellschaft besteht: Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.). 105 Wie hier Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 103; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 149; ferner auch Buntscheck, EuZW 2007, S. 423 ff. (426); Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (123) und Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1001 f.) mit der Einschränkung, dass allein auf den Umsatz der zuwiderhandelnden Tochtergesellschaft abzustellen sei; a. A. Bechtold, NJW 2009, S. 3699 ff. (3706); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 243; ders., ZWeR 2009, S. 3 ff. (14 ff.); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (255 f.); Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (949 (Fn. 54)); Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3528); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 337. 106 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (15 f.); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 243; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 337; Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (255 f.). 107 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (15). 108 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (15).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

betrachtet: Dann sind die Betriebsinhaber etwa die Gesellschafter, und die zuwiderhandelnde Person z. B. der Geschäftsführer. Nach der gegen letzteren im Höchstmaß zu verhängenden Geldbuße richtete sich folglich die Obergrenze des Bußgeldes gegen die die Aufsichtspflicht verletzenden Gesellschafter. Lässt man es jedoch – wie hier vertreten – zu, dass eine Konzernobergesellschaft auch Inhaberin im Sinne des § 130 Abs. 1 OWiG, also normative Unterlassungstäterin sein kann,109 ist nicht die Zuwiderhandlung der für die Tochtergesellschaft handelnden natürlichen Personen für die Bußgeldbemessung ausschlaggebend, sondern die Pflichtverletzung der gemäß § 30 Abs. 1 OWiG normativen Täterin und Sanktionsadressatin „Tochtergesellschaft“. Zwar üben die Inhaber der Konzernobergesellschaft für diese die Aufsicht über die Stellvertreter der Tochtergesellschaft aus, da die Konzernobergesellschaft als „überindividuelle“, künstliche Einheit selbst nicht wahrnehmungsfähig ist. Dies allein hindert jedoch das Gesetz nicht, wie § 30 Abs. 1 OWiG deutlich offenbart, diese auch wegen vorhandener Organisationsmängel und einer kriminellen Unternehmenskultur selbst zu sanktionieren. Es ist kein Grund ersichtlich, warum ein Verband zwar wegen der aktiven Zuwiderhandlung seiner Stellvertreter zur Rechenschaft gezogen werden darf, nicht aber wegen der Unterlassung notwendiger Maßnahmen, die Zuwiderhandlungen zu verhindern geeignet sind.110 Daher richtet sich das Höchstmaß der Geldbuße der Konzernobergesellschaft, die ihre Aufsichtspflicht verletzt hat, nach dem Höchstmaß der Geldbuße, die gegen die zuwiderhandelnde Tochtergesellschaft verhängt werden kann, also gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG schlussendlich nach § 81 Abs. 4 S. 2 GWB. Handelt es sich bei dem Unternehmen allerdings etwa um einen Einzelhandelskaufmann, bleibt es hingegen bei der Anwendung des Regelbußgeldrahmens nach § 81 Abs. 4 S. 1 GWB.111 3. Bestimmung des weltweiten Gesamtumsatzes des „Unternehmens“ oder der „Unternehmensvereinigung“

Im Zuge der Neubekanntmachung der 7. GWB-Novelle mit der Preismissbrauchsnovelle hat der Gesetzgeber „zur Klarstellung“ einen Satz 3 in § 81 Abs. 4 GWB eingefügt, der anordnet, dass bei der Ermittlung des weltweiten Gesamtumsatzes des (ordnungswidrig handelnden) „Unternehmens“ der Umsatz aller natürlichen und juristischen Personen einer operierenden „wirtschaftlichen 109 Zur Täter- und Sanktionsadressateneigenschaft juristischer Personen vgl. bereits Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.). 110 Aus diesem Grund stellt auch etwa Rogall, in: KK/OWiG, § 130 Rn. 25 nicht einmal die Anwendbarkeit des § 30 OWiG auf § 130 Abs. 1 OWiG in Frage. 111 So auch Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 30; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 336; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 95; Achenbach, in: FK/ Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 242; a. A. Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 149; Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (171).

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Einheit“ zu berücksichtigen ist. Nach dem ebenfalls neu eingefügten § 81 Abs. 4 S. 4 GWB darf sich das Bundeskartellamt zudem mit der Schätzung des Gesamtumsatzes behelfen, etwa wenn Durchsuchungen keine Unterlagen zu Tage förderten, die entsprechende Umsatzzahlen aufweisen und das Bundeskartellamt den Eindruck hat, dass die nunmehr112 im Hinblick auf ihre Umsätze gemäß § 81a GWB auskunftspflichtigen Nebenbetroffenen die Geldbuße durch verzerrte Angaben beeinflussen.113 Die Bestimmung des Gesamtumsatzes der „wirtschaftlichen Einheit“ erscheint angesichts der bisherigen Ergebnisse jedoch problematisch. Wenn nämlich der Begriff des „Unternehmens“, wie vorstehend vertreten, eng im Sinne der juristischen Person, die an der Zuwiderhandlung beteiligt war, auszulegen ist, könnte die zusätzliche Berücksichtigung der Umsätze der mit ihr verbundenen Personen gegen die auf dem verfassungsrechtlich verankerten Schuldprinzip fußende Systematik der §§ 30, 130 OWiG verstoßen. a) Friktionen mit der Systematik des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts? Wenn § 81 Abs. 4 S. 2 GWB abweichend von § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG eine Regelung schafft, nach der sich das Bußgeld nicht nach dem zulässigen Höchstmaß für die Ordnungswidrigkeit der natürlichen Personen im Sinne des § 30 Abs. 1 OWiG richtet, sondern nach dem Umsatz des Unternehmens, so hätte man in Konsistenz mit dem allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht eigentlich annehmen müssen, dass damit jedenfalls die juristische Person gemeint ist, die die Zuwiderhandlung durch Zurechnung der Handlungen ihrer Stellvertreter auch begangen hat.114 § 81 Abs. 4 S. 3 GWB will nun aber über diese hinaus auf die wirtschaftliche Einheit abstellen, in die das fragliche Personenkollektiv eingegliedert ist. De facto könnte die Vorschrift damit dazu führen, dass die rechtswidrigen Handlungen der für die betroffene juristische Person handelnden, natürlichen Personen zumindest ihrer Muttergesellschaft, möglicherweise aber auch ihren Schwester- und Tochtergesellschaften zugerechnet werden. Denn obgleich diese nicht Adressaten des Bußgeldbescheids sind, sofern sie nicht selbst an illegalen Absprachen beteiligt waren und der Muttergesellschaft kein Vorwurf wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Aufsichtspflichtverletzung zu machen ist, trägt der gesamte Verbund die wirtschaftlich nachteiligen Folgen der Zuwiderhandlung einer einzelnen Verbundgesellschaft. Dies scheint der Konzeption des Ordnungswidrigkeitenrechts, in dem juristische Personen oder Personenvereinigungen nur für ihre eigenen Stellvertreter verantwortlich sind, ihnen also nur ein eigener,

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Die Vorschrift wurde erst mit der 8. GWB-Novelle am 30.6.2013 eingefügt. Vgl. Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 31. Siehe Teil 3 § 2 A. II. 2. (S. 357 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

dem Grundsatz „nulla poena sine culpa“ entsprechender Kartellverstoß zur Last gelegt wird, zu widersprechen.115 Indes ließe sich die Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB auch anders verstehen. Adressat der Bußgeldentscheidung ist und bleibt nämlich die ordnungswidrig „handelnde“ juristische Person. Allerdings profitiert diese, da sie in einen Verbund eingegliedert ist, von dessen Ressourcen und Wirtschaftskraft; das Personenkollektiv ist daher nicht auf seine eigenen Mittel beschränkt.116 Würde man nun ausschließlich die Umsätze der zuwiderhandelnden juristischen Person bei der Umsatzberechnung berücksichtigen, blendete man diese zusätzliche wirtschaftliche Kraft, auf die sie zurückgreifen kann, aus. Folgt man der hier vertretenen Auffassung, nach der § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze der gegen eine juristische Person zu verhängenden Geldbuße zu qualifizieren ist, würde das Ziel der Vorschrift, hohe abschreckende Geldbußen zu ermöglichen, ohne gleichzeitig die Existenz des betroffenen Unternehmens zu gefährden, verfehlt.117 Die bloße Betrachtung der Umsätze der ordnungswidrig handelnden juristischen Person würde nämlich stets zu einer niedrigeren, der Realität gerade nicht entsprechenden Belastungsgrenze führen, sodass wirtschaftlich identische Sachverhalte, der materiellen Gerechtigkeit widersprechend, gegenüber Verbundgesellschaften unterschiedlich behandelt würden als gegenüber unabhängigen juristischen Personen.118 Letztlich unterliegt es nämlich, wie der Kartellsenat 2a des OLG Düsseldorf zutreffend im Zementkartell-Fall herausgestellt hat, der von unterschiedlichsten Beweggründen abhängenden Entscheidung der Geschäftsführung der Konzernobergesellschaft, ob sie einen Geschäftsbereich in eine separate Gesellschaft ausgliedert oder als Teilbetrieb ihrer selbst organisiert.119 Auf 115 Ganz h. M., vgl. etwa Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 28 ff.; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 342; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 244; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 78 d; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48b; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 61; Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (122 f.); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1001); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (256); Buntscheck, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 81 ff. (87 ff.); Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (949); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (57 f.); Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (216 ff.); wohl auch Kling, WRP 2010, S. 506 ff. (512 f.). 116 Insoweit zutreffend: OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 618 (juris); krit. Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (219 f.) („Im Gegenteil scheint geradezu anstößig, die Geldbuße eines Kindes nach den finanziellen Möglichkeiten der Eltern zu bemessen.“). 117 Ähnlich Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (466 f.); krit: Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (218 f.), derzufolge Haftung und Mitverantwortung untrennbar verbunden sind. 118 So zu Recht, obgleich § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze interpretierend: OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 618; a. A. Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (62); Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (220); Haus, NZKart 2013, S. 183 ff. (189). 119 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 618 (juris).

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derartige durch gesellschaftsrechtliche Umstrukturierungsmaßnahmen bewirkte Schlupflöcher darf das Kartellbußgeldrecht aber gerade keine Rücksicht nehmen, um dem gesetzgeberischen Ziel eines effektiven Wettbewerbsschutzes durch abschreckende Geldbußen gerecht zu werden. b) Friktionen mit dem Harmonisierungsbestreben des Gesetzgebers bei der Interpretation als bloße Kalkulationsgrundlage? Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber mit der Verwendung des Begriffs „wirtschaftliche Einheit“ ausweislich der Stellungnahme des zuständigen Wirtschaftsausschusses „eine weitere Angleichung an das europäische Recht“ verfolgt hat. Entsprechend einer langjährigen Praxis der Kommission, die durch die Unionsgerichte bestätigt worden sei, werde konzernzugehörigen Unternehmen bei der Bestimmung der Kappungsgrenze der Konzernumsatz zugerechnet; § 81 Abs. 4 S. 3 GWB stelle daher klar, „dass eine solche Umsatzzurechnung im Konzern auch im Rahmen der Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 GWB zu erfolgen hat und hierzu entsprechend der europäischen Rechtslage auf den Begriff der wirtschaftlichen Einheit abzustellen ist.“ 120

Dies könnte der Deutung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB entgegenstehen, die Umsätze der verbundenen natürlichen und juristischen Personen nur deshalb zu berücksichtigen, um eine realitätsgetreue Belastungsgrenze der zuwiderhandelnden juristischen Person zum Zwecke eines effektiven Wettbewerbsschutzes zu gewährleisten. Denn – anders als der Gesetzgeber offenbar (weiterhin)121 meint – dient die Konstruktion der „wirtschaftlichen Einheit“ im europäischen Kartellbußgeldrecht nicht unmittelbar der Bestimmung der Kappungsgrenze, sondern vielmehr der Bestimmung des Unternehmensbegriffs des Art. 101 Abs. 1 AEUV und – darauf aufbauend – der Zurechnung kartellrechtswidrigen Verhaltens einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft, sodass letztere wahlweise ausschließlich als Adressatin einer Geldbuße oder zusammen mit der betreffenden Tochtergesellschaft als Gesamtschuldnerin in Anspruch genommen werden kann.122 Erst wenn 120 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur Preismissbrauchsnovelle, BT-Drs. 16/7156, S. 11. 121 In der Begr. zum Gesetzesentwurf der BReg findet sich erneut ein Hinweis darauf, dass der Begriff der wirtschaftlichen Einheit dem europäischen Vorbild entsprechend auszulegen sei, vgl. BT-Drs. 17/9852, S. 35 zu Nummer 38: „Dabei ist der Begriff der wirtschaftlichen Einheit im Sinne der ständigen Rechtsprechung der europäischen Gerichte auszulegen.“ 122 Statt aller Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (946 f.); Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 10, 36; Emmerich, in: IM/EU KartellR, Art. 101 Abs. 1 Rn. 45 ff.; Dannecker, in: IM/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 119. Dies kommt auch in den von dem zuständigen Ausschuss aufgeführten Entscheidungen, z. T. nur an anderer Stelle als zitiert, zum Ausdruck, vgl. etwa EuGH, Urt. v. 16.11.2000, Rs.

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verbundene juristische Personen kapitalmäßig verflechtet sind, also eine wirtschaftliche Einheit bilden, und die Muttergesellschaft sowohl generell als auch während des kartellrechtswidrigen Verhaltens der betreffenden Tochtergesellschaft tatsächlich bestimmenden Einfluss ausgeübt hat oder jedenfalls ein solcher aufgrund ihrer 100 %igen Beteiligung zu vermuten war,123 stellen die Kommission und die europäische Rechtsprechung in logischer Konsequenz auf den konsolidierten Gesamtumsatz der für „schuldig“ befundenen Muttergesellschaft, also der Konzernobergesellschaft, für die Bußgeldbemessung ab.124 Im Ergebnis wird also der Muttergesellschaft das wettbewerbswidrige Verhalten des von ihr kontrollierten Unternehmens zum Vorwurf gemacht, weil diese dessen Handeln (irgendwie) beeinflusste. Ein derartiges, auch auf Vermutungen aufbauendes Zurechnungsmodell ist im deutschen Kartellbußgeldrecht aufgrund seiner Eingliederung in das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht, mit seinen eigenen, abschließenden Zurechnungsnormen (§§ 9, 30, 130 OWiG), wie bereits aufgezeigt, aber auch aufgrund des „in dubio pro reo“-Grundsatzes125 allerdings nicht übertragbar. Die Muttergesellschaft kann nämlich nur in Anspruch genommen werden, wenn die sie vertretenen Personen im Sinne des § 30 Abs. 1 OWiG selbst ordnungswidrig gehandelt haben, oder aber – unter gewissen Voraussetzungen – wenn sie ihre Aufsichtspflichten verletzt hat.126 Zudem offenbart die Rechtsprechung der Unionsgerichte, dass die Berücksichtigung des konsolidierten Gesamtumsatzes der Muttergesellschaft ausschließlich dann in Frage kommt, wenn diese auch für das Handeln ihrer Tochtergesellschaft verantwortlich gemacht werden kann.127 Wenn man also die mit dem Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“ im europäischen Recht verfolgten Rechtsfolgen, ohne das Konzept der individuellen VerantwortC-286/98 P – Stora Kopparbergs Bergslags, Slg. 2000, I-9925, Rn. 26; EuG, Urt. v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 u. T-252/01 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2004, II-1181, Rn. 54; Urt. v. 15.9.2005, Rs. T-325/01 – DaimlerChrysler, Slg. 2005, II-3319, Rn. 85; ferner zuletzt: EuGH, Urt. v. 29.9.2011, Rs. C-520/09 P – Arkema SA, Slg. 2011, I-8901, Rn. 37 ff. 123 So zuletzt noch EuG, Urt. v. 12.10.2011, Rs. T-38/05 – Agroexpansion SA, Slg. 2011, Rn. 103; Urt. v. 12.12.2007, Rs. T-112/05 – Akzo Nobel u. a., Slg. 2007, II-5049, Rn. 58. 124 StRspr., vgl. nur EuG, Urt. v. 12.10.2011, Rs. T-38/05 – Agroexpansion SA, Slg. 2011, Rn. 109 f., 112; Urt. v. 12.12.2007, Rs. T-112/05 – Akzo Nobel u. a., Slg. 2007, II5049, Rn. 88, 91; Urt. v. 4.7.2006, Rs. T-304/02 – Hoek Loos, Slg. 2006, II-1887, Rn. 116, 119; jeweils m.w. N. Existiert keine juristische Person als Konzernobergesellschaft kann die Kommission stattdessen die Umsätze der einer Gruppe zugehörigen Gesellschaften, also einer wirtschaftlichen Einheit, kumulieren. Vgl. Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-9/99 – HFB, Slg. 2002, II-1487, Rn. 66. 125 Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (222) m.w. N. 126 Vgl. Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.) und Teil 3 § 2 A. II. 2. (S. 357 ff.). 127 EuG, Urt. v. 12.12.2007, Rs. T-112/05 – Akzo Nobel u. a., Slg. 2007, II-5049, Rn. 85, 90 f.; Urt. v. 4.7.2006, Rs. T-304/02 – Hoek Loos, Slg. 2006, II-1887, Rn. 117– 119; Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-9/99 – HRB, Slg. 2002, II-1487, Rn. 54 f., 527.

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lichkeit des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts anzutasten, übertragen wollte, könnte das Bundeskartellamt – entgegen dem Wortlaut des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB – zur Bestimmung der Kappungsgrenze nur dann auf den konsolidierten Gesamtumsatz der Konzernobergesellschaft abstellen, wenn diese selbst an dem Kartellverstoß beteiligt war. Denn im europäischen Kartellbußgeldrecht wird eben nicht, losgelöst von der Zurechnung des Wettbewerbsverstoßes an die Konzernobergesellschaft, der konsolidierte Konzernumsatz bei der Bußgeldzumessung berücksichtigt.128 c) Würdigung Die vorstehenden Erwägungen offenbaren deutlich, dass die vom Gesetzgeber intendierte „Klarstellung“ mit der Regelung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB nicht erreicht werden konnte. Die sich vor der Installation der Vorschrift für die alleinige Berücksichtigung des Gesamtumsatzes des zuwiderhandelnden Rechtsträgers aussprechende, weit überwiegende Auffassung129 hat angesichts der nunmehr eindeutigen, anderslautenden Regelung an Überzeugungskraft eingebüßt. Nunmehr muss es Ziel einer Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB sein, dem gesetzgeberischen Willen im Rahmen verfassungsrechtlicher Vorgaben, soweit als möglich zur Geltung zu verhelfen. Der Gesetzgeber ging fälschlicherweise davon aus, dass es im europäischen Bußgeldverfahren stets möglich sei, im Rahmen der Bußgeldbemessung auf den Konzernumsatz abzustellen und wollte dies unreflektiert ins deutsche Recht übertragen. Wenngleich dem, wie die Rechtsprechung der Unionsgerichte offenbarte, nicht so ist, sprechen keine übergeordneten Gründe gegen die uneingeschränkte Umsetzung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB. Zunächst kann festgehalten werden, dass § 81 Abs. 4 S. 3 GWB „lediglich“ als kalkulatorische Grundlage für die Umsatzberechnung zu qualifizieren ist; der Gesetzgeber wollte mit der Vorschrift keinesfalls eine bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit des Personenverbunds begründen, dem die ordnungswidrig handelnde juristische Person angehört.130 Für die Interpretation als kalkulatorische Grundlage spricht auch die Vorschrift des § 36 Abs. 2 GWB (i.V. m. §§ 17, 18 128 Zu Recht: Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 28; Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (948). 129 OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1748), Rn. 884 (juris); Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi) – Silostellgebühren I, Rn. 202 ff. (juris); anders unter der Geltung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB 2007 nunmehr: OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 613 ff. (juris); jeweils m.w. N. aus der Literatur. 130 So auch BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 17 (juris) und Beschl. v. 10.8.2011, Az. KRB 55/10 – Versicherungsfusion, WuW/E DE-R 3455 (3459), Rn. 21 (juris): „Diese Norm [§ 81 Abs. 4 Satz 2 GWB] hat nur die Bußgeldbemessung zum Gegenstand; die in § 30 OWiG vorgesehene Begrenzung der Ahndung einer Organtat gegenüber derjenigen („dieser“) juristischen Person, deren Organ die Tat begangen hat, vermag sie nicht aufzuheben.“

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AktG),131 die nach herrschender Meinung132 nicht nur im Rahmen der Fusionskontrolle, sondern im gesamten Geltungsbereich des GWB entsprechende Anwendung findet. Die Regelung bezweckt, dass die durch gesellschaftsrechtliche Verflechtungen begründete wirtschaftliche Einheit herrschender und abhängiger Unternehmen als eben solche auch im Rahmen des Kartellrechts tatsächlich behandelt wird.133 Entgegen vereinzelter Stimmen in der Literatur134 ist der Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“ als gesellschaftsrechtlicher Ausdruck für einen Konzern, also der Zusammenfassung rechtlich selbstständiger Gesellschaften unter einer einheitlichen Leitung, dem deutschen Recht nicht fremd.135 Wie sich aus der Begründung zum Regierungsentwurf der 6. GWB-Novelle ergibt, hat der Gesetzgeber dieses gesellschaftsrechtliche Verständnis dem Regelungsgehalt des § 36 Abs. 2 GWB zugrunde gelegt.136 Es spricht daher nichts dagegen, den in § 81 Abs. 4 S. 3 GWB etablierten Begriff der „wirtschaftlichen Einheit“ anhand des § 36 Abs. 2 GWB zu konkretisieren,137 zumal dieser, wenn man die „Haftungszurechnung“ außer Acht lässt, demjenigen der europäischen Rechtsprechung entspricht, und damit der seitens des EuGH für notwendig erachteten europarechtsfreundlichen Auslegung.138 Einer expliziten Bezugnahme auf die – nach dem Willen des Gesetzgebers im gesamten Anwendungsbereich des GWB geltende – Verbundklausel bedurfte es in § 81 Abs. 4 S. 3 GWB nicht. Der Gesetz-

131 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 617 (juris); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 342; a. A. Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (946); Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 153; zweifelnd: Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (703). 132 BGH, Urt. v. 21.6.2009, Az. KZR 21/08 – entega, WuW/E DE-R 2739 (2741), Rn. 15 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.6.2000, Az. Verg 6/00 – EURO-Münzplättchen III, Rn. 50 ff. (juris); Ruppelt, in: LB/GWB, § 36 Rn. 58; Mestmäcker/Velten, in: IM/GWB, § 36 Rn. 40; Paschke, in: FK/Kartellrecht, § 36 Abs. 2 Rn. 90; Becker/ Knebel, in: MK/GWB, § 36 Rn. 211; ferner: Begr. BRegE eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen v. 29.1.1998, BT-Drs. 13/ 9720, S. 56 (zu Absatz 3). 133 Begr. BRegE 6. GWB-Novelle, BT-Drs. 13/9720, S. 56 f. (zu Absatz 3). 134 Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 30; Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 (54 f.); Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (222 f.). 135 Siehe auch Emmerich, in: IM/EU KartellR, Art. 101 Abs. 1 Rn. 48; Nordemann, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 1 Rn. 94, 106; Schroeder, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 8 Rn. 19 ff.; Bayer, in: MK/AktG Bd. 1, § 18 Rn. 29; Emmerich, in: Emmerich/Habersack, KonzernR, § 18 AktG Rn. 5 f., 8 ff. 136 Begr. BRegE 6. GWB-Novelle, BT-Drs. 13/9720, S. 56 f. (zu Absatz 3). 137 Insoweit zutreffend: OLG Düsseldorf, Urteil v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 617 f. (juris) und BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 66; Klocker/Ost, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 229 ff. (247); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (180); Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (467); krit. Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (12); Buntscheck, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 81 ff. (88); Haus, NZKart 2013, S. 183 ff. (188). 138 Siehe dazu bereits Teil 3 § 2 A. II. 1. d) aa) (S. 350 ff.).

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geber hatte mit der 6. GWB-Novelle nämlich bezweckt, sämtliche verstreuten Bezugnahmen auf die Verbundklausel durch eine einheitlich geltende Regelung zu beseitigen.139 Ein neuerlicher Verweis in § 81 Abs. 4 GWB liegt daher auch nicht „nahe“.140 Zwar geht die durch Satz 3 konkretisierte Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB in ihrer Rechtsfolge damit über die durch die europäische Bußgeldpraxis konkretisierte Regelung des Art. 23 Abs. 2 S. 2 VO 1/2003 hinaus, sofern die Konzernobergesellschaft nicht an der Ordnungswidrigkeit beteiligt war. Dies widerspricht jedoch nicht dem „effet utile“-Grundsatz, da eine effektive Durchsetzung des europäischen Kartellrechts auf diese Weise weder erschwert noch unmöglich gemacht wird. Entgegen der zum Teil in der Literatur im Hinblick auf § 81 Abs. 4 S. 2 GWB vertretenen Auffassung verstößt die so ausgelegte Regelung auch nicht gegen das Schuldprinzip.141 Auch die Tatsache, dass die Geldbuße über den eigentlichen Kartellbeteiligten hinaus negative wirtschaftliche Konsequenzen für den gesamten Verbund zeitigt, steht der Anwendung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB nicht entgegen, denn der Verbund ist nicht der Adressat der Bußgeldentscheidung. Die ordnungswidrig handelnde Tochtergesellschaft bleibt alleinige Adressatin des Bußgeldbescheids und alleiniges Bezugssubjekt für die Zumessung der konkreten Geldbuße. Die §§ 81 Abs. 4 S. 6, Abs. 5 und § 17 Abs. 3, 4 OWiG bleiben von der Regelung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB unangetastet.142 Mit anderen Worten bestimmt sich die eigentliche Zumessung der Geldbuße weiterhin allein nach dem verwirklichten Unrecht und dem Vorwurf, der den ordnungswidrig handelnden Rechtsträger (also etwa die fragliche Tochtergesellschaft) trifft, sowie nach dessen eigenen wirtschaftlichen Verhältnissen. Vor allem aber definiert die Regelung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB mit dem Verweis auf den konsolidierten Konzernumsatz nach hier vertretener Auffassung lediglich eine generelle Belastungsgrenze. Die Regelung will verhindern, dass Adressaten eines Bußgeldbescheids durch die Geldbuße in eine wirtschaftliche Schieflage geraten. Hingegen soll § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gerade nicht den höchst zulässigen Punkt eines Sonderbußgeldrahmens für Unternehmen markieren. Nur in diesem Fall würde ein Rückgriff auf die Konzernobergesellschaft, die nicht an der Zuwiderhandlung beteiligt war, in der Tat das Schuldprinzip tangieren, da sich die Geldbuße dann explizit an dem Gesamtumsatz des Verbundes ausrichtete: ein Merkmal, was in keinerlei Zusammenhang mit dem durch den betroffenen 139

Begr. BRegE 6. GWB-Novelle, BT-Drs. 13/9720, S. 57 (zu Absatz 3). So aber Koch, ZHR 171 (2007), S. 554 ff. (563 f.); ihm folgend Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 30; ebenso Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (946); wie hier: Klocker/Ost, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 229 ff. (247); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (180). 141 So aber Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48c. Wie hier Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1006). 142 So auch schon Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (949); Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (13 f.). 140

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Rechtsträger verwirklichten Unrechtstatbestand und den Auswirkungen auf den Wettbewerb stünde.143 III. Fazit: Absolute Grenzen des Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes Das Bundeskartellamt kann für vorsätzliche Kartellverstöße natürlicher Personen eine Geldbuße zwischen fünf und einer Million Euro erlassen. Es ist nicht zu verkennen, dass die auch für Unternehmen geltende Mindestgeldbuße in Höhe von fünf Euro der generellen Schwere von Kartellverstößen, gleich welcher Art, nicht gerecht wird. Der Systematik der Bußgeldzumessung entsprechend müsste nämlich eine derartige Geldbuße für die denkbar geringfügigste, wettbewerbliche Ordnungswidrigkeit, also etwa einen einmaligen Informationsaustausch bezüglich einer äußerst kleinen, unwesentlichen Produktgruppe, ohne wettbewerbliche Auswirkungen, verhängt werden. Dies ist bei den atypischen, schweren Ordnungswidrigkeiten, wie Verstößen gegen das Wettbewerbsrecht, jedoch undenkbar, da sie mit Bagatelldelikten, wie etwa Parkverstößen, gleich gestellt würden. Ihre unreflektierte Anwendung würde die herausragende Bedeutung des Rechtsguts Wettbewerb im Vergleich mit weitaus weniger gewichtigen Rechtsgütern unterminieren. Die dem Bagatellordnungswidrigkeitenrecht entstammende Regelung des § 17 Abs. 1 OWiG hat daher – wie die Praxis wohlgemerkt offenbart – im Kartellbußgeldrecht letztlich zu Recht keine Bedeutung. Vielmehr ist das Bundeskartellamt dazu berufen, eine Geldbuße für die denkbar leichteste Kartellordnungswidrigkeit zu bestimmen. Diese wird wohl etwa bei 0,5–1 % der Höchstgeldbuße, also etwa bei 5.000–10.000 Euro liegen. Für Unternehmen fehlt es darüber hinaus an einem Bußgeldrahmen, denn nach geltendem Recht existiert keine zulässige, absolute Höchstgeldbuße. Der „Bußgeldrahmen“ ist im oberen Bereich geöffnet; die Geldbuße wird in ihrer Höhe lediglich durch die gemäß § 81 Abs. 4 S. 2, 2. Hs. GWB am konkret-individuellen Umsatz des betroffenen Unternehmens orientierte und damit von Fall zu Fall unterschiedliche 10 %-Grenze absolut beschränkt. Diese ist dem eindeutigen gesetzgeberischen Willen, dem Wortlaut und der Regelungssystematik der Vor143 Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121); ihm folgend Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (717 f.); zust. auch Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 246; Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (702). Dies übersieht das OLG Düsseldorf, das sich darauf beschränkt, zu betonen, dass mit der – seiner Auffassung nach – auf den Gesamtumsatz abstellenden „Bußgeldobergrenze“ keine Konzerngeldbuße begründet werde und damit allein die Vereinbarkeit mit Schuldprinzip hinsichtlich der Strafbegründetheit nicht aber der Schuldangemessenheit feststellt. Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 617, 627 (juris); ohne weitere Problematisierung auch: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 66 ff.

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schrift entsprechend als Kappungsgrenze zu qualifizieren. § 81 Abs. 4 S. 2, 1. Hs. GWB macht zwar einerseits deutlich, dass der Gesetzgeber die Verhängung sehr hoher, spürbarer Geldbußen gegen Unternehmen ermöglichen wollte, andererseits sollen diese jedoch vor einer wirtschaftlichen Überforderung bewahrt werden. Insoweit konkretisiert § 81 Abs. 4 S. 2, 2. Hs. GWB im Kartellbußgeldrecht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Übermaßverbot. Der Begriff des „Unternehmens“ ist dabei systemkonform mit § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG auszulegen und meint die juristische Person oder Personenvereinigung, die die Zuwiderhandlung begangen hat. Zur Bestimmung der wirtschaftlichen Belastungsgrenze des betroffenen Unternehmens wird allerdings nicht allein auf dessen Umsatz abgestellt; gemäß § 81 Abs. 4 S. 3 GWB soll vielmehr realitätsnah auf den Konzernumsatz abgestellt werden, den der gesamte Verbund, in den das Unternehmen eingegliedert ist, im Vorjahr der Entscheidung erwirtschaftet hat. Für die Bußgeldzumessung hat dies zur Folge, dass das Bundeskartellamt bei der noch darzustellenden Anwendung der Zumessungskriterien zu einer Geldbuße gelangen kann, die oberhalb der äußersten Grenze von 10 % des im Vorjahr der Bußgeldentscheidung erzielten Gesamtumsatzes eines Unternehmens liegt. Eine solche Geldbuße darf das Bundeskartellamt jedoch nicht festsetzen, sondern muss sie auf das zulässige gesetzliche Höchstmaß, nicht jedoch unterhalb der Obergrenze des Regelbußgeldrahmens des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB „kappen“. Nur insoweit verbleibt dem Bundeskartellamt kein Ermessen. Für fahrlässige Zuwiderhandlungen gilt jeweils die Hälfte des Höchstmaßes, also 500.000 Euro für natürliche Personen und 5 % des Vorjahres-Gesamtumsatzes für Unternehmen. Innerhalb der hier vorgezeichneten gesetzlichen Grenzen ist das Bundeskartellamt frei, eine aus seiner Sicht angemessene Geldbuße festzusetzen. Allerdings hat es die im Anschluss noch zu beleuchtenden Zumessungskriterien zu beachten, die den hier maximal definierten Ermessensspielraum im Einzelfall begrenzen. Die hier vertretene Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsbzw. Belastungsgrenze führt zu einer notwendigen, inhaltlichen Änderung bzw. partiellen Verdrängung einzelner allgemeiner Regelungen des OWiG. Dies gilt zunächst für § 20 OWiG. Die Regelung legt für das Ordnungswidrigkeitenrecht grundsätzlich das Kumulationsprinzip fest, sodass die Verfolgungsbehörde für in Tatmehrheit begangene Ordnungswidrigkeiten grundsätzlich gesonderte Geldbußen festzusetzen hat, also keine „Gesamtgeldbuße“ bildet.144 Weist das Bundeskartellamt nunmehr einer juristischen Person zumindest in relativer, zeitlicher Nähe mehrere Ordnungswidrigkeiten nach, so dürfen die selbstständig verhängten Geldbußen insgesamt die Kappungsgrenze nicht überschreiten, da andernfalls der gesetzgeberischen Intention nicht gerecht würde, eine wirtschaftliche Überforderung der kartellbeteiligten juristischen Person und die aus dessen Zahlungs144 Umfassend zum Kumulationsprinzip im Kartellbußgeldrecht: Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 123 ff.

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unfähigkeit folgenden ökonomischen und sozialen Schäden zu verhindern.145 Angesichts dieses Zwecks muss die Kappungsgrenze also auf eine zu ermittelnde „addierte Gesamtgeldbuße“ in Fällen angewandt werden, in denen das Bundeskartellamt mehrere Zuwiderhandlungen im Sinne von Tatmehrheit in ein und demselben Verfahren festgestellt hat und bebußen will.146 Würde man dem Bundeskartellamt zugestehen, mehrere Bußgelder in Höhe von bis zu 10 % des Gesamtjahresumsatzes zu verhängen, wäre die Belastungsgrenze weit überschritten und das Ziel, die Bußgeldadressaten vor einer Existenzgefährdung zu bewahren, würde verfehlt.147 Aus diesem Grund ist ebenso zu überlegen, ob die Belastungsgrenze nicht auch bei „zeitnah“ oder parallel geführten und abzuschließenden Bußgeldverfahren Anwendung finden muss.148 Es macht für die Nebenbetroffenen nämlich wirtschaftlich wohl keinen Unterschied, ob gegen sie an ein und demselben Tag Geldbußen in Höhe eines über die 10 %-Grenze hinausgehenden Umsatzes verhängt werden, oder stückweise innerhalb weniger Monate. Hingegen kann die Kappungsgrenze angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 81 Abs. 4 S. 2, 1. Hs. GWB keine Anwendung auf Fälle finden, in denen 10 % des Gesamtjahresumsatzes eines Unternehmens die obere Grenze des Regelbußgeldrahmens in § 81 Abs. 4 S. 1 GWB von einer Million Euro nicht überschreitet.149 Denn die Kappungsgrenze bezieht sich eindeutig auf Fälle, in denen die Geldbuße aufgrund der Zugrundelegung der Bezugsgröße des Vorjahresgesamtumsatzes höher als diejenige ausfällt, die § 81 Abs. 4 S. 1 GWB jedenfalls als zulässige Höchstgeldbuße auch für Unternehmen vorgesehen hat. Hat eine solche Geldbuße im Einzelfall wirtschaftlich gravierende Folgen für die Adressatin des

145 Zu den von § 81 Abs. 4 S. 2 GWB unabhängigen Forderungen der Eingrenzung des Kumulationsprinzips des § 20 OWIG aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch: Bohnert, in: KK/OWiG, § 20 Rn. 27; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, Vor § 81 Rn. 151 ff.; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 327; jeweils m.w. N. 146 Ebenso Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27; Bechtold, GWB, 7. Aufl., § 81 Rn. 30. 147 Dies übersieht das EuG, wenn es zur Begründung der Zulässigkeit der Praxis der Kommission, mehrere Geldbußen zu verhängen, die jeweils an der 10 %-Grenze zu kappen sind, allein auf eine mangelnde „Ermessensbindung“ der Kommission abstellt. Vgl. Urt. v. 28.4.2010, Rs. T-446/10 – Amann, Slg. 2010, II-1255, Rn. 153–158; krit. im Hinblick auf die Höhe der deshalb zu erwartenden Geldbuße(n) und dem daher begründeten hohen Stellenwert der Marktabgrenzung: Engelsing/Schneider, in: MK/EU WettbewerbsR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 74. 148 Zu Recht Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27 und GWB, 7. Aufl., § 81 Rn. 30, soweit dieser auf die Zeitnähe der Bußgeldentscheidung abstellt. Auf die Begehung der Ordnungswidrigkeiten darf es, wie Bechtold auch vorschlägt, jedoch nicht in erster Linie ankommen, da diese den Zweck der Kappungsgrenze nicht tangiert. 149 BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 27 ff. (juris) in Bestätigung des OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 124 (juris); BKartA, TB 2005/06, BT-Drs. 16/5710, S. 94; TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 12; TB 2009/10, BT-Drs. 17/6640, S. 41; a. A. Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27 und GWB, 7. Aufl., § 81 Rn. 30.

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Bußgeldbescheids, muss das Bundeskartellamt diesen Umstand bereits bei der Bußgeldzumessung berücksichtigen oder eine Zahlungsvereinbarung treffen;150 Verhältnismäßigkeitserwägungen und die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Nebenbetroffenen dürfen jedoch nicht zu einer Verengung des gesetzlichen Regelbußgeldrahmens gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 GWB führen, welcher bereits unter der Berücksichtigung einer eventuell geringeren, wirtschaftlichen Leistungskraft einiger Unternehmen seitens des Gesetzgebers geschaffen wurde.151 Dies würde vor allem natürliche Personen aber auch Unternehmen, die leichte Kartellordnungswidrigkeiten im Sinne des § 81 Abs. 4 S. 5 GWB begangen haben, benachteiligen, auf die § 81 Abs. 2 S. 2 GWB gerade nicht anwendbar ist.152 Vor allem aber machte es keinen Sinn, da sich die Geldbuße der juristischen Person grundsätzlich an derjenigen der handelnden natürlichen Person gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG orientiert.153 Aus demselben Grund darf das Bundeskartellamt von Gesetzes wegen auch gegen mehrere Verbundgesellschaften, die an ein und demselben Kartell beteiligt waren, nur Geldbußen verhängen, die zusammen genommen die Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB nicht überschreiten. Da die Kappungsgrenze auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der wirtschaftlichen Einheit abstellt, wenngleich diese freilich jeder einzelnen Verbundgesellschaft zugerechnet wird, würde es den Verbund in seiner Existenz bedrohen, wenn, wie im Fall Tondachziegel, eine Muttergesellschaft und zwei ihrer Tochtergesellschaften an einem Kartell beteiligt waren, und gegen jeden Rechtsträger ein Bußgeld von bis zu 10 % des konsolidierten Gesamtumsatzes des Konzerns verhängt werden dürfte. Dann würde dem gesamten Verbund bis zu 30 % seines Vorjahresumsatzes entzogen.154 Im Fall Tondachziegel155 ist dieses Szenario, trotz kritischer Reflexion in der Literatur,156 allerdings nicht eingetreten. Insgesamt hat das Bundeskartellamt Bußgelder in Höhe von 188 Millionen Euro gegen neun Hersteller von Dachziegeln wegen Preisabsprachen verhängt, wobei fünf der Unternehmen Einspruch einlegten, sodass bis Februar 2009 lediglich Bescheide mit einer Gesamtbußgeldhöhe von 23,7 Millionen Euro rechtskräftig wurden.157 Geldbußen in Höhe von 164,3 Mil150 Zum Übermaßverbot als Ermessensschranke vgl. noch Teil 3 § 2 B. III. 4. (S. 384 ff.). 151 BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 29 (juris). 152 BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 30 (juris). 153 Zutreffend: BGH, Urt. v. 10.8.2011, Az. KRB 2/10 – Transportbeton, Rn. 29 (juris). 154 Eine solche Interpretation der Kappungsgrenze zu Recht ablehnend: Buntscheck, WuW 2009, S. 871. 155 Zu dem Fall siehe auch schon: Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.). 156 Bechtold, NJW 2009, S. 3699 ff. (3706); Buntscheck, WuW 2009, S. 871; Koch, AG 2009, S. 564 ff. 157 BKartA, Fallbericht v. 15.12.2008/9.2.2009, Az. B1-200/06 – Tondachziegel, S. 1 f.

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lionen Euro verteilten sich damit noch auf vier weitere Unternehmen, von denen zwei (Creaton und Pfleiderer) dem Etex-Konzern angehörten, der nach Angaben des Bundeskartellamtes einen Vorjahres-Gesamtumsatz von über zwei Milliarden Euro hatte. Zusätzlich zu Creaton und Pfleiderer wurde zwar noch die deutsche Zwischen-Holding des Etex-Konzerns, die als Muttergesellschaft der beiden anderen Gesellschaften fungierende Etex Holding GmbH, mit einer Geldbuße in „zweistelliger Millionenhöhe“ belegt.158 Selbst wenn man jedoch annähme, dass diese Geldbuße im oberen Bereich bei 90 Millionen Euro lag, kann die sich zusammen mit den Geldbußen gegen Pfleiderer und Creaton ergebende, den EtexKonzern wirtschaftlich treffende „Gesamtgeldbuße“ 10 % seines Vorjahresgesamtumsatzes, also 200 Millionen Euro, nicht überstiegen haben. Obgleich sich das Bundeskartellamt im Fallbericht nicht dazu äußerte, ob es sich dazu berechtigt sieht, die Kappungsgrenze – entgegen der hier vertretenen Auffassung – auf jede einzelne Verbundgesellschaft anzuwenden, wies es darauf hin, dass es die parallele Sanktionierung Pfleiderers und Creatons jedenfalls bei der Bußgeldzumessung gegenüber der Etex Holding GmbH bußgeldmindernd berücksichtigt habe.159

B. Die relevanten Zumessungskriterien im Kartellbußgeldrecht Der Ausübung des Sanktionszumessungsermessens sind mit den Vorschriften der §§ 81 Abs. 5 S. 6, Abs. 5 GWB i.V. m. § 17 Abs. 3, 4 OWiG Maßstäbe vorgegeben, anhand derer sich das Bundeskartellamt bei der Festsetzung einer Geldbuße im konkreten Einzelfall zu orientieren hat. Die Formulierung des § 17 Abs. 3 S. 2 OWiG offenbart zudem, dass neben den benannten Zumessungskriterien auch andere Umstände Einfluss auf die Bußgeldhöhe nehmen können. Dazu zählen möglicherweise die Sanktionszwecke der Geldbuße und das Verbot der Doppelverwertung gemäß § 46 Abs. 3 StGB. Vor allem ergeben sich zwingend zu berücksichtigende Grenzen für das Sanktionszumessungsermessen ferner aus übergeordneten Gesichtspunkten, insbesondere den Grundrechten, den Verfassungsprinzipien und dem europäischen Recht. Für die pflichtgemäße Ausübung des Sanktionszumessungsermessens sind insbesondere das Verhältnismäßigkeits-

158 Zwischenzeitlich wurde der Bußgeldbescheid gegen die Etex Holding GmbH wieder aufgehoben, da sich nach dem Einspruch der Nebenbetroffenen im Zwischenverfahren herausstellte, dass der Betroffene des Verfahrens, dessen Verhalten der Etex Holding zugerechnet wurde, wenige Tage vor der Kartellabsprache aus der Geschäftsführung ausgeschieden war. Das BKartA erwog zwar nunmehr gegen die Konzernmutter S.A. Etex Group vorzugehen, da der Betroffene dieser als Geschäftsführer der betroffenen Division erhalten blieb, stellte dann aber das (wiederaufgenommene) Verfahren gegenüber dem Betroffenen wieder ein. Vgl. BKartA, Fallbericht v. 12.4.2012, Az. B1-200/06 P2, B1-200/06-U13 – Tondachziegel. 159 BKartA, Fallbericht v. 15.12.2008/9.2.2009, Az. B1-200/06 – Tondachziegel, S. 2.

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prinzip und das Recht auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren von besonderer Bedeutung. I. Die Zumessungskriterien des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB und des § 17 Abs. 3 OWiG Innerhalb der besonderen Bußgeldvorschriften des GWB findet sich lediglich ein Hinweis auf die anzuwendenden Maßstäbe bei der Ermittlung des ahndenden Teils einer Geldbuße. Gemäß § 81 Abs. 4 S. 6 GWB hat das Bundeskartellamt die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen. Die Regelung wurde im Rahmen der 7. GWB-Novelle mit dem ausdrücklichen Ziel der Anpassung an Art. 23 Abs. 3 VO 1/2003 eingefügt. Im Rahmen einer teleologischen Auslegung sind nach dem Willen des Gesetzgebers daher auch die Bußgeldleitlinien der Kommission160 zu Rate zu ziehen.161 Die Bedeutung der Vorschrift ist angesichts dieser Zielbestimmung in der Literatur umstritten. Zum Teil wird sie als lex specialis zu § 17 Abs. 3 OWiG interpretiert,162 der als Grundlage für jede Bußgeldzumessung jedenfalls die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit, den Vorwurf gegenüber dem Täter und die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters benennt. Angesichts des Umstandes, dass die Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung jedoch wiederum Maßstäbe zur Bestimmung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit bilden, ist es nicht ausgeschlossen, erstere als (wenn auch wohl selbstverständliche163) Konkretisierungen letzterer anzusehen. Dafür spricht auch, dass der Gesetzgeber keine Formulierung, wie etwa „abweichend von § 17 Abs. 3 OWiG“, in die Vorschrift aufgenommen hat; dies wäre ihm angesichts der Regelung des § 81 Abs. 5 GWB, in der dieser die von der Soll-Vorschrift des § 17 Abs. 4 OWiG abweichende Ermessenseinräumung im Hinblick auf die Vorteilsabschöpfung konkret ausweist, durchaus zuzutrauen gewesen.164 Jedenfalls kann jedoch eine in ihrer Aussagekraft sehr viel vagere Vorschrift,165 die sich lediglich auf ein gesetzlich vorgeschriebenes und anerkanntes Element der Sanktionsbemessung bezieht und einen Bezug auf die verfassungs160 Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der 7. GWB-Novelle galten noch die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 EGKS-Vertrag festgesetzt werden, ABl. EG v. 14.1.1998 Nr. C 9, S. 3 ff. Diese sind durch die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EU v. 1.9.2006 Nr. C 210, S. 2 ff. ersetzt worden. 161 Begr. BRegE zur 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/5049, S. 50. 162 Buntscheck, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 81 ff. (93); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1004 f.). 163 Zu Recht Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 50. 164 Auch in den Gesetzesmaterialien findet sich kein entsprechender Hinweis. Hierzu auch: Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (23). 165 Zutreffend Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 247.

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rechtlich wegen des Schuldprinzips gebotene Vorwerfbarkeit missen lässt, nicht als speziell angesehen werden, zumal § 17 Abs. 3 OWiG durch die Rechtsprechung und Praxis der Verfolgungsbehörden über Jahrzehnte eine inhaltlich ausgefeilte Konkretisierung erfahren hat.166 Daher bleibt es dabei, dass Grundlage einer jeden Bußgeldzumessung, auch im Kartellbußgeldrecht, jedenfalls die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der dem Täter zu machende Vorwurf sind.167 § 81 Abs. 4 S. 6 GWB ist folglich ergänzend zur Bestimmung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit heranzuziehen.168 In diesem Zusammenhang können die Leitlinien der Kommission jedoch nicht als zwingende Erkenntnisquelle für die teleologische Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB dienen, da sie als ermessenskonkretisierende Verwaltungsvorschrift der Kommission169 keine rechtliche Bindungswirkung entfalten und ihre unbedingte Beachtung demgemäß gegen das Demokratieprinzip verstoßen würde.170 Dies erfordert auch nicht der „effet utile“-Grundsatz, soweit eine abweichende, der dezentralisierten Anwendung des Art. 101 AEUV geschuldete Auslegung nicht zu einer Gefährdung der effektiven Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts führt. Hingegen spricht nichts gegen eine „freiwillige“, zusätzliche Berücksichtigung durch das Bundeskartellamt, sofern diese mit dem allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht und den Verfassungsgrundsätzen vereinbar ist.171

166 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 360; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 247. 167 Dies entspricht auch der Handhabung des OLG Düsseldorf: Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi) – Silostellgebühren I, Rn. 138 (juris). Ebenso ohne weitere Problematisierung: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 58. 168 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 360; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 247; Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (43); Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (23); ferner ohne Begr. Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 63; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 34; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 160; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48c; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 51; ohne Problematisierung auch Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 81 ff.; unklar Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 113, der unisono lediglich auf die Bußgeldleitlinien der Kommission und des BKartA verweist; vgl. aber auch Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (173). 169 Allgem. M., statt aller: Feddersen, in: Grabitz/Hilf EUV/EGV, Art. 23 VO 1/ 2003 Rn. 151; Sura, in: LB/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 42; Nowak, in: LMR/ Kartellrecht, 2. Aufl., Art. 23 VO 1/2003 Rn. 29; Dannecker, in: IM/EU KartellR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 148. 170 Insoweit sind die Ausführungen zur verneinten rechtlichen Bindungswirkung der de minimis-Bekanntmachung zu übertragen. Vgl. bereits Teil 2 § 4 B. I. 3. b) aa) (S. 166 ff.). Wie hier auch Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 247; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 361. 171 Ebenso Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 361; Achenbach, in: FK/ Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 247.

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1. Die Bedeutung des Kartellverstoßes

Das primär172 tatbezogene Merkmal der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit wird in § 81 Abs. 4 S. 6 GWB durch die objektiven, an der Beurteilung der Tat ausgerichteten Kriterien der Schwere und Dauer des Kartellverstoßes konkretisiert. Die Kommission orientiert sich zur Bestimmung der Schwere der Zuwiderhandlung unter anderem an der Art der Zuwiderhandlung, wobei sie horizontale Hardcore-Kartelle generell als schwerwiegendste Verstöße qualifiziert, sowie an der räumlichen Ausdehnung der Zuwiderhandlung und dem kumulierten Marktanteil der Unternehmen.173 Diese Kriterien lassen sich mit den bisher in der nationalen Rechtsprechung anerkannten Umstandsmomenten vereinbaren. Danach kommt es insbesondere auf die Intensität der durch die Zuwiderhandlung bewirkten negativen Folgen an,174 die sich etwa daran bemisst, ob ein Kartell branchenumfassend, (nahezu) den gesamten relevanten inländischen Markt175 oder lediglich einen kleinen Markt erfasste,176 ob Einfluss auf den Preiswettbewerb und/oder die Verfügbarkeit von Produkten durch Preis-, Marktaufteilungs- oder Quotenabsprachen genommen wurde,177 ob das fragliche Kartell innerhalb von Marktverhältnissen etabliert wurde, die ohnehin bereits anfällig für Wettbewerbsbeschränkungen waren,178 und ob durch die Zuwiderhandlung irreparable Schäden bewirkt wurden, wie die Existenzvernichtung von Wettbewerbern oder Marktteilnehmern auf vor- und nachgelagerten Märkten.179 Zur Feststellung der 172 Zu dem inneren Zusammenhang zwischen verwirklichtem Unrecht und Schuld siehe Teil 3 § 1 B. (S. 336 ff.). 173 Rn. 20, 22, 23 der Bußgeldleitlinien, vgl. Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EG v. 1.9.2006, Nr. C 210, S. 2 ff. 174 Zu den Einzelheiten, mit weiteren Nennungen im Überblick etwa: Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 254 ff.; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 371 ff.; zum allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht auch: Mitsch, in: KK/ OWiG, § 17 Rn. 38 ff. Aus der Rechtsprechung statt vieler Ents. etwa: OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1747 f.), Rn. 859, 885 (juris). 175 Vgl. etwa OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.5.2004, Az. Kart 41–43 und 45–47/01 OWi – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1315 (1320), Rn. 221; Beschl. v. 31.1. 2005, Az. VI-Kart 51/01 OWi – Transportbeton in C., WuW/E-DE-R 1433, Rn. 30. 176 OLG Frankfurt, Beschl. v. 17. 2. 1992, Az. 6 Ws (Kart) 1/92 – Fahrschullehrerabsprachen, WuW/E OLG 4944 (4950); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 256; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 371; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 65. 177 Vgl. etwa KG Berlin, Beschl. v. 28.11.1972, Az. Kart 4/72 – Linoleum, WuW/E OLG 1339 (1348 f.); Beschl. v. 30.4.1997, Az. Kart 10/96 – Jeans-Vertrieb, WuW/E OLG 4885 (4894); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 257; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 373 m.w. N. 178 KG Berlin, Beschl. v. 7.11.1980, Az. Kart 6/79 – Programmzeitschriften, WuW/E OLG 2369 (2374). 179 OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.4.2006, Az. VI-2 Kart 5–6/05 OWi – Transportbeton, WuW/E DE-R 1893 (1900 f.), Rn. 81, 90 (juris).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

Bedeutung des Kartells kann auch der von den Kartellbeteiligten erwirtschaftete Mehrerlös Aufschluss geben.180 Hinsichtlich der Dauer der Zuwiderhandlung will die Kommission eine lineare Erhöhung des Bußgeldes vornehmen.181 Auch die nationale Rechtsprechung hat bislang den Umstand berücksichtigt, ob ein Kartellverstoß nur von kurzer Dauer war oder sich über Jahre erstreckte. Ob allerdings die relativ willkürliche Regelung der Kommission sachgerecht ist, wonach der errechnete Grundbetrag mit der Anzahl an Jahren bzw. Halbjahren zu multiplizieren ist, erscheint äußerst fraglich.182 Umgekehrt hätte die Kommission ebenso gut Monate oder Zweijahreszeiträume als Multiplikationsfaktor verwenden können. Mathematische Formeln zwingen zudem in der Regel zur Außerachtlassung der Besonderheiten im Einzelfall und sollten daher im deutschen Bußgeldrecht keine Anwendung finden. 2. Der den Kartellbeteiligten treffende Vorwurf

Als Ausdruck des Schuldprinzips muss sich der den fraglichen Kartellbeteiligten treffende Vorwurf in der Geldbuße niederschlagen. Dies bedeutet zum einen, dass der Kartellbeteiligte nur für diejenige Ordnungswidrigkeit und ihre Auswirkungen einzustehen hat, die dieser auch zu verantworten hat (sog. Strafbegründungsschuld). Zum anderen hat der Grad des Vorwurfs auch Einfluss auf die Sanktionshöhe, da die Sanktion in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung und zur Schuld des Täters stehen muss (sog. Strafzumessungsschuld).183 Der Vorwurf, der den Kartellbeteiligten trifft, richtet sich daher über die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit hinaus nach täterbezogenen Kriterien. Um welche es sich dabei handelt, kann dem strafrechtlichen Pendant zu § 17 Abs. 3 OWiG, der Vorschrift des § 46 Abs. 2 StGB entnommen werden. Zwar kann letztere schon aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung der Sanktionszumessungskriterien im Strafrecht und im Ordnungswidrigkeitenrecht nicht eins zu eins übertragen werden. Denn anders als im Bußgeldrecht ist gemäß § 46 Abs. 1 StGB allein die Schuld des Täters Grundlage für die Zumessung der Strafe. Dagegen spricht vor allem aber auch, dass der Gesetzgeber in § 17 Abs. 3 OWiG für das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht eigene Zumes180

Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (24). Rn. 24 der Bußgeldleitlinien, siehe Fn. 173. 182 Krit. Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 375; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 35. 183 Zur Strafzumessungsschuld und dem Grundsatz des schuldangemessenen Strafens vgl. bereits: Teil 3 § 1 B. I. (S. 336 ff.). Zur doppelten Funktion der Schuld zur Strafbegründung und Strafzumessung: umfassend Achenbach, Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, S. 2 ff.; ferner Lenckner/Eisele, in: Schönke/Schröder StGB, Vorbem. zu §§ 13 ff. Rn. 111 f.; Lackner/Kühl, StGB, Vor § 13 Rn. 22; Roxin, StrafR AT I, § 19 Rn. 54 f. 181

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sungskriterien installiert hat. Die Vorwerfbarkeit entspricht letztlich jedoch, wie bereits an anderer Stelle festgestellt wurde, weitestgehend der Schuld im Strafrecht, da beides die Verantwortlichkeit des Täters für das verwirklichte Unrecht bezeichnet.184 Der Gesetzgeber hat letztlich nur von der Übertragung des Begriffs „Schuld“ in das Ordnungswidrigkeitenrecht abgesehen, um den qualitativen Unterschied zwischen Straftat und Ordnungswidrigkeit im Hinblick auf das nur bei ersterer auszusprechende sozialethische Unwerturteil hervorzuheben.185 Daher können die Kriterien, die für die Feststellung der Schuld im strafrechtlichen Sinne entscheidend sind, auch für das Bußgeldrecht fruchtbar gemacht werden.186 Dementsprechend bezieht sich der Vorwurf, der dem Kartellbeteiligten zu machen ist, insbesondere auf die in der Tat zum Ausdruck kommende Einstellung des Kartellbeteiligten und die von ihm verfolgten Ziele, aber auch auf sein Verhalten vor, während und nach der Tat sowie auf die Auswirkungen der Tat und die konkrete Art der Ausführung.187 Daher indizieren zunächst vor allem besonders schwerwiegende Wettbewerbsschädigungen auch ein hohes Maß an Vorwerfbarkeit.188 Hingegen spielt es bei der Bemessung der Geldbuße – anders als im Bußgeldverfahren der Kommission189 – keine Rolle, ob der Kartellbeteiligte vorsätzlich oder fahrlässig handelte, da dieses subjektive Kriterium bereits für die Ermittlung des Bußgeldrahmens bzw. der Kappungsgrenze entscheidend ist. Wenngleich die Bußgeldleitlinien der Kommission die Vorwerfbarkeit als Zumessungskriterium nicht explizit erwähnen, finden sich doch diese indizierende Erwägungen unter den Punkten „Erschwerende Umstände“ und „Mildernde Umstände“. Die Kataloge sind nicht abschließend. Erwähnung findet jedoch etwa die Rolle des Kartellbeteiligten als Anführer oder Anstifter,190 was auch in der nationalen Rechtsprechung als den Grad der Vorwerfbarkeit erhöhender Umstand anerkannt ist.191 Gleiches gilt für eine besonders gleichgültige Einstellung gegen-

184

Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 1. a) aa) (S. 217 ff.). Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 46; Rogall, in: KK/OWiG, § 1 Rn. 8; Förster, in: RRH/OWiG, Vor § 1 Rn. 45; Gürtler, in: Göhler, OWiG, Vor § 1 Rn. 30. 186 Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 32; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 17. 187 Zu den Einzelheiten im Überblick: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 377 ff.; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 262 ff. 188 Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.5.2008, Az. VI-Kart 9–11/07 (OWi) – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern US-amerikanischer Streitkräfte, Rn. 86 (juris); Urt. v. 11.4.2007, Az. VI-Kart 5/06 (OWi) – Dinnershows, Rn. 83 (juris); Urt. v. 13.9.2006, Az. VI-Kart 2/06 – OTC-Präparate, WuW/E DE-R 1917 (1919), Rn. 38 (juris); siehe ferner bereits Teil 3 § 1 B. (S. 336 ff.). 189 Rn. 29, 2. Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien der Kommission, siehe Fn. 173. 190 Rn. 28, 3. Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien der Kommission, siehe Fn. 173. 191 OLG Düsseldorf, Urt. v. 11.4.2007, Az. VI-Kart 5/06 (OWi) – Dinnershows, Rn. 84 (juris); Urt. v. 13.9.2006, Az. VI-Kart 2/06 – OTC-Präparate, WuW/E DE-R 1917 (1919), Rn. 38 (juris); Urt. v. 26.3.2003, Az. VI-Kart 26–29/01 OWi – Kampfschuhe, Rn. 48 (juris); Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 35. 185

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

über der Wettbewerbsordnung, die etwa in der bewussten Ignoranz einer kartellbehördlichen Abmahnung192 oder einer wiederholten Zuwiderhandlung193 zum Ausdruck kommt.194 Bei natürlichen Personen kommt nach der Auffassung nationaler Gerichte erschwerend hinzu, wenn diese in ihrer Leitungsfunktion eine Zuwiderhandlung initiiert haben.195 Umgekehrt kann ein aktives Bemühen zur Verhinderung von Zuwiderhandlungen,196 die in einer aktiven oder passiven Mitwirkung bei der Aufklärung der Tat zum Ausdruck kommende Einsicht,197 aber auch der Umstand, dass der Kartellbeteiligte von anderen zur Zuwiderhandlung gedrängt oder angestiftet wurde198 oder sich aufgrund einer wirtschaftlichen Zwangslage zur Beteiligung entschloss,199 den Grad der Vorwerfbarkeit mindern. Mit Ausnahme der aktiven Zusammenarbeit200 erwähnt die Kommission diese, eine geringere Vorwerfbarkeit begründenden Umstände nicht. Die Ausübung von Druck oder Drohung gegenüber anderen Beteiligten wird lediglich als erschwerender Umstand gewertet.201 Umgekehrt will die Kommission zudem eine Verweigerung der Zusammenarbeit als erschwerenden Umstand werten. Dies ist

192 LKartB Bayern, Ents. v. 16.10.1974, Az. 5555a-Vi/7c-45717 – Zahntechniker-Innung, WuW/E LKartB 183 (185). 193 KG Berlin, Beschl. v. 17.9.1992, Az. Kart 12/91 – Einflussnahme auf die Preisgestaltung, WuW/E OLG 5053 (5062); BKartA, TB 1983/84, BT-Drs. 10/3550, S. 95. 194 Rn. 28, 1. Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien, siehe Fn. 173. 195 KG Berlin, Beschl. v. 11.9.1998, Az. Kart 2/98 – Osthafenmühle, WuW/E DE-R 228 (232). 196 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 271; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 66; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 379. 197 Ausführlich bereits Teil 2 § 4 E. V. 1. (S. 216 ff.) und Teil 2 § 4 F. IV. 1. (S. 307 ff.). Zur bußgeldmindernden Berücksichtigung der Offenbarung einsichtigen Bedauerns kartellrechtswidrigen Verhaltens auch: OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1747), Rn. 860 (juris); ähnlich: Urt. v. 8.1.2004, Az. VI-Kart 48–50/01 OWi, Rn. 94 (juris); Urt. v. 26.3.2003, Az. VI-Kart 26–29/01 OWi – Kampfschuhe, Rn. 49 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2003, Az. VI-Kart 9 bis 11/03, Rn. 45 (juris). 198 OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 129 (juris); Beschl. v. 31.1.2005, Az. VI-Kart 51/01 OWi – Transportbeton in C., WuW/E-DE-R 1433, Rn. 31 (juris); weitere Nachweise bei Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 382; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 267; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 57. 199 KG Berlin, Beschl. v. 17.3.1993, Az. Kart 16/91 – Treibstoffzuschläge, WuW/E OLG 1521 (5131); vgl. auch das OLG Düsseldorf, das das Bußgeld bei dem Bestreben nach einem auskömmlichen Geschäft ohne übermäßiger Gewinnsucht minderte: Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 133 (juris); Urt. v. 27.5.2008, Az. VI-Kart 9–11/07 (OWi) – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern USamerikanischer Streitkräfte, Rn. 85 (juris); Urt. v. 13.9.2006, Az. VI-Kart 2/06 – OTCPräparate, WuW/E DE-R 1917 (1919), Rn. 38 (juris); Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/ 05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1747), Rn. 860, 885 (juris). 200 Rn. 29, 4. Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien, siehe Fn. 173. 201 Rn. 28, 3. Spiegelstrich der Bußgeldleitlinien, siehe Fn. 173.

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mit dem „nemo tenetur“-Grundsatz unvereinbar und kann daher nicht ins deutsche Kartellbußgeldrecht übertragen werden.202 3. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kartellbeteiligten

Nach § 17 Abs. 3 S. 2 OWiG kommt zudem die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Kartellbeteiligten „in Betracht“. Wenngleich der Gesetzgeber die Regelung als „Kann-Vorschrift“ ausgestaltet hat, kommt dem Kriterium eine weitaus bedeutendere Rolle zu. Ausweislich der Begründung zum Regierungsentwurf des OWiG 1968 habe die Verfolgungsbehörde bei nicht nur geringfügigen Ordnungswidrigkeiten die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters grundsätzlich in Betracht zu ziehen und zu prüfen, ob sachliche Gründe für ein Absehen von deren Berücksichtigung gegeben sind.203 Diese Begründung spricht, entgegen dem Wortlaut, eher für eine intendierte Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse, jedenfalls soweit hohe Geldbußen verhängt werden sollen.204 Zurückzuführen ist dies auf das gesetzgeberische Anliegen, den Täter von weiteren Ordnungswidrigkeiten abzuschrecken. Dies ist nur sichergestellt, wenn die Geldbuße den Täter spürbar trifft, was wiederum von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen abhängt.205 Folgerichtig wird das Zumessungskriterium im Kartellbußgeldrecht als gleichrangig neben der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und dem Vorwurf, der dem Täter zu machen ist, angesehen.206 Ähnlich will die Kommission, um einen höheren spezialpräventiven Effekt zu erzielen, die Geldbuße erhöhen, wenn ein Kartellbeteiligter mit anderen, nicht kartellbehafteten Produkten sehr hohe Umsätze erzielt.207 Umgekehrt wirkt sich eine deutliche Verlustsituation des betreffenden Kartellbeteiligten bußgeldmindernd aus, wenn dieser durch die unveränderte Geldbuße in seiner Existenz gefährdet wird.208

202

Vgl. insoweit die Ausführungen in Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (1) (S. 240 ff.). Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 52. 204 KG Berlin, Beschl. v. 5.11.1998, Az. 2 Ss 371/98, 5 Ws (B) 626/98, Rn. 5 (juris) m.w. N.; OLG Hamm, Beschl. v. 22.4.2008, Az. 3 Ss OWi 582/07, ZfSch 2008, 408 (410), Rn. 18 (juris); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 22; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 84; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 25. 205 Begr. BRegE OWiG 1968, BT-Drs. V/1269, S. 52. 206 Vgl. etwa KG Berlin, Beschl. v. 30.12.1998, Az. Kart 19/97 – Straßenmarkierung, WuW/E DE-R 255 (256); BKartA, Ents. v. 20.3.1996, Az. B3-721111-A-14/94-4 – Straßenstrich, WuW/E BKartA 2871 (2873 f.); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 386; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 232, 272; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 87. 207 Rn. 30 der Bußgeldleitlinien, siehe Fn. 173. 208 Zu diesem Problem noch vertiefend: Teil 3 § 2 B. III. 4. (S. 384 ff.). 203

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

II. Die Vorteilsabschöpfung gemäß § 81 Abs. 5 S. 1 i.V. m. § 17 Abs. 4 OWiG Die Geldbuße „soll“ gemäß § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG nicht nur der Ahndung dienen, sondern darüber hinaus grundsätzlich auch die aus der Ordnungswidrigkeit gezogenen, wirtschaftlichen Vorteile abschöpfen. Dazu darf die Verfolgungsbehörde grundsätzlich auch den Regelbußgeldrahmen gemäß § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG überschreiten. Die Vorschrift reduziert das Ermessen der zuständigen Verfolgungsbehörde, wie sich aus der Konstruktion als „Soll-Vorschrift“ ergibt, im Regelfall hin zu einer Pflicht die Vorteile abzuschöpfen und lässt nur in atypischen Fällen eine Geldbuße zu, die unterhalb des erlangten wirtschaftlichen Vorteils angesiedelt ist. Nach § 81 Abs. 5 GWB soll die Vorschrift jedoch mit der Maßgabe Anwendung finden, dass der wirtschaftliche Vorteil lediglich abgeschöpft werden „kann“, es also im Ermessen des Bundeskartellamtes steht, eine Geldbuße mit der doppelten Funktion der Ahndung und Abschöpfung festzusetzen. Für das Kartellbußgeldrecht beabsichtigte der Gesetzgeber eine Annäherung der deutschen Geldbuße an diejenige der Kommission zu erreichen, für welche anerkannt sei, dass sie lediglich einen Sanktionscharakter aufweise.209 Dementsprechend solle das Bundeskartellamt lediglich eine ahndende Geldbuße erlassen können.210 Darüber hinaus bleibe es ihm jedoch unbenommen, eine gleichzeitig den wirtschaftlichen Vorteil abschöpfende Geldbuße im Bußgeldverfahren zu verhängen oder aber den wirtschaftlichen Vorteil in einem separaten Verwaltungsverfahren gemäß § 34 GWB abzuschöpfen.211 Wenn das Bundeskartellamt eine Vorteilsabschöpfung in Erwägung zieht, muss es die wirtschaftlichen Vorteile, die aus der Ordnungswidrigkeit gezogen wurden,212 ermitteln und anschließend mit den damit verbundenen Kosten, vor allem erbrachten Steuerzahlungen,213 und Aufwendungen verrechnen.214 Stellt es danach fest, dass der fragliche Kartellbeteiligte zwar mit der Zuwiderhandlung sein Vermögen vermehrt hat, diesem der Vermögenszuwachs allerdings aufgrund anderer Umstände nicht geblieben ist, muss es dies berücksichtigen.215 Denn es 209

Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 42. Zu den diesbezüglichen Einschränkungen siehe noch Teil 3 § 2 B. IV. 1. (S. 405 ff.). 211 Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 42, 67. 212 Zu den Einzelheiten etwa Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 117; speziell im Kartell-Bußgeldrecht: Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 295. 213 BVerfG, Urt. v. 23.1.1990, Az. 1BvL 4, 5, 6, 7/87, BVerfGE 81, 228 ff. 214 Prinzip der Saldierung, statt aller Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 117; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 296 m.w. N. 215 Ebenso BayOLG, Beschl. v. 27.8.1997, Az. 3 ObOWi 93/97, NStZ-RR 1998, 79 (80), Rn. 6; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 121; wohl auch Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 42; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 51; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 309, 311. 210

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kann schon begrifflich nur solche wirtschaftlichen Vorteile abschöpfen, die auch noch in der Sphäre des Kartellbeteiligten vorhanden sind. Zudem ist es Sinn und Zweck des § 17 Abs. 4 OWiG, den Täter so zu stellen, dass er keinen Vorteil aus seiner Ordnungswidrigkeit behält, sondern darüber hinaus eine finanzielle Einbuße hinnehmen muss.216 Wenn der Kartellbeteiligte jedoch keinen wirtschaftlichen Vorteil mehr verzeichnen kann, bleibt nur noch Raum für eine reine Ahndung. Gleichermaßen kann es das Bundeskartellamt nicht unberücksichtigt lassen, wenn dem Kartellbeteiligten bei einer vollständigen Abschöpfung der wirtschaftliche Ruin drohte. Dies gilt sowohl für natürliche Personen, als auch für Unternehmen. Zwar soll bei Unternehmen bereits die – auch im Fall der gleichzeitig abschöpfenden Geldbuße anwendbare217 – Kappungsgrenze eine Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz generell verhindern; die Existenz einer gesetzlichen Rahmenbestimmung entbindet das Bundeskartellamt jedoch nicht davon, im Rahmen seiner pflichtgemäßen Ermessensausübung die Umstände im konkreten Einzelfall zu prüfen und abzuwägen. Kommt das Bundeskartellamt danach zu dem Ergebnis, dass eine Geldbuße, die unterhalb der Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB liegt, zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch der betreffenden juristischen Person führen würde, stellt sich die Frage, ob es angesichts des Übermaßverbots überhaupt noch eine unmittelbare, vollstreckbare Abschöpfung der erlangten wirtschaftlichen Vorteile anordnen darf, ihm also noch ein Handlungsspielraum im konkreten Fall bleibt. Dem ist noch zu einem späteren Zeitpunkt nachzugehen.218 III. Weitere Zumessungskriterien außerhalb der §§ 81 GWB, 17 OWiG 1. Sanktionszwecke der Geldbuße

Ein weiteres Zumessungskriterium für die Kartellgeldbuße könnte sich aus einem direkten Rückgriff auf die Sanktionszwecke der Geldbuße ergeben. Hierbei geht es nicht so sehr um den eindeutigen Pflichtenappell und die Vorteilsabschöpfung, welchen jedenfalls beim Erlass einer sowohl ahndenden als auch abschöpfenden Geldbuße ohnehin nachgekommen wird. Vielmehr stellt sich die Frage, ob die Bußgeldhöhe auch davon abhängig gemacht werden kann, dass von ihr eine „angemessene“ spezial- und generalpräventive Wirkung ausgeht. Die Kommission will nach Randnummer 30 ihrer Bußgeldleitlinien insbesondere darauf achten, dass die von ihr erlassene Geldbuße eine ausreichend abschreckende

216 BayOLG, Beschl. v. 25.4.1995, Az. 3 ObOWi 11/95, BayObLGSt 1995, 76 (78 f.); Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 116, 121; jeweils m.w. N. 217 Vgl. Teil 3 § 2 A. III. (S. 368 ff.). 218 Siehe Teil 3 § 2 B. III. 4. (S. 384 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

Wirkung entfaltet, und zu diesem Zweck gegebenenfalls einen Abschreckungsaufschlag erheben. Grundsätzlich ist Prävention ein zulässiger Ahndungsgrund.219 Zur Erreichung einer verbesserten Spezialprävention kann ein solches Vorgehen im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht jedoch nicht überzeugen, da die angemessene Abschreckung des Täters bereits über die Berücksichtigung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse erfolgen soll. Dieses gesetzlich geregelte Zumessungskriterium ist, wie soeben aufgezeigt wurde, neben der Bedeutung der Zuwiderhandlung und dem Vorwurf ein zwingend bei der Zumessung von Kartellgeldbußen zu berücksichtigen. Ein weiterer Aufschlag würde über das angemessene Maß hinausgehen und daher gegen das Übermaßverbot verstoßen. Versteht man Generalprävention negativ im Sinne von Abschreckung der Allgemeinheit, bedarf es für einen entsprechenden Aufschlag konkret darzulegender oder nachgewiesener Hinweise für eine tatsächlich gesteigerte Nachahmungsgefahr, wie dies etwa bei einer sich häufenden Zahl vergleichbarer Zuwiderhandlungen anzunehmen wäre.220 Nur dann rechtfertigt sich eine Erhöhung der Geldbuße, um potentielle Täter von Kartellverstößen abzuhalten. Eine pauschale Abschreckung „ins Blaue hinein“, ohne konkreten Anlass und auf Kosten eines einzelnen Kartellbeteiligten ist hingegen unzulässig. Das Ziel der positiven Generalprävention im Sinne einer Stärkung des Rechtsbewusstseins der Allgemeinheit mag eine Anpassung der Geldbußhöhe im Einzelfall rechtfertigen, da die Intensität des Wettbewerbsschutzes entscheidend von der Akzeptanz des § 1 GWB und des Art. 101 AEUV in der Bevölkerung abhängt. Allerdings ist dabei zu beachten, dass eine überzeugende Sanktion nur eine solche ist, die sowohl vom Täter selbst, als auch von der Allgemeinheit noch als „gerecht“ empfunden werden kann; sie muss daher weit überwiegend auf den greifbaren Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG beruhen.221 2. Verbot der Doppelverwertung

§ 46 Abs. 3 StGB verbietet es, bei der Strafzumessung Umstände zu berücksichtigen, die bereits als Tatbestandsmerkmale berücksichtigt wurden. Das in der Vorschrift kodifizierte Doppelverwertungsverbot findet nach allgemeiner Meinung als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im Bußgeldrecht analoge Anwen219 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.8.1994, Az. 2 Ss (OWi) 223/94 – (OWi) 78/94 II, wistra 1995, 75 f.; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 42; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 16; jeweils m.w. N. 220 BGH, Urt. v. 20.3.1986, Az. 4 StR 87/86, NStZ 1986, 358; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 3.8.1994, Az. 2 Ss (OWi) 223/94 – (OWi) 78/94 II, wistra 1995, 75 f.; Beschl. v. 30.10.1992, Az. 5 Ss (OWi) 345/92 – (OWi) 144/92 I, wistra 1993, 119; krit. Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 278. 221 Siehe bereits die Ausführungen in Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) aa) (S. 206 ff.); gänzlich abl. daher: Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 278; a. A. Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 362.

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dung.222 Demnach dürfen Kriterien, die der Begründung der Bußgeldahnung dienen, nicht nochmals zur Rechtfertigung einer Erhöhung oder Verringerung der Geldbuße herangezogen werden.223 Ein solcher Fall wäre etwa gegeben, wenn das Bundeskartellamt es bußgeldschärfend berücksichtigen würde, dass eine natürliche Person nicht nur bewusst im Sinne des § 9 OWiG an einer Zuwiderhandlung mitgewirkt hat, sondern noch dazu den Auftrag an seine ihm unterstellten, abhängigen Mitarbeiter gab wettbewerbswidrige Absprachen zu tätigen.224 Da der Gesetzgeber bereits mit dem Bußgeldtatbestand und der Regelung des § 17 Abs. 2 OWiG eine grundlegende Entscheidung für die Bußgeldandrohung bei vorsätzlichen und fahrlässigen Ordnungswidrigkeiten getroffen hat, der Gesichtspunkt also bereits den Sanktionsrahmen bestimmt, darf es sich für die betreffende Person nicht strafschärfend auswirken, dass dieser mit Absicht gehandelt hat. Umgekehrt darf nicht bußgeldmindernd berücksichtigt werden, dass die betreffende Person nicht vorsätzlich, sondern nur einfach fahrlässig handelte.225 Das Doppelverwertungsverbot gilt zudem über die eigentlichen Tatbestandsmerkmale hinaus für alle Gesichtspunkte, die den Gesetzgeber dazu bewogen haben, eine Bußgeldnorm zu schaffen, also insbesondere für den Normzweck und dem Stellenwert des geschützten Rechtsguts.226 Daher ist es dem Bundeskartellamt etwa verwehrt, den Umstand, dass der Wettbewerb einen hohen Stellenwert für die Freiheitsrechte vieler Individuen und die Volkswirtschaft hat, seine Schädigung also in hohem Maße sozialschädlich ist, strafschärfend zu berücksichtigen.227 Lediglich schwerwiegende Auswirkungen der konkreten Tat sind für die Einordnung der Schwere und Bedeutung der Zuwiderhandlung relevant.228

222 Vgl. nur Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 32; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 17; jeweils m.w. N. 223 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.2.1992, Az. 5 Ss (OWi) 363/92 – (OWi) 149/92 I, Rn. 15. 224 Ähnlich OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.10.1992, Az. 1 Ws (OWi) 878/91, 5 Ss (OWi) 309/92 – (OWi) 132/92 I, Rn. 27 (juris). 225 Zur unzulässigen Doppelverwertung zugunsten des Täters vgl. etwa: BGH, Urt. v. 19.5.2010, Az. 2 StR 102/10, NStZ 2011, 100, Rn. 7 f. (juris). 226 BayOLG, Beschl. v. 8.2.1994, Az. 3 ObOWi 3/94, ZLR 1995, 330, Rn. 19 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.6.1999, Az. 2a Ss (OWi) 148/99 – (OWi) 49/99 II, StraFo 1999, 387 (388), Rn. 11 (juris); Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 32; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 16; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 17; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 370; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 253. 227 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 370; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 253. Problematisch ist daher der Hinweis des OLG Düsseldorf im Fall Berliner Transportbeton I, dass es sich bei der Ahndung eines Quotenkartells auch davon habe leiten lassen, dass der Wettbewerb eine hohe Bedeutung habe. Vgl. Beschl. v. 6.5.2004, Az. Kart 41–43 und 45–47/01 OWi – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1315 (1320), Rn. 221. 228 Teil 3 § 2 B. I. 1. (S. 375 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes 3. Überlange Verfahrensdauer

Es ist anerkannt, dass eine überlange Verfahrensdauer, die gegen das Beschleunigungsgebot als Teilgewährung des Rechts auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren verstößt,229 sanktionsmindernd Berücksichtigung finden muss.230 Entgegen der früher von den Gerichten praktizierten Ermäßigung der Geldbuße nach genauer Feststellung der rechtsstaatswidrigen Verzögerung und der Ermittlung des angemessenen Kompensationsmaßes, der zu einer unmittelbaren Sanktionsminderung führte, ist nach der Rechtsprechung des Großen Senats für Strafsachen nunmehr jedoch die Verfahrensverzögerung zunächst festzustellen und – soweit erforderlich – die Geldbuße in Höhe der ermittelten Kompensation für (teilweise) vollstreckt zu erklären.231 Folgerichtig zeitigt eine Verfahrensverzögerung keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Bußgeldbemessung und damit auf das Sanktionszumessungsermessen mehr. 4. Sanktionsbedingte Zahlungsunfähigkeit („Inability to Pay“)

Jede Bußgeldbemessung muss sich schließlich ergänzend zum Gebot schuldangemessenen Strafens stets an dem im Rechtsstaatsprinzip und in den Grundrechten des Bußgeldadressaten verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bzw. Übermaßverbot232 messen lassen.233 Die legitimen Sanktionszwecke müssen da229 Zur verfassungsrechtlichen Verankerung und Anerkennung des „fair trail“Grundsatzes: Teil 2 § 4 E. V. 2. b) aa) (S. 255 ff.). 230 BVerfG, Beschl. v. 24.11.1983, Az. 2 BvR 121/83 – Vorprüfungsausschuss, NJW 1984, 967 f., Rn. 11 (juris); Beschl. v. 19.3.1992, Az. 2 BvR 1/91, NJW 1992, 2472 (2473), Rn. 31 ff. (juris); Beschl. v. 14.7.1994, Az. 2 BvR 1072/94, NJW 1995, 1277 (1278), Rn. 11 (juris); BGH, Beschl. 6.9.1988, Az. 1 StR 473/88, NJW 1990, 57, Rn. 3 (juris); Beschl. v. 4.11.2003, Az. KRB 20/03 – Frankfurter Kabelkartell, WuW/E DE-R 1233 (1235 f.), Rn. 21 f. (juris); Beschl. v. 15.3.2005, Az. 2 StR 320/04, NStZ 2005, 445 f., Rn. 4 (juris); Urt. v. 21.4.2001, Az. 3 StR 50/11, NStZ-RR 2011, 239, Rn. 4 f. (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 575 (juris); Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi) – Silostellgebühren I, WuW/E DE-R 3889 (3900), Rn. 149 ff. (juris); OLG Bamberg, Beschl. v. 4.12. 2008, Az. 3 Ss OWi 1386/08, NJW 2009, 2468 (2469), Rn. 16 (juris); BGH, Beschl. v. 26.2.2013, KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 87 ff. (juris). Vgl. auch Art. 41 EMRK. 231 BGH, Beschl. v. 17.1.2008, Az. GSSt 1/07 – Vollstreckungslösung, NJW 2008, 860 (862 ff.), Rn. 28 ff. (juris); inzident anerkannt durch das BVerfG, Beschl. v. 4.9. 2009, Az. 2 BvR 1089/09, Rn. 4 (juris); im Anschluss daran: BGH, Urt. v. 27.8.2009, Az. 3 StR 250/09, NJW 2009, 3734, Rn. 8 ff. (juris); Beschl. v. 16.3.2011, Az. 5 StR 585/10, Rn. 7 (juris); zur Anwendbarkeit im Bußgeldverfahren auch: OLG Bamberg, Beschl. v. 4.12.2008, Az. 3 Ss OWi 1386/08, NJW 2009, 2468 (2469); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.2.2008, Az. IV-5 Ss (OWi) 33/07 – (OWi) 9/08 I, NZV 2008, 534; Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 579. 232 Zum Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit etwa: BVerfG, Ents. v. 11.6. 1958, Az. 1 BvR 596/56 – Apotheken-Urteil, BVerfGE 7, 377 (404 ff.), Rn. 78 ff. (juris); Ents. v. 15.12.1965, Az. 1 BvR 513/65 – Wencker-Beschluss, BVerfGE 19, 342 (348 f.), Rn. 14 ff. (juris); Ents. v. 5.3.1968, Az. 1 BvR 579/67 – Zeugen Jehovas,

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her noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den letztlich für den Kartellbeteiligten mit der verhängten Geldbuße einhergehenden Belastungen stehen.234 Aus diesem Grund ist es allgemein anerkannt, dass die Geldbuße des Unternehmensinhabers im Falle einer gleichzeitigen Verhängung einer Verbandsgeldbuße zu mindern ist, da dieser andernfalls doppelt belastet würde.235 Besondere Relevanz erhält das Übermaßverbot darüber hinaus zunehmend in Fällen, in denen eine tatund schuldangemessene Geldbuße die Wettbewerbs- oder Funktionsfähigkeit einer kartellbeteiligten juristischen Person, also ihre Existenz gefährdet. a) Die in der Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassungen Die Literatur nimmt in diesen Fällen mehrheitlich an, dass sich das Ermessen des Bundeskartellamtes jedenfalls im Hinblick auf die unbedingte Bußgeldverhängung in einer solchen existenzgefährdenden Größenordnung auf null hin zu einer Unterlassenspflicht reduziere.236 Ähnlich haben auch die nationalen Gerichte außerhalb des Kartellbußgeldrechts in Fällen entschieden, in denen dem Täter einer Ordnungswidrigkeit bei einer uneingeschränkten Vorteilsabschöpfung (nahezu) das gesamte Einkommen entzogen würde237 und dieser dadurch Insolvenz anmelden müsste oder eine ahnende Geldbuße dazu führen würde, dass ein BVerfGE 23, 127 (133), Rn. 12 f. (juris); Beschl. v .9.3.1994, Az. 2 BvL 43/92 u. a. – Cannabis, BVerfGE 90, 145 (173), Rn. 120 ff. (juris). 233 Ganz allg. M., statt aller: Achenbach, WuW 1997, S. 393 ff. (395 f.); Cramer/ Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 69; Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, § 81 Rn. 319; Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 117; Bohnert, OWiG, Rn. 21; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 21 ff.; jeweils m.w. N., auch aus der Rspr. 234 BVerfG, Ents. v. 25.7.1963, Az. 1 BvR 542/62 – Hirnkammerluftfüllung, BVerfGE 17, 108 (117), Rn. 28; Beschl. v. 26.5.1976, Az. 2 BvR 294/76 – Quick-Durchsuchung, BVerfGE 42, 212 (220), Rn. 31 (juris). 235 BRegE eines Gesetzes zur Ausführung des Zweiten Protokolls vom 19. Juni 1997 zum Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften, BT-Drs. 14/8998, S. 8; BGH, Beschl. v. 27.5.1986, Az. KRB 13/85, WuW/E BGH 2295 (2296); KG, Beschl. v. 2.9.1974, Az. Kart. 17/74 – Tierpflegemittel, WuW/E OLG 1569 f.; Urt. v. 30.4.1997, Az. Kart 10/96 – Jeans-Vertrieb, WuW/E DER 83 (88); Hannich, in: RRH/OWiG, § 30 Rn. 38 f.; Rogall, in: KK/OWiG, § 30 Rn. 156; Lemke/Mosbacher, OWiG, § 30 Rn. 16, 73; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vor § 81 Rn. 106, § 81 Rn. 285; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 90. 236 Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 168; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 284; ders., WuW 1997, S. 393 ff. (399, 402); Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, § 81 Rn. 387, 393; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 90. Vgl. ferner auch BKartA, Ents. v. 20.3.1996, Az. B3-721111-A-14/94-4 – Straßenstrich, WuW/E BKartA 2871 (2874) sowie BGH, Beschl. v. 18.2.1992, Az. KRB 13/91, NJWRR 1992, 1130 (1131), Rn. 14 (juris), in welcher dieser vergleichbare Erwägungen des BKartA nicht beanstandete. 237 So zum Fall, dass einem Schwarzarbeiter sein (rechtswidrig erlangtes) Einkommen vollständig entzogen wird: BayOLG, Beschl. v. 25.4.1995, Az. 3 ObOWi 11/95, BayObLGSt 1995, 76 (81); Beschl. v. 13.6.2003, Az. 3 ObOWi 50/03, wistra 2003,

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Täter seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten könnte.238 Dann sei eine vollständige Vorteilsabschöpfung unverhältnismäßig bzw. eine Verringerung der Geldbuße geboten. Demgegenüber werden in der europäischen Rechtsprechung eine die Kommission treffende Pflicht zur Berücksichtigung der defizitären Finanzlage eines betroffenen Unternehmens und eine daraus resultierende Pflicht zur Reduktion oder gar zum Erlass der Geldbuße abgelehnt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH „würde die Anerkennung einer solchen Verpflichtung nämlich darauf hinauslaufen, den am wenigsten den Marktbedingungen angepassten Unternehmen einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.“ 239

Das EuG hat daraus gefolgert, dass es dem Unionsrecht, insbesondere dem unter dem Vorbehalt der Allgemeininteressen gewährten Eigentumsrecht nicht widerspreche, wenn eine Geldbuße der Kommission zum Konkurs oder zur Auflösung eines Unternehmens führt.240 In der nun gut zwei Jahrzehnte unverändert 470; ebenso Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 312; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 55; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 46. 238 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.10.2006, Az. 1 Ss 82/06, NStZ 2007, 181 (182); speziell zur bußgeldmindernden Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse von Kartellbeteiligten: OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 48 ff. (juris); Urt. v. 27.5.2008, Az. VI-Kart 9-11/07 (OWi) – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern US-amerikanischer Streitkräfte, Rn. 87 (juris); Urt. v. 11.4.2007, Az. VI-Kart 5/06 (OWi) – Dinnershows, Rn. 90 (juris); Urt. v. 8.1.2004, Az. VI-Kart 48–50/01 OWi – Transportbeton, Rn. 95 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10. 2003, Az. VI-Kart 9 bis 11/03, Rn. 45 (juris). 239 EuGH, Urt. v. 8.11.1983, verb. Rs. 96 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 u. 110/ 82 – IAZ/Kommission, Slg. 1983, 3369, Rn. 55; Urt. v. 28.7.2005, verb. Rs. C.189/02 P, C-202/02 P, C-205 bis 208/02 P und C-213/02 P – Dansk Rørindustri, Slg. 2005, I5425, Rn. 327; Urt. v. 29.6.2006, Rs. C-308/04 P – SGL Carbon, Slg. 2006, I-5977, Rn. 105; Urt. v. 10.5.2007, Rs. C-328/05 – SGL Carbon, Slg. 2007, I-3955, Rn. 100; Urt. v. 8.12.2011, Rs. C-389/10 P – KME, Slg. 2011-0000, Rn. 103. Ebenso das EuG, vgl. etwa Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-23/99 – LR AF 1998, Slg. 2002, II-1705, Rn. 308; Urt. v. 19.3.2003, Rs. T-213/00 – CMA CGM u. a., Slg. 2003, II-913, Rn. 351 mit zahlreichen weiteren Nachweisen; Urt. v. 15.6.2005, verb. Rs. T-71/03, T-74/03, T-87/03 und T-91/03 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2005, II-10, Rn. 333; Urt. v. 29.11.2005, Rs. T62/02 – Union Pigments, Slg. 2005, II-5066, 5130, Rn. 177; Urt. v. 29.11.2005, T-64/02 – Heubach, Slg. 2002, II-5146, Rn. 161; Urt. v. 12.9.2007, Rs. T-30/05 – Prym, Slg. 2007, II-107, Rn. 230. 240 EuG, Urt. v. 29.4.2004, verb. Rs. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T251/01 u. T-252/01 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2004, II-1181, Rn. 372; Urt. v. 15.6.2005, verb. Rs. T-71/03, T-74/03, T-87/03 und T-91/03 – Tokai Carbon u. a., Slg. 2005, II-10, Rn. 333; Urt. v. 29.11.2005, Rs. T-62/02 – Union Pigments, Slg. 2005, II-5066, 5130, Rn. 177; Urt. v. 29.11.2005, T-64/02 – Heubach, Slg. 2002, II-5146, Rn. 163. Vgl. aber auch die teilw. bußgeldreduzierende Berücksichtigung des „Inability to Pay“-Einwandes der Kommission im Fall Badezimmerausstattungen: Ents. v. 23.6.2010, COMP/39.092 (noch nicht in nicht-vertraul. F. veröffentlicht), Rn. 1320 ff., insb. 1343–1346, 1351– 1354, 1359–1362, 1367–1370, 1378–1381, in welchem die Kommission die belegten Einwände des durch die Geldbuße drohenden Bankrotts vor dem Hintergrund der anhaltenden, ökonomischen Krisen und der dadurch festgestellten Überkapazitäten akzeptierte. Da die assets der betroffenen Unternehmen im Falle ihrer Insolvenz dem Markt

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gebliebenen Rechtsprechung haben die Unionsgerichte allerdings in keinem der Fälle eine nachvollziehbare Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen. Aus der Vielzahl der Entscheidungen ließ sich vielmehr lediglich ein Urteil finden, dass zumindest den Hinweis enthält, dass eine durch eine Geldbuße bewirkte Insolvenz nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße.241 Der gefestigten europäischen Rechtsprechung folgt auch Stockmann, der jedoch über diese hinaus eine Berücksichtigung der finanziellen Schieflage betroffener Unternehmen im Rahmen der Bußgeldbemessung vor dem Hintergrund der Sanktionszwecke und des allgemeinen Gleichheitssatzes generell ablehnt.242 b) Verhältnismäßigkeit einer existenzgefährdenden Geldbuße Bei der Beurteilung, ob und inwieweit das Bußgeld bei drohender Existenzgefährdung zu einer Bußgeldreduktion führen muss, fließen viele Faktoren und Interessen zusammen, denen im Folgenden auf den Grund zu gehen ist. Die vom Bundeskartellamt ermittelte Geldbuße, die ein Unternehmen in seiner „Überlebensfähigkeit“ bedroht, müsste zur Erreichung der legitimen Sanktionszwecke, nämlich der repressiven „Vergeltung“ zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens, der Prävention neuerlicher Verstöße durch den Täter selbst und durch Dritte sowie der Abschöpfung des von ihm gezogenen Vorteils243 geeignet, erforderlich und angemessen sein.244 aa) Geeignetheit der Geldbuße Es dürfte außer Frage stehen, dass eine sehr hohe Geldbuße generell geeignet ist, einen (schwerwiegenden) Kartellverstoß zu „vergelten“. Jedenfalls im Hinblick auf das kartellbeteiligte Unternehmen hilft sie, auch weiteres kartellrechtswidriges Verhalten vorzubeugen, da dieses im Falle des tatsächlichen Zusammenbruchs de facto nicht mehr in der Lage sein würde, sich an wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen nochmals zu beteiligen. Inwieweit auch Dritte angesichts derarhöchstwahrscheinlich nicht erhalten blieben und eine Steigerung der Arbeitslosigkeit drohte (!), sei eine Reduzierung der Geldbußen unerlässlich. 241 EuG, vgl. etwa Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-23/99 – LR AF 1998, Slg. 2002, II-1705, Rn. 309. 242 Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (22 ff.). 243 Vgl. Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 f.). 244 St. Rspr. zu den Voraussetzungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, vgl. etwa BVerfG, Ents. v. 5.1.1970, Az. 1 BvR 13/68 – Scheidungsakte, BVerfGE 27, 344 (352 f.), Rn. 23 (juris); Urt. v. 15.12.1983, Az. 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83 – Volkszählung, BVerfGE 65, 1 (54), Rn. 175 (juris); Beschl. v. 20.6.1984, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (173), Rn. 48 (juris); Beschl. v. 6.6.1989, Az. 1 BvR 921/85 – Reiten im Walde, BVerfGE 80, 137 (159 ff.), Rn. 81 ff.; Beschl. v. 26.4.1995, Az. 1 BvL 19/94, 1 BvR 1454/94, BVerfGE 92, 262 (273), Rn. 52 (juris).

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tiger Geldbußen von der Begehung rechtswidriger Zuwiderhandlung abgehalten werden, lässt sich bislang nicht nachvollziehen. Das Bundeskartellamt behauptet zwar, der Kommission entsprechend,245 mit hohen Geldbußen einen abschreckenden Effekt erzielen zu können.246 Ein solcher ließ sich jedoch bereits bei der Untersuchung der Bonusregelung im Hinblick auf die Kronzeugenanträge nicht nachweisen247 und ist, angesichts des Umstands, dass Geldbußen einkalkuliert werden (können), auch generell zu bezweifeln.248 Jedenfalls dem Ansinnen einer stärkeren Einübung der Rechtstreue im Sinne der positiven Generalprävention wird die Geldbuße dennoch gerecht. So führt sie dazu, dass das Vertrauen des Bürgers in das Wettbewerbsrecht durch dessen uneingeschränkte Durchsetzung gestärkt wird. Dies trägt zur Stabilisierung der Normerwartungen und zu Rechtsfrieden bei.249 Zur Abschöpfung ist eine – die Existenz des betreffenden Unternehmens gefährdende – Geldbuße nur geeignet, wenn der betroffenen juristischen Person tatsächlich die rechtswidrig erlangten Vorteile wieder genommen werden können. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass sich der Kartellverstoß für den Kartellbeteiligten nicht lohnen soll. Eine Geldbuße, die hinter den ermittelten abschöpfbaren Vorteilen zurückbleibt, etwa, weil die Kappungsgrenze Anwendung finden musste,250 erfüllt daher zumindest nicht ausreichend ihre Abschöpfungsfunktion. Allerdings ist insoweit zu bedenken, dass die besagten Vorteile bei juristischen Personen, die sich zum Zeitpunkt der Bußgeldentscheidung bereits in einer desolaten wirtschaftlichen Verfassung befinden, in der Regel ohnehin nicht mehr (vollends) verfügbar sind. Dies ist jedoch Voraussetzung für eine Abschöpfung.251 Auf Surrogate kann insoweit nicht zurückgegriffen werden. Demgemäß kann eine Geldbuße, die zu einer Existenzvernichtung des betreffenden Unternehmens führt, relativ sicher nur der repressiven Ahndung und der positiven Generalprävention gerecht werden. bb) Erforderlichkeit Die Geldbuße mit existenzvernichtenden Auswirkungen müsste auch erforderlich sein, um die Sanktionszwecke zu erreichen. Dies wäre der Fall, wenn dem 245 Daher befürchtet auch die Kommission bei einer zu nachgiebigen „Inability to pay“-Praxis einen nachlassenden Abschreckungsgrad der Geldbußen, vgl. Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 4. 246 BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 9. 247 Vgl. Teil 2 § 4 F. IV. 1. a) (S. 307 f.). 248 Siehe bereits Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.). 249 Sog. Gedanke der Integrationsprävention, dazu vertiefend etwa Roxin, StrafR AT I, § 3 Rn. 27. 250 Vgl. Teil 3 § 2 A. III. (S. 368 ff.). 251 Vgl. insoweit bereits die Ausführungen in Teil 3 § 2 B. II. (S. 380 f.).

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Bundeskartellamt kein zumindest gleich geeignetes, das Recht auf freie, unternehmerische Entfaltung gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 12 und Art. 14 GG weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung stünde.252 Als definitiv mildere Alternative zur wahrscheinlich existenzvernichtenden Geldbuße kommt aus Sicht des Kartellbeteiligten grundsätzlich eine zur Verhinderung dieses Szenarios erforderliche reduzierte oder gar erlassene Geldbuße in Betracht. Es gibt jedoch Stimmen in der Literatur, die bereits Vollstreckungsvereinbarungen, wie die zeitweilige Stundung, die Vereinbarung von Ratenzahlungen oder die Ausstellung eines Besserungsscheins für ausreichend halten.253 Da die Höhe der Geldbuße dabei also nicht angetastet, sondern lediglich die Zahlungsbedingungen, insbesondere die Fälligkeit der Forderung, modifiziert werden, erscheint diese Variante im Verhältnis zur Reduktion der Geldbuße zwar weniger „mild“, dafür aber besser zur Erreichung der Sanktionszwecke geeignet zu sein, da die zunächst ermittelte Geldbuße auf diese aufbaut. Entgegen vereinzelter Stimmen in der Literatur254 muss das mildere Mittel zumindest eine gleichwertige Erfolgswahrscheinlichkeit aufweisen wie die für schuld- und tatangemessen befundene, existenzgefährdende Geldbuße, also wenigstens genauso wirksam bzw. geeignet sein, um die Sanktionszwecke zu erreichen. Eine Relation zwischen der Wirksamkeit und der Intensität der Beeinträchtigung dahingehend, dass ein wesentlich milderes Mittel mit einer nur „ein wenig“ geringeren Wirksamkeit vorzuziehen ist, findet auf der Ebene der Erforderlichkeit nicht statt; derartige Erwägungen sind im Rahmen der Angemessenheit des erstrebten Mittels anzustellen.255 Im Folgenden ist daher zunächst zu untersuchen, ob die für den Kartellbeteiligten vorzugswürdige Bußgeldreduktion (auf null) auch im Rahmen einer Gesamtbetrachtung tatsächlich als „milderes Mittel“ anzuerkennen ist (2) und sie zumindest ebenso effektiv ist wie die Durchsetzung des vollständigen Sanktionsanspruchs (3). Denn nur unter diesen Voraussetzungen ist davon auszugehen, dass das Bundeskartellamt das Mittel der Bußgeldreduktion (auf null) wählen muss, selbst wenn sich die Vollstreckungsvereinbarungen im Verhältnis zur sofort durchsetzbaren, unveränderten Geldbuße als gleichermaßen wirksam und gegenüber der Bußgeldreduktion als besser geeignet erweisen sollten (1), da die sofort oder später fällige volle Geldbuße dann nicht erforderlich ist.

252 Zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: vgl. nur BVerfG, Beschl. v. 6.6.1989, Az. 1 BvR 921/85 – Reiten im Walde, BVerfGE 80, 137 (160), Rn. 84; Urt. v. 14.7.1999, Az. 1 BvR 2226/94, 1 BvR 2420/95, 1 BvR 2437/95 – Telekommunikationsüberwachung, BVerfGE 100, 313 (375), Rn. 268 ff. (juris). 253 Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (28 f.). 254 Sachs, GG, Art. 20 Rn. 153; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183. 255 So die wohl überwiegende Auffassung, vgl. nur Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 116 m.w. N.; a. A. Sachs, GG, Art. 20 Rn. 153.

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(1) Vollstreckungsvereinbarungen als gleichgeeignetes, milderes Mittel? Da Vollstreckungsvereinbarungen der Durchsetzung des vollständigen staatlichen Sanktionsanspruchs dienen sollen, scheinen sie auf dem ersten Blick ein gleich geeignetes und milderes Mittel als die sofort vollstreckbare Geldbuße zu sein. Ob dem tatsächlich so ist, soll im Folgenden untersucht werden. Mögliche Vollstreckungsvereinbarungen sind Ratenzahlungs- und Stundungsvereinbarungen sowie die Bewilligung eines Besserungsscheins. Bei einem Besserungsschein handelt es sich um einen auflösend bedingten Schuldenerlass. Grundsätzlich gilt die Schuld gegenüber dem Bund als erloschen, allerdings lebt sie wieder auf, wenn sich die wirtschaftliche Lage des Kartellbeteiligten verbessert, etwa wenn ein Jahresüberschuss erzielt wird oder Vermögen auf andere Art frei wird. Ein solcher erscheint gegenüber einem echten Bußgelderlass vorzugswürdig, da jedenfalls eine Chance besteht, dass das Bundeskartellamt zu einem späteren Zeitpunkt den staatlichen Sanktionsanspruch vollstrecken kann. Tritt die auflösende Bedingung ein und wird die Geldbuße an den Bund geleistet, entfaltet die Geldbuße ihre volle Ahndungs-, Abschöpfungsund Präventionsfunktion. Gegenüber einer reduzierten Geldbuße hat der Besserungsschein allerdings zwei entscheidende Nachteile. Zum einen kann der Kartellbeteiligte seine Bilanz manipulieren und quasi dafür sorgen, dass kein Überschuss entsteht. Zum anderen ist längst nicht in jedem Fall sicher, dass der betreffende Kartellbeteiligte sich tatsächlich wirtschaftlich erholt und der Sanktionsanspruch jemals durchgesetzt werden kann. Letzteres gilt auch für die Stundungsvereinbarung. Es ist durchaus möglich, dass der Kartellbeteiligte auch nach Ablauf des Stundungszeitraums nicht in der Lage sein wird, die Geldbuße in ihrer Gesamthöhe aufzubringen, oder dass er innerhalb des Stundungszeitraums gar aus anderen Gründen aus dem Markt ausscheiden muss. In beiden Fällen würden die Sanktionszwecke nicht erreicht. Die Wirkung des Besserungsscheins und der Stundung hängt entscheidend vom konkreten Einzelfall ab; ihre generelle Geeignetheit zur Erreichung der Sanktionszwecke, wie sie die sofort vollstreckbare Geldbuße erzielt, kann daher nicht festgestellt werden. Die Einräumung von Ratenzahlungen kann ebenfalls die Auswirkungen der Geldbuße auf den Kartellbeteiligten, der sich bereits in einer Verlustsituation befindet, abmildern und gegebenenfalls vorübergehende Zahlungsschwierigkeiten und den wirtschaftlichen Zusammenbruch verhindern. Mit der Leistung der Raten werden auch stufenweise die Sanktionsziele erreicht, wobei man mit Blick auf die Repressionsfunktion einschränkend feststellen muss, dass ein stückweises Abtragen einer „Schuld“ weniger spürbar ist als der sofortige gesamte Entzug der wertmäßig der Geldbuße entsprechenden, liquiden Mittel. Problematisch ist jedoch, dass das Ziel der Anerkennung der Leistungsunfähigkeit des Kartellbeteiligten unter Umständen nicht gänzlich erfüllt werden kann, die Ratenzahlungsvereinbarung also nicht zwangsläufig „milder“ ist. Der Verschuldungsgrad des

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Kartellbeteiligten bleibt nämlich unverändert hoch, wenn die Geldbuße nicht reduziert wird. Die Forderung des Bundes zeitigt für den Zahlungszeitraum weiterhin Auswirkungen auf die Bilanz des Kartellbeteiligten, sodass diesem eine für die Sanierung notwendige, strategische Planung erschwert wird.256 Hinzu können Probleme bei der Beschaffung von liquiden Mitteln kommen, da potentielle Gläubiger angesichts des mit der Geldbuße nochmals erhöhten Verschuldensgrads höherwertige Sicherheiten und ungünstigere Konditionen verlangen werden. Dadurch werden wiederum notwendige Investitionen gebremst. Dies gilt umso mehr, wenn das Bundeskartellamt für die Gewährung von Ratenzahlungen selbst Sicherheiten verlangt und Zinsen erhebt. Verzichtet es umgekehrt auf Sicherheiten, besteht wie bei der Einräumung einer Stundung oder der Ausstellung eines Besserungsscheins das Risiko eines nicht (vollständig) durchsetzbaren Sanktionsanspruchs. Ratenzahlungsvereinbarungen können daher womöglich den sofortigen Zusammenbruch des Kartellbeteiligten verhindern; sie können diesen unter Umständen jedoch auch nur (kurzzeitig) hinauszögern. Dies ist jedenfalls anzunehmen, wenn die Höhe der Raten den verbleibenden Handlungsspielraum des Kartellbeteiligten stark oder nahezu gänzlich einengt, da das Unternehmen dann kaum mehr in der Lage ist, sich selbst zu sanieren. Vor diesem Hintergrund stellen Ratenzahlungsvereinbarungen das Bundeskartellamt vor die praktisch extrem schwierige Aufgabe,257 anhand der wirtschaftlichen Gesamtsituation des Kartellbeteiligten angemessene, dessen mittelfristigen Bankrott entgegenwirkende Teilzahlungsbeträge festzulegen.258 Angesichts der bestehenden Unsicherheiten ist es daher abzulehnen, Vollstreckungsvereinbarungen generell als mildere und gegenüber der sofort vollziehbaren Geldbuße gleichermaßen wirksame Mittel anzuerkennen. (2) Die Bußgeldreduzierung (auf null) als milderes Mittel? Die Bußgeldreduzierung stellt sich jedenfalls für den Kartellbeteiligten zweifellos als weniger intensiver Eingriff in sein Recht auf freie, unternehmerische Entfaltung dar. Allerdings darf sich eine solche auch nicht stärker belastend für Dritte und die Allgemeinheit auswirken. Dem einzelnen Grundrechtsträger soll nämlich nicht grundsätzlich Vorrang vor den Individualrechten Dritter und den Interessen der Allgemeinheit eingeräumt werden.259 256 Zutreffend: Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 12. 257 A. A. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (29). 258 Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 12. 259 BVerfG, Beschl. v. 6.10.1987, Az. 1 BvR 1086/82, 1 BvR 1468/82, 1 BvR 1623/ 82 – Arbeitnehmerüberlassung im Baugewerbe, BVerfGE 77 84 (110 f.), Rn. 86 (juris);

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(a) Aus Sicht der Allgemeinheit Auf die Allgemeinheit wirkt sich eine Geldbußenreduzierung zunächst insoweit negativ aus, als dass Kartellverfahren langwieriger und kostenintensiver werden, wenn das Bundeskartellamt stets prüfen muss, ob ein Unternehmen sanktionsbedingt in seiner Existenz gefährdet wird.260 Zusammen mit dem der Ermäßigung geschuldeten, nicht der Bundeskasse zugeflossenen Geldbußenanteil ergibt sich dadurch eine verschlechterte Verfahrenseffizienz für das Bundeskartellamt. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass das in seiner Existenz bedrohte Unternehmen durch die Bußgeldreduzierung dem betroffenen Markt erhalten bleibt. Dieser Fakt erfreut nicht nur die Eigner des Unternehmens, sondern entspricht grundsätzlich auch dem öffentlichen Interesse, da mangels Verringerung der Anzahl der Marktteilnehmer keine negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur zu erwarten sind und mit Abschluss des Bußgeldverfahrens freier Wettbewerb stattfinden kann. Sofern sich das zur Zeit der Bußgeldentscheidung in finanziellen Schwierigkeiten befindliche Unternehmen dann nicht selbst innerhalb der bestehenden Marktbedingungen zu erhalten vermag, lässt sich ein nach den Gesetzen des Wettbewerbs erforderlicher Marktaustritt nicht verhindern. In diesem Fall blieben bei einer Insolvenz oder einer Sanierungsfusion zumindest dessen personelle und materielle Werte dem Markt erhalten. Da im Einzelfall aber jedenfalls eine (mehr oder weniger gute) Chance besteht, dass sich das Unternehmen mit legalen Mitteln saniert und etabliert, erscheint ein durch staatliche Intervention „erzwungener“ Marktaustritt nicht vorzugswürdig. Vor allem aber besteht die Aufgabe des mit der Durchsetzung des Wettbewerbsrechts betrauten Bundeskartellamtes darin, die Märkte von künstlichen Wettbewerbsbeschränkungen freizuhalten und wettbewerbliche Marktstrukturen zu schützen.261 Es soll geBeschl. v. 14.11.1989, Az. 1 BvL 14/85, 1 BvR 1276/84 – Rückkehrverbot für Funkmietwagen, BVerfGE 81, 70 (91 f.), Rn. 66 (juris); Beschl. v. 30.3.1993, Az. 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 BvL 11/90 – Konkursvergütung, BVerfGE 88, 145 (164), Rn. 60 (juris). Das BVerfG lehnt in diesen Fällen, obgleich die Alternativen ebenso geeignet sind, jedoch – m. E. fälschlicherweise – die gleiche Wirksamkeit des Mittels ab, auch wenn es damit zu demselben Ergebnis gelangt. Wie hier: Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 114. 260 Holterhus, WRP 2011, S. 1406 ff. (1411); Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (28); zur europäischen „Inability to Pay“-Praxis auch Engelsing/Schneider, in: MK/EU WettbewerbsR, Art. 23 VO 1/2003 Rn. 160. 261 Ähnlich Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 3 f., die darauf hinweisen, dass es die Kommission als öffentliche Behörde vermeiden sollte, Wettbewerber und dessen Produktionsvermögen aus dem Markt zu drängen. Nochmals bekräftigend: Almunia, Rede im Rahmen des International Competition Law Forums in St. Gallen am 8.4.2011, Recent developments and future priorities in EU competition policy, SPEECH/11/243: „We have no interest in driving companies out of business.“, im Internet abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=SPEECH/11/243&format= HTML&aged=1&language=EN&guiLanguage=en).

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rade nicht durch eine zu rigorose Wettbewerbspraxis mittelbar wettbewerbsbeschränkende Marktstrukturen erzwingen. Gerade auf Märkten mit einem sehr hohen Konzentrationsgrad könnte sich der Austritt eines Marktteilnehmers für den Wettbewerb nämlich mittel- und langfristig schädlicher auswirken, als die durch eine Bußgeldreduzierung gegebenenfalls verursachte, ohnehin nur abstrakt feststellbare Verschlechterung der negativen Präventionswirkung des Geldbuße.262 Außerdem wird man an dieser Stelle auch ausnahmsweise arbeits- und sozialrechtliche Belange berücksichtigen müssen.263 Zwar hat das Bundeskartellamt grundsätzlich wettbewerbsfremde Erwägungen zu unterlassen,264 allerdings sind bei der Bewertung, ob ein Mittel im Vergleich zur ins Auge gefassten Maßnahme tatsächlich milder ist, alle Interessen in die Bewertung miteinzubeziehen. Abgesehen davon, dass die Durchsetzung des Kartellrechts im Wege eines Bußgeldverfahrens nicht insgesamt von derartigen Belangen abhängig gemacht wird, soll lediglich festgestellt werden, ob eine uneingeschränkte Durchsetzung angesichts der damit in Mitleidenschaft gezogenen Interessen tatsächlich geboten ist. Dies wird im Einzelfall zu verneinen sein. Denn es nützt der Allgemeinheit wenig, wenn eine rigorose Bußgeldpraxis zur Durchsetzung der Sanktionszwecke nur auf Kosten zahlreicher Arbeitsplätze möglich ist, deren Verlust zu einem Anstieg an Sozialkosten führt und die Volkswirtschaft, eventuell verbunden mit einem Kaufkraftrückgang, zusätzlich schädigt. Im Ergebnis sprechen daher die überwiegenden Gründe dafür, dass die Bußgeldreduzierung aus Sicht der Allgemeinheit das mildere Mittel zur Erreichung der Sanktionszwecke in den oben beschriebenen Fällen ist. (b) Aus Sicht der übrigen vom Bußgeldverfahren betroffenen, solventen Kartellbeteiligten Wird die Geldbuße eines Kartellbeteiligten wegen seiner wirtschaftlichen Schieflage reduziert, privilegiert das Bundeskartellamt diesen gegenüber anderen Kartellbeteiligten, denen die gemäß §§ 17 OWiG, 81 GWB ermittelte Geldbuße in vollen Umfang auferlegt wird. Bei letzteren greift das Bundeskartellamt damit nicht nur intensiver in ihr Recht auf freie, unternehmerische Entfaltung ein. Mittelbar kann die Bußgeldreduzierung auch eine wettbewerbliche Besserstellung des begünstigten Kartellbeteiligten zur Folge haben, in dem dieser seinen Wett262 Dies übersieht Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (27 f.), wenn er die Berücksichtigung des öffentlichen Interesses mithilfe der formalen Anforderungen der Kommission an die Geltendmachung der Zahlungsunfähigkeit in Frage stellt. 263 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 284; ders., WuW 1997, S. 393 ff. (402); Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 90; Cramer/ Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 69; Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, § 81 Rn. 393; Holterhus, WRP 2011, S. 1406 ff. (1410). 264 Derartige Erwägungen wurden bereits als Kriterien für die Ausübung des Verfolgungsermessens abgelehnt. Vgl. bereits Teil 2 § 4 D. (S. 183 ff.).

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bewerbsabstand zu den anderen (effizienten) Kartellbeteiligten verringert.265 Soweit die Bußgeldreduzierung bei einem Kartellbeteiligten also eine Ungleichbehandlung gegenüber den anderen Kartellbeteiligten begründet, wäre diese grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig.266 Ausgangspunkt für die Bewertung des Sachverhalts nach Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass alle Kartellbeteiligten an der gleichen Zuwiderhandlung mitgewirkt haben und daher bei der Bußgeldzumessung entsprechend dem gemeinsam verwirklichten Unrecht grundsätzlich gleich behandelt werden müssen. Die Gleichbehandlung wird wiederum sichergestellt, indem die Bußgeldzumessung für jeden Kartellbeteiligten nach den gleichen Kriterien erfolgt. Die Anwendung dieser Maßstäbe kann sich im Ergebnis für jeden Kartellbeteiligten unterschiedlich auswirken. So führt etwa bereits die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Schuldprinzips dazu, dass die umfangreichere Beteiligung eines Kartellbeteiligten in eine – im Vergleich zu anderen Kartellbeteiligten – erhöhte Geldbuße übersetzt werden muss, etwa weil dieser der Rädelsführer des fraglichen Kartells war. Auch führt die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Kartellbeteiligten bei einem solchen mit hohem Vermögen zu einem Anstieg der Geldbuße, während bei einem anderen Kartellbeteiligten etwa kein entsprechender Aufschlag vorzunehmen ist, weil die an der Bedeutung der Zuwiderhandlung und dem individuellen Vorwurf angepasste Geldbuße die Sanktionszwecke bereits hinreichend erfüllt. Diese Beispiele offenbaren, dass der Bußgeldzumessung durch die pflichtgemäße Anwendung des § 17 Abs. 3 OWiG und aufgrund verfassungsrechtlicher Implikationen eine „unterschiedliche Behandlung“ der Kartellbeteiligten immanent ist. Mehr noch ist sie intendiert, um die Verhängung einer individuell tat- und schuldangemessenen, für den einzelnen Kartellbeteiligten hinreichend abschreckenden Geldbuße sicherzustellen. Die von Kartellbeteiligten zu Kartellbeteiligten abweichenden bußgeldrechtlichen Konsequenzen stellen jedoch nicht die im Vorfeld durch die einheitliche Maßstabssetzung gewährleistete Gleichbehandlung aller in Frage. Wird die drohende Existenzgefährdung eines Unternehmens im Rahmen der Begutachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens vorgenommen, was sich letztlich auch praktisch anbietet,267 ist daher eine Ungleichbehandlung der Kartellbeteiligten nicht zu besorgen. Zwar soll die Bußgeldanpassung an die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters vordergründig sicherstellen, dass die Geldbuße den Adressaten des Bußgeldbe265 Jaeger, EuZW 2010, S. 881; Kienapfel/Wils, Inability to Pay – First cases and practical experiences, S. 4; Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 4; Holterhus, WRP 2011, S. 1406 ff. (1411). 266 Insoweit zutreffend Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (26). 267 So wohl auch die herrschende Meinung in der nationalen Rechtsprechung und Literatur, vgl. die Nachweise in den Fn. 236 bis 238.

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scheids hinreichend von weiteren Ordnungswidrigkeiten abschreckt.268 Unabhängig davon, dass eine Abschreckungswirkung allerdings nicht erzielt werden kann, wenn der Kartellbeteiligte aufgrund der Geldbuße zwangsläufig aus dem Markt ausscheidet, muss eine erhebliche Verlustsituation in die Zumessungserwägungen schon deshalb einfließen, weil umgekehrt auch eine gute vermögensrechtliche Aufstellung eines Kartellbeteiligten es rechtfertigen soll, dessen Geldbuße zu erhöhen.269 Nur auf diese Weise wird dem Grundsatz Rechnung getragen, dass jeder Kartellbeteiligte individuell nach allen Umständen der Zuwiderhandlung, seiner „Schuld“ und seiner individuellen Vermögenssituation sanktioniert wird. Da die Berücksichtigung der zu erwartenden Zahlungsunfähigkeit damit im Rahmen des Zumessungskriteriums der wirtschaftlichen Verhältnisse erfolgen sollte, fehlt es bereits an einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung der Kartellbeteiligten. Im Übrigen wäre eine solche wohl angesichts der im Einzelfall deutlich überwiegenden Allgemeininteressen objektiv gerechtfertigt. (c) Aus Sicht rechtstreuer, ineffizienter Marktteilnehmer Zum Teil wird vertreten, dass die Bußgeldreduzierung als „Rettungsanker“ für ineffiziente Kartellbeteiligte jene Marktteilnehmer benachteilige, die sich rechtskonform verhalten und sich ebenfalls in einer desolaten wirtschaftlichen Situation befinden, da ihre Existenz nicht durch staatliche Intervention gesichert werde.270 Obgleich es dem Gerechtigkeitsempfinden auf den ersten Blick durchaus widersprechen mag, einem Kartellbeteiligten im Gegensatz zu rechtstreuen Marktteilnehmern „auf die Beine zu helfen“, geht ein solches Verständnis jedoch zu weit. Von Bußgeldverfahren betroffene Kartellbeteiligte und rechtstreue Marktteilnehmer können schon nicht miteinander verglichen werden. Es geht bei der Bußgeldreduzierung nicht darum, dem Täter quasi eine Hilfestellung in seinen Sanierungsbestrebungen zu gewähren, die man rechtstreuen Markteilnehmern verweigert, sondern darum einen – gegenüber rechtstreuen Marktteilnehmern nicht bestehenden – angemessenen, staatlichen Sanktionsanspruch durchzusetzen. Der Kartellbeteiligte soll bestraft, jedoch nicht ruiniert werden. Daher kann die Bußgeldreduzierung auch nicht mit einer „Existenzgarantie“ gleich gesetzt werden.271 Das Bundeskartellamt sichert mit einer solchen nicht auf alle Ewigkeit die Überlebensfähigkeit des Kartellbeteiligten ab, sondern vermeidet allein, dass ein Bußgeldverfahren anstelle der Gesetze des Wettbewerbs einen wirtschaftlichen Zusammenbruch des fraglichen Unternehmens bewirkt. 268

Vgl. die Ausführungen und Nachweise in Teil 3 § 2 B. I. 3. (S. 379). Insoweit zu Unrecht krit. Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (26), der gegen die Berücksichtigung der sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit selbst anführt, „dass die wirtschaftliche Situation eines Unternehmens ohnehin regelmäßig bei der Ahndung berücksichtigt wird [. . .].“ 270 In diese Richtung Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (27). 271 So Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (27). 269

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(3) Gleiche Wirksamkeit der Bußgeldreduzierung (auf null)? Das damit mildere Mittel der Bußgeldreduzierung (auf null) müsste die Sanktionszwecke ebenso wie die existenzgefährdende Geldbuße uneingeschränkt erreichen können. (a) Vorteilsabschöpfung Verfügt das Unternehmen zum Entscheidungszeitpunkt noch über die aus der Zuwiderhandlung gezogenen wirtschaftlichen Vorteile, so ist deren Abschöpfung im Rahmen der Kappungsgrenze erforderlich, um dem Ziel gerecht zu werden, dem Täter nicht die Früchte seines rechtswidrigen Tuns zu belassen. Kann dem Kartellbeteiligten aufgrund der Bußgeldreduzierung nur ein Teil der wirtschaftlichen Vorteile entzogen werden, hat sich die Zuwiderhandlung entgegen der gesetzgeberischen Intention für den Kartellbeteiligten „gelohnt“.272 Im Einzelfall kann daher eine reduzierte Geldbuße den Zweck der Vorteilsabschöpfung konterkarieren. Verfügt der Kartellbeteiligte hingegen nicht mehr (vollständig) über die gezogenen Vorteile, kann auch eine nicht-reduzierte Geldbuße das Ziel des Vorteilsentzugs nicht (umfassend) erreichen. Ferner kann es auf diesen Sanktionszweck auch gar nicht ankommen, sofern das Bundeskartellamt von vornherein auf eine Vorteilsabschöpfung verzichtet.273 (b) Repressive Ahndung Hinsichtlich der Repressionsfunktion der Geldbuße verweist Stockmann darauf, dass die Erwartung der Bürger und rechtsschaffenden Wettbewerber, dass ein Kartellbeteiligter „bestraft“ wird, enttäuscht werde, wenn das Bundeskartellamt keinen „deutlichen“ Tadel ausspreche.274 Diesen leuchte nämlich nicht ein, warum eine Geldbuße angesichts des angerichteten Schadens auf ein „erträgliches Maß“ reduziert oder gar erlassen werden solle. Der rechtstreue Wettbewerber müsse es gar selbst als Bestrafung empfinden, wenn der sich rechtswidrig verhaltende Wettbewerber angesichts seiner Situation auch noch belohnt werde. Diese Auffassung vermengt den Gedanken der Repression mit demjenigen der positiven Generalprävention und ist mit Blick auf die Repressionsfunktion zu absolut. Dem Zweck des spürbaren Einstehens für das begangene Unrecht kann entgegen Stockmann auch mit einer milderen Geldbuße Genüge getan werden. Diese vermag dem Kartellbeteiligten ebenfalls eindringlich bewusst zu machen, dass sein Verhalten rechtswidrig war und er aus diesem Grund eine „Strafe“ verdient. Obgleich die Geldbuße womöglich nicht in einer Höhe ausfällt, die ange272

Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (25). Zur Frage der Zulässigkeit des Verzichts auf Vorteilsabschöpfung siehe noch: Teil 3 § 2 B. IV. 1. (S. 405 ff.). 274 Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (25). 273

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sichts der Schwere und der Vorwerfbarkeit angemessen gewesen wäre, stellt sie dennoch eine erhebliche, wirtschaftliche Belastung für das ohnehin bereits wirtschaftlich geschwächte Unternehmen dar. Denn auch wenn die mit der Bußgeldreduzierung verhinderte de facto-Liquidierung ausbleibt, bedeutet auch der Entzug eines mehr oder weniger erheblichen Anteils der liquiden Mittel für das Unternehmen eine ernstliche Einbuße, nicht zuletzt aufgrund des dadurch bewirkten Investitionslochs. Einer reduzierten, nicht aber einer vollends erlassenen Geldbuße fehlt daher nicht zwangsläufig die Eigenschaft eines „spürbaren“ Tadels; sie ist, je nach Ausmaß der Reduzierung, ebenso zur repressiven Ahndung geeignet. (c) Prävention Bei einem Kartellbeteiligten, der nur aufgrund einer reduzierten Geldbuße nicht in Konkurs gehen muss, wird man eine spezialpräventive Wirkung der Geldbuße wohl kaum bezweifeln können. Wenn das Unternehmen nämlich sprichwörtlich „mit dem blauen Auge davon kommt“, wird es sich wohl nicht mehr wagen, wettbewerbswidrige Absprachen zu treffen, da es im Wiederholungsfalle mit einer unnachgiebigen Verfolgung rechnen muss. Jedenfalls kann eine reduzierte Geldbuße, im Unterschied zur existenzgefährdenden Geldbuße, zumindest eine spezialpräventive Wirkung entfalten und ist damit regelmäßig sogar besser zur Spezialprävention geeignet. Eine grundsätzlich verschlechterte negative Generalprävention ist ebenfalls nicht zu befürchten.275 Womöglich mag es den Abschreckungseffekt der Geldbuße beeinträchtigen,276 wenn (potentielle) Kartellbeteiligte damit rechnen können, dass ihnen die Kartellbehörde jedenfalls nicht die Existenzgrundlage entzieht. Allerdings ist dies auch nicht zwingend. Zum einen wissen Dritte nicht immer zwangsläufig, dass sich das betreffende Unternehmen bereits in einer desolaten wirtschaftlichen Situation befindet und es durch eine reguläre kartellrechtliche Geldbuße in seiner Existenz gefährdet ist. Zum anderen ist längst nicht gesagt, dass Entscheidungsträger von Unternehmen nicht auch das Risiko einer bußgeldbedingten Liquidation in Kauf nehmen würden, entweder wegen subjektiver Eigeninteressen oder, weil sie für das Unternehmen keinen anderen Ausweg sehen, um einen baldigen Marktaustritt vorzubeugen. Ferner kann auch nicht angenommen werden, dass die „Schmerzgrenze“ für Unternehmensvertreter erst überschritten ist, wenn die Existenz des Unternehmens durch eine kartellrechtliche Geldbuße bedroht wird. Soweit Kartellgeldbußen überhaupt abschrecken, 275 A. A. Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 4. 276 Sofern man einen solchen nicht bereits generell in Frage stellt. Siehe hierzu: Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.) und Teil 2 § 4 F. IV. 1. b) (S. 308 ff.).

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ist eine solche Wirkung wohl schon dann gegeben, wenn diese zu einem nicht nur unerheblichen wettbewerblichen Nachteil führen, also vor allem, wenn notwendige Mittel für Investitionen entzogen werden. Die Bußgeldreduzierung führt daher weniger zu dem Problem einer befürchteten Einbuße der abschreckenden Wirkung der Geldbuße, sondern wirft vielmehr die Frage auf, ob eine zur Bußgeldermäßigung führende Berücksichtigung der drohenden Zahlungsunfähigkeit eines Unternehmens nicht umgekehrt einen unerwünschten Anreiz zur Kartellierung setzt. Dies betrifft die positiv-generalpräventive Wirkung der ermäßigten Geldbuße. Dritte, die sich ebenfalls in einer wirtschaftlichen Schieflage befinden, könnten nämlich auf die Idee kommen, gerade die profitabelsten, schwerwiegenden Hardcore-Wettbewerbsverstöße zu begehen, um sich wirtschaftlich auf Kosten ihrer Kunden, der Verbraucher und der Volkswirtschaft zu „sanieren“. Denn selbst wenn das Kartell entdeckt wird, hätte das Unternehmen, diese strategischen Überlegungen der Geschäftsführung unterstellt, keine weitere Schlechterstellung zu befürchten. Die Bußgeldreduzierung vermag in diesem Fall sogar den Wettbewerbsabstand zu effizienten Kartellbeteiligten entgegen jeglichen marktwirtschaftlichen Prinzipien zu reduzieren, da letztere ohne Ermäßigung bebußt würden.277 Gegenüber rechtstreuen Wettbewerbern kann sich zudem das Problem ergeben, dass der ineffiziente Kartellbeteiligte seine rechtswidrig gezogenen wirtschaftlichen Vorteile jedenfalls teilweise behalten kann. Zur Durchsetzung einer derartigen „Idee“ bedarf es allerdings auch Wettbewerber, die sich ebenfalls aus einem wirtschaftlichen Kalkül heraus darauf einlassen, mit wirtschaftsschwachen Unternehmen zu „kooperieren“. Die Suche nach entsprechenden „Partnern“ dürfte sich – jedenfalls bei einer nicht deutlich marktstarken Nachfrageseite – als nicht so einfach erweisen, da ein effizientes Unternehmen in der Regel kein Interesse daran hat, sich mit einem Konkurrenten zusammenzutun, der wirtschaftliche Schwierigkeiten hat, um die Marktstruktur zu stabilisieren. Die wirtschaftlich lohnenswertere Strategie für einen effizienten Wettbewerber bestünde eher darin, den geschwächten Konkurrenten mit gezielten (rechtmäßigen) Aktionen weiter in Bedrängnis zu bringen und darauf zu spekulieren, dass der missgewirtschaftete Konkurrent Insolvenz anmelden muss oder aber sich durch eine Fusion zu sanieren gedenkt. Denn in diesen Fällen würden Marktanteile frei, die das Unternehmen hinzugewinnen könnte. Zum Teil wird auch befürchtet, dass Unternehmen versuchen könnten, ihre gegenwärtige bzw. zukünftige Liquidität zu manipulieren, um Bußgeldreduktionen zu erwirken.278 277 So auch schon Jaeger, EuZW 2010, S. 881; Holterhus, WRP 2011, S. 1406 ff. (1411); Kienapfel/Wils, Inability to Pay – First cases and practical experiences, S. 3 f.; Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (26); Kienapfel/Wils, ÖZK 2011, S. 83 ff. (83). 278 Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 4; Kienapfel/Wils, Inability to Pay – First cases and practical experiences, S. 4.

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Ein solches Szenario ist wohl nur bei bestehenden Kartellen vorstellbar. Inwieweit Kartellbeteiligte tatsächlich so weit gehen würden, ihre eigene Zahlungsfähigkeit angesichts laufender Verbindlichkeiten und eventuell beabsichtigter, fremdfinanzierter Investitionen (pro forma) herabzumindern, kann letztlich offen gelassen werden. Jedenfalls besteht ein nicht gänzlich auszuschließendes Risiko, dass die in Aussicht gestellte Bußgeldreduzierung wegen Zahlungsschwierigkeiten irgendwie ausgenutzt wird. Im Ansatz zuzugeben sind auch die Bedenken mit Blick auf das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit und rechtstreuer Wettbewerber.279 In der Tat dürften es jedenfalls rechtstreue Wettbewerber nicht nachvollziehen können, warum ein Unternehmen, das ohne wettbewerbswidrige Praktiken womöglich aus dem Markt ausgeschieden wäre, in den Genuss einer Bußgeldreduzierung zur Gewährleistung seiner „Überlebensfähigkeit“ kommen soll, während ersterer seine Effizienz durch ein gewissenhaftes und umsichtiges Management erzielt hat.280 Ebenso dürften auch ehemalige Wettbewerber denken, die wegen eines zu hohen Verschuldungsgrads und Missmanagement aus dem Markt ausscheiden mussten. Der Allgemeinheit wird es einerseits ein Anliegen sein, sich weiterhin eines größeren Angebot und eines (dann) intensiveren Wettbewerbs durch Verbleib eines weiteren Anbieters im Markt gegenüberzusehen. Andererseits wird diese grundsätzlich eine dem Unrecht entsprechende Sanktion erstreben. Wie bereits an anderer Stelle hervorgehoben wurde, ist es für das Rechtsbewusstsein der Rechtsgemeinschaft und ihrer Rechtstreue entscheidend, dass eine Norm allgemein akzeptiert ist, was letztlich nur erreicht werden kann, wenn die bestehenden Erwartungen an ihrer unbedingten Durchsetzung mittels staatlicher Gewalt erfüllt werden. In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass wohl der größte positiv-generalpräventive Effekt erzielt werden kann, wenn eine Sanktion sowohl von der Allgemeinheit und den Geschädigten einer Zuwiderhandlung, als auch vom Kartellbeteiligten „noch“ als gerecht empfunden werden kann.281 Daraus ergibt sich, dass zwar keinesfalls ein Bußgelderlass,282 jedenfalls aber eine Bußgeldreduzierung im Einzelfall der richtige Weg sein kann, um das Rechtsbewusstsein aller zu stärken. Das verbleibende Restrisiko möglicher negativer Effekte auf das Rechtsbewusstsein Dritter, die sich ebenfalls in einer wirtschaftlichen Schieflage befinden, kann die Geeignet-

279 Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (24 f.); ähnlich schon Kienapfel/Wils, Inability to Pay – First cases and practical experiences, S. 3 f. 280 So auch Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 4. 281 Vgl. Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) aa) (S. 206 ff.). 282 Einen solchen schließt die Kommission anscheinend nicht kategorisch aus, vgl. Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 11.

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heit der reduzierten Geldbuße zur positiven Generalprävention nicht schmälern. Denn derzeit lassen sich entsprechende Hinweise, die eine Negativprognose zulassen, nicht ausmachen. Das Restrisiko entspricht vielmehr auch demjenigen, dass mit „exorbitanten“ Geldbußen keine Abschreckung erreicht werden kann. (4) Ergebnis Die reduzierte Geldbuße kann im Einzelfall die Sanktionszwecke ebenso wie die zunächst als „tat- und schuldangemessen“ ermittelte Geldbuße erreichen. Dies gilt namentlich für die Zwecke der Repression und der negativen Generalprävention. Sofern man eine Einschränkung der positiv generalpräventiven Wirkung annähme, würde diese jedenfalls durch die erst mit der Bußgeldreduzierung ermöglichte Abschreckung des Kartellbeteiligten aufgewogen. Das Ziel der positiven Generalprävention kann indes erreicht werden. Sofern mit der reduzierten Geldbuße (auch) eine Ahndung des Unrechts erfolgt und diese dem Kartellbeteiligten, der Allgemeinheit und den Geschädigten noch gerecht erscheint, stärkt auch die reduzierte Geldbuße das Rechtsbewusstsein und die Rechtstreue der Allgemeinheit. Auch entspricht es dem öffentlichen Interesse eher, den Verbleib des Kartellbeteiligten im Markt sicherzustellen, als diesen de facto zu zwingen auszuscheiden. Allerdings erfüllt die reduzierte Geldbuße im Vergleich zu der sowohl ahndenden als auch abschöpfenden, unveränderten Geldbuße unter Umständen ihre Abschöpfungsfunktion nicht vollständig, wenngleich dies auch bei der nicht-reduzierten Geldbuße der Fall sein kann, nämlich dann, wenn die zunächst ermittelte Geldbuße gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gekappt werden musste oder aber sich das Bundeskartellamt gegen eine Abschöpfung entschließt. Führt die Bußgeldreduzierung jedoch tatsächlich zu einer Verminderung des abschöpfenden Anteils der Ausgangsgeldbuße, ist diese im Vergleich zu letzterer weniger geeignet, da sich die Zuwiderhandlung für den betroffenen Kartellbeteiligten jedenfalls zu einem gewissen Anteil als lohnend darstellte. Aus diesem Grund wird man in diesem Fall angesichts der eingangs dargelegten Rechtsprechung des BVerfG eine gleiche Wirksamkeit der reduzierten Geldbuße ablehnen müssen, da diese „ein wenig“ ineffektiver ist, um alle Sanktionszwecke der Geldbuße zu erreichen. Dementsprechend erweist sich die der Höhe nach den Fakt der sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit des Kartellbeteiligten ignorierende Geldbuße lediglich für den Fall als nicht erforderlich, in dem die Bußgeldreduzierung nicht zu einer verminderten Abschöpfung der rechtswidrig erlangten Vorteile führt. Dann erscheint eine noch „schuld- und tatangemessene“, reduzierte Geldbuße mangels erheblicherer Belastung anderer Interessen als milderes, gleichermaßen wirksames Mittel und muss vom Bundeskartellamt verhängt werden. Selbst wenn im Einzelfall Vollstreckungsvereinbarungen gleichermaßen effektiv wären, was nicht zwingend angenommen werden kann, sondern von den konkreten Umständen des Einzelfalls abhängt, muss das insgesamt mildeste, gleichgeeignete Mittel, näm-

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lich die Bußgeldreduzierung gewählt werden. Ein Bußgelderlass kommt allerdings grundsätzlich nicht zur Erfüllung der Sanktionszwecke in Betracht. Ist die wirtschaftliche Lage des Unternehmens derart prekär, wird das Bundeskartellamt wohl über eine Kombination aus Bußgeldreduzierung und Vollstreckungsvereinbarungen nachdenken müssen. Im Übrigen kann die sofortige Vollstreckbarkeit einer unverändert hohen Geldbuße in bestimmten Einzelfällen nicht erforderlich sein. Bei Stundungsvereinbarungen und der Ausstellung eines Besserungsscheins muss insoweit allerdings eine relativ positive Erfolgsprognose bestehen, die mit der Geldbuße verfolgten Sanktionszwecke in absehbarer Zeit erreichen zu können. Ratenzahlungsvereinbarungen müssen derart ausgestaltet sein, dass sie auch tatsächlich weniger belastend wirken. cc) Angemessenheit Die in der überwiegenden Zahl der Fälle erforderliche Verhängung existenzbedrohender Geldbußen müsste jedoch schließlich auch zur Erreichung der mit ihr verfolgten Zwecke angemessen sein; ihre belastenden, in das Grundrecht auf freie unternehmerische Entfaltung gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 12 und Art. 14 GG eingreifenden Auswirkungen283 müssten dem fraglichen Kartellbeteiligten also zumutbar sein.284 Daran bestehen vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen erhebliche Zweifel. Das Bundeskartellamt soll den Wettbewerb als Institution schützen und künstliche Wettbewerbsbeschränkungen in Anwendung staatlichen Zwangs beseitigen bzw. verhindern. Keinesfalls soll sich die pflichtbewusste Funktionswahrnehmung umkehren und wettbewerbsschädigende Auswirkungen zeitigen, weil mit der unbedingten Durchsetzung einer für angemessen befundenen Geldbuße zwar dessen Sanktionszwecke vollumfänglich erreicht werden, gleichzeitig aber ein Marktaustritt des betreffenden Kartellbeteiligten de facto erzwungen wird. Dies erscheint vor allem in Fällen ungerechtfertigt, in denen der Kartellbeteiligte aus unverschuldeten Gründen, etwa aufgrund höherer Gewalt, in eine Verlustsituation geraten ist. Aber auch im Übrigen vermag die Verhängung einer ungekürzten, anhand der Bedeutung der Zuwiderhandlung, deren Vorwerfbarkeit und der rechtswidrig erlangten Vorteile ermittelten Geldbuße nicht recht überzeugen. Die Untersuchung der Wirksamkeit der reduzierten Geldbuße hat ergeben, dass diese nur geringfügig weniger wirksam ist als die existenzgefährdende Geldbuße, weil sie unter Umständen dazu führt, dass dem Kar-

283 Zum Eingriff kartellbehördlicher Maßnahmen in das Grundrecht auf freie unternehmerische Entfaltung: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 76 ff., 126. 284 Allg. st. Rspr.: BVerfG, Beschl. v. 15.12.1999, Az. 1 BvR 1904/95 u. a. – Vergütung für Berufsbetreuer, BVerfGE 101, 331 (350), Rn. 80 (juris); Beschl. v. 16.2.2000, 1 BvR 242/91, 1 BvR 315/99 – Altlasten, BVerfGE 102, 1 (20), Rn. 54 ff. (juris); Beschl. v. 27.3.2012, Az. 2 BvR 2258/09 – Maßregelvollzugszeiten, NJW 2012, 1784 (1785), Rn. 56 (juris).

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tellbeteiligten nicht sämtliche, rechtswidrig erlangten Vorteile entzogen werden. Die Abschöpfungsfunktion ist jedoch lediglich ein Zweck der Geldbuße. Wenn die Geldbuße sowohl der Generalprävention als auch der Spezialprävention und der repressiven Ahndung gerecht wird, sollte der Abschöpfungsfunktion kein derart überragendes Gewicht eingeräumt werden, dass die im Übrigen erfüllten Sanktionszwecke gleichsam unbedeutend erscheinen. Dann bliebe auch unberücksichtigt, dass unter Umständen nur die ermäßigte Geldbuße noch eine spezialpräventive Wirkung entfalten kann, weil der Kartellbeteiligte dem Markt als „geläuterter“ Teilnehmer erhalten bleibt. Ferner ist der Vorteilsabschöpfung erstens bereits nach dem Willen des Gesetzgebers eine nachrangige Funktion im Kartellbußgeldrecht zugewiesen (§ 81 Abs. 5 GWB). Zweitens wird die Prävention in Form der Abschreckung, wie die bisherige Untersuchung gezeigt hat, stets seitens der Kartellbehörden und des Gesetzgebers als vorrangiger Sanktionszweck hervorgehoben. Und drittens kann eine reduzierte Geldbuße jedenfalls auch der Abschöpfungsfunktion gerecht werden, wenngleich nicht in vollem Umfang. Es wäre daher schlichtweg unvertretbar, einen Kartellbeteiligten sehenden Auges „in den Bankrott zu schicken“, weil ihm andernfalls nicht alle rechtswidrig erlangten Vorteile entzogen werden könnten. Aus diesem Grund wird das Bundeskartellamt bereits bei der Ermessensausübung im Rahmen des § 81 Abs. 5 GWB regelmäßig zu dem Ergebnis kommen müssen, dass es auf die Vorteilsabschöpfung verzichtet.285 Dann aber ist eine noch – der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und dem den Kartellbeteiligten zu machenden Vorwurf – angemessene, reduzierte Geldbuße das mildere, gleich geeignete und damit zwingend vorzuziehende Mittel gegenüber der Verhängung der existenzgefährdenden Geldbuße, da letztere zur Zweckerreichung nicht erforderlich ist.286 Selbst wenn das Bundeskartellamt zunächst eine gleichermaßen abschöpfende wie ahndende Geldbuße ermittelt, wäre eine unterlassene Ermäßigung jedenfalls dann unzumutbar, wenn bei einem Abschluss von Vollstreckungsvereinbarungen im konkreten Einzelfall keine relativ sichere, positive Zukunftsprognose gestellt werden kann, dass jene die Sanktionszwecke ebenso wie die sofort vollziehbare, nicht

285 Dies entspricht der ganz allg. M.: BayOLG, Beschl. v. 25.4.1995, Az. 3 ObOWi 11/95, BayObLGSt 1995, 76 (81); Beschl. v. 13.6.2003, Az. 3 ObOWi 50/03, wistra 2003, 470; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.10.2006, Az. 1 Ss 82/06, NStZ 2007, 181 (182); ebenso Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 55; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 46; speziell zur bußgeldmindernden Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse von Kartellbeteiligten: OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 48 ff. (juris); Urt. v. 27.5.2008, Az. VI-Kart 9–11/07 (OWi) – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern US-amerikanischer Streitkräfte, Rn. 87 (juris); Urt. v. 11.4.2007, Az. VI-Kart 5/06 (OWi) – Dinnershows, Rn. 90 (juris); Urt. v. 8.1. 2004, Az. VI-Kart 48–50/01 OWi – Transportbeton, Rn. 95 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2003, Az. VI-Kart 9 bis 11/03, Rn. 45 (juris); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 312. 286 Siehe Teil 3 § 2 B. III. 4. b) bb) (3) (a) (S. 396 ff.).

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reduzierte Geldbuße erfüllen werden. Ist nicht gewiss, dass der Kartellbeteiligte auch bei Abschluss einer Stundungsvereinbarung oder Ausstellung eines Besserungsscheins die Geldbuße vollständig zu leisten in der Lage sein wird, ist einer reduzierten, aber noch „tat- und schuldangemessenen“ Geldbuße der Vorzug zu geben, da bei der sofortigen partiellen Durchsetzung des ermittelten Sanktionsanspruchs gänzlich sichergestellt ist, dass die Sanktionszwecke zumindest in einem gewissen Umfang erreicht werden. Hingegen sind Ratenzahlungsvereinbarungen vorrangig zu treffen, wenn die wirtschaftliche Handlungsfähigkeit des Kartellbeteiligten nicht über das gebührende Maß hinaus zusätzlich eingeengt wird. Daraus folgt, dass eine Bußgeldreduzierung zwingend vorzunehmen ist, wenn einerseits relativ hohe Raten den Bankrott des Kartellbeteiligten nur herauszögern würden, etwa, weil das Unternehmen zur Sanierung keine Fremdmittel mehr realisieren könnte, andererseits aber bei der Gewährung entsprechend niedrigerer Raten ein übermäßig langer Zahlungszeitraum begründet würde, der ein gesteigertes Risiko des partiellen Zahlungs- und Sanktionsausfalls begründet. dd) Ergebnis Führt die aufgrund der Bedeutung der Tat und des dem Kartellbeteiligten zu machenden Vorwurfs ermittelte Geldbuße zu der ernsthaften Gefahr, dass der Kartellbeteiligte bei deren Leistung zahlungsunfähig würde, hat das Bundeskartellamt diesen Umstand in Ansehung des Übermaßverbots zu berücksichtigen. Derartige Konstellationen lassen sich an dieser Stelle abstrakt kaum beschreiben; es müsste jedenfalls anhand konkreter Hinweise nachzuweisen sein, dass eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit für einen sanktionsbedingten Konkurs besteht. In diesen Fällen sprechen der erhebliche Aufwand, der zur Feststellung geeigneter Vollstreckungsmaßnahmen betrieben werden muss, sowie die Unsicherheiten von in diesem Zusammenhang zu tätigenden Wahrscheinlichkeitsprognosen dafür, dass zur Vermeidung dieses Szenarios eine Bußgeldreduzierung vorzuziehen ist. Die reduzierte Geldbuße stellt das weitaus mildere und überwiegend ebenso effektive Mittel zur Erfüllung der Sanktionszwecke dar, sofern sie die Zwecke der Repression und der Prävention erreichen kann. Die unter Umständen nicht erzielbare Abschöpfungsfunktion steht dem nicht entgegen, da es in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass rechtwidrig erzielte wirtschaftliche Vorteile ohnehin nur entzogen werden dürfen, wenn sie erstens noch bei dem Täter verfügbar sind und die Abschöpfung zweitens nicht zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch des Täters führt.287 Die primär vorzunehmende Bußgeldreduzierung erscheint 287 Ebenso: Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 312; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 55; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 46; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 13.10.2006, Az. 1 Ss 82/06, NStZ 2007, 181 (182); OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 48 ff. (juris); Urt. v. 27.5.2008, Az. VI-Kart 9–11/07 (OWi) – Umzugsgeschäft v. Mitgliedern US-

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auch deshalb konsequent, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kartellbeteiligten bereits bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt werden müssen. Ergibt die Auswertung der wirtschaftlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Bußgeldbemessung eindeutige Hinweise auf einen drohenden Bankrott, ist es nur folgerichtig, diesen Umstand unmittelbar bei der Bußgeldzumessung als Minderungsgrund zu berücksichtigen, ebenso wie auch umgekehrt hohe Vermögenswerte zu einem bußgelderhöhenden Abschreckungsaufschlag führen. Insofern führt der Umstand der prognostizierten sanktionsbedingten Zahlungsunfähigkeit zu einer Reduktion des Sanktionszumessungsermessens. Müsste das Bußgeld angesichts der wirtschaftlichen Schieflage des Kartellbeteiligten hingegen soweit reduziert werden, dass das Ziel der negativen und positiven Generalprävention ernsthaft gefährdet würde, ist grundsätzlich Vollstreckungsvereinbarungen der Vorzug zu geben, da sie die ursprüngliche Geldbuße unangetastet lassen und damit besser geeignet sind, sämtliche Sanktionszwecke zu erfüllen. Das Übermaßverbot führt dann nicht zu einer Reduktion des Sanktionszumessungsermessens, da das öffentliche Interesse an einem effektiven Wettbewerbsschutz das Recht des Kartellbeteiligten auf freie unternehmerische Entfaltung überwiegt. Dies gilt allerdings nur soweit, wie zumindest eine reelle Chance besteht, dass der Kartellbeteiligte die Geldbuße aufgrund der Zahlungserleichterungen tatsächlich aufbringen wird. Bestehen dahingehend Zweifel, wird das Bundeskartellamt abzuwägen haben, ob nicht eine (sehr viel) weniger wirksame Sanktion dem Wettbewerbsschutz dienlicher ist als eine möglicherweise gänzlich ausbleibende Sanktion. Insoweit kommt auch eine Kombination aus Bußgeldreduzierung und der Vereinbarung von Ratenzahlungen oder einer Stundung in Betracht.288 Hingegen ist vor dem Hintergrund einer gänzlich ausbleibenden Sanktionswirkung der bedingungslose Bußgelderlass gänzlich ausgeschlossen. Ist dem Kartellbeteiligten zum Zeitpunkt der Bußgeldentscheidung nicht einmal eine reduzierte Geldbuße, kombiniert mit einer Stundungs- oder Ratenzahlungsvereinbarung zumutbar, wird das Bundeskartellamt einen Besserungsschein ausstellen müssen.

amerikanischer Streitkräfte, Rn. 87 (juris); Urt. v. 11.4.2007, Az. VI-Kart 5/06 (OWi) – Dinnershows, Rn. 90 (juris); Urt. v. 8.1.2004, Az. VI-Kart 48–50/01 OWi – Transportbeton, Rn. 95 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2003, Az. VI-Kart 9 bis 11/03, Rn. 45 (juris). 288 Almunia/Lewandowski, Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, Rn. 11; wohl auch BKartA, PM v. 25.10.2011 – Mühlenkartell („Darüber hinaus berücksichtigt das BKartA bei der Bußgeldberechnung stets die individuelle Leistungsfähigkeit der Unternehmen und kann bei der Zahlungsverpflichtung der Kartellanten auch von Instrumenten wie Stundung und Ratenzahlung Gebrauch machen.“).

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IV. Fazit: Beschränkende Wirkung der Zumessungskriterien für das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes? Im Gegensatz zum Verfolgungsermessen hat der Gesetzgeber im materiellen Bußgeldrecht zumindest einige wenige, abstrakt formulierte Maßstäbe implementiert, an denen sich das Bundeskartellamt im Rahmen einer pflichtgemäßen Ausübung seines Sanktionszumessungsermessens zwingend zu orientieren hat. Generell begrenzen zudem verfassungs- und europarechtlich garantierte Rechte und verankerte Grundsätze den Handlungsspielraum der Kartellbehörde im konkreten Einzelfall. Dies offenbart, dass auch bei der Festsetzung einer Geldbuße, wie eingangs bereits festgestellt wurde, kein Platz für willkürliche Entscheidungen ist, sondern diese, im Gegenteil, ein Stück weit auch Rechtsanwendung ist.289 Nichtsdestotrotz verbleibt dem Bundeskartellamt bei der pflichtgemäßen Beachtung und Anwendung der Zumessungskriterien, ähnlich wie dem Richter bei der Strafzumessung,290 ein „Rest“ Entscheidungsspielraum,291 der (jedenfalls im Fall des Regelbußgeldrahmens) lediglich durch eine – angesichts der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit, des Vorwurfs, der den Täter trifft, dessen erzielten wirtschaftlichen Vorteile und dessen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu ermittelnde – „noch“ angemessene Geldbuße nach oben und eine „schon“ angemessene Geldbuße nach unten begrenzt ist. Innerhalb dieses Sanktionsrahmens ist die zur Entscheidung berufene Beschlussabteilung dazu berufen, eine nach ihren Vorstellungen subjektiv für richtig und gerecht gehaltene Geldbuße festzusetzen, wobei sie zweifellos nur auf sachliche Gesichtspunkte, einschließlich präventiver Zweckmäßigkeitserwägungen zurückgreifen kann. 1. Einschränkung des Entscheidungsermessens zur Festsetzung einer rein ahndenden Geldbuße

Soeben wurde bereits festgestellt, dass das Entscheidungsermessen des Bundeskartellamtes reduziert ist, wenn dem Bußgeldadressaten kein wirtschaftlicher Vorteil geblieben ist oder aber eine Abschöpfung ruinös wäre. An dieser Stelle ist umgekehrt der Frage nachzugehen, ob der Entscheidung für eine reine Ahndung der Zuwiderhandlung, entgegen dem Wortlaut des § 81 Abs. 5 S. 1 GWB, Grenzen gesetzt sind. Nach § 81 Abs. 5 S. 2 GWB soll das Bundeskartellamt nämlich bereits bei der Bußgeldzumessung berücksichtigen, wenn die Geldbuße nur der Ahndung dient. Was damit gemeint ist, ließ der Gesetzgeber offen. Aus der Gesetzesbegründung lassen sich zwei Deutungsmöglichkeiten ableiten, die jedoch beide problematisch sind. 289 Vgl. v. a. Teil 1 § 2 A. II. 3. (S. 66), Teil 1 § 3 (S. 71 ff.) und die Einleitung zu Teil 3 (S. 333). 290 Siehe die Ausführungen in Teil 1 § 2 A. II. 1. b) und c) (S. 59 ff.). 291 Ähnlich Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 160.

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a) Anordnung der Abschöpfung im Wege der Ahndung Zunächst könnte man annehmen, dass die Vorteilsabschöpfung nicht als solche ausgewiesen, sondern mittelbar bei der Bußgeldzumessung nach § 17 Abs. 3 OWiG berücksichtigt werden soll, also den ahndenden „Teil“ der Geldbuße indirekt erhöht. So ließe sich die Stellungnahme des Gesetzgebers verstehen, wonach der erzielte rechtwidrige Vorteil nur „einer der möglichen Bemessungsfaktoren für Geldbußen“ sei, aber durch diese eben nicht mehr abgeschöpft werde.292 Ferner heißt es in der Gesetzesbegründung zu § 81 Abs. 5 GWB:293 „Die Neuregelung vermeidet dadurch auch praktische Schwierigkeiten, die sich im bisherigen Recht durch die zwingende Notwendigkeit der Aufteilung der Geldbuße in einen Ahndungsteil und einen Abführungsanteil ergeben haben. Im Falle einer reinen Ahndungsfunktion sind Geldbußen künftig nicht mehr steuerlich abzugsfähig.“

An anderer Stelle zieht der Gesetzgeber daraus den Schluss, dass die auf den abgeschöpften, wirtschaftlichen Vorteil entfallenden Steuern bei der Bußgeldbemessung nicht mehr berücksichtigt werden müssten.294 Unterstellte man nun, dass der Gesetzgeber tatsächlich die Abschöpfung als unbenannten Teil der Ahndung vornehmen lassen wollte, kann man sich in Zusammenschau der Stellungnahmen des Eindrucks nicht erwehren, dass der Zweck der Regelung des § 81 Abs. 5 S. 2 GWB dann die Umgehung des § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 8 S. 4 EStG wäre.295 Nach der Vorschrift kann eine Geldbuße – in Zusammenschau mit § 4 Abs. 4 EStG – in Höhe ihres Abschöpfungsanteils als Betriebsausgabe steuermindernd geltend gemacht werden, wenn von dem ermittelten, durch die Zuwiderhandlung erlangten wirtschaftlichen Vorteil die aufgewendeten Steuern nicht abgezogen worden sind. Die Vorschrift geht auf einen Beschluss des BVerfG aus dem Jahr 1990 zurück, in welchem das BVerfG feststellte, dass es dem aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit widerspräche, wenn die vollständige Abschöpfung nach ordnungswidrigkeitsrechtlichen Grundsätzen mit einer zusätzlichen steuerrechtlichen Belastung verbunden wäre.296 Dies wäre aber der Fall, wenn dem Kartellbeteiligten der rechtswidrig erlangte, wirtschaftliche Brutto-Vorteil vollständig entzogen würde und dieser gleichzeitig zur Entrichtung der auf den Bruttobetrag anfallenden Steuern verpflichtet bliebe. Das Bundeskartellamt kann daher nur den Brut292

Begr. BRegE 7. GWB-Novelle v. 12.8.2004, BT-Drs. 15/3640, S. 42. Begr. BRegE 7. GWB-Novelle v. 12.8.2004, BT-Drs. 15/3640, S. 42. 294 Begr. BRegE 7. GWB-Novelle v. 12.8.2004, BT-Drs. 15/3640, S. 67. 295 Dies würde, zur Vermeidung von steuerlichen Verlusten, jedenfalls Stimmen in der Literatur Vorschub leisten, die den Verdacht hegen, dass Kartellbußen zur Stopfung von Haushaltslöschern rechtspolitisch „missbraucht“ werden könnten. So Stockmann, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (566); krit. auch: Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48a. 296 BVerfG, Beschl. v. 23.1.1990, Az. 1 BvL 4, 5, 6, 7/87, WuW/E VG 371 (376), Rn. 32 (juris). 293

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tobetrag abschöpfen, wenn das Besteuerungsverfahren noch offen ist; andernfalls muss es die entrichteten Steuern abziehen.297 Aus diesem Grund muss bei Erlass einer Geldbuße klar aufgeschlüsselt werden, welcher Anteil sich auf die Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils bezieht, und welcher Anteil der Ahndung des Unrechts dient, um der funktionalen Trennung zwischen abschöpfenden und ahndenden Anteil der Geldbuße Rechnung zu tragen.298 Würde man nun den abschöpfenden Anteil als Teil der reinen Ahndung im Sinne des § 17 Abs. 3 OWiG deklarieren, benachteiligte dies unzulässigerweise den betreffenden Kartellbeteiligten unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG und das vorstehende Ergebnis würde obsolet. Dementsprechend hat der BFH in einem Eilverfahren zunächst judiziert, dass es nicht darauf ankomme, dass die Verfolgungsbehörde die Anwendung des § 17 Abs. 4 OWiG ausdrücklich erwähne; vielmehr führe „jede betragsmäßige Korrespondenz zwischen der Höhe der Strafe einerseits und dem wirtschaftlichen Vorteil andererseits zur Abziehbarkeit“.299 Achenbach hat den Beschluss als einen allgemeinen Wegweiser dahingehend verstanden, dass jede betragsmäßige Erhöhung des einem abschöpfenden Teil der Geldbuße entsprechenden Betrags um einen Ahndungsteil nach § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG auszuweisen sei, auch wenn der Betrag unter „der Flagge des § 17 Abs. 3 OWiG“ erfolge.300 Im Ergebnis bleibe nämlich jeder dem Abschöpfungsanteil entsprechende Betrag nach wie vor und entgegen der gesetzgeberischen Intention steuerlich absetzbar. Zwar hat der BFH kürzlich die Kernaussage des vorstehenden Beschlusses inhaltlich einschränkend konkretisiert.301 Danach habe das BVerfG nur die vollständige Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils, die mit einer zusätzlichen steuerlichen Belastung einhergehe, für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, sodass bei einer nur teilweisen Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils eine hinzutretende steuerliche Belastung jedenfalls dann mit der Verfassung vereinbar sei, wenn die Geldbuße zusammen mit der Steuerbelastung den ermittelten wirtschaftlichen Nettovorteil nicht übersteige.302 An dem vorstehenden Ergebnis än297 BGH, Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1489), Rn. 23. 298 BGH, Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1490), Rn. 25 (juris); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 294, 314 ff.; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 173; Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 73; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 102; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 447; Mitsch, in: KK/ OWiG, § 17 Rn. 122; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 47; Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 101 f. 299 BFH, Beschl. v. 24.3.2004, Az. I B 203/03, BB 2004, 2121 (2122), Rn. 15–18 (juris). 300 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 321. 301 BFH, Urt. v. 23.3.2011, Az. X R 59/09, BFH/NV 2011, 2047 ff. 302 BFH, Urt. v. 23.3.2011, Az. X R 59/09, BFH/NV 2011, 2047 ff., Rn. 40–42 (juris).

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dert das Urteil des BFH freilich nichts: Das Bundeskartellamt bliebe auch nach dieser Rechtsprechung verpflichtet, den abschöpfenden Anteil einer Geldbuße, die nach § 81 Abs. 5 S. 2 GWB allein als ahndende Geldbuße deklariert ist, klar und deutlich auszuweisen. Andernfalls könnte der Kartellbeteiligte nämlich nicht prüfen, ob auch eine partielle Abschöpfung aufgrund der bedingten Steuerbelastung gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip verstößt. Aus alledem folgt, dass die Interpretation des § 81 Abs. 5 S. 2 GWB als Anordnung, die Vorteilsabschöpfung „unter dem Deckmantel“ der Ahndung vorzunehmen, keine rechtliche Wirkungen zeitigen kann. b) Anordnung der Minderung der ahndenden Geldbuße in Höhe des abschöpfbaren Vorteils Ist also eine „verdeckte“ Abschöpfung nicht möglich, bleibt noch die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber eine rein ahndende Geldbuße kodifizieren wollte, die den grundsätzlich abschöpfbaren Vorteil bußgeldmindernd berücksichtigt. Diese Auslegung entspricht wohl am ehesten dem gesetzlichen Wortlaut des § 81 Abs. 5 S. 1 GWB, nach dem das Bundeskartellamt entscheiden können soll, ob es den wirtschaftlichen Vorteil abschöpft. Es würde zudem mit der Begründung des Gesetzgebers korrespondieren, nach der sich die Höhe einer reinen Ahndungsgeldbuße „in der Regel um den Betrag minder[t], der nach bisherigem Recht der Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils diente.“303 Das Bundeskartellamt wäre folglich auch bei der rein ahndenden Geldbuße dazu berufen, den erzielten wirtschaftlichen Vorteil festzustellen und die Ahndungsgeldbuße dementsprechend zu reduzieren. Inwieweit sich dieser Aufwand lohnen soll, lässt der Gesetzgeber unbeantwortet. Auch wird, wie Achenbach zutreffend anmerkt, nicht deutlich, welche konkreten Ausnahmen es von der Regel „Geldbußenminderung durch den abschöpfenden Teil“ geben soll304 und wie diese zu rechtfertigen wären. Hier wie auch allgemein bleibt das Bundeskartellamt zur Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet. Schöpft es bei einem Kartellbeteiligten den wirtschaftlichen Vorteil ab, bei dem anderen jedoch nicht, oder privilegiert es einen Kartellbeteiligten mit der rein ahndenden, aber entsprechend dem sonst abzuschöpfenden Anteil reduzierten Geldbuße, während es bei einem anderen Kartellbeteiligten die rein ahndende Geldbuße ohne Berücksichtigung des sonst abschöpfbaren Vorteils festsetzt, bedarf es für diese Ungleichbehandlungen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG einer sachlichen Rechtfertigung.305 Nach der Willkürformel des BVerfG als niedrigste Rechtfertigungsstufe müsste das Bundeskartellamt also zumindest einen legitimen, sach303

Begr. BRegE 7. GWB-Novelle v. 12.8.2004, BT-Drs. 15/3640, S. 42, 67. Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 319. 305 Vgl. bereits die Ausführungen und Rechtsprechungsnachweise zum allgemeinen Gleichheitssatz in Teil 2 § 4 E. V. 3. (S. 291 ff.). 304

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lichen Grund innerhalb des Bußgeldbescheids anführen, wenn es im Einzelfall auf die Vorteilsabschöpfung verzichtet.306 Insoweit liegt es nahe, auf die anerkannten Gründe aus der langjährigen Entscheidungspraxis zu § 17 Abs. 4 OWiG zurückzugreifen.307 So rechtfertigt, wie bereits aufgezeigt, insbesondere eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters ausnahmsweise ein Absehen von der Vorteilsabschöpfung; mehr noch ist das Bundeskartellamt unter Umstanden sogar zu einem Verzicht gezwungen.308 Aber auch die Tatsache, dass Geschädigte bereits den wirtschaftlichen Vorteil im Wege von follow-on Klagen „abgeschöpft“ oder jedenfalls ein entsprechendes Verfahren eingeleitet haben, spricht zwingend gegen die Abschöpfung dann (zukünftig) nicht mehr vorhandener Vorteile.309 c) Ergebnis Die Auslegung des § 81 Abs. 5 GWB hat ergeben, dass – entgegen der gesetzgeberischen Absicht – eine Erweiterung des Ermessensspielraums des Bundeskartellamtes im Hinblick auf die Vorteilsabschöpfung angesichts verfassungsrechtlicher Vorgaben nicht zulässig ist. Letztlich bleibt die Vorteilsabschöpfung intendiert.310 Nur in atypischen Fällen, wenn ein besonderer sachlicher Grund gegeben ist, kann bzw. muss auf die Abschöpfung des wirtschaftlichen Vorteils verzichtet werden. Dieser Grund ist jedoch im Bußgeldbescheid zu offenbaren.311 Freilich bleibt es dem Bundeskartellamt unbenommen, den Umstand, dass durch die Zuwiderhandlung (überhaupt) Gewinne erwirtschaftet worden sind, als einen das Unrecht der Ordnungswidrigkeit schärfenden Umstand zu berücksichti306 BGH, Beschl. v. 19.6.2007, Az. KRB 12/07 – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 2225 (2230), Rn. 25 f. (juris); Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1489 f.), Rn. 24 f. (juris). Ähnlich Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 322, der vor allem auf das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verweist; ihm folgend Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 449; ähnlich auch Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 170. Überdies wäre angesichts des weitaus intensiveren Eingriffs in das Eigentumsrecht des nicht privilegierten Kartellbeteiligten wohl auch eine striktere Verhältnismäßigkeitsprüfung angezeigt. 307 Ebenso Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 322; Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 449; Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (25 f.). 308 Teil 3 § 2 B. III. 4. b) cc) und dd) (S. 401 ff.). 309 BGH, Beschl. v. 19.6.2007, Az. KRB 12/07 – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 2225 (2230), Rn. 25 (juris); OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 407 (juris); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (173). 310 Ähnlich BGH, Beschl. v. 19.6.2007, Az. KRB 12/07 – Papiergroßhandel, WuW/ E DE-R 2225 (2230), Rn. 25 f. (juris); Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1489 f.), Rn. 24 f. (juris); ferner Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (25). 311 Ähnlich BGH, Beschl. v. 19.6.2007, Az. KRB 12/07 – Papiergroßhandel, WuW/ E DE-R 2225 (2230), Rn. 25 (juris); Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1489 f.), Rn. 25 (juris); Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 314 m.w. N.; vgl. auch die Nachweise in Fn. 315.

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gen.312 Allerdings darf dies nicht so weit gehen, dass eine Vorteilsabschöpfung unter dem Deckmantel der Ahndung erfolgt. Ein solches Vorgehen widerspräche dem steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzip, welches grundsätzlich eine nachvollziehbare Aufschlüsselung der Geldbuße in einen ahndenden und abschöpfenden Anteil erfordert. Entgegen ihrem Wortlaut ist § 81 Abs. 5 S. 1 GWB daher als Sollvorschrift zu deuten. Angesichts der allgemeinen Regelung des § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG bleibt sie hinter der bezweckten Spezialität zurück und erweist sich als lediglich deklaratorisch. Allein der Vorschrift des § 81 Abs. 5 S. 2 GWB ist ein eigenständiger Sinngehalt zu entnehmen. Ist es im atypischen Einzelfall zulässig, eine rein ahndende Geldbuße zu erlassen, muss diese regelmäßig um den wirtschaftlichen Vorteil reduziert werden. Dass dies mit Ausnahme des Falls, in dem der betroffene Kartellbeteiligte durch die Geldbuße in seiner Existenz bedroht ist, sicherlich nicht im Sinne des Erfinders war, kann das Ergebnis aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ändern. 2. Ermessensbeschränkende Wirkung der Zumessungskriterien im Anwendungsbereich des Regelbußgeldrahmens des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB

Innerhalb des gesetzlichen Regelbußgeldrahmens besteht für das Bundeskartellamt ein sehr weiter Entscheidungsspielraum zur Festsetzung einer konkreten Geldbuße. Allerdings erweisen sich die durch die Rechtsprechung hinreichend konkretisierten Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG als spürbar ermessenslenkend und mithin -beschränkend.313 Handelt es sich bei dem in Frage stehenden Wettbewerbsverstoß um eine vorsätzliche Beteiligung an einem Hardcore-Kartell, bei der die betreffende natürliche Person eine führende Rolle gespielt hat und überdies in einer komfortablen wirtschaftlichen Situation steht, ist – mangels anderer milderer Umstände – in der Regel nur eine Geldbuße im oberen Bereich des Bußgeldrahmens zwischen fünf und einer Million Euro angezeigt, wobei die Mindestgeldbuße – wie bereits aufgezeigt314 – tatsächlich bei mindestens 5.000 Euro anzusiedeln ist. Demgegenüber ist die Beteiligung an vertikalen, nicht gravierenden Wettbewerbsbeschränkungen etwa im mittleren Bereich der Skala anzusiedeln und je nach Bestehen weiterer Umstände nach oben oder unten zu korrigieren. Die ermessensverengende Wirkung der Zumessungskriterien wird gesichert, wenn man mit einigen Stimmen der Literatur, entgegen der Regelung des § 66 Abs. 3 OWiG, verlangt, dass das Bundeskartellamt seine Bußgeldentscheidung 312 Zutreffend Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 35; Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, § 81 Rn. 451; Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (24). 313 Krit. Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 55; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 34. 314 Siehe Teil 3 § 2 A. III. (S. 368 ff.).

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hinreichend begründet.315 Zwar ist nach der Vorschrift eine über die Angabe der relevanten Umstände der Tat, der gesetzlichen Merkmale der Ordnungswidrigkeit und der angewandten Bußgeldvorschriften hinausgehende Begründung des Bußgeldbescheids und damit vor allem auch die sachliche Begründung für die Bußgeldhöhe entbehrlich.316 Richtigerweise wird man dem Bundeskartellamt allerdings die Pflicht auferlegen müssen, die Bußgeldentscheidung zu begründen. Dies ist schon deshalb erforderlich, weil der Adressat des Bußgeldbescheids angesichts der in der Regel erheblichen Geldbußen, also des im Verhältnis zu den „typischen“ Bagatell-Ordnungswidrigkeiten weitaus intensiveren Eingriffs in sein Grundrecht auf freie unternehmerische Entfaltung gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 12 und Art. 14 GG,317 in der Lage sein muss, die Entscheidung des Bundeskartellamt nachzuvollziehen, um festzustellen, ob sich eine Verteidigung lohnt oder aber eine Unterwerfung unter den Bußgeldbescheid angezeigt ist.318 Denn während dieses Anliegen bei Bagatell-Ordnungswidrigkeiten, die in der Regel zu überschaubaren, zum Teil anhand von Bußgeldkatalogen vorhersehbaren Bußgeldern führen, noch von dem Interesse an Verwaltungseffizienz überwogen sein mag, ist es demgegenüber bei sehr hohen Geldbußen anzuerkennen. In diesen Fällen, denen weitaus komplexere Sachverhalte zugrunde liegen und die regelmäßig rechtlich schwierig zu bewertende Fragen aufwerfen, genügt es der Informationsfunktion des Bußgeldbescheids nicht mehr allein die Tat und den einschlägigen Ordnungswidrigkeitentatbestand zu benennen. Im Gegensatz zu den 315 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, Vor § 81 Rn. 254; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 56; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 247 (Fn. 1 auf S. 118), 314; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 47; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 97; ferner Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 93 ff., der bereits für die über eine (Dritt-)Anzeige eines Kartells abschlägige Entscheidung eine ausreichende Begründung der Verfolgungsbehörde verlangt; zurückhaltender: Raum, in: LB/ GWB, § 81 Rn. 160; Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 115. 316 Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 153 mit Verweis auf BGH, Beschl. v. 18.2.1992, Az. KRB 13/91, NJW-RR 1992, 1130 (1131). In dem sehr speziellen Fall, in dem die Antragsteller die abschlägige Entscheidung über ihren Antrag auf Wiederaufnahme des Bußgeldverfahren überprüft wissen wollten, den sie wiederum darauf stützten, dass das BKartA die Vorschrift des § 17 Abs. 4 OWiG verfassungswidrig ausgelegt habe, wies der BGH allerdings lediglich darauf hin, dass eine Überprüfung des Bußgeldbescheids faktisch auf Schwierigkeiten stößt, wenn die Verfolgungsbehörde den (in diesem Fall rechtskräftigen) Bußgeldbescheid – über die gesetzlichen Pflichtangaben hinaus – nicht begründet. Der BGH hatte keinen Anlass sich mit der Frage auseinander zu setzen, ob eine Pflicht zur Begründung besteht, zumal die befürwortende Lit. bei fehlender Begründung auch zu Recht keine Nichtigkeit des Bescheids annimmt. 317 Zum Eingriff kartellbehördlicher Maßnahmen in das Grundrecht auf freie unternehmerische Entfaltung: Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rn. 76 ff., 126. 318 BVerfG, Urt. v. 16.1.1957, Az. 1 BvR 253 56 – Elfes-Urteil, NJW 1957, 297 (298), Rn. 41 (juris); Beschl. v. 29.10.1975, Az. 2 BvR 812/73 – St. Pauli Nachrichten, NJW 1976 37 (38), Rn. 26 (juris); Beschl. v. 23.8.1988, Az. 2 BvR 911/88, FamRz 1989, 145; BFH, Urt. v. 5.8.1986, Az. VII R 117/85, Rn. 14 (juris).

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typischen Bußgeldtatbeständen ist der Bußgeldrahmen sehr viel weiter, im Hinblick auf Unternehmen sogar offen. Auch existiert kein Bußgeldkatalog. Geldbußen sind daher auch weniger voraussehbar. Da diese zudem den Streitwert für das gerichtliche Bußgeldverfahren markieren und einschließlich der Kosten für eine anwaltliche Vertretung ein weitaus erheblicheres Prozessrisiko des Bußgeldadressaten begründen,319 bedarf es, wie so oft im Ordnungswidrigkeitenrecht, einer differenzierteren Betrachtung der Regelung des § 66 Abs. 3 OWiG bei schwerwiegenden Ordnungswidrigkeiten. Daher ist die Frage, ob das Bundeskartellamt einer Begründungspflicht unterliegt nicht allein akademischer Natur.320 Zudem, und dies ist nicht zu vernachlässigen, optimiert eine zwingende Begründung die Eigenkontrolle des Bundeskartellamtes, das sich stets fragen muss, ob seine Entscheidung transparent, sorgfältig und schließlich gerechtfertigt ist.321 3. Relativierung der Schrankenfunktion der Zumessungskriterien bei der Bußgeldzumessung gegenüber Unternehmen

Allerdings ist nicht zu verkennen, dass die gesetzlichen Zumessungskriterien bei der Bußgeldermittlung für juristische Personen und Personenvereinigungen nicht ihre intendierte322 ermessensbeschränkende Wirkung entfalten können. Denn aufgrund der hier als Kappungsgrenze qualifizierten Regelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB fehlt es an einem regulären, nach oben begrenzten Bußgeldrahmen, der als Richtmaß für die Bewertung der einzelnen Kriterien dienen könnte. Vielmehr erlaubt es § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, anhand der Zumessungskriterien zunächst eine Art „Zwischen-Geldbuße“ zu ermitteln, die oberhalb der Kappungsgrenze liegt. Daraus folgt, dass das Bundeskartellamt von Gesetzes wegen keinen Anhaltspunkt hat, welche Geldbuße für das denkbar schwerste Unrecht unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Kartellbeteiligten angemessen ist, sodass es keinen individuellen Geldbußrahmen ermitteln kann, der durch die „schon“ und „noch“ schuld- und tatangemessene Geldbuße begrenzt ist.323 Dies wäre nur möglich, wenn man in der Kappungsgrenze, entgegen dem hier gefundenen Ergebnis, eine Bußgeldobergrenze erblicken wollte. 319 Gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 465 Abs. 1 StPO i.V. m. §§ 19, 3 Abs. 2 GKG und Anlage 1 GKG KV Nr. 4110 hat der Beschwerdeführer Gerichtskosten in Höhe von 10 % der festgesetzten Geldbuße, maximal 15.000,00 Euro zu tragen. Hinzu kommen die in Kartellverfahren aufgrund der bestehenden Anwaltspflicht notwendigen, angesichts der Problematik des Kartellrechts aber auch ratsamen Aufwendungen für die anwaltliche Beratung, die diesen Betrag schnell um ein Vielfaches übersteigen. 320 Dies übersehen Wrage-Molkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 153, wenn sie allein auf die Abgrenzungsfunktion des Bußgeldbescheids abstellen. 321 Ähnlich Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 95. 322 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1781), Rn. 76 (juris). 323 Vgl. zu diesem Vorgehen bereits Teil 3 § 1 B. (S. 336 ff.).

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Abgesehen davon, dass der Gesamtumsatz als Referenzgröße zum vorwerfbaren Unrecht nach hier vertretener Auffassung bereits mit dem Schuldprinzip unvereinbar ist,324 offenbart sich jedoch, dass ein Rückgriff auf den Gesamtumsatz bei vergleichbar verwirklichtem Unrecht von Kartellbeteiligten zu Kartellbeteiligten zu unterschiedlichen tatangemessenen Bußgeldrahmen führen würde. Wenngleich dessen Anpassung aufgrund der individuellen Vorwerfbarkeit und der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters ohnehin und berechtigterweise zu unterschiedlichen Endbeträgen führen kann, wären die an dem objektiven, tatbezogenen Merkmal der Bedeutung der Zuwiderhandlung, ausgerichteten möglichen Bußgeldgrundbeträge unterschiedlich.325 Insofern steht neben der Kollision mit dem Schuldprinzip auch noch eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung der juristischen Personen und Personenvereinigungen im Raum. Im derzeit geltenden System des offenen Bußgeldrahmens für Unternehmen hat es der Gesetzgeber dem Bundeskartellamt überlassen, Referenzpunkte bzw. -rahmen zur Ermittlung des mit der Geldbuße geahndeten Unrechts zu bestimmen. Zwar hat das Bundeskartellamt nichtsdestotrotz die Zumessungskriterien zu beachten, mangels absolut oder wenigstens relativ feststehender Bezugsgrößen bleibt der Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes jedoch nahezu in seiner gesetzlich maximalen Weite bestehen. Dies macht die Ermessensausübung des Bundeskartellamtes schwer vorhersehbar und überprüfbar.

C. Zusammenfassung Der Gesetzgeber hat dem Bundeskartellamt ein sehr weites Feld zur Ausübung seines Sanktionszumessungsermessens eingeräumt, indem er für natürliche Personen einen breiten Regelbußgeldrahmen und für juristische Personen und Personenvereinigung lediglich eine Mindestgeldbuße festgelegt hat. Der für letztere nach oben geöffnete „Bußgeldrahmen“ führt dazu, dass das Bundeskartellamt auch unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung und Literatur umfassend konkretisierten Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG eine kaum nachvollziehbare Bußgeldzumessung vornehmen kann. Lediglich die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einfachgesetzlich umsetzende Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB begrenzt die Bußgeldfestsetzung im Ergebnis absolut, indem die ermittelte Geldbuße jedenfalls bei 10 % des von dem Unternehmen im Vorjahr erzielten Gesamtumsatzes, nicht aber unterhalb der durch § 81 Abs. 4 S. 1 GWB bei einer Million Euro gesetzten Grenze, gekappt werden muss. Die mit der Systematik des OWiG und dem europäischen Recht in Einklang stehenden Regelungen der §§ 81 Abs. 4 S. 2, 3 GWB erlauben es der Kartellbehörde, außerge324

Vgl. Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.). Zu den Schwierigkeiten bei der „Umrechnung“ des verwirklichten Unrechts in die Bußgeldhöhe bei Definition des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze auch: Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (42 ff.). 325

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wöhnlich hohe Geldbußen gegen Unternehmen zu verhängen. Gleichsam führt die Kappungsgrenze allerdings zu einem zwingend engeren Verständnis des § 20 OWiG; da sie die wirtschaftliche Überforderung des betroffenen Unternehmens verhindern will, muss das Bundeskartellamt bei zeitnah verfolgten, mehreren Zuwiderhandlungen zwingend eine „Gesamtgeldbuße“ aus mehreren Einzelgeldbußen bilden und diese kappen. Die pflichtgemäß anzuwendenden, durch § 81 Abs. 4 S. 6 GWB „konkretisierten“ Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG stellen damit zwar eine sachgerechte Entscheidung des Bundeskartellamts sicher, indem eine an der Bedeutung des Unrechts und der Vorwerfbarkeit auszurichtende Geldbuße zu ermitteln ist, die mithilfe der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen korrigiert werden kann, um ihre Spürbarkeit zu ermöglichen. Auch führen sie bei natürlichen Personen zu einer deutlichen Verengung des Ermessensspielraums durch die relative Feststellbarkeit einer schon und noch schuld- und sachangemessenen Geldbuße. Bei Unternehmen ist der im allgemeinen Bußgeldrecht etablierte Bußgeldzumessungsvorgang allerdings mangels Bußgeldobergrenze nicht umsetzbar, sodass neben der konkreten Bußgeldzumessung im Einzelfall auch die abstrakt-generelle Art und Weise der Bußgeldermittlung in das Ermessen des Bundeskartellamts gestellt wurde, das Sanktionszumessungsermessen also erheblich erweitert wurde. Lediglich die vom Gesetzgeber intendierte weitere Ausdehnung des Sanktionszumessungsermessens hinsichtlich der Entscheidung, ob eine Geldbuße sowohl ahndet, als auch rechtswidrig erlangte Vorteile abschöpft, konnte mit der Regelung des § 81 Abs. 5 GWB nicht verwirklicht werden, da der Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG die Kartellbehörde nach wie vor dazu zwingt, einen sachlichen Grund für eine gegenüber einem Kartellbeteiligten unterlassene, gegenüber einem anderen Kartellbeteiligten jedoch vorgenommene Vorteilsabschöpfung darzutun. Dies wird ihr jedoch nur in atypischen Fällen, wie etwa einer drohenden Existenzgefährdung des Unternehmens bzw. bei im Unternehmen nicht mehr vorhandenen Vorteilen gelingen.

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens durch die Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes Die Untersuchung der heteronomen Ermessensgrenzen hat offenbart, dass dem Bundeskartellamt auch unter Anwendung der gesetzlich vorgeschriebenen Zumessungskriterien ein erheblicher Ermessensspielraum verbleibt. Zwar geben die Zumessungskriterien Aufschluss über die vom Bundeskartellamt anzustellenden Ermessenserwägungen. Auch führen sie jedenfalls bei natürlichen Personen aufgrund des stets zu beachtenden Schuldprinzips zu einer spürbaren Ermessensbeschränkung. Bei den eigentlichen Adressaten des Kartellverbots und den damit primären Adressaten eines Bußgeldbescheids kann die Bußgeldbemessung und -festsetzung im konkreten Einzelfall angesichts des nach hier vertretener Auffas-

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sung bestehenden, offenen Bußgeldrahmens gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB jedoch nicht einmal annähernd vorausgesehen werden. Das Bundeskartellamt ist dem Problem mangelnder Rechtssicherheit für Unternehmen mit der Veröffentlichung seiner Bußgeldleitlinien vom 15.09.2006326 begegnet, mit denen es die von ihm angewandte Methode der Bußgeldzumessung abstrakt darstellte. Diesen Bußgeldleitlinien lag die vom Bundeskartellamt ursprünglich vertretene Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze zugrunde. Nachdem sich der BGH jedoch der Auffassung des OLG Düsseldorf angeschlossen hatte, wonach die Regelung als Bußgeldobergrenze zu interpretieren sei, haben die Bußgeldleitlinien 2006 ihre Legitimität verloren. Das Bundeskartellamt sah sich daher gezwungen, am 19.04.2013 seine Bußgeldleitlinien 2006 außer Kraft zu setzen und diese mit Blick auf das Verständnis des BGH zu überarbeiten.327 Am 25.06.2013 veröffentlichte das Bundeskartellamt nunmehr neue Bußgeldleitlinien, die die Bußgeldbemessung anhand der Zumessungskriterien innerhalb des durch den Gesamtumsatz des Kartellbeteiligten und der fünf Euro Grenze des § 17 Abs. 1 OWiG feststehenden „Sonderbußgeldrahmens“ konkretisieren sollen.328 Vor ihrer Veröffentlichung äußerte sich der amtierende Präsident des Bundeskartellamts Mundt zu den neuen Bußgeldleitlinien dahingehend, dass mit einer signifikanten Änderung des Bußgeldniveaus nicht zu rechnen sei, da auch bei der zukünftigen Bußgeldbemessung insbesondere der bereits in den Bußgeldleitlinien 2006 besonders relevante, im kartellierten Markt erzielte Umsatz berücksichtigt werde.329 Aus diesem Grund, aber auch wegen der durchaus bestehenden Möglichkeit, dass betroffene Unternehmen Verfassungsbeschwerde einlegen, das BVerfG zu einem abweichenden Ergebnis gelangt und das Bundeskartellamt auf seine ursprünglichen Bußgeldleitlinien 2006 erneut zurückgreift, hat die Verfasserin auf eine Reflektion der Bußgeldleitlinien 2006 nicht verzichtet. Im Anschluss daran werden die neuen Bußgeldleitlinien 2013 vorgestellt und bewertet.

A. Qualifikation der Bußgeldleitlinien Das Bundeskartellamt hat mit dem Erlass der (alten wie neuen) Bußgeldleitlinien seine ihm durch § 81 Abs. 7 GWB „eingeräumte Befugnis“ 330 zur Fest326 BKartA, Bekanntmachung Nr. 38/2006 über die Festsetzung von Geldbußen nach § 81 Abs. 4 S. 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen – Bußgeldleitlinien – v. 15.9.2006, NJW 2006, 3544. 327 BKartA, PM v. 10.4.2013 und 19.4.2013. 328 BKartA, Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren v. 25.6.2013. 329 BKartA, PM v. 19.4.2013. 330 Rechtlich kann der Gesetzgeber die Exekutive eigentlich nicht zum Erlass von Verwaltungsvorschriften ermächtigen, da es sich dabei um ein originäres Recht der Verwaltung handelt. Dies offenbart, dass sich der Gesetzgeber wohl dazu genötigt sah, die

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legung von Verwaltungsgrundsätzen über die Bemessung von Geldbußen wahrgenommen.331 Bei den Bußgeldleitlinien handelt es sich also um ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften.332 Sie enthalten abstrakt-generelle Regelungen zur Methodik der Bußgeldbemessung, die eine einheitliche und für Nebenbetroffene eines Bußgeldverfahrens transparente Ausübung des Sanktionszumessungsermessens aller Beschlussabteilungen des Bundeskartellamtes sicherstellen und damit zu mehr Rechtssicherheit beitragen sollen.333 Wenngleich sich die Bußgeldleitlinien vordergründig an die Amtsträger der Kartellbehörde als verbindliches Innenrecht wenden, bindet sich das Bundeskartellamt mit diesen aufgrund des zu beachtenden allgemeinen Gleichheitssatzes gemäß Art. 3 Abs. 1 GG und des Vertrauensgrundsatzes selbst, da das Bundeskartellamt für die Zukunft zusichert, genau nach der beschriebenen Methode bei der Bußgeldzumessung vorzugehen.

B. Die Bußgeldleitlinien vom 15.09.2006 I. Anwendungsbereich und konkrete Bußgeldzumessung Bei der Schaffung der Bußgeldleitlinien 2006 hat sich das Bundeskartellamt stark an den Bußgeldleitlinien der Kommission orientiert.334 Nach Randnummer 1 und 2 galten diese allein für die Bemessung des ahndenden Teils der Geldbuße gegenüber Unternehmen und Unternehmensvereinigungen bzw. genauer gegenüber den juristischen Personen und Personenvereinigungen. Für eine Regelung der Bußgeldbemessung gegenüber natürlichen Personen sah das Bundeskartellamt im Hinblick auf die sich in langjähriger Praxis der Kartellbehörde und der Rechtsprechung herausgebildeten Grundsätze – zu Recht – keinen Bedarf.335 Die Bußgeldzumessung erfolgte nach Randnummer 3 der Bußgeldleitlinien 2006 in Regelung der Sachmaterie durch das BKartA rechtlich abzusichern. Zur Zulässigkeit dieser „Kompetenzübertragung“ siehe noch: Teil 4 § 2 D. II. (S. 518 ff.). 331 Die Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsgrundsätzen zur Bemessung von Geldbußen beinhaltet nach dem Willen des Gesetzgebers sowohl das Verfolgungsermessen gemäß § 47 Abs. 1 OWiG als auch das Sanktionszumessungsermessen. Vgl. Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 67, klarstellend insoweit der BRegE zur Preismissbrauchsnovelle, BT-Drs. 16/5847, S. 12; ebenso Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (459); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (49); Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 122, 126 ff.; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 180, 183 f.; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 48; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 51; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 469; a. A. aber wohl Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 328. 332 Vertiefend zu Verwaltungsrichtlinien siehe Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.). 333 Vgl. BKartA, PM v. 26.9.2006 sowie PM v. 25.6.2013. 334 Vgl. BKartA, PM v. 26.9.2006. 335 Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (460); krit. Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3525).

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einem „Zwei-Stufen-System“. In einem ersten Schritt ermittelte das Bundeskartellamt einen Bußgeld-Grundbetrag anhand der Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung, welcher dann im zweiten Schritt durch sogenannte Anpassungsfaktoren nach oben oder unten korrigiert bzw. angepasst wurde. Anschließend und quasi auf der dritten, wenngleich nicht explizit als solche benannten, Stufe prüfte und berücksichtigte das Bundeskartellamt weitere Aspekte, etwa die Wertung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB. 1. Ermittlung des Grundbetrags

Zur Bestimmung des Grundbetrags stellte das Bundeskartellamt entscheidend auf die Schwere der Zuwiderhandlung und ihre Dauer ab.336 Entsprechend den Leitlinien der Kommission337 sollte der Grundbetrag für horizontale oder vertikale Wettbewerbsverstöße maximal 30 % des tatbezogenen, inländischen Umsatzes betragen, den die betreffende juristische Person oder Personenvereinigung während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung erzielt hatte. Bei fahrlässiger Begehung halbierte das Bundeskartellamt den letztlich ermittelten Grundbetrag um die Hälfte gemäß § 17 Abs. 2 OWiG analog.338 Als tatbezogenen Umsatz definierte das Bundeskartellamt denjenigen inländischen Umsatz, den die juristische Person oder Personenvereinigung mit Produkten oder Dienstleistungen, die „mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehen“, erzielt hatte, oder – subsidiär – den es hätte erzielen können, wenn die Art der Zuwiderhandlung die Umsatzerzielung nicht verhindert hätte oder die Zuwiderhandlung planwidrig nicht zum angestrebten Erfolg geführt hat.339 Damit berücksichtigte es also den gesamten kartellbehafteten Umsatz, der während der Dauer der Zuwiderhandlung erwirtschaftet worden ist. Bei Wettbewerbsverstößen, die kein volles Jahr dauerten, wurde hingegen der „tatbezogene“ Umsatz, vergleichbar mit der Eintrittsgebühr der Kommission, anhand des während der letzten zwölf Monate vor der Beendigung der Zuwiderhandlung erzielten Umsatzes zugrunde gelegt.340 Bei der Berechnung des tatbezogenen Umsatzes orientierte sich das Bundeskartellamt an § 38 Abs. 1 GWB, schätzte ihn jedoch notfalls, etwa in Fällen weit zurückreichender Wettbewerbsverstöße oder bei nicht erzielten Umsätzen.341 Gegen die „selbst verliehene“ Schätzungsbefugnis wurden zunächst Bedenken erhoben, da nur der Gesetzgeber befugt gewesen sei, dem Bundeskartellamt eine 336

Rn. 4 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EG v. 1.9. 2006, Nr. C 210, S. 2 ff., Rn. 21. 338 Rn. 11 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 339 Rn. 5 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 340 Rn. 10 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 341 Rn. 6–7 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 337

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

solche einzuräumen. Ob diese Kritik berechtigt war, konnte nach der Einfügung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB durch die Preismissbrauchsnovelle,342 nach welchem das Bundeskartellamt den Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit, der die betroffene juristische Person oder Personenvereinigung angehört, schätzen darf, dahinstehen, da diese Schätzungsbefugnis jedenfalls auch den tatbezogenen Umsatz beinhaltet.343 Die Kritik war aber auch schon deshalb angreifbar, weil der Gesetzgeber dem Bundeskartellamt die konkrete Bemessung der Geldbuße nicht vorgegeben hat. Den prozentualen Anteil des tatbezogenen Umsatzes bestimmte das Bundeskartellamt letzten Endes anhand der Schwere der Zuwiderhandlung, die entscheidend von der Art der Zuwiderhandlung, den Auswirkungen auf den Markt, dessen Größe und Bedeutung sowie die Marktposition der beteiligten Nebenbetroffenen abhängig sein sollte.344 Bei den schwerwiegenden horizontalen HardcoreKartellen beabsichtigte es, den Grundbetrag regelmäßig im oberen Bereich des so bewirkten Grundbetragsrahmens festzusetzen.345 2. Anpassungsfaktoren

Die Bußgeldleitlinien 2006 wiesen in den Randnummern 15 ff. einen nicht abschließenden Katalog von Umständen auf, die den Grundbetrag letztlich individualisieren sollten. Dabei beabsichtigte das Bundeskartellamt Umstände, die bereits bei der Feststellung des Grundbetrags berücksichtigt wurden – angesichts des Rechtsgedankens des § 46 Abs. 3 StPO zu Recht – nicht erneut in die Zumessungserwägungen einfließen zu lassen.346 Zunächst behielt sich die Kartellbehörde einen Abschreckungsaufschlag von bis zu 100 % des Grundbetrages vor, der anhand der Größe der wirtschaftlichen Einheit, dem die betroffene juristische Person angehört, bestimmt werden sollte.347 Im Übrigen seien erschwerende Umstände insbesondere eine schwere Form des Vorsatzes oder der Fahrlässigkeit, die (Kartell-)Anführerschaft oder der Einsatz von Zwangs- oder Drohmitteln sowie die Wiederholungstat gewesen; mildernd berücksichtigte das Bundeskartellamt hingegen ein positives Nachtatverhalten, eine passive Rolle während des Kartells oder die Genehmigung durch eine Behörde.348

342 Zurückgehend auf die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie, vgl. BT-Drs. 16/7156, S. 11. 343 So auch schon vor Umsetzung der Preismissbrauchsnovelle: Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (462). 344 Rn. 8 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 345 Rn. 9 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 346 Rn. 14 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 347 Rn. 15 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 348 Rn. 16, 17 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544.

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens

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3. Festsetzung der endgültigen Geldbuße

Sofern die nach den vorstehenden Kriterien ermittelte Geldbuße die – zutreffend als Kappungsgrenze definierte – 10 %-Grenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB überschritten hatte, kürzte das Bundeskartellamt die Ahndungsgeldbuße auf das zulässige Höchstmaß.349 Es behielt sich jedoch vor, den ahndenden Teil der Geldbuße (nach der Kappung) durch einen abschöpfenden Anteil zu ergänzen, sodass die sowohl ahndende als auch abschöpfende Geldbuße gegebenenfalls die Kappungsgrenze überschreiten konnte.350 Im Anschluss daran oder – sofern das Bundeskartellamt weder die Geldbuße kappte, noch durch einen abschöpfenden Anteil ergänzte – direkt im Anschluss an die Ermittlung der Geldbuße nach den obigen Kriterien ermäßigte das Bundeskartellamt die Geldbuße um den gegebenenfalls in Rahmen der Bonusregelung gewährten Bonus.351 Stellte sich nach alledem heraus, dass das betroffene Unternehmen die so ermittelte Geldbuße kurz- oder mittelfristig nicht zahlen können würde, beabsichtigte das Bundeskartellamt dem Problem drohender Existenzgefährdung vordergründig mit der Erteilung eines Besserungsscheins oder der Gewährung einer Stundung zu begegnen; nur in dem Falle, dass das Unternehmen nachweislich auch langfristig in seiner Existenz bedroht sein würde, gewährte es eine Bußgeldermäßigung.352 II. Die Bußgeldleitlinien 2006 im Spiegel des Rechtsstaatsprinzips Im Zusammenhang mit der Prüfung der Zulässigkeit von Bußgeldkatalogen hat das BVerfG die generellen, verfassungsrechtlichen Schranken für abstrakt-generelle, exekutive Regelungen im Bußgeldrecht hervorgehoben. Danach darf die Verwaltung Ordnungswidrigkeiten zwar bußgeldrechtlich typisieren, indem sie an – mittels bestimmter Voraussetzungen definierte – Ordnungswidrigkeiten (für angemessen befundene) „Regelgeldbußen und andere -sanktionen“ knüpft, um auf diese Weise die Rechtsanwendung praktikabler zu machen und für mehr Rechtssicherheit und Anwendungsgleichheit zu sorgen.353 Dabei haben sich die Bestimmungen jedoch innerhalb der durch die formelle Ermächtigungsnorm gesetzten Grenzen zu halten, die gesetzlichen Vorschriften also lediglich verfassungskonform auszufüllen. Zudem sei zu beachten, dass ein verfassungsrechtlich zulässiger Katalog von Regelbeispielen nur Indizwirkung entfalte und den Tatrichter (und die Verfolgungsbehörde) daher nicht von der Pflicht entbinde,

349

Rn. 22 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. Rn. 22 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 351 Rn. 23 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544; a. A. offenbar Raum, in: LB/ GWB, § 81 Rn. 182. 352 Rn. 24 der Bußgeldleitlinien, NJW 2006, 3544. 353 BVerfG, Beschl. v. 24.3.1996, Az. 2 BvR 616/91, 2 BvR 588/92, 2 BvR 1585/93, 2 BvR 1661/93 – BKatV, NJW 1996, 1809 (1810), Rn. 47. 350

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„dem Schuldprinzip (Art. 1 I und Art. 20 III GG) und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip (Art. 2 I i.V. mit Art. 20 III GG) durch eine Gesamtwürdigung zu entsprechen, in die alle Umstände der Tat und die Sanktionsempfindlichkeit des Betr. [sic!] einzustellen sind.“ 354

Wenngleich die Bußgeldleitlinien 2006 des Bundeskartellamtes nicht als Bußgeldkatalog zu qualifizieren sind, da sie der zuständigen Beschlussabteilung keine konkrete Geldbuße im Vorfeld angetragen haben, können die Erwägungen des BVerfG uneingeschränkt auch auf diese übertragen werden. Denn sie haben den Beschlussabteilungen jedenfalls vorgeschrieben, welche Maßstäbe und Größen sie zu ihrer Bemessung auf welche Art und Weise heranzuziehen haben. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften unterliegen letztlich wie ihre „großen Brüder“ der ermessenslenkenden Verordnungen gemäß Art. 20 Abs. 3 GG dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.355 Dessen Teilgewährleistung, der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes, verlangt, dass die Bußgeldleitlinien vor allem mit den formellen Gesetzen der § 81 GWB und § 17 OWiG in Einklang stehen und eine dem Wesen des Ermessens entsprechende, an dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszurichtende Einzelfallentscheidung ermöglichen. 1. Vereinbarkeit mit den formellen Vorschriften des Kartellbußgeldrechts?

Der Gesetzgeber hat dem Bundeskartellamt mit der deklaratorischen Ermächtigung zum Erlass von Verwaltungsgrundsätzen über die Ausübung seines Ermessens bei der Bußgeldbemessung in § 81 Abs. 7 GWB keine weiteren Vorschriften über ihre inhaltliche Ausgestaltung erteilt. Lediglich in der Regierungsbegründung zum Gesetzesentwurf der „kleinen“ 7. GWB-Novelle im Rahmen der Preismissbrauchsnovelle findet sich der Hinweis, dass sich das Bundeskartellamt bei der Festlegung von Verwaltungsrichtlinien an den Leitlinien der Kommission orientieren könne.356 Unabhängig davon, dass es sich hierbei nur um eine gesetzgeberische Empfehlung handelt, hätte diese – formuliert als Pflicht – auch keine bindende Wirkung für das Bundeskartellamt, da sich der Hinweis auf die Bußgeldleitlinien der Kommission nicht in der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage selbst wiederfindet. Das Bundeskartellamt hatte damit weitestgehend freie Hand bei der Festlegung seiner Bußgeldleitlinien. Einzig die gesetzlichen Rahmenbestimmungen und Zumessungskriterien galt es zu beachten. Wenngleich die Buß354 BVerfG, Beschl. v. 24.3.1996, Az. 2 BvR 616/91, 2 BvR 588/92, 2 BvR 1585/93, 2 BvR 1661/93 – BKatV, NJW 1996, 1809 (1810), Rn. 48 ff., insb. 53, 55 (juris); im Anschluss daran etwa auch: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.11.1999, Az. 2a Ss (OWi) 323/99 – (OWi) 103/99 III, Rn. 11 (juris); OLG Köln, Beschl. v. 8.8.2000, Az. Ss 306/ 00 (B), Rn. 11 (juris). 355 Vgl. bereits Teil 2 § 4 E. V. 1. (S. 216 ff.). 356 Begr. BRegE zur Preismissbrauchsnovelle, vgl. BT-Drs. 16/5847, S.12.

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geldleitlinien 2006 in der Literatur nur vereinzelt reflektiert wurden, finden sich gerade im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem formellen Bußgeldrecht verschiedene Kritikansätze, denen es an dieser Stelle nachzugehen gilt. a) Widerspruch mit der durch das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht bestimmten Systematik der Bußgeldbemessung? Grundlegende Kritik übten vor allem Bach und Klumpp, die dem Bundeskartellamt vorwarfen, mit den Bußgeldleitlinien 2006 die im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht gebotene Methode der Sanktionszumessung missachtet zu haben, indem es sich an die Praxis der Kommission angelehnt habe, die Bußgelder nach oben offener Höhe zulasse.357 Stattdessen sei eine angemessene Bußgeldhöhe innerhalb des gesetzlichen Regelbußgeldrahmens mithilfe der gesetzlichen Zumessungskriterien zu bestimmen. Die Auffassung wäre nachvollziehbar, wenn die Verfasser die Regelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, wie der BGH und das OLG Düsseldorf, als obere Grenze eines Sonderbußgeldrahmens für Unternehmen begriffen hätten. Unterstellte man die Richtigkeit einer solchen Qualifikation, wäre der alleinige Rückgriff auf den tatbezogenen Umsatz als Referenzgröße zur Bestimmung eines Grundbetrags der Geldbuße in der Tat unzulässig gewesen, da dann – umgekehrt – anhand der gesetzlichen Zumessungskriterien in dem durch den Gesamtumsatz des Kartellbeteiligten gesetzten Rahmen eine Geldbuße festzulegen gewesen wäre. Umso merkwürdiger mutet die Auffassung von Bach und Klumpp aber vor dem Hintergrund an, dass sie die in Randnummer 18 der Bußgeldleitlinien 2006 zum Ausdruck gekommene, bisherige Auffassung des Bundeskartellamtes teilen, wonach es sich bei § 81 Abs. 4 S. 2 GWB um eine gesetzliche Kappungsgrenze handele.358 Folgt man dieser Auffassung ist der Gesamtumsatz des Kartellbeteiligten damit jedoch erstens nicht zwingender Referenzmaßstab für die Bußgeldzumessung. Und zweitens existiert dann kein vom Gesetzgeber festgelegter, regulärer Bußgeldrahmen, anhand dessen eine Bußgeldzumessung erfolgen könnte. Das von Bach und Klumpp geforderte Unterfangen ist bei diesem Verständnis de lege lata unmöglich. Vielmehr blieb dem Bundeskartellamt mangels gesetzlicher Bußgeldobergrenze keine andere Möglichkeit, als auf eine alternative, hinreichend bestimmbare und – wie noch zu zeigen sein wird359 – regelmäßig sachgerechte Referenzgröße auszuweichen, anhand derer es die Bußgeldzumessung im konkreten Einzelfall vorgenommen hat.

357

Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3525). Zur Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze vgl. Teil 3 § 2 A. II. 1. (S. 345 ff.) sowie zu dessen Implikationen auf den Ermessensspielraum des BKartA Teil 3 § 2 B. IV. 3. (S. 412 ff.). 359 Siehe Teil 3 § 3 B. III. 1. a) (S. 432 ff.). 358

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Ferner befürchteten Bach und Klumpp, dass das Bundeskartellamt den „Irrtum des Gesetzgebers“, eine Unternehmensgeldbuße nach europäischem Vorbild „an § 30 OWiG vorbei“ im deutschen Bußgeldrecht zu etablieren, mit den Bußgeldleitlinien 2006 fortzuführen gewollt habe, indem es mit dessen Randnummer 19 zur Bestimmung der Kappungsgrenze auch die Umsätze der mit dem Kartellbeteiligten verbundenen, juristischen Personen berücksichtigte.360 Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB im Rahmen der Preismissbrauchsnovelle klargestellt, dass zur Bestimmung des Gesamtumsatzes der weltweite Umsatz der wirtschaftlichen Einheit zugrunde zu legen ist, welcher die zu ahndende juristische Person oder Personenvereinigung angehört. Damit entsprachen die Bußgeldleitlinien 2006 der eindeutigen Gesetzeslage, nach der das Bundeskartellamt verpflichtet ist, die 10 %-Umsatzgrenze anhand der Umsätze aller verbundenen Unternehmen festzustellen. Dass sich das Bundeskartellamt an der Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB orientierte, also seiner rechtsanwendenden Funktion unter Respektierung der rechtssetzenden Funktion des Gesetzgebers nachkam,361 kann ihm nicht als rechtwidriges Verhalten vorgeworfen werden. Im Übrigen wurde oben bereits aufgezeigt, dass der – in den Bußgeldleitlinien wahrscheinlich in Anlehnung an den Gesetzestext verwendete – Begriff des Unternehmens der Systematik des Ordnungswidrigkeitenrechts entsprechend auszulegen ist, sodass eine „Unternehmensgeldbuße“ bzw. Geldbuße gegenüber dem Verbund ohne darauf basierender Zurechnung ordnungswidrigen Verhaltens ausgeschlossen ist.362 Daran ändert auch die Bestimmung des Gesamtumsatzes anhand der Umsätze aller mit dem Kartellbeteiligten verbundenen juristischen Personen oder Personenvereinigungen nichts. Diese ist nach hier vertretener (und den Bußgeldleitlinien 2006 zugrunde gelegter) Auffassung lediglich die zwingende, da konsistente Folge der Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze.363 Zur Feststellung der wirtschaftlichen Belastbarkeit des Kartellbeteiligten kann die Einbindung des Kartellbeteiligten in einen Verbund nicht ausgeblendet werden, da dieser von der Wirtschaftskraft und den Ressourcen aller angebundenen juristischen Personen und Personenvereinigungen profitiert. Eine isolierte Betrachtung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Kartellbeteiligten würde daher die Realität verzerren und überdies andere, nicht vertikal integrierte juristische Personen oder Personenvereinigungen benachteiligen. Zwar ist die Konzernobergesellschaft als Eigentümerin der zuwiderhandelnden Tochtergesellschaft von einer an dem Verbundumsatz orientierten Geldbuße mittelbar wirtschaftlich betroffen, allerdings haftet ihr, sofern sie nicht selbst betei360

Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3525). Zum Gewaltenteilungsgrundsatz vertiefend: Teil 4 § 2 (S. 497 ff.). 362 Zur Auslegung des Unternehmensbegriffs in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB: Teil 3 § 2 A. II. 2. (S. 357 ff.). 363 Dazu vertiefend bereits: Teil 3 § 2 A. II. 3. (S. 360 ff.). 361

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ligt war oder ihre Aufsichtspflicht verletzt hat, weder der Status eines „Rechtsbrechers“ an, noch kann das Bundeskartellamt zur Vollstreckung des Bußgeldbescheids unmittelbar auf sie als „haftendes“ Rechtssubjekt zurückgreifen.364 Adressatin des Bußgeldbescheids ist und bleibt allein die an dem Kartell beteiligte juristische Person oder Personenvereinigung. Durch die Anwendung der Bußgeldleitlinien 2006 wurden die Konzernobergesellschaft und die Schwestergesellschaften eines Kartellbeteiligten daher nicht systemwidrig für eine Zuwiderhandlung verantwortlich gemacht, die sie nicht begangen haben. Ob das Bundeskartellamt zur Bestimmung des tatbezogenen Umsatzes auch auf Umsätze zwischen verbundenen Unternehmen zurückgreifen darf, ist, da auch dieses Vorgehen nicht zu einer unmittelbaren „Haftung“ der Konzernobergesellschaft führt, ebenfalls keine Frage der Vereinbarkeit mit der Systematik des Ordnungswidrigkeitenrechts, sondern betrifft vielmehr die Schuldangemessenheit der Geldbuße für die begangene Zuwiderhandlung und wird noch im Abschnitt III.1. zu untersuchen sein. b) Beachtung der gesetzlichen Zumessungskriterien Die Bußgeldleitlinien 2006 berücksichtigten auch sämtliche, gemäß § 17 Abs. 3 OWiG zwingend anzuwendende Zumessungskriterien. Im Rahmen der ersten Stufe der Bußgeldbemessung konkretisierten die Bußgeldleitlinien den bislang beabsichtigten Umgang mit dem Zumessungskriterium der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit, die wiederum anhand der Maßstäbe des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB, nämlich der Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung bestimmt und in dem Grundbetrag ihren Ausdruck finden sollte. Im zweiten Schritt wurde der Grundbetrag wiederum anhand von Anpassungsfaktoren korrigiert. Die seitens des Bundeskartellamtes nicht abschließend aufgeführten mildernden und erschwerenden Umstände gaben weitestgehend365 anerkannte Aspekte wieder, die der Bestimmung des dem Kartellbeteiligten zu machenden, individuellen Vorwurfs dienten.366 Der Abschreckungsaufschlag verwirklichte ferner das gesetzgeberische Anliegen, nach dem die Verfolgungsbehörde bei der Bemessung der Geldbuße deren Eignung zur Spezialprävention anhand des Zumessungskriteriums der individuellen wirtschaftlichen Verhältnisse zu überprüfen hat. Daher ist es irreführend, den Grund für eine Verdopplung des Grundbetrags als „tautologisch“ zu qualifizieren, weil ohnehin jede Geldbuße einen abschreckenden Zweck verfolge.367 Sinn der Regelung war es nämlich gerade, diese abschre364

Vgl. die Ausführungen zu Teil 3 § 2 A. II. 3. (S. 360 ff.). Zu den problematischen bußgelderhöhenden, erschwerenden Umständen noch: Teil 3 § 3 B. II. 1. c) (S. 425 ff.). 366 Vertiefend Teil 3 § 3 B. II. 3. (S. 429 ff.). Zu den dort nicht erwähnten Maßnahmen zur Erhöhung der Kartelldisziplin vgl.: OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VIKart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1747), Rn. 859 (juris). 367 So Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (51). 365

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ckende Wirkung – der gesetzgeberischen Intention zur Verbesserung des Wettbewerbsschutzes entsprechend – sicherzustellen. Im Übrigen entsprachen die Bußgeldleitlinien 2006 auch der gesetzlichen Rangordnung des § 17 Abs. 3 OWiG. Die vorrangig zu berücksichtigende Bedeutung der Ordnungswidrigkeit bestimmte im ersten Schritt den Grundbetrag. Erst im Anschluss kamen der Vorwurf und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Kartellbeteiligten zum Tragen. Insoweit wird man wohl auch den Vorwurf zurückweisen können, wonach das Bundeskartellamt eine unverständliche und – mehr noch – unrichtige Reihenfolge der Anpassungsfaktoren gewählt habe, indem es den Abschreckungsfaktor vor den mildernden und erschwerenden Umständen platzierte.368 Die Kritik verkennt zunächst den soeben beschriebenen Zweck des Abschreckungsaufschlags, wenn sie anmerkt, dass bei dem vermeintlich häufigsten, eine Abschreckung notwendig machenden Fall, nämlich der Wiederholungstat, nach den Bußgeldleitlinien 2006 zunächst ein Abschreckungsaufschlag zu erheben gewesen sei, um anschließend die Geldbuße nochmals zu erhöhen, weil die Wiederholungstat im Katalog der erschwerenden Umstände aufgeführt war.369 Der wiederholte Verstoß gegen Wettbewerbsvorschriften verschärft jedoch ausschließlich den Vorwurf, der gegen den Kartellbeteiligten zu erheben ist und bildet damit auch allein einen bußgelderhöhenden, erschwerenden Umstand, nicht aber einen Umstand, der den Abschreckungsaufschlag gerechtfertigt hätte. Im Übrigen wäre der Kritik nur beizupflichten, wenn das Bundeskartellamt mit der Auflistung der Anpassungsfaktoren ersichtlich eine zwingende Anwendungsreihenfolge hätte etablieren wollen, nach der zuallererst die Abschreckung, zweitens erschwerende und schließlich drittens mildernde Umstände zu berücksichtigen gewesen wären. Denn die Kartellbehörde kann in der Tat nur dann beurteilen, ob ein Abschreckungsaufschlag gegenüber einer juristischen Person oder Personenvereinigung angesichts ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft notwendig ist, wenn es eine (vorläufige) Geldbuße anhand der Bedeutung der Zuwiderhandlung und der „Schuld“ des Kartellbeteiligten festgestellt hat und zu dem Ergebnis gelangt, dass nur eine nochmalige Erhöhung dieser Geldbuße eine individuelle, abschreckende „Spürbarkeit“ garantiert. Weder der Wortlaut der Bußgeldleitlinien 2006 noch die Stellungnahmen der Vertreter des Bundeskartellamtes370 sprechen jedoch dafür, dass der Abschreckungsaufschlag noch vor der das Schuldprinzip verwirklichenden und damit vorrangigen Berücksichtigung des Vorwurfs, der den Kartellbeteiligten trifft, festgesetzt werden sollte. 368

Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3528). Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3528). 370 So etwa Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (462) („Neben dem sog. Abschreckungsfaktor finden die [. . .] erschwerenden und mildernden Umstände Berücksichtigung.“); Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 129 („Als Anpassungsfaktoren nennen die Bußgeldleitlinien des BKartA neben erschwerenden und mildernden Umständen ausdrücklich einen Abschreckungsfaktor [. . .].“). 369

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Allerdings hat das Bundeskartellamt verkannt, dass es sich die Abschöpfung der rechtswidrig erlangten Vermögensvorteile nicht nur vorbehalten kann,371 sondern hierzu entsprechend § 17 Abs. 4 OWiG (i.V. m. Art. 3 Abs. 1 GG) regelmäßig verpflichtet ist.372 c) Vereinbarkeit mit dem Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB analog An anderer Stelle wurde bereits erläutert, dass Umstände, die den Bußgeldrahmen bestimmen oder bereits anderweitig zur Bußgeldzumessung berücksichtigt wurden, nicht nochmals im Hinblick auf ein anderes Zumessungskriterium in die Erwägungen einfließen dürfen.373 Obgleich sich das Bundeskartellamt in Randnummer 14 der Bußgeldleitlinien 2006 ausdrücklich zu dem Doppelverwertungsverbot bekannte, erwähnte es in Randnummer 16 zwei erschwerende Umstände, mit deren Berücksichtigung als den Vorwurf verstärkende Aspekte es unter Umständen gerade gegen § 46 Abs. 3 StGB analog verstoßen hat.374 Dies gilt zunächst für den „hohen Organisationsgrad einer Kartellabsprache“. Dabei handelt es sich eigentlich um ein objektives, tatsächliches Merkmal, was in der Regel bereits zur Beurteilung der Schwere der Zuwiderhandlung zum Tragen kommt. Zwar indiziert die besonders schwerwiegende Verletzung von Wettbewerbsverstößen in der Regel auch einen erheblichen Grad der Vorwerfbarkeit,375 allerdings dürfen einzelne, die Schwere des Unrechts begründende Umstände den individuellen Vorwurf nicht durch separate Würdigung nochmals steigern. Nur wenn unter anderem der erhöhte Organisationsgrad innerhalb der betreffenden juristischen Person oder Personenvereinigung für die Förderung und Pflege einer besonders wettbewerbsfeindlichen oder -gleichgültigen Gesinnung oder für schwerwiegende Organisationsmängel spricht, könnten diese den Vorwurf erhöhen. Ferner war auch der Verweis auf „schwere Formen“ des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit problematisch. Denn die subjektiven Merkmale des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit bestimmen gemäß § 17 Abs. 2 OWiG bereits den Regelbußgeldrahmen bzw. bei juristischen Personen und Personenvereinigungen – nach hier, bislang auch vom Bundeskartellamt vertretener Auffassung – die Kappungsgrenze. Das Bundeskartellamt hatte zudem in Randnummer 11 der Bußgeldleitlinien klargestellt, dass die Wertung des § 17 Abs. 2 OWiG auch zur Bestimmung des prozentualen Anteils des tatbezogenen Umsatzes und damit die Höhe des Grundbetrags herangezogen werde. Mit der Berücksichtigung des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit zur Bestimmung des Grundbetrags der Geldbuße und der Kap371 372 373 374 375

So aber Rn. 22 der Bußgeldleitlinien 2006, NJW 2006, 3544. Hierzu umfassend: Teil 3 § 2 B. IV. 1. (S. 405 ff.). Siehe Teil 3 § 2 B. III. 2. (S. 382 ff.). Insoweit zutreffend: Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527 f.). Vgl. Teil 3 § 2 B. I. 2. (S. 376 ff.).

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pungsgrenze war die Aussagekraft des jeweiligen subjektiven Merkmals für die Bußgeldzumessung jedoch grundsätzlich erschöpft, sodass eine nochmalige Berücksichtigung als erschwerender Umstand – entgegen der Randnummer 16 der Bußgeldleitlinien 2006 – ausscheiden musste.376 Auch hier gilt, dass allenfalls eine zusätzlich zum Ausdruck gekommene, besonders fehlerhafte Sinnbestimmung den Vorwurf, der dem Kartellbeteiligten zu machen ist, hätte erhöhen können. Angesichts der Tatsache, dass die Bußgeldleitlinien 2006 die jeweiligen Beschlussabteilungen hinsichtlich der erschwerenden Umstände jedoch nicht zu einer unbedingten Berücksichtigung verpflichteten, sondern mögliche Anpassungsfaktoren nur benannten, ist ein Verstoß der Bußgeldleitlinien 2006 gegen das Doppelverwertungsverbot nicht zwingend anzunehmen. Allerdings war es an den zuständigen Beschlussabteilungen, zu beachten, dass es mehr als nur einen erhöhten Organisationsgrad oder eine „schwere“ Form des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit bedurfte, um zu einer höheren Vorwerfbarkeit zu gelangen. Mangels veröffentlichter Bußgeldbescheide kann an dieser Stelle allerdings nicht überprüft werden, ob die Beschlussabteilungen diesem Umstand in der Vergangenheit Rechnung getragen haben. d) Partielle Missinterpretation der Kappungsgrenze Entsprechend seiner zutreffenden Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze kappte das Bundeskartellamt die anhand der Zumessungskriterien bemessene Geldbuße bislang im Falle vorsätzlicher Zuwiderhandlungen bei 10 % und im Falle fahrlässiger Zuwiderhandlungen bei 5 % des im Vorjahr erzielten Gesamtumsatzes der wirtschaftlichen Einheit.377 Allerdings führte es in den Bußgeldleitlinien 2006 die Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze nicht konsequent zu Ende.378 In Randnummer 22, S. 3 der Bußgeldleitlinien 2006 wies das Bundeskartellamt nämlich darauf hin, dass es die Kappungsgrenze gemäß § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG überschreiten könne, wenn es sich dazu entschließe, innerhalb des Bußgeldverfahrens auch den rechtswidrig erlangten,

376 Grenzwertig daher OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.4.2006, Az. VI-2 Kart 5–6/05 OWi – Transportbeton, WuW/E DE-R 1893 (1901), Rn. 82 (juris) („Zu seinen Lasten fällt des Weiteren der Grad der Fahrlässigkeit ins Gewicht. Da der Betroffene [. . .] nicht nur keine geeigneten oder wirksamen Kontrollen, sondern keinerlei Aufsichtsmaßnahmen veranlasst hat, hat er sich in einem an vorsätzliches Verhalten grenzenden Ausmaß bedenkenlos verhalten.“); ähnlich Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (178). 377 Rn. 18 der Bußgeldleitlinien. 378 Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (172) weist darauf hin, dass die Bußgeldleitlinien nach ihrer Rn. 2 nur auf die Bemessung des ahndenden Teils der Geldbuße Anwendung finden, jedoch, wie sich aus Rn. 22 ergibt, nicht die Vorteilsabschöpfung ausschließen. Dies rechtfertigt jedoch nicht eine eingeschränkte Anwendung der Kappungsgrenze.

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wirtschaftlichen Vorteil abzuschöpfen. Qualifiziert man § 81 Abs. 4 S. 2 GWB allerdings als Kappungsgrenze, ist dem Bundeskartellamt im Kartell-Bußgeldverfahren ein Rückgriff auf § 17 Abs. 4 S. 2 versperrt.379 Gemäß § 17 Abs. 4 S. 1 OWiG soll die Geldbuße grundsätzlich den erlangten wirtschaftlichen Vorteil übersteigen. Daher gestattet es Satz 2 der Vorschrift das gesetzliche Höchstmaß gegebenenfalls zu überschreiten, wenn andernfalls das in Satz 1 der Vorschrift definierte Ziel nicht erreicht werden kann. Der Begriff des gesetzlichen Höchstmaßes entspricht wiederum der Typologie des Ordnungswidrigkeitenrechts im Allgemeinen und des § 17 Abs. 1 OWiG im Besonderen. Gemeint ist demnach die in Bußgeldtatbeständen normalerweise ausgewiesene Bußgeldobergrenze. Eine solche weist die Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, wie das Bundeskartellamt zutreffend erkannt hat, allerdings nicht auf. § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG hätte daher im Kartellbußgeldrecht der juristischen Personen allenfalls analoge Anwendung finden können. Dem widerspricht jedoch nicht nur der Wortlaut der die allgemeine Regelung modifizierenden, speziellen Vorschrift des § 81 Abs. 5 S. 1 GWB, sondern vor allem der Sinn und Zweck der Kappungsgrenze. Nach § 81 Abs. 5 S. 1 GWB findet die Vorschrift des § 17 Abs. 4 OWiG mit der Maßgabe Anwendung, dass der wirtschaftliche Vorteil durch die Geldbuße nach § 81 Abs. 4 GWB abgeschöpft werden kann. Dementsprechend soll die sowohl ahndende als auch abschöpfende Geldbuße ihre absolute Grenze in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB finden. Zwar verweist die Vorschrift auch auf den Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB. Dieser wird in der Regel jedoch allein für natürliche Personen Anwendung finden, welche zumeist keine wirtschaftlichen Vorteile aus der Zuwiderhandlung ziehen, da die eigentlichen Nutznießer der Zuwiderhandlung und Adressaten des § 1 GWB und Art. 101 AEUV die juristischen Personen oder Personenvereinigungen sind. Selbst wenn man das Argument des Wortlauts des § 81 Abs. 5 S. 1 GWB wegen des groben Verweises auf § 81 Abs. 4 GWB nicht gelten lassen will, ergibt sich bereits aus dem Sinn und Zweck der Kappungsgrenze, dass § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG keine Anwendung finden kann. Als gesetzliche Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes soll die Kappungsgrenze nämlich verhindern, dass Kartellbeteiligte durch die Geldbuße in ihrer Existenz gefährdet werden. § 81 Abs. 4 S. 2 GWB stellt demgemäß die äußerste Belastungsgrenze dar, die eine Kartellgeldbuße – unabhängig von Verhältnismäßigkeitserwägungen im Einzelfall – unter keinen Umständen überschreiten darf. Ließe man zu, dass die Kappungsgrenze für den verfassungsmäßig intendierten Regelfall der sowohl abschöpfenden als auch ahndenden Geld379 Ähnlich Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27; a. A., allerdings vor dem Hintergrund seiner Einordnung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze folgerichtig: Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 170; a. A. freilich auch die Stellvertreter des BKartA: Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (463 f.) und Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (172 f.), die § 81 Abs. 4 S. 2 GWB allerdings zutreffend als Kappungsgrenze interpretieren und ihre eingeschränkte Anwendung mit der andernfalls unzulänglich abschreckenden Wirkung der Geldbuße begründen.

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buße380 keine Anwendung findet, würde die Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB – abgesehen von wenigen Ausnahmefällen – gegenstandslos und verlöre damit ihren Sinn. Das Bundeskartellamt hätte etwa einen sehr nah an die Kappungsgrenze reichenden, ahndenden Teil der Geldbuße festsetzen und zusätzlich den gesamten gezogenen, wirtschaftlichen Vorteil abschöpfen können. Im Extremfall würde der wirtschaftlichen Einheit damit mittelbar ein Fünftel des gesamten Vorjahres-Umsatzes oder mehr entzogen, was die gesamte Gruppe in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringen könnte. Bei juristischen Personen und Personenvereinigungen, für die das Gesetz ohnehin keine Bußgeldobergrenze vorsieht, gäbe es dann auch keinerlei andere gesetzliche Begrenzung des Sanktionszumessungsermessens mehr. Da eine Anwendung des § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG zur weitgehenden Aushöhlung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB führt und dessen Sinn und Zweck gänzlich verfehlt, kann eine Analogie der Vorschrift daher nicht zugelassen werden. Vielmehr zwingt die Integration der Kappungsgrenze als einen dem Ordnungswidrigkeitenrecht bislang völlig fremden Maßstab, wie bereits im Hinblick auf die Vorschrift des § 20 OWiG herausgearbeitet wurde, zur partiellen inhaltlichen Änderung oder zur Verdrängung allgemeiner Regelungen des Ordnungswidrigkeitenrechts.381 Unabhängig davon, ob der wirtschaftliche Vorteil also innerhalb des Bußgeldverfahrens oder in einem gesonderten Verwaltungsverfahren abgeschöpft wird, durften die Beschlussabteilungen des Bundeskartellamts – entgegen der Randnummer 22 der Bußgeldleitlinien 2006 – keine die Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB überschreitende Geldbuße erlassen. 2. Vereinbarkeit mit der Pflicht zur wertenden Einzelfallbetrachtung

Wie an mehreren Stellen dieser Arbeit deutlich wurde382 und das BVerfG im eingangs zitierten Beschluss betonte,383 ist es die unbedingte Aufgabe der zuständigen Beschlussabteilung, im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung jeden Kartellbeteiligten individuell nach der konkreten Zuwiderhandlung, an der dieser beteiligt war, nach dem ihn treffenden Vorwurf und nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen zu beurteilen, um auf diese Weise zu einer billigen, das heißt schuldangemessenen und verhältnismäßen Geldbuße zu gelangen. Die Bußgeldleitlinien 2006 enthielten – mit Ausnahme der beispielhaften Aufzählung der erschwerenden und mildernden Umstände und der als Kann-Regelungen ausgestalteten Ermächtigung zur Verhängung eines Abschreckungsaufschlags und zur Übertretung der Kappungsgrenze bei der Vorteilsabschöpfung – 380

Vgl. Teil 3 § 2 B. IV. 1. (S. 405 ff.). Siehe Teil 3 § 2 A. III. (S. 368 ff.). 382 Allgemein zum Zweck der Ermessenseinräumung: Teil 1 § 1 A. (S. 40 ff.); zu der sich aus diesem Zweck ergebenden Pflicht der Einzelfallbetrachtung auch schon Teil 2 § 4 F. IV. 2. (S. 316 ff.). 383 BVerfG, Beschl. v. 24.3.1996, Az. 2 BvR 616/91, 2 BvR 588/92, 2 BvR 1585/93, 2 BvR 1661/93 – BKatV, NJW 1996, 1809 (1810), Rn. 48 ff., insb. 53, 55 (juris). 381

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keinen Hinweis darauf, dass die Beschlussabteilungen im konkreten Einzelfall von den Bußgeldleitlinien hätten abweichen können. So war insbesondere nicht ersichtlich, dass die Beschlussabteilungen in besonderen Fällen das Bußgeld unabhängig vom tatbezogenen Umsatz hätten bemessen dürfen, wenn sie nur auf diese Weise zu einer schuldangemessenen, verhältnismäßigen Geldbuße gelangen konnten.384 Insoweit fehlten etwa sonst übliche Wendungen wie „regelmäßig“ oder „im Ausnahmefall“. Der fehlende Atypikvorbehalt führte jedoch nicht dazu, dass die Bußgeldleitlinien 2006 rechtswidrig gewesen wären, weil sie eine Einzelfallbetrachtung entgegen dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Ermessenseinräumung ausdrücklich ausgeschlossen hätten.385 Vielmehr können abstrakt-generelle Verwaltungsvorschriften, wie das BVerfG betonte,386 den Amtswalter nicht von einer sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigenden Bußgeldzumessung befreien. Dies gilt auch und erst recht für Verwaltungsrichtlinien, die keine Vorbehaltsregelung aufweisen.387 Mit anderen Worten waren die Beschlussabteilungen bei Vorliegen besonderer individueller Umstände des Kartellbeteiligten nicht gezwungen, die Geldbuße „stur“ nach der „Bemessungsmethode“ der Bußgeldleitlinien 2006 zu ermitteln,388 sondern vielmehr umgekehrt zur Beachtung aller Umstände des Einzelfalls, notfalls unter Missachtung der Bußgeldleitlinien, verpflichtet, wenn dies zur Erreichung einer schuldangemessenen, verhältnismäßigen Geldbuße erforderlich war. Andernfalls hätten sie ihr Ermessen pflichtwidrig nicht und damit fehlerhaft gebraucht. Das eigentliche, noch sogleich in Abschnitt III. zu vertiefende Problem hinsichtlich des Mangels an Korrektiven ist indes, dass die bisherige Bußgeldbemessung in den Einzelfällen, in denen die Regelungen der Bußgeldleitlinien 2006 nicht eins zu eins angewandt werden konnten, schwer voraussehbar war, was jedoch nicht die Rechtmäßigkeit, sondern allein die Zweckmäßigkeit der Bußgeldleitlinien 2006 in Frage zu stellen vermochte. 3. Ergebnis

Trotz vereinzelter kritischer Anmerkungen kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Bußgeldleitlinien 2006 sowohl die gesetzlichen Rahmenbestimmungen der §§ 17, 30 OWiG und des § 81 Abs. 4 GWB respektierten, als auch die Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG und des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB berücksichtigten und weitgehend konkretisierten. Die Bußgeldleitlinien 2006 füg-

384 Zu solchen durchaus denkbaren Fällen sogleich in Teil 3 § 3 B. III. 1. b) (S. 435 ff.) und Teil 3 § 3 B. III. 2. (S. 448 ff.). 385 Vgl. insoweit bereits die Ausführungen zum „automatischen“ Bußgelderlass nach der Bonusregelung: Teil 2 § 4 F. IV. 2. (S. 316 ff.). 386 Vgl. Fn. 383. 387 So ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 24.3.1996, Az. 2 BvR 616/91, 2 BvR 588/92, 2 BvR 1585/93, 2 BvR 1661/93 – BKatV, NJW 1996, 1809 (1810), Rn. 53, 55 (juris). 388 So aber Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3525).

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ten sich damit im Grundsatz in die Systematik des im OWiG bestimmten, allgemeinen Bußgeldrechts ein. Das Bundeskartellamt hatte jedoch die mit der Integration des zutreffend als Kappungsgrenze qualifizierten § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zwingend verbundenen Modifikationen der allgemeinen Regelungen des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts verkannt. Die Richtlinie des Satzes 3 der Randnummer 22 der Bußgeldleitlinien widersprach dem Sinn und Zweck der Kappungsgrenze eine übermäßige wirtschaftliche Belastung des Kartellbeteiligten in Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu verhindern, indem sie es den Beschlussabteilungen überließ, gegebenenfalls durch die Abschöpfung der wirtschaftlichen Vorteile die Kappungsgrenze zu übersteigen. Zwar vermochte die allein an die Amtsträger unmittelbar gerichtete Regelung ebenso wenig wie die aufgeführten, vor dem Hintergrund des Doppelverwertungsverbots kritischen, erschwerenden Umstände des hohen Organisationsgrades und der schweren Formen des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit zur Rechtswidrigkeit der Bußgeldleitlinien 2006 im Außenverhältnis führen, zumal ihre Berücksichtigung nach dem Wortlaut der Regelungen nicht zwingend war.389 Die Beschlussabteilungen blieben also verpflichtet, (i) nur solche Umstände als erschwerend in Betracht zu ziehen, die sie im Rahmen der Bußgeldbemessung noch nicht beachtet hatten, und nach hier vertretener Auffassung (ii) eine sowohl ahndende als auch abschöpfende Geldbuße bei 10 % bzw. 5 % des Gesamtumsatzes der wirtschaftlichen Einheit zu kappen. Andernfalls hätten sie ihr Sanktionszumessungsermessen im Einzelfall pflichtwidrig ausgeübt und eine rechtswidrige Geldbuße verhängt. Wie der Fall Flüssiggas belegt, schienen die Beschlussabteilungen allerdings gegen die unreflektierte Umsetzung der knapp sieben Jahre geltenden Bußgeldleitlinien 2006 keinerlei Vorbehalte mehr gehabt zu haben. Der Fallbericht zum Kartellverfahren wegen Kundenschutz- und Preisabsprachen offenbart, dass bei einem Unternehmen nach der Kappung des nach den Bußgeldleitlinien 2006 berechneten ahnenden Teils der Geldbuße zusätzlich die gezogenen wirtschaftlichen Vorteile abgeschöpft wurden.390 Insofern stellt sich 389 Dieser ergibt sich auch nicht aus dem Anspruch auf Gleichbehandlung und dem Vertrauensgrundsatz, da ein Kartellbeteiligter nur verlangen kann, wie andere, vergleichbare Kartellbeteiligte oder abweichend von nicht vergleichbaren Kartellbeteiligten behandelt zu werden. Mit anderen Worten kann er gerade nicht verlangen, dass die besagten Verwaltungsgrundsätze bei anderen Kartellbeteiligten zur Anwendung kommen. Davon abgesehen rüttelt die Rechtsprechung nach wie vor nicht an dem Grundsatz „Keine Gleichheit im Unrecht“. Vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 17.1.1979, Az. 1 BvL 25/ 77 – Unterhaltspflichtverletzung, NJW 1979, 1445 (1448), Rn. 59 (juris); Beschl. v. 9.10.2000, Az. 1 BvR 1627/95, GRUR 2001, 266 (270), Rn. 52 (juris); BVerwG, Urt. v. 26.2.1993, Az. 8 C 20/92, NJW 1993, 2065 (2066), Rn. 14 (juris); Urt. v. 13.12.2006, Az. 6 C 17/06, GewArch 2007, 247 ff., Rn. 25 (juris); BGH, Beschl. v. 28.6.2011, Az. 1 StR 282/11, NJW 2011, 2597 (2598), Rn. 13 (juris); Beschl. v. 27.6.2012, Az. XII ZR 89/10, Rn. 47 (juris). 390 Vgl. BKartA, Fallbericht v. 14.12.2007, 26.2.2008, 12.12.2009 u. 9.4.2009, Az. B11-20/05 – Flüssiggas, S. 3.

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die berechtigte, angesichts der fehlenden Veröffentlichung der Bußgeldbescheide jedoch keiner Beantwortung fähige Frage, ob die Beschlussabteilungen in den konkreten Einzelfällen auch die übrigen Implikationen der Kappungsgrenze auf das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht, insbesondere auf § 20 OWiG, und das Doppelverwertungsverbot ausreichend berücksichtigt haben. Jedenfalls ersteres scheint angesichts des Falls Flüssiggas zweifelhaft. III. Erhöhte Transparenz und Rechtssicherheit durch die Bußgeldleitlinien 2006? Das Bundeskartellamt verfolgte mit der Veröffentlichung seiner Bußgeldleitlinien 2006 ausdrücklich das Ziel, die Bußgeldbemessung für Unternehmen vorhersehbarer und transparenter zu machen. Wenngleich die Bußgeldleitlinien, unter Zugrundelegung des Verständnisses des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze, wie aufgezeigt, Mängel aufweisen, veranlassen diese nicht dazu, ihre Zweckmäßigkeit und Orientierungswirkung generell anzuzweifeln. Indes musste die in den Bußgeldleitlinien 2006 vorgesehene Anwendung der Zumessungskriterien zum einen derart konkretisiert sein, dass die Bußgeldbemessung im konkreten Fall nachvollziehbar und im Vorfeld zu einem gewissen Grad vorhersehbarer war (3.). Zum anderen wurde bereits darauf hingewiesen, dass fehlende Korrektiven die Bußgeldbemessung in Einzelfällen schwer vorhersehbar machen konnte, in denen die Regelungen der Bußgeldleitlinien nicht unverändert angewendet werden durften, weil dies zu einer schuldunangemessenen und unverhältnismäßigen Geldbuße geführt hätte. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass Bußgeldentscheidungen insbesondere bei horizontalen Wettbewerbsverstößen nicht veröffentlicht werden, der Kartellbeteiligte also nicht einmal die Bußgeldbemessung des Bundeskartellamtes in ähnlich gelagerten Fällen nachvollziehen kann.391 Zwar mag eine gewisse verbleibende Unsicherheit aus kriminaltaktischen Gründen erwünscht sein, um eine bessere abschreckende Wirkung „überraschender“ Geldbußen sicherzustellen. Auch wohnt jeder Bußgeldzumessung aufgrund der rechtsstaatlich gewünschten und am Schuldprinzip und der Verhältnismäßigkeit ausgerichteten Einzelfallbetrachtung eine gewisse Unsicherheit inne. Wenn anhand der Bußgeldleitlinien 2006 jedoch generell keine schuldangemessene und verhältnismäßige Geldbuße bestimmt werden konnte, ohne dass auf ungeschriebene Korrektiven zurückgegriffen werden musste, hätte dies ihre Zweckmäßigkeit insgesamt in Frage gestellt. An dieser Stelle soll daher untersucht werden, ob die im Einzelfall angewandten Bußgeldleitlinien 2006, ausgehend von der Interpretation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze, sowohl dem Schuld391 Insoweit helfen die seit 2009 veröffentlichten Fallberichte auch nicht weiter, da sie lediglich eine Zusammenfassung des Falls beinhalten und keine in allen Einzelheiten nachvollziehbare Bußgeldbemessung beinhalten, sondern allein die letztlich verhängten Bußgelder ausweisen.

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prinzip (1.) als auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (2.) ausreichend Rechnung getragen haben. 1. Hinreichende Berücksichtigung des Schuldprinzips?

Die Schuld des Täters rechtfertigt nicht nur seine Sanktionierung, sondern setzt dieser gleichzeitig ihre Grenzen. Die straflimitierende Funktion des Schuldprinzips, das durch seine Verankerung in der Achtung der Menschenwürde und in dem Rechtsstaatsprinzip392 zur unverfügbaren Verfassungsidentität des Grundgesetzes gemäß Art. 79 Abs. 3 GG zählt,393 führt dazu, dass die Sanktion nicht das Maß seiner durch die Tatbegehung verwirklichten Schuld übersteigen darf. Die Sanktion muss also in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen.394 Grundsätzlich bietet das Gesetz mit dem Bußgeldrahmen einen ausreichenden Maßstab zur Bestimmung der Schuldangemessenheit der Sanktion, indem anhand des im Vorfeld festzustellenden Grads des verwirklichten Unrechts und der Vorwerfbarkeit zumindest ein Rahmen der noch und schon schuldangemessenen Sanktion bestimmt werden kann. An einem solchen fehlt es – dem zutreffenden, den Bußgeldleitlinien 2006 zugrunde gelegten Verständnis des Bundeskartellamts zufolge – jedoch gerade in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB. Behilft sich das Bundeskartellamt aus diesem Grund mit dem tatbezogenen Umsatz, so muss dieser zunächst grundsätzlich als Ersatz-Referenzgröße zumindest eine denkbare Unrechts- und Schuldrelevanz aufweisen, um dem Schuldprinzip in geeigneter Weise Rechnung zu tragen (a)). Zudem muss der nach den Grundsätzen der Bußgeldleitlinien ermittelte tatbezogene Umsatz als Ausgangsgröße für die Zumessung der Geldbuße auch im konkreten Einzelfall „schuldangemessen“ sein (b)). Und schließlich müsste die auf den tatbezogenen Umsatz letztlich aufbauende Bestimmung der Geldbuße anhand der Bußgeldleitlinien ebenfalls dem Schuldprinzip generell gerecht werden (c)). a) Geeignetheit der Referenzgröße „Tatbezogener Umsatz“ als Unrechts- und Schuldindikator Der bisherige Ansatz des Bundeskartellamtes, als Anknüpfungspunkt für die Bußgeldzumessung von der relativ feststehenden Größe des tatbezogenen Umsat-

392 St. Rspr. des BVerfG seit dem Urt. v. 10.5.1957, Az. 1 BvR 550/52 – „Homosexuellen-Urteil“, BVerfGE 6, 389 (439), Rn. 182; weitere Nachweise in Fn. 14. 393 BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, Az. 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08, 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvR 182/09 – Lissabon-Vertrag, BVerfGE 123, 267 (413), Rn. 364 (juris). 394 St. Rspr., vgl. zuletzt etwa Urt. v. 4.5.2011, Az. 2 BvR 2333/08, 2 BvR 2365/09, 2 BvR 571/10, 2 BvR 740/10, 2 BvR 1152/10 – Sicherungsverwahrung, BVerfGE 128, 326 (376 f.), NJW 2011, 1931 (1937), Rn. 104 (juris).

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zes auszugehen, war im Grundsatz zu begrüßen. Dieser war jedenfalls im Ausgangspunkt ein schuld- und unrechtsbezogener Parameter, da sich das durch den Wettbewerbsverstoß verwirklichte Unrecht nach allgemeiner Lebenserfahrung – dem Zweck des Kartells entsprechend – in der Regel im Umsatz, den der Kartellbeteiligte mit kartellbehafteten Produkten und Dienstleistungen erzielt hat, kausal niederschlägt.395 Jedenfalls war dem tatbezogenen Umsatz gegenüber dem Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit, der die Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB bestimmt, der Vorzug zu geben.396 Der Gesamtumsatz spiegelt letztlich nämlich über den illegal erwirtschafteten Umsatz der gegen das Kartellverbot zuwiderhandelnden juristischen Person auch deren legal erwirtschafteten Umsätze sowie diejenigen der unbeteiligten juristischen Personen eines Verbunds wider und ist damit nicht nur extrem ungenau, sondern darüber hinaus auch als Referenzgröße zur Bestimmung der Schuldangemessenheit völlig ungeeignet. Letztlich kann mit der Festsetzung eines prozentualen Anteils des Gesamtumsatzes nämlich kein sachgerechter Ausgleich zwischen dem verwirklichten Unrecht und der Unrechtsfolge erreicht werden, da bei jedem Kartellbeteiligten das Verhältnis zwischen rechtswidrig und rechtmäßig erwirtschafteten Umsätzen aufgrund seiner jeweils individuellen Aufstellung naturgemäß unterschiedlich ist und damit Unternehmen, die über zahlreiche Produktsparten verfügen, von denen jedoch nur eine kartellbehaftet ist, unangemessen benachteiligt würden. Zudem hätte ein solches Vorgehen dazu geführt, dass unbeteiligte Verbundgesellschaften für das Fehlverhalten einer dem Verbund angehörigen Gesellschaft „bestraft“ worden 395 Ebenso Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (717 f.); wohl auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 54; Weitbrecht/Tepe, EWS 2001, S. 220 ff. (227 f.); Hellmann, WuW 1999, S. 333 ff. (339); Korthals/Bangard, BB 1998, S. 1013 ff. (1016); Kallmeyer/ Haupt, EuZW 2002, S. 677 ff. (678); Engelsing, WuW 2007, S. 470 ff. (482); ähnlich der BGH hinsichtlich der Frage, ob ein Kartell grundsätzlich zu einem Mehrerlös führt, vgl. Beschl. v. 28.6.2005, Az. KRB 2/05 – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1567 (1569), Rn. 20 („Die generelle Eignung eines Kartells, für seine Mitglieder wirtschaftliche Vorteile entstehen zu lassen, folgt schon daraus, daß die beteiligten Unternehmen durch die Festlegung bestimmter Quoten der Notwendigkeit enthoben sind, sich im Wettbewerb am Markt zur Erlangung von Aufträgen gegen konkurrierende Unternehmen durchzusetzen, was regelmäßig über die von ihnen angebotenen Preise erfolgt.“); ähnlich OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 422 (juris); kategorisch ablehnend hingegen: Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3526 f.); Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 271. 396 Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3526); Dannecker/Biermann, in: IM/ GWB, § 81 Rn. 405; krit. zum Gesamtumsatz als Referenzgröße auch: Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1003); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (253); Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (717 f.); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (37 ff.); Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (339); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 41 f.; in diese Richtung auch Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27.

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wären, da diesen ihre legal gezogenen wirtschaftlichen Vorteile mittelbar entzogen worden wären.397 Ein im Vergleich zum tatbezogenen Umsatz genaueres Abbild des verwirklichten Unrechts und des den Kartellbeteiligten treffenden Vorwurfs kann allein der erwirtschaftete Mehrerlös geben. Der Gesetzgeber hat sich jedoch angesichts der erheblichen Anforderungen, die das OLG Düsseldorf wegen der extremen Unsicherheiten an dessen Bestimmung gestellt hat,398 gerade dazu entschlossen, die bis zur 7. GWB-Novelle geltende Bußgeldobergrenze des dreifachen Mehrerlöses durch die umsatzorientierte Kappungsgrenze zu ersetzen.399 Zwar hat der BGH die (enge) Auffassung des OLG Düsseldorf an den Nachweis der Mehrerlösentstehung später nicht geteilt und stattdessen darauf hingewiesen, dass ein Kartell aufgrund seiner wettbewerbsbeschränkenden Wirkung grundsätzlich auch geeignet ist, den Kartellbeteiligten wirtschaftliche Vorteile zu erbringen.400 Nichtsdestotrotz bleibt die Mehrerlösbestimmung ein unsicheres Unterfangen, da hierzu die hypothetischen Einnahmen eines Kartellbeteiligten ohne das Kartell zu schätzen sind und mit dem kartellbedingten, tatsächlichen Einnahmen im Rahmen der Differenzhypothese ins Verhältnis gesetzt werden müssen.401 Dies setzt wiederum die Schätzung des hypothetischen wettbewerbsmäßigen Preises voraus und – wie die Literatur es präferierte – die zu diesem Preis hypothetisch abgesetzten Mengen, welche wiederum mit dem tatsächlichen kartellbedingten Preis und den dazu abgenommenen Mengen zu vergleichen sind.402 In der Praxis haben die Unsicherheiten zumeist zu hohen Sicherheitsabschlägen durch die Anwendung des Zweifelssatzes geführt,403 sodass der Bußgeldrahmen nur selten ausgeschöpft wurde. Dies kann unter Umständen dazu führen, dass die Geldbuße im Einzelfall 397 Zur Unvereinbarkeit des Schuldprinzips mit der Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze ausführlich: Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.) und Teil 3 § 2 A. II. 3. c) (S. 365 ff.). 398 Vgl. OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.1.2004, Az. VI-Kart 48 bis 50/01 OWi, Rn. 93 ff., 107 (juris); Urt. v. 6.5.2004, Az. Kart 41 bis 43/01 OWi, Kart 45 bis 47/01 OWi – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1315 (1316 f.), Rn. 179 ff. (juris). 399 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/5049, S. 30, 50. 400 BGH, Beschl. v. 28.6.2005, Az. KRB 2/05 – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1567 (1569), Rn. 20. 401 So die ganz allgemeine Meinung zur früheren Rechtslage, vgl. etwa BGH, Beschl. v. 24.4.1991, Az. KRB 5/90 – Bußgeldbemessung, WuW/E BGH 2718 (2719), Rn. 11 (juris); Beschl. v. 25.4.2005, Az. KRB 22/04 – Steuerfreie Mehrerlösabschöpfung, WuW/E DE-R 1487 (1488), Rn. 15 (juris). 402 Zur hier nicht weiter zu vertiefenden Bestimmung des Mehrerlöses, die in der Praxis zumeist mithilfe der Vergleichsmarktmethode erfolgte, statt vieler: Dannecker/ Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 306 ff.; Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 371 ff.; Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (18 ff.). 403 Vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2003, Az. VI-Kart 9 bis 11/03, Rn. 65 (juris) („Abschlag von 1/2“); OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/ 08 OWi – Zementkartell, Rn. 547 (juris) („25 %“).

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unterhalb der eigentlich „schon“ tat- und schuldangemessenen Bußgeldgrenze liegt. Zudem werden zu geringe oder moderate Geldbußen der Intention des Gesetzgebers und des Bundeskartellamtes nicht gerecht, hohe Geldbußen zur Abschreckung zu verhängen. Demgegenüber ist der tatbezogene Umsatz jedenfalls sehr viel sicherer bestimmbar. Mit der Festlegung des Grundbetrags auf maximal 30 % bzw. inklusive des ausgereizten Abschreckungsaufschlags auf maximal 60 % des tatbezogenen Umsatzes entsprach zwar bereits der Grundbetrag zumeist der höchst zulässigen Geldbuße nach altem Recht, da Kartellbeteiligte – folgt man verschiedenen Studien – zumeist einen Mehrerlös in Höhe von 15–20 % erzielen, der dreifache Mehrerlös also bei 45–60 % gelegen hätte.404 Dies entsprach allerdings dem Ziel des Gesetzgebers, ähnlich hohe Geldbußen, wie sie auf europäischer Ebene üblich sind, zu erreichen. Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der besseren Handhabung des tatbezogenen Umsatzes, der auch gerechtere, tat- und schuldangemessene Geldbußen erlaubt und vor allem mit Blick auf die gesetzgeberische Entscheidung, die mehrerlösbezogene Bußgeldobergrenze gänzlich abzuschaffen, war die Entscheidung des Bundeskartellamtes, den tatbezogenen Umsatz der Bußgeldbemessung entscheidend zugrunde zu legen, vor dem Hintergrund des seiner Auffassung nach bestehenden offenen Bußgeldrahmens, sachgerecht. Wollte man im Rahmen der Bußgeldbemessung weiterhin auf den Mehrerlös abstellen, würde zudem die gesetzgeberische Intention der weitgehenden Harmonisierung des deutschen Kartellbußgeldrechts mit dem europäischen Bußgeldrecht ausgehöhlt.405 b) Geeignetheit der in den Bußgeldleitlinien 2006 bestimmten Faktoren zur Ermittlung des „schuldangemessenen“ tatbezogenen Umsatzes? Das Bundeskartellamt hat den tatbezogenen Umsatz sachlich, örtlich und zeitlich eingrenzt und diesen hilfsweise geschätzt. aa) Sachlich „schuldangemessenes“ Kriterium Sachlich galten nach Randnummer 5 der Bußgeldleitlinien 2006, entsprechend den Bußgeldleitlinien der Kommission,406 alle Umsätze als „tatbezogen“, die mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehen. Entscheidend sollten demnach diejenigen Umsätze sein, die mit Waren erzielt wurden, die Gegenstand einer wettbewerbswidrigen Absprache oder abgestimmten Verhaltensweise waren, auf die sich die Zuwiderhandlung also konkret bezog. Zur Bestimmung der betref404 Vgl. hierzu Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (461). Mundt erblickt daher im Grundbetrag einen um einen Aufschlag wegen der Schwierigkeit der Kartellaufdeckung erhöhten, fiktiven Mehrerlös. 405 Kühnen, WuW 2010, S. 16 ff. (24). 406 Rn. 13 der Bußgeldleitlinien der Kommission.

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fenden Umsatzerlöse verwiesen die Bußgeldleitlinien auf die fusionskontrollrechtliche Vorschrift zur Umsatzberechnung, § 38 Abs. 1 und Abs. 4 GWB,407 welche wiederum auf § 277 Abs. 1 HGB Bezug nimmt. Danach sind alle (auch konzerninterne) Umsätze aus dem Verkauf von – für die gewöhnliche Geschäftstätigkeit der juristischen Person oder Personenvereinigung typischen – Erzeugnissen und Waren nach Abzug von Erlösschmälerungen und der Umsatzsteuer zu berücksichtigen. Mithilfe der Bußgeldleitlinien 2006 ließen sich damit ziemlich genau die zur Bußgeldbemessung sachlich relevanten Netto-Umsätze bestimmen. Die Bezugnahme auf den Umsatz mit „kartellbehafteten“ Produkten entspricht dem Gedanken des Schuldprinzips, nach dem der Kartellbeteiligte nur für das von ihm tatsächlich verwirklichte Unrecht einstehen soll. Insofern wurden also alle Produkte, die nicht Gegenstand von kartellrechtswidrigen Absprachen waren, zutreffend ausgeklammert. (1) Problemfall: Konzerninterne Umsätze? Nichtsdestotrotz kritisierten Bach und Klumpp, dass das Bundeskartellamt abweichend von § 38 Abs. 1 S. 2 GWB explizit auch konzerninterne Umsätze in den tatbezogenen Umsatz miteinbezog. Bei der Umsatzberechnung im Rahmen der formellen Fusionskontrolle stellt die Vorschrift sicher, dass Innenumsatzerlöse grundsätzlich außer Betracht bleiben, um Doppelzählungen zu vermeiden und damit die wettbewerbliche Relevanz des beabsichtigten Zusammenschlusses korrekt zu erfassen.408 Auch im europäischen Recht ist bei der rechtlichen Bewertung von Zusammenschlüssen anerkannt, dass konzerninterne Umsätze nicht dazu geeignet sind, das tatsächliche wirtschaftliche Gewicht einer juristischen Person in Form ihres Marktumsatzes widerzuspiegeln.409 Die Kommission stellt daher im Rahmen der Fusionskontrolle ausschließlich auf Marktumsätze zwischen den Beteiligten und Dritten ab. Dieser Gedanke könnte – wie von Bach und Klumpp vertreten – auch auf das Kartellrecht zu übertragen sein. Da konzerninternen Umsätzen der Marktbezug fehle, seien diese bereits nicht als Gegenstand einer Kartellabsprache geeignet; vielmehr hingen diese von internen, marktfernen Verrechnungspreisen ab.410 Obgleich dem Hinweis auf einen fehlenden Marktbezug konzerninterner Umsätze im Grundsatz zuzustimmen ist, lassen Bach und Klumpp gewichtige Aspekte außer Acht, die die Methode des Bundeskartellamtes letztlich stützten. Würde man nämlich zulassen, dass Umsätze von 407

Rn. 6 der Bußgeldleitlinien des BKartA. Paschke, in: FK/Kartellrecht, § 38 Rn. 4; Mestmäcker/Veelken, in: IM/GWB, § 38 Rn. 7; Richter, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 19 Rn. 65; Bauer, in: LMR/ Kartellrecht, 2. Aufl., § 38 Rn. 12; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 38 Rn. 2. 409 Kommission, Konsolidierte Mitteilung der Kommission zu Zuständigkeitsfragen gemäß der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EU v. 21.2.2009, Nr. C 43, S. 10 ff., Rn. 167. 410 Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527). 408

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juristischen Personen, die sie innerhalb der wirtschaftlichen Einheit erzielt haben, auszuklammern sind, hätte das Bundeskartellamt vertikal integrierte Personenvereinigungen gegenüber unabhängigen Personenvereinigungen und juristischen Personen privilegiert.411 Zudem wäre unter Umständen der gezogene Nutzen, den der Kartellbeteiligte durch die Zuwiderhandlung gezogen hat, unberücksichtigt geblieben; die eigentlich anhand der Bedeutung des Kartellbeteiligten angemessene Geldbuße wäre dann ausgeblieben.412 Im Übrigen kann die Regelung des § 38 Abs. 1 S. 2 GWB auch ihrem Zweck nach nicht übertragen werden, da eine doppelte Berücksichtigung der konzerninternen Umsätze im Rahmen der Bußgeldzumessung gegenüber der betroffenen juristischen Person des Konzerns nicht stattfindet. Soweit Bach und Klumpp dem Bundeskartellamt im Übrigen eine inkonsistente Praxis unterstellten, da die Berücksichtigung konzerninterner Umsätze der Intention des Bundeskartellamtes widersprochen habe, einen wirtschaftlichen Unternehmensbegriff in das Kartellbußgeldrecht einzuführen, so ist auch dies zurückzuweisen, vor allem soweit es den unterschwelligen Vorwurf einer willkürlichen Bußgeldbemessungspraxis enthält.413 Denn bereits die Behauptung, das Bundeskartellamt habe unreflektiert die europäische Rechtsprechung zur wirtschaftlichen Einheit übernehmen wollen, konnte an anderer Stelle widerlegt werden.414 (2) Problemfall: „Umsatzstarke“ Handelsunternehmen? Nicht weniger kritisch wurde die Bemessung der Geldbuße anhand des tatbezogenen Umsatzes bei Handelsunternehmen betrachtet. Diese erwirtschaften zwar in der Regel hohe Umsätze, allerdings kommt diesen Umsätzen im Vergleich zu jenen, die ein Hersteller mit dem Absatz seiner Produkte erzielt, ein geringeres wirtschaftliches Gewicht zu, da beim Kauf zum Zwecke des Verkaufs keine substantielle Wertschöpfung der Produkte, etwa durch Be- oder Verarbeitung, erreicht wird.415 Der Gesetzgeber hat in Handelswaren aus diesem Grund ein geringeres wettbewerbliches Gefährdungspotential erblickt, dem bei der Umsatzberechnung im Rahmen der Fusionskontrolle mit der Regelung des § 38 Abs. 2 GWB Rechnung getragen wurde.416 Danach sind bei der Berechnung 411 So auch EuG, Urt. v. 20.3.2002, Rs. T-16/99 – Lögstör Rör, Slg. 2002, II-1633, Rn. 360; Urt. v. 14.5.1998, Rs. T-304/94 – Europa Carton, Slg. 1998, II-869, Rn. 128, bestätigt durch EuGH, Urt. v. 16.11.2000, Rs. C-248/98 P – NV Koninklijke KNP BT, Slg. 2000, I-9641, Rn. 62. 412 Vgl. die Nachweise in Fn. 411. 413 Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527) („Offensichtlich will das Amt aber dort, wo dies zu höheren Bußgeldern führen könnte, zwischen einzelnen juristischen Personen derselben wirtschaftlichen Einheit differenzieren.“). 414 Vgl. Teil 3 § 3 B. II. 1. a) (S. 421 ff.). 415 Insoweit zutreffend Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (147). 416 Begr. BRegE 6. GWB-Novelle, BT-Drs. 13/9720, S. 58.

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reiner Handelsumsätze nur drei Viertel ihres nominalen Werts in Ansatz zu bringen. Eine entsprechende Regelung ist der europäischen Fusionskontrollverordnung417 und (daher wohl erst Recht) den Bußgeldleitlinien der Kommission fremd. Vielleicht ist dies auch der Grund, warum das Bundeskartellamt – der gesetzgeberischen Intention entsprechend – vor dem Hintergrund seines Bestrebens, die deutsche Bußgeldbemessung an diejenige der Kommission anzugleichen, auf eine Übertragung des Gedankens des § 38 Abs. 2 GWB in die Bußgeldleitlinien 2006 verzichtet hat. Freilich ändert die kartellrechtliche Beurteilung zwar nichts daran, dass Handelsumsätzen de facto ein geringeres wirtschaftliches Gewicht zukommt. Der Sinn und Zweck des § 38 Abs. 2 GWB kann nichtsdestotrotz nicht unreflektiert auf das Kartellrecht übertragen werden. Während die Fusionskontrolle die durch einen Zusammenschluss bewirkten Auswirkungen auf den Markt ex ante prognostiziert und damit dessen Eignung zur Wettbewerbsbeschränkung in den Blick nimmt, geht es im Rahmen des Kartellrechts um eine ex post Feststellung und Beseitigung von Wettbewerbsbeschränkungen mit repressiv-präventiven Mitteln. Die Eignung eines Zusammenschlusses zur Wettbewerbsgefährdung hängt entscheidend von dessen wirtschaftlicher Bedeutung und der mit dem Vorhaben begründeten Marktmacht des entstehenden „Unternehmens“ ab. Mit der Umsatzbetrachtung will die formelle Fusionskontrolle im ersten Schritt daher vor allem die Bedeutung des Zusammenschlusses für den deutschen Markt abschätzen. Dazu ist es erforderlich, den wirtschaftlichen Wert der Umsätze korrekt zu erfassen. Nur wenn der Zusammenschluss hinreichend bedeutend erscheint, bedarf es im zweiten Schritt im Rahmen der materiellen Fusionskontrolle einer Bewertung, ob durch den Zusammenschluss für das entstehende Unternehmen ein Handlungsspielraum gegenüber anderen market playern begründet wird, der die wettbewerblichen Kräfte in den betroffenen Märkten außer Kraft zu setzen geeignet ist. Der Schwerpunkt der Fusionskontrolle liegt damit auf der Betrachtung begründeter oder verstärkter Marktmacht eines Unternehmens, um potentiellen Missbrauch oder durch erhöhte Transparenz begründetes Parallelverhalten im Markt vorzubeugen. Mit der Etablierung eines Kartells durch Handelsunternehmen realisiert sich nun aber eine andere, von der Fusionskontrolle nicht vorrangig bekämpfte Gefahr für den Wettbewerb; das ex ante gewähnte geringere wettbewerbliche Gefährdungspotential der Handelsumsätze ist also aus ex post Sicht nicht betroffen. Vielmehr begründen die Handelsunternehmen durch Bündelung ihrer individuellen Marktmächte eine gemeinsame Front, um die Wettbewerbskräfte auf dem betroffenen Markt künstlich durch Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen auszuschalten. Von den Zuwiderhandlungen der Handelsunternehmen geht eine tatsächliche (erhebliche) Beschränkung des Wettbewerbs aus, sodass es auf das wettbewerbliche Gefährdungspotential ihrer Umsätze nicht mehr ankommt. Daher entsprach es auch dem

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Krit. dazu Bechtold u. a., EG-Kartellrecht, Art. 5 FKVO Rn. 1.

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verwirklichten Unrecht und dem gegen Handelsunternehmen zu erhebenden Vorwurf, wenn das Bundeskartellamt ihre tatbezogenen Umsätze ohne Abzug in die Bußgeldbemessung hat einfließen lassen, selbst wenn dies zunächst Geldbußen in „astronomischen Höhen“ befürchten ließ.418 Dem geringeren wirtschaftlichen Gewicht der Umsätze konnte und musste je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls vielmehr bei der Einschätzung des Schweregrads der Zuwiderhandlung, insbesondere seiner Auswirkungen, Rechnung getragen werden. Im Übrigen hat das Bundeskartellamt stets den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Blick zu behalten; die Geldbuße war daher gegebenenfalls zu korrigieren, wenn sie angesichts des Werts der erwirtschaften Umsätze mit kartellbehafteten Produkten übermäßig erschien.419 bb) Örtlich „schuldangemessenes“ Kriterium Das Bundeskartellamt grenzte den relevanten tatbezogenen Umsatz zu Recht örtlich auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein. Wegen des auf die Bundesrepublik beschränkten Anwendungsbereichs des GWB gemäß § 130 Abs. 2 GWB ist das Bundeskartellamt ausschließlich zur Verfolgung von Zuwiderhandlungen im nationalen Markt befugt.420 Wenn die Verfolgungszuständigkeit also an den Grenzen der Bundesrepublik endet, hat das Bundeskartellamt auch allein die Befugnis, den im Inland festgestellten Wettbewerbsverstoß rechtlich zu würdigen.421 Folgerichtig konnte die Bemessung der Geldbuße auch nur anhand des im inländischen Markt erzielten tatbezogenen Umsatzes erfolgen, der quasi die inländische „Schuld“ und das inländische Unrecht widerspiegelte. cc) Zeitlich „schuldangemessenes“ Kriterium Die Definition des tatbezogenen Umsatzes als „mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehend“ weist des Weiteren darauf hin, dass das Bundeskartellamt zur Bußgeldbemessung sämtliche tatbezogenen Umsatzerlöse, die in Folge einer einheitlichen, fortgesetzten Zuwiderhandlung erzielt wurden, zugrunde legen wollte. Dafür spricht auch die Randnummer 4 der Bußgeldleitlinien 2006, nach der die „Dauer des Verstoßes“ berücksichtigt werden sollte.

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So Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (147). Dazu noch: Teil 3 § 3 B. III. 2. (S. 448 ff.). 420 So auch Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. 421 Dabei ist das BKartA gemäß Art. 3 Abs. 1 VO 1/2003 zwar verpflichtet auch die europäischen Wettbewerbsvorschriften anzuwenden, wenn der zwischenstaatliche Handel beeinträchtigt ist. Es darf jedoch nicht etwa die Verhaltensweisen der Nebenbetroffenen im europäischen Ausland unter die Vorschriften des Art. 101 AEUV und § 1 GWB subsumieren. 419

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(1) Definition der „Dauer der Zuwiderhandlung“ Die Bußgeldleitlinien 2006 geben keinen Aufschluss darüber, wie das Bundeskartellamt die Dauer der Zuwiderhandlung definierte. Die Auslegung der Bußgeldtatbestände des § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB i.V. m. Art. 101 Abs. 1 AEUV und des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V. m. § 1 GWB zur Bestimmung des Verjährungsbeginns von Wettbewerbsverstößen hatte jedoch offenbart, dass die Zuwiderhandlung grundsätzlich mit der wettbewerbswidrigen Vereinbarung bzw. dem Informationsaustausch wettbewerbsrelevanter Informationen beginnt und erst endet, wenn die Kartellbeteiligten die Grundvereinbarung durch Folgeabsprachen nicht mehr praktizieren bzw. die abgestimmten Verhaltensweisen einstellen.422 Davon ausgehend hätten die Umsatzerlöse von dem Tag, an welchem die Grundabsprache getroffen bzw. ein Grundkonsens über die regelmäßige Abstimmung wettbewerbsrelevanter Verhaltensweisen erzielt wurde, bis zu dem Zeitpunkt berücksichtigt werden müssen, in dem die Vereinbarung oder Abstimmung wieder aufgegeben wurde. Freilich galt dies nur für die Umsatzerlöse, die nach Inkrafttreten der umsatzbezogenen Bußgeldgrenze gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB am 12. Juli 2005 erzielt wurden. Dem ist die Praxis der Beschlussabteilungen, soweit ersichtlich, gerecht geworden. Einigen Fallberichten und Bußgeldbescheiden, in welche die Verfasserin Einsicht nehmen konnte, lässt sich entnehmen, dass die Beschlussabteilungen jeweils auf die erste nachweisbare, wettbewerbswidrige Vereinbarung (resp. den erstmaligen Informationsaustausch) abstellten, wenn sich aus dem Beweismaterial ergab, dass es sich bei den Folgeabsprachen um konkretisierende Handlungen eines Grundkonsenses handelte.423 Sofern die Zuwiderhandlung vor Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle begonnen hatte, berücksichtigten die Beschlussabteilungen demgegenüber zutreffend die Umsätze ab August 2005.424 Im Hinblick auf die Beendigung der Zuwiderhandlung stellten die Beschlussabteilungen überwiegend auf den Zeitpunkt der erfolgten Durchsuchung ab, sofern ein Kartellbeteiligter nicht nachweislich bereits früher aus dem Kartell ausgetreten war.425 422

Vgl. Teil 2 § 1 C. II. (S. 86 ff.). BKartA, Fallbericht v. 4.5.2012 zu den Ents. v. 10.8.2011 u. 28.2.2012, Az. B1215/09 – Hersteller von Betonrohren und -schächten für den Kanalbau, S. 2. 424 BKartA, Fallbericht v. 10.7.2010 zur Ents. v. 28.5.2010, Az. B12-11/08 – Hersteller von Brillengläsern, S. 1, 3 (Absprache seit Mitte 2000, tatbezogener Umsatz ab August 2005); Fallbericht v. 6.8.2010 zur Ents. v. 8.6.2010, Az. B11-19/08 – Kaffeeröster, S. 2 f. (Absprache seit min. 1997, tatbezogener Umsatz ab August 2005); Fallbericht v. 14.1.2010 zur Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08 – Kaffeeröster, S. 1, 3 (Absprache seit Anfang 2000, tatbezogener Umsatz ab August 2005). 425 BKartA, Fallbericht v. 6.8.2010 zur Ents. v. 8.6.2010, Az. B11-19/08 – Kaffeeröster, S. 2 f. und Fallbericht v. 14.1.2010 zur Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08 – Kaffeeröster, S. 1, 3 (Durchsuchung 3.7.2008, tatbezogener Umsatz einschl. Juni 2008); Fallbericht v. 10.7.2010 zur Ents. v. 28.5.2010, Az. B12-11/08 – Hersteller von Brillengläsern, S. 1, 3 (Durchsuchung „Mitte 2008“, tatbezogener Umsatz einschl. Mai 2008); 423

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Das Bundeskartellamt geht daher wohl mangels entgegenstehender Anhaltspunkte davon aus, dass Kartellbeteiligte ab dem Zeitpunkt der Durchsuchung, in Kenntnis der Eröffnung eines gegen sie geführten Bußgeldverfahrens, jedenfalls weitere wettbewerbswidrige Vereinbarungen oder Kontakte allgemein einstellen. (2) Unrechts- und Schuldrelevanz des Ansatzes bei langjährigen Zuwiderhandlungen Da mit der Dauer eines Kartells die Intensität der Wettbewerbsschädigung und damit dessen Unrecht zunimmt,426 kann unter Zugrundlegung aller während der Beteiligung an der Zuwiderhandlung erzielten „kartellbehafteten“ Umsätze der individuelle Grad des „schuldhaften“ Handelns eines jeden Kartellbeteiligten sachgerecht im Grundbetrag abgebildet werden. Dies führte zwar bei langjährigen Kartellbeteiligungen naturgemäß zu steigenden Grundbeträgen. An der grundsätzlichen Vereinbarkeit dieses Ansatzes mit dem Schuldprinzip änderte dieser Umstand allein jedoch nichts, da die Umsätze – wie im Abschnitt a) gezeigt – bis zu einem gewissen Grad Produkt der Zuwiderhandlung sind.427 Der Ansatz entsprach damit im Ausgangspunkt dem Prinzip „schuldangemessenen Strafens“, zumal mit der Feststellung des tatbezogenen Umsatzes die Bußgeldbemessung nicht abgeschlossen war. Zwar könnte man den Unrechts- und Schuldbezug von Umsatzerlösen bestreiten, die im Zeitraum zwischen der wettbewerbswidrigen Grundvereinbarung bzw. dem erstmaligen wettbewerbswidrigen Informationsaustausch und deren/dessen Umsetzung gegenüber den Kunden des Kartellbeteiligten erzielt wurden, da sich in diesem Zeitraum die Übereinkunft bzw. der Informationsaustausch auf den Wettbewerb und auf die Umsatzerlöse faktisch noch nicht ausgewirkt hat. In der Regel verhandeln Hersteller und Großhändler nämlich nicht für jede Bestellung neu, sondern – freilich branchenabhängig – nur einige wenige Male im Kalenderjahr, sodass bis zur Praktizierung einer Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise noch Monate vergehen können. Allerdings bliebe bei dieser Sichtweise, die nah an die Mehrerlösbetrachtung heranreicht, das durch die Erzielung einer Grundvereinbarung und die Etablierung eines wettbewerbswidrigen Systems bereits verwirklichte Unrecht bußgeldbemessungstechnisch außer Betracht. Ferner wurden darüber hinausgehende, praktische Nachteile zugunsten der KartellbeteiFallbericht v. 4.5.2012 zu den Ents. v. 10.8.2011 u. 28.2.2012, Az. B12-15/09 – Hersteller von Betonrohren und -schächten für den Kanalbau, S. 2 (Durchsuchung im Februar 2010; Kartellabsprache bis Februar 2010). 426 Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (176). 427 Ähnlich Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (176); Korthals/Bangard, BB 1998, S. 1013 ff. (1016); Hellmann, WuW 1999, S. 333 ff. (339); Weitbrecht/Tepe, EWS 2001, S. 220 ff. (227); krit. hingegen Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527); Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 271.

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ligten ausgeglichen, da die auch nach der Durchsuchung oder Aufgabe des kartellrechtswidrigen Verhaltens jedenfalls bis zur nächsten Preisverhandlung, Auftragsvergabe oder Listungsentscheidung weiterhin erzielten, tatsächlich kartellbehafteten Umsatzerlöse nicht berücksichtigt werden konnten, obgleich diese kartellbedingt in der Regel nominal höher ausfallen als diejenigen Umsätze, die noch unter wettbewerblichen Bedingungen erzielt wurden. Selbst wenn die Berücksichtigung von nach der Vereinbarung aber vor ihrer Umsetzung erzielten Umsatzerlösen im konkreten Einzelfall ausnahmsweise aufgrund von äußeren Einflüssen, wie Konjunkturschwankungen, für den Kartellbeteiligten nachteiliger gewesen sein sollte, bleibt zu bedenken, dass Kartelle auch nach ihrer Aufdeckung regelmäßig nachwirken, da ehemalige Kartellbeteiligte auch bei ausbleibenden Abstimmungen noch einen gewissen Zeitraum etwa von den kartellbedingt höheren Preisen profitieren und regelmäßig keinen unmittelbaren Preiskrieg heraufbeschwören.428 Durch die von den Bußgeldleitlinien 2006 intendierte Bußgeldbemessungspraxis wurde dieses weiterwirkende Unrecht des Kartells wegen des früheren Beendigungszeitpunkts rechtlich gesehen zutreffend, faktisch aber zum Vorteil der Kartellmitglieder ausgeblendet. Daher war eine die individuelle Schuld der Kartellbeteiligten übersteigende Belastung durch die zeitliche Abgrenzung des tatbezogenen Umsatzes nicht zu befürchten. Die zeitliche Ermittlung des tatbezogenen Umsatzes überzeugte vielmehr, da sie das von jedem einzelnen Kartellmitglied durch seine Beteiligung an den Absprachen oder Abstimmungen individuell verwirklichte Unrecht von dem Beginn seiner Kartellbeteiligung bis zu dessen Beendigung genau erfasste und damit auch dem allgemeinen Gleichheitssatz Rechnung trug. Diese Methode war vor allem auch der aktuellen Praxis der Kommission vorzuziehen,429 welche zwar ebenfalls die Dauer der Kartellbeteiligung berücksichtigt, allerdings die Anzahl der Jahre, in denen die Zuwiderhandlung begangen wurde, mit dem tatbezogenen Umsatz aus dem letzten vollständigen Geschäftsjahr vor ihrer Beendigung multipliziert.430 Dadurch bleiben sowohl äußere, nicht kartellbedingte Einflüsse auf den tatbezogenen Umsatz, wie etwa Konjunkturschwankungen, als auch Umsatzschwankungen außer Betracht. Der gegen den Kartellbeteiligten zu erhebende (Gesamt-)Vorwurf wird buchstäblich durch Vervielfachung des in neuerer Zeit (unter Berücksichtigung aller anderen Faktoren) zu erhebenden Vorwurfs fingiert, obgleich das Kartell etwa in der Anfangsphase nur geringe Auswirkungen auf den tatbezogenen Umsatz des Beteiligten und den 428 BGH, Urt. v. 28.6.2011, Az. KZR 75/10 – ORWI, WuW/E DE-R 3431 (3446), Rn. 84. 429 Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 402; Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (176). 430 Rn. 13, 19, 24 der Leitlinien der Kommission für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/ 2003, ABl. EG v. 1.9.2006, Nr. C 210, S. 2 ff.

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Markt zeitigen konnte. Das Vielfache des tatbezogenen Umsatzes aus dem letzten Jahr vor der Beendigung des Kartells entspricht daher nicht zwangsläufig dem verwirklichten Unrecht des Kartellbeteiligten. (3) Problemfall: einmalige Zuwiderhandlungen? Bei Zuwiderhandlungen, die weniger als ein Jahr andauerten, griff das Bundeskartellamt nach Randnummer 10 der Bußgeldleitlinien auf den tatbezogenen Umsatz aus den letzten zwölf Monaten vor Beendigung der Zuwiderhandlung zurück. Teilweise wurde hierzu kritisch angemerkt, dass diese mit den Leitlinien der Kommission vergleichbare „Eintrittsgebühr“ Kartellbeteiligten den Anreiz nehme, einen einmaligen Verstoß sofort zu beenden und diesen stattdessen jedenfalls ein Jahr auszureizen, da sich hinsichtlich der Bußgeldbemessung nichts ändere.431 Ob es tatsächlich einen solchen „Anreiz“ gäbe, wenn das Bundeskartellamt den tatbezogenen Umsatz tag- oder monatsgenau berücksichtigt hätte, kann dahinstehen, wenngleich ein solcher angesichts der in der Vergangenheit oft über Jahre praktizierten Wettbewerbsverstöße, die noch mithilfe der Mehrerlösberechnung bzw. -schätzung sanktioniert wurden, eher zweifelhaft erscheint. Problematisch ist jedoch, dass bei der Zugrundelegung der Umsatzerlöse aus den zwölf Monaten vor Beendigung des Wettbewerbsverstoßes de facto auch derjenige Umsatz berücksichtigt wurde, der eindeutig nicht in Zusammenhang mit dem Kartell stand, mithin also definitiv nicht tat- und schuldbezogen war. Zwar wurden durch den Ansatz der Bußgeldleitlinien 2006 wohl überwiegend unrechts- und schuldrelevante Umsatzerlöse erfasst. Dies ergibt sich bereits aus dem Umstand, dass auch bei einmaligen Zuwiderhandlungen zwischen wettbewerbswidrigen Vereinbarungen und deren Praktizierung Monate vergehen können. Die Berücksichtigung der in diesem Zeitraum erzielten Umsatzerlöse wurde jedoch vorstehend als legitim erachtet, da der dem Kartellbeteiligten zu machende Vorwurf nicht allein an die Praktizierung der Zuwiderhandlung und die damit bewirkte Wettbewerbsschädigung knüpft, sondern auch und schon an die mit der Absprache bezweckte Wettbewerbsbeschränkung und der damit deutlich in die Tat umgesetzten wettbewerbsfeindlichen Gesinnung.432 Darüber hinaus wurden durch die Regelung allerdings wohl in der Mehrzahl der Fälle auch Umsatzerlöse berücksichtigt, die vor der eigentlichen wettbewerbswidrigen Grundabsprache erzielt wurden und damit jedenfalls faktisch keinerlei Unrechts- und Schuldbezug aufwiesen. Damit mochte ein einmaliger Wettbewerbsverstoß im Vergleich zu fortgesetzten Zuwiderhandlungen strenger geahndet worden sein. Indes erschien die Ermittlung des tatbezogenen Umsatzes anhand der Randnummer 10 der Bußgeldleitlinien letztlich legitim. Denn erstens darf abermals nicht 431 432

Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527). Vgl. Teil 3 § 3 B. III. 1. b) cc) (2) (S. 441 ff.).

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ausgeblendet werden, dass auch die einmalige Zuwiderhandlung meist über den eigentlichen Beendigungszeitpunkt hinauswirkt, nämlich jedenfalls bis zur – unter wettbewerblichen Bedingungen stattfindenden – Neuverhandlung der vertraglichen Konditionen. Und zweitens bedarf es einer weitaus höheren kriminellen Energie, um die Schwelle zur Zuwiderhandlung mit der Etablierung eines wettbewerbswidrigen Systems zu überschreiten als dieses System fortan zu nutzen und das Unrecht damit „nur“ zu vertiefen.433 Dieser erhöhte Grad der Vorwerfbarkeit muss sich letztlich auch in der Sanktion widerspiegeln, um dem Schuldprinzip Rechnung zu tragen. dd) Schätzung des „schuldangemessenen“ tatbezogenen Umsatzes? Die nach der Randnummer 7 der Bußgeldleitlinien 2006 den Beschlussabteilungen eingeräumte Befugnis zur Schätzung des tatbezogenen Umsatzes widersprach ebenfalls nicht per se dem Schuldprinzip, soweit das Schätzungsergebnis das verwirklichte Unrecht und die Schuld weitgehend abbildete. Daher hatte das Bundeskartellamt freilich – wie auch bei der früheren Mehrerlösschätzung – auf Schätzgrundlagen zurückzugreifen, die eine an die Wahrheit mit hinreichender Sicherheit nahe kommende Schätzung erlaubten.434 Bei verbleibenden Unsicherheiten musste es notfalls den Zweifelssatz anwenden und einen angemessenen Sicherheitsabschlag vornehmen.435 Diese Voraussetzungen musste auch eine Schätzung in Fällen erfüllen, in denen Betroffene aufgrund der Art der Zuwiderhandlung, wie bei den von den Bußgeldleitlinien 2006 benannten Marktaufteilungskartellen, einen tatbezogenen Umsatz nicht erzielen konnten, jedoch der vermutlich erzielte tatbezogene Umsatz entscheidend sein sollte.436 Der fingierte tatbezogene Umsatz hatte mit anderen Worten noch dem verwirklichten Unrecht und der individuellen Schuld des Kartellbeteiligten zu entsprechen. Diesen zu ermitteln erscheint eine große, wenn auch nicht unlösbare Herausforderung zu sein. Dass die Bußgeldleitlinien 2006 der zuständigen Beschlussabteilung insoweit – anders als die Kommission – keine zwingend zu berücksichtigenden Schätzgrundlagen vorschrieben, um diesen einen möglichst großen Ermessensspielraum zu belassen,437 steht dem Schuldprinzip zwar nicht entgegen, sofern die Beschlussabteilung nur im konkreten Einzelfall verlässliche Schätzgrundlagen berücksichtigte, sodass die Schät433

Zutreffend Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 402. Vgl. auch Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 403. 435 Insoweit muss die Schätzung den gleichen Anforderungen genügen, wie die Mehrerlösschätzung nach altem Recht. Vgl. Teil 3 § 3 B. III. 1. a) (S. 432 ff.). 436 Daher sollte auch der Vorwurf von Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527) unbegründet sein, wonach sich das BKartA mit der Schätzung „vollends ins Spekulative“ begebe. 437 Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (175). 434

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zung „nicht völlig in der Luft hing“. Auch mochte dies angesichts der Vielzahl der möglichen Einzelfälle und verfügbaren Informationen nachvollziehbar sein, jedoch war die Bußgeldbemessung im konkreten Einzelfall dadurch für die Kartellbeteiligten naturgemäß kaum bis gar nicht vorauszusehen. Problematisch erschienen zudem Konstellationen, in denen die Kartellbeteiligten nachweisen konnten, dass sich die Zuwiderhandlung überhaupt nicht in ihrem Umsatz niedergeschlagen hat,438 etwa, weil der Kartellbeteiligte eine abgesprochene Preiserhöhung nicht durchsetzen konnte oder eine Submissionsabsprache keinen Erfolg hatte. Freilich setzt der Kartellbeteiligte auch in diesen Fällen bereits mit der Verabredung von wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen eine vorwerfbare rechtswidrige Gesinnung um, die der Ahndung bedarf. Die Tatsache, dass die Vereinbarung oder der Informationsaustausch de facto keine umsatzrelevante Wirkung zeitigte, konnte bei der Bußgeldbemessung aber nicht unberücksichtigt bleiben.439 Dies zeigt schon ein Vergleich mit der alten Rechtslage, nach welcher der mehrerlösbezogene Bußgeldrahmen keine Anwendung hätte finden können, eben weil es an einem Mehrerlös fehlte. Obgleich die nach hier vertretener und in den Bußgeldleitlinien 2006 zum Ausdruck kommender Auffassung geltende umsatzbezogene Kappungsgrenze keine Mehrerlösbetrachtung mehr erfordert, konnten die Beschlussabteilungen nicht ignorieren, dass mangels Umsetzung bzw. Fehlschlags einer Vereinbarung die Wettbewerbsschädigungen gänzlich ausgeblieben oder jedenfalls geringer ausgefallen sind. Wollte das Bundeskartellamt also den relevanten tatbezogenen Umsatz fingieren, musste es zumindest einen niedrigeren, die Schwere der Zuwiderhandlung reflektierenden, prozentualen Anteil zur Ermittlung des Grundbetrags ansetzen, als es gewöhnlich festgesetzt hätte. Dieser Zusammenhang wurde in den Bußgeldleitlinien 2006 indes nicht deutlich. Im Gegenteil. Man muss den Eindruck gewinnen, dass das Bundeskartellamt den fingierten tatbezogenen Umsatz wie den tatsächlich erzielten Umsatz behandeln wollte.440 Dies mag in einzelnen Fällen sachgerecht gewesen sein. Besteht etwa eine Grundabsprache, nach der die Kartellbeteiligten bei Ausschreibungen generell die in Frage stehenden Projekte jeweils vorher abzusprechen planen, und schlägt bei einem Kartellbeteiligten die Vereinbarung fehl, würde die Bebußung aller von Zufälligkeiten abhängen. Vor allem in Fällen, in denen der Zuschlag an Dritte erteilt wird, würde der Kartellbeteiligte begünstigt, der den beabsichtigten Umsatz nicht erzielen konnte. Gleiches gilt letztlich auch

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Krit. Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3527). Vgl. insoweit die kritische Haltung des BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/ 95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782 f.), Rn. 107 f. (juris), das bei einem oberhalb der tatsächlichen Vermögensverhältnisse ermittelten Schätzergebnis einen verfassungswidrigen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz annimmt. 440 In diese Richtung weist auch die Stellungnahme von Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (175), wonach „in bestimmten Fällen anstelle des realen tatbezogenen Umsatzes ein fiktiver tatbezogener Umsatz zugrunde gelegt [wird].“ 439

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für die Kartellbeteiligten, die einen Auftrag nicht absprachegemäß erhalten, weil ein anderer absprachewidrig ein besseres Angebot abgibt und den Zuschlag erhält. In diesen Fällen erschien es sachgerecht, den tatbezogenen Umsatz zu fingieren, da sich bereits mit der Beteiligung an der Vereinbarung ein hoher Grad krimineller Energie offenbarte. Allerdings erschien etwa der Rückgriff auf den fingierten, tatbezogenen Umsatz bei einmaligen, fehlgeschlagenen Zuwiderhandlungen überzogen, vor allem wenn der Kartellbeteiligte eine wettbewerbswidrige Absprache tatsächlich nicht umgesetzt hat, von der Vereinbarung also quasi freiwillig „zurückgetreten“ ist. Die Beteiligung an der Vereinbarung bedurfte zwar nichtsdestotrotz der Ahndung, da bereits dessen Beipflichtung die anderen Wettbewerber in ihrem Entschluss bestärkt hat, sodass auch die fehlgeschlagene Zuwiderhandlung zu einer Wettbewerbsschädigung führen konnte. Allerdings wäre in diesem Fall auch eine „symbolische“, nach § 81 Abs. 4 S. 1 GWB bemessene Geldbuße von bis zu einer Million Euro ausreichend gewesen, zumal die Zuwiderhandlung jedenfalls bezüglich des fraglichen Kartellbeteiligten nicht fortwirkte. c) Geeignetheit der in den Bußgeldleitlinien bestimmten Kriterien zur Ermittlung einer „schuldangemessenen“ Geldbuße anhand des tatbezogenen Umsatzes Nachdem jedenfalls gegen die Bestimmung des realen tatbezogenen Umsatzes nach den Bußgeldleitlinien 2006 keine Einwände zu erheben sind, kommt es entscheidend darauf an, ob dessen Anpassung, wie sie die Bußgeldleitlinien 2006 vorsahen, dem Gedanken des Schuldprinzips gerecht wurde. Insoweit überzeugte zunächst der Ansatz der Bußgeldleitlinien 2006, wonach die Schwere der Zuwiderhandlung den prozentualen Anteil des tatbezogenen Umsatzes zur Feststellung des Bußgeldgrundbetrags bestimmen sollte. Die hierzu angeführten, relevanten Faktoren, nämlich die Art der Zuwiderhandlung, ihre Auswirkungen auf den Markt, dessen Bedeutung und die Wettbewerbskraft aller Beteiligten, bilden das durch alle Kartellbeteiligten gemeinsam verwirklichte Unrecht ab, was sie wiederum als schuldangemessene Kriterien zur Bestimmung eines sachgerechten Grundbetrages qualifizierte. Sie behandelten zwar ausschließlich objektive Umstände, die das Kartell als Ganzes beschreiben, ließen demgemäß also täterindividuelle Schuldmerkmale außer Betracht. Dies war allerdings grundsätzlich mit der gesetzgeberischen Entscheidung, wonach der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit ein – im Vergleich zum Vorwurf, der dem Täter zu machen ist, und anderen Zumessungskriterien – vorrangiger Stellenwert eingeräumt ist, zu vereinbaren.441 Ferner sprach für die rein objektive Bewertung der Schwere der Zuwiderhandlung, neben dem Gebot der Gleichbehandlung aller Kartellbeteiligten, die sich 441

Vgl. bereits Teil 3 § 1 B. (S. 336 ff.) und Teil 3 § 3 B. II. 1. b) (S. 423 ff.).

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für das von ihnen gemeinsam verwirklichte Unrecht und dessen Erfolg verantworten sollen, vor allem der im Ordnungswidrigkeitenrecht gemäß § 14 OWiG geltende Einheitstäterbegriff,442 wonach – im Gegensatz zum Strafrecht – gerade nicht zwischen der jeweiligen individuellen Art der Beteiligung unterschieden werden soll. Unabhängig davon, dass im Anschluss an die Feststellung des Grundbetrags auf der zweiten Stufe der Bußgeldbemessung zu Recht – und gemäß § 17 Abs. 3 OWiG notwendigerweise – Anpassungsfaktoren anzuwenden waren, die den an jeden einzelnen Kartellbeteiligten zu richtenden, individuellen Vorwurf beschreiben, war zudem bereits bei der Bestimmung der Bußgeldgrundbetrags eine ausreichende Differenzierung zwischen den Kartellbeteiligten aufgrund der täterindividuellen Berechnung der tatbezogenen Umsatzerlöse gewährleistet. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die in den Bußgeldleitlinien 2006 beispielhaft aufgezählten, wenigen Anpassungsfaktoren wohl jeweils allein an den Enden einer abstrakten Vorwurfsskala einzuordnen waren. So stellen die Anführerschaft, die Wiederholungstat und die Drohung mit Vergeltungsmaßnahmen wohl nur sehr schwerwiegende Verhaltensweisen dar. Umgekehrt wird sich der unter Zwang oder mit Genehmigung einer Behörde Handelnde oder der bloße Mitläufer wohl eher nur einem sehr geringen Vorwurf ausgesetzt sehen. Alle sonstigen denkbaren Beteiligungsformen „dazwischen“ wurden von den Bußgeldleitlinien 2006 nicht reflektiert.443 Die Bußgeldleitlinien 2006 haben zudem einen Fokus auf die absolute Betrachtung des gegen den Täter zu erhebenden Vorwurfs gelegt. Demgegenüber ließen sie nicht deutlich erkennen, ob und inwieweit das Bundeskartellamt den individuellen Tatbeitrag eines Kartellbeteiligten im Verhältnis zu den Tatbeiträgen der anderen Kartellbeteiligten zu gewichten gedachte. Folgt man dem Konzept der Bußgeldleitlinien 2006 musste jedoch auf der zweiten Ebene der Bußgeldbemessung zwingend auch eine Abstufung nach der Schwere der individuellen Tatbeiträge der einzelnen Kartellbeteiligten erfolgen, also nach der diesen während der Zuwiderhandlung zukommenden Rollen und den ihnen jeweils individuell vorwerfbaren Tatbeiträgen.444 Denn wie bereits deutlich wurde, mag zwar die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit vorrangig zu berücksichtigen sein, jedoch verlangt die am Schuldprinzip ausgerichtete Sanktionierung nicht nur, dass der Täter diese auch irgendwie zu verantworten hat, sondern, dass der dem einzelnen Täter konkret zu machende Vorwurf in der Geldbuße zum Ausdruck kommt.445 Dies kann jedoch bei der gemeinsamen Be442

In diese Richtung auch BGH, Beschl. v. 12.3.1991, Az. KRB 6/90, Rn. 8 (juris). Krit. dazu Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (149). 444 So auch zur Bußgeldzumessung der Kommission: EuGH, Urt. v. 7.1.2004, verb. Rs. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P u. C-219/00 P – Aalborg Portland A/S u. a., Slg. 2004, I-123, Rn. 91 f.; Urt. v. 8.12.2011, Rs. C-389/10 P – KME, Slg. 2011, I-0000, Rn. 123 f.; in diese Richtung auch: OLG Düsseldorf, Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 142 (juris). 445 Vgl. Teil 3 § 1 B. (S. 336 ff.). 443

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gehung einer Zuwiderhandlung durch mehrere Täter nur eine Geldbuße leisten, die sowohl absolut als auch relativ betrachtet die individuell vorzuwerfende Ordnungswidrigkeit angemessen reflektiert.446 Die wechselseitige Beziehung zwischen der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der „Schuld“ der Kartellbeteiligten macht es mit anderen Worten erforderlich, dass jeder Beteiligte unter Berücksichtigung der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit in ihrer Gesamtheit, aber auch nach dem relativen Bedeutungsgehalt seines individuellen Beitrags und dem an beidem zu messenden Grad seines individuellen Verschuldens mit einer Geldbuße belegt wird. Aus alledem folgt, dass es angesichts der Wertungen des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts zwar vertretbar war, auf der ersten Stufe der Bußgeldbemessung alle Kartellbeteiligten hinsichtlich der Schwere der Zuwiderhandlung fiktiv als Täter mit gleichwertigen Beiträgen zu behandeln, den Vorwurf also zunächst „kartellindividuell“ zu bestimmen.447 Im Rahmen der Anpassung der Geldbuße musste jedoch zwingend eine Bewertung der Tatbeiträge eines jeden Kartellbeteiligten im Verhältnis zu den Tatbeiträgen aller anderen Kartellbeteiligten erfolgen. Dementsprechend hatte die zuständige Beschlussabteilung die Tatbeiträge der Kartellbeteiligten gegeneinander zu gewichten, was letztlich auch dazu führen konnte, dass für denjenigen, bei dem kein mildernder Umstand auszumachen war, der Grundbetrag abgesenkt werden musste, und umgekehrt. Nur so konnte etwa einem geringeren Vorwurf Rechnung getragen werden, der sich daraus ergibt, dass beispielsweise die Mehrzahl der anderen Kartellbeteiligten eine weitaus aktivere Rolle innerhalb des Kartells eingenommen hat, als der fragliche Beteiligte. Allenfalls für den (äußerst vereinfachten, wenig realistischen) Fall, dass drei Kartellbeteiligte eine Preisabsprache getroffen haben, von denen einer der Rädelsführer war, ein weiterer aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse „gezwungen“ war, sich zu beteiligen und sich schließlich ein Dritter weder besonders hervorgetan noch passiv verhalten hat, also „durchschnittlich“ mitgewirkt hat, hätte man anhand der Vorwurfskala der Bußgeldleitlinien 2006 zu dem Ergebnis kommen können, dass bei letzterem der Grundbetrag unter Ausblendung des Abschreckungsfaktors unverändert bleiben sollte und bei den übrigen Kartellbeteiligten das Bußgeld entsprechend der erhöhten oder verminderten Vorwerfbarkeit zu erhöhen bzw. zu reduzieren war. 2. Hinreichende Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes?

Soweit die Bußgeldleitlinien 2006 die Zumessung einer im Hinblick auf das verwirklichte Unrecht und der Schuld des Kartellbeteiligten angemessene Geld446 BGH, Beschl. v. 12.3.1991, Az. KRB 6/90, Rn. 8 (juris); Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 141; Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (148); ferner schon: Kienapfel, NJW 1970, S. 1826 ff. (1826 f.). 447 A. A. Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (148 f.).

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buße erlaubt haben, müssten sie darüber hinaus Korrektiven bereitgehalten haben, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht zu werden. Denn auch eine prinzipiell schuldangemessene Sanktion darf nicht über das Maß hinausgehen, was der Rechtsstaat zulässigerweise von den Kartellbeteiligten abverlangen kann. In diesem Zusammenhang wurde bereits festgestellt, dass bei Unternehmen mit einer geringen Wertschöpfungstiefe gegebenenfalls dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geschuldete Bußgeldkorrekturen vorzunehmen waren, wenn die geringere Werthaltigkeit der generierten Umsätze nicht bereits auf der Ebene der Schwere der Zuwiderhandlung berücksichtigt worden war. Zudem hatte das Bundeskartellamt den Sinn und Zweck des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB nicht konsequent zu Ende geführt, da die Bußgeldleitlinien 2006 die Anwendung der Kappungsgrenze allein auf den ahndenden Teil der Geldbuße anordneten und gleichzeitig „erlaubten“, dass die Beschlussabteilungen eine mit dem abschöpfenden Anteil addierte Gesamtgeldbuße verhängen, welche die 10 %-Grenze übersteigt.448 Neben den Regelungen zur Anwendung der Kappungsgrenze enthielten die Bußgeldleitlinien 2006 lediglich noch den Hinweis, dass das Bundeskartellamt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Kartellbeteiligten beachten werde (a)). Darüber hinaus konnte die uneingeschränkte Anwendung der Bußgeldleitlinien 2006 jedoch auch bei wirtschaftlich „gesunden“ kleineren und mittleren Unternehmen zu einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprechenden, unangemessenen Geldbuße führen (b)). a) Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Nach Randnummer 24 der Bußgeldleitlinien 2006 beabsichtigte das Bundeskartellamt – dem oben gefundenen Ergebnis entsprechend449 – zu Recht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Kartellbeteiligten zu berücksichtigen. Konnte das betroffene Unternehmen nachweisen, dass es die bemessene Geldbuße kurzoder mittelfristig nicht zahlen kann, ohne seine Existenz zu gefährden, konnte die Beschlussabteilung einen Besserungsschein ausstellen oder die Geldbuße stunden. Eine Bußgeldreduzierung sollte hingegen nur bei langfristiger Zahlungsunfähigkeit in Frage kommen. Diese Richtlinien lassen sich im Grundsatz mit dem in Abschnitt 4. gefundenen Ergebnis vereinbaren. Sofern es hinreichend sicher ist, dass der Kartellbeteiligte nach Ablauf des Stundungszeitraums die Geldbuße zahlen kann, ohne dass weiterhin seine Existenz gefährdet wäre, ist die Stundung in der Tat einer Bußgeldreduzierung vorzuziehen.450 Gleiches gilt für den Besserungsschein, sofern absehbar ist, dass die betroffene juristische Person oder Per448 A.A. Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (172). Zur hier vertretenen Auffassung vertiefend: Teil 3 § 3 B. II. 1. d) (S. 426 ff.). 449 Umfassend dazu Teil 3 § 2 B. III. 4. (S. 384 ff.). 450 Vgl. Teil 3 § 2 B. III. 4. b) bb) (1) (S. 390 ff.) und Teil 3 § 2 B. III. 4. b) cc) und dd) (S. 401 ff.).

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sonenvereinigung tatsächlich kurz- oder mittelfristig bestehende wirtschaftliche Schwierigkeiten überwinden wird. Dabei ist jedoch zu beachten, dass bei Besserungsscheinen ein erhöhtes Missbrauchspotential besteht.451 Auffällig ist, dass das Bundeskartellamt in den Bußgeldleitlinien 2006 keine Ratenzahlungsvereinbarungen erwähnt hat. Diese sind jedoch gegebenenfalls anderen Vollstreckungsvereinbarungen oder einer Bußgeldreduzierung vorzuziehen, wenn mit ihnen eine höhere Erfolgsprognose verbunden ist und sie den Kartellbeteiligten weniger belasten. Zwar konnte die zuständige Beschlussabteilung auch ohne die explizite Erwähnung Ratenzahlungsvereinbarungen anbieten.452 Allerdings fehlte es mangels expliziter Erwähnung in den Bußgeldleitlinien diesbezüglich an einem Anspruch der betroffenen juristischen Personen. Insgesamt wirken die Bußgeldleitlinien 2006 zudem sehr restriktiv.453 Dies mochte der Vermeidung von Vertrauenstatbeständen geschuldet sein. Allerdings durfte die zuständige Beschlussabteilung im konkreten Einzelfall nicht ihre Pflicht unterschätzen oder gar ausblenden, bereits bei der Bußgeldbemessung das Zumessungskriterium der wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters ausreichend zu berücksichtigen.454 Wie bereits deutlich wurde, dient dieses Kriterium nicht allein der Sicherstellung der Spezialprävention, auch wenn der Gesetzgeber vor allem diesen Aspekt bei der Integration des Zumessungskriteriums der wirtschaftlichen Verhältnisse im Sinn hatte. Darüber hinaus musste die Beschlussabteilung bei der Bußgeldbemessung von Amts wegen beachten, wenn der angepasste Grundbetrag bereits derart hoch war, dass das Unternehmen mit dessen Zahlung in ernsthafte, wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten würde. Insoweit kommt es grundsätzlich nicht auf einen Nachweis durch die Kartellbeteiligten 455 oder gar einem Antrag auf Berücksichtigung, wie ihn die Kommission verlangt,456 an, wenngleich es freilich im eigenen Interesse der betroffenen juristischen Person oder Personenvereinigung liegt, dem Bundeskartellamt aussagekräftige Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Erkannte die Beschlussabteilung jedoch bereits bei der Prüfung der Umsatzzahlen des fraglichen Unternehmens, dass be451

Teil 3 § 2 B. III. 4. b) bb) (1) (S. 390 ff.). So etwa geschehen in den Fällen: BKartA, Fallbericht v. 4.5.2012 zu den Ents. v. 10.8.2011 u. 28.2.2012, Az. B12-15/09 – Hersteller von Betonrohren und -schächten für den Kanalbau, S. 2; PM v. 25.10.2011 – Mühlenkartell. 453 Ebenso Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 37. 454 Vgl. dazu Teil 3 § 2 B. III. 4. b) bb) (2) (b) (S. 393 ff.) und Teil 3 § 2 B. III. 4. b) dd) (S. 403 ff.). 455 KG Berlin, Beschl. v. 30.9.2011, Az. 1 Ws (B) 179/09 – 2 Ss 209/09, MMR 2012, 627 (628), Rn. 121 (juris); Beschl. v. 10.7.2009, Az. 3 Ws (B) 283/09, Rn. 6 (juris); OLG Hamm, Beschl. v. 15.12.2009, Az. 3 Ss OWi 870/09, Rn. 25 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 31.5.2000, Az. 2a Ss (OWi) 68/00 – (OWi) 30/00 II, NZV 2000, 425 (426), Rn. 7 f. (juris). 456 Kommission, Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen gemäß Artikel 23 Absatz 2 Buchstabe a) der Verordnung (EG) Nr. 1/2003, ABl. EU v. 1.9.2006 Nr. C 210, S. 2 ff., Rn. 35. 452

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reits der Grundbetrag dessen wirtschaftliche Leistungsfähigkeit übersteigen wird, hatte sie diesen Umstand bußgeldmindernd zu berücksichtigen, wenn Stundungsund Ratenzahlungsvereinbarungen oder ein Besserungsschein kurz- oder mittelfristig keine hinreichende Sicherheit dafür gewährleisteten, dass das Unternehmen in Zukunft leisten kann und wird; dann wurde eine reduzierte Geldbuße regelmäßig dem öffentlichen Interesse an Ahndung besser gerecht.457 b) Problematischer Fall: „Ein-Produkt-Unternehmen“ Im Zusammenhang mit den tatbezogenen Umsätzen von Handelsunternehmen wurde darauf hingewiesen, dass die ermittelte, dem Schuldprinzip entsprechende Geldbuße im zweiten Schritt auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen ist, weil Handelsumsätze regelmäßig einen geringeren wirtschaftlichen Wert aufweisen. Die Bußgeldleitlinien 2006 offenbarten dazu allerdings keine konkreten Handlungsanweisungen. Überdies konnten sich im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch Geldbußen als besonders kritisch erweisen, die mithilfe des tatbezogenen Umsatzes von – zumeist kleinen oder mittelständischen – Unternehmen bemessen wurden, welche nur ein Produkt oder sehr wenige Produkte herstellen. Bei diesen führte nämlich bereits die Festsetzung des Grundbetrags in Höhe von 10 % des tatbezogenen Umsatzes regelmäßig zur Erreichung der von den Bußgeldleitlinien 2006 zugrunde gelegten Kappungsgrenze, wenn die betroffenen juristischen Personen oder Personenvereinigungen mangels Verbundintegration isoliert zu betrachten waren.458 Bei Hardcore-Kartellen sollte der Grundbetrag jedoch im oberen Bereich des höchst zulässigen Grundbetrags, also wohl bei mindestens 20 % angesetzt werden, sodass die Geldbuße immer auf den höchst zulässigen Wert zu kappen war. Zwar erweist sich der tatbezogene Umsatz auch bei „Ein-Produkt-Unternehmen“ sowohl bei absoluter als auch relativer Betrachtung, also unter Berücksichtigung der schuldangemessenen Geldbußen anderer „Mehr-Produkte-Unternehmen“ weiterhin als angemessener Schuldindikator, da das Ein-Produkt-Unternehmen umfassender als letztere von dem in Frage stehenden Wettbewerbsverstoß profitiert. Allerdings vermag es nicht zu überzeugen, dass gegen diese bei einer konsequenten Anwendung der Bußgeldleitlinien 2006 ohne Ausnahme stets die höchstzulässige Geldbuße in Höhe von 10 % des Umsatzes aus dem letzten Geschäftsjahr zu verhängen war, die Kappungsgrenze als gesetzliche Konkretisierung des Übermaßverbots und des „ultima ratio“-Prinzips also stets ausgereizt wurde. Besonders kritisch erschienen darüber hinaus Fälle, in denen Ein-Produkt-Unternehmen einer Finanzholding unterstehen oder jedenfalls von einer Gruppe von Finanzinvestoren gehalten werden, die wiederum Träger einer ganzen Reihe anderer juristischen Personen ist/ 457 458

Vgl. Teil 3 § 2 B. III. 4. b) dd) (S. 403 ff.). Ebenso Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (147).

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sind.459 In diesem Fall war dem Kartellbeteiligten nämlich der Umsatz all jener über die Holding oder die Finanzinvestoren mit diesem verbundenen juristischen Personen zuzurechnen. Die Kappungsgrenze konnte damit leicht bei dem gesamten Jahresumsatz des Kartellbeteiligten oder ein Vielfaches von diesem liegen. Dies hätte aber bedeutet, dass die gegen den Kartellbeteiligten zu verhängende Geldbuße den gesamten Umsatz des letzten Geschäftsjahres oder mehrerer Geschäftsjahre umfasste. Dass eine solche Sanktion die wirtschaftliche Existenz des Kartellbeteiligten bedroht, bedarf ebenso wenig einer weiteren Erklärung wie auch die Tatsache, dass einer der Geldbuße zwangsläufig folgenden Existenzvernichtung nicht durch Vollstreckungsvereinbarungen abgeholfen werden kann. Insoweit verlangt das Übermaßverbot eine Bußgeldreduzierung auf ein angemessenes Maß. Wie das Bundeskartellamt mit solchen Fällen umzugehen gedachte, ließ sich den Bußgeldleitlinien 2006 nicht entnehmen. Insoweit fehlten notwendige Korrektiven, um eine Benachteiligung kleiner und mittelständischer Unternehmen gegenüber großen Industrieunternehmen zu verhindern.460 Dabei wäre es nicht damit getan gewesen, zur Bestimmung der Kappungsgrenze allein auf den Umsatz des sich Fremdmitteln bedienenden „Ein-Produkt-Unternehmens“ abzustellen.461 Denn auch bei isolierter Betrachtung der Umsätze des Ein-Produkt-Unternehmens hätte diesem unabhängig von der Art der Zuwiderhandlung und der Art seiner konkreten Beteiligung regelmäßig das höchst zulässige Bußgeld gedroht, da die Kappungsgrenze wohl nur selten nicht erreicht worden wäre. Auch wenn die Kappungsgrenze nach hier vertretener Auffassung nicht als Bußgeldobergrenze zu qualifizieren ist, gibt sie doch regelmäßig das höchste, zulässige Bußgeld und damit de facto das Bußgeld für das denkbar schwerste, vorzuwerfende Unrecht an. In die Wertungen des Ordnungswidrigkeitenrechts übersetzt, wäre bei unveränderter Anwendung der Bußgeldleitlinien 2006 also quasi jede Zuwiderhandlung eines Ein-Produkt-Unternehmens als denkbar schwerster Fall fingiert worden. Insofern hätte sich die Anwendung des im Prinzip schuldangemessenen, tatbezogenen Umsatzes in sein Gegenteil verkehrt und überdies zu einer übermäßigen Sanktion geführt. Es wäre daher an dem Bundeskartellamt gewesen, einen verhältnismäßig geringeren, maximalen Anteil des tatbezogenen Umsatzes zur Bestimmung des Grundbetrags für Ein-Produkt-Unternehmen festzulegen.462 Bis zur Änderung der Bußgeldleitlinien hatte es jedenfalls unter Berück459

Zutreffend: Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (147). Zwar kann sich bei Konzernen, die Produktsparten jeweils in eigens gegründeten Tochtergesellschaften organisieren, eine vergleichbar hohe Geldbuße ergeben. Diese ist jedoch gerechtfertigt, weil das Kartellrecht grundsätzlich nicht auf zufällige unternehmerische Entscheidungen hinsichtlich der Strukturierung ihrer Gesellschaften Rücksicht nehmen kann. 461 Zweifelnd auch Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (147). 462 Ähnlich fordert auch das Europäische Parlament eine Anpassung der europäischen Bußgeldleitlinien an die besondere Situation bei Ein-Produkt-Unternehmen und 460

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sichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes irgendwie, entsprechend der Kommission im jüngeren Fall Fensterbeschläge,463 die Geldbuße herabzusetzen. 3. Hinreichende Konkretisierung der Zumessungskriterien

Der Grad der Transparenz und die durch die Bußgeldleitlinien 2006 vermittelte Rechtssicherheit hängt nicht allein von der Frage ab, ob die Bußgeldleitlinien überhaupt in der Mehrzahl der Fälle unverändert angewandt werden konnten, sondern auch davon, ob die anzuwendenden Zumessungskriterien hinreichend konkretisiert waren, mit anderen Worten also eine relativ vorhersehbare und nachvollziehbare Bußgeldzumessung im Einzelfall erlaubten. Namentlich Brettel und Thomas zweifelten an der diesbezüglichen Orientierungswirkung der Bußgeldleitlinien 2006. Diese hätten nur Selbstverständlichkeiten offenbart, die sich bereits aus § 81 Abs. 4 S. 6 GWB ergäben, jedoch keinen darüber hinausgehenden materiellen Gehalt.464 Die für die Normadressaten eigentlich entscheidende Frage, wie das Bundeskartellamt den Umfang der Geldbuße mit den bestimmten Bußgeldtatbeständen, vor allem mit den unterschiedlichen Formen der Wettbewerbsverstöße in Beziehung setzt, sei unbeantwortet geblieben. Daneben seien die übrigen Bemessungsgrundsätze derart weit gefasst gewesen, dass die Bußgeldleitlinien 2006 letztlich keine Einschränkung des Sanktionszumessungsermessens bewirkt, sondern diese lediglich suggeriert hätten.465 Die Kritik mag aus Unternehmenssicht verständlich sein; sie blendet jedoch die Verpflichtung der zuständigen Beschlussabteilung zur sachgerechten Einzelfallbetrachtung als Kern ihrer pflichtgemäßen Ermessensausübung aus und erscheint überdies überzogen. Sicherlich trugen die Bußgeldleitlinien 2006, was die zur Feststellung der Schwere der Zuwiderhandlung relevanten Umstände betrifft, zu keinem weiteren Erkenntnisgewinn bei, da sie insoweit lediglich „Altbewährtes“ wiederholten. Die Tatsache, dass sich das Bundeskartellamt nicht darauf einließ, Wettbewerbsverstöße von vornherein mithilfe von prozentualen Schweregraden zu typisieren, ist jedoch sachgerecht. Unabhängig davon, dass das Bundeskartellamt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bußgeldleitlinien 2006 noch am Anfang seiner Verwaltungspraxis stand und sich bereits aus diesem Grund verständlicherweise „ein Türchen offenhalten“ wollte,466 dürfen Bußgeldleitlinien nicht dazu führen, dass Geldbußen berechnet werden können. Berechenbarkeit führt nämlich dazu, kleinen und mittelständischen Unternehmen, vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Jahresbericht über die EU-Wettbewerbspolitik v. 2.2.2012, 2011/2094 (INI), Rn. 33 f. 463 Vgl. PM v. 28.3.2012, IP/12/313. 464 Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (50). 465 Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (50 f.). 466 Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (462 f.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

dass Normadressaten Geldbußen einkalkulieren und entsprechende Rücklagen bilden können. Wird ein Kartell planwidrig aufgedeckt, funktioniert die Geldbuße mithin nicht mehr als spürbarer Pflichtenappell und verliert überdies gänzlich ihre ohnehin zweifelhafte abschreckende Wirkung. Neben diesen dem Wettbewerbsschutz diametral entgegenstehenden Konsequenzen setzt Sanktionszumessung vor allem aber eine wertende Beurteilung des im konkreten Einzelfall verwirklichten Unrechts der Tat und des Grads der Vorwerfbarkeit des Kartellbeteiligten voraus. Dem wird die bloße Anwendung von im Vorfeld durch prozentuale Größen definierten, abstrakt-generellen Bußgeldhöhen nicht gerecht.467 Auch wenn man Wettbewerbsverstöße zu typisieren, also etwa grob als HardcorePreiskartell oder Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung einzuordnen vermag, unterscheiden sich die in der Praxis begangenen Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot zum Teil erheblich hinsichtlich ihrer Art, ihrer Ausgestaltung und ihren Auswirkungen, und damit hinsichtlich ihres Unrechtsgrads. Selbst „einfache“ Preisabsprachen weisen, je nachdem ob sie auf einem Markt für lebenswichtige Konsumgüter begangen werden oder „nur“ auf einem kleinen Markt für Luxusgegenstände, einen unterschiedlichen Wirkradius und Erheblichkeitsgrad auf. Gleichermaßen von Relevanz ist, ob es sich um einen Markt handelt, der ohnehin schon wettbewerbsstrukturell eingeschränkt ist, oder um einen Markt, auf dem sich eine Vielzahl von Anbietern oder Nachfragern „tummelt“, von denen nur ein Bruchteil Zuwiderhandlungen begangen hat. Daneben können tateinheitlich begangene Zuwiderhandlungen unterschiedlich ausgestaltet sein. So kann etwa eine Grundabsprache zur regelmäßigen Begehung von Submissionsbetrug sowohl die Verständigung beinhalten, einen Markt nach Sollquoten aufzuteilen, als auch die jeweils ausgeschriebenen Projekte hinsichtlich der Angebotspreise abzusprechen, sodass neben der Zementierung der Marktanteile der Kartellbeteiligten auch ein gewisses preisliches Niveau im Markt sichergestellt bleibt. Derartige Wettbewerbsverstöße stellen nochmals ein gesteigertes Unrecht zu einfachen Quoten- oder Preisabsprachen dar. Allein diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass eine Zuordnung typischer Wettbewerbsverstöße zu prozentualen Anteilen des Grundbetrags nicht hilfreich ist, da das Bundeskartellamt ohnehin lediglich prozentuale Spannen hätte angeben können und überdies einen Atypikvorbehalt hätte integrieren müssen. Im Übrigen dürfte das Bundeskartellamt in der Praxis auf die allgemeinen Bemessungsgrundsätze zurückgriffen haben, die – freilich ohne Berücksichtigung des individuellen Vorwurfs und sonstiger Zumessungsgesichtspunkte – bei der Bußgeldzumessung innerhalb eines Regelbußgeldrahmens anzuwenden sind. Für die schwersten Wettbewerbsverstöße

467 Dies gilt erst Recht, wenn man auf den nicht schuld- und unrechtsbezogenen Parameter des Gesamtumsatzes der wirtschaftlichen Einheit abstellte, § 81 Abs. 4 S. 2 GWB also nicht als Kappungsgrenze, sondern als Bußgeldobergrenze definierte. So aber gerade: Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (50).

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens

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hatte es sich in Randnummer 9 der Bußgeldleitlinien 2006 bereits auf den oberen Bereich des höchstmöglichen Grundbetrags, also wohl zumindest 20 % festgelegt. Daraus folgt, dass bei vertikalen Wettbewerbsverstößen, je nach Ausgestaltung, regelmäßig etwa um die 5–15 % des Grundbetrags angelegt wurden,468 und beim „bloßen“ Informationsaustausch 1–5 %. Dass die Bußgeldleitlinien 2006 zudem jedenfalls die Berücksichtigung der Dauer der Zuwiderhandlung präzise bestimmten, offenbart bereits, dass bezüglich der Anwendung des Zumessungskriteriums der Bedeutung der Zuwiderhandlung von einer fehlenden Orientierungswirkung der Bußgeldleitlinien nicht die Rede sein kann. Entgegen Brettel und Thomas469 hatte das Bundeskartellamt auch den Abschreckungsaufschlag durch die Angabe der freilich variablen Größe von bis zu 100 % des Grundbetrags hinreichend konkretisiert und damit sein Sanktionszumessungsermessen spürbar beschränkt. Eine weiterreichende, generalisierende Abstufung des Abschreckungsaufschlags blieb dem Bundeskartellamt bereits faktisch verwehrt. Der Grundbetrag unterlag naturgemäß erheblichen Schwankungen, da dieser zunächst anhand der Bedeutung der Ordnungswidrigkeit, des den Kartellbeteiligten individuell zu machenden Vorwurfs und natürlich des individuell betroffenen tatbezogenen Umsatzes zu bestimmen war. Schon aus diesem Grund ließ sich nicht im Vorfeld abstrakt festlegen, wann und in welcher Höhe ein Abschreckungsaufschlag nötig sein würde, zumal dies von den individuellen wirtschaftlichen Verhältnissen eines jeden Kartellbeteiligten abhängt. Das Bundeskartellamt hätte allenfalls gewisse Anpassungsfaktoren, wie etwa die Wiederholungstat oder die Anführerrolle, durch die Angabe feststehender prozentualer Zu- und Abschläge konkretisieren können. Aber auch dies würde die Umstände des Einzelfalls ignorieren, da sich eine führende Rolle in verschiedenen Handlungsweisen widerspiegeln kann und dementsprechend auch einen unterschiedlichen Unrechtsgrad aufweist. Vor allem aber ließe eine solche Bewertung außer Betracht, dass die Beschlussabteilung grundsätzlich eine Gewichtung der Tatbeiträge jedes einzelnen Kartellmitglieds vorzunehmen hat, wodurch Zu- und Abschläge auch in Abhängigkeit von den Tatbeiträgen der übrigen Kartellbeteiligten vorzunehmen sind. Dem stünden typisierte Zu- und Abschläge im Wege. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine weitreichendere Konkretisierung der Zumessungskriterien, jedenfalls sofern damit eine Art Bußgeldkatalog verfolgt würde, weder sachgerecht noch möglich gewesen ist. Die Bußgeldleitlinien 2006 waren damit hinreichend bestimmt. 468 So hat das BKartA für einen schweren Fall der Preispflege und der Beschränkung des Internethandels 15 % des tatbezogenen Umsatzes angesetzt, vgl. Ents. v. 25.9.2009, Az. B3-123/08 – Kontaktlinsen, S. 19, Rn. 71; ähnlich schon Ents. v. 25.4.2007, Az. B742/06 – Haushaltskleingeräte, S. 20 (10 % bei Preisbindung der zweiten Hand). 469 Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (50 f.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes 4. Ergebnis

a) Gewährleistung einer weitgehend transparenten und rechtssicheren Bußgeldbemessung Mithilfe des den Bußgeldleitlinien von 2006 zugrunde liegenden zweistufigen Bußgeldbemessungssystems konnten sich Normadressaten im Allgemeinen und Nebenbetroffene im Besonderen weitestgehend ein Bild über die vom Bundeskartellamt intendierte Ausübung des Sanktionszumessungsermessens machen. In ihrer wesentlichen Form waren die Bußgeldleitlinien 2006 grundsätzlich auf jede denkbare Fallkonstellation anwendbar. Dies ist zunächst darauf zurückzuführen, dass das Bundeskartellamt die wesentlichen Zumessungskriterien soweit als möglich konkretisiert hatte. Der quasimathematische Ansatz der Bußgeldleitlinien erlaubte es zumindest einer Vielzahl von Kartellbeteiligten die möglichen Ergebnisse der Bußgeldbemessung im konkreten Fall bis zu einem gewissen Grade vorherzusehen, da der tatbezogene Umsatz in sachlicher, zeitlicher und örtlicher Hinsicht nahezu feststeht.470 Mithilfe seiner Umsatzerlöse, die während der Zuwiderhandlung mit den betroffenen Produkten erzielt wurden, und einer groben Einschätzung der wohl anzunehmenden Schwere der Zuwiderhandlung, konnte der Kartellbeteiligte jedenfalls den zu erwartenden Grundbetrag der Geldbuße nominal eingrenzen und davon ausgehend Prognosen anstellen, welche Umstände das Bundeskartellamt wohl in welcher prozentualen Größenordnung bußgelderhöhend bzw. -mindernd berücksichtigen würde. Freilich konnten Kartellbeteiligte keine feststehenden Bußgeldbeträge aus den Bußgeldleitlinien 2006 entnehmen; dies war aber auch nicht ihr Zweck. Ein Bußgeldkatalog konnte und sollte zur Sicherung der Einzelfallgerechtigkeit und ausreichenden Abschreckung der Geldbußen gerade nicht geschaffen werden. Die Bußgeldleitlinien 2006 ermöglichten in vielen Fällen jedoch zumindest die Feststellung der wohl maximal zu erwartenden, noch sach- und schuldangemessenen Geldbuße (inklusive Abschreckungsaufschlag), was Kartellbeteiligten – ohne die Bußgeldleitlinien – allein unter Rückgriff auf die Vorschriften des § 81 Abs. 4 GWB i.V. m. § 17 OWiG definitiv versperrt geblieben wäre. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass die in den Bußgeldleitlinien 2006 hinterlegten Direktiven für die bußgeldrechtliche Würdigung der Mehrzahl der Fälle sowohl dem Schuldprinzip als auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht wurden,471 sodass die Beschlussabteilungen in der Vergangenheit überwiegend zu gleichermaßen schuld- und sachangemessenen wie verhältnismäßigen Geldbußen gelangt sein dürften, ohne unvorhersehbare und damit unsichere Korrektiven anzuwenden. 470 Etwas anderes gilt freilich dann, wenn der tatbezogene Umsatz geschätzt werden muss. Dazu noch unter b). 471 A. A. Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (156).

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Damit haben die Bußgeldleitlinien 2006 nicht nur zu einer verbesserten Transparenz der kartellbehördlichen Bußgeldbemessungspraxis geführt, sondern überdies auch dem Bedürfnis nach einer verlässlichen Anwendung des Kartellbußgeldrechts Rechnung getragen, da sie in den meisten Fällen zu einer deutlichen Beschränkung des Sanktionszumessungsermessens führten. b) Defizite der Bußgeldleitlinien 2006 Nichtsdestotrotz hat die Untersuchung auch einige wenige Defizite der Bußgeldleitlinien 2006 aufgezeigt, welche die zuständige Beschlussabteilung in bestimmten Fällen ausgleichen musste, ohne dass ihr die Bußgeldleitlinien 2006 hierzu konkrete Vorschläge lieferten. Allen voran die Schätzung des (fingierten) tatbezogenen Umsatzes, etwa bei fehlgeschlagenen Zuwiderhandlungen und Marktaufteilungskartellen, erwies sich als black box. Das Bundeskartellamt hat weder in den Bußgeldleitlinien 2006 preisgegeben, mit Hilfe welcher Grundlagen es die Schätzung vorzunehmen gedachte, noch finden sich hierzu Informationen in seinen veröffentlichten Stellungnahmen. Bei einmaligen, fehlgeschlagenen Zuwiderhandlungen kommt hinzu, dass eine umsatzbezogene Schätzung schnell zu schuldunangemessenen Geldbußen führen kann; hier hätte das Bundeskartellamt daher generell auf eine umsatzbezogene Bußgeldbemessung verzichten und der Bußgeldzumessung stattdessen den Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB zugrunde legen sollen. Ferner dürften strikt nach den Bußgeldleitlinien 2006 bemessene Geldbußen gegen Ein-Produkt-Unternehmen mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kollidiert sein, wenn sie nicht „manuell“ angepasst worden sind. Dies ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass der ahndende Teil der Geldbuße unabhängig von der Art und den Auswirkungen der Zuwiderhandlung und der konkreten Form der Beteiligung regelmäßig gekappt werden musste. Dementsprechend genügte bei Ein-Produkt-Unternehmen die alleinige Anwendung der Kappungsgrenze dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht, zumal sich das Bundeskartellamt im Hinblick auf die durch Sanktionen drohende Existenzgefährdung einzelner Kartellbeteiligter bislang ohnehin zu restriktiv zeigte. Ähnlich problematisch konnte sich auch die Bußgeldbemessung gegen Handelsunternehmen darstellen, die zwar regelmäßig nominal hohe tatbezogene Umsätze generieren, deren wirtschaftlicher Wert indes aufgrund der geringeren Wertschöpfungstiefe des bloßen Verkaufs weitaus geringer ist. Soweit die Bußgeldleitlinien für die vorstehenden, durchaus verallgemeinerungsfähigen Normadressaten keine hinreichend transparenten Sonderregelungen aufwiesen, konnten jene die Bußgeldbemessung nicht ansatzweise vorhersehen. Dies gilt vor allem für jene Nebenbetroffenen, bei denen der tatbezogene Umsatz nach den Bußgeldleitlinien 2006 zu schätzen war. Die Sanktionszumessung der Beschlussabteilungen war in diesen Konstellationen nicht nur unberechenbar. Es bestand auch keine Bindungswirkung, sodass die Beschlussabteilungen von Fall

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

zu Fall abweichende Korrekturmaßnahmen ergreifen konnten. Insoweit kam für Unternehmen nämlich erschwerend hinzu, dass das Bundeskartellamt – im Gegensatz zur gängigen Praxis der Kommission – so gut wie keine nichtvertraulichen Fassungen von Bußgeldentscheidungen veröffentlicht, sodass auch eine gleichmäßige Verwaltungspraxis in ähnlich gelagerten Fällen, die wegen Art. 3 GG und des Grundsatzes des Vertrauensschutzes ebenfalls zu einer Ermessensbindung führen würde, nicht auszumachen ist. Die seit 2009 erfolgende Fallberichterstattung durch das Bundeskartellamt ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, allerdings veröffentlicht das Bundeskartellamt lediglich ausgewählte Bußgeldentscheidungen in einer äußerst verkürzten Form, bei der insbesondere die konkrete Bußgeldbemessung offen bleibt. Obgleich die Bußgeldleitlinien 2006 insgesamt ein hohes Maß an Transparenz für eine Vielzahl an Fällen aufwiesen, bedurften sie daher dringend einer Änderung. In diesem Zusammenhang war es auch an dem Bundeskartellamt angesichts der anhaltenden Weltwirtschafts- und Finanzkrisen seine stringente Haltung hinsichtlich der zu berücksichtigenden Leistungsfähigkeit der Nebenbetroffenen zu überdenken. Außerdem wäre ein Hinweis, dass und womöglich auf welcher Art und Weise die Beschlussabteilung Tatbeiträge der einzelnen Kartellmitglieder und ihre individuelle Schuld relativ zueinander gewichten soll, zu begrüßen gewesen. c) Die abweichende Auffassung des OLG Düsseldorf und des BGH Unabhängig von den vorstehenden problematischen Fällen, die wohl durch relativ einfache Justierungen hätten gelöst werden können, hat schließlich der Kartellsenat 2a des OLG Düsseldorf mit seinem Urteil im Fall Zementkartell nicht eben zur Rechtssicherheit beigetragen, indem er abweichend von der herrschenden Auffassung in der Literatur feststellte, dass es sich bei der Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB um eine Obergrenze eines Sonderbußgeldrahmens für juristische Personen und Personenvereinigungen handele.472 Wenngleich der BGH diese Auffassung nunmehr in der Sache Grauzementkartell bestätigt und damit zumindest in der Praxis vorerst Unsicherheiten bezüglich der Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gelöst hat, bestand für Betroffene eines Kartell-Bußgeldverfahrens jedenfalls bis zur Veröffentlichung der neuen Bußgeldleitlinien 2013 erneut eine völlig undurchsichtige Rechtslage. Zogen diese in Erwägung, einen bereits ergangenen Bußgeldbescheid aus welchem Grund auch immer anzufechten, war der Ausgang des gerichtlichen Bußgeldverfahrens angesichts der von den ursprünglichen Bußgeldleitlinien 2006 systematisch gänzlich abweichen472 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 624 ff. (juris). Zur Problematik bereits umfassend: Teil 3 § 2 A. II. 1. (S. 345 ff.).

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den Anwendung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB durch den Kartellsenat 2a des OLG Düsseldorf völlig ungewiss. Insoweit vermochte man nicht einmal verlässliche Prognosen über eine eventuelle Bußgeldreduzierung anzustellen, da sich die Bußgeldzumessung aufgrund des dadurch geschaffenen, extrem weiten Bußgeldrahmens weitaus intransparenter darstellte als diejenige des Bundeskartellamtes nach den Bußgeldleitlinien 2006.473 Unabhängig davon, dass jeder Prozess naturgemäß das Risiko birgt, dass der Kartellbeteiligte mit seinem Anliegen nicht obsiegt, bestand ein nicht zu unterschätzendes, zusätzliches Risiko, dass das OLG Düsseldorf in Folge seiner favorisierten Bemessungsmethode zulässigerweise474 eine Geldbuße verhängt, die über die vom Bundeskartellamt anhand der Bußgeldleitlinien 2006 ermittelte und verhängte Geldbuße hinausgeht.475 Inwieweit das Bundeskartellamt nunmehr durch die Veröffentlichung seiner neuen Bußgeldleitlinien 2013 die durch die abweichende Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB verursachten Orientierungsschwierigkeiten hinsichtlich der Bußgeldzumessung im konkreten Einzelfall zu lösen vermag, soll im Folgenden untersucht werden.

C. Die Bußgeldleitlinien vom 25.06.2013 Nachdem der BGH die Auffassung des OLG Düsseldorf in seinem Grauzementkartell-Beschluss bestätigt hatte, wonach es sich bei § 81 Abs. 4 S. 2 GWB um eine Bußgeldobergrenze und nicht um eine Kappungsgrenze handele,476 sah sich das Bundeskartellamt gezwungen seine Bußgeldbemessung an dieses Verständnis anzupassen. Am 25.06.2013 veröffentlichte es knapp zwei Monate nach Außerkraftsetzung seiner Bußgeldleitlinien 2006 seine neuen Bußgeldleitlinien 2013.477 Die Schaffung der neuen Bußgeldleitlinien 2013 dürfte das Bundeskartellamt vor eine ungewohnte Herausforderung gestellt haben: Während es sich üblicherweise an den Verwaltungsrichtlinien bzw. der Verwaltungspraxis der Kommission orientieren konnte und dies – wie die Beispiele der Bagatellbekanntmachung, der Bonusregelung, der Settlement-Praxis und der früheren Bußgeldleitlinien 2006 zeigen – auch tat, war es gezwungen, die von dem europäischen Verständnis zu Art. 23 VO 1/2003abweichende Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB durch 473

Vgl. Teil 3 § 2 B. IV. 3. (S. 412 ff.). Wie sich aus § 66 Abs. 2 Nr. 1 lit. b OWiG ergibt, gilt im gerichtlichen Bußgeldverfahren das Verbot der reformatio in peius nicht, sofern ein Urteil nach der Hauptverhandlung ergeht. Ergeht hingegen ohne Hauptverfahren ein Beschluss, darf das Gericht den Antragsteller nicht schlechter stellen, vgl. § 72 Abs. 3 S. 2 OWiG. 475 Siehe insoweit die Darstellung bei Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (716 ff.). 476 BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 50 ff.; vgl. zum Problem vertiefend: Teil 3 § 2 A. II. 1. (S. 345 ff.). 477 BKartA, Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren v. 25.6.2013; siehe auch PM v. 19.4.2013 und 25.6.2013. 474

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

den BGH und dessen Folgen eigenständig in hinreichend orientierende, ermessenslenkende Verwaltungsrichtlinien zu gießen. Dass es diese Aufgabe sehr ernst nahm, gleichzeitig aber auch nicht aus freier Überzeugung handelte, offenbart bereits die erste Lektüre der Bußgeldleitlinien 2013. Im Unterschied zu den Bußgeldleitlinien 2006 beinhalten diese nämlich neben den eigentlichen Leitlinien zur Bußgeldzumessung zu Beginn einen Teil, der die Grundsätze der vom Bundeskartellamt intendierten Bußgeldbemessung zusammenfasst, und am Ende der Leitlinien sogenannte Erläuterungen zu den Leitlinien. Darüber hinaus stellt das Bundeskartellamt zum einen gleich zu Beginn der Bußgeldleitlinien in Randnummer 2, im Abschnitt „Grundsätze“, als auch in den Anmerkungen 1 und 2 zum Abschnitt „Grundsätze“ im Teil „Erläuterungen zu den Leitlinien der Bußgeldzumessung“ heraus, dass die Novellierung der Bußgeldleitlinien ausschließlich auf den Beschluss des BGH in Sachen Grauzementkartell zurückgeht. Ferner hält es, wie noch aufzuzeigen sein wird, an einzelnen Aspekten seiner früheren Bußgeldleitlinien 2006 und damit wohl auch an seiner (im Wesentlichen) für richtig befundenen Einschätzung weiterhin fest. I. Anwendungsbereich und neue Vorgehensweise bei der Bußgeldzumessung Nach Randnummer 1 der Bußgeldleitlinien 2013 finden diese weiterhin ausschließlich auf die Bemessung des ahndenden Teils der Geldbuße gegenüber Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Anwendung. Im Unterschied zu den Bußgeldleitlinien 2006 schränkt das Bundeskartellamt ihren Anwendungsbereich erstmals auf schwere Kartellordnungswidrigkeiten i. S. d. § 81 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. a und Abs. 3 GWB weiter ein, wobei es die Verstöße im Bereich der Fusionskontrolle – freilich ohne Auswirkung auf die weitere Bearbeitung dieser Untersuchung – explizit ausklammert. Die konkrete Bußgeldzumessung erfolgt in vier Schritten: Zunächst will das Bundeskartellamt – der Auffassung des BGH entsprechend – den gesetzlichen Bußgeldrahmen bestimmen. Danach soll innerhalb dieses gesetzlichen Bußgeldrahmens der sogenannte „Bemessungsspielraum“ des Bundeskartellamts abgesteckt werden. Innerhalb des durch den festgelegten Bemessungsspielraumes gegebenenfalls verengten gesetzlichen Bußgeldrahmens beabsichtigt das Bundeskartellamt im Anschluss die Kartellbeteiligung anhand der gesetzlichen Zumessungskriterien einzuordnen. Und schließlich will es andere Umstände, wie etwa die Kooperation im Rahmen der Bonusregelung bußgeldkorrigierend berücksichtigen. 1. Ermittlung des gesetzlichen Bußgeldrahmens

Entsprechend der gesetzlichen Regelungen geht das Bundeskartellamt – vor dem Hintergrund des Verständnisses des BGH – davon aus, dass der gesetzliche

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Bußgeldrahmen nach unten gemäß § 17 Abs. 1 OWiG einheitlich mit fünf Euro und nach oben gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB mit 10 % des im Geschäftsjahr vor der Entscheidung erzielten Gesamtumsatzes des Unternehmens bzw. der wirtschaftlichen Einheit, in die die zuwiderhandelnde juristische Person eingebunden ist,478 begrenzt ist.479 Bei fahrlässigen Zuwiderhandlungen will das Bundeskartellamt gemäß § 17 Abs. 2 OWiG auf 5 % des Gesamtjahresumsatzes zur Bestimmung der Bußgeldobergrenze zurückgreifen.480 2. Ermittlung des „Bemessungsspielraumes“ des Bundeskartellamts

Das Bundeskartellamt versteht den gesetzlichen Bußgeldrahmen nicht als absoluten, der Beschlussabteilung im Einzelfall gewährten (Bußgeld-)Bemessungsspielraum. Vielmehr bilde dieser lediglich die Ahndungsempfindlichkeit des Unternehmens ab. Die Bußgeldbemessung dürfe jedoch nicht ohne die zwingende Berücksichtigung des sogenannten Gewinn- und Schadenspotentials stattfinden,481 da die Sanktion nicht außerhalb zu den Möglichkeiten stehen dürfe, durch die konkrete Tat Vorteile im Wettbewerb zu erzielen und für Dritte bzw. die Volkswirtschaft insgesamt Nachteile zu bewirken.482 Das Gewinn- und Schadenspotential lässt sich nach Auffassung des Bundeskartellamts aus dem tatbezogenen Umsatz ableiten, unter dem es – den Bußgeldleitlinien 2006 entsprechend – denjenigen inländischen Umsatz versteht, den das betroffene kartellbeteiligte Unternehmen mit Produkten und Dienstleistungen, die mit der Zuwiderhandlung in Zusammenhang stehen, während des gesamten Tatzeitraums erzielt hat, oder vermutlich hätte erzielen können, wenn nicht die Art der Zuwiderhandlung (Marktaufteilungskartell) oder ein planwidriger Tatverlauf, etwa bei Submissionsabsprachen, die Umsatzerzielung verhindert hätte.483 Hinsichtlich der Bestimmung des tatbezogenen Umsatzes hält das Bundeskartellamt an den aus den Bußgeldleitlinien 2006 bekannten Regelungen fest: Zum einen sind diejenigen Umsätze zu berücksichtigen, die während der gesamten Zuwiderhandlung oder aber für den Fall, dass sie weniger als ein Jahr dauerte, während der letzten 12 Monaten vor Beendigung der Zuwiderhandlung erzielt worden sind.484 Zum anderen will das Bundeskartellamt den tatbezogenen Umsatz unter Berücksichtigung der Umsatzerlöse aus Lieferungen und Leistungen zwischen verbundenen Unterneh-

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Anm. 4 zu Rn. 13 der Bußgeldleitlinien 2013. Rn. 8 der Bußgeldleitlinien 2013. 480 Rn. 8 der Bußgeldleitlinien 2013. 481 Rn. 4–5, 9 der Bußgeldleitlinien 2013. 482 Rn. 4 der Bußgeldleitlinien 2013. 483 Rn. 4, 11 sowie die Bsp. 1 und 2 zu Rn. 11 in den Erläuterungen der Bußgeldleitlinien 2013. 484 Rn. 11, 12 der Bußgeldleitlinien 2013. 479

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men – soweit möglich – gemäß § 38 Abs. 1 GWB berechnen485 und gegebenenfalls schätzen.486 Das Gewinn- und Schadenspotential will das Bundeskartellamt, ohne den tatsächlich erzielten Gewinn entsprechend der früheren Mehrerlösmethode zu berechnen,487 pauschal mit 10 % des ermittelten tatbezogenen Umsatzes festsetzen.488 Um der Unternehmensgröße Rechnung zu tragen, multipliziert es das ermittelte Gewinn- und Schadenspotential allerdings anschließend mit einem linear zum Gesamtumsatz des betreffenden Unternehmens bzw. der wirtschaftlichen Einheit i. S. d. § 81 Abs. 4 S. 2, 3 GWB steigenden, festgelegten Faktor.489 Dies soll einen angemessenen Abschreckungseffekt sicherstellen, da die Ahndungsempfindlichkeit eines Unternehmens mit dessen zunehmender Größe abnehme.490 Der Faktor liegt bei einem Gesamtumsatz von weniger als 100 Mio. Euro zumindest bei 2 und kann bei einem Gesamtumsatz von mehr als 100 Mrd. Euro einen Wert über 6 erreichen. Der auf diese Weise ermittelte, das Gewinn- und Schadenspotential mehrfach übersteigende Wert bildet nach Randnummer 14 der Bußgeldleitlinien 2013 im Regelfall die obere Grenze des sogenannten Bemessungsspielraums der zuständigen Beschlussabteilung, soweit dieser unterhalb der gesetzlichen Bußgeldobergrenze liegt. Denn nach Auffassung des Bundeskartellamts ist eine Geldbuße oberhalb dieses Werts, ungeachtet der gesetzlichen Bußgeldobergrenze, auch in den denkbar schwersten Konstellationen regelmäßig nicht mehr angemessen, sodass im Regelfall eine Begrenzung des Bemessungsspielraums notwendig sei.491 Allerdings behält sich das Bundeskartellamt vor, bei einem „offensichtlich höheren Gewinn- und Schadenspotential im konkreten Fall“ den ermittelten, mehrfachen Wert des Gewinn- und Schadenspotentials zu überschreiten.492 Auf welche Weise es seinen Bemessungsspielraum in diesem Fall nach oben hin erweitern will,493 offenbaren die Bußgeldleitlinien 2013 nicht. Soweit der Wert des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials bereits die gesetzliche Bußgeldobergrenze übersteigt, soll die absolute gesetzliche Bußgeldobergrenze als Obergrenze des Bemessungsspielraums Anwendung finden. Eine Begrenzung des Bemessungsspielraums sei in diesem Fall nicht notwendig.494 485

Anm. 4 zu Rn. 10 der Bußgeldleitlinien 2013. Rn. 11 der Bußgeldleitlinien 2013. 487 Rn. 6, Anm. 1 zu Rn. 10 der Bußgeldleitlinien 2013. 488 Rn. 10 der Bußgeldleitlinien 2013. 489 Rn. 13 der Bußgeldleitlinien 2013. 490 Anm. 2 zu Rn. 13 der Bußgeldleitlinien 2013. 491 Rn. 4, Anm. 1 zu Rn. 9 und Anm. 1 zu Rn. 13 sowie das Bsp. 1 zu Rn. 14 der Bußgeldleitlinien 2013. 492 Rn. 15 und Anm. 493 Anm. 2 zu Rn. 10 der Bußgeldleitlinien 2013. 494 Bsp. 2 zu Rn. 14 der Bußgeldleitlinien 2013. 486

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3. Zumessung des ahndenden Teils der Geldbuße

Innerhalb des ermittelten Bemessungsspielraums soll die konkrete Bußgeldzumessung im Anschluss anhand der gesetzlichen Zumessungskriterien gemäß § 17 Abs. 3 OWiG und § 81 Abs. 4 S. 6 GWB auf der Grundlage einer wertenden Gesamtabwägung erfolgen.495 Die Bußgeldleitlinien 2013 führen insoweit, wie bereits die Bußgeldleitlinien 2006, besondere erschwerende und mildernde, tatund täterbezogene Faktoren an, ohne ihre konkrete Bedeutung im Einzelfall, etwa mathematisch festzulegen.496 Allein bei den schwerwiegendsten, horizontalen Wettbewerbsverstößen soll generell eine Einordnung im „oberen Bereich“ des Bemessungsspielraums erfolgen.497 Neben der Art der Zuwiderhandlung soll nunmehr auch ihre Dauer ein entscheidendes Kriterium sein. Daneben finden sich die bereits aus den Bußgeldleitlinien 2006 bekannten qualitativen Kriterien der Bedeutung des betroffenen Marktes und der an dem Kartell beteiligten Unternehmen sowie der Organisationsgrad des Kartells. Ferner sollen der Umfang der Zuwiderhandlung und die räumliche Ausdehnung des Marktes entscheidend sein. Wichtige und insoweit altbewährte täterbezogene Kriterien seien vor allem die individuelle Stellung des Unternehmens auf dem Markt und der Grad des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit. Neu aufgenommen wurden ferner Besonderheiten der Wertschöpfungstiefe und – als Bemessungsfaktor – die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen. Nicht mehr aufgeführt sind hingegen sämtliche mildernden Umstände, die noch die Bußgeldleitlinien 2006 nannten, nämlich das positive Nachtatverhalten, etwa durch Ausgleich finanzieller Einbußen Dritter, eine passive oder erzwungene Beteiligung am Kartell und die Genehmigung bzw. Förderung durch eine Behörde. 4. Festsetzung der konkreten Geldbuße

Nachdem das Bundeskartellamt den ahndenden Teil der Geldbuße bestimmt hat, will es gegebenenfalls, nach pflichtgemäßer Ausübung seines Ermessens gemäß § 81 Abs. 5 GWB,498 noch den abschöpfenden Teil der Geldbuße bestimmen, um den kartellbeteiligten Unternehmen zusätzlich die erlangten Vorteile zu entziehen.499 Sodann soll zunächst der im Rahmen des Bonusprogramms des Bundeskartellamts gewährte Bonus in Form der Bußgeldreduzierung berücksichtigt werden, und anschließend der gegebenenfalls gewährte Settlement-Abschlag. Dadurch wird der Settlement-Bonus (zumindest in Zukunft), anders als es nach den Stellungnahmen des Bundeskartellamts zu vermuten war, nominal geringer ausfallen. 495 496 497 498 499

Rn. 16 der Bußgeldleitlinien 2013. Anm. 1 zu Ziff. 16 Abs. 1 der Bußgeldleitlinien 2013. Rn. 16 der Bußgeldleitlinien 2013. Anm. 1 zu Rn. 17 der Bußgeldleitlinien 2013. Rn. 17 der Bußgeldleitlinien 2013.

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

II. Die Bußgeldleitlinien 2013 im Spiegel des Rechtsstaatsprinzips Im Abschnitt B.II. wurde herausgearbeitet, dass die Bestimmungen der Bußgeldleitlinien 2013 mit den formellen Gesetzen der § 81 GWB und § 17 OWiG in Einklang stehen und eine dem Wesen des Ermessens entsprechende, an dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auszurichtende Einzelfallentscheidung ermöglichen müssen. Letzteres hat das Bundeskartellamt in den Bußgeldleitlinien 2013 sehr ernst genommen. Die Bußgeldleitlinien betonen einerseits an mehreren Stellen die Orientierung der Bußgeldbemessung an dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf der Grundlage des Gewinn- und Schadenspotentials. Der von der Unternehmensgröße abhängige, mehrfache Wert des Gewinn- und Schadenspotentials spiegele im Regelfall diejenige Geldbuße wider, die für das denkbar schwerste Unrecht im konkreten Fall noch tat- und schuldangemessen und verhältnismäßig angemessen sei; eine darüber hinaus gehende Geldbuße sei regelmäßig nicht mehr angemessen.500 Andererseits belassen die Bußgeldleitlinien den Beschlussabteilungen genügend Spielraum besondere Umstände im Einzelfall zu berücksichtigen. Dies gilt nicht allein für die ohnehin nicht konkretisierte Anwendung der Zumessungskriterien, sondern auch etwa für die mögliche Anhebung des multiplizierten, pauschalen Gewinn- und Schadenspotentials in Fällen, in denen das tatsächliche Gewinn- und Schadenspotential „offensichtlich“ höher ist. Vor dem Hintergrund der Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts und des allgemeinen Gleichheitssatzes erscheint jedoch die vom Bundeskartellamt geschaffene Grenze unterhalb der nunmehr aufgrund des Verständnisses des BGH durch § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gesetzten Bußgeldobergrenze problematisch. Zudem enthalten die Bußgeldleitlinien 2013 Kriterien, deren Anwendung mit dem Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB analog kollidieren können. Insgesamt ist zudem zu untersuchen, ob die benannten Kriterien die gesetzlichen Zumessungskriterien hinreichend beachten. 1. Widerspruch mit der durch das allgemeine Ordnungswidrigkeitenrecht bestimmten Systematik der Bußgeldbemessung

Zu Beginn des 3. Teils dieser Arbeit in § 1 wurde dargestellt, dass jede Bußgeldbemessung entsprechend dem allgemeinen Bußgeldrecht in zwei Phasen stattfindet: Zunächst ist der gesetzliche Bußgeldrahmen zu ermitteln und anschließend hat die Verfolgungsbehörde das konkret verwirklichte Unrecht innerhalb dieses Bußgeldrahmens anhand der Zumessungskriterien des § 17 Abs. 3 OWiG einzuordnen. Dabei hat sich die Verfolgungsbehörde an der in der Buß-

500 Rn. 4, Anm. 1 zu Rn. 9 und Anm. 1 zu Rn. 13 sowie das Bsp. 1 zu Rn. 14 der Bußgeldleitlinien 2013.

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens

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geldober- und der Bußgelduntergrenze zum Ausdruck kommenden, gesetzgeberischen Wertung über das typisierte Unrecht zu orientieren. Denn diese markieren die äußersten Bußgeldgrenzen für den denkbar leichtesten Fall der Ordnungswidrigkeit auf der einen und den denkbar schwersten Fall der Ordnungswidrigkeit auf der anderen Seite. Der Bußgeldrahmen normiert damit gleichsam eine am Grad des begangenen Unrechts orientierte Bußgeldskala für alle denkbaren Erscheinungsformen eines Delikts. Daraus folgt, dass das Höchstmaß der Geldbuße nur für das denkbar schwerste, verwirklichte Unrecht vorgesehen ist, wenn schlechthin keinerlei Milderungsgründe ersichtlich sind,501 während für durchschnittlich schwere Fälle Geldbußen im mittleren und für einfache Fälle Geldbußen (weit) unter dem Mittelwert festzusetzen sind.502 Überträgt man diese im allgemeinen Bußgeldrecht geltende Systematik konsequent auf das Kartell-Bußgeldrecht, wie es nunmehr der BGH interpretiert, bedeutet dies, dass die Geldbuße für die denkbar schwerste vorsätzliche Beteiligung an dem denkbar schwersten Hardcore-Kartell 10 % des Vorjahres-Gesamtumsatzes des betroffenen Kartellbeteiligten beträgt. Für Beteiligungen an Hardcore-Kartellen wären entsprechend der gesetzgeberischen Wertung wohl generell Geldbußen zwischen 6–10 % des Vorjahres-Gesamtumsatzes zu erheben, und dementsprechend für durchschnittliche Wettbewerbsverstöße wohl Geldbußen zwischen 3–5 % und für einfache Fälle Geldbußen bis zu 3 % des Vorjahres-Gesamtumsatzes. Das Bundeskartellamt will im Regelfall jedoch eine gesetzlich nicht vorgesehene, individuelle „Bußgeldobergrenze“, nämlich das mit dem Unternehmensfaktor multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential, anwenden. Dies wäre nur dann mit der soeben beschriebenen Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts zu vereinbaren, wenn das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential Ausdruck für die im konkreten Einzelfall „noch“ tat- und schuldangemessene, verhältnismäßige Geldbuße sein könnte. Denn wie bereits deutlich wurde, ist Bußgeldbemessung zu einem gewissen Grad auch Rechtsanwendung, da die pflichtgemäße Anwendung der Zumessungskriterien gemäß § 17 Abs. 3 OWiG und § 81 Abs. 4 S. 6 GWB den gesetzlichen Bußgeldrahmen, ähnlich wie bei der Strafzumessung, im konkreten Fall zu einem Bemessungsspielraum zwischen der „schon“ und „noch“ tat- und schuldangemessenen Geldbuße verengt. Das multiplizierte

501 Ganz allgem. M., vgl. nur OLG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 19.2.2003, Az. 1 SsOWi 16/03 (14/03), SchlHA 2004, 263; BayOLG, Beschl. v. 21.10.1998, Az. 1 ObOWi 542/98, DAR 1999, 36; OLG Köln, Beschl. v. 26.2.1988, Az. Ss 17/88 (B)-30, NJW 1988, 1606; Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 75; Mitsch, in: KK/OWiG, § 17 Rn. 37; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 25; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 14; jeweils mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen. 502 OLG Köln, Beschl. v. 26.2.1988, Az. Ss 17/88 (B)-30, NJW 1988, 1606; Förster, in: RRH/OWiG, § 17 Rn. 14; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 25.

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Gewinn- und Schadenspotential könnte die Funktion einer individuellen (gerade) „noch“ tat- und schuldangemessenen, verhältnismäßigen Geldbuße jedoch nur erfüllen, wenn es Ausdruck für sämtliche Zumessungskriterien der §§ 17 Abs. 3, Abs. 4 OWiG, 81 Abs. 4 S. 6 GWB wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar mag das Gewinn- und Schadenspotential zu einem gewissen Grad die Bedeutung der Kartell-Ordnungswidrigkeit und den Vorwurf, der dem kartellbeteiligten Unternehmen zu machen ist, widerspiegeln. Auch könnte der Unternehmensfaktor für die wirtschaftlichen Verhältnisse des kartellbeteiligten Unternehmens stehen. Allerdings würden die Art der Zuwiderhandlung, die Bedeutung des betroffenen Marktes sowie die Stellung des Unternehmens in diesem Markt und seine individuelle Rolle innerhalb des Kartells vollständig außer Acht gelassen. Zudem mag der Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit ein Indikator für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens sein; er weist jedoch gerade nicht die notwendigerweise zu beachtenden, tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse aus. Vor allem aber will das Bundeskartellamt die konkrete Zumessung der Geldbuße mithilfe der Zumessungskriterien der §§ 81 Abs. 4 S. 6 GWB, 17 Abs. 3 OWiG erst nach der Bestimmung des Bemessungsspielraums anhand des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials vornehmen. Folgerichtig hat dieses keine Aussagekraft für die im Einzelfall „noch“ tat- und schuldangemessene, verhältnismäßige Geldbuße. Vielmehr stellt es nach dem Willen des Bundeskartellamts regelmäßig eine der Systematik der Bußgeldbemessung widersprechende, künstliche zweite Bußgeldobergrenze unterhalb der gesetzlichen Bußgeldobergrenze dar, da eine Geldbuße, die über das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential hinausgeht, „auch in der denkbar schwersten Konstellation bezogen auf den konkreten Fall und die Ahndungsempfindlichkeit des konkreten Unternehmens regelmäßig nicht mehr angemessen wäre.“503 Das Bundeskartellamt verfolgt damit ersichtlich das grundsätzlich anerkennenswerte Ziel, eine wegen § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ausschließlich am Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit ausgerichtete, nach hier vertretender Auffassung dem Schuldprinzip widersprechende und damit verfassungswidrige Sanktionierung504 zu vermeiden. Es setzt sich damit jedoch über die durch den BGH ausgelegte, grundlegende Wertung des Gesetzgebers hinweg, wonach für die denkbar schwerste KartellOrdnungswidrigkeit eine Geldbuße von 10 % des Gesamtjahresumsatzes stets schuld- und tatangemessen und verhältnismäßig ist505 und etabliert damit einen system- und gesetzeswidrigen Bußgeldrahmen für die konkrete Bußgeldzumessung. Daraus ergibt sich zwar nicht die Rechtswidrigkeit der Bußgeldleitlinien 2013, die als bloßes Innenrecht keine Außenwirkung erzeugen, allerdings verstoßen die Beschlussabteilungen im konkreten Einzelfall gegen den Grundsatz des 503 504 505

Rn. 5 der Bußgeldleitlinien 2013. Siehe hierzu vertiefend: Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.). Ebenso Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (318 f.).

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens

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Vorrangs des Gesetzes gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, soweit sie die Geldbuße innerhalb des durch das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential eingegrenzten, sogenannten „Bemessungsspielraums“ festsetzen. 2. Beachtung der gesetzlichen Zumessungskriterien

Wie die alten Bußgeldleitlinien 2006 berücksichtigen die neuen Bußgeldleitlinien 2013 demgegenüber sämtliche, gemäß § 17 Abs. 3 OWiG und § 81 Abs. 4 S. 6 GWB zwingend anzuwendende Zumessungskriterien. Positiv hervorzuheben ist, dass das Bundeskartellamt in den neuen Bußgeldleitlinien zutreffend zwischen tat- und täterbezogenen Kriterien differenziert. Während erstere vor allem die Bedeutung der Kartell-Ordnungswidrigkeit beschreiben, die in der Art, Dauer und den qualitativen Auswirkungen der Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot zum Ausdruck kommt sowie in der Bedeutung des betroffenen Marktes und der beteiligten Unternehmen, konkretisieren die täterbezogenen Merkmale, wie die individuelle Rolle und die Stellung des Unternehmens auf dem Markt, neben den bereits die Bedeutung der Zuwiderhandlung beschreibenden Umständen, den Vorwurf, der dem kartellbeteiligten Unternehmen zu machen ist. Ebenfalls beachtenswert ist, dass das Bundeskartellamt zukünftig die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen explizit als Zumessungskriterium zu berücksichtigen gedenkt.506 Problematisch ist allerdings, dass das Bundeskartellamt auch in den Bußgeldleitlinien 2013 daran festhält, dass es in seinem Ermessen stünde, ob es die von den kartellbeteiligten Unternehmen erzielten wirtschaftlichen Vorteile neben der Ahndung der Zuwiderhandlung abschöpft. Wie bereits an anderer Stelle gezeigt, ist es entgegen § 81 Abs. 5 GWB jedoch im Regelfall dazu verpflichtet, aus Gründen der Gleichbehandlung von jedem kartellbeteiligten Unternehmen die rechtwidrig erlangten Vorteile abzuschöpfen.507 3. Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot

Anders als noch in den Bußgeldleitlinien 2006 betont das Bundeskartellamt in den Bußgeldleitlinien 2013 nicht mehr ausdrücklich seine Absicht, das Doppelverwertungsverbot gemäß § 46 Abs. 3 StGB analog zu achten. Womöglich sah es nach einer knapp 7-jährigen Bußgeldpraxis entsprechend den alten Bußgeldleitlinien keine Notwendigkeit mehr für einen entsprechenden Hinweis. Allerdings werden auch die Bußgeldleitlinien 2013, wie die Vorgänger-Leitlinien, dem Doppelverwertungsverbot nicht hinreichend gerecht. Zwar ist die Berücksichtigung des „Organisationsgrades unter den Beteiligten“ eines Kartells nach der an das 506 507

Hierzu noch: Teil 3 § 3 C. III. 2. (S. 475 ff.). Siehe: Teil 3 § 2 B. IV. 1. (S. 405 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

Verständnis des BGH angepassten Bußgeldbemessungsmethode nicht länger zu beanstanden, da das Bundeskartellamt zukünftig keinen Grundbetrag mehr anhand der Schwere der Zuwiderhandlung festlegt.508 Allerdings führt das Bundeskartellamt nach wie vor das problematische Zumessungskriterium des Vorsatzoder Fahrlässigkeitsgrades in den Bußgeldleitlinien 2013 an. Da das subjektive Element des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit bereits den Bußgeldrahmen gemäß §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 OWiG, 81 Abs. 4 S. 2 GWB bestimmt, ist seine Aussagekraft für die Bußgeldzumessung erschöpft, sodass seine nochmalige Berücksichtigung als erschwerender oder mildernder Umstand regelmäßig unzulässig ist. Zudem soll nunmehr auch die Dauer der Zuwiderhandlung als Zumessungskriterium entscheidende Relevanz haben. Dies ist deshalb problematisch, weil das Bundeskartellamt die Dauer der Zuwiderhandlung bereits bei der Kalkulation des Gewinn- und Schadenspotentials berücksichtigt. Denn dieses ergibt sich nach Auffassung des Bundeskartellamts pauschal aus 10 % des während der gesamten Zuwiderhandlung erwirtschafteten, tatbezogenen Umsatzes, sodass es mit der Fortdauer des Kartellverstoßes steigt. Soweit das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential die (nach hier vertretender Auffassung unzulässige) Obergrenze des individuellen „Bußgeldrahmens“ eines kartellbeteiligten Unternehmens bildet, das Bundeskartellamt also eine Geldbuße bis zur Höhe des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials festsetzt, darf die Dauer der Zuwiderhandlung folglich nicht erneut bei der konkreten Bußgeldzumessung innerhalb des so ermittelten, sogenannten Bemessungsspielraums berücksichtigt werden.509 4. Ungleichbehandlung von Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftskraft und Sortimentsbreite?

Die Bußgeldleitlinien 2013 sehen zum einen vor, dass das Gewinn- und Schadenspotential in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße vervielfacht wird. Zum anderen soll die gesetzliche Bußgeldobergrenze Anwendung finden, soweit diese nominal geringer ist als das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential. Die Regelungen führen zum einen dazu, dass Unternehmen mit kleineren Umsätzen gegenüber umsatzstarken Unternehmen geringere Geldbußen zu erwarten haben. Zum anderen können die Bußgeldleitlinien 2013 zur Anwendung von Bußgeldbemessungsrahmen mit unterschiedlichen Obergrenzen führen, nämlich der gesetzlichen Bußgeldobergrenze bei Ein-Produkt-Unternehmen und des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials bei konzernabhängigen Unternehmen. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit diese Ungleichbehandlungen mit Art. 3 Abs. 1 GG in Einklang zu bringen sind.

508 Zum diesbezüglichen Verstoß der Bußgeldleitlinien 2006 gegen das Doppelverwertungsverbot: Teil 3 § 3 B. II. 1. c) (S. 425 ff.). 509 Ebenso Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (318 f.).

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a) Keine Diskriminierung von Unternehmen höherer Wirtschaftskraft Soweit die Bußgeldleitlinien 2013 bestimmen, dass die gesetzliche Bußgeldobergrenze auf alle kartellbeteiligten Unternehmen gleichermaßen anzuwenden ist, steht keine dem Bundeskartellamt zurechenbare510 Ungleichbehandlung der Unternehmen zu befürchten, da das Bundeskartellamt letztlich nur den vom BGH als solchen interpretierten Willen durchsetzt, Geldbußen in Abhängigkeit von dem Gesamtumsatz der kartellbeteiligten Unternehmen zu erlassen. Nichts anderes gilt letztlich auch für den Fall, dass das Bundeskartellamt, abweichend von der Systematik des Bußgeldrechts, den gesetzlichen „Bußgeldrahmen“ mithilfe des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials verengt. Denn der Gesetzgeber hat mit der Einfügung der §§ 81 Abs. 4 S. 2 und S. 3 GWB deutlich gemacht, dass die Höhe der Geldbuße von dem (Gesamt-)Umsatz der kartellbeteiligten Unternehmen abhängig sein soll, um eine für alle Unternehmen gleichermaßen empfindliche Bußgeldandrohung, unabhängig von ihrer Größe und Wirtschaftskraft sowie zufälligen Vermögensverschiebungen innerhalb von Unternehmensverbünden, zu erreichen.511 Die angedrohte Kartell-Geldbuße soll, wie die Geldstrafe, für alle potentiellen Täter einer Kartell-Ordnungswidrigkeit gleichermaßen abschreckend sein. Diese mit dem Unternehmensfaktor fortgeführte Zielbestimmung ist legitimer Zweck für die Durchsetzung des unbedingten Geltungsanspruchs des § 1 GWB und des Art. 101 AEUV und begründet keine willkürliche Ungleichbehandlung von Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftsstärke. Denn zunächst orientiert sich der mit dem Gewinn- und Schadenspotential zu multiplizierende Unternehmensfaktor entsprechend der Regelung des § 81 Abs. 4 S. 3 GWB an dem Gesamtumsatz des kartellbeteiligten Unternehmens. Die linear mit dem Gesamtumsatz steigenden Unternehmensfaktoren sind überdies auch angemessen,512 wenn man berücksichtigt, dass die Bußgeldzumessung letztlich zu ähnlichen Ergebnissen wie die Mehrerlösmethode nach der Vorgängerregelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB führen dürfte, welche der Gesetzgeber nur deshalb abgeschafft hat, weil der Mehrerlös äußerst schwer nachzuweisen war, nicht jedoch, um eine signifikante Änderung der Bußgeldhöhen zu erreichen.513 Denn legt man wissenschaftliche Schätzungen zugrunde, wonach der durchschnittliche Mehrerlös eines Kartells bei 15–20 % des tatbezogenen Umsatzes liegt, ergibt sich eine Höchstgeldbuße nach alter Rechtslage (dreifacher

510 Zur gesetzlich begründeten, ungerechtfertigten Ungleichbehandlung der Unternehmen siehe noch sogleich in Teil 3 § 3 C. II. 4. b) (S. 470 ff.). 511 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zur Preismissbrauchsnovelle, BT-Drs. 16/7156, S. 11. Insoweit auch zutreffend: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 61 f., 70 (juris). 512 Krit. wohl Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (317 f.). 513 Siehe hierzu schon: Teil 3 § 3 B. III. 1. a) (S. 432 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

Mehrerlös) von 45–60 % des tatbezogenen Umsatzes.514 Die Anwendung der Bußgeldleitlinien 2013 führt nunmehr regelmäßig zu Höchstgeldbußen von 20– 60 % des tatbezogenen Umsatzes oder mehr, je nach Unternehmensgröße. Eine Überlastung der Unternehmen ist daher im Grundsatz nicht zu befürchten, wenngleich insgesamt höhere Geldbußen für umsatzstarke Unternehmen als bisher zu erwarten sind, und womöglich geringere Geldbußen für kleinere und mittlere Unternehmen.515 Davon aber abgesehen ist entscheidend, dass die Einordnung des absolut verwirklichten Unrechts innerhalb der vom Bundeskartellamt letztlich identifizierten Unrechtsskala für alle Unternehmen nach den gleichen Maßstäben erfolgt. Die Vorgehensweise des Bundeskartellamts entspricht daher im Wesentlichen der verfassungsgemäßen516 Zumessung der Geldstrafe. Auch bei der Verhängung der Geldstrafe ergibt sich der individuelle Strafrahmen der „schon“ und „noch“ tat- und schuldangemessenen Strafe letztlich aus einer Zusammenschau der Vermögensverhältnisse des Täters (Tagessatzhöhe) und der Einordnung des verwirklichten Unrechts (Tagessatz) innerhalb des gesetzlich vorbestimmten, durch die Vermögensverhältnisse des Täters modifizierten Geldstrafenrahmens gemäß § 40 Abs. 1, Abs. 2 StGB. Die Orientierung des Unternehmensfaktors an der Wirtschaftskraft des Unternehmens ermöglicht daher letztlich, wie im Strafrecht, die Gleichbehandlung der Unternehmen durch eine schuldangemessene, gleichermaßen empfindliche Sanktionierung. Zudem werden individuelle Unterschiede zwischen den einzelnen Unternehmen bezüglich des verwirklichten Unrechts durch die täterbezogenen Merkmalen berücksichtigt. Ist etwa das von einem Unternehmen mit geringerer Wirtschaftskraft verwirklichte Unrecht zu dem von einem anderen Unternehmen mit höherer Wirtschaftskraft verwirklichten Unrecht als relativ schwerwiegender einzuordnen, weil ersteres eine führende Rolle inne hatte, so wird das Bundeskartellamt dies entsprechend seiner Bußgeldleitlinien 2013 unter Verwirklichung des Schuldprinzips zutreffend berücksichtigen. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die Anwendung der Bußgeldleitlinien 2013 nicht zu einer unzulässigen Diskriminierung von Unternehmen unterschiedlicher Wirtschaftskraft führt. b) Diskriminierung von Unternehmen größerer Produktvielfalt? Barth und Budde vertreten demgegenüber, dass die Anwendung der Bußgeldleitlinien 2013 zu einer rechtswidrigen Privilegierung von Ein-Produkt-Unternehmen, also eine unzulässigen Diskriminierung von diversifizierten Unternehmen 514 Siehe diesbezüglich: Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (461) und die bei Barth/ Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (317) angeführten Nachweise zu empirischen Studien zum betriebswirtschaftlichen Schaden, den die Autoren mit dem Mehrerlös vereinfachungshalber gleichsetzen. 515 BKartA, PM v. 25.6.2013. 516 Siehe hierzu noch: Teil 4 § 2 D. II. 2. (S. 522 ff.).

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führt.517 In der Tat kann es bei einem Kartell, an dem ein Ein-Produkt-Unternehmen sowie ein in einem Großkonzern eingebundenes Unternehmen beteiligt waren zu einer erheblichen Bußgeldrahmenspreizung kommen, obgleich das gemeinsam verwirklichte, absolute (Gesamt-)Unrecht letztlich auf alle Beteiligten gleichermaßen zurückzuführen ist. Denn bei ersterem wird in der Regel die gesetzliche Bußgeldobergrenze greifen, während bei letzterem womöglich das Gewinn- und Schadenspotential vervielfacht wird. In diesem Fall ist jedoch keine Privilegierung des Ein-Produkt-Unternehmens aufgrund der Anwendung der gesetzlichen Bußgeldobergrenze gegeben. Abgesehen davon, dass die Anwendung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als gesetzliche Bußgeldobergrenze bei Ein-Produkt-Unternehmen dem Bundeskartellamt nicht vorgeworfen werden kann, da es lediglich den „gesetzgeberischen Willen“, wie er vom BGH identifiziert worden ist, durchsetzt, ergibt sich die Ungleichbehandlung zu Ungunsten der konzernabhängigen Unternehmen allein aus den unterschiedlichen Bußgeldhöhen, die – wie soeben in Abschnitt a) gezeigt – allerdings gerechtfertigt ist. Überdies könnte allenfalls umgekehrt eine Diskriminierung von Ein-Produkt-Unternehmen in Betracht kommen. Dies offenbart folgender, stark vereinfachter Fall: Haben ein Ein-Produkt-Unternehmen und ein konzernangehöriges Unternehmen während eines fünf Jahre andauernden Kartells jährlich einen tatbezogenen Umsatz von 20 Mio. Euro erzielt, so ergibt sich (bei Ausblendung täterbezogener, besonderer Merkmale und unter Zugrundelegung eines mittleren Unrechtsrechtsgrades des Kartells) für das Ein-Produkt-Unternehmen eine Geldbuße von ca. 1 Mio. Euro, nämlich ca. 50 % von der gesetzlichen Bußgeldobergrenze (10 % von 20 Mio. Euro = 2 Mio. Euro), während das konzernangehörige Unternehmen bei einem Vorjahres-Gesamtumsatz des Konzerns von 1 Mrd. Euro mit einer Geldbuße von ca. 20 Mio. Euro rechnen müsste, nämlich mit ca. 50 % von dem mit dem Unternehmensfaktor 4 multiplizierten Gewinn- und Schadenspotential (10 % von 100 Mio. Euro * 4 = 40 Mio. Euro), da die gesetzliche Bußgeldobergrenze von 100 Mio. Euro (10 % von 1 Mrd. Euro = 100 Mio. Euro) durch das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential nicht überschritten würde. Würde der Fall demgegenüber dahingehend abgewandelt, dass der jährlich erzielte tatbezogene Umsatz 60 Mio. Euro betrug, ergäbe sich für das konzernabhängige Unternehmen eine zweieinhalbfach höhere Geldbuße von 50 Mio. Euro, nämlich ca. 50 % von der gesetzlichen Bußgeldobergrenze, da das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential (10 % von 300 Mio. Euro * 4 = 120 Mio. Euro) die gesetzliche Bußgeldobergrenze überschreiten würde. Die Geldbuße für Ein-Produkt-Unternehmen würde sich demgegenüber auf 3 Mio. Euro verdreifachen, nämlich 50 % der gesetzlichen Bußgeldobergrenze (10 % von 60 Mio. Euro = 6 Mio. Euro).518 517

Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (318). Bei einem tatbezogenen Umsatz von 50 Mio. Euro entspräche das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential der gesetzlichen Bußgeldobergrenze. In diesem Fall würden das Ein-Produkt-Unternehmen und das konzernabhängige Unternehmen bezüg518

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

Das Beispiel lässt folgende Schlüsse zu: Erstens profitieren konzernabhängige Unternehmen, entgegen der Auffassung von Barth und Budde, regelmäßig von der intendierten, gesetzlich nicht vorgesehenen Bußgeldzumessung des Bundeskartellamts anhand des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials anstelle der gesetzlichen Bußgeldobergrenze. Zwar entwickeln sich die Geldbußen für konzernabhängige Unternehmen bei Anwendung des Gewinn- und Schadenspotentials progressiv zum tatbezogenen Umsatz, allerdings sind sie immer noch weitaus geringer, als sie wären, wenn die gesetzliche Bußgeldobergrenze bei konsequenter Durchsetzung des Verständnisses des BGH pflichtgemäß angewendet würde. Erst ab dem Moment, in dem die gesetzliche Bußgeldobergrenze (10 % des Konzernumsatzes) angewendet wird, bleiben die Geldbußen konstant, soweit das Gewinn- und Schadenspotential auch bei der eigentlichen Bußgeldbemessung unberücksichtigt bleibt. Demgegenüber nehmen bei Ein-Produkt-Unternehmen die Geldbußen mit steigendem tatbezogenen (Gesamt-)Umsatz langsam und stetig zu. Wenn also bei Ein-Produkt-Unternehmen einerseits die gesetzliche Bußgeldobergrenze und bei konzernabhängigen Unternehmen andererseits das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential die obere Grenze des Bemessungsspielraums bilden, ist eine Schlechterstellung oder gar eine Diskriminierung diversifizierter Unternehmen nicht zu befürchten. Vielmehr wäre eine solche m. E. gegeben, wenn das Bundeskartellamt das Gewinn- und Schadenspotential entsprechend der gesetzlichen Systematik, wie sie der BGH auslegt, unberücksichtigt ließe. Die oben beschriebenen Fälle bestätigen nämlich erneut das bereits in der Arbeit gefundene Ergebnis, wonach eine am Gesamtumsatz des Unternehmens orientierte Bußgeldbemessung tat- und schuldunangemessen ist.519 Denn gleichgültig ob das in Frage stehende Kartell ein hohes Gewinn- und Schadenspotential hatte oder nicht, bewegt sich die Geldbuße bei absoluter Betrachtung des Unrechts stets innerhalb des gleichen individuellen, kartellindifferenten Bußgeldrahmens bei konzernabhängigen Unternehmen. Zu überlegen ist daher allein, ob Ein-Produkt-Unternehmen rechtswidrig durch die Anwendung der Bußgeldleitlinien 2013 diskriminiert werden, weil konzernabhängige Unternehmen durch die eigentlich gesetzeswidrige Begrenzung des Bußgeldrahmens mithilfe des Gewinn- und Schadenspotentials dem Schuldprinzip eher entsprechend sanktioniert werden. Allerdings spricht hiergegen, dass das Gewinn- und Schadenspotential der Kartellbeteiligung von Ein-Produkt-Unternehmen aufgrund ihrer Spezialisierung – relativ gesehen – sehr hoch ist und nur aus diesem Grund – zu ihren Gunsten – in Zusammenschau mit der absoluten Bußgeldobergrenze des § 81

lich der Bußgeldbemessung, ausgehend von einer freilich differenzierten Bußgeldobergrenze „gleich“ behandelt. Es ergäbe sich für das konzernabhängige Unternehmen – trotz geringeren Gewinn- und Schadenspotentials – die gleiche Geldbuße i. H. v. 50 Mio. Euro (50 % von 250 Mio. Euro * 4/10 bzw. 50 % von 1 Mrd. Euro/10) und für das EinProdukt-Unternehmen eine Geldbuße i. H. v. 2,5 Mio. Euro (50 % von 50 Mio. Euro/10). 519 Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.).

§ 3 Autonome Bindung des Sanktionszumessungsermessens

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Abs. 4 S. 2 GWB keine Bußgeldbemessung anhand des multiplizierten Gewinnund Schadenspotentials erfolgt. Zudem bildet die gesetzliche Bußgeldobergrenze letztlich zumindest einen Bruchteil des Gewinn- und Schadenspotentials ab, da sie sich aus einem Teil des tatbezogenen Umsatzes ergibt. III. Erhöhte Transparenz und Rechtssicherheit durch die Bußgeldleitlinien 2013? Im Abschnitt B. III. zu den Bußgeldleitlinien 2006 wurde festgestellt, dass Bußgeldleitlinien ihre Funktion, die Bußgeldzumessung transparenter und vorhersehbarer zu machen und auf diese Weise zu mehr Rechtssicherheit beizutragen,520 nur dann erfüllen können, wenn mit ihrer konsequenten Anwendung in jedem denkbaren Einzelfall, schuld- und tatangemessene, verhältnismäßige Geldbußen ermittelt werden können, ohne dass die Beschlussabteilungen unvorhersehbare, zusätzliche oder korrigierende Maßnahmen ergreifen müssen. Denn obgleich es dem Bundeskartellamt unbenommen bleibt, die Ausübung des Sanktionszumessungsermessens im Vorfeld durch Verwaltungsrichtlinien zu lenken, entbindet dies die Beschlussabteilungen nach der Judikatur des BVerfG nicht von der Pflicht, das Schuldprinzip und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der konkreten Bußgeldbemessung im Einzelfall durch eine wertende Gesamtabwägung aller Umstände zu beachten.521 Zudem müssen die Bußgeldleitlinien 2013 den Bußgeldbemessungsvorgang naturgemäß derart konkretisieren, dass Bußgeldspannen zumindest bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar und damit auch überprüfbar sind. 1. Hinreichende Berücksichtigung des Schuldprinzips?

Vor diesem Hintergrund stand das Bundeskartellamt vor einer gewaltigen Herausforderung, da die vom BGH als Bußgeldobergrenze ausgelegte Vorschrift mit ihrem Bezug auf den Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit, dem das kartellbeteiligte Unternehmen angehört, nach hier vertretener Auffassung keine Schuldrelevanz aufweist.522 Es scheint, als hätte sich das Bundeskartellamt auch aus diesem Grund mit dem multiplizierten Gewinn- und Schadenspotential als grundlegende, den Bemessungsspielraum im Regelfall begrenzende Bezugsgröße beholfen. Denn in den Bußgeldleitlinien 2013 macht es an verschiedenen Stellen 520 Zu diesem ausdrücklich mit den Bußgeldleitlinien 2013 verfolgten Ziel auch: BKartA, PM v. 25.6.2013. 521 BVerfG, Beschl. v. 24.3.1996, Az. 2 BvR 616/91, 2 BvR 588/92, 2 BvR 1585/93, 2 BvR 1661/93 – BKatV, NJW 1996, 1809 (1810), Rn. 48 ff., insb. 53, 55 (juris); im Anschluss daran etwa auch: OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.11.1999, Az. 2a Ss (OWi) 323/99 – (OWi) 103/99 III, Rn. 11 (juris); OLG Köln, Beschl. v. 8.8.2000, Az. Ss 306/ 00 (B), Rn. 11 (juris). 522 Siehe Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

immer wieder deutlich, dass eine Geldbuße, die das um den Unternehmensfaktor erhöhte Gewinn- und Schadenspotential übersteigt, regelmäßig „nicht mehr angemessen“ sei. Zwar hat die Untersuchung ergeben, dass die Anwendung des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials als künstliche Bußgeldobergrenze bereits dem Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes widerspricht, andererseits erreicht das Bundeskartellamt mit dessen Berücksichtigung nach hier vertretener Auffassung im Regelfall wohl Geldbußen, die dem Schuldprinzip gerecht werden. Bei der Beleuchtung der Bußgeldleitlinien 2006 wurde nämlich bereits festgestellt,523 dass die Berücksichtigung des tatbezogenen Umsatzes nach der Abschaffung der Mehrerlösmethode am ehesten dem Schuldprinzip gemäß Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG gerecht wird, da sich das durch den Wettbewerbsverstoß verwirklichte Unrecht nach allgemeiner Lebenserfahrung regelmäßig im Umsatz, den das kartellbeteiligte Unternehmen mit kartellbehafteten Produkten und Dienstleistungen erzielt, kausal niederschlägt.524 Da die sachliche, örtliche und zeitliche Bestimmung des tatbezogenen Umsatzes unverändert nach dem Vorbild der Bußgeldleitlinien 2006 erfolgen soll, dürfte auf seiner Grundlage auch zukünftig überwiegend eine Abbildung des begangenen Unrechts möglich sein. Insoweit kann auf die Ausführungen zu der Untersuchung der Bußgeldleitlinien 2006 vollumfänglich verwiesen werden.525 Einzig die grundsätzlich auch in den neuen Bußgeldleitlinien erneut vorgesehene Schätzung des tatbezogenen Umsatzes bei fehlgeschlagenen wettbewerbswidrigen Vereinbarungen oder etwa Marktaufteilungskartellen birgt naturgemäß große Unsicherheiten bezüglich der konkreten Vorgehensweise. Obgleich die Schätzungsbefugnis des Bundeskartellamt von § 81 Abs. 4 S. 4 GWB gedeckt sein dürfte, da der Gesamtumsatz des Unternehmens, zu dessen Schätzung das Bundeskartellamt ermächtigt ist, auch den tatbezogenen Umsatz umfasst,526 begründet sie zwangsläufig große Unsicherheiten 523

Siehe Teil 3 § 3 B. III. 1. a) (S. 432 ff.). Ebenso Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (717 f.); wohl auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 54; Weitbrecht/Tepe, EWS 2001, S. 220 ff. (227 f.); Hellmann, WuW 1999, S. 333 ff. (339); Korthals/Bangard, BB 1998, S. 1013 ff. (1016); Kallmeyer/ Haupt, EuZW 2002, S. 677 ff. (678); Engelsing, WuW 2007, S. 470 ff. (482); ähnlich der BGH hinsichtlich der Frage, ob ein Kartell grundsätzlich zu einem Mehrerlös führt, vgl. Beschl. v. 28.6.2005, Az. KRB 2/05 – Berliner Transportbeton I, WuW/E DE-R 1567 (1569), Rn. 20 („Die generelle Eignung eines Kartells, für seine Mitglieder wirtschaftliche Vorteile entstehen zu lassen, folgt schon daraus, daß die beteiligten Unternehmen durch die Festlegung bestimmter Quoten der Notwendigkeit enthoben sind, sich im Wettbewerb am Markt zur Erlangung von Aufträgen gegen konkurrierende Unternehmen durchzusetzen, was regelmäßig über die von ihnen angebotenen Preise erfolgt.“); ähnlich OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 422 (juris); kategorisch ablehnend hingegen: Bach/Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3526 f.); Wegner, Die Systematik der Zumessung unternehmensbezogener Geldbußen, S. 271. 525 Siehe Teil 3 § 3 B. III. 1. b) (S. 435 ff.). 526 A. A. Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (318). 524

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über die konkrete Vorgehensweise des Beschlussabteilung im Einzelfall. Das Bundeskartellamt hätte insoweit gut daran getan, diese bereits zur Geltung der Bußgeldleitlinien 2006 bestehenden Unsicherheiten zumindest durch eine Beschreibung der Schätzgrundlagen abzumildern. Der Unvorhersehbarkeit und vor allem fehlenden bzw. nur eingeschränkten Nachprüfbarkeit der Schätzung wird daher auch zukünftig mit hohen Sicherheitsabschlägen zu begegnen sein; bei einmaligen, kurzweiligen Zuwiderhandlungen bietet sich zudem ein Rückgriff auf den Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB an.527 Soweit das Bundeskartellamt demgegenüber die Bußgeldbemessung innerhalb des gesetzlichen Bußgeldrahmens, wie ihn der BGH identifiziert hat, vornehmen will/muss, weil das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential die gesetzliche Bußgeldobergrenze überschreitet, kann es bereits deshalb zu keinen schuldangemessenen Geldbußen gelangen, weil § 81 Abs. 4 S. 2 GWB – interpretiert als Bußgeldobergrenze – nicht mit dem Schuldprinzip vereinbar ist.528 2. Hinreichende Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes

Die Bußgeldleitlinien 2013 betonen an mehreren Stellen, dass diese den Erlass „angemessener“ Geldbußen sicherstellen sollen. Diese Zielbestimmung scheint das Bundeskartellamt sehr ernst genommen zu haben. Jedenfalls kann konstatiert werden, dass sich die Kartellbehörde den in dieser Arbeit festgestellten, angesichts des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes problematischen Fällen angenommen und die Situation für die betroffenen Unternehmen teilweise verbessert hat. So will es bei der Bußgeldzumessung etwa „Besonderheiten eines Unternehmens bei der Wertschöpfungstiefe“ berücksichtigen. Dies dürfte bei umsatzstarken Handelsunternehmen mit geringen Margen zu einer angemessenen Reduzierung des Vorwurfs führen und dementsprechend zu einer niedrigeren Einordnung des begangenen Unrechts auf der identifizierten Unrechtsskala, die entweder durch das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential oder durch die gesetzliche Bußgeldobergrenze nach oben hin begrenzt ist. Damit dürften zukünftig tatund schuldunangemessene und/oder unverhältnismäßige Geldbußen gegenüber Handelsunternehmen vermeiden werden können.529 In welcher Größenordnung die Berücksichtigung allerdings erfolgt, ließ das Bundeskartellamt offen. Insoweit ist mit der Neufassung der Bußgeldleitlinien für Handelsunternehmen keine signifikante Verbesserung der Transparenz des Bußgeldbemessungsvorgangs verbunden. Verbessert hat sich demgegenüber die Situation für Ein-Produkt-Unter-

527

Vgl. die Ausführungen zu Teil 3 § 3 B. III. 1. b) dd) (S. 444 ff.). Siehe Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.). 529 Siehe hierzu: Teil 3 § 3 B. III. 1. b) aa) (2) (S. 437 ff.) und Teil 3 § 3 B. III. 2. (S. 448 ff.). 528

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

nehmen.530 Da das Bundeskartellamt die Geldbuße nunmehr nicht mehr anhand eines durch den tatbezogenen Umsatz bestimmten Grundbetrages bemisst, sondern sie, wie gezeigt, regelmäßig innerhalb des durch die gesetzliche Bußgeldobergrenze bestimmten Bußgeldrahmens festlegt, dürften sich die Geldbußen regelmäßig nominal reduzieren. Wenngleich der Gesamtumsatz keine Schuldrelevanz aufweist und daher eine schuldangemessene Sanktionierung nach hier vertretener Auffassung naturgemäß ausgeschlossen ist, kann das absolut und relativ verwirklichte Unrecht durch Einordnung innerhalb der begründeten Unrechtsskala zumindest besser erfolgen, als unter Anwendung der Bußgeldleitlinien 2006. Denn unter ihrem Regime war die Geldbuße unabhängig von dem verwirklichten Unrechtsgrad stets gleich, da die ermittelte Zwischengeldbuße üblicherweise oberhalb der Kappungsgrenze lag und dementsprechend unrechtsindifferent auf das höchstzulässige Maß zu kürzen war. Nichtsdestotrotz sollte das Bundeskartellamt zukünftig das von der Kartellbeteiligung von Ein-Produkt-Unternehmen in der Regel höhere, tatsächlich verwirklichte oder zumindest pauschal ermittelte Gewinn- und Schadenspotential bei der Bußgeldzumessung korrigierend berücksichtigen. Äußerst positiv ist zudem zu bewerten, dass das Bundeskartellamt nunmehr die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Rahmen der Bußgeldzumessung zu berücksichtigen gedenkt. Damit dürfte es zukünftig einen weniger strengen Kurs in Fällen verfolgen, in denen eine bußgeldbedingte Zahlungsfähigkeit zu befürchten ist. Während die Bußgeldleitlinien 2006 in diesen Fällen ausschließlich Zahlungserleichterungen nach der Bußgeldbemessung vorsahen,531 soll die durch einen Bußgelderlass zu befürchtende Zahlungsunfähigkeit entsprechend der hier vertretenen Auffassung532 nunmehr wohl bereits bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt werden.533 Auch wenn die Bußgeldleitlinien nicht mehr explizit auf die alternative Gewährung von Zahlungserleichterungen im Wege von Ratenzahlungsvereinbarungen oder Stundungen hinweisen, ist wegen § 18 OWiG nicht davon auszugehen, dass das Bundeskartellamt auf jene Mittel, die im Einzelfall gleichermaßen mild, aber womöglich effektiver zur Erreichung der mit dem Erlass der Geldbuße verfolgten Zwecke sind als die Bußgeldreduzierung, verzichten wird. Dabei wird es, wie bereits an anderer Stelle beschrieben, im Einzelfall umfassend abwägen müssen, ob eine Bußgeldreduzierung und/oder eine Zahlungserleichterung das mildeste und effektivste Mittel ist, um dem Geltungsanspruch des Kartellverbots gemäß § 1 GWB und Art. 101 AEUV am besten durchzusetzen.534 530

Hierzu umfassend: Teil 3 § 3 B. III. 2. b) (S. 451 ff.). Hierzu insbesondere: Teil 3 § 3 B. III. 2. a) (S. 449 ff.). 532 Siehe hierzu umfassend: Teil 3 § 2 B. III. 4. b) (S. 387 ff.). 533 A. A. Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (319). 534 Zum Umgang mit dem Einwand der „Inability to pay“ umfassend: Teil 3 § 2 B. III. 4. (S. 384 ff.). 531

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3. Hinreichende Konkretisierung des Bußgeldbemessungsvorgangs?

Von den vorstehenden „atypischen“ Fällen abgesehen, steht schließlich noch die Bewertung aus, ob die Bußgeldleitlinien 2013 insgesamt zu einer verbesserten Transparenz des Bußgeldbemessungsvorgangs beitragen können. Dies mag zu bezweifeln sein. Während unter Geltung der Bußgeldleitlinien 2006 der Grundbetrag der Geldbuße noch relativ sicher bestimmt werden konnte, soweit der tatbezogene Umsatz nicht geschätzt werden musste, und ausgehend von diesem anhand der Anpassungsfaktoren zumindest eine Höchstgeldbuße und Näherungswerte bestimmt werden konnten, erscheint dieses Unterfangen unter dem Regime der Bußgeldleitlinien 2013 sehr viel schwieriger zu sein. Zwar kann auch unter Geltung der neuen Leitlinien der tatbezogene Umsatz relativ sicher bestimmt werden, soweit dieser nicht geschätzt werden muss, sodass das Gewinn- und Schadenspotential und ausgehend von dem ebenfalls problemlos zu bestimmenden Gesamtumsatz des Unternehmens die „zweite“ Bußgeldobergrenze in Form des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials bestimmt werden kann. Auch ist es möglich die gesetzliche Bußgeldobergrenze ohne weiteren Aufwand zu bestimmen und mit dem multiplizierten Gewinn- und Schadenspotential zu vergleichen. Nach diesen Rechenschritten öffnet sich jedoch der eigentliche, weite Entscheidungs- und Bemessungsspielraum des Bundeskartellamts, der durch ermessenslenkende Direktiven nicht weiter verengt worden ist. Denn die eigentliche Bußgeldbemessung hat das Bundeskartellamt nicht weiter konkretisiert, sondern sich allein auf die Benennung der zumessungsrelevanten Kriterien beschränkt. Wie an anderer Stelle bereits umfassend dargelegt wurde,535 ist es zwar nachzuvollziehen, dass das Bundeskartellamt keine festen, prozentualen Größenordnungen für verschiedene Wettbewerbsverstöße angegeben und die weiteren tat- und täterbezogenen Kriterien nicht durch feste „Zu- und Abschläge“ konkretisiert hat, da eine unverrückbare Typisierung im Vorfeld angesichts der Vielgestaltigkeit der Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot und eine Vorhersehbarkeit der Geldbußen nicht gewollt ist. Allerdings hat sich der Bemessungsspielraum des Bundeskartellamts im Vergleich zu den Bußgeldleitlinien 2006 nochmals drastisch ausgeweitet. Während unter Geltung letzterer die Anpassungsfaktoren (mit Ausnahme des Abschreckungsaufschlags) nämlich nur überschaubare Abweichungen vom Grundbetrag der Geldbuße zuließen, existiert unter der Geltung der Bußgeldleitlinien 2013 keine mit dem Grundbetrag vergleichbare Bezugsgröße. Vielmehr besteht nur eine relativ sichere Höchstgeldbuße, wobei auch mit Blick auf diese nicht sicher feststeht, dass das Bundeskartellamt das multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential rekurriert, wenn es geringer ausfällt als die gesetzliche Bußgeldobergrenze. Insoweit verbleibt der Kartellbehörde nämlich nach wie vor die Möglichkeit, das 535

Teil 3 § 3 B. III. 3. (S. 453 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

multiplizierte Gewinn- und Schadenspotential weiter um einen Faktor „x“ zu erhöhen oder auf die gesetzliche Bußgeldobergrenze zurückzugreifen, wenn das tatsächliche Gewinn- und Schadenspotential ihrer Auffassung nach „offensichtlich“ höher war. Wie es dies festzustellen gedenkt, kommt in den Bußgeldleitlinien 2013 ebenfalls nicht zum Ausdruck. Auch wenn jedoch die Höchstgeldbuße sicher feststünde, besteht nach wie vor ein weitreichender, kaum zu überschauender Bemessungsspielraum des Bundeskartellamts im Einzelfall zwischen 5 A und der jeweiligen „Bußgeldobergrenze“, die im Regelfall bei mehreren Millionen Euro liegen dürfte. Daher dürfte sich die Bußgeldbemessung als weitaus intransparenter darstellen, als diese noch unter der Geltung der Bußgeldleitlinien 2006 war. Ein durch die Bußgeldleitlinien 2013 vermittelter erhöhter Grad an Rechtssicherheit lässt sich – zumindest bis zu ihrer Etablierung in der Praxis – zum heutigen Zeitpunkt jedenfalls nicht ausmachen. IV. Ergebnis Mit der Veröffentlichung der Bußgeldleitlinien 2013 hat das Bundeskartellamt, entgegen seiner Überzeugung, auf die Entscheidung des BGH in Sachen Grauzement reagiert und seine zukünftig intendierte Bußgeldbemessung auf der Grundlage des als gesetzliche Bußgeldobergrenze verstandenen § 81 Abs. 4 S. 2 GWB beschrieben. Dem – nach hier vertretener Auffassung – mit diesem Verständnis verbundenen Problem schuldunangemessener, da am schuldindifferenten Kriterium des Gesamtumsatzes ausgerichteter Sanktionierung versucht das Bundeskartellamt durch die Etablierung einer „zweiten“ Bußgeldobergrenze zu begegnen. Diese an dem Gewinn- und Schadenspotential der Kartellbeteiligung ausgerichtete „zweite Bußgeldgrenze“, die regelmäßig dann zur Anwendung kommen soll, wenn sie unterhalb der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“ liegt, widerspricht jedoch der gesetzgeberischen Wertung, die in der Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, wie sie der BGH auslegt, zum Ausdruck kommt. Sie führt letztlich auch zu einer der Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts widersprechenden Bußgeldbemessung. Denn die Geldbuße ist grundsätzlich anhand der Zumessungskriterien innerhalb des gesetzlichen Bußgeldrahmens festzusetzen und nicht innerhalb eines mithilfe einer Hilfsgröße neu definierten, individuell verengten Bußgeldrahmens. Im Übrigen sind die Bußgeldleitlinien 2013 rechtlich dahingehend zu beanstanden, dass sie das Doppelverwertungsverbot nicht hinreichend beachten. So ist es dem Bundeskartellamt etwa, entgegen seiner Intention verwehrt, die Dauer der Zuwiderhandlung im Rahmen der Bußgeldzumessung zu berücksichtigen, wenn es den Bußgeldbemessungsspielraum künstlich mithilfe des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials nach oben hin begrenzt. Denn in dem das Gewinn- und Schadenspotential bestimmenden, tatbezogenen Umsatz kommt bereits die Dauer der Zuwiderhandlung zum Ausdruck. Gleiches gilt für die Berücksichtigung des Grads des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit der Kartellbeteiligung. Demgegenüber führt ihre Anwendung nicht zu einer teilweise befürchteten,

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unzulässigen Diskriminierung von umsatzstarken und diversifizierten Unternehmen. Der Umstand, dass die Geldbußen progressiv mit dem tatbezogenen Umsatz steigen, ist gerechtfertigt, um eine hinreichende Abschreckung der Geldbußen und eine verbesserte Akzeptanz des Kartellverbots gemäß § 1 GWB und Art. 101 AEUV zu erreichen. Unternehmen mit höherer Produktvielfalt profitieren zudem von der Berücksichtigung des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials als obere Grenze des Bemessungsspielraums. Allerdings ist festzustellen, dass die Bußgeldleitlinien 2013 insgesamt nicht zu der erhofften Transparenz der Bußgeldbemessung und mithin zu einer relevanten Begrenzung des kartellbehördlichen Bemessungsspielraums beitragen. Der Ermessensspielraum des Bundeskartellamts hat sich – im Vergleich zu demjenigen unter der Geltung der Bußgeldleitlinien 2006 – vielmehr weiter vergrößert, da die Bußgeldleitlinien 2013 letztlich nur die individuellen „gesetzlichen Bußgeldrahmen“ contra legem modifizieren, nicht aber den Bußgeldbemessungsvorgang näher erläutern. Die Anwendung der in den Bußgeldleitlinien 2013 lediglich aufgezählten Zumessungskriterien im Einzelfall bleibt eine black box. Dies gilt auch für das Kriterium der „Wertschöpfungstiefe“, das etwa für Handelsunternehmen mit geringen Gewinnmargen relevant ist, deren Bedeutung im konkreten Einzelfall jedoch durch die Bußgeldleitlinien 2013 nicht konkretisiert wird. Wenngleich zumindest anzuerkennen ist, dass das Bundeskartellamt intendiert diesen Umstand, wie auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen bei der Bußgeldbemessung zu berücksichtigen, ergibt sich aus den Bußgeldleitlinien nichtsdestotrotz keine wesentliche Verbesserung der Transparenz für Unternehmen. Verbessert hat sich allein die Situation für Ein-Produkt-Unternehmen, was allerdings nicht auf die Bußgeldleitlinien 2013, sondern auf die abweichende Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zurückzuführen ist. Die Kartellbehörde hat es insoweit auch versäumt, darzulegen, wie es diejenigen tatbezogenen Umsätze zu schätzen gedenkt, „die vermutlich erzielt worden wären“, wenn sie aufgrund eines planwidrigen Tatverlaufs oder aufgrund der Art der Zuwiderhandlung nicht erzielt worden sind. Da die Schätzung mit erheblichen Unsicherheiten verbunden ist, sollte das Bundeskartellamt zumindest in solchen Fällen gänzlich auf eine umsatzbezogene Bußgeldzumessung unter Zugrundelegung eines fingierten, tatbezogenen Umsatzes verzichten, in denen ein Kartellbeteiligter freiwillig von einer wettbewerbswidrigen Vereinbarung zurückgetreten ist oder in denen nur ein einmaliger Verstoß gegen das Kartellverbot vorliegt. Insofern sollte bereits eine nach § 81 Abs. 4 S. 1 GWB bemessene Geldbuße schuldangemessenen sein. Problematisch ist schließlich, dass das OLG Düsseldorf angesichts der gesetzlich nicht vorgesehenen, kartellbehördlichen Begrenzung des „gesetzlichen Bußgeldrahmens“ mithilfe des Gewinn- und Schadenspotentials wohl an der „gesetzlich vorgesehenen“ Bußgeldbemessungspraxis festhält, die Vorgehensweise des Bundeskartellamts also nicht adaptieren und gegebenenfalls sogar ausdrück-

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

lich ablehnen wird. Dies dürfte in der Praxis zu zusätzlichen Unsicherheiten führen. Mangels bereits etablierter Verwaltungs- und Entscheidungspraxis lässt sich nämlich kaum prognostizieren, ob ein Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid lohnend sein könnte. Einerseits konnte zwar festgestellt werden, dass die Anwendung der gesetzeswidrigen „Bußgeldobergrenze“ des multiplizierten Gewinnund Schadenspotentials zu geringeren Geldbußen führen kann, als sie unter Anwendung der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“ zu erwarten sind. Andererseits hat OLG Düsseldorf jedenfalls im Fall Silostellgebühren I für eine über einen relativ kurzen Zeitraum (2 Jahre) stattfindende Verhaltensabstimmung auf der Grundlage eines Informationsaustauschs über die Einführung einer Silostellgebühr sehr niedrige Geldbußen verhängt; diese lagen durchgängig – selbst ohne Berücksichtigung der in dem Fall einschlägigen Verfahrensverzögerung – weit unter 5 % der gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zulässigen Höchstgeldbuße.536 Es ist daher möglich, wenn auch nicht sicher, dass das OLG Düsseldorf zu milderen Geldbußen gelangt. Bis zu der Ausbildung einer gewissen Ermessenspraxis des Bundeskartellamts und des OLG Düsseldorf besteht damit eine erneute Phase erheblicher Rechtsunsicherheit.

D. Zusammenfassung Mit den Bußgeldleitlinien 2006 hat das Bundeskartellamt die Ausübung seines Sanktionszumessungsermessens in zulässiger Weise hinreichend konkretisiert und gebunden. Das Bundeskartellamt hat den Bußgeldleitlinien 2006 die hier vertretene Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze zugrunde gelegt und die dadurch bewirkten Unsicherheiten bezüglich der Bußgeldbemessung im konkreten Einzelfall überwiegend durch eine sachgerechte Bußgeldbemessungsmethode abgemildert. Die Bußgeldleitlinien 2006 fügten sich in die Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts ein, soweit dies angesichts der dieser fremden Kappungsgrenze möglich war. Rechtsstaatliche Bedenken ergaben sich lediglich mit Blick auf das Doppelverwertungsverbot, da die Bußgeldleitlinien 2006 u. a. schwere Formen des Vorsatzes als bußgelderhöhenden Umstand vorsahen, obgleich der Vorsatz bereits richtungsweisend für die Bestimmung der konkreten Höhe der Kappungsgrenze war. Letztere wurde trotz der zutreffenden Auffassung des Bundeskartellamts zudem nicht konsequent zu Ende gedacht. Die Bußgeldleitlinien 2006 sahen ausschließlich eine Kappung des ahndenden Teils der Geldbuße, nicht jedoch der gesamten, ahndenden und abschöpfenden Geldbuße vor. Dies widersprach jedoch dem Zweck der Kappungsgrenze als Belastungsgrenze.

536 OLG Düsseldorf, Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi), WuW/E DE-R 3889 (3900 ff.), Rn. 219 ff. (juris).

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Die Bußgeldzumessung anhand der Bußgeldleitlinien 2006 trug ferner dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz weitestgehend Rechnung. Zu begrüßen war insbesondere der Rückgriff auf den tatbezogenen Umsatz, der wohl in den meisten Fallkonstellationen anhand der sachlichen, örtlichen und zeitlichen Kriterien relativ genau bestimmt werden kann und bis zu einem gewissen Grad das verwirklichte individuelle Unrecht und damit die individuelle Schuld des Kartellbeteiligten ausdrückt. Dessen nachgehende Anpassung anhand der Schwere der Zuwiderhandlung und individueller Merkmale, die den gegen den Kartellbeteiligten zu erhebenden Vorwurf konkretisieren, entsprach nicht nur den gesetzlichen Zumessungskriterien, sondern auch den Anforderungen des Schuldprinzips. Dem steht nicht entgegen, dass in den Bußgeldleitlinien 2006 ein Hinweis fehlte, dass und wie die Beschlussabteilungen die vorzuwerfenden Tatbeiträge aller Kartellbeteiligten nach ihrer jeweiligen Schwere zu gewichten und die Geldbuße jeweils anzupassen hatten. Vielmehr ist entscheidend, dass die Bemessung einer am Unrecht der Tat und der „Schuld“ des Täters sowohl absolut als auch relativ gewichteten Geldbuße generell nicht ausgeschlossen war. Allerdings sahen die Bußgeldleitlinien 2006 keine Korrektiven für Einzelfälle vor, in denen die Bußgeldbemessung zu unverhältnismäßig hohen Geldbußen führen konnte, so vor allem bei Ein-Produkt-Unternehmen und Handelsunternehmen. Ferner barg die Schätzung des (fingierten) tatbezogenen Umsatzes die evidente Gefahr der Bemessung einer Geldbuße, die nominal das Unrecht der Tat und der Schuld übersteigt. Dieser konnte nur mit (hohen) Sicherheitsabschlägen begegnet werden, die freilich angesichts der Vielfältigkeit möglicher Einzelfälle nicht im Vorfeld definierbar waren. Die durch die Bußgeldleitlinien 2006 bewirkte Transparenz der Bußgeldbemessung in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle unterliegt nunmehr jedoch einer erneuten Zäsur. Nachdem der BGH die Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze qualifiziert hatte, erließ das Bundeskartellamt diesem Verständnis entsprechend die neuen Bußgeldleitlinien 2013. Diese beschränken sich im Wesentlichen auf die Konkretisierung des Bemessungsspielraums der Kartellbehörde, ohne die eigentliche Bußgeldzumessung näher zu erläutern. Damit verbleibt dem Bundeskartellamt ein sehr weiter, entsprechend dem abweichenden Verständnis des BGH nochmals vergrößerter Bußgeldbemessungsspielraum, der in der Praxis zu erheblichen Rechtsunsicherheiten bezüglich der konkreten Bußgeldbemessung führen dürfte. Das Bundeskartellamt will diesen Bemessungsspielraum zwar regelmäßig durch eine „zweite Bußgeldobergrenze“ unterhalb der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“ begrenzen, die es anhand des mithilfe des tatbezogenen Umsatzes ermittelten Gewinn- und Schadenspotentials bestimmt. Dieses weder im allgemeinen Bußgeldrecht, noch in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB angelegte Hilfskriterium ist letztlich jedoch contra legem, wenngleich es einer am Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausgerichteten Sanktionierung eher gerecht wird. Konzernabhängige Unternehmen dürften jedenfalls

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

auch von der „zweiten Bußgeldobergrenze“ profitieren, da Geldbußen, die anhand des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials bestimmt werden, regelmäßig geringer ausfallen dürften, als jene, die innerhalb des durch § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gesetzten Bußgeldrahmens festgesetzt werden. Das Bundeskartellamt hat im Übrigen die Novellierung der Bußgeldleitlinien 2013 nicht dazu genutzt, intransparente Maßnahmen, wie die Schätzung des tatbezogenen Umsatzes und die Berücksichtigung der geringeren Wertschöpfungstiefe, etwa von Handelsunternehmen, näher zu konkretisieren. Aufgrund der nach hier vertretener Auffassung fehlerhaften Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB hat sich allein die Transparenz der Bußgeldbemessung für Ein-ProduktUnternehmen verbessert. Allerdings bleibt die konkrete Bußgeldzumessung, wie für alle Unternehmen auch, eine black box.

§ 4 Fazit zum Sanktionszumessungsermessen Das geltende Kartellbußgeldrecht räumt dem Bundeskartellamt einen erheblichen Ermessensspielraum für die Zumessung der sach- und schuldangemessenen Geldbuße wegen Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot ein. Bei natürlichen Personen stellt die Vorschrift des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB zwar eine Bußgeldobergrenze in Höhe von einer Million Euro (für vorsätzliche Zuwiderhandlungen) bzw. in Höhe von 500.000 Euro (für fahrlässige Zuwiderhandlungen) bereit. In Zusammenschau mit § 17 Abs. 1 OWiG, der die Regelbußgelduntergrenze bei fünf Euro festlegt, ergibt sich jedoch ein überdurchschnittlich weiter Bußgeldrahmen, der angesichts der realistischerweise wohl bedeutungslosen Bußgelduntergrenze den Bedürfnissen der Praxis nicht sonderlich angepasst erscheint. Immerhin führen die Zumessungskriterien des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB i.V. m. § 17 Abs. 3 und Abs. 4 OWiG zu einer gewissen Beschränkung des Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes dahingehend, dass es bei der Bußgeldbemessung primär die Bedeutung der Zuwiderhandlung im Sinne ihrer Schwere und Dauer und den Vorwurf, der der natürlichen Person zu machen ist, aber auch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigen muss. Daraus folgt, dass bei den denkbar schwersten Wettbewerbsverstößen und etwa einer maßgeblichen Beteiligung des Betroffenen eine Geldbuße im oberen Bereich zwischen 75 % und 100 % der Bußgeldobergrenze anzusetzen ist, während bei kurzweiligen, geringfügigeren Verstößen, wie etwa dem vereinzelten Informationsaustausch wohl maximal 30 % festgesetzt werden können. Der Strafzumessung des Strafrichters entsprechend verbleibt dem Bundeskartellamt in dem durch die Zumessungskriterien beschränkten Bereich möglicher Sanktionen ein Spielraum zwischen der „schon“ und „noch“ schuld- und tatangemessenen Geldbuße, der vor dem Hintergrund des weiten Bußgeldrahmens relativ weit ist. Im Übrigen hat das Bundeskartellamt – entgegen der in § 81 Abs. 5 GWB zum Ausdruck kommenden Intention des Gesetzgebers – im Regelfall auch gezogene wirtschaftliche

§ 4 Fazit zum Sanktionszumessungsermessen

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Vorteile abzuschöpfen. Eine rein ahndende Geldbuße bedarf sachlicher Gründe, da andernfalls eine Ungleichbehandlung gegenüber Tätern vergleichbaren Unrechts zu befürchten ist, denen die mit der Zuwiderhandlung erzielten wirtschaftlichen Vorteile entzogen wurden. Ist das Bundeskartellamt danach zum Erlass einer gleichzeitig ahndenden, als auch abschöpfenden Geldbuße verpflichtet, kann es gemäß § 17 Abs. 4 S. 2 OWiG den Regelbußgeldrahmen überschreiten. Insofern bietet eine Zusammenschau der wirtschaftlichen Werte zumindest einen Anhaltspunkt für die vom Bundeskartellamt zu erlassende Mindestgeldbuße, die um einen ahnenden Wert zu erhöhen ist. Um ein Vielfaches komplizierter und undurchsichtiger hat sich das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes im Hinblick auf Unternehmen erwiesen. Obgleich der Regelbußgeldrahmen grundsätzlich auch für diese Anwendung findet, ist seine praktische Relevanz als beschränkt zu bezeichnen. Vielmehr verfolgt das Bundeskartellamt konsequent das sowohl vom Gesetzgeber als auch von Seiten der Europäischen Kommission regelmäßig betonte Ziel, mit hohen Geldbußen die abschreckende Wirkung des Kartellrechts zu optimieren. Zu diesem Zweck greift es grundsätzlich auf seine Befugnis gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zurück und bemisst höhere Geldbußen als im Regelbußgeldrahmen vorgesehen, die jedoch 10 % des Gesamtumsatzes des betroffenen Unternehmens im Vorjahr der Entscheidung nicht übersteigen. Trotz der bezweckten, klarstellenden Konkretisierung der Vorschrift im Rahmen der Preismissbrauchsnovelle bestehen nach wie vor erhebliche Schwierigkeiten, die Bußgeldandrohung für Unternehmen einer konsensfähigen Interpretation zuzuführen. Nach hier vertretener Auffassung handelt es sich bei § 81 Abs. 4 S. 2 GWB um eine das Verhältnismäßigkeitsprinzip konkretisierende Kappungsgrenze, die eine wirtschaftliche Überforderung betroffener juristischer Personen verhindern will.537 Mit dieser dem Wortlaut und dem gesetzgeberischen Willen allein entsprechenden Qualifikation der Vorschrift bestehen keine Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Systematik des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts. Die Abhängigkeit der nominalen Größenordnung der Kappungsgrenze von dem Gesamtumsatz des Unternehmensverbunds, in den das betroffene Unternehmen eingebunden ist, trägt allein dem Umstand Rechnung, dass Unternehmen von den Ressourcen des Verbunds profitieren. Auch die notwendigen Modifikationen des § 17 Abs. 4 OWiG und des § 20 OWiG, die das Bundeskartellamt bislang unbeachtet ließ, obgleich es § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zutreffend als Kappungsgrenze qualifizierte, stehen der grundsätzlichen Vereinbarkeit der Regelung mit dem allgemeinen Bußgeldrecht nicht entgegen. Die Integration einer dem Ordnungswidrigkeitenrecht bislang fremden Belastungsgrenze zwingt vielmehr dazu, den Gedanken der Kappungsgrenze zu Gunsten der juristischen Person schlüssig fortzuführen. Soll die wirtschaftliche Existenz des Unternehmens nicht gefährdet werden, darf eine so537

Zu diesem Problem: Teil 3 § 2 A. II. 1. (S. 345 ff.).

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Teil 3: Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes

wohl ahndende als auch abschöpfende Geldbuße die Belastungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB nicht übersteigen.538 Gleiches gilt für die kalkulatorisch zu bildende „Gesamtgeldbuße“ bei in engen zeitlichen Zusammenhang stehenden, jedoch in Tatmehrheit begangenen Zuwiderhandlungen.539 Würde man die Kappungsgrenze jeweils separat auf die bei mehreren Zuwiderhandlungen zu bildenden Einzelgeldbußen anwenden, würde andernfalls der Gedanke der verhältnismäßigen und nicht über die Gebühr hinausgehenden Ahndung und Abschöpfung konterkariert, da bei Addition der Einzelgeldbußen die Belastungsgrenze der betroffenen juristischen Person unter Umständen weit überschritten würde. Dies scheint auch angesichts der teilweise zufälligen Ausgestaltung der Zuwiderhandlungen sachgerecht: So ist etwa denkbar, dass sich Unternehmen allein aus praktischen Gründen produktgruppenspezifisch oder bezogen auf bestimmte regionale Märkte in einzelnen Foren verabreden, ohne eine die Gesamtheit der Produkte und Regionen erfassende Grundabsprache zu treffen. Der Unrechtsgrad dieser Vorgehensweise kann jedoch nicht höher bewertet werden als Zuwiderhandlungen, die die gleichen Produkte oder Regionen erfassen, jedoch aufgrund von Vereinbarungen oder Abstimmungen in einem einzelnen Forum verwirklicht wurden. Als problematisch erweist sich die bloße Installation der Kappungsgrenze jedoch aufgrund des dadurch bewirkten nahezu grenzlosen Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamtes. Mangels Bußgeldobergrenze existiert lediglich ein nach unten mit fünf Euro praktisch irrelevant begrenzter und nach oben hin offener „Bußgeldrahmen“. Die Rechtlage verwehrt es dem Bundeskartellamt, anhand der Zumessungskriterien des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB i.V. m. § 17 Abs. 3 OWiG die konkrete Zuwiderhandlung an einer nach Unrecht und Schuld differenzierenden Skala zu messen. Die Kappungsgrenze kann auch nicht gleichzeitig oder stattdessen als Bußgeldobergrenze interpretiert werden, wie dies vom OLG Düsseldorf und dem BGH vertreten wird. Ihr Rückgriff auf den Gesamtumsatz der Unternehmensgruppe, der das Kartellmitglied angehört, führte dann zu einer der Vorschrift des § 30 OWiG und dem Schuldprinzip widersprechenden Haftung des Konzerns. Vor allem aber widerspricht eine derartige Deutung dem Wortlaut, der Systematik des § 81 Abs. 4 GWB und dem eindeutigen, in der Vorschrift zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers. Aus diesen Gründen ist die vom BGH vorgenommene „verfassungskonforme“ Auslegung abzulehnen. Die Beleuchtung des § 81 Abs. 7 GWB offenbarte, dass der Gesetzgeber es dem Bundeskartellamt überlassen hat, die Bußgeldbemessung näher zu konkretisieren. Freilich geht dies über die bloße Rechtsanwendung der Zumessungskriterien und die pflichtgemäße Ausübung des Sanktionszumessungsermessens im Sinne einer Auswahl der subjektiv für recht und billig gehaltenen Geldbuße 538 539

Siehe Teil 3 § 3 B. II. 1. d) (S. 426 ff.). Siehe Teil 3 § 2 A. III. (S. 368 ff.).

§ 4 Fazit zum Sanktionszumessungsermessen

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aus der Vielzahl möglicher Geldbußen in den Grenzen zwischen der „noch“ und „schon“ gerechten Sanktion hinaus. Das Sanktionszumessungsermessen wurde quasi um einen gestalterischen „Auftrag“ erweitert, dem das Bundeskartellamt mit seinen Bußgeldleitlinien 2006 nachgekommen ist. Diese wurden – ausgehend von der Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze – für die weit überwiegenden Fallkonstellationen dem Schuldprinzip und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerecht, respektierten – mit wenigen Ausnahmen – die Systematik und die Grundsätze des allgemeinen Bußgeldrechts und haben Rechtsunsicherheiten, die mit der Integration der Kappungsgrenze verbunden waren, stark abgemildert. Allerdings hat die Außerkraftsetzung der Bußgeldleitlinien 2006 und die Veröffentlichung der an die Rechtsprechung des BGH angepassten Bußgeldleitlinien 2013 eine erneute Phase der Rechtsunsicherheit eingeläutet. Nicht nur, dass das Bundeskartellamt die eigentliche Bußgeldzumessung nicht konkretisiert hat; es will sich zukünftig auch noch einer am Gewinn- und Schadenspotential ausgerichteten Bußgeldgrenze unterhalb der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“ bedienen. Dieses Vorgehen dürfte in der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf, auch wenn es die ohnehin verfassungsrechtlich kritische Rechtslage in Bezug auf Kartell-Geldbußen stark abmildert, keine Anerkennung finden. Insoweit erweist sich das gerichtliche Bußgeldverfahren erneut als black box.

Teil 4

Gesamtbewertung des Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessens des Bundeskartellamts Im 2. und 3. Teil der Arbeit wurden die dem Bundeskartellamt zugestandenen Ermessensspielräume bei der Verfolgung und Ahndung von Kartellen, wie sie durch die Vorschriften des § 47 Abs. 1 OWiG und des § 81 Abs. 4 GWB gewährt und gleichzeitig begrenzt werden, auf ihre Reichweite und deren konkrete Nutzung durch das Bundeskartellamt untersucht. Dabei wurde die bestehende Rechtslage herausgearbeitet und zunächst als Faktum hingenommen, ohne sie anhand verfassungsrechtlicher Grundsätze zu hinterfragen. Die Arbeit machte deutlich, dass sowohl das Verfolgungs- als auch das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamtes sehr weit reichen, sich zum Teil schwierige Fragen im Hinblick auf die korrekte Bestimmung der Ermessensgrenzen stellen und das Bundeskartellamt dazu neigt, diese Grenzen in Grauzonen auszureizen. Gegenstand des 4. Teils ist die abschließende Bewertung des kartellbehördlichen Ermessens im Bußgeldverfahren wegen Kartell-Ordnungswidrigkeiten. Diese erfolgt dreischrittig. Zunächst sind im Wege einer Bestandsaufnahme die wichtigsten Ergebnisse des 2. und 3. Teils zusammenzutragen, um ein Gesamtbild über die Entscheidungs- und Handlungsspielräume des Bundeskartellamtes zu erarbeiten, das wiederum eine vorläufige Bewertung der faktischen Rolle des Bundeskartellamtes innerhalb des Bußgeldverfahrens ermöglichen soll (§ 1). Im zweiten Schritt werden die dem Bundeskartellamt gesetzlich und faktisch eingeräumten Rollen einer kritischen verfassungsrechtlichen Würdigung unterzogen (§ 2). Ausgangspunkt dafür bildet die Erkenntnis, dass der im 1. Teil der Arbeit definierte Begriff des Ermessens als Ausdruck des Gewaltenteilungsgrundsatzes zu verstehen und demzufolge auch an dessen Anforderungen zu messen ist. Diese werden zunächst anhand der Bedeutung und verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes erarbeitet und anschließend auf das behördliche Bußgeldverfahren übertragen. Dabei wird vor dem Hintergrund der festgestellten Offenheit der Ermessensvorschriften insbesondere der bislang ausgeblendeten Frage nachzugehen sein, ob der Gesetzgeber mit der Implementierung der Ermächtigungsgrundlagen des § 47 Abs. 1 OWiG und des § 81 Abs. 4 GWB seiner ihm zugewiesenen Gesetzgebungsfunktion ausreichend nachgekommen ist. Ferner ist, obgleich angesichts des dem Betroffenen zustehenden umfassenden Rechtsschutzes auf den ersten Blick keine Probleme erkennbar sind, die Rolle der Rechtsprechung im Kartell-Bußgeldverfahren zu beleuchten. In Zusam-

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes

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menschau der faktischen und rechtlichen Würdigung des kartellbehördlichen Ermessens im Kartell-Bußgeldverfahren sind im dritten Schritt notwendige Schlussfolgerungen zu ziehen (§ 3).

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes A. Geringe gesetzliche Vorbestimmung der Ermessensausübung durch offene Ermessensnormen Die relevanten Ermächtigungsgrundlagen des § 47 Abs. 1 OWiG und des § 81 Abs. 4 GWB i.V. m. § 17 OWiG reichen inhaltlich sehr weit. Zurückzuführen ist dies auf die offene Ausgestaltung der Vorschriften, die selbst keine bis wenige ausdrückliche Ermessensgrenzen und -direktiven aufweisen. § 47 Abs. 1 OWiG beschränkt sich auf die Aussage, dass das Bundeskartellamt Kartell-Ordnungswidrigkeiten im Wege eines Bußgeldverfahrens verfolgen kann, mit anderen Worten also nicht muss. In Zusammenschau mit den innerhalb des GWB geregelten sowie den informellen Vollzugsinstrumenten ergeben sich für das Bundeskartellamt zahlreiche Handlungsoptionen auf Kartelle zu reagieren.1 Hinzu kommt die Befugnis zur persönlichen, sachlichen und zeitlichen Begrenzung der Kartellverfolgung.2 Dabei stellt § 47 Abs. 1 OWiG selbst keine ausdrücklichen Ermessensdirektiven zur Verfügung, die verfassungsrechtliche, strafrechtliche und strafprozessuale Rechtsgrundsätze sowie die Grundrechte der Betroffenen reflektieren. Orientierungsmaßstab für die Ermessensausübung bildet vorrangig der Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG, wonach die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten im öffentlichen Interesse zu erfolgen hat. Dies führt zunächst allein bei gravierenden Hardcore-Kartellen zu einer augenscheinlich vorhersehbaren Ermessensausübung, da sich das Verfolgungsermessens auf null hin zu einer grundsätzlichen Verfolgungspflicht reduziert.3 Diese steht allerdings unter einem Atypikvorbehalt, der dem Bundeskartellamt wiederum faktisch eine Art Beurteilungsspielraum bezüglich besonderer, einen Ahndungsverzicht rechtfertigender Umstände eröffnet.4 Dieser Spielraum erwies sich als relativ weit. Lediglich wettbewerbsfremde Gesichtspunkte können das Absehen von der Kartellverfolgung und -ahndung unter keinem Umstand rechtfertigen. Das Bundeskartellamt bleibt bei der Beurteilung, ob ein atypischer Fall gegeben ist, zwar nichtsdestotrotz zur Beachtung des Zwecks des § 47 Abs.1 OWiG und des Wettbewerbsschutzes verpflichtet; dem Gesetz sind diesbezüglich jedoch keine kon1 2 3 4

Siehe Teil 2 § 2 A. (S. 90 ff.). Teil 2 § 2 B. und C. (S. 94 ff.). Teil 2 § 3 B. III. (S. 122 ff.). Teil 2 § 5 (S. 328 ff.).

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

kretisierenden Maßstäbe für eine Eigenkontrolle zu entnehmen. Im Bereich geringfügiger bis „durchschnittlicher“ Kartell-Ordnungswidrigkeiten verbleibt es bei dem weiten Entscheidungs- und Handlungsspielraum der Kartellbehörde. Das Bundeskartellamt hat sich allerdings zumindest im Bereich leichtester Kartellverstöße durch die sachlich angemessene und rechtlich unbedenkliche Bagatellbekanntmachung regelmäßig zu einem Verfolgungs- und Ahndungsverzicht verpflichtet. Hinsichtlich der Bußgeldzumessung setzt das Gesetz dem Bundeskartellamt in § 81 Abs. 4 GWB und § 17 Abs. 1 OWiG zwar nominal äußere Grenzen und hält auch Ermessensdirektiven in § 81 Abs. 4 S. 6 GWB und § 17 Abs. 3 OWiG bereit.5 Dennoch bleibt der Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes sehr weit. Eine relevante Ermessensbeschränkung ließ sich nur für die Bußgeldbemessung bei natürlichen Personen feststellen.6 Für diese besteht in § 81 Abs. 4 S. 1 GWB ein nach oben und unten fest begrenzter Sanktionsrahmen. Durch die pflichtige Berücksichtigung der Bedeutung der Zuwiderhandlung, die, wie § 81 Abs. 4 S. 6 GWB (relativ überflüssig) zeigt, vor allem durch die Schwere und Dauer derselbigen bestimmt wird, sowie des Vorwurfs, der den Täter trifft, und seiner wirtschaftlichen Verhältnisse, aber auch des von ihm durch die Zuwiderhandlung gezogenen wirtschaftlichen Vorteils, wird im konkreten Fall ein Rahmen der „schon“ und „noch“ richtigen Entscheidung vorgezeichnet, innerhalb dessen eine konkrete Geldbuße festzusetzen ist. Wenngleich selbst dieser individuell konkrete, sach- und schuldgerechte Sanktionsrahmen aufgrund der nahezu bedeutungslosen Bußgelduntergrenze in Höhe von fünf Euro und der Bußgeldobergrenze in Höhe von einer Million Euro im Vergleich zu anderen Bußgeldtatbeständen immer noch sehr weit ist, lässt sich die Ermessensausübung des Bundeskartellamtes zumindest relativ voraussehen und im Nachgang „überprüfen“. Eben dies ist durch das Gesetz bei juristischen Personen nicht gewährleistet. § 81 Abs. 4 S. 2, S. 3 GWB birgt bereits zahlreiche Interpretationsspielräume, die weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion sind. Folgt man der hier vertretenen Ansicht, wonach § 81 Abs. 4 S. 2 GWB lediglich eine den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisierende, absolute Bußgeldgrenze im Sinne einer Belastungsgrenze bildet, zeichnet das Gesetz für Unternehmen keinen Sanktionsrahmen vor.7 Damit fehlt es an einer Referenzskala, anhand derer im konkreten Fall sach- und schuldangemessene Geldbußen abgelesen werden können. Vielmehr kann und darf Ergebnis einer Bußgeldbemessung eine Geldbuße oberhalb der 10 %-Grenze sein, die dann lediglich bei 10 % des im Vorjahr der kartellbehördlichen Entscheidung erzielten Gesamtumsatzes der wirtschaftlichen 5 Zum Bußgeldrahmen: Teil 3 § 2 A. (S. 340 ff.), zu den Zumessungskriterien: Teil 3 § 2 B. (S. 372 ff.). 6 Vgl. Teil 3 § 2 B. IV. 2. (S. 410 ff.). 7 Zur Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 und 3 GWB: Teil 3 § 2 A. II. (S. 343 ff.).

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes

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Einheit, der der Kartellbeteiligte angehört, zu kappen ist. Die die Ermessensausübung instruierenden Zumessungskriterien büßen damit ihre ermessensbeschränkende Wirkung ein.8 Dem Bundeskartellamt verbleibt hinsichtlich der Bußgeldzumessung bei juristischen Personen daher ein weiter Spielraum, nicht nur hinsichtlich der Ermittlung der Geldbuße im konkreten Einzelfall, sondern auch in der Bestimmung eines für richtig befundenen Referenzmaßstabs.

B. Maßgebliche Prägung der Ermessensausübung im Bußgeldverfahren durch Verwaltungsgrundsätze des Bundeskartellamtes Das Bundeskartellamt hat seinen weiten Ermessensspielraum überwiegend durch die in der Bonusregelung, der konkretisierten Settlement-Praxis und den Bußgeldleitlinien hinterlegten Verwaltungsgrundsätze ausgefüllt, die Ablauf und Abschluss heutiger Bußgeldverfahren maßgeblich bestimmen. Nicht selten werden alle drei Vollzugsinstrumente miteinander kombiniert; die Bußgeldleitlinien kommen ohnehin in jedem Fall zur Anwendung, in dem ein Bußgeld gegen ein Unternehmen erlassen wird. Die Anzahl von Settlements ist innerhalb weniger Jahre geradezu sprunghaft angestiegen.9 Die Einführung der Bonusregelung hat sich als voller Erfolg erwiesen und bildet überwiegend den Anlass kartellbehördlicher Verfolgung.10 Die Vollzugsinstrumente basieren inhaltlich nicht auf gesetzlichen Zielvorgaben. Bonusregelung und Bußgeldleitlinien können sich zwar auf die – allenfalls deklaratorische11 – gesetzliche Ermächtigung zur Festlegung von allgemeinen Verwaltungsgrundsätzen über die Ausübung des Ermessens bei der Bemessung der Geldbuße gemäß § 81 Abs. 7 GWB stützen. Inhaltliche Konkretisierungen enthält die Vorschrift jedoch nicht. Die Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes hatte sich bereits etabliert bevor das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 200912 in Kraft getreten ist.13 Auch diese wurde 8 Zur Interpretation der ermessensbeschränkenden Wirkung der Ermessensdirektive: Teil 1 § 1 C. I. (S. 45 ff.). Vgl. auch Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 189; Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 27. 9 Im Berichtszeitraum 2007/08 wurden 7 Verfahren einvernehmlich beendet. Im Berichtszeitraum 2009/2010 war es bereits die „überwiegende Anzahl der Bußgeldverfahren“. Vgl. TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. 35; TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 41. 10 TB 2009/2010, BT-Drs. 17/6640, S. 16, 37; TB 2007/08, BT-Drs. 16/13500, S. V f., VIII, 9 f., 32; TB 2005/06, BT-Drs. 16/5710, S. 9, 32. 11 Zum Erlass von Verwaltungsvorschriften bedarf es keiner gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Die Kompetenz des Präsidenten des BKartA folgt aus seiner Weisungsbefugnis. Vgl. dazu allgemein Teil 1 § 1 C. II. 2. (S. 47 ff.), im Hinblick auf die Bonusregelung Teil 2 § 4 F. III. (S. 302 ff.) und bezüglich der Bußgeldleitlinien: Teil 3 § 3 A. (S. 415 ff.). 12 BGBl. I, 2353.

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

nicht vom Gesetzgeber vorausbestimmt. Das Bundeskartellamt hat sich wohl allein an der Rechtsprechung des Großen Senats des BGH orientiert.14 Dies erklärt etwa den ausdrücklichen Hinweis, dass Gegenstand eines Settlements keinesfalls ein Rechtsmittelverzicht ist.15

C. Bedeutender Einfluss der Kommissionspraxis In der Praxis orientiert sich das Bundeskartellamt bei seiner Ermessensausübung stark an derjenigen der Kommission. Die Bagatellbekanntmachung, die Bonusregelung und die Bußgeldleitlinien 2006 entstanden unter dem Einfluss bzw. nach dem Vorbild der entsprechenden de minimis-Bekanntmachung,16 der Kronzeugenregelung17 und den Bußgeldleitlinien18 der Kommission. Obgleich sich das Bundeskartellamt bereits in den 1990er Jahren „einvernehmlicher“, informeller Verfahrensbeendigungen bediente und seine Settlement-Praxis auch bereits vor der Einführung der formellen Settlement-Verfahren durch die Kommission im Juli 2008,19 nämlich seit 2007, etablierte, wurde selbst diese von der Kommissionspraxis beeinflusst. Im Rahmen eines im Oktober 2006 abgehaltenen Roundtables zu Settlements stellte das Bundeskartellamt seine Settlement-Praxis aus den 1990er Jahren vor, wobei es als Voraussetzungen zum Abschluss eines Settlements insbesondere die Glaubwürdigkeit des Kartellbeteiligten und das Vorliegen erheblicher, überzeugender Anhaltspunkte für den Kartellverstoß nannte.20 Als wesentliche Vorteile betonte es das verfahrensverkürzende Geständnis, das weitere Ermittlungen erspare und als Beweis gegen andere Verfahrensbeteiligte verwendet werden könne, sowie das durch das Einvernehmen erzielte, fak-

13 Erste Eckpunkte zur Settlement-Praxis veröffentlichte das BKartA im TB 2007/ 2008, BT-Drs. 16/13500 v. 22. Juni 2009; vgl. nunmehr auch das Merkblatt SettlementVerfahren v. 23.12.2013, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/ SharedDocs/Publikation/DE/Merkbl%C3%A4tter/Merkblatt-Settlement.pdf?__blob=pu blicationFile&v=2 (Stand: 31.12.2013). 14 BGH, Urt. v. 3.3.2005, Az. GSSt. 1/04, BGHSt 50, 40 ff. = NJW 2005, 1440 ff. 15 TB 2007/2008, BT-Drs. 16/13500, S. 35; Merkblatt Settlement-Verfahren v. 23.12. 2013, S. 3. 16 Teil 2 § 4 B. I. 3. b) (S. 164 ff.). 17 Teil 2 § 4 F. (S. 297 ff.). 18 Teil 3 § 3 B. I. (S. 416 ff.). 19 Verordnung (EG) Nr. 622/2008 der Kommission vom 30. Juni 2008 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 hinsichtlich der Durchführung von Vergleichsverfahren in Kartellfällen, ABl. EU v. 1.7.2008 Nr. L 171, S. 3 ff.; Mitteilung der Kommission über die Durchführung von Vergleichsverfahren bei dem Erlass von Entscheidungen nach Artikel 7 und Artikel 23 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates in Kartellfällen („Settlement-Mitteilung“), ABl. EU v. 2.7.2008, Nr. C 167, S. 1 ff. 20 BKartA, OECD Working Party No. 3 on Co-Operation and Enforcement, Plea Bargaining/Settlement of Cartel Cases: „The Federal Republic of Germany“, DAF/COMP/ WP3/WD(2006)77 („OECD Arbeitspapier“), Rn. 12 f.

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes

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tische Ausbleiben von Rechtsmittelverfahren.21 Von einem für die Durchführung eines Settlementverfahrens notwendigen Verzicht der Betroffenen auf vollständige Akteneinsicht und „formelle Anhörung“ sowie der erforderlichen Abgabe einer Einverständniserklärung für das vom Bundeskartellamt ermittelte Höchstbußgeld war damals noch nicht die Rede. Diese Forderungen stellte das Bundeskartellamt erst mit der Konkretisierung seiner Settlement-Praxis im Fallbericht Kaffeeröster vom 14.1.2010,22 nachdem die Kommission eben jene Maßnahmen zur Bedingung für die Durchführung eines Settlement-Verfahrens gesetzt hatte.23 Diese europäische Ausrichtung kartellbehördlicher Ermessensausübung ist vom Gesetzgeber ausdrücklich gewünscht; im Rahmen der 7. GWB-Novelle verwies dieser etwa das Bundeskartellamt zur „Regelung“ der Bußgeldbemessung explizit auf die Kommissionspraxis.24 Auf diese Weise soll dem „effet utile“Grundsatz entsprechend sichergestellt werden, dass die deutsche Kartellrechtspraxis an jene auf europäischer Ebene angeglichen wird, um eine effektivere Abschreckung nationalen Kartellrechts durch intensivere Kartellrechtsdurchsetzung und höhere Geldbußen zu erreichen.25 Das Bundeskartellamt ist jedoch auch selbst zur Harmonisierung seiner eigenen Ermessenspraxis mit jener der Kommission motiviert. Zwar geht, wie aufgezeigt wurde, von den Mitteilungen der Kommission keine rechtliche Bindungswirkung aus26 und selbst Entscheidungen der Kommission zeitigen kaum relevante ermessensbegrenzende Wirkungen.27 Das Bundeskartellamt wird durch die Pflicht zur parallelen Anwendung europäischen Kartellrechts, den Anwendungsvorrang europäischen Rechts, dessen Auslegung zwar den europäischen Gerichten zugewiesen, durch die Kommission jedoch weitreichend mitbestimmt wird und durch die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit mit der Kommission innerhalb des ECN praktisch dazu gezwungen, sich an der Kommissionspraxis zu orientieren. Nur auf diese Weise kommt es der andernfalls drohenden Ausübung des Revokationsrechts durch die Kommission zuvor, von welchem letztere bei einer nicht in ihrem Sinne erfolgenden Kartellrechtsdurchsetzung wohl häufiger Gebrauch machen würde.28 Das Bundeskartellamt unterliegt damit einer weitreichenden Beeinflussung durch die Kommission,

21

BKartA, OECD Arbeitspapier (Fn. 20), Rn. 16 ff. BKartA, Fallbericht zur Ents. v. 18.12.2009, Az. B11-18/08, S. 4, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Kartell/Kartell 09/Fallberichte/B11-018-08-Fallbeschreibung.pdf (Stand: 31.12.2013). 23 Settlement-Mitteilung (Fn. 19), Rn. 20 lit. b bis d. 24 Stellungnahme des Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/5049, S. 50. 25 Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 2, 42, 43, 46. 26 Siehe stellvertretend zur de minimis-Bekanntmachung: Teil 2 § 4 B. I. 3. b) aa) (S. 166 ff.). 27 Teil 2 § 3 A. II. (S. 105 ff.). 28 Teil 2 § 3 A. II. (S. 105 ff.). 22

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

was trotz Beschränkung der Kartellrechtsdurchsetzung im eigenbestimmten Sinne wiederum zu einer Ausweitung seiner eigenen Ermessensspielräume gegenüber den Betroffenen unter Duldung des Gesetzgebers führt. Denn auf europäischer Ebene agiert die Kommission in einer Doppelrolle als Teil der Gesetzgebung und als vollziehendes Organ;29 mit der Prägung der Ermessenspraxis des Bundeskartellamtes durch die Kommission strahlt diese Funktionskonzentration de facto auf die deutsche Kartellrechtspraxis aus.

D. Fokus der Ermessensausübung auf Abschreckung und Effizienz Das formelle Kartellbußgeldrecht dient mit seinen zulässigen, überproportional hohen, aber schwer vorhersehbaren Geldbußen ohne Zweifel vor allem der negativen Generalprävention; der repressive Zweck der Ahndung ist im geltenden Recht und der Kartellrechtspraxis in den Hintergrund getreten. Verstärkt wird dieser Effekt durch die auf kriminaltaktischen Erwägungen beruhende Bonusregelung, die die latente Bedrohung kartellbehördlicher Verfolgung steigern soll. Der erhöhte Grad der Unsicherheit bezüglich der Kartellverfolgung, kombiniert mit Unsicherheiten bezüglich der konkret drohenden Geldbuße bezweckt nichts anderes, als Kartellbeteiligte „mürbe zu machen“, von Kartellverstößen abzuhalten und zur Selbstanzeige zu bewegen. Neben dem gezielt abschreckenden Effekt der Kartellrechtsdurchsetzung lässt sich in neuerer Zeit die Tendenz des Bundeskartellamtes zu einer Art more economic approach des Verfolgungsermessens ausmachen. Settlements dienen der Effizienz des Bundeskartellamtes. Teileinstellungen und Bußgeldermäßigungen belohnen nicht die im Strafverfahren durch Geständnisse anerkannte Reue der Täter; sie erfolgen vielmehr als Gegenleistung für ersparte Ressourcen der Kartellbehörde. Im Fall der Bonusregelung rechtfertigt ebenfalls weniger die Einsicht der Täter den gewährten Bonus, sondern vielmehr die Aufdeckung und Zerschlagung sonst möglicherweise unerkannt gebliebener Kartelle sowie die durch die aktive Mitarbeit der Antragsteller bewirkte Arbeitsentlastung und Verfahrensbeschleunigung. In der Praxis wachsen damit Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessen zusehends zusammen. Die Verfolgungsinstrumente „Bonusregelung“ und „Settlements“ beschränken sich nicht auf eine zugesicherte (partielle) Nichtverfolgung 29 Hierzu u. a. krit.: Schwarze/Bechtold/Bosch, Rechtsstaatliche Defizite im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 83; Henning, EuZW 2011, S. 614 f. (615); Hofstetter, GCP: The Antitrust Chronicle November 2009, S. 1 ff. (3); vgl. auch OECD, Country Studies: European Commission, S. 62 ff., insb. 63, im Internet abrufbar unter: http:/ /www.oecd.org/daf/competition/prosecutionandlawenforcement/35908641.pdf (Stand: 31.12.2013).

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes

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von Kartellen, sondern antizipieren zwangsläufig einen Teil der Bußgeldbemessung. Damit verwischen auch zunehmend die verfassungsrechtlichen und verfahrensrechtlichen Prinzipien, die in den einzelnen Verfahrensabschnitten herkömmlicherweise unterschiedliches Gewicht haben. Vor allem wird das Schuldprinzip, das die Bußgeldbemessung dominieren sollte, durch Effizienzerwägungen relativiert.

E. Marginale ermessensbegrenzende Wirkung durch höherrangiges Recht und unzureichender Rechtsschutz Die Untersuchung hat gezeigt, dass die mangels umfassender gesetzlicher Konkretisierung und durch den europäischen Einfluss nochmals vergrößerten, sehr weiten Ermessenspielräume des Bundeskartellamtes durch rechtsstaatliche Grundsätze und Grundrechte nur geringfügig begrenzt werden. Regelmäßig können diese lediglich einen Willkürschutz garantieren. Im Hinblick auf das Verfolgungsermessen muss aber selbst dieser bezweifelt werden. Denn neben dem Umstand, dass es dem Bundeskartellamt nicht immer gelingt, die Reichweite und Bedeutung höherrangiger Prinzipien und Rechte richtig zu gewichten,30 besteht für Betroffene und Geschädigte keine gesetzliche Möglichkeit, die Ermessensausübung des Bundeskartellamtes bezüglich des „Ob“ und „Wie“ der Verfolgung einer gerichtlichen Überprüfung auf ihre Pflichtgemäßheit zuzuführen.31 Insbesondere besteht kein Rechtsschutz gegen die das Bußgeldverfahren dominierenden, die Ermessensausübung partiell antizipierenden Verwaltungsgrundsätze. Zwar können Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einlegen. Das OLG Düsseldorf überprüft jedoch grundsätzlich nicht die Entscheidungen des Bundeskartellamtes, sondern trifft eine eigene Ermessensentscheidung. Dabei prüft das OLG Düsseldorf allenfalls die sachliche Legitimation antizipierter Ermessensausübung durch das Bundeskartellamt. So hat es etwa zur Bonusregelung des Bundeskartellamts zur Rechtmäßigkeit der Beweisverwertung von Bonusanträgen Stellung bezogen, wobei es in diesem Zusammenhang auf die Zulässigkeit der Gewährung von Bußgeldnach- bzw. Bußgelderlässen im Gegenzug für Aufdeckungsbeiträge der Kartellbeteiligten einging, (folgerichtig) nicht aber auf

30 Zur Unzulässigkeit der Forderungen auf Verzicht der vollständigen Akteneinsicht, der formellen Anhörung und der Akzeptanz einer Höchstgeldbuße im Rahmen von Settlements: Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (S. 269 ff.); zur Gefahr der Unterhöhlung des Verbots erzwungener Selbstbezichtigung: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (S. 241 ff.), Teil 2 § 4 F. IV. 3. (S. 318 ff.) und Teil 2 § 5 (S. 328 ff.). Zur Gefahr der Vernachlässigung der Aufklärungspflicht: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.) und der wertenden Einzelfallbetrachtung: Teil 3 § 3 B. II. 2. (S. 428 ff.). Zu der dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geschuldeten Ausdehnung der Kappungsgrenze gemäß § 81 Abs. 4 S. 2 GWB: Teil 3 § 3 B. II. 1. d) (S. 426 ff.). 31 Zum Rechtsschutz Betroffener und geschädigter Dritter: Teil 1 § 2 B. (S. 66 ff.).

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

die rechtmäßige Ausgestaltung der Bonusregelung.32 Ferner ist es Betroffenen aufgrund des weiterhin nicht anerkannten Grundsatzes der „Gleichheit im Unrecht“ verwehrt, einen Anspruch auf Gleichbehandlung geltend zu machen, wenn das Bundeskartellamt in einem vergleichbaren Fall trotz reduzierten Ermessens nicht tätig geworden ist.33 Problematisch ist auch das mögliche Szenario, in dem Betroffene in Settlements getroffene Zusagen des Bundeskartellamts34 gerichtlich durchsetzen wollen, weil die Kartellbehörde ihnen absprachewidrig und – wie im vorstellbaren Falle wahrgenommenen Akteneinsichtsrecht – zu Unrecht die zugesagte Bußgeldreduktion verweigert. Grundsätzlich ist das OLG Düsseldorf nicht an das Settlement gebunden. Nach hier vertretener Auffassung muss das Gericht zwar auch in diesem Fall das Vertrauen des Beschwerdeführers in die Verwirklichung des Settlementvorschlags berücksichtigen, ebenso wie es die Verwertungsverbote des § 257c Abs. 4 S. 3 StPO zu beachten hat, um dessen Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und Art. 19 Abs. 4 GG ausreichend Rechnung zu tragen.35 Geklärt ist die Reichweite des gerichtlichen Rechtsschutzes in diesen praktisch noch nicht relevant gewordenen Fällen jedoch nicht. Auch können problematische Fragen in Bezug auf die zugunsten von Betroffenen erfolgende Ausübung des Verfolgungsermessens gerichtlich nicht geklärt werden. Dazu zählt nicht nur die Berücksichtigung wettbewerbsfremder Erwägungen bei der Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens oder die Ahndung,36 sondern auch die übermäßige, mit Blick auf das Aussageverweigerungsrechts möglicherweise durchaus zwingend wirkende Begünstigung von Kartellbeteiligten durch die parallele Anwendung von Settlement und Bonusregelung. Realistischerweise verbleibt lediglich die Chance, dass andere Betroffene des Bußgeldverfahrens durch Behaupten einer unzulässigen Verwertung von Aussagen kooperierender Betroffener, wie im Falle dreier Entscheidungen des OLG Düsseldorf zur Bonusregelung,37 die „Teilüberprüfung“ der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung des Bundeskartellamtes veranlassen. Aber selbst dies wird ange-

32 OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 409 ff. (juris); Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 45 ff. (juris); Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1738 f.), Rn. 152 ff. (juris). 33 BVerfG, Beschl. 17.3.1959, Az. 1 BvR 53/56, BVerfGE 9, 213 (223); Beschl. v. 17.1.1979, Az. 1 BvL 25/77 – Unterhaltspflichtverletzung, BVerfGE 50, 142, 166 = NJW 1979, 1445 (1448); Beschl. v. 9.10.2000, Az. 1 BvR 1627/95 – Importarzneimittel-Boykott, GRUR 2001, 266 (270), Rn. 52. Ausführlich dazu etwa Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 3 Abs. 1 Rn. 164 ff. 34 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (S. 269 ff.). 35 Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. c) cc) (S. 288 ff.). 36 Siehe dazu Teil 2 § 4 D. (S. 183 ff.). 37 OLG Düsseldorf, Urt. v. 27.3.2006, Az. VI-Kart 3/05 (OWi) – Papiergroßhandel, WuW/E DE-R 1733 (1738 f.), Rn. 167 ff. (juris); Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/ 08 OWi – Transportbetonunternehmen, Rn. 48 ff. (juris).

§ 1 Synopse der Ergebnisse zum Ermessen des Bundeskartellamtes

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sichts der zunehmenden Kooperationsbereitschaft Betroffener eher selten der Fall sein.38 Die fehlende Überprüfbarkeit der (antizipierten) Ermessensausübung lädt das Bundeskartellamt bewusst oder unbewusst zur Ausreizung bestehender Handlungsspielräume in Graubereichen zwischen Rechtsstaatlichkeit und Verfassungswidrigkeit geradezu ein. Jedenfalls hat die Untersuchung gezeigt, dass die unzureichende Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze vielfach zu einer faktischen, freilich unzulässigen Ausdehnung der Entscheidungsspielräume des Bundeskartellamtes führt.

F. Fazit: Weiter Ermessensspielraum und Funktionenballung beim Bundeskartellamt Im Ergebnis machte die Arbeit zweierlei deutlich: Zum einen verfügt das Bundeskartellamt sowohl hinsichtlich der Verfolgung als auch hinsichtlich der Ahndung von Kartellen über einen ausgedehnten, wenig durch Gesetz und höherrangiges Recht vorbestimmten Ermessensspielraum. Zum anderen lässt sich eine mit der 7. GWB-Novelle und der Europäisierung nationalen Kartellverfahrens- und bußgeldrechts intensivierte Konzentration verschiedener staatlicher Funktionen beim Bundeskartellamt ausmachen. Die dem Bundeskartellamt neben den obersten Landesbehörden zugewiesene Funktion als Hüter des Wettbewerbs gemäß § 48 Abs. 1 und Abs. 2 GWB umfasst nicht mehr nur die „bloße“ Anwendung des Kartellrechts bei der Ermittlung und Ahndung von Kartellen. Zunehmenden Einfluss gewinnt darüber hinaus eine gestalterisch „normative“, weitestgehend unüberprüfbare Tätigkeit der Kartellbehörde: Grundsätzlich ist das Bundeskartellamt mit der Durchsetzung des § 1 GWB, aber auch des Art. 101 AEUV gemäß Art. 5 VO 1/2003, § 50 Abs. 1 GWB betraut. Insoweit stellt ihm das Gesetz ein umfangreiches Instrumentarium an Entscheidungsbefugnissen zur Seite,39 die durch weitreichende Ermittlungsbefugnisse flankiert sind. Zur Durchsetzung des Kartellrechts im konkreten Einzelfall sind gemäß § 51 Abs. 2, 3 GWB die als Kollegialorgane ausgestalteten Beschlussabteilungen des Bundeskartellamtes berufen, die justizähnlich entscheiden.40 Die Behandlung eines vermuteten Kartellverstoßes ist in das Ermessen der zuständigen Beschlussabteilung gestellt. Diese wählt traditionell nicht nur die ihrer subjektiven Auffassung nach für richtig gehaltene Maßnahme aus, sondern gestaltet darüber hinaus das einschlägige Verfahren. Entschließt sich die Beschlussabteilung aus Anlass eines vermuteten Kartellverstoßes für die Durchführung eines Bußgeldverfahrens, so kann es sich gemäß § 46 Abs. 1 OWiG ver38 39 40

Dazu und zu seinen Gründen noch Teil 4 § 2 E. I. (S. 550 ff.). Vgl. Teil 2 § 2 (S. 89 ff.). Klaue, in: IM/GWB, § 51 Rn. 5; Nägele, in: FK/Kartellrecht, § 51 Rn. 6.

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

schiedener Ermittlungsmaßnahmen bedienen, die grundsätzlich der Staatsanwaltschaft vorbehalten sind. Die Beschlussabteilung fungiert damit, wie die Staatsanwaltschaft in Strafsachen, zunächst als anklagende Ermittlungsbehörde, ohne dass die Staatsanwaltschaft innerhalb des behördlichen Bußgeldverfahrens beteiligt wäre. Weist die Beschlussabteilung nach, dass die zunächst nur vermutete Zuwiderhandlung tatsächlich begangen wurde, kann dieselbe Beschlussabteilung eben diese Zuwiderhandlung mit einer Geldbuße ahnden. Insofern „urteilt“ sie über die Kartell-Ordnungswidrigkeit, wie ein Strafgericht über Straftaten.41 Dies ergibt sich bereits daraus, dass sie – wie das Gericht – die Frage des Unrechts und der „Schuld“ der Kartellbeteiligten gemäß § 17 Abs. 3 OWiG der Bußgeldentscheidung wertend zugrunde zu legen hat. Daraus folgt, dass der Beschlussabteilung de lege lata auch die Funktion eines Strafgerichts zugewiesen ist. Daran ändert zunächst auch die Möglichkeit des Einspruchs und der Ersetzung der kartellbehördlichen Entscheidung durch das OLG Düsseldorf nichts. Dessen Tätigwerden ist letztlich vergleichbar mit der Berufungsinstanz in Strafsachen. Im behördlichen Bußgeldverfahren fallen auf diese Weise bereits die traditionellen Funktionen der Staatsanwaltschaft und des Richters bei der Verfolgungsbehörde – gesetzlich intendiert – zusammen. Diese (vorläufige) „Machtkonzentration“ beim Bundeskartellamt, die auf den ersten Blick mit mittelalterlichen Inquisitionsprozessen vergleichbar erscheint, wird jedoch dadurch abgemildert, dass Betroffenen mit dem Einspruch ein effektiver Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der dem Beschwerdegericht eine Ersetzungsbefugnis zuweist. Die gemischt rechtsanwendende und beschränkt „rechtsprechende“ Funktion des Bundeskartellamts wurde schon immer durch ein drittes, aus der allgemeinen Organisations-, Geschäftsleitungs- und Dienstgewalt folgendes Recht und – wie § 53 Abs. 1 S. 3 GWB offenbart – durch die Pflicht des Präsidenten des Bundeskartellamtes ergänzt, Verwaltungsgrundsätze zur Ordnung und Leitung des Bundeskartellamtes zu erlassen, die insbesondere zur Verhaltenssteuerung der nachgeordneten Beschlussabteilungen beitragen. Der berechtigte Erlass normkonkretisierender und ermessenslenkender Verwaltungsvorschriften soll eine gleichmäßige, Rechtssicherheit vermittelnde Verwaltungs- und Verfolgungspraxis der Beschlussabteilungen sicherstellen und ist grundsätzlich nicht zu beanstanden. Zum Problem werden Verwaltungsgrundsätze jedoch dann, wenn sie Funktionen erfüllen, die grundsätzlich Gesetzen vorbehalten sind, wenn das Bundeskartellamt also quasi-legislativ tätig wird. Dies kann zu Einbußen in der Rechtssicherheit und zu einem Missverhältnis zwischen dem Bundeskartellamt und der Judikative führen, die grundsätzlich nicht zur Überprüfung des kartellbehördlichen Innenrechts berufen ist. Eben jene Gefahr lässt sich angesichts der Dominanz kartellbehördlicher Verwaltungsgrundsätze im Kartell-Bußgeldverfahren nicht mehr von der Hand weisen. Im Folgenden soll daher die rechtliche, vor 41

So schon Jescheck, JZ 1959, S. 457 ff. (462).

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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allem aber die faktische Funktionsballung beim Bundeskartellamt umfassend anhand verfassungsrechtlicher Grundsätze gewürdigt werden.

§ 2 Das Ermessen des Bundeskartellamtes im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes Eingangs wurde das Ermessen des Bundeskartellamtes im Kartell-Bußgeldverfahren im Hinblick auf Betroffene weit überwiegend als Kompetenz zur vorläufigen Entscheidung und im Hinblick auf Dritte als Kompetenz zur Letztentscheidung über die Anwendung eines Bußgeldtatbestands im konkreten Einzelfall verstanden.42 Der Freiraum der zuständigen Beschlussabteilung des Bundeskartellamtes, der hier abstrakt durch die Grenzen der „schon“ und „noch“ richtigen Entscheidung definiert wurde, entsteht durch die begrenzte Vorprogrammierung gesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen und ermächtigt das Bundeskartellamt dazu, unter Berücksichtigung der Zwecke der Norm und der allgemeinen Rechtsgrundsätze und Grundrechte eine sachgerechte und billige Entscheidung zu treffen. Nach der Konzeption des allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrechts kommt Ermessensentscheidungen des Bundeskartellamtes grundsätzlich jedoch nur dann die Eigenschaft der Letztverbindlichkeit zu, wenn Betroffene eines Bußgeldverfahrens gegen einen Bußgeldbescheid keinen Einspruch einlegen oder ein solcher gar nicht erst ergeht. Die Definition und Charakterisierung des Ermessens als überwiegende Kompetenz zur vorläufigen Entscheidung aufgrund gelockerter Gesetzesbindung und der größtenteils dem Willen des Betroffenen unterworfenen Unabhängigkeit von der Judikative, offenbart dessen verfassungsrechtliche Dimension: Letztlich ist die konkrete Ausgestaltung des kartellbehördlichen Ermessens eine Frage der Abgrenzung der Kompetenzbereiche zwischen dem Gesetzgeber und dem Bundeskartellamt sowie zwischen letzterem und den Gerichten. Ermessenseinräumung, Ermessensausübung und „Ermessenskontrolle“ stellen Ausprägungen des im Grundgesetz verankerten und änderungsfesten Gewaltenteilungsgrundsatzes gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG dar,43 der ein ausgewogenes System von checks and balances zur Freiheitssicherung der Bürger eines modernen Rechtsstaats garantieren will. Wer die durch die Ermessenseinräumung zugesprochene „Macht“ des Bundeskartellamtes im Bußgeldverfahren überzeugend bewerten will, kommt daher nicht umhin, den Zweck und die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Gewaltenteilungsgrundsatzes grundlegend zu berücksichtigen. Dazu bedarf es einer Ver-

42

Teil 1 § 3. (S. 71 ff.). Starck, in: Franßen/Redeker/Schlichter u. a., Bürger, Richter, Staat, S. 167 ff. (172). 43

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

deutlichung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, um die verfassungsrechtlich intendierte Differenzierung der Funktionsbereiche des Bundeskartellamt, des Gesetzgebers und des OLG Düsseldorf aufzuzeigen. Im Anschluss wird das Kartellbußgeldrecht an dem so ermittelten Soll-Verhältnis unter den drei Gewalten gemessen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen aus Sicht der Betroffenen, geschädigter Dritte und der Allgemeinheit aufgezeigt.

A. Grundlagen und Bedeutung des Gewaltenteilungsgrundsatzes Das Grundgesetz ist als freiheitlich liberale Verfassung konzipiert. Ausdruck dessen ist allen voran der – zur Demonstration seiner herausragenden Bedeutung – zu Beginn des Grundgesetzes stehende Grundrechtskatalog der Artikel 1 bis 19 GG, der dem einzelnen Individuum sowohl Freiheits- als auch Gleichheitsrechte garantiert. Die Grundrechte bilden als subjektive Statusordnung gleichzeitig die bedeutsamste Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips,44 welches in dem menschlichen Streben nach Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit angelegt und durch die rechtliche Einengung des staatlichen Machtapparats gekennzeichnet ist.45 Zwar meint Freiheit des Einzelnen im Rechtsstaat nie absolute Unabhängigkeit des isolierten Individuums, sondern Freiheit des Bürgers, also Freiheit innerhalb der Grenzen, die sich aus dem Zusammenleben in der Gemeinschaft ergeben.46 Umgekehrt soll jedoch die vom Volk geschaffene Staatsgewalt zur Aufrechterhaltung größtmöglicher Freiräume des Einzelnen nur auf Grundlage der Verfassung und der auf diese wiederum gründenden Gesetze tätig werden können. Zur Absicherung der materiellen Statusordnung der Grundrechte bestimmt Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, dass alle Staatsgewalt ihren Ursprung im Willen des Volkes nimmt. Die vom Volk durch Wahlen und Abstimmungen gleichermaßen legitimierte wie organisierte Staatsgewalt wird nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG durch die Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung wahrgenommen. Die Bestimmung gilt als grundgesetzlicher Standort des Prinzips der Gewaltenteilung.47 Letztlich deutet sie allerdings nur die Trennung staatlicher Funktionen und ihrer Träger an und trifft keine Aussage über die

44 Zur Entwicklung des Rechtsstaates: Stern, StR I, S. 764 ff.; Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 35 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 18 f.; Kunig, Das Rechtstaatsprinzip, 1986. 45 Vgl. nur Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 5; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 27; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 38. 46 So schon Stern, StR I, S. 789. 47 Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 58; Pieroth, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 23; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 67; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 197.

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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elementare konkrete Gewaltzuordnung.48 Nichtsdestotrotz gilt das durch Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG verwirklichte Teilungsprinzip als grundlegendes Organisations- und Strukturprinzip des Grundgesetzes.49 Nach klassischem montesquieuischem Verständnis dient der Gewaltenteilungsgrundsatz der Begrenzung staatlicher Gewalt als zwingenden Ausgleich für das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol.50 Die Teilung der Staatsgewalt soll verhindern, dass der Einzelne im Staat einer konzentrierten, übermächtigen Staatsgewalt ausgeliefert ist. Sie führt zu Machtmäßigung bzw. Gewalthemmung durch Ausbalancierung der einzelnen Gewalt mit den Gegengewichten der übrigen Gewalten und garantiert auf diese Weise die Freiheit und Würde des Menschen innerhalb des Rechtsstaats.51 Neben diesem staatsabwehrenden Trennungsgedanken bezweckt das Gewaltenteilungsprinzip nach neuerer funktionsbezogener Sicht darüber hinaus effektiveres hoheitliches Handeln. Staatliche Entscheidungen sollen möglichst „richtig“, das heißt von denjenigen Organen getroffen werden, die nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen.52 48 Aus diesem Grund wird in der Literatur vertreten, dass das Grundgesetz keinen Gewaltenteilungsgrundsatz als solchen kennt. Vgl. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 175 m.w. N.; ebenso etwa Hoffmann-Riem, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 10 Rn. 39 (Fn. 180); Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 58; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 47 spricht daher von einem „Dogma“. 49 Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 4, 8; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 67; Sachs, GG, Art. 20 Rn. 81. 50 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 47; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 56; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 201. 51 BVerfG, Urt. v. 18.12.1953, Az. 1 BvL 106/53 – Gleichberechtigung, BVerfGE 3, 225 (247), Rn. 54 (juris); Urt. v. 27.4.1959, Az. 2 BvF 2/58 – Bremer Personalvertretung, BVerfGE 9, 267 (279), Rn. 56 (juris); Urt. v. 10.10.1972, Az. 2 BvL 51/69 – Hessisches Richtergesetz, BVerfGE 34, 52 (59), Rn. 28 f. (juris); Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 49; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 2 ff.; Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 2; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 67 f.; Sachs, GG, Art. 20 Rn. 81; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 23; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 207. 52 BVerfG, Urt. v. 18.12.1984, Az. 2 be 13/83 – Atomwaffenstationierung, BVerfGE 68, 1 (86), Rn. 137 (juris); Urt. v. 12.7.1994, Az. 2 be 3/92 u. a. – Auslandseinsatz der Bundeswehr, BVerfGE 90, 286 (364), Rn. 258 ff. (juris); Beschl. v. 17.7.1996 – Südumfahrung Stendal, BVerfGE 95, 1 (15), Rn. 42 ff. (juris); Urt. v. 14.7.1998, Az. 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218 (251 f.), Rn. 132 (juris); grundlegend: Hesse, in: Müller, Recht als Prozess und Gefüge, S. 261 ff.; Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 10; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 50; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 71; Möllers, Gewaltengliederung, S. 68 f.; Möllers, Die drei Gewalten, S. 49 f.; Maurer, Staatsrecht I, § 12 Rn. 4; Lerche, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 75 ff. (78); Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, S. 47 f.; Sachs, GG, Art. 20 Rn. 81; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 23.

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

Der Gewaltenteilungsgrundsatz bestärkt damit einerseits die Konstituierung der Volkssouveränität als Kernelement des Demokratieprinzips, sichert andererseits aber auch die grundgesetzliche Entscheidung für einen modernen Rechtsstaat durch Teilung, Ausbalancierung, aber auch sachgerechte Funktionszuordnung ab.53

B. Ausgestaltung des Gewaltenteilungsgrundsatzes: Die Kernkompetenzen der drei Staatsgewalten Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG offenbart die grundlegende Gliederung der Staatsorganisation in die eigenständigen und unabhängigen Gewalten54 der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung, schweigt jedoch, gleichermaßen wie Art. 20 GG insgesamt über ihre Funktionen. Der Versuch einer absoluten, verfassungsimmanenten Definition der Gewalten und Aufgabenzuordnung muss daher zwangsläufig scheitern. Der Gewaltenteilungsgrundsatz bezweckt jedoch auch nicht eine Gewaltenteilung im Sinne einer strikten Gewaltenabschottung, sondern – wie gezeigt – eine funktionsgerechte Organisationsstruktur. Ein solches auf Effektivität und Mäßigung der Staatsgewalt gleichermaßen ausbalanciertes Verständnis vom Gewaltenteilungsprinzip schließt es grundsätzlich nicht aus, dass sich Gewalten überlappen und verschränken, ihre Grenzen also fließend verlaufen.55 Vielmehr entspricht es dem Gewaltenteilungsgrundsatz, den Staatsgewalten allein kennzeichnende Aufgaben zuzuweisen und damit ihre Kernkompetenzen abzusichern.56 Diese Kernkompetenzen im Sinne wesensbestimmter Merkmale des jeweiligen Funktionsbereichs dürfen nach der vom BVerfG entwickelten „Kernbereichslehre“ zugleich nicht angetastet werden, sodass keine Gewalt die ihr von der Verfassung zugeschriebenen genuinen Aufgaben verliert.57 Sie lassen sich 53

Möllers, Gewaltengliederung, S. 3; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 10 Rn. 39; Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 11; Kirchhof, in: Isensee, Gewaltenteilung heute, S. 99 ff. (100 f.). 54 Statt aller: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 6. 55 Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 10 Rn. Rn. 39; Sachs, GG, Art. 20 Rn. 81, 85 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 24; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 71; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 2010 ff. 56 Zur funktionalen Gewaltenteilung etwa: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 13 ff.; Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, Rn. 33 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 52 ff.; Möllers, Gewaltengliederung; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 71. 57 BVerfG, Urt. v. 18.12.1984, Az. 2 be 13/83 – Atomwaffenstationierung, BVerfGE 68, 1 (87), Rn. 138 (juris); Beschl. v. 17.7.1996 – Südumfahrung Stendal, BVerfGE 95, 1 (15), Rn. 42 ff. (juris); aus der Literatur: Stern, StR I, S. 541 f.; Schmidt-Aßmann, in:

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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aus einer Gesamtschau der rechtsstaatlichen, demokratischen Wertung des Grundgesetzes, insbesondere dem Art. 20 Abs. 3 GG und den gerichtlichen Kontrollkompetenzen entnehmen.58 Danach nimmt der Gewaltenteilungsgrundsatz seinen Ausgang im parlamentarischen Gesetz und dem Gesetzgeber.59 Der Gesetzgeber genießt, wie sich bereits aus Art. 20 Abs. 3 GG ergibt, den größten Gestaltungsspielraum, denn er ist rechtlich nur der Verfassung unterworfen und steuert die übrigen Gewalten. Die Bestimmung geht stillschweigend von der Allzuständigkeit der gesetzgebenden Gewalt aus.60 Entsprechend den grundrechtlichen und speziellen Gesetzesvorbehalten versteht sich Gesetzgebung als Form politischer Willensbildung über grundlegende Fragen, die einer rechtsverbindlichen, stabilen Entscheidung bedürfen. Die Exekutive regiert und verwaltet in ihrer Funktion als unmittelbar gegenüber dem Bürger staatlich tätig werdendes Organ. Ihre grundlegende Funktion liegt in dem Vollzug der Gesetze, wodurch ihr aber auch erhebliche Auslegungs-, Ermessens- und Gestaltungsspielräume zuwachsen. Hinzu kommen die Eigenorganisation und Normsetzung durch Satzungen, Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften.61 Ihre nähere rechtliche Gestalt erfährt die Verwaltung durch die einfachen Verwaltungsgesetze, die neben Vorschriften zur Verwaltungsorganisation und dem Verfahren auch rechtsstaatliche Elemente, wie das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den subjektiven Rechtsschutz, konkretisieren.62 Wie sich aus Art. 97 Abs. 1 GG ergibt, obliegt es der Rechtsprechung schließlich die zwei anderen Gewalten umfassend am Maßstab des Rechts zu kontrollieren, um den Einzelnen vor übermäßiger Staatsgewalt zu schützen, gleichzeitig aber auch auf eine Durchsetzung des Willens des Volkes durch strikte Gesetzesbindung hinzuwirken.63 Dabei setzt die Rechtsprechung auf gewisse Weise, freiIsensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 56 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 71; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 41; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 214 ff. 58 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 47, 52; ähnlich Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 10 Rn. 39; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 23 ff. 59 Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 18; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 34, 58. 60 Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 79 ff. 61 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 52; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 70 ff.; Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/SchmidtAßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 10 Rn. 43; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 73; Sommermann, in: Mangoldt/Klein/ Starck, GG Bd. 2, Art. 20 Abs. 2 Rn. 219. 62 Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 23. 63 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 52.

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lich nur aus Anlass des konkreten Streitfalls, aber doch mit über diesen hinausreichenden Wirkungen, Recht, und zwar im Wege der Konkretisierung von Rechtsnormen und richterlicher Rechtsfortbildung.64

C. Maßstäbe zur Abgrenzung der Kernkompetenzen der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtsprechung im Bußgeldverfahren Exekutives Ermessen stellt eine Form der Gewaltenverschränkung dar. Der Gesetzgeber überlässt der Verwaltung einen Teilbereich seiner Regelungsbefugnis. Die Verwaltung wendet die Gesetze also nicht allein im Sinne eines Wenn-DannSchemas an, sondern kann im Rahmen ihres Vollzugs konkrete Einzelfälle eigenständig „regeln“ und für eine Vielzahl von Einzelfällen normativ im Wege von Verwaltungsvorschriften tätig werden. Je nachdem welche Kontrollbefugnisse den Gerichten eingeräumt sind, setzt sich der durch die gelockerte Gesetzesbindung geschaffene Freiraum auf der Ebene der Judikative fort, die etwa nur zu einer Rechtmäßigkeitskontrolle befugt ist. Der für den Gewaltenteilungsgrundsatz herausragenden Bedeutung des Gesetzes als Mittel rationaler Herrschaft, das in seiner Eigenschaft als abstrakt-generelle Regelung Willkür verhindert und formelle wie materielle Gleichheit fördert,65 steht es grundsätzlich nicht entgegen, dass die Verwaltung in Eigenverantwortung gewisse Materien selbst regelt oder offene Gesetze konkretisiert. Das Gesetz enthält selten vorgefertigte Lösungen für jeden Einzelfall, sondern überlässt der Verwaltung gezielt Konkretisierungsfreiräume. Dies ist bereits faktisch notwendig, weil nicht für jede Sachmaterie sämtliche Einzelfälle im Voraus bedacht und einer gerechten Lösung zugeführt werden können, und die Formulierung abstrakt-genereller Regelungen darüber hinaus notwendigerweise an sprachliche Grenzen stößt. Ferner sind Ermessensspielräume sachlich gerechtfertigt, da die Verwaltung in vielen Bereichen über eine höhere Fachkompetenz als der Gesetzgeber verfügt, die aus ihrer Spezialisierung und ihrer praktischen Tätigkeit folgt. Aus diesem Grund hat das BVerfG bereits früh Ermessensermächtigungen im Grundsatz für mit der Verfassung vereinbar erklärt.66 Allerdings unterliegt das exekutive Ermessen als Form der Gewaltenverschränkung der Kernbereichslehre. Es stellt sich daher die Frage, wo die Befugnisse der Exekutive im Sinne der Verfassung beginnen und wieweit sie maximal reichen dürfen. Für das Bußgeld-

64 Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1. 1, § 10 Rn. 43. 65 Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 49, 51. 66 BVerfG, Beschl. v. 12.1.1967 – Grundstückverkehrsgesetz, BVerfGE 21, 73 (79), Rn. 16 ff. (juris); Beschl. v. 23.4.1974, Az. 1 BvR 6/74 u. a. – Wohnraumkündigung, BVerfGE 37, 132 (142), Rn. 26 (juris).

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verfahren ist mit anderen Worten zu klären, welche Befugnisse und Pflichten den Gesetzgeber, das Bundeskartellamt und schließlich die Rechtsprechung treffen. I. Das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Verfolgungsbehörde Die obige Kompetenzbeschreibung der einzelnen Gewalten machte deutlich, dass sowohl der Gesetzgeber als auch die Verwaltung normativ tätig werden können. Während der Gesetzgeber sein Augenmerk auf grundlegende Fragen zu richten hat, darf die Verwaltung jene detailliert ausgestalten. Seine Grenze findet die gesetzgeberische Übertragung von Konkretisierungsbefugnissen im allgemeinen Gesetzesvorbehalt als Teilgewährleistung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dem allgemeinem wie besonderem Bestimmtheitsgrundsatz.67 1. Der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes

Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist verfassungsrechtlich in der Gesetzesbindung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG verankert und beschreibt das Gesetz gleichermaßen als Auftrag und als Grenze exekutiven Handelns.68 Dessen unbestrittene erste Teilgewährung, der Vorrang des Gesetzes, verlangt, dass die Verwaltung stets die formellen Gesetze und die Verfassung beachtet und im Rahmen ihres Tätigwerdens nicht überschreitet. Im 2. und 3. Teil dieser Arbeit wurde die Ermessensausübung des Bundeskartellamts ausführlich am Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes gemessen. Mit der hier interessierenden, zweiten Teilgewährung, dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes werden hingegen Sachbereiche beschrieben, die dem parlamentarischen Gesetz vorbehalten, also der autonomen Regelung der Verwaltung entzogen sind,69 und die demgemäß die Wirkbereiche von Gesetzgeber und Verwaltung abgrenzt. Dabei geht es nicht allein um die Frage, ob die Verwaltung aus eigener Machtvollkommenheit handeln oder gestalten darf, sondern auch darum, ob das Parlament eine Entscheidung selbst zu treffen hat, diese also gerade nicht an die Verwaltung delegieren darf.70 67 BVerfG, Beschl. v. 12.11.1958, Az. 2 BvL 4/56 u. a. – Preisgesetz, BVerfGE 8, 274 (276, 325), Ls. 1, Rn. 193–196 (juris); Ents. v. 10.10.1961, Az. 2 BvL 1/59, BVerfGE 13, 153 ff., Rn. 23 f. (juris); Beschl. v. 1.1.1967, Az. 1 BvR 169/63 – Grundstücksverkehrsgesetz, BVerfGE 21, 73 (79), Rn. 17; Beschl. v. 8.8.1978, Az. 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89 (133), Rn. 73 ff., 90 (juris); Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 25 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 72. 68 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 61. 69 BVerfG, Urt. v. 14.7.1998, Az. 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218 (251 f.), Rn. 132 (juris); Reimer, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, § 9 Rn. 24 f.; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 75; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 11; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs VwVfG, § 44 Rn. 46; Maurer, Staatsrecht I, § 8 Rn. 19; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 44. 70 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 14 m.w. N.

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Obgleich die dogmatische Verortung des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts im Sinne eines Parlamentsvorbehalt innerhalb des Art. 20 Abs. 3 GG teilweise bestritten wird,71 kann seine grundsätzliche Geltung in dieser Arbeit vorausgesetzt werden, da die in Art. 20 Abs. 3 GG vorgesehene Bindung der Verwaltung an die Gesetze gegenstandslos wäre, wenn diese jederzeit ohne gesetzliche Ermächtigung tätig werden dürfte.72 Schwieriger zu beantworten und mit der Herleitung des Gesetzesvorbehalts eng verknüpft ist jedoch die Frage, wie weit dieser allgemeine Parlamentsvorbehalt reicht. Unstreitig bedarf es jedenfalls eines Gesetzes für belastendes Verwaltungshandeln. Dies ergibt sich bereits aus den speziellen Gesetzesvorbehalten der Grundrechte, aber auch traditionell aus einem in Anerkennung der Freiheit und des Eigentums in der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre entwickelten allgemeinen „Eingriffsvorbehalt“.73 Mit der zunehmenden Ausdehnung der Kompetenzbereiche der Verwaltung ist allerdings auch die Leistungsverwaltung zu einem bedeutsamen Tätigkeitsfeld der Verwaltung avanciert, die jedenfalls auf den ersten Blick nicht recht unter den „Eingriffsvorbehalt“ zu passen scheint. In ihrer Wirkung überschneiden sich Leistungs- und Eingriffsverwaltung indes vielfach. Das zeigt bereits ein kurzer Blick auf die vom Bundeskartellamt angebotenen Settlements und die Bonusregelung: Zwar mag die Bußgeldermäßigung einerseits den kooperierenden Kartellbeteiligten begünstigen, gleichzeitig lässt sich jedoch die von der gleichwohl ergehenden, wenn auch ermäßigten Geldbuße ausgehende Belastung für den Betroffenen nicht leugnen. Auch aus Sicht von geschädigten Dritten vermag die Belohnung des kooperierenden Kartellbeteiligten „belastend“ sein. Es lag daher nahe den allgemeinen Gesetzesvorbehalt auszudehnen, wobei sich verschiedene Tendenzen abzeichneten.74 Eine Strömung in der Literatur wollte den allgemeinen Gesetzesvorbehalt im Sinne eines Totalvorbehalts auf die gesamte Tätigkeit der Verwaltung ausdehnen.75 Diese Auffassung

71 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 4; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/ Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 63. 72 BVerfG, Beschl. v. 28.10.1975, Az. 2 BvR 883/73 u. a. – Rechtsschutzverfahren im Strafvollzug, BVerfGE 40, 237 (248 f.), Rn. 34 (juris); Beschl. v. 8.8.1978, Az. 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89 (126), Rn. 77 (juris); BVerfGE 78, 179 (197); BVerwG, Urt. v. 29.11.1985, Az. 8 C 105/83, BVerwGE 72, 265 (266), Rn. 12 (juris) m.w. N.; Urt. v. 15.4.1999, Az. 3 C 25/98, BVerwGE 109, 29 (37), Rn. 25 (juris); ebenso in der Literatur etwa: Sachs, in: GG, Art. 20 Rn. 114; Stern, StR I, S. 805; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 65. 73 Dazu etwa Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 74; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 21, 40; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 63; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 12. 74 Im Überblick vgl. etwa: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rn. 97 f. 75 Jesch, Gesetz und Verwaltung, 1961; Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre: Verwaltungsnorm und Verwaltungsrechtsverhältnis, S. 113 ff.

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ist jedoch von der ganz herrschenden Meinung zu Recht abgelehnt wurden. So ist es heute nicht nur allgemein anerkannt, dass die Exekutive über einen Kernbereich eigenverantwortlicher Kompetenzen verfügt.76 Eine lückenlose Gesetzesregulierung würde überdies zu einer Gesetzesflut und dadurch zu einer Überforderung der Verwaltung führen.77 Um die Kompetenzen von Legislative und Exekutive abzugrenzen, kam daher von vornherein lediglich eine Erweiterung des Gesetzesvorbehalts in Betracht, nicht aber dessen Verabsolutierung. Insofern hat das BVerfG in den 1970er Jahren den Gedanken der Wesentlichkeit fruchtbar gemacht und kontinuierlich ausgebaut,78 der mittlerweile auch in der Literatur überwiegend Anerkennung gefunden hat.79 Danach sei der Gesetzgeber verpflichtet, alle wesentlichen, regelungsbedürftigen und regelungsfähigen Entscheidungen selbst zu treffen, und dürfe sie nicht anderen Normgebern überlassen. Anhand der Wesentlichkeit beurteilt das BVerfG nicht nur, ob überhaupt ein Parlamentsgesetz erforderlich ist, sondern gleichzeitig auch wie dieses ausgestaltet sein muss. Konkret bedeutet dies, dass mit zunehmender Wesentlichkeit die Anforderungen an die erforderliche Regelungsdichte steigen. Auch insoweit greift das dem Gesetzesvorbehalt immanente Delegationsverbot. Dem Gesetzgeber soll also jedweder Weg versperrt sein, sich seiner verfassungsrechtlich genuinen Gesetzgebungskompetenz zu entziehen; die Lehre von der Wesentlichkeit duldet 76 BVerfG, Urt. v. 17.7.1984 – Flick-Ausschuss, BVerfGE 67, 100 (139), Rn. 127 (juris); Beschl. v. 17.7.1996 – Südumfahrung Stendal, BVerfGE 95, 1 (15), Rn. 43 (juris); Urt. v. 14.7.1998, Az. 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218 (251 f.), Rn. 132 (juris); Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 23. Zur Kernbereichslehre allgemein auch: Hoffmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 9 ff., S. 56 ff.; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V Rn. 115 ff. 77 So weist etwa Hoffmann-Riem darauf hin, dass es heute zumeist nicht an Gesetzen fehlt, sondern an einer korrekten Abstimmung der bestehenden Gesetze, in: SchmidtAßmann/Hoffmann-Riem, Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, S. 9 ff., 61. 78 BVerfG, Urt. v. 14.3.1972, Az. 2 BvR 41/71 – Grundrechte von Strafgefangenen, BVerfGE 33, 1 (10 ff.); Beschl. v. 9.5.1972, Az. 1 BvR 518/62, 1 BvR 308/64 – Facharztbeschluss, BVerfGE 33, 125 (158 f., 163); Urt. v. 18.7.1972, Az. 1 BvL 32/70, 1 BvL 25/71 – Numerus clausus, BVerfGE 33, 303 (307, 346); Urt. v. 6.12.1972, Az. 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 – Hessische Förderstufe, BVerfGE 34, 165 (192 f.); Beschl. v. 27.1.1976, Az. 1 BvR 2325/73 – Speyer-Kolleg, BVerfGE 41, 251 (259 f.); Beschl. v. 22.6.1977, Az. 1 BvR 799/76 – Hessische Oberstufe, BVerfGE 45, 400 (417 f.); Beschl. v. 21.12.1977, Az. 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 – Sexualkundeunterricht, BVerfGE 47, 46 (79), Rn. 89 ff. (juris); Beschl. v. 20.10.1981, Az. 1 BvR 640/80 – Schulausschluss, BVerfGE 58, 257 (268); Urt. v. 14.7.1998, Az. 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218 (251 ff.); Urt. v. 6.7.1999, Az. 2 BvF 3/90 – Hennenhaltungsverordnung, BVerfGE 101, 1 (34). 79 Statt vieler: Stern, StR I, S. 811 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rn. 11 ff.; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rn. 104 ff.; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 47 ff.; Schnapp, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 1, Art. 20 Rn. 38; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG II, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 103 ff.; Bohnert, OWiG, § 1 Rn. 2; Hömig, in: Schmidt-Aßmann/Sellner/Hirsch u. a., Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, S. 273 ff.

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mithin weder die gänzlich ausbleibende Regelung, noch die Installation offener oder verdeckter Blankettvollmachten.80 Wann es einer parlamentarischen Regelung bedarf und welche Anforderungen an Inhalt und Konkretisierungsgrad der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zu stellen sind, lässt sich nach der Rechtsprechung des BVerfG nur anhand der konkret in Frage stehenden Sachmaterie und den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten, beantworten.81 Im grundrechtsrelevanten Bereich bedeute „wesentlich“ in der Regel „wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte“.82 Obgleich diese stets wiederholt anzutreffende Definition tautologisch erscheint und die Bestimmung der Wesentlichkeit nicht wesentlich erleichtert, ist dem darin zugrunde liegenden Gedanken, entgegen der Kritik an der Offenheit der „Lehre“,83 zuzustimmen. Die Wesentlichkeitslehre beschreibt keinen dogmatischen Ansatz, sondern vielmehr eine heuristische Methode.84 Letztlich ist anhand aller Umstände, bezogen auf die konkret in Rede stehende Sachmaterie, die Bedeutung der Verwaltungsmaßnahme für die Grundrechtsausübung zu bewerten. Im Bußgeldverfahren können für die Wesentlichkeit insbesondere die hohe Intensität des Grundrechtseingriffs der staatlichen Maßnahme, die relative Größe des Adressatenkreises, gravierende finanzielle Auswirkungen, aber auch die Gewichtigkeit der Regelungsmaterie für das Gemeinwesen sprechen.85 Umgekehrt kann der größere Sachverstand des Bundeskartellamts, dessen notwendige Flexibilität und die Überforderung des Gesetzgebers gegen die Annahme eines Gesetzesvorbehalts sprechen.86

80 BVerfG, Beschl. v. 8.8.1978, Az. 2 BvL 8/77 – Kalkar I, BVerfGE 49, 89 (126 f.); Urt. v. 16.6.1981, Az. 1 BvL 89/78 – Privatfunk Saarland, BVerfGE 57, 295 (327); Beschl. v. 27.11.1990, Az. 1 BvR 402/87 – Josefine Mutzenbacher, BVerfGE 83, 130 (142); Urt. v. 6.7.1999, Az. 2 BvF 3/90 – Hennenhaltungsverordnung, BVerfGE 101, 1 (34); Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S. 136 ff.; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 53; Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rn. 106; Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 54. 81 Exemplarisch: BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981 – Schulausschluss, BVerfGE 58, 257 ff., NJW 1982, 921 ff., Rn. 43, 54 ff. (juris). 82 BVerfG, Urt. v. 6.12.1972, Az. 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 – Hessische Förderstufe, BVerfGE 34, 165 (192); Beschl. v. 28.10.1975, Az. 2 BvR 883/73 u. a., BVerfGE 40, 237 (248 f.); Beschl. v. 27.1.1976, Az. 1 BvR 2325/73 – Speyer-Kolleg, BVerfGE 41, 251 (260 f.); Beschl. v. 21.12.1977, Az. 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 – Sexualkundeunterricht, BVerfGE 47, 46 (79); Beschl. v. 27.11.1990, Az. 1 BvR 402/87 – Josefine Mutzenbacher, BVerfGE 83, 130 (140). 83 Krit. etwa Kisker, NJW 1977, S. 1313 ff. (1317 ff.); Stober, BB 1996, S. 1845 ff. (1849); Übersicht bei Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 56. 84 BVerfG, Beschl. v. 21.12.1977, Az. 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 – Sexualkundeunterricht, BVerfGE 47, 46 (79), Rn. 92 (juris). 85 Allgemein im Überblick: Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI Rn. 107; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 56 ff. 86 Vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 14.7.1998, Az. 1 BvR 1640/97 – Rechtschreibreform, BVerfGE 98, 218 (251 ff.); Urt. v. 6.7.1999, Az. 2 BvF 3/90 – Hennenhaltungsverord-

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2. Der Bestimmtheitsgrundsatz

Flankiert wird das aus dem allgemeinen Parlamentsvorbehalt abgeleitete Delegationsverbot im Sinne eines Verbots, Blankoermächtigungen zur Regelung einer als wesentlich erachteten Sachmaterie zu erteilen, durch den Bestimmtheitsgrundsatz. Der allgemeine, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Bestimmtheitsgrundsatz zwingt den Gesetzgeber dazu, Normen so zu formulieren, dass deren Folgen für den Bürger hinreichend vorhersehbar und berechenbar sind, sodass dieser sein Verhalten an den Normen ausrichten kann.87 Wenngleich der Bestimmtheitsgrundsatz damit weniger die funktionsgerechte Gewaltenbalance, sondern vielmehr im Sinn hat, staatliches Handeln für Bürger berechenbarer zu machen, bildet er letztlich die notwendige Ergänzung des aus dem Demokratiewie Rechtsstaatsprinzip folgenden Parlamentsvorbehalts.88 Für das Strafrecht hat der Bestimmtheitsgrundsatz eine spezielle und strengere,89 grundgesetzliche Verankerung in Art. 103 Abs. 2 GG gefunden, der die Bestrafung des Einzelnen ausdrücklich nur aufgrund eines vor der Tat die Strafbarkeit hinreichend bestimmten Gesetzes erlaubt. Wie bereits § 3 OWiG offenbart, gilt Art. 103 Abs. 2 GG auch für Strafen im weiteren Sinne, allen voran für Bußgeldtatbestände.90 Art. 103 Abs. 2 GG stellt die Garantiefunktion der Strafnung, BVerfGE 101, 1 (35); zu weiteren Kriterien: Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof HStR V, § 101 Rn. 66 ff. 87 BVerfG, Ents. v. 7.7.1971, Az. 1 BvR 775/66 – Tonbandvervielfältigung, BVerfGE 31, 255 (264); Beschl. v. 23.4.1974, Az. 1 BvR 6/74 u. a. – Wohnraumkündigung, BVerfGE 37, 132 (142); Beschl. v. 22.6.1977, Az. 1 BvR 799/76 – Hessische Oberstufe, BVerfGE 45, 400 (420); Beschl. v. 12.6.1979, Az. 1 BvL 19/76 – Kleingarten, BVerfGE 52, 1 (41); Beschl. v. 8.1.1981, Az. 1 BvL 3/77, 2 BvL 9/77, BVerfGE 56, 1 (12); Urt. v. 3.11.1982, Az. 1 BvR 210/79 – Sperrguthaben DDR, BVerfGE 62, 169 (183); Beschl. v. 27.11.1990, Az. 1 BvR 402/87 – Josefine Mutzenbacher, BVerfGE 83, 130 (145); Beschl. v. 9.4.2003, Az. 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01 – Kinderexistenzminimum IV, BVerfGE 108, 52 (75); Beschl. v. 3.3.2004, Az. 1 BvF 3/92 – Zollkriminalamt, BVerfGE 110, 33 (53 f.); Beschl. v. 20.6.2012, Az. 2 BvR 1048/11 – vorbehaltene Sicherungsverwahrung, Rn. 117 (juris). 88 BVerfG, Beschl. v. 20.10.1981 – Schulausschluss, BVerfGE 58, 257 ff., NJW 1982, 924, Rn. 63 (juris); ferner: Jarass, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 20 Rn. 54, 57. 89 Kunig, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 27; Pieroth, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 103 Rn. 51; jeweils m.w. N.; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 67; lediglich als Betonung des allg. Bestimmtheitsgrundsatz für das Strafrecht begreifend: Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 Rn. 39. 90 Ganz allgem. M. und st. Rspr, vgl. etwa BVerfG, Ents. v. 3.2.1959, Az. 2 BvL 10/ 56 – Reuegeld, BVerfGE 9, 137 (147), Rn. 45 (juris); Urt. v. 4.2.1975, Az. 2 BvL 5/74 – Zweckentfremdung von Wohnraum, BVerfGE 38, 348 (371), Rn. 69 ff.; Beschl. v. 23.10.1985, Az. 1 BvR 1053/82 – Anti-Atomplakette, BVerfGE 71, 108 (114), Rn. 14; Beschl. v. 30.6.1976, Az. 2 BvR 435/76, BVerfGE 42, 261 (263), Rn. 7 (juris); Beschl. v. 29.11.1989, Az. 2 BvR 1491 u. 1492/87, BVerfGE 81, 132 (135), Rn. 10 (juris); Beschl. v. 1.12.1992, Az. 1 BvR 88/91, 1 BvR 576/91 – Versammlungsauflösung, BVerfGE 87, 399 (411), Rn. 58 (juris); Kammerbeschl. v. 17.11.2009, Az. 1 BvR 2717/ 08 – Klavierspiel am Sonntag, NJW 2010, 754, Rn. 15; ferner aus der Literatur: Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 114 m.w. N.; Rogall, in: KK/OWiG, § 3 Rn. 2;

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

gesetze (im weiteren Sinne) sicher; der mündige Bürger soll im Vorfeld erkennen können, welches Verhalten zu einer staatlichen Sanktion führt und wie hoch diese im Ernstfall ausfällt.91 Dies offenbart gleichzeitig den vordergründigen Zweck des Bestimmtheitsgrundsatzes als Garant für die Subjektstellung aller Personen innerhalb des freiheitlich, rechtsstaatlichen Systems, wie es das Grundgesetz geschaffen und in Art. 1 GG durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde seinen unverrückbaren Ausdruck gefunden hat.92 Der Einzelne kann nur eigenverantwortlich handeln, wenn er anhand der Gesetze eindeutig und mit Sicherheit nachvollziehen kann, wo die Grenzen seiner verfassungsrechtlich garantierten Freiheiten zugunsten eines friedvollen Zusammenlebens innerhalb der Gesellschaft liegen. Bleibt das Recht hingegen intransparent und unvorhersehbar, können individuelle Entscheidungen nicht mehr rational getroffen werden. Der Bürger wird dem Recht nicht nur unterworfen, sondern diesem ausgeliefert; er verliert seine Stellung als selbstverantwortlicher Mensch.93 Daher hat das BVerfG stets die (freiheitsgewährleistende) Funktion des Art. 103 Abs. 2 GG als spezielle rechtsstaatliche Garantie des Vertrauens in die Verlässlichkeit der Rechtsordnung hervorgehoben, die dem Bürger eine klare Orientierung zu geben und unvorhersehbare, staatliche Reaktionen auszuschließen hat.94 Daraus wird zugleich die Bedeutung des Art. 103 Abs. 2 GG als spezifischer Ausfluss der WesentlichkeitsGürtler, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn. 1; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 195; Kunig, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 19; Homig, GG, Art. 103 Rn. 13; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 Rn. 19; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 59; Nolte, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 105; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 27 f. m.w. N. 91 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1969, Az. 2 BvL 15/68, 2 BvL 23/68 – Verfolgungsverjährung, BVerfGE 25, 269 (285), Rn. 73–78 (juris); Urt. v. 4.2.1975, Az. 2 BvL 5/74 – Zweckentfremdung von Wohnraum, BVerfGE 38, 348 (371), Rn. 70; Beschl. v. 1.12. 1992, Az. 1 BvR 88/91, 1 BvR 576/91 – Versammlungsauflösung, BVerfGE 87, 399 (411), Rn. 58 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105 135 (153), Rn. 69 ff. (juris); Beschl. v. 9.12.2004, Az. 2 BvR 930/04 – Jugendstrafe, NJW 2005, 2140 (2141), Rn. 22; umfassend hierzu: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 178, 194 ff. 92 BVerfG, Urt. v. 5.2.2004, Az. 2 BvR 2029/01 – lebenslange Sicherungsverwahrung, NJW 2004, 739 (745), Rn. 136 (juris); Beschl. v. 24.10.1996, Az. 2 BvR 1851/94 u. a. – Mauerschützen, NJW 1997, 929 (930), Rn. 132 f. (juris); umfassend zu diesem Hintergrund: Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 13 ff., 19 ff. 93 BVerfG, Urt. v. 18.7.2005, Az. 2 BvR 2236/04 – Europäischer Haftbefehl, BVerfGE 113, 273 (308), Rn. 98 (juris). 94 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1969, Az. 2 BvL 15/68, 2 BvL 23/68 – Verfolgungsverjährung, BVerfGE 25, 269 (285), Rn. 77 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105, 135 (155 f.), Rn. 67 (juris); Urt. v. 5.2.2004, Az. 2 BvR 2029/01 – lebenslange Sicherungsverwahrung, NJW 2004, 739 (745), Rn. 137, 139 (juris); Urt. v. 18.7.2005, Az. 2 BvR 2236/04 – Europäischer Haftbefehl, BVerfGE 113, 273 (308), Rn. 98 (juris); Beschl. v. 10.3.2009, Az. 2 BvR 1980/07 – Veruntreuung, NJW 2009, 2370 (2371), Rn. 20 (juris).

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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theorie deutlich: der Gesetzgeber darf sich seiner Aufgabe und Pflicht, Strafgesetze und Bußgeldtatbestände derart inhaltlich zu bestimmen, dass sie ihrer Orientierungsfunktion gerecht werden, nicht entziehen, indem er es der Exekutive oder Judikative überlässt, Bußgeldtatbestände hinreichend zu konkretisieren.95 Letztere sind vielmehr dazu berufen die durch die abstrakt-generellen Regelungen geschaffenen Grenzen zu beachten. Damit trägt der spezielle Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG gleichsam dem Gewaltenteilungsgrundsatz Rechnung.96 Zwar widerspricht es der freiheitsgewährenden und kompetenzwahrenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes grundsätzlich nicht, wenn sich der Gesetzgeber allgemeiner, auslegungsbedürftiger Begriffe bedient, um der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden und die hinreichende Anwendbarkeit der Bußgeldtatbestände sicher zu stellen.97 Das BVerfG hat jedoch wiederholt betont, dass eine Sanktionsnorm umso präziser ausgestaltet sein muss, je schwerer die Sanktionsandrohung wiegt.98 Konkret erfasst der in Art. 103 Abs. 2 GG geregelte Bestimmtheitsgrundsatz nach allgemeiner Meinung die sich dem Bürger stellenden Fragen, ob ein bestimmtes Verhalten eine Sanktion gestattet („nullum crimen sine lege“), und wenn ja, welche („nulla poena sine lege“).99 Erstere hat der materielle Straftat95 BVerfG, Beschl. v. 17.1.1978, Az. 1 BvL 13/76 – Vorführung pornographischer Filme, BVerfGE 47, 109 (120), Rn. 38 f. (juris); Beschl. v. 6.5.1987, Az. 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329 (341), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 6.5.1987, Az. 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329 (342 f.), Rn. 39 (juris); Beschl. v. 22.6.1988, Az. 2 BvR 234/87, 2 BvR 1154/ 86, BVerfGE 78, 374 (382), Rn. 25 (juris); Beschl. v. 24.10.1996, Az. 2 BvR 1851/94 u. a. – Mauerschützen, NJW 1997, 929 (930), Rn. 133 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105, 135 (155 f.), Rn. 74 (juris); Beschl. v. 7.10.2008, Az. 2 BvR 1101/08, NVwZ 2009, 239 f., Rn. 7 f. (juris); Beschl. v. 10.3. 2009, Az. 2 BvR 1980/07 – Veruntreuung, NJW 2009, 2370 (2371), Rn. 20 (juris); Beschl. v. 17.11.2009, Az. 1 BvR 2717/08 – Klavierspiel am Sonntag, NJW 2010, 754, Rn. 16 (juris); zum Zusammenspiel von dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts und Art. 103 Abs. 2 GG auch: Homig, GG, Art. 103 Rn. 16; Kunig, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 30. 96 Zu den freiheitsgewährleistenden und kompetenzwahrenden Funktionen des Bestimmtheitsgrundsatzes Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 179 ff.; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 17 ff. m.w. N. 97 Homig, GG, Art. 103 Rn. 14 f. 98 BVerfG, Ents. v. 25.7.1962, Az. BVerfGE 14, 245 (251), Rn. 23 (juris); Beschl. v. 14.5.1969, Az. 2 BvR 238/68 – Grober Unfug, BVerfGE 26, 41 (43), Rn. 12 (juris); Beschl. v. 2 BvL 2/73, BVerfGE 41, 314 (320), Rn. 21 (juris); Beschl. v. 6.5.1987, Az. 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329 (342 f.), Rn. 39 (juris); Beschl. v. 3.6.1992, Az. 2 BvR 1041/88, 2 BvR 78/89 – lebenslange Freiheitsstrafe, BVerfGE 86, 288 (311), Rn. 83 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105, 135 (155 f.), Rn. 74 (juris). 99 BVerfG, Beschl. v. 26.2.1969, Az. 2 BvL 15/68, 2 BvL 23/68 – Verfolgungsverjährung, BVerfGE 25, 269 (285), Rn. 73–78 (juris); Urt. v. 4.2.1975, Az. 2 BvL 5/74 – Zweckentfremdung von Wohnraum, BVerfGE 38, 348 (371), Rn. 70; Beschl. v. 1.12. 1992, Az. 1 BvR 88/91, 1 BvR 576/91 – Versammlungsauflösung, BVerfGE 87, 399

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

bestand, letztere die Rechtsfolgenanordnung der Strafnorm (im weiteren Sinne) zu beantworten. Mit anderen Worten müssen Art und Ausmaß der Strafe als staatliche Antwort auf rechtwidriges Verhalten normativ hinreichend bestimmt sein.100 Übertragen auf das Kartellbußgeldrecht bedeutet dies, dass Art. 103 Abs. 2 OWiG die verfassungsrechtliche Grenze der Vorschriften des § 81 Abs. 2 Nr. 1 GWB i.V. m. § 1 GWB hinsichtlich der Tatbestandsbestimmtheit und des § 81 Abs. 4 GWB i.V. m. § 17 Abs. 1, 2 OWiG im Hinblick auf die Strafandrohungsbestimmtheit bildet. II. Das Verhältnis zwischen Verfolgungsbehörde und Rechtsprechung Art. 19 Abs. 4 GG bildet im grundrechtsrelevanten Tätigkeitsbereich der Verwaltung die wesentliche verfassungsrechtliche Bestimmung für die Abgrenzung der Kernbereiche zwischen Exekutive und Judikative. Diese garantiert vorrangig subjektiven Rechtsschutz, dient jedoch gleichermaßen auch einer objektiven Rechtskontrolle zur Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Status- und Funktionenordnung der Bundesrepublik.101 Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht bzw. die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; mit dem Anspruch des Bürgers auf effektive Rechtskontrolle korrespondiert daher die Pflicht der Judikative, den exekutiven Akt öffentlicher Gewalt wirksam in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nachzuprüfen.102 Wie Art. 20 Abs. 3 GG offenbart, kommt damit dem Gesetz neben der Verfassung eine Schlüsselfunktion zu. Obgleich es dem Gesetzgeber unbenommen ist, der Verwaltung durch Einräumung von Ermessensspielräumen die Kompetenz zur letztverbindlichen Entscheidung zu verleihen, hat er im Bußgeldverfahren umgekehrt zu einer Ausweitung der gerichtlichen Kompetenz hingewirkt und dem Beschwerdegericht die Befugnis zur Letztentscheidung im Sinne einer Ermessensentscheidung einge(411), Rn. 58 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105 135 (153), Rn. 69 ff. (juris); Kammerbeschl. v. 9.12.2004, Az. 2 BvR 930/04 – Jugendstrafe, NJW 2005, 2140 (2141), Rn. 22; umfassend etwa: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 178, 194 ff.; Homig, GG, Art. 103 Rn. 14; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 61. 100 BVerfG, Ents. v. 23.2.1972, Az. 2 BvL 36/71, BVerfGE 32, 346 (362 f.), Rn. 61 (juris); Beschl. v. 17.1.1978, Az. 1 BvL 13/76 – Vorführung pornographischer Filme, BVerfGE 47, 109 (120 f.), Ls. 1, Rn. 39 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105, 135 (155), Rn. 69 (juris). 101 Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 26 Rn. 59. 102 St. Rspr. vgl. nur: BVerfG, Beschl. v. 27.9.1978, Az. 1 BvR 361/78, BVerfGE 49, 220 (226), Rn. 73 (juris); Beschl. v. 11.6.2003, Az. 2 BvR 1724/02 – effektiver Rechtsschutz, BVerfGK 1, 201 (204 f.), Rn. 14 (juris); Urt. v. 3.5.2012, Az. 2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11, Rn. 12 (juris); jeweils m.w. N.

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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räumt. Die Rollen von Bundeskartellamt und OLG Düsseldorf sind folgerichtig bei Einsprüchen des Betroffenen gegen Bußgeldbescheide des Bundeskartellamtes eindeutig geklärt. Nichts anderes gilt de lege lata letztlich für deren Verhältnis in Bezug auf Geschädigte. Jenen sollen nach dem Willen des Gesetzgebers keine justizförmigen Rechtsbehelfe zu Gute kommen. Nach Auffassung des BVerfG ist die Rechtsschutzverwehrung Geschädigter mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar, da weder die Verfassung noch Art. 19 Abs. 4 GG im Besonderen einen Anspruch auf Strafverfolgung gewähre.103 Zwar handele es sich etwa bei Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft, und damit auch des Bundeskartellamtes, um einen Akt öffentlicher Gewalt,104 allerdings garantiere Art. 19 Abs. 4 GG dem Geschädigten nur dann den Zugang zu den Gerichten, wenn dieser geltend machen könne durch den Akt öffentlicher Gewalt in seinen Rechten verletzt zu sein. Art. 19 Abs. 4 GG setze also eine im Interesse des Einzelnen gewährte Rechtsposition voraus, welche sich aus Grundrechten, grundrechtsgleichen Rechten, aber auch aus dem einfachen Recht ergeben könnten, wobei der Gesetzgeber im letzteren Fall dessen Inhalt bestimme.105 Daher genüge es nicht, eine bloße Verletzung von Interessen geltend zu machen. Sofern eine Grundrechtsverletzung nicht in Frage komme, sei entscheidend, ob die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zumindest auch dem Schutz des Geschädigten zu dienen bestimmt ist.106 Diesen hat das BVerfG explizit für die Regelung des § 153a Abs. 1 S. 1 StPO abgelehnt. Hauptregelungszweck sei die Kompensation des öffentlichen Interesses durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen; gehe es um die Beurteilung des öffentlichen Interesses durch die Staatsanwaltschaft, scheide eine Verletzung der Rechte des Geschädigten grundsätzlich aus.107 Auch wenn das Klageerzwingungsverfahren zeige, dass Interessen des Verletzten Berücksichtigung finden können, sei der Gesetzgeber gerade im Bereich kleinerer und mittlerer Kriminalität nicht verpflichtet, dem Verletzten dieses Rechtsbehelfsverfahren einzuräumen.108 Ein Anspruch auf Strafverfolgung könne sich nur ausnahmsweise aus der staatlichen Pflicht, menschliches Leben zu schützen, und aus dem entsprechenden Schutzanspruch aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i.V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG ergeben, „wenn ernstlich zu besorgen ist, dass ein Verzicht auf effektive Untersu103 BVerfG, Beschl. v. 8.5.1979, Az. 2 BvR 782/78, BVerfGE 51, 176 (187), Rn. 36 (juris); Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815 (816), Rn. 12 (juris); Beschl. v. 31.1.2002, Az. 2 BvR 1087/00, Rn. 5 (juris); Beschl. v. 9.4.2002, Az. 2 BvR 710/01, NJW 2002, 2861 Rn. 5 (juris); Beschl. v. 4.2.2010, Az. 2 BvR 2307/06, EuGRZ 2010, 145 ff., Rn. 19. 104 BVerfG, Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815, Rn. 10 (juris). 105 BVerfG, Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815, Rn. 11 (juris). 106 BVerfG, Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815, Rn. 11 (juris). 107 BVerfG, Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815 f., Rn. 12 (juris); Beschl. v. 8.5.1979, Az. 2 BvR 782/78, BVerfGE 51, 176 (187), Rn. 36 (juris). 108 BVerfG, Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815 f., Rn. 12 (juris).

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

chung verdächtiger Todesfälle zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und Gewalt oder im Einzelfall zu einer Gefahrenlage für Leben und Gesundheit führt.“ 109

D. Kernkompetenzverschiebungen im Kartell-Bußgeldverfahren? Aus den vorstehenden Maßstäben zur Abgrenzung der Kernkompetenzen des Gesetzgebers, des Bundeskartellamtes und der Rechtsprechung wird deutlich, dass Gefahren für das vom Gewaltenteilungsgrundsatz intendierte Gleichgewicht der drei Gewalten im Kartell-Bußgeldverfahren allein von einer Seite drohen: Überträgt der Gesetzgeber seine ihm eigentlich zugewiesene Regelungsbefugnis auf das Bundeskartellamt und/oder annektiert letzteres (unter Duldung des Gesetzgebers) dessen Rechtsetzungskompetenz durch eigenmächtige Regelung von Sachmaterien, die dem Gesetzgeber zugewiesen sind, dann führt dies zu einer Kernkompetenzbeschneidung des Gesetzgebers. Angesichts der herausragenden Bedeutung des Gesetzes, das nach traditionellem Verständnis den Ausgangspunkt für die Gewaltenteilung bildet, erscheint es prekär, wenn der Gesetzgeber nicht mehr in der Lage ist, den grundlegenden Willen des Volkes in abstrakt-generelle Regelungen zu gießen. Damit untergräbt er nicht nur seine eigene Bedeutung als Repräsentationsorgan des Volkes, sondern stellt darüber hinaus das Demokratieprinzip auf unsichere Füße.110 Ferner kann ein Kompetenzzuwachs beim Bundeskartellamt mittelbar zu einem Verlust gerichtlichen Rechtsschutzes führen. Denn die durch unbestimmte oder fehlende Gesetze geschaffenen Unsicherheiten setzen sich letztlich vor den Gerichten fort, für die es immer schwieriger wird, eine konsistente Rechtsprechung zu entwickeln. Ob ein solches durch fehlende oder unbestimmte Regelungen begründetes Ungleichgewicht innerhalb des KartellBußgeldverfahrens bereits gegeben ist, soll im Folgenden untersucht werden. Dazu wird auf zwei Aspekte einzugehen sein. Da das Bundeskartellamt zur konkreten Beantwortung der Fragen, ob es ein Kartell verfolgt und mit welcher Geldbuße es das Kartell ahndet, gemäß § 47 Abs.1 OWiG und § 81 Abs. 4 GWB gesetzlich ermächtigt wurde, geht es zunächst vorwiegend um die Frage, ob diese gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen eine ausreichende Regelungsdichte im Sinne der Wesentlichkeitstheorie bzw. im Sinne des diese konkretisierenden Bestimmtheitsgrundsatzes aufweisen (I. und II.). Im Anschluss geht die Untersuchung der Frage nach, ob die wesentlichen, das Kartell-Bußgeldverfahren bestimmenden kriminaltaktischen Verfolgungsinstrumente, nämlich die Bonusregelung und die Settlement-Praxis einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfen (III.).

109 110

BVerfG, Beschl. v. 4.2.2010, Az. 2 BvR 2307/06, EuGRZ 2010, 145 ff., Rn. 19. Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof HStR II, § 27 Rn. 55.

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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I. Hinreichende Regelungsdichte des § 47 Abs. 1 OWiG? § 47 Abs. 1 OWiG regelt für das Bußgeldverfahren die umfassende Geltung des Opportunitätsprinzips. Im 2. Teil der Arbeit wurde deutlich, dass es für Normadressaten eines Bußgeldtatbestands mit der dadurch begründeten Handlungsalternativität schwierig zu bestimmen sein kann, ob ein deliktisches Verhalten vom Bundeskartellamt auch tatsächlich verfolgt wird. 1. Keine Anwendbarkeit des Art. 103 Abs. 2 GG

Obgleich Art. 103 Abs. 2 GG Orientierungsprobleme des Bürgers verhindern will, schützt dieser nicht unmittelbar vor Unsicherheiten bezüglich der Frage, ob rechtswidriges Verhalten eine Strafverfolgung nach sich zieht. Vielmehr bezweckt der Bestimmtheitsgrundsatz einen umfassenden Schutz vor unvorhersehbarer Strafbarkeit und unvorhersehbaren Strafen. Dementsprechend verlangt Art. 103 Abs. 2 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG eine hinreichende Tatbestands- und Strafandrohungsbestimmtheit von materiellen Bußgeldtatbeständen.111 Als verfahrensrechtliche Vorschrift trifft § 47 Abs. 1 OWiG jedoch selbst keinerlei Aussage darüber, ob ein Verhalten ordnungswidrig ist und wie dieses geahndet werden kann, sondern führt das materielle Ordnungswidrigkeitenrecht konsistent fort, indem es die Verfolgungsbehörde zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten ermächtigt. Ob der Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG auch auf derartige prozessrechtliche Ermächtigungen auszudehnen ist, erscheint indes fraglich. Für das Strafverfahren wird dies befürwortet. Aus dem Demokratieprinzip, dem Gleichbehandlungsgebot und dem Rechtsstaatsprinzip folge, dass der Gesetzgeber den Strafverfolgungsbehörden die Strafverfolgung nicht selbst überlassen dürfe, sondern die wesentlichen Maßstäbe, die für einen Verfolgungsverzicht sprechen, selbst regeln müsse.112 Diese Auffassung macht im vom Legalitätsprinzip beherrschten Strafverfahren Sinn, da grundsätzlich jede Straftat zu verfolgen ist. Dieses Prinzip würde ausgehöhlt, wenn es der Staatsanwaltschaft überlassen bliebe, zu entscheiden, ob sie im konkreten Fall auf Ermittlungen verzichtet. Daher hat der Gesetzgeber die wesentlichen Gründe, die einen Verzicht auf Strafverfolgung rechtfertigen können, selbst zu regeln. Im Bußgeldverfahren soll die Verfolgungsbehörde hingegen nicht von vornherein verpflichtet sein, jede Ordnungswidrigkeit zu verfolgen, sondern nach pflichtgemäßem Ermessen ent111

Vgl. oben Teil 4 § 2 C. I. 2. (S. 507 ff.). BVerfG, Beschl. v. 20.10.1977, Az. 2 BvR 631/77, BVerfGE 46, 214 (222 f.), Rn. 30 ff. (juris); vgl. auch Rieß, NStZ 1981, S. 2 ff. (4); Hamm, NJW 1996, S. 2981 f. (2982); Schmidt-Jortzig, NJW 1989, S. 129 ff. (138); Jung, Straffreiheit für den Kronzeugen?, S. 62; Jaeger, Der Kronzeuge unter besonderer Berücksichtigung von § 31 BtMG, S. 53; Kapahnke, Opportunität und Legalität im Strafverfahren, S. 74 f. 112

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scheiden, ob ihr Tätigwerden geboten ist. Die strengen Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG können dementsprechend nicht unreflektiert auf das Bußgeldverfahren übertragen werden. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass bei schwerwiegenden, straftatbestandsähnlichen Ordnungswidrigkeiten, wie Hardcore-Kartellen, in der Regel das Ermessen der Verfolgungsbehörde reduziert ist, da der generelle Wille des Gesetzgebers darauf zielt, der Verfolgungsbehörde einen größtmöglichen Handlungsspielraum zu belassen. Diese Zielbestimmung darf nicht durch überzogene Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermessensnorm untermindert werden. 2. Unzureichende Konkretisierung nach den Maßstäben des allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes?

Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG steht die mit der Ermessenseinräumung an die Verwaltung naturgemäße, partielle Unberechenbarkeit behördlichen Verhaltens nicht grundsätzlich dem (allgemeinen) Bestimmtheitsgrundsatz entgegen.113 Der Gesetzgeber trägt diesem vielmehr ausreichend Rechnung, wenn der gewährte Ermessensspielraum durch den Gesetzeszweck, durch Abwägungsmaßstäbe und tatbestandliche Bindungen hinsichtlich der Art und des Ausmaßes möglicher Eingriffsbefugnisse hinreichend begrenzt ist, um für den Bürger eine ausreichende Orientierungswirkung zu entfalten, der Exekutive genügend Anhaltspunkte für die Ermessensausübung und der Judikative eben jene zur Kontrolle der Ermessensausübung an die Hand zu geben.114 Diese Begrenzungen müssen nicht explizit innerhalb der Ermessensnorm erfolgen, sondern können sich, je nach geregelter Sachmaterie, auch durch Auslegung der Norm, insbesondere ihrem Zweck, ihrer systematischen Einordnung und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben, die die Grenzen für eine pflichtgemäße Ermessensausübung bilden.115 Denkbar wäre daher allenfalls, dass der Gesetzgeber die 113 BVerfG, Beschl. v. 21.11.1958, Az. 2 BvL 4/56 u. a., BVerfGE 8, 274 (326), Rn. 133 ff. (juris); Beschl. v. 16.2.1965, Az. 1 BvL 15/62, BVerfGE 18, 353 (363), Rn. 21 (juris); Beschl. v. 19.4.1978, Az. 2 BvL 2/75 – ausländische Einkünfte, BVerfGE 48, 210 (222), Rn. 42 ff. (juris); Beschl. v. 1.12.1992, Az. 1 BvR 88/91, 1 BvR 576/91 – Versammlungsauflösung, BVerfGE 87, 399 (411), Rn. 59 (juris); Beschl. v. 3.3.2004, Az. 1 BvF 3/92 – Zollkriminalamt, BVerfGE 110, 33 (54 f.), Rn. 102 bis 106 (juris). 114 BVerfG, Ents. v. 3.2.1959, Az. 2 BvL 10/56 – Reuegeld, BVerfGE 9, 137 (147), Rn. 53 (juris); Beschl. v. 16.2.1965, Az. 1 BvL 15/62, BVerfGE 18, 353 (363), Rn. 20 ff. (juris); Beschl. v. 8.1.1981, Az. B BvL 3/77, 2 BvL 9/77, NJW 1981, 1311, Rn. 41; Beschl. v. 17.7.2003, Az. 2 BvL 1/99 u. a. – Altenpflegeausbildungsumlage, BVerfGE 108, 186 (235), Rn. 176; Beschl. v. 3.3.2004, Az. 1 BvF 3/92 – Zollkriminalamt, BVerfGE 110, 33 (54 f.), Rn. 102 bis 106 (juris); Beschl. v. 3.9.2009, Az. 2 BvR 1826/09 – Auslieferungsentscheidung, Rn. 22 (juris). Vgl. auch Grzeszick, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 63. 115 BVerfG, Ents. v. 3.2.1959, Az. 2 BvL 10/56 – Reuegeld, BVerfGE 9, 137 (147), Rn. 52 bis 54 (juris).

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Handlungsoptionen in § 47 Abs. 1 OWiG jedenfalls mit Blick auf den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatz nicht ausreichend konkretisiert hat. In der Literatur finden sich hierzu nur wenige Stellungnahmen. Maiazza meint, dass § 47 Abs. 1 OWiG ohne Integration des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals des „öffentlichen Interesses“ zwangsläufig zu unbestimmt wäre, da die Verfolgungsbehörde andernfalls „frei“ entscheiden würde, ob der prinzipiell bestehende, strenge Normbefehl materieller Bußgeldtatbestände auch in der Rechtswirklichkeit durchgesetzt werde. Mangels ausdrücklicher, gesetzlicher Maßstäbe könne der Bürger nämlich nicht erkennen, ob er dem Gleichbehandlungsgebot entsprechend behandelt werde; die unbestimmte Alternativität, die durch die Unvorhersehbarkeit des Eingriffs und der mangelnden Vergleichbarkeit mit anderen Fällen begründet werde, beeinträchtige die allgemeine Handlungsfreiheit i.V. m. dem Gleichheitssatz.116 Nach oben beschriebener Auffassung des BVerfG bestünde allerdings nur dann eine verfassungsrechtlich kritische, gesetzliche Unbestimmtheit, wenn der Gesetzgeber § 47 Abs. 1 OWiG nicht nach Anlass, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend konkretisiert hätte. Zunächst ist festzustellen, dass das Bundeskartellamt nach der Vorschrift nur zu fest umrissenen Eingriffshandlungen ermächtigt ist, nämlich zur Einleitung eines Bußgeldverfahrens und zur Ahndung einer Kartell-Ordnungswidrigkeit bzw. zur sanktionslosen Nichtverfolgung einer Ordnungswidrigkeit. Was per definitionem ordnungswidrig ist, bestimmen wiederum die materiellen Bußgeldtatbestände des § 81 GWB i.V. m. § 1 GWB, Art. 101 AEUV in Zusammenschau mit § 1 OWiG. Deren jeweilige Wertungen fließen in § 47 Abs. 1 OWiG ein, sodass das Bundeskartellamt, bevor es ein Bußgeldverfahren einleitet und ein solches mit einer Verhängung einer Geldbuße abschließt, davon ausgehen bzw. sicher wissen muss, dass eine Kartell-Ordnungswidrigkeit verwirklicht wurde.117 Denn letztlich wird das Opportunitätsprinzip im Ordnungswidrigkeitenrecht doppelt markiert, indem neben der Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG die Bußgeldtatbestände des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts mit der Rechtsfolgeanordnung versehen sind, dass das beschriebene rechtswidrige Verhalten mit einem Bußgeld geahndet werden „kann“.118 Das Ausmaß der drohenden Sanktion, also die Höhe der Geldbuße ist ebenfalls innerhalb der 116

Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 74 ff. Zuzugeben ist jedoch, dass der Gesetzgeber die Regelung des § 47 Abs. 1 S. 1 OWiG im Sinne einer eindeutigeren Lesart konkreter hätte formulieren können. Möglich wäre etwa nach dem Vorbild des § 152 Abs. 2 StPO folgender Wortlaut gewesen: „Sofern Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Ordnungswidrigkeit vorliegen, liegt ihre Verfolgung im pflichtgemäßen Ermessen der Verfolgungsbehörden.“ Zum Anfangsverdacht siehe: Teil 2 § 1 B. I. (S. 77 ff.). 118 Vgl. insoweit zutreffend: Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 145; Hannich, in: RRH/OWiG, § 47 Rn. 1. 117

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materiellen Bußgeldtatbestände, genauer im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht in § 81 Abs. 4 GWB geregelt. Darüber hinaus offenbaren die Vorschriften des § 46 Abs. 2 OWiG und der §§ 30 ff. GWB, welche Handlungsoptionen dem Bundeskartellamt zur Verfügung stehen. Dementsprechend konkretisieren und begrenzen andere Rechtsvorschriften die Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamtes hinsichtlich Anlass (Bestimmung der Ordnungswidrigkeit), Gegenstand (Verfolgung und Ahndung) und Ausmaß (Höhe der Geldbuße), sodass es in § 47 Abs. 1 OWiG weder einer wiederholenden Konkretisierung bedarf, noch eine solche de facto aufgrund der Vielfältigkeit unterschiedlicher Ordnungswidrigkeiten möglich wäre. Vielmehr ist die allgemeine, dem besonderen Ordnungswidrigkeitenrecht vorangestellte Ermächtigungsgrundlage stets in Zusammenhang mit den sie ebenfalls bestimmenden, im systematischen Kontext stehenden materiellen Bußgeldtatbeständen, nämlich § 81 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 GWB zu würdigen.119 Letztere begrenzen die Eingriffsbefugnisse des Bundeskartellamtes und dienen dazu, den Einzelnen über die Handlungsoptionen des Bundeskartellamtes zu orientieren, um die Durchführung eines Bußgeldverfahrens und den Erlass einer Geldbuße sowie deren jeweilige inhaltliche und sachliche Beschränkungen hinreichend zu überblicken. Freilich kann der (potentielle) Kartellbeteiligte mit der Qualifikation eines Verhaltens als Zuwiderhandlung gegen § 1 GWB und Art. 101 AEUV von § 47 Abs. 1 OWiG immer noch nicht ablesen, ob und gegebenenfalls wann das Bundeskartellamt ihn verfolgen wird, und warum es etwa bei ihm tätig wird, bei anderen Tätern aber gleichwohl untätig bleibt. Insofern führt das Opportunitätsprinzip zwangsläufig zu Orientierungsproblemen. Gleichwohl erfordert es das Rechtsstaatsprinzip nicht, dass der Gesetzgeber die Verfolgungsbehörde im Allgemeinen und das Bundeskartellamt im Besonderen in bestimmten Fällen einer Tatbestandsverwirklichung verpflichtet, die gesetzlich umschriebenen Handlungsoptionen zu ergreifen oder ihr umgekehrt konkrete Konstellationen vorgibt, wann sie davon ausnahmsweise absehen darf.120 Dies hat das Bundeskartellamt anhand des Gesetzeszwecks und den Umständen des Einzelfalls im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung vielmehr selbst zu bestimmen. Der Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG, nämlich die Ermessensausübung im öffentlichen Interesse, ließ sich in dieser Arbeit mithilfe einer historischen, systematischen und teleologischen Auslegung ohne Zweifel bestimmen.121 Es bedarf daher keiner künstlichen Integration des Zwecks als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal. Es macht überdies keinen Unterschied, ob das Bundeskartellamt das öffentliche Interesse innerhalb seiner Ermessensausübung zu berücksichtigen hat oder aber – 119

Insoweit zutreffend: Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 76 (Fn. 402). BVerfG, Ents. v. 3.2.1959, Az. 2 BvL 10/56 – Reuegeld, BVerfGE 9, 137 (147), Rn. 54 (juris). 121 Teil 2 § 3 B. (S. 111 ff.). 120

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wie die Staatsanwaltschaft – zunächst feststellen muss, ob wegen des (fehlenden) „öffentlichen Interesses“ überhaupt noch ein Ermessenspielraum eröffnet ist.122 Hier wie da handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der dem Bundeskartellamt aufgrund seiner Auslegungsbedürftigkeit ohnehin große Wertungsspielräume belässt und nur in bestimmten Fällen, nämlich Hardcore-Kartellen, zu einer Ermessensreduktion auf null im Sinne einer Verfolgungspflicht führt. Das öffentliche Interesse ist letztlich zu beachten, ob nun als Tatbestandsmerkmal oder als heteronome Ermessensgrenze und als steuernde Ermessensdirektive.123 Daher kann die Vorschrift des § 47 Abs. 1 OWiG im Ergebnis nicht als mit der Verfassung unvereinbar unbestimmt qualifiziert werden, wenn das öffentliche Interesse nicht aus der Ebene der Ermessensausübung in einen – künstlich geschaffenen – Tatbestand übertragen wird. Ebenso wenig beeinträchtigt die durch die Ermessenseinräumung geschaffene Ungewissheit über staatliche Verfolgungsmaßnahmen die allgemeine Handlungsfreiheit Betroffener vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgebotes.124 Soweit das Bundeskartellamt sein Verfolgungsermessen pflichtgemäß ausübt und alle Umstände des Einzelfalls abwägt, besteht bereits kein rechtswidriges, staatliches Handeln. Im Übrigen ist nach wie vor höchstrichterlich anerkannt, dass es keine Gleichheit im Unrecht gibt.125 3. Ergebnis

Die gesetzlich geschaffene, verfahrensrechtliche Handlungsalternativität tangiert nicht den allein für das materielle Bußgeldrecht essentiellen Bestimmtheitsgrundsatz.126 Entscheidend ist, dass die Bußgeldtatbestände hinsichtlich ihres – 122 Nach Maiazzas Verständnis würde es sich bei § 47 Abs. 1 OWiG um eine Kopplungsvorschrift handeln. Auf der Tatbestandsebene würden sämtliche relevanten Umstände bereits geprüft werden, die im Ausnahmefall dazu führen, dass auf der Rechtsfolgeseite keine Handlungsalternativen mehr bleiben. Vgl. zu dieser bestehenden Rechtslage hinsichtlich des „Einstellungsermessens“ der Staatsanwaltschaft: Teil 1 § 2 A. II. 2. b) (S. 63 ff.). 123 Insoweit gilt nichts anderes als im allgemeinen Verwaltungsrecht, siehe Teil 1 § 1 C. I. (S. 45 ff.). 124 Dies folgt für Täter, gegen die ein Verfahren schon gar nicht eingeleitet wird oder ein bereits eröffnetes Verfahren wieder eingestellt wird, schon daraus, dass es an einem Grundrechtseingriff fehlt. A.A. Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 76 ff. 125 BVerfG, Beschl. v. 17.1.1979, Az. 1 BvL 25/77 – Unterhaltspflichtverletzung, NJW 1979, 1445 (1448), Rn. 59 (juris); Beschl. v. 9.10.2000, Az. 1 BvR 1627/95, GRUR 2001, 266 (270), Rn. 52 (juris); BVerwG, Urt. v. 26.2.1993, Az. 8 C 20/92, NJW 1993, 2065 (2066), Rn. 14 (juris); Urt. v. 13.12.2006, Az. 6 C 17/06, GewArch 2007, 247 ff., Rn. 25 (juris); BGH, Beschl. v. 28.6.2011, Az. 1 StR 282/11, NJW 2011, 2597 (2598), Rn. 13 (juris); Beschl. v. 27.6.2012, Az. XII ZR 89/10, Rn. 47 (juris). 126 Auf den relevanten Unterschied zwischen dem den materiellen Recht zuzuordnenden Bestimmtheitsgrundsatz und dem zum formellen Recht zugehörigen Opportunitätsprinzip weisen zutreffend auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 30 f. hin. Etwas anderes gilt freilich für Straftaten: Das Legalitätsprinzip dient gerade der gleichmäßigen, vorherseh-

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hier nicht zu untersuchenden – Tatbestandes und hinsichtlich ihrer – im folgenden Abschnitt zu untersuchenden – Rechtsfolge hinreichend bestimmt sind. Zwar ist aus den Defiziten, die sich mit der Einräumung von Ermessensspielräumen im Verfahrensrecht ergeben, zu schließen, dass erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit des materiellen Ordnungswidrigkeitenrechts zu stellen sind.127 Dies ändert jedoch nichts daran, dass Kartellbeteiligte angesichts der bestehenden Kartellbußgeldtatbestände von vornherein mit der Möglichkeit eines Bußgeldverfahrens und dem Erlass einer Geldbuße gemäß § 81 Abs. 4 GWB rechnen können und müssen. Weder Art. 103 Abs. 2 GG noch der allgemeine Bestimmtheitsgrundsatz erfordern insoweit eine noch konkretere Festlegung auf ein Entscheidungsprogramm. Dies gilt unabhängig davon, dass die Angemessenheit des Opportunitätsprinzips bei der Verfolgung schwerwiegender, qualitativ mit Straftaten vergleichbarer Ordnungswidrigkeiten ohnehin fragwürdig ist.128 Denn in diesen Fällen kann eine pflichtgemäße Ermessensausübung im Regelfall nur zu dem Ergebnis kommen, dass das in Frage stehende Hardcore-Kartell im Wesentlichen zu verfolgen und zu ahnden ist.129 II. Hinreichende Regelungsdichte des § 81 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GWB? § 81 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GWB regeln das Bußgeldhöchstmaß für Kartell-Ordnungswidrigkeiten. Als Sanktionsvorschriften sind sie mithin am Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG als grundgesetzliche Ausformung des Teilaspekts der Wesentlichkeitstheorie zu messen. Insoweit wurde an anderer Stelle bereits festgestellt, dass sich natürliche Personen einem weiten Sanktionsrahmen zwischen fünf und einer Million Euro gegenübersehen, der durch die Zumessungskriterien im konkreten Fall nur relativ begrenzt wird. Als weitaus problematischer erwies sich darüber hinaus die Rechtslage bei juristischen Personen aufgrund der in § 81 Abs. 4 S. 2 GWB lediglich geregelten Kappungsgrenze. Unter baren und gerechten Strafverfolgung. Zur Frage, inwieweit aus diesen Gründen auch bei schweren Ordnungswidrigkeiten eine Verfolgungspflicht geboten ist, vgl. Teil 2 § 3 II. D. 3. a. (S. 129 ff.). 127 Zutreffend: Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 30 f. 128 Dies ergibt sich aus der hier vertretenen Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit von Hardcore-Kartellen. Vgl. Teil 2 § 3 B. III. 2. b) (S. 132 ff.). Wenn diese – ihrer Qualität und der Höhe der angedrohten Geldbuße entsprechend – der Strafbarkeit zugeführt würden, bestünde wegen des Legalitätsprinzips eine gesetzliche Verpflichtung zur Verfolgung. Unsicherheiten in Bezug auf die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des „öffentlichen Interesses“ würden vermieden. Sehr krit. auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 29 ff. (Resümierend auf S. 34: „Die traditionellen Schuhe des Ordnungswidrigkeitenrechts sind angesichts der Entwicklung „großer“ Ordnungswidrigkeiten zu klein geworden [. . .].“ 129 Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.).

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Berücksichtigung einer Entscheidung des BVerfG zur Unvereinbarkeit der Vermögensstrafe mit dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG130 nimmt die überwältigende Mehrheit in der Literatur an, dass § 81 Abs. 4 S. 2 GWB den Anforderungen, die an die Strafandrohungsbestimmtheit von Straf- und Bußgeldnormen zu stellen sind, (wohl) nicht gerecht werde.131 Wenige andere Stimmen in der Literatur, aber auch das OLG Düsseldorf und der BGH halten die Vorschrift hingegen für mit dem Bestimmtheitsgrundsatz vereinbar, insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Rechtsprechung des BVerfG nicht auf die Bußgeldbestimmungen im Kartell-Ordnungswidrigkeitenrecht übertragen ließen.132 Da die Literatur das besagte Urteil des BVerfG als archimedischen Punkt der Strafandrohungsbestimmtheit („nulla poena sine lege“)133 von Bußgeldtatbeständen im Allgemeinen und des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB im Besonderen auserkoren hat, soll es bei der folgenden Untersuchung besondere Berücksichtigung finden. 1. Der im Vermögensstrafe-Urteil entwickelte notwendige Grad der Strafandrohungsbestimmtheit bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen

In ständiger Rechtsprechung verlangt das BVerfG, unabhängig von der Entscheidung zur Vermögensstrafe, dass Art und Ausmaß der Strafe als staatliche Antwort auf rechtwidriges Verhalten normativ bestimmt sein müssen.134 Dabei 130 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, BVerfGE 105, 135 ff. = NJW 2002, 1779 ff. 131 Achenbach, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 245 f.; Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (17 ff.); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 346 ff.; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 26; ders., in: Möschel, 50 Jahre Wettbewerbsgesetz in Deutschland und in Europa, S. 61 ff. (67 f.); Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48c; Bach, in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 1 ff. (4 ff.); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1004); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (252, 256); Bach/ Klumpp, NJW 2006, S. 3524 ff. (3529); Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (943 ff.); ders., in: Bechtold/Brinker/Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 81 ff. (94); Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (33 ff.); Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (716); Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33); Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (148); umfassend: Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz., passim. 132 BGH, Beschl. v. 26.2.2013, KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 59 ff.; OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 606 ff., 627 (juris); Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff.; Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (464 ff.); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (170 f.); Vollmer, in: MK/GWB, § 81 Rn. 98 ff.; Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (341 ff.); Cramer/Pananis, in: LMR/ Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 60 sowie Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 150. 133 Zum Begriff und dessen Abgrenzung zur Tatbestandsbestimmtheit siehe schon: Teil 4 § 2 C. I. 2. (S. 507 ff.). 134 BVerfG, Ents. v. 23.2.1972, Az. 2 BvL 36/71, BVerfGE 32, 346 (362 f.), Rn. 61 (juris); Beschl. v. 17.1.1978, Az. 1 BvL 13/76 – Vorführung pornographischer Filme, BVerfGE 47, 109 (120 f.), Ls. 1, Rn. 39 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779, Rn. 69 (juris).

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widerspreche es der freiheitsgewährenden und kompetenzwahrenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes zwar grundsätzlich nicht, wenn sich der Gesetzgeber im Rahmen des Tatbestands allgemeiner, auslegungsbedürftiger Begriffe bediene, um der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden und die hinreichende Anwendbarkeit der Bußgeldtatbestände sicher zu stellen. Das BVerfG hat jedoch wiederholt betont, dass eine Sanktionsnorm umso präziser ausgestaltet sein müsse, je schwerer die Sanktionsanordnung wiege.135 In seinem Urteil zur Vermögensstrafe hat das BVerfG diejenigen Anforderungen konkretisiert, die an die Strafandrohungsbestimmtheit von Strafnormen zu stellen sind, die besonders intensive staatliche Grundrechtseingriffe gestatten. Um eine solche Norm handelte es sich nach Auffassung des BVerfG bei der Vorschrift des § 43a StGB, die dem Strafrichter bei bestimmten, gesetzlich konkretisierten Straftaten neben einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder einer solchen von mindestens zwei Jahren die Verhängung einer zusätzlichen monetären Strafe gestatten sollte, die lediglich durch das Vermögen des Täters begrenzt ist.136 Dabei hat es zunächst herausgestellt, dass es nicht zu beanstanden sei, wenn der Gesetzgeber ein abstraktes Höchstmaß an Präzision im Sinne von absolut festgelegten Strafen missen lässt.137 Im Gegenteil. Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wirkten umgekehrt begrenzend auf die Reichweite des Bestimmtheitsgrundsatzes. Im Einzelfall habe die verhängte Strafe in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der verwirklichten Schuld zu stehen.138 Der Strafrichter dürfe daher durch eine gesetzliche Regelung nicht dazu gezwungen sein, eine Strafe zu verhängen, die dem Unrecht und der Schuld nach seiner Überzeugung nicht entspreche.139 Dementsprechend bilden Bestimmtheitsgrundsatz, Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz also gleichermaßen die Direktiven wie Grenzen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers;140 sie sind Optimierungsgebote für gesetzgeberische Entscheidun-

135 BVerfG, Ents. v. 25.7.1962, Az. BVerfGE 14, 245 (251), Rn. 23 (juris); Beschl. v. 14.5.1969, Az. 2 BvR 238/68 – Grober Unfug, BVerfGE 26, 41 (43), Rn. 12 (juris); Beschl. v. 2 BvL 2/73, BVerfGE 41, 314 (320), Rn. 21 (juris); Beschl. v. 6.5.1987, Az. 2 BvL 11/85, BVerfGE 75, 329 (342 f.), Rn. 39 (juris); Beschl. v. 3.6.1992, Az. 2 BvR 1041/88, 2 BvR 78/89 – lebenslange Freiheitsstrafe, BVerfGE 86, 288 (311), Rn. 83 (juris); Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1780), Rn. 74 (juris). 136 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1781), Rn. 83 (juris). 137 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1780), Rn. 70 (juris). 138 Dazu noch vertiefend in Teil 3 § 3 B. II. (S. 419 ff.). 139 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (178), Rn. 71 (juris). 140 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 197.

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gen141 und müssen zu einem verfassungsrechtlich tragfähigen Ausgleich gebracht werden.142 Mit anderen Worten müssen Strafnormen nach der Auffassung des BVerfG insoweit bestimmt sein, dass sie den Strafrichter und den Bürger hinreichend orientieren, aber noch eine gerechte richterliche Entscheidung im Einzelfall zulassen. Dem entspreche der Gesetzgeber nach Auffassung des BVerfG nur, wenn er zum einen bezüglich jedes Straftatbestands einen Strafrahmen festlege, dem sich ein Mindestmaß der Strafe und eine Strafobergrenze entnehmen lasse, um einen Orientierungsrahmen für die richterliche Abwägung nach Tatunrecht und Schuldmaß zu schaffen.143 Dabei könne der Gesetzgeber hinsichtlich der Strafuntergrenze auch auf Vorschriften des allgemeinen Teils zurückgreifen, allerdings dürfe dies im Zusammenspiel mit der Strafobergrenze nicht zu einem „uferlosen Strafrahmen“ führen.144 Zum anderen müsse der Gesetzgeber Wertungskriterien innerhalb des Gesetzes aufnehmen, an die sich die richterliche Entscheidung bei der Auswahl der Strafart und der Ausfüllung des konkreten Strafrahmens zu halten habe.145 Nach Auffassung der Mehrheit des zweiten Senats des BVerfG hat der Gesetzgeber diesen erhöhten Anforderungen an die Bestimmtheit der Vermögensstrafe gemäß § 43a StGB nicht genügt. Erstens fehle es dem Strafrichter schon an klaren inhaltlichen Vorgaben, anhand derer er hätte entscheiden können, wann er eine Vermögensstrafe zusätzlich zur Freiheitsstrafe verhänge und wann nicht.146 Zweitens habe der Gesetzgeber auf eine herkömmliche, abstrakt festgelegte, allgemeine Strafobergrenze verzichtet und dem Strafrichter stattdessen übertragen, diese im konkreten Fall – notfalls im Wege der Schätzung – anhand der Vermögenslage des Täters individuell festzustellen.147 Damit habe er sich für einen „wandernden“, abstrakt uferlosen Strafrahmen entschieden, der nicht mehr als Orientierungsmaßstab für die Strafbemessung dienen könne, da bereits der Strafrahmen anhand der faktisch existierenden Vermögenslage zu bestimmen und damit eine Einordnung des individuell verwirklichten Unrechts und Schuldgrades 141 Zum Bestimmtheitsgrundsatz: Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 Rn. 41; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 21. 142 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1780), Rn. 73 (juris). 143 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1780), Rn. 75 (juris). 144 BVerfG, ibid. 145 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1781), Rn. 76 (juris). 146 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1781 f.), Rn. 84, 86 ff. (juris). 147 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1781), Rn. 84 (juris).

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

unmöglich werde.148 Und schließlich weise die Vorschrift des § 43a StGB drittens keine Maßstäbe auf, mit deren Hilfe der Strafrichter eine angemessene Vermögensstrafe bemessen, in das Verhältnis zur an sich verwirkten Freiheitsstrafe setzen und die Ersatzfreiheitsstrafe in eine Freiheitsstrafe umrechnen könne.149 2. Übertragbarkeit der zur Vermögensstrafe entwickelten Anforderungen an die Strafandrohungsbestimmtheit auf § 81 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GWB

Die alles entscheidende Frage ist, ob diese vom BVerfG aufgestellten, strengen Bestimmtheitsanforderungen auch auf die Vorschrift des § 81 Abs. 4 GWB zu übertragen sind. Dies kann weder durch den pauschalen Verweis darauf bejaht werden, dass der Gesetzgeber mit der Entscheidung, Kartell-Ordnungswidrigkeiten einer ahndenden Sanktion zuzuführen, die für das Strafrecht geltenden Garantien zu beachten habe,150 noch reicht zur Begründung die hier vertretene Auffassung, dass Kartell-Ordnungswidrigkeiten an die Qualität mancher Straftaten heranreichen.151 Umgekehrt genügt es nicht allein auf die zusätzliche Funktion des Kartellrechts als Instrument der Wirtschaftsaufsicht abzustellen.152 Entscheidend muss vielmehr der grundlegende und seit langem in der Verfassungsrechtsdogmatik anerkannte Maßstab des BVerfG sein, wonach die Anforderungen an die Bestimmtheit mit der Intensität des Grundrechtseingriffs steigen.153 Denn allein diese Aussage berücksichtigt den Gedanken der Wesentlichkeitstheorie, wonach sämtliche für die Grundrechtsausübung regelungsbedürftigen und regelungsfähigen Sachmaterien vom Gesetzgeber selbst zu regeln sind und Vorschriften umso konkretisierter ausgestaltet sein müssen, je „wesentlicher“ sich die Sachmaterie für den Grundrechtsträger darstellt. Im Hinblick auf die Intensität des Grundrechtseingriffs lassen sich zwischen der Vermögensstrafe und der Geldbuße wegen Kartell-Ordnungswidrigkeiten zunächst folgende Unterschiede ausmachen: Erstens handelt es sich bei der Vermögensstrafe, anders als bei der Geldbuße, um eine Strafe im engeren Sinne, also 148 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782 f.), Rn. 99 f. (juris). 149 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1781, 1784 f.), Rn. 85, 109 ff. (juris). 150 In diese Richtung zunächst Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (17), vgl. aber auch die später vertiefte Begründung auf S. 18 des Aufsatzes. 151 Vgl. Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.) und Teil 2 § 3 B. III. 2. b) (S. 132 ff.). Siehe auch BVerfG, Beschl. v. 21.6.1977, Az. BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (290 f.), Rn. 36 (juris). 152 In diese Richtung wiederum Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (459). 153 Vgl. die Nachweise in Fn. 135 (S. 520) sowie in der Literatur etwa Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 189; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 103 Rn. 68; krit. zu dieser Formel: Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 29 und Appel, Verfassung und Strafe, S. 120, die generell höchste Präzision bei der Formulierung von Straftatbeständen i. w. S. verlangen.

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um eine Sanktion mit sittlich-moralischem Schuldvorwurf. Sie wirkt in dieser Hinsicht naturgemäß schärfer als die Geldbuße mit ihrem sozialethisch indifferenten Tadel. Zweitens sollte die Vermögensstrafe nach dem Willen des Gesetzgebers neben die herkömmlichen Strafen treten und mit einer Freiheitsstrafe kombiniert werden können. Die durch die Vermögensstrafe bezweckte kumulative Gesamtstrafe hätte damit eine weitaus höhere Grundrechtsrelevanz gehabt, da sie sowohl Art. 2 Abs. 2 GG als auch Art. 14 Abs. 1 GG tangiert hätte. Und drittens sollte die Vermögensstrafe das gesamte Vermögen des Täters erfassen können, was bei der Geldbuße in Kartell-Bußgeldverfahren nicht erstrebt ist. Bei natürlichen Personen existiert eine feststehende Bußgeldobergrenze in Höhe von einer Million Euro und selbst bei juristischen Personen ist die Geldbuße jedenfalls absolut in Höhe der – hier vertretenen – Kappungsgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB begrenzt, die sich aus den Vermögensverhältnissen der Unternehmensgruppe, der das kartellbeteiligte Unternehmen angehört, ergibt.154 Zwar kann durch den Bezug auf den Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit auch das gesamte Vermögen des betroffenen Kartellbeteiligten von der Geldbuße erfasst sein.155 Jedenfalls ist dies jedoch nicht von vornherein bezweckt. Andererseits lässt sich wohl kaum bestreiten, dass die aufgrund der Anwendung der Kappungsgrenze ermöglichten und bislang verhängten Geldbußen im zwei- oder gar dreistelligen Millionenbereich einen erheblich intensiveren Eingriff in die freie unternehmerische Entfaltung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG darstellen als eine nach allgemeinem Bagatellbußgeldrecht bemessene Geldbuße, die gemäß § 17 Abs. 1 OWiG auf eintausend Euro begrenzt ist. Gleiches gilt für Kartellgeldbußen, die gegen natürliche Personen erlassen werden können; diese bis zu eine Million Euro hohen Geldbußen können einen erheblichen Eingriff in das Eigentumsrecht des Betroffenen gemäß Art. 14 GG, jedenfalls aber in dessen allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG darstellen. Auch ohne explizit missbilligendes Unwerturteil offenbaren kartellrechtliche Geldbußen damit einen deutlichen „Strafcharakter“.156 Legt man als Referenzmaßstab für die Bewertung der Intensität des Grundrechtseingriffs das allgemeine Bußgeldrecht des § 17 Abs. 1 OWiG zugrunde, dürfte außer Frage stehen, dass die Anforderungen, die das BVerfG an die Bestimmtheit von Strafandrohungen gestellt hat, auch auf § 81 Abs. 4 S. 1 und 2 GWB zu übertragen sind, da kartellrechtliche Geldbußen traditionelle Bagatellgeldbußen bei weitem übersteigen und jedenfalls Verbandsgeldbußen darüber

154 Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (171). Dies geben auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 37 zu. 155 Dazu insbesondere noch unter Teil 3 § 3 B. III. 2. b) (S. 451 ff.). 156 Vertiefend dazu: Teil 1 § 2 A. I. (S. 54 ff.).

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hinaus ein extrem hohes Maß erreicht haben.157 Dafür spricht mit Blick auf Verbandsgeldbußen ferner der Umstand, dass diese über das Höchstmaß von Geldstrafen hinausgehen können.158 Gemäß § 40 Abs. 1 und Abs. 2 S. 3 StGB betragen die Einzelgeldstrafe bis zu 10,8 Millionen Euro (360 Tagessätze zu dreißigtausend Euro) und gemäß § 43 Abs. 2 StGB die Gesamtgeldstrafe bis zu 21,6 Millionen Euro (720 Tagessätze zu dreißigtausend Euro). Zur Geldstrafe hat das BVerfG jedoch betont, dass diese im Vergleich zur Vermögensstrafe zumindest eine Unter- und Obergrenze aufweise und sich innerhalb des StGB Maßstäbe finden ließen, anhand derer der Strafrichter feststellen könne, ob im konkreten Falle von einer Geldstrafe oder einer anderen Strafe Gebrauch gemacht werden, und wenn ja, wie hoch diese ausfallen solle.159 In der verfassungsrechtlichen Literatur wurde daraufhin gefolgert, dass Art. 103 Abs. 2 GG nach oben unbegrenzte Geldstrafen verbiete.160 Gleichermaßen wurde in der Literatur zum allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht aus der Entscheidung des BVerfG ohne weiteres geschlossen, dass jedenfalls auch eine Geldbußenordnung ohne Festlegung einer Unter- und Obergrenze verfassungswidrig sei.161 Vor diesem Hintergrund vermag die Auffassung des BGH und des OLG Düsseldorf nicht zu überzeugen, wonach sich die Ausführungen des BVerfG nur deshalb nicht ohne weiteres auf § 81 Abs. 4 GWB übertragen ließen, weil die Kartellgeldbuße gegen Unternehmen und die Vermögensstrafe zu unterschiedlich seien. Den Unterschied machten die Kartellsenate an dem Umstand fest, dass die Vermögensstrafe neben das tradierte System der Hauptstrafen treten sollte, während die Geldbuße die zentrale, bereits bestehende Sanktion bei Ordnungswidrigkeiten sei.162 Der seitens des BVerfG gezogene Vergleich der Vermögensstrafe 157 So ausdrücklich Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 37; in diese Richtung auch Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (18). 158 Zur alten Rechtslage, bei der maximal 3,6 Mio. Euro für die Gesamtgeldstrafe verhängt werden durften: Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (36); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1000). 159 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782 ff.), insb. Rn. 88, 97, 114 (juris). 160 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 197; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG III, Art. 103 Abs. 2 Rn. 38, 45; Rüping, in: BK/GG, Art. 103 Abs. 1 Rn. 73; allgemein zu Strafe: Pieroth, in: Jarass/Pieroth GG, Art. 103 Rn. 51; Nolte, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG Bd. 3, Art. 103 Abs. 2 Rn. 112. Ebenso die Strafrechtwissenschaft: Eser/Hecker, in: Schönke/Schröder StGB, § 1 Rn. 22 f.; Schmitz, in: MK/ StGB, § 1 Rn. 57 f.; Hassemer/Kargl, in: NK/StGB, § 1 Rn. 21 ff.; Roxin, StrafR AT I, § 5 Rn. 81; Dannecker, in: LK/StGB Bd. 1, § 1 Rn. 223. Krit aber Radtke/Hagemeier, in: BeckOK GG, Art. 103 GG Rn. 36 („[D]ie Entscheidung überhöht die Anforderungen an das Bestimmtheitsgebot in Bezug auf die Rechtsfolgeseite.“). 161 Rogall, in: KK/OWiG, § 3 Rn. 37; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 3 Rn. 10; Förster, in: RRH/OWiG, § 3 Rn. 5. 162 BGH, Beschl. v. 26.2.2013, KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 59; OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 607 f. (juris).

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mit der Geldstrafe offenbart demgegenüber eindeutig, dass die vom BVerfG entwickelten Kriterien der Strafandrohungsbestimmtheit nicht allein für „neuartige“, neben die herkömmlichen Strafen tretende Sanktionen gelten sollen. Vielmehr lässt das Vorgehen des BVerfG den von der strafrechtlichen Literatur zutreffend angenommenen Rückschluss zu, dass das BVerfG auch hinsichtlich der Geldstrafenandrohung zumindest ähnliche, wenn nicht gleiche Maßstäbe anzusetzen gedenkt wie bei der Vermögensstrafe. Bei der Geldstrafe handelt es sich wiederum um eine „tradierte“ Strafe. Nichts anderes gilt für die Geldbuße im Ordnungswidrigkeitenrecht. Würde man der Auffassung des BGH und des OLG Düsseldorf folgen, bedeutete dies, dass der Gesetzgeber zukünftig Bußgeldtatbestände quasi willkürlich schaffen dürfte, die weder den „tradierten“ Bußgeldtatbeständen, noch den vom BVerfG entwickelten Grundsätzen der Strafandrohungsbestimmtheit entsprechen, nur weil es sich bei der Geldbuße um ein herkömmliches Sanktionsinstrument handelt. Dass dies weder sachgerecht noch verfassungsrechtlich unbedenklich ist, dürfte außer Frage stehen. Gegen die Übertragbarkeit der Rechtsprechung des BVerfG auf den Kartellbußgeldtatbestand des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB führten der BGH und das OLG Düsseldorf ferner aus, dass Kartellverstöße große volkswirtschaftliche Schäden verursachen könnten, weshalb von vornherein ein weiter Bußgeldrahmen notwendig sei, um empfindliche Geldbußen sowohl gegen kleine als auch weltweit tätige Unternehmen zu ermöglichen. Daher sei zur Wahrung von Einzelfallgerechtigkeit und zur Ermöglichung schuldangemessener Sanktionen die Anknüpfung des Bußgeldrahmens an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Unternehmen unumgänglich.163 Dieses Argument beschränkt sich inhaltlich auf die Wiedergabe der sachgerechten Zielvorstellungen des Gesetzgebers, der spürbare Geldbußen gegen jedes Unternehmen, gleich welcher Größe, ermöglichen wollte. Es vermag jedoch nicht zu begründen, warum die von den gesetzgeberischen Zweckerwägungen unabhängigen, verfassungsrechtlichen Maßstäbe der Strafandrohungsbestimmtheit, wie sie das BVerfG entwickelt hat, nicht auf die Kartell-Geldbuße übertragbar sind. Jedenfalls rechtfertigen nachvollziehbare, sachgerechte Zielvorstellungen nicht deren unbedingte Durchsetzung unter Beugung verfassungsrechtlicher Grundsätze. Aus der Zusammenschau der vorstehenden Erwägungen lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die Rechtsprechung des BVerfG zur Vermögensstrafe nicht auf Kartellbußgeldtatbestände zu übertragen ist. Der die Anwendbarkeit der vom BVerfG in dem Urteil zur Vermögensstrafe aufgestellten Kriterien inzident befürwortenden, überwiegenden Auffassung in der straf-, ordnungswidrigkeiten- und kartellrechtlichen Literatur ist daher zuzustimmen. Dafür sprechen neben den bereits aufgeführten Gründen zwei weitere Argumente. Vor dem Hintergrund, dass die Verfolgung und Ahndung von Kartellen – trotz ihres 163 BGH, Beschl. v. 26.2.2013, KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 59 f.; angedeutet bei: OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 608, 610 (juris).

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zweifellos fehlenden Bagatellcharakters – dem pflichtgemäßen Ermessen des Bundeskartellamtes unterliegen, wurde bereits festgestellt, dass den verfahrensbedingten Unsicherheiten über das „Ob“ möglicher gravierender Grundrechtseingriffe zumindest durch hinreichend orientierende, materielle Bußgeldtatbestände Rechnung zu tragen ist, um dem berechtigten, erhöhten Bedürfnis der Normadressaten nach Rechtssicherheit zu entsprechen.164 Derjenige, der nicht weiß, ob ein für rechtswidrig erklärtes Verhalten verfolgt wird und welche Sanktionen ihm in diesem Fall drohen, kann nicht frei und rational entscheiden, wie er sich zukünftig verhalten sollte. Dies widerspricht jedoch dem Anspruch der Verfassung, die Menschenwürde und Freiheit der Bürger innerhalb des Rechtsstaats zu garantieren. Zwar erstreckt sich der Schutz des Art. 1 GG nicht auf Unternehmen als künstliche, rechtliche Konstrukte. Da handlungsunfähigen Unternehmen jedoch das Verhalten ihrer Vertreter gemäß §§ 30, 130 OWiG zugerechnet wird und sie nur deshalb „Beschuldigte“ und „Rechtsbrecher“ sein können, muss hinsichtlich des mit Art. 103 Abs. 2 GG verfolgten Schutzwecks auf die zu Gunsten oder zu Lasten des Unternehmens handelnden, im Übrigen eigens bußgeldbedrohten Unternehmensvertreter abgestellt werden, denen als natürliche Personen ein vollumfänglicher Grundrechtsschutz zugute kommt. Diese müssen eine freie, rationale Entscheidung für oder gegen wettbewerbswidrige, mit Geldbußen bedrohte Handlungsweisen treffen können. Eine solche abwägende Entscheidung ist jedoch nur auf der Grundlage hinreichend bestimmter, den Einzelnen orientierender Regelungen möglich. Im Übrigen wird in der verfassungsrechtlichen Literatur zu Recht betont, dass für die Anwendung der „Je-desto-Formel“ des BVerfG im Rahmen des Art. 103 Abs. 2 GG nur ein schmaler Raum besteht, da dieser – angesichts der Besonderheit der Strafe (im weiteren Sinne) – die Schutzintensität gegenüber dem allgemeinen Bestimmtheitsgrundsatzes nochmals drastisch erhöht.165 Der im Unterschied zu sonstigen belastenden Eingriffen der Verwaltung bestehende Vergeltungscharakter von Strafen und Geldbußen, die an einen Vorwurf geknüpft werden, zwingt zu einem strengen Bestimmtheitsverständnis. Daher ist bei Strafen und Geldbußen, unabhängig von ihrer konkreten Ausgestaltung, Bestimmtheit regelmäßig als Bindungshöchstmaß zu verstehen.166 Dies scheint auch die Auffassung des BVerfG zu sein, wie der Vergleich der Geldstrafe mit der in ihrer Eingriffsintensität weitaus gravierenderen Vermögensstrafe offenbart. Folgerichtig müssen die strengeren Anforderungen des Vermögensstrafe-Urteils zumindest auch auf die in ihrem Ausmaß mit Geldstrafe durchaus vergleichbare Verbandsgeldbuße wegen Kartell-Ordnungswidrigkeiten übertragen werden.167 164

Vgl. Teil 4 § 2 D. I. 2. (S. 514 ff.). Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 189 m.w. N.; Kunig, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 29. 166 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 189. 167 So auch die Verfechter der Verfassungsmäßigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB: Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff. (1110 f.). 165

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3. Würdigung anhand der Kriterien des Vermögensstrafe-Urteils des BVerfG

In Anwendung der Kriterien des BVerfG müsste das Kartell-Bußgeldrecht dem Bundeskartellamt erstens Maßstäbe zur Verfügung stellen, anhand derer das Bundeskartellamt beurteilen kann, ob es eine Geldbuße erlässt. Zweitens müssten die Bußgeldtatbestände für natürliche wie für juristische Personen und Personenvereinigungen einen Bußgeldrahmen aufweisen. Und drittens bedarf es hinreichend konkretisierter gesetzlicher Kriterien für die Zumessung der Geldbuße. a) Hinreichende Vorgaben zur Entscheidung über das „Ob“ der Bußgeldverhängung Soweit das Bundeskartellamt nach §§ 81 Abs. 4 S. 1 und S. 2 GWB eine Geldbuße erlassen „kann“, wiederholen die Bußgeldvorschriften letztlich das Opportunitätsprinzip, das in § 47 Abs. 1 OWiG seine verfahrensrechtliche Verwurzelung gefunden hat. Oben wurde vertreten, dass die Entscheidung über die Verfolgung und Ahndung von Kartellen den Bestimmtheitsgrundsatz nicht tangiert.168 Aus der Rechtsprechung des BVerfG folgt keine darüber hinaus gehende Pflicht zur weiteren Konkretisierung der die Entscheidung zur Ahndung zugrunde zu legenden Maßstäbe. Die Mehrheit des Senats des BVerfG hat die Regelung der Vermögensstrafe diesbezüglich nur deshalb kritisiert, weil es sich um eine neuartige Form der Strafe handelte, die neben die Freiheitsstrafe und Geldstrafe treten sollte. Während der Gesetzgeber für die etablierten Strafarten jedoch genügend Kriterien für eine Entscheidung innerhalb des StGB installierte, wurde nach Auffassung des BVerfG nicht klar genug deutlich, was nunmehr für eine Verhängung der besonders „grundrechtsgefährlichen“ Vermögensstrafe spricht und was nicht, in welchen Fällen der Richter also zur Verhängung einer Vermögensstrafe neben einer Freiheitsstrafe gelangen kann oder womöglich soll, und wann allein eine Freiheitsstrafe sachangemessen und ausreichend ist.169 Dieser Gedanke lässt sich nicht auf die Geldbuße übertragen. Bei dieser handelt es sich nicht um eine neue Sanktionsform im Bußgeldverfahren, sondern vielmehr um ihr „traditionelles Herzstück“.170 Die Geldbuße ist die einzige Sanktionsart, die das Bußgeldverfahren und das Kartellrecht insgesamt vorsehen. Die alternativen Verfolgungsinstrumente, insbesondere die Abstellungsverfügung, aber auch informelles Verwaltungshandeln, wie die gezielte Öffentlichkeitsarbeit, können zwar für die Betroffenen belastend wirken. Ihr Einsatz dient jedoch nicht der gezielt kombinierten 168

Teil 4 § 2 D. I. 2. (S. 514 ff.). BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782), insb. Rn. 88, 89 f. (juris). 170 Auf diesen relevanten Unterschied weisen in diesem Zusammenhang zutreffend auch das OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 608 f. (juris) und Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 150 hin. 169

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„Vergeltung“ und „Prävention“ wie die Geldbuße. Das Bundeskartellamt will mit jenen Mitteln vorrangig kartellrechtswidrige Zustände beseitigen. Eine vergleichbare Bündelung verschiedener Sanktionszwecke, wie sie die Geldbuße auszeichnet, weisen diese Verfolgungsinstrumente nicht auf. Fehlt es damit an einer Auswahl unterschiedlicher „Strafmittel“, existiert auch kein mit der Vermögensstrafe vergleichbares Orientierungsproblem des Bundeskartellamtes.171 Die Wahrscheinlichkeit, dass das Bundeskartellamt eine Geldbuße verhängt oder nicht, kann zudem durch Ermittlung des öffentlichen Interesses, welches sich vor allem nach dem Grad der Beeinträchtigung des Wettbewerbs, aber auch der „Schuld“ der Kartellbeteiligten richtet, jedenfalls hinreichend deutlich vorhergesehen werden.172 b) Hinreichende Maßstäbe für die konkrete Zumessung der Geldbuße Für die konkrete Bußgeldbemessung im Einzelfall stehen mit den in § 17 Abs. 3 und Abs. 4 OWiG hinterlegten, durch die Rechtsprechung über Jahrzehnte konkretisierten Zumessungskriterien ausreichende Maßstäbe zur Verfügung, um eine gesetzlich gesteuerte, ausreichend vorhersehbare Bußgeldbemessung durch das Bundeskartellamt zu ermöglichen; einer Ergänzung der Kriterien hat es für die in ihrer Art unveränderte Geldbuße auch nach der 7. GWB-Novelle grundsätzlich nicht bedurft.173 Zwar hat der Gesetzgeber mit der Regelung des § 81 Abs. 4 S. 6 GWB zu keiner weiteren Konkretisierung dieser Zumessungskriterien beigetragen, da die Berücksichtigung der Dauer und Schwere der Kartellordnungswidrigkeit letztlich zur Bestimmung von deren „Bedeutung“ selbstverständlich ist. Auch ist deutlich geworden, dass die mit § 81 Abs. 5 GWB intendierte Ermöglichung der von der Abschöpfung rechtwidrig erlangter Vermögensvorteile losgelösten Bußgeldbemessung im Regelfall verfassungsrechtlich nicht zulässig ist.174 Diese Unzulänglichkeiten ändern jedoch nichts daran, dass

171 Das BVerfG betonte, dass es Leitlinien zur Orientierung des Richters bedarf, wenn das Gesetz diesem mehrere alternative Sanktionsmittel zur Auswahl oder parallelen Verhängung zur Auswahl stellt. Vgl. BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (17822), insb. Rn. 88, 91 ff. (juris). 172 Vgl. Teil 2 § 3 B. III. 2. (S. 131 ff.). In diese Richtung allgemein auch die abweichende Auffassung der Senatsminderheit im Fall Vermögensstrafe, die ausreichende Kriterien bereits in den Straftatbeständen und den Zumessungskriterien des § 46 StGB sowie in den Regelungen zur jeweiligen Strafandrohung erblickte. Vgl. BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1785), Rn. 127–130 (juris). A. A. wohl Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 29 ff. 173 Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 150; Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff. (1116 ff.); a. A. Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 49 ff. 174 Teil 3 § 2 B. IV. 1. (S. 405 ff.).

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der Gesetzgeber, wie es das BVerfG verlangt,175 die Maßstäbe, die für die Höhe der Sanktion ausschlaggebend seien sollen, festgelegt hat. Mangels parallel anwendbarer Sanktionsarten stellt sich auch nicht die grundsätzlich vom Gesetzgeber zu beantwortende Frage, wie mehrere Sanktionen zu einander in Beziehung zu setzen sind.176 Die hierzu verwandte Frage zum Umgang mit dem Doppelbestrafungsverbot wurde vielmehr von der Rechtsprechung längst beantwortet und bedurfte ebenfalls keiner gesetzlichen Regelung. Danach ist etwa für den Fall der gleichzeitigen Verhängung einer Geldbuße gegen den Inhaber eines Unternehmens und gegen das Unternehmen anerkannt, dass die mittelbar bewirkte, doppelte Belastung des Inhabers bei der Bemessung der gegen ihn persönlich zu verhängenden Geldbuße Berücksichtigung finden muss.177 c) Nach oben und unten begrenzter Bußgeldrahmen? Während die ersten beiden Voraussetzungen für die Strafandrohungsbestimmtheit der Sätze 1 und 2 des § 81 Abs. 4 GWB erfüllt sind, erscheint die Verwirklichung eines fest durch ein Mindest- und Höchstmaß begrenzten, nicht „uferlosen“ Bußgeldrahmens für natürliche und juristische Personen bzw. Personenvereinigungen problematisch. aa) Uferloser Bußgeldrahmen für natürliche Personen? Im Unterschied zur Vermögensstrafe setzt § 81 Abs. 4 S. 1 GWB dem Bundeskartellamt zwar für die Sanktionierung natürlicher Personen eine absolute, abstrakte und fallunabhängige Bußgeldobergrenze. Mangels spezieller Regelung in § 81 Abs. 4 GWB bildet § 17 Abs. 1 OWiG jedoch die untere Grenze des Bußgeldrahmens, sodass das Mindestmaß der Geldbuße „schon“ bei fünf Euro liegt. Grundsätzlich wäre das Bundeskartellamt also dazu berufen, für die denkbar geringfügigste Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot einen Bußgeldbescheid in Höhe von rund fünf Euro zu erlassen, genauso viel, wie etwa die zuständige Ordnungsbehörde im Falle geringfügiger Parkverstöße. Dass eine derartige Ahndung weder dem Zweck des Wettbewerbsschutzes gerecht würde, noch im Verhältnis zum Bagatellunrecht angemessen erscheint, wurde bereits festgestellt.178 Angesichts des regelmäßig schwerwiegenden Unrechts von Kartellverstößen kommt dem bestehenden Bußgeldmindestmaß in der Praxis auch keinerlei Bedeutung zu. Faktisch besteht daher eine Rechtslage, vergleichbar mit jener, in der es von 175 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1784 f.), Rn. 109 (juris). 176 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1784), Rn. 113 ff. (juris). 177 Teil 3 § 2 B. III. 4. (S. 384 ff.). 178 Teil 3 § 2 A. III. (S. 368 ff.).

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vornherein an einer Bußgelduntergrenze fehlt. Überträgt man das Verhältnis zwischen Unter- und Obergrenze des allgemeinen Bußgeldrechts (fünf bis eintausend Euro) auf § 81 Abs. 4 S. 1 GWB, so hätte der Gesetzgeber bei einer Bußgeldobergrenze von einer Million Euro den Bußgeldrahmen wenigstens bei 5.000 Euro nach unten begrenzen müssen. Stattdessen hat es dieser jedoch de facto dem Bundeskartellamt überlassen, die relevante Bußgelduntergrenze im Rahmen der Ausübung seines Sanktionszumessungsermessens selbst zu ermitteln. Die dem Bundeskartellamt indirekt übertragene Aufgabe ist jedoch nach der Rechtsprechung des BVerfG als wesentlicher Bestandteil der als wesentlich qualifizierten Sachmaterie, nämlich der Normierung einer Sanktionsandrohung für Kartellverstöße, eindeutig vom Gesetzgeber selbst zu erfüllen. Obgleich Bußgelduntergrenzen naturgemäß nicht im Interesse von Betroffenen liegen,179 führt ihr Fehlen im Hinblick auf den hier allein maßgeblichen Bestimmtheitsgrundsatz, wie er durch die zum Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes entwickelte Wesentlichkeitstheorie inhaltlich ergänzt wird, zu einem weiten, für Betroffene nicht gänzlich überschaubaren Spielraum des Bundeskartellamtes. Denn das Bundeskartellamt kann die „praxistaugliche“ Grenze für geringfügiges Kartellunrecht jederzeit nach oben oder unten korrigieren. Dies könnte für das Bestehen eines abstrakt „uferlosen“, nach der Rechtsprechung des BVerfG unzulässigen Bußgeldrahmens sprechen. Allerdings besteht ein relevanter Unterschied zwischen nach unten praktisch nicht begrenzten Bußgeldrahmen und solchen, wie im Fall der Vermögensstrafe, die nach oben nicht begrenzt sind. Mit der Regelung des § 43a StGB hatte der Gesetzgeber lediglich eine nach oben individuell zu ermittelnde Bußgeldobergrenze durch das Vermögen des Täters installiert. Daraus ergab sich ein abstrakt uferloser, „wandernder“ und vom Unrecht der Tat und der Schuld des Täters unabhängiger Bußgeldrahmen, der unvorhersehbar hohe, konfiskatorische Geldstrafen zuließ. Als abstrakt „uferlos“ wird man hingegen den Bußgeldrahmen für natürliche Personen bei Kartellzuwiderhandlungen nicht bezeichnen können. Unabhängig davon, dass dieser immerhin nach oben bei einer Million Euro begrenzt ist, sind jedenfalls unvorhersehbar niedrigere Geldbußen, als möglicherweise erwartet, nicht von Nachteil für die Betroffenen. Anhand der feststehenden Bußgeldobergrenze lässt sich zudem der im Einzelfall konkret-individuelle, tat- und schuldangemessene Bußgeldrahmen für geringfügige, durchschnittliche, schwerere und schwerste Kartellverstöße anhand von prozentualen Anteilen bestimmen. Unter Berücksichtigung des bereits unter 2. herausgearbeiteten Ergebnisses, wonach es sich bei der gegenüber natürlichen Personen verhängten Kartellgeldbuße um einen weniger schweren Grundrechtseingriff im Vergleich mit der (mit einer Freiheitsstrafe kombinierten) Vermögensstrafe handelt, wird man das Be179 Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 47.

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stimmtheitsdefizit des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB daher (noch) als mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar ansehen können. bb) Uferloser Bußgeldrahmen für juristische Personen und Personenvereinigungen Zu der nichtsdestotrotz kritischen Bußgelduntergrenze180 tritt bei juristischen Personen und Personenvereinigungen der Umstand, dass § 81 Abs. 4 S. 2 GWB nach hier vertretener Auffassung keine Bußgeldobergrenze bereithält, sondern lediglich eine Belastungs- bzw. Kappungsgrenze. Diese führt faktisch zwar auch zu einer absoluten Begrenzung der Geldbuße,181 jedoch weist sie keinen Unrechts- und Schuldbezug auf, sondern dient allein der dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geschuldeten Verhinderung einer bußgeldbedingten, wirtschaftlichen Existenzvernichtung. Sie hat also weder für das Bundeskartellamt noch für Betroffene im Hinblick auf die Einordnung des verwirklichten Unrechts und der „Schuld“ der betroffenen Unternehmen irgendeine Aussagekraft.182 Die Kartellbehörde ist dazu berufen, anhand der Schwere des Kartellverstoßes, der Vorwerfbarkeit und der wirtschaftlichen Verhältnisse der Kartellbeteiligten zunächst (irgend)eine Geldbuße zu ermitteln, die (weit) oberhalb der Kappungsgrenze liegen kann, jedoch aufgrund des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zwingend bei 10 % des Vorjahresgesamtumsatzes zu kappen ist. Damit kann § 81 Abs. 4 S. 2 GWB die eigentliche Funktion einer Bußgeldobergrenze nicht erfüllen, nämlich Unternehmen darüber zu orientieren, welche staatliche Sanktion ihnen wegen eines in seinem Ausmaß denkbar gravierendsten Verstoßes gegen das Kartellverbot droht und den (behördlichen und richterlichen) Ahndungsvorgang nicht hinreichend vorprägen.183 Insoweit kann auch der Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB nicht weiterhelfen, da dieser bereits keine Aussage darüber trifft, welche maximale Verbandsgeldbuße der Gesetzgeber für zulässig erachtet.184 180 Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 48. 181 Zutreffend Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (18). 182 Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1003); Buntscheck, WuW 2008, S. 941 ff. (943 f.); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (253); Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (717 f.); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (37 ff.); Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (6); Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (339); Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 41 f.; Bechtold, GWB, 6. Aufl., § 81 Rn. 27; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 ff. (164). 183 Insoweit zutreffend: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 57. 184 Insoweit unverständlich Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff. (1111); zu Recht krit. Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (20 f.); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 39.

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Die mangelnde Orientierungswirkung wird zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass die faktisch absolute Bußgeldhöchstgrenze, wie im Fall der insoweit von der Senatsmehrheit des BVerfG kritisierten Vermögensstrafe,185 erst zum Zeitpunkt der konkreten Rechtsanwendung, also der Sanktionierung, ermittelt und sogar notfalls geschätzt werden kann,186 nämlich wenn feststeht, welcher Gesamtumsatz durch die wirtschaftliche Einheit im Vorjahr der kartellbehördlichen Entscheidung erwirtschaftet wurde. Unabhängig von der bereits festgestellten Unzulässigkeit einer verfassungskonformen Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze,187 offenbart dies, dass – entgegen der Auffassung des BGH und des OLG Düsseldorf – auch die Umdeutung der Kappungsgrenze als Bußgeldobergrenze nicht über das Bestimmtheitsdefizit der Regelung hinweghelfen würde. Denn in diesem Fall hätte der Gesetzgeber einen – der Rechtsprechung des BVerfG zufolge188 – verfassungswidrigen, da „wandernden“, abstrakt uferlosen Bußgeldrahmen geschaffen, der nicht als Orientierungsmaßstab für die Bußgeldbemessung vor Begehung der Tat dienen kann,189 da bereits der Bußgeldrahmen individuell anhand der zum Zeitpunkt der Entscheidung „feststehenden“ Umsatzerlöse des Unternehmens zu bestimmen ist und damit eine – der Umsatzerzielung vorgelagerte – Einordnung des individuell verwirklichten Unrechts und Schuldgrades unmöglich ist. Hinzu kommt, dass § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, abweichend von den Absätzen 1 bis 3 der Vorschrift, nicht zwischen Kartell-Ordnungswidrigkeiten differenziert, sodass – mangels abstrakt-genereller, gradueller Abstufung der Kartellverstöße – auch eine nachträgliche behördliche wie richterliche Einordnung des begangenen Unrechts erschwert ist.190 Daneben müssen 185 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782 f.), Rn. 97 ff. (juris). 186 Zur Schätzungsbefugnis und der zu besorgenden Unvereinbarkeit mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn ein Wert oberhalb des tatsächlich erwirtschafteten Umsatzes ermittelt wird: BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782 f.), Rn. 107 f. (juris). 187 Teil 3 § 2 A. II. 1. d) aa) (S. 350 ff.). 188 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1782 f.), Rn. 99 f. (juris). 189 Wie hier u. a.: Deselaers, WuW 2006, S. 118 ff. (121 f.); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1003 f.); Wagner, EWS 2006, S. 251 ff. (253); Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (16 ff.); Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (692 ff., insb. 698); Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. (716); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 41 f.; Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48c; Bechtold, GWB, 7. Aufl., § 81 Rn. 29; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 78 f.; Bechtold/Bosch, ZWeR 2011, S. 160 ff. (164); Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (31); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 344 ff.; Haus, NZKart 2013, S. 183 ff. (186 ff.); a. A. Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff. (1110 ff.); Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 59; Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 150; Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (464 ff.); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (171). 190 Strenger: Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (313) und wohl auch Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (213), die ganz überwiegend (Barth/Budde) bzw. ausschließlich

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unbeteiligte Unternehmen, die mit dem eigentlichen Kartellbeteiligten gesellschaftsrechtlich verbunden sind, für dessen „schuldhaft begangenes“ Unrecht entgegen dem Grundsatz „nulla poena sine culpa“ einstehen, da § 81 Abs. 4 S. 2 GWB an den Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit anknüpft.191 Mangels (praktisch relevanter) Bußgeldunter- und Bußgeldobergrenze fehlt es daher im Ergebnis an einer Unrechts- und Schuldskala in Form eines Bußgeldrahmens, anhand derer eine Einordnung und Bewertung der Zuwiderhandlung im konkreten Fall möglich ist. Dadurch kann die Festsetzung der konkreten Bußgeldhöhe „keinem gesetzlichen Maßstab folgen“.192 Dass dies jedoch zur Erfüllung der Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG erforderlich ist, haben selbst die abweichenden Stimmen des über die Vermögensstrafe entscheidenden Senats hervorgehoben.193 Sie kamen unter anderem nur deshalb zu einem von der Senatsmehrheit abweichenden Ergebnis, weil § 43a Abs. 3 S. 2 StGB im Falle der uneinbringlichen Vermögensstrafe eine Ersatzfreiheitsstrafe zwischen einem Monat und zwei Jahren vorsah; das in diesem Strafrahmen vorgesehene Strafmindest- und Strafhöchstmaß hätte nach Auffassung der abweichenden Stimmen quasi in Strafgrenzen der Vermögensstrafe übersetzt werden können.194 Diese Erwägungen können jedoch nicht in das Kartellbußgeldrecht übertragen werden. Hier fehlt es gerade an einer konkretisierenden „Ersatzsanktion“. (1) Keine Abhilfe durch die gesetzlichen Zumessungskriterien Auch die grundsätzlich hinreichend bestimmten Zumessungskriterien können das Bestimmtheitsdefizit nicht ausgleichen.195 Ihre abstrakte Bedeutung wird nämlich erst innerhalb eines nach Unrechts- und Schuldgrad geschaffenen Bezugssystems konkretisiert.196 Angesichts des offenen Bußgeldrahmens kann keine relativ vorhersehbare Bußgeldbemessung in herkömmlicher Art und Weise

(Brettel) aus diesem Grund die verfassungswidrige Unbestimmtheit der Norm annehmen. 191 Vgl. bereits die Ausführungen in Teil 3 § 2 A. II. 1. d) bb) (S. 354 ff.). 192 So zur Vermögensstrafe: BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1783), Rn. 100 (juris). 193 Dies übersieht Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (341), wenn er in Fn. 68 darauf hinweist, dass gegen die „verführerische“ Übertragung des Vermögenstrafe-Urteils auf § 81 Abs. 4 S. 2 GWB schon „rein äußerlich“ spreche, dass das Urteil nur mit einer knappen Mehrheit ergangen ist. 194 Vgl. nur BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1785 f.), Rn. 131 (juris). 195 Zutreffend: BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 57; Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (696); a. A., ohne nähere Begr.: Cramer/ Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 59; Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff. (1116 f.). 196 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (22).

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erfolgen,197 da sich die Bedeutung eines Kartellverstoßes und die durch den Kartellbeteiligten verwirklichte Schuld nicht nominal ausdrücken lassen.198 (2) Keine Abhilfe durch gleichmäßige Verwaltungspraxis und entwickeltes Richterrecht Angesichts des nach Art. 103 Abs. 2 GG erforderlichen Parlamentsvorbehalts199 ist es auch der Rechtsprechung und dem Bundeskartellamt versagt, § 81 Abs. 4 S. 2 GWB zur Erreichung einer verfassungskonformen Bestimmtheit nachzubessern.200 Daher können weder die Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes Abhilfe schaffen.201 Noch entspricht es der kompetenzwahrenden Funktion des Bestimmtheitsgrundsatzes, wenn das OLG Düsseldorf und/oder der BGH § 81 Abs. 4 S. 2 GWB konkretisieren.202 Von dieser eindeutigen Rechtslage abgesehen, konnte die Rechtsprechung, mit Ausnahme des Urteils des OLG Düsseldorf im Fall Zementkartell und der dazu nunmehr ergangenen Revisionsentscheidung des BGH bis heute faktisch auch nicht zur Klärung wichtiger Einzelfragen beitragen. Vielmehr dürfte sich mit der der überwiegenden Literaturauffassung diametral entgegen stehenden Rechtsprechung der Kartellsenate der seit 2005 andauernde Diskurs über die unklare Regelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB nochmals verstärken. Dies bestätigt das rechtlich ohnehin nicht zu bestreitende Ergebnis, dass eine hinreichend bestimmte Rechtsnorm nicht durch Verwaltungspraxis und Rechtsprechung ersetzt werden kann.

197 So auch Raum, in: LB/GWB, § 81 Rn. 150, der die Verfassungsmäßigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB nur deshalb bejaht, weil sie seiner Meinung nach eine Bußgeldobergrenze beinhalte. 198 Zu Recht krit. Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 46 f.; Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (21 f.). Zur Bußgeldbemessung vgl. Teil 3 § 1 (S. 334 ff.). 199 Statt aller: BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1780), Rn. 69 (juris); Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2 Rn. 184; Kunig, in: v. Münch/Kunig GG Bd. 2, Art. 103 Rn. 21; Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (22). Vgl. auch oben: Teil 4 § 2 C. I. 2. (S. 507 ff.). 200 BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1780), Rn. 69 (juris); Thiele, WRP 2006, S. 999 ff. (1005); Bechtold, GWB, 7. Aufl., § 81 Rn. 37; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 54; Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (313). Vgl. auch Teil 4 § 2 C. I. 1. (S. 503 ff.). 201 In diese Richtung aber wohl Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (465); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (171) zu den Bußgeldleitlinien 2006. Wie hier: BGH, Beschl. v. 26.2. 2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 57; Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (696). 202 So aber Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (341).

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(3) Keine Rechtfertigung durch den legitimen Zweck der Belastungsgleichheit Der Gesetzgeber hat schließlich auch „ohne Not“ auf einen herkömmlichen Sanktionsrahmen verzichtet,203 der dem Bundeskartellamt einen verbindlichen Eindruck über den Unwertgehalt des kartellrechtswidrigen Verhaltens hätte geben können. Der dem § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ersichtlich zugrunde liegende, insbesondere vom BGH und vom OLG Düsseldorf betonte kriminalpolitische Gedanke der Belastungsgleichheit,204 nachdem sichergestellt werden sollte, dass sich die Geldbuße für alle betroffenen juristischen Personen und Personenvereinigungen gleichermaßen spürbar und abschreckend auswirkt, ist zwar sachgerecht, rechtfertigt jedoch nicht einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG.205 Freilich soll die Geldbuße kleinste Unternehmen ebenso wie umsatzstarke, große Unternehmen gleichermaßen als spürbare Einbuße treffen. Dem könnte aber auch ein feststehender, abstrakter Bußgeldrahmen gerecht werden. Zwar bilden zunächst die Schwere der Zuwiderhandlung und die verwirklichte „Schuld“ den ersten Anhaltspunkt für eine sach- und schuldangemessene Geldbuße.206 Allerdings wird erstens der Unrechts- und Schuldgrad bei kleineren Unternehmen regelmäßig geringer sein, als bei großen Unternehmen, die auf weitreichenderen Märkten und mit einer größeren Produkt- und Dienstleistungsvielfalt operieren.207 Zweitens hat das Bundeskartellamt gemäß § 17 Abs. 3 OWiG auch maßgebend die wirtschaftlichen Verhältnisse des Unternehmens zu berücksichtigen.208 Es ist also gerade befugt, die Geldbuße bei umsatzstarken Unternehmen nach oben zu korrigieren. Und drittens ist der Gesetzgeber, wie das Beispiel der Geldstrafe zeigt, durchaus in der Lage, eine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit orientierte und hinreichend bestimmte Sanktionierung im Kartell-Bußgeldrecht zu implementieren.209 Dementsprechend kann dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und dem Gleichbehandlungsgebot auch bei der Einfügung einer oberen Bußgeldgrenze genügt werden.210 203 So zur Vermögensstrafe: BVerfG, Urt. v. 20.3.2002, Az. 2 BvR 794/95 – Vermögensstrafe, NJW 2002, 1779 (1783), Rn. 99 f. (juris). 204 BGH, Beschl. v. 26.2.2013, Az. KRB 20/12 – Grauzementkartell, Rn. 60 ff.; OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 610 (juris). 205 In diese Richtung nun auch: Achenbach, WuW 2013, S. 688 ff. (696, 698); a. A. Brettel, ZWeR 2013, S. 200 ff. (213), die die Leistungsfähigkeit als Optimierungsgebot anerkennt, das die durch die wandernde Bußgeldobergrenze begründeten Bestimmtheitsdefizite rechtfertigen könne. 206 Vgl. Teil 3 § 2 B. I. 1. und 2. (S. 375 ff.). 207 Etwas anderes kann freilich für Ein-Produkt-Unternehmen gelten. Siehe dazu Teil 3 § 3 B. III. 2. b) (S. 451 ff.). 208 Ebenso Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (24). Vgl. Teil 3 § 2 B. I. 3. (S. 379 ff.). 209 Siehe dazu noch: Teil 4 § 3 A. (S. 566 ff.). 210 So auch Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (23 f.); ähnlich Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 353; a. A. Weitbrecht/Mühle, WuW 2006, S. 1106 ff. (1112);

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cc) Notwendige Korrektur des Grads der Strafandrohungsbestimmtheit wegen europäischen Rechts? Die sich nach der Rechtsprechung des BVerfG ergebende Verfassungswidrigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB könnte sich allerdings mit Blick auf das europäische Recht als problematisch erweisen. Dessen Vorbildregelung Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 stellt nämlich ebenfalls keine Bußgeldobergrenze bereit. Zwar kann eine europarechtskonforme Auslegung ein verfassungswidriges Gesetz nicht in ein verfassungsmäßiges Gesetz verwandeln.211 Allerdings wäre es denkbar, dass der vom BVerfG entwickelte Bestimmtheitsgrad im Hinblick auf Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 und die dazu ergangenen Urteile des EuG und des EuGH in Sachen Evonik Degussa v. Kommission, die Einwände gegen die Bestimmtheit der Vorgängerregelung des Art. 15 VO 17/62 verwarfen,212 zwingend anzupassen ist, mit der Folge der Verfassungskonformität des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB. (1) Der Fall Evonik Degussa Im Fall Evonik Degussa begründete die Klägerin ihre Anfechtungsklage gegen einen Bußgeldbescheid der Kommission vor dem EuG unter anderem damit, dass Art. 15 VO 17/62, auf dem der Bußgeldbescheid gründete, gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen („nulla poena sine lege“) verstoße, wie er in Art. 7 EMRK und Art. 49 Abs. 1 GRCh zum Ausdruck komme, Teil der Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sei und seinerzeit auch bereits wiederholt vom EuGH anerkannt worden sei.213 Art. 15 VO 17/62 genüge nicht den Anforderungen an Bestimmtheit und Rechtsklarheit und widerspreche der Kompetenzverteilung auf europäischer Ebene, weil der Rat letztlich die Bestimmung der Art und des Ausmaßes der kartellrechtlichen Geldbuße der Kommission überlassen und insbesondere keine Bußgeldhöchstgrenze festgelegt habe.214 Dafür spreche auch das Urteil des BVerfG zur Unbestimmtheit der Vermögensstrafe.215 Das EuG wies das Vorbringen der Klägerin zurück. Insbesondere sei Art. 7 EMRK, wie er vom EGMR interpretiert wurde, nicht verletzt.216 Dieser verlange schon Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (465); Vollmer, ZWeR 2007, S. 168 ff. (171); Cramer/Pananis, in: LMR/Kartellrecht, 2. Aufl., § 81 Rn. 60; Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (343). 211 Rogall, in: KK/OWiG, § 3 Rn. 83; Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 78. 212 Obgleich sich die Entscheidungen auf die Vorgängerregelung des heutigen Art. 23 VO 1/2003 beziehen, sind dessen Erwägungen ohne weiteres auf die heutige Rechtslage übertragbar, da bereits Art. 15 Abs. 2 VO 17/62 über einen nach oben offenen Bußgeldrahmen verfügte. 213 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 34 ff. 214 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 40 ff. 215 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 47. 216 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 71 f.

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nach seinem Wortlaut keine derart genaue Formulierung, dass eine mögliche Sanktion mit absoluter Gewissheit vorhersehbar sei.217 Der EGMR habe ferner stets betont, dass es Art. 7 EMRK nicht entgegenstehe, wenn einer staatlichen Behörde Ermessen eingeräumt sei, soweit Umfang und Modalitäten der Ermessensausübung hinreichend festgelegt und Betroffene dadurch vor Willkür geschützt seien. Dabei berücksichtige der EGMR neben dem Wortlaut auch, ob die Rechtsprechung unbestimmte Rechtsbegriffe hinreichend konkretisiert habe. Im Hinblick auf die Entscheidung des BVerfG betonte das EuG, dass die Rechtsprechung eines Mitgliedstaats nicht für die Verfassungstradition aller Mitgliedsstaaten entscheidend sei, in anderen Mitgliedstaaten jedoch ähnliche oder identische Regelungen, wie der streitige Art. 15 VO 17/62, vorzufinden seien.218 In Anwendung der Anforderungen, wie sie durch den Gesetzmäßigkeitsgrundsatz angesichts dieser Erwägungen zu stellen seien, kam das EuG schließlich zu dem Ergebnis, dass Art. 15 VO 17/62 nicht zu beanstanden sei. Angesichts (i) der durch die Kappungsgrenze bestehenden, absoluten Bußgeldobergrenze, (ii) der von der Kommission zu beachtenden allgemeinen Rechtsgrundsätze, (iii) der durch diese wiederum festgelegten, sie selbst beschränkenden und dadurch zur Rechtssicherheit beitragenden Bußgeldleitlinien sowie (iv) der uneingeschränkten Nachprüfungsbefugnis der europäischen Gerichte bestehe letztlich kein dem Gesetzmäßigkeitsgrundsatz der Strafen widersprechendes, unbegrenztes Ermessen der Kommission.219 Der EuGH konnte seinerseits in der Argumentation des EuG keine Rechtsfehler erkennen.220 Vielmehr wiederholte und betonte dieser, dass die europäische Rechtsprechung zur Klarstellung der Kriterien und der Berechnungsmethode beigetragen habe, die die Kommission zu berücksichtigen und letztlich ihren Bußgeldleitlinien zugrunde gelegt habe.221 Insoweit sei zu berücksichtigen, dass sich die Klarheit des Gesetzes nicht nur nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmung bemesse, sondern auch nach den Präzisierungen durch die ständige, veröffentlichte Rechtsprechung.222

217 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 71; vgl. auch: Urt. v. 19.5.2010, Rs. T-11/05 – Wieland-Werke, Slg. 2010, II-86 (abgekürzt), Rn. 62 f.; Urt. v. 16.9.2013, Rs. T-386/10 – Aloys F. Dornbracht, Slg. 2013, I-0000, Rn. 62; Urt. v. 16.3.2013, T-375/10 – Hansa Metallwerke, Slg. 2013, I-0000, Rn. 51. 218 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 73. 219 EuG, Urt. v. 5.4.2006, Rs. T-279/02 – Degussa, Slg. 2006, II-897, Rn. 75 ff. 220 EuGH, Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P – Evonik Degussa, Slg. 2008, I-81, Rn. 36 ff. 221 EuGH, Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P – Evonik Degussa, Slg. 2008, I-81, Rn. 61 f. 222 EuGH, Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-266/06 P – Evonik Degussa, Slg. 2008, I-81, Rn. 40; vgl. auch EuG, Urt. v. 16.9.2013, Rs. T-386/10 – Aloys F. Dornbracht, Slg. 2013, I-0000, Rn. 63; Urt. v. 16.3.2013, T-375/10 – Hansa Metallwerke, Slg. 2013, I0000, Rn. 52.

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(2) Auswirkungen auf das Maß der Bestimmtheit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB? Es kann an dieser Stelle zunächst dahingestellt bleiben, ob Art. 7 EMRK, wie er von den europäischen Gerichten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR ausgelegt wurde, im Gegensatz zu Art. 103 Abs. 2 GG tatsächlich weniger strenge Anforderungen an die Bestimmtheit von Strafnormen im weiteren Sinne stellt. Selbst wenn dem so ist, können jedenfalls die Gewährleistungen der EMRK, die im deutschen Recht lediglich als Auslegungshilfen für die Grundrechte und Verfassungsgrundsätze dienen, keine Einschränkung der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen,223 sondern allenfalls ihre Erweiterung zur Folge haben.224 Die Auffassung der europäischen Gerichte wäre möglicherweise jedoch maßgeblich zu beachten, wenn das deutsche Kartellbußgeldrecht zwingend an das europäische Kartellbußgeldrecht angepasst werden musste, von der Rechtsprechung des EuGH Bindungswirkung ausginge oder aber jedenfalls ein vom europäischen Recht abweichendes Kartellbußgeldrecht allgemeinen Rechtsgrundsätzen widerspräche. (a) Keine zwingende Harmonisierung deutschen Kartellbußgeldrechts Es kann zunächst ausgeschlossen werden, dass Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 von den Mitgliedstaaten zwingend eins zu eins umzusetzen gewesen ist. Art. 5 VO 1/2003 spricht vielmehr davon, dass die Mitgliedstaaten von Amts wegen Geldbußen oder andere Sanktionen erlassen können. Mit anderen Worten schreibt die VO 1/2003 den Mitgliedstaaten weder im Allgemeinen vor, wie sie auf einen Kartellverstoß reagieren müssen, noch im Besonderen wie speziell das Kartellbußgeldrecht auszugestalten ist.225 Im Gegenteil. Mit der Abschaffung des früheren Legalausnahmesystems und der Einführung der für die Mitgliedstaaten pflichtigen dezentralen Anwendung des europäischen Kartellrechts wurde weder 223 Im Ergebnis ebenso, allerdings auf die abweichende Stellung der europäischen Gerichte ggü. der Kommission, die nicht auf das deutsche Kartell-Bußgeldverfahren übertragbar sei, abstellend: Barth/Budde, NZKart 2013, S. 311 ff. (315). 224 Art. 53 EMRK will keinen weitergehenden Schutz nationaler Grundrechte verhindern. Aus der Rechtsprechung: BVerfG, Beschl. v. 26.3.1987, Az. 2 BvR 589/79, 2 BvR 740/81, 2 BvR 284/85 – Privatklageverfahren, BVerfGE 74, 358 (370), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 29.5.1990, Az. 2 BvR 254/88, 2 BvR 1343/88 Unschuldsvermutung, BVerfGE 82, 106 (115), Rn. 35 (juris); Beschl. v. 14.11.1990, Az. 2 BvR 1462/87 – Bewährungsauflage, BVerfGE 83, 119 (128), Rn. 43 (juris); Beschl. v. 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04 – Görgülü, NJW 2004, 3407 (3408), Rn. 32 (juris). Vgl. ferner bereits: Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (b) (S. 244 ff.). 225 Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (9); Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (341); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 79.

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eine Harmonisierung des Verfahrensrechts noch eine solche des Sanktionsrechts angestrebt; beides wurde nicht für erforderlich gehalten.226 (b) Keine Bindungswirkung der Rechtsprechung des EuGH Bereits aus dem vorstehenden Grund kann von der Auslegung des EuGH keine Bindungswirkung für das BVerfG ausgehen. Das BVerfG hat ferner entschieden, dass es sich von einer grundrechtlichen Überprüfung zwingenden europäischen Rechts zurückzuhalten werde, soweit dieses selbst einen ausreichenden, mit dem Grundgesetz vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährt.227 Umgekehrt können deutsche Rechtsakte an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen werden, wenn das europäische Recht den Mitgliedstaaten Gestaltungs- und Handlungsspielräume bei der Umsetzung des Unionsrechts belässt.228 Daraus folgt, dass das BVerfG zwar nicht den – für die Kommission zwingenden – Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 anhand der verfassungsrechtlichen Grundsätze überprüfen kann, wohl aber § 81 Abs. 4 S. 2 GWB.229 Abgesehen davon, dass das Bundeskartellamt letzteren und gerade nicht Art. 23 VO Abs. 2 VO 1/2003 anwendet, stellt dieser für die Bundesrepublik kein zwingendes Recht dar. Damit bleibt das dem deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht unterworfene Kartellbußgeldrecht allein an deutschem Verfassungsrecht zu messen, wozu sich der EuGH – mangels insoweit bestehender Kompetenz230 – freilich nicht geäußert hat.231 226 Erwägungsgrund 16 der VO 1/2003; vgl. auch die Begr. zum Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag niedergelegten Wettbewerbsregeln und zur Änderung der Verordnungen (EWG) Nr. 1017/68, (EWG) Nr. 2988/74, (EWG) Nr. 4056/86 und (EWG) Nr. 3975/87 („Durchführungsverordnung zu den Artikeln 81 und 82 EG-Vertrag“) v. 27.9.2000, KOM(2000) 582 endgültig – 2000/0243 (CNS), S. 14, 19, im Internet abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2000:0582:FIN:DE:PDF. 227 BVerfG, Beschl. v. 7.6.2000, Az. 2 BvL 1/97 – Bananenmarktordnung, BVerfGE 102, 114 (164), Rn. 63 (juris). 228 BVerfG, E.A. v. 11.3.2008, Az. 1 BvR 256/08, NVwZ 2008, 543, Rn. 135 (juris); BVerwG, Urt. v. 30.6.2005, Az. 7 C 26/04, BVerwGE 124, 47 (63), Rn. 40 (juris); Frenz, Hdb. EuR, Bd. 4, S. 159; Pernice, in: Dreier, GG II, Art. 23 Rn. 30, 67; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 90. 229 Insoweit ist auch der Auffassung zu widersprechen, dass die Nichtigkeitserklärung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB aufgrund mangelnder Bestimmtheit umgekehrt auch Art. 23 Abs. 2 VO 1/2003 als Makel anhaften würde. So Mundt, WuW 2007, S. 458 ff. (465 f.); Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33). Wie hier auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 80 (Fn. 280). 230 Gemäß Art. 256 ff. AEUV überprüfen die europäischen Gerichte allein hoheitliches Handeln anhand des Primär- und Sekundärrechts der Europäischen Union. 231 Ebenso Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (23); Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 80; Brettel/Thomas, ZWeR 2009, S. 25 ff. (31); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 346; Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 78 f.

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(c) Verstoß gegen den effet utile-Grundsatz? Ackermann meint allerdings, dass die strenge Auslegung des Art. 103 Abs. 2 GG durch das BVerfG auf § 81 Abs. 4 S. 2 GWB keine Anwendung finden könne, da eine gesetzliche Festlegung einer Höchstgeldbuße innerhalb des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB gegen den „effet utile“-Grundsatz verstieße. Dieser verlange, dass das deutsche Kartellbußgeldrecht grundsätzlich wie das europäische Kartellbußgeldrecht auf Prävention im Sinne der Abschreckung ausgerichtet sei, soweit es um die Durchsetzung europäischen Kartellrechts gehe.232 Dazu sei es notwendig, dass sich das Kartellbußgeldrecht an dem Kartellen zugrunde liegenden, unternehmerischen Gewinnkalkül ausrichte und dieses letztlich insoweit korrigiere, dass der Anreiz zum Kartellverstoß wegfalle; dies könne eine Bußgeldhöchstgrenze nicht leisten.233 Im Übrigen sei die Höhe der Kartellgeldbuße für den Täter im Gegensatz zur Kriminalstrafe oder Geldbuße wegen anderer Ordnungswidrigkeiten unmittelbar zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung erkennbar, da sie sich an der Höhe des zu erwarteten Gewinns ausrichte.234 Zunächst ist dem zu entgegnen, dass weder das EuG noch der EuGH in ihren jeweiligen Urteilen die Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf den „effet utile“-Grundsatz in Frage gestellt haben. Beide Gerichte nahmen es, wohl auch vor dem Hintergrund, dass das Kartellbußgeldrecht nicht harmonisiert werden musste, vielmehr in Kauf, dass mit Art. 15 VO 17/62 vergleichbare nationale Regelungen innerstaatlichem Verfassungsrecht widersprechen.235 Abgesehen davon, vermag der legitime Zweck der Prävention verfassungsrechtliche Bedenken nicht auszuräumen. Der „effet utile“-Grundsatz verbietet nämlich nur, dass die Ziele des Unionsrechts nicht durch innerstaatliche Maßnahmen konterkariert oder unmöglich gemacht werden.236 Davon kann jedoch keine Rede sein, wenn das nationale Recht dem Bundeskartellamt die Befugnis zur Verhängung von spürbaren Sanktionen einräumt. Insofern ist nicht hausgemacht, dass eine neben oder anstelle der Kappungsgrenze bestehende Bußgeldobergrenze einen wesentlich geringeren Abschreckungseffekt erzielen würde und damit den Zielen des Unionsrechts entgegenstünde. Zudem besagt der „effet utile“-Grundsatz gerade nicht, dass die nationale Geldbuße gleichermaßen abschreckend wirken muss, wie ihr europäisches Pendant. Erst wenn sie sich als ineffektiv erwiese, würde der „effet utile“-Grundsatz tangiert. Gleiches würde etwa für den Fall gelten, dass das BVerfG § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, ohne eine Übergangsregelung zu treffen, für

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Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 ff. (10 f., 12 f.). Vertiefend dazu Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. 234 Ackermann, ZWeR 2010, S. 329 ff. (342); Ackermann, ZWeR 2012, S. 3 ff. (13). 235 Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (33). 236 Zum „effet utile“-Grundsatz: Teil 2 § 3 A. II. (S. 105 ff.). 233

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nichtig erklärt, sodass Zuwiderhandlungen gegen das Kartellverbot vorübergehend nicht mehr bußgeldbewehrt wären.237 4. Ergebnis

Nach alledem lässt sich festhalten, dass § 81 Abs. 4 S. 1 GWB zwar (noch) den Bestimmtheitsanforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG, wie sie das BVerfG mit Blick auf die Vermögensstrafe entwickelt hat, gerecht wird. Hingegen lässt sich die Verfassungswidrigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB wegen Verstoßes gegen den durch die Wesentlichkeitstheorie des BVerfG ergänzten Bestimmtheitsgrundsatz gemäß Art. 103 Abs. 2 GG nicht überzeugend bestreiten, und zwar unabhängig davon, ob die Vorschrift – wie hier vertreten – als Kappungsgrenze oder – wie von der Rechtsprechung vertreten – als Bußgeldobergrenze zu qualifizieren ist. Denn der Regelung fehlt eine abstrakt feststehende Bußgeldobergrenze, die nicht erst mithilfe der individuell verschiedenen Umsätze der betroffenen Unternehmen bestimmt oder gar geschätzt werden muss. Die Zumessungskriterien können die dadurch bewirkte, unzureichende Orientierungswirkung des Bußgeldtatbestands nicht auffangen, da sie ihre ermessensbeschränkende Wirkung nur innerhalb eines vorgezeichneten Sanktionsrahmens entfalten können. Gleichermaßen schaffen die informellen Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamts keine Abhilfe, da sie – dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes widersprechend – nicht von dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber erlassen wurden. Weder die europäische Rechtslage noch die abweichende, zur europäischen Bußgeldregelung ergangene Rechtsprechung des EuG und des EuGH in der Sache Evonik Degussa zeitigen Auswirkungen auf das deutsche Kartellbußgeldrecht und die Auslegung nationalen Verfassungsrechts. Die Verfassungswidrigkeit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB tangiert umgekehrt nicht die Rechtmäßigkeit des Art. 23 VO 1/2003 und widerspricht auch nicht dem „effet utile“-Grundsatz, solange eine zureichend abschreckende Bebußung kartellrechtswidrig handelnder Unternehmen möglich bleibt. Daher erübrigt sich auch die Beantwortung der schwierigen Frage nach einer Konfliktlösung zwischen zwingendem europäischen Recht und deutschem Verfassungsrecht. Zwar bleibt das Bundeskartellamt bis zu einer Entscheidung des BVerfG gemäß Art. 100 GG verpflichtet, § 81 Abs. 4 S. 2 GWB anzuwenden.238 Insoweit war es also durchaus zu begrüßen, dass das Bundeskartellamt wenigstens mit 237 Baron, in: Studienvereinigung Kartellrecht e. V., Kartellrecht in Theorie und Praxis, S. 25 ff. (34). 238 Bis zu einer Entscheidung des BVerfG besteht ein durch das verfassungsrechtliche Prinzip der Rechtssicherheit geschützter Rechtsschein zugunsten der Gültigkeit der Norm, der dazu führt, dass sich niemand mit Erfolg auf die Nichtigkeit der Norm berufen kann. Vgl. BVerfG, Urt. v. 23.10.1951, Az. 2 BvG 1/51 – Südweststaat, BVerfGE 1, 38, Rn. 97 (juris).

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seinen Bußgeldleitlinien 2006 zu mehr Orientierung im Kartell-Bußgeldrecht beigetragen hat, auch wenn die durch sie begründete Rechtssicherheit mit der Veröffentlichung der Bußgeldleitlinien 2013 ohnehin wieder entfallen ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Gesetzgeber seine Kernkompetenz nicht ausgeübt, sondern diese – mit der Verfassung unvereinbar – gemäß § 81 Abs. 7 GWB auf das Bundeskartellamt übertragen hat. III. Die informellen Vollzugsinstrumente des Bundeskartellamtes im Lichte des Parlamentsvorbehalts Aus dem vorstehenden Ergebnis ergibt sich bereits, dass das Bundeskartellamt grundsätzlich nicht befugt ist, die wesentlichen Vorgaben für die Bußgeldzumessung selbst zu regeln. Soweit die Bußgeldleitlinien 2006 als Ersatz für den fehlenden, gesetzlichen Bußgeldrahmen dienten, indem sie den tatbezogenen Umsatz zum Referenzmaßstab der Bußgeldbemessung setzten, widerspricht dies dem Parlamentsvorbehalt. Gleiches gilt für die nunmehr in den Bußgeldleitlinien 2013 etablierte, gesetzeswidrige Grenze des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials unterhalb der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“, auch wenn das Bundeskartellamt mit dieser eine – grundsätzlich anerkennenswerte – dem Schuldprinzip entsprechende Sanktionierung ermöglichen will. Neben den Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes dominieren nach den Feststellungen dieser Arbeit darüber hinaus zwei gesetzlich ungeregelte Vollzugsinstrumente des Bundeskartellamtes das Bußgeldverfahren: die Bonusregelung und die Settlementpraxis. Angesichts ihrer Bedeutung, aber auch vor dem Hintergrund, dass der Strafrichter durch die Regelungen des § 46b StGB und des § 257c StPO vom Gesetzgeber explizit zur Gewährung eines Strafrabatts und zu „verfahrensbeendigenden“ Verständigungen ermächtigt wurde, stellt sich die Frage, ob der Parlamentsvorbehalt nicht vergleichbare gesetzliche Regelungen im Kartell-Bußgeldverfahren zwingend erfordert. Dies ist anhand der bereits erläuterten Wesentlichkeitstheorie zu beantworten. 1. Settlements

Die Untersuchung der Kompetenz des Bundeskartellamtes zur Einführung der Settlement-Praxis hat ergeben, dass sich die Kartellbehörde im Rahmen des ihr zugewiesenen Verfolgungsermessens gemäß § 47 Abs. 1 OWiG bewegt, wenn sie sich zu einer einvernehmlichen Verfahrensbeendigung entschließt.239 Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass es der erhebliche Ermittlungsaufwand bei Kartellen rechtfertigt, dass das Bundeskartellamt sich Mittel zur effizienteren

239

Teil 2 § 4 E. IV. (S. 196 ff.).

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und verfahrensbeschleunigenden Tätigkeit im öffentlichen Interesse bedient.240 Die Zulässigkeit dieses Vorgehens beantwortet jedoch nicht, ob es für Settlements generell einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedarf, welche die wesentlichen Rahmenbedingungen einer informellen, „verfahrensbeendigenden“ Vereinbarung regelt. Nach der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG wäre dies anzunehmen, wenn sich Settlements als „wesentlich“ für die Grundrechtsausübung erweisen. Settlements bilden eine Schnittstelle zwischen der Ermittlungs- und Entscheidungsphase des Bußgeldverfahrens, indem sie sowohl die Reichweite des Bußgeldverfahrens steuern, als auch die Bußgeldbemessung teilweise antizipieren. Beides hat letztlich Auswirkungen auf die konkrete Höhe des Bußgeldes, mit dem Betroffene eines Kartell-Bußgeldverfahrens zu rechnen haben. Angesichts der durch § 81 Abs. 4 GWB zulässigen, sehr hohen Geldbußen im Kartellrecht hat der Bußgeldbescheid zweifellos eine ganz erhebliche Grundrechtsrelevanz. Geldbußen, die gegen Unternehmen verhängt werden, können nach derzeit geltendem Recht leicht in zwei- bis dreistelliger Millionenhöhe liegen und tangieren mithin nicht nur unwesentlich das Recht auf freie unternehmerische Entfaltung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG. Gleichermaßen kann die Bußgeldobergrenze von einer Million Euro für natürliche Personen sicherlich nicht als unwesentlicher Eingriff zumindest in ihre allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG bezeichnet werden. Sowohl für Unternehmen als auch ihre Vertreter haben Kartellgeldbußen daher in der Regel gravierende, wirtschaftliche Folgen. Settlements begünstigen zwar die Kartellbeteiligten, indem sie zu einer Bußgeldermäßigung führen; sie können jedoch nicht aus dem Kontext der erheblich eingriffsintensiven Sanktionierung herausgerissen werden,241 da ihnen ohne die Bußgeldahndung keine selbstständige Bedeutung zukommt. Vielmehr funktionieren sie gerade aufgrund der sehr hohen Bußgeldandrohung. Im Übrigen gewährt das Bundeskartellamt eine Bußgeldermäßigung nicht ohne Gegenleistung. Mit Settlements verzichten Betroffene auf eine effektive Verteidigung und damit auf die Möglichkeit, auch ohne passive Kooperation, aufgrund der bestehenden Beweislage zu einer milderen Sanktion oder gar zu einem „Freispruch“ zu gelangen. Neben dem Verzicht auf das elementare Aussageverweigerungsrecht sollen Betroffene nach dem Willen des Bundeskartellamtes insbesondere auch auf die umfassende Wahrnehmung ihres Akteneinsichtsrechts verzichten. Dies offenbart, dass nicht allen Maßnahmen, durch welche der gesetzlich ermöglichte Eingriff abgemildert wird, die „Intensität einer Beeinträchti-

240 Vgl. insb. Teil 2 § 4 E. IV. 2. b) dd) (S. 204 ff.), Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) cc) (S. 210 ff.) und Teil 2 § 4 E. IV. 2. d) (S. 213 ff.). 241 So aber zur Bonusregelung: Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (613), der nichtsdestotrotz aus diesem Grund schließt, die Bonusregelung müsse am Maßstab des Parlamentsvorbehalts gemessen werden.

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Teil 4: Gesamtbewertung des Ermessens des Bundeskartellamtes

gung“ fehlt, weil sie hinter dem grundsätzlich möglichen Eingriff zurückbleiben.242 Settlements sind nicht nur als begünstigendes, für die Grundrechtsverwirklichung irrelevantes staatliches Handeln zu begreifen. Vielmehr sind sie im eingriffsintensiven Bereich des Kartellbußgeldrechts eingebettet und auch als solche zu bewerten. Stellte man allein auf den positiven finanziellen Aspekt ab, verschleierte dies die erheblichen Auswirkungen auf die Stellung der Betroffenen und die auch aus Sicht der Öffentlichkeit bedeutende Aufgabe der wesentlichen Verfahrensrechte als Garantien eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Insoweit wurde festgestellt, dass Settlements neben den Grundrechten der Betroffenen auch das Rechtsstaatsprinzip tangieren. Nicht nur, dass das Bundeskartellamt hinter verschlossenen Türen verhandelt, unter Umständen die Amtsermittlungspflicht vernachlässigt243 und die Ergebnisse seines Handelns durch eine Beschränkung der Berichterstattung der Allgemeinheit nicht umfassend darlegt. Paktiert der Staat mit Kriminellen, kann das Rechtsbewusstsein und die Einstellung der Allgemeinheit gegenüber dem Wettbewerbsprinzip negativ tangiert werden. Inwieweit die durch einvernehmliche Verfahrensbeendigungen bewirkte Effizienz und unter Umständen auch Effektivität des Bundeskartellamtes diese potentiellen Nachteile aufwiegt oder sogar verhindert, ist eine Frage, die als grundlegend zu bezeichnen und daher im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens umfassend zu erörtern und zu diskutieren ist. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass Settlements nicht nur die Verfahrensrechte geständiger Betroffener, sondern auch den Gleichbehandlungsanspruch nicht-kooperierender Betroffener berühren, auch wenn dieser nach hier vertretener Auffassung nicht verletzt ist.244 Eine generell-abstrakte Regelung ist dem Gesetzgeber durchaus zuzutrauen. Es ist jedenfalls kein Grund ersichtlich, warum dieser mit einer Regelung überfordert sein sollte. Schließlich hat der Gesetzgeber eine – zugebenermaßen nicht unbestrittene, nunmehr aber für verfassungsgemäß erklärte – Vorschrift zur Verständigung im Strafverfahren, nämlich § 257c StPO geschaffen. Dass eine gesetzliche Vorschrift zu einer zu starken, die Flexibilität des Bundeskartellamtes ausschließenden Einengung führen würde, ist ebenso wenig zu befürchten. Wie das Beispiel des § 257c StPO zeigt, lassen die strafprozessrechtlichen Regelungen dem Strafrichter genügend Spielraum, flexibel zu reagieren. Als für die Grundrechtsausübung Betroffener und die Verwirklichung rechtsstaatlicher Grundsätze im Bußgeldverfahren wesentliche Sachmaterie bedürfen Settlements daher einer abstrakt-generellen Regelung durch den Gesetzgeber. Insoweit erscheint es unverständlich, dass der Gesetzgeber gerade für das behördliche Kartell-Bußgeldverfahren nicht einmal eine Verweisungsvorschrift auf

242 243 244

So zur Bonusregelung: Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (614). Dass diese Gefahr besteht, wurde oben deutlich: Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.). Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 3. (S. 291 ff.).

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§ 257c StPO für notwendig erachtete, obgleich er gerade dieses als eines der wenigen für Verständigungen überhaupt geeigneten, behördlichen Bußgeldverfahren explizit benannte.245 Der in der Gesetzesbegründung aufgeführte Hinweis, dass die Verfolgungsbehörde bereits wegen des Rechts der Betroffenen auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren gezwungen ist, die wesentlichen Regelungen des § 257c StPO innerhalb des Bußgeldverfahrens einzuhalten, kann insoweit keine Abhilfe schaffen. Erstens kommt der Gesetzesbegründung nicht die Verbindlichkeit einer gesetzlichen Regelung zu. Zweitens ergibt sich die Erforderlichkeit einer Ermächtigungsgrundlage auch aus dem uneingeschränkt auch im Bußgeldverfahren geltenden Aufklärungsgrundsatz, der geradezu zwangsläufig durch „Deals“, wie Settlements, beeinträchtigt wird. Und drittens ist es an dem Gesetzgeber zu regeln, was dieser für „wesentlich“ für die Verwirklichung der Verfahrensrechte der Betroffenen befindet. Vor allem aber kommt viertens hinzu, dass de iure und de facto keine Mechanismen zur Sicherstellung der Einhaltung der „wesentlichen“ Vorgaben des § 257c StPO im kartellbehördlichen Bußgeldverfahren existieren, da übermäßig profitierende, kooperierende Kartellbeteiligte keinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einlegen werden und Dritten kein Rechtsbehelf zugestanden ist. Dies alles offenbart, dass es einer gesetzlichen Regelung der Rahmenbedingungen für Settlements bedarf. 2. Kronzeugenregelung

Im Gegensatz zu Settlements wurde die Frage, ob es einer gesetzlichen Ermächtigung zur Praktizierung eines Kronzeugenprogramms bedarf, in der Literatur bereits eingehend diskutiert. Angesichts des mit der Bonusregelung intendierten und nunmehr etablierten, „neuartigen“ Systems der Kartellverfolgung durch Kombination von abschreckend hohen Geldbußen und erheblichen Anreizen, äußerten verschiedene Stimmen in der Literatur Zweifel, dass die bloß exekutive Regelung des Kronzeugenprogramms mit dem allgemeinen Parlamentsvorbehalt zu vereinbaren ist.246 Jedenfalls mit der Integration der Regelung des § 81 Abs. 7 GWB, die das Bundeskartellamt entsprechend der Gesetzesbegründung zum Erlass einer Kronzeugenregelung ermächtige, habe der Gesetzgeber jedoch, so die Gegenstimmen, den Kritikern „den Wind aus den Segeln genommen“.247 Dieser pauschale Ansatz überzeugt indes nicht. An mehreren Stellen dieser Arbeit 245 Begr. BRegE des Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren v. 18.3.2009, BT-Drs. 12310, S. 1 ff. (16). 246 Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 256; Wegner, wistra 2000, S. 361 ff. (367); Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 440, andererseits aber auch: Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 469. 247 So ausdrücklich: Zagrosek, Kronzeugenregelungen im U.S.-amerikanischen, europäischen und deutschen Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 119; ähnlich WrageMolkenthin/Bauer, in: FK/Kartellrecht, GWB 2005, Vorbem. §§ 81–86 Rn. 25; Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (613 f.).

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wurde deutlich, dass der Erlass von Verwaltungsgrundsätzen ein originäres Recht der Verwaltung darstellt. Der Gesetzgeber ist im Umkehrschluss nicht befugt, die Verwaltung zur Schaffung von Innenrecht zu „ermächtigen“. Etwas anderes gilt allein für die Übertragung originärer Rechtssetzungskompetenzen im Wege der Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen gemäß Art. 80 GG. Davon hat der Gesetzgeber jedoch keinen Gebrauch gemacht. Selbst wenn der Gesetzgeber diesen Weg gewählt hätte, hätte sich die Frage, ob er selbst zu einer Regelung des Kronzeugenprogramms verpflichtet ist, damit nichtsdestotrotz längst nicht erledigt. Vielmehr ist es nach der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG gerade entscheidend, ob es sich bei diesem Vollzugsinstrument um eine derart wesentliche Sachmaterie für die Grundrechtsverwirklichung Betroffener handelt, dass es einer demokratisch legitimierten, grundlegenden Entscheidung des Gesetzgebers bedarf. In diesem Fall darf es der Gesetzgeber weder der Verwaltung sehenden Auges überlassen, Inhalt, Zweck und Ausmaß der Eingriffsermächtigung selbst zu regeln, noch darf er hierzu explizit ermächtigen.248 Gegen die „Wesentlichkeit“ des Kronzeugenprogramms spricht, wie bei Settlements, jedenfalls nicht allein der Umstand, dass sich die aktive Kooperation für Betroffene eines Bußgeldverfahrens „auszahlt“. Die Begünstigung darf nicht aus dem Kontext der sie erst ermöglichenden Androhung erheblich eingriffsintensiver Bußgeldgelder herausgerissen werden. Ferner stellen sich auch Kronzeugenprogramme nicht für alle Parteien gleichermaßen als Gewinn heraus. Sie tangieren, wie Settlements, das Recht des Betroffenen sich nicht selbst belasten zu müssen, indem sie erhebliche, in Anbetracht der „Sanktionsscheren“-Rechtsprechung jedenfalls grenzwertige Bußgeldreduktionen ermöglichen und Betroffene durch enge Zeitfenster „zwingen“, sich schnell zu entscheiden. Ferner besteht im Kampf um hohe Bußgeldreduktionen eine nicht zu unterschätzende Gefahr für nicht-kooperierende Betroffene, mit haltlosen oder übertriebenen Anschuldigungen der kooperierenden Kartellbeteiligten konfrontiert zu werden, die auf diese Weise versuchen, die Qualität ihres Bonusantrags unter Unterminierung ihrer eigenen Rolle zu verbessern.249 Obgleich der Gefahr des Missbrauchs durch eine intensive Prüfung der Aussagen beizukommen ist und die Grundrechtseingriffe durch die vom Bundeskartellamt etablierte Bonusregelung nach hier vertretener Auffassung gerechtfertigt sind, handelt es sich nichtsdestotrotz um eine grundlegende Frage, ob ein Rechtsstaat den Schwerpunkt seiner „Strafverfolgung“ vom traditionellen subordinativen Staat-Bürger-Verhältnis auf ein System verlagern will, das aus der Wechselwirkung zwischen Abschreckung hoher Geldbußen und staatlicher Anreize durch hohe Sanktionsnachlässe besteht und sich zu gro248

Vgl. Teil 4 § 2 C. I. 1. (S. 503 ff.). Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 69; Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 442; ferner auch: OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell, Rn. 414 (juris). 249

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ßen Teilen auf Aussagen der Kartellbeteiligten stützt.250 Die Konsequenzen für alle Betroffenen eines Bußgeldverfahrens sind zur Beantwortung dieser Frage ebenso in Abwägung zu bringen, wie etwaige positive Wirkungen auf die Effektivität des Bundeskartellamtes, die zu ermittelnden Auswirkungen auf die Intensität des Wettbewerbsschutzes, aber auch auf die Glaubwürdigkeit der kartellbehördlichen Praxis und das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit.251 Es dürfte offensichtlich sein, dass diese Aufgabe angesichts der Vielzahl widerstreitender Interessen nicht leicht zu lösen ist. Gleichermaßen eindeutig ist aber auch, dass das Kronzeugenprogramm sowohl für die Grundrechtsverwirklichung der Betroffenen als auch für das generelle Verständnis von staatlicher Kartellverfolgung und damit für das Gemeinwesen von wesentlicher Bedeutung ist. Die Entscheidung für ein Kronzeugenprogramm sollte daher auf den Willen des Volkes und damit auf eine Entscheidung des demokratisch legitimierten Parlaments zurückzuführen sein. Dem ist der Gesetzgeber mit der Regelung des § 81 Abs. 7 GWB nicht nachgekommen. Selbst wenn die Vorschrift das Bundeskartellamt ausdrücklich ermächtigen würde, eine Kronzeugenregelung zu erlassen, was ihrem Wortlaut so eindeutig jedoch nicht zu entnehmen ist, hätte der Gesetzgeber zumindest die wesentlichen Rahmenbedingungen, nämlich Anlass, Gegenstand und Ausmaß des Kronzeugenprogramms selbst regeln müssen. Der bloße Hinweis des Gesetzgebers in der Gesetzesbegründung zur 7. GWB-Novelle, wonach das Bundeskartellamt nunmehr auch zum Erlass einer Kronzeugenregelung befugt sei,252 offenbart zwar dessen positive Haltung gegenüber der Bonusregelung des Bundeskartellamt, kann sie allerdings nicht verfassungsrechtlich legitimieren. Für das Strafrecht hat der Gesetzgeber insofern zu Recht eindeutig Stellung bezogen und die grundlegenden Regeln einer solchen „Zusammenarbeit“ zwischen Strafgericht und Beschuldigten u. a. in der großen Kronzeugenregelung des § 46b StGB abgesteckt. Die Bonusregelung geht, indem sie das sogenannte Windhundrennen zum Schwerpunkt des Kronzeugenprogramms generiert und absolute Nachlassgrenzen festlegt, über die strafgesetzlichen Rahmenbedingungen des § 46b StGB nochmals hinaus.253 Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob derartige für Betroffene erheblich höhere Belastungen durch die bezweckte Effektivität des Bundeskartellamtes gerechtfertigt sind. Gleichermaßen ist es an dem Parlament abzuwägen, ob die Offenbarung eines bislang unent250

Zutreffend Hetzel, Kronzeugenregelungen im Kartellrecht, S. 256. Sehr krit. zum System „Kartellverfolgung mithilfe von Kronzeugen“ etwa Stockmann, ZWeR 2012, S. 20 ff. (33 ff.), der das Programm mit dem mittelalterlichen Ablasshandel in Verbindung bringt. 252 Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 67. 253 Ebenso Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (150 f.). Dies spricht auch gegen das von Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (614) angeführte Argument, im „weniger grundrechtsintensiven Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts“ reiche es aus, dass die Verwaltung die grundlegenden Gedanken der strafrechtlichen Kronzeugenregelungen überträgt. 251

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deckten Kartells einen automatischen Sanktionserlass rechtfertigt. Die Bonusregelung, die derzeit Kartellbeteiligten den vollständigen Bußgelderlass zusichert, birgt eine erhebliche Gefahr, dass die zuständige Beschlussabteilung, um die Attraktivität des Programms nicht zu gefährden, ihre Pflicht zur Abwägung aller Umstände des Einzelfalls vernachlässigt, sich auf eine Prüfung der Voraussetzungen, nämlich der Erlangung eines Durchsuchungsbeschlusses und der uneingeschränkten Kooperation im Übrigen, beschränkt und sich bei deren Vorliegen zu einem Bußgelderlass gezwungen sieht. Dies aber widerspricht dem in § 47 Abs. 1 OWiG und § 81 Abs. 4 GWB hinterlegten Opportunitätsprinzip. Schließlich kann nur eine gesetzliche Regelung ein ausreichend hohes Maß an Rechtssicherheit garantieren. Denn die Bonusregelung kann nicht nur vom Präsidenten des Bundeskartellamtes jederzeit geändert werden; sie bindet darüber hinaus auch nicht das Beschwerdegericht. IV. Fazit Das Kartell-Bußgeldverfahren wird derzeit von ungeregelten Vollzugselementen des Bundeskartellamtes dominiert, die unzureichende oder gänzlich fehlende abstrakt-generelle Regelungen des Gesetzgebers ersetzen. Diese Rechtslage hat der Gesetzgeber intendiert; mit weitreichenden normativen Kompetenzzuweisungen an das Bundeskartellamt beabsichtigte er die Angleichung deutschen Kartellrechts an das europäische Kartellrecht und eine dadurch erhöhte Abschreckungswirkung.254 Diese Erwägungen rechtfertigen indes nicht die sich aus der vorstehenden verfassungsrechtlichen Würdigung der Rechtslage ergebenden Bedenken. Vielmehr wirken sie unreflektiert. Die Harmonisierungsbestrebungen des Gesetzgebers mögen als Beitrag zu mehr Rechtssicherheit gut gemeint gewesen sein, wenn sie nicht, wie einige Stimmen in der Literatur andeuten,255 fiskalischen Interessen geschuldet waren. Weder die – hier ohnehin in Frage gestellte256 – Abschreckungswirkung des geltenden Kartellbußgeldrechts noch das europäische Recht können jedoch die Verletzung elementarer Verfassungsgrundsätze rechtfertigen. Dies ergibt sich eindeutig aus der Rechtsprechung des BVerfG, welches die unsichere, da mit Art. 103 Abs. 2 GG unbestimmte (und dadurch auch abschreckende) Androhung der Vermögensstrafe gemäß § 43a StGB für verfassungswidrig erklärte. Jedenfalls soweit europäisches Recht, wie im Kartellrecht, keine zwingenden Gestaltungsaufträge an die Mitgliedstaaten erteilt und der „effet utile“-Grundsatz durch eine abweichende nationale Regelung nicht tangiert ist, kann auch europäisches Recht verfassungsrechtliche Gewährleistungen nicht beschränken. Letztere wurden im Gesetzgebungsverfahren jedoch nicht ein254

Begr. BRegE der 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 2, 42, 43, 46. Gürtler, in: Göhler, OWiG, § 17 Rn. 48c; Stockmann, in: Bechtold/Brinker/ Scheuing u. a., Recht und Wettbewerb, S. 559 ff. (566). 256 Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.). 255

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mal geprüft, und dies obwohl bereits die Vorgängerreglung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG in der Literatur in Kritik stand.257 Aus der unmissverständlichen und – mangels überzeugender entgegenstehender Argumente – auf das Bußgeldverfahren zu übertragenden Rechtsprechung des BVerfG zur Strafandrohungsbestimmtheit folgt eine offensichtliche, nicht unerhebliche Unbestimmtheit des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, die wegen der Wesentlichkeit der Bußgeldbestimmung für die Grundrechtsausübung der Betroffenen nicht durch exekutives Innenrecht in Form von Bußgeldleitlinien aufgefangen werden kann. Auch im Hinblick auf die Bonusregelung und Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes ergab die Untersuchung, dass diese für die Grundrechtsverwirklichung wesentliche und daher – entsprechend der Wesentlichkeitstheorie des BVerfG – vom Gesetzgeber zu regelnde Sachmaterien beinhalten. Dadurch wird, entgegen Wiesner, auch nicht das gemäß § 47 Abs. 1 OWiG im Ordnungswidrigkeitenrecht umfassend geltende Opportunitätsprinzip in Frage stellt.258 Abgesehen davon, dass die Sachrichtigkeit des Opportunitätsprinzip hinsichtlich der Verfolgung und Ahndung von gravierenden Hardcore-Kartellen ohnehin bezweifelt werden darf,259 kann das Bundeskartellamt bei pflichtgemäßer Ermessensausübung im Hinblick auf Hardcore-Kartelle nur in Ausnahmefällen oder aufgrund eines besonderen sachlichen Legitimationsgrundes zu dem Ergebnis gelangen, dass ein Ahndungsverzicht gerechtfertigt ist, da das zu berücksichtigende öffentliche Interesse grundsätzlich eine Verfolgungs- und Ahndungspflicht auslöst.260 Zwar können Effektivitäts- und Effizienzerwägungen unter Geltung des Opportunitätsprinzips eine eingeschränkte Verfolgung und Ahndung rechtfertigen. Im Falle begangenen Bagatellunrechts machen Vergleichsverhandlungen jedoch keinen Sinn und sind nach dem Willen des Gesetzgebers nicht gestattet.261 Ebenso wäre eine Kronzeugenregelung angesichts der drohenden, geringfügigen Sanktionen nicht nur ineffektiv; sie wäre überdies in Relation zum begangenen Unrecht unverhältnismäßig. Kronzeugenprogramme und „verfahrensbeendigende“ Vergleichsverhandlungen sind daher gerade nur bei schwerwiegenden und gleichzeitig schwierig zu ermittelnden Ordnungswidrigkeiten, wie Kartell-Ord-

257 Klusmann, in: Wiedemann, Hdb. Kartellrecht, § 57 Rn. 78a; Achenbach, in: FK/ Kartellrecht, GWB 2005, § 81 Rn. 382; Achenbach, WuW 2002, S. 1154 ff. (1160); Fuchs, WRP 2005, S. 1384 ff. (1391, Fn. 85); Meessen, WuW 2004, S. 733 ff. (740 ff.); a. A. Dannecker/Biermann, in: IM/GWB, § 81 Rn. 313. 258 Wiesner, WuW 2005, S. 606 ff. (613). 259 So auch Hassemer/Dallmeyer, Gesetzliche Orientierung im deutschen Recht der Kartellgeldbußen und das Grundgesetz, S. 66; umfassend zur Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit von Hardcore-Kartellen: Teil 2 § 3 B. III. 2. b) (S. 132 ff.) und ihrer daraus folgenden, regelmäßigen Verfolgungs- und Ahndungspflicht: Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.). 260 Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.). 261 Teil 2 § 4 E. IV. 2. c) bb) (S. 208 ff.).

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nungswidrigkeiten, unter dem geltenden Opportunitätsprinzip erlaubt.262 Wenn die Mehrzahl der (Bagatell-)Ordnungswidrigkeiten jedoch nicht mithilfe derartiger kriminaltaktischer Instrumente verfolgt werden darf, jenen also nur ein begrenzter Anwendungsbereich verbleibt, offenbart dies, dass die Forderung nach deren Normierung keine grundlegende Beeinträchtigung des Opportunitätsprinzips zur Folge hat. Im Übrigen verfängt das Argument bereits deshalb nicht, weil das vom Gesetzgeber installierte Opportunitätsprinzip sich stets an der Verfassung und damit am Gewaltenteilungsgrundsatz messen lassen muss. Indem es der Gesetzgeber unterließ, zumindest die grundlegenden Rahmenbestimmungen für die Bebußung juristischer Personen und Personenvereinigungen, für die von ihm im Kartell-Bußgeldverfahren ersichtlich begrüßten Kronzeugenregelungen und einvernehmlichen Verfahrensbeendigungen selbst zu bestimmen, hat er seine ihm verfassungsmäßig zuerkannten Kernkompetenzen nicht ausgeübt. Mehr noch hat dieser das Bundeskartellamt – unter Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes – mit der Installation der Regelung des § 81 Abs. 7 GWB ausdrücklich dazu beauftragt, dessen Kernkompetenzen wahrzunehmen. Zwar ist das Bundeskartellamt mit seiner quasi-legislativen Tätigkeit größtenteils zu sachgerechten Ergebnissen gelangt. Auch ist anzuerkennen, dass die Kartellbehörde bis zur Veröffentlichung der Bußgeldleitlinien 2013 mit den Bußgeldleitlinien 2006 dazu beigetragen hat, die extrem unsichere Rechtslage hinsichtlich der Bußgeldahndung juristischer Personen und Personenvereinigungen weitgehend abzumildern. Dies kann jedoch weder über die Verfassungswidrigkeit der Kernkompetenzübertragung durch den Gesetzgeber noch über die damit verbundenen, nun im Einzelnen darzustellenden problematischen Folgen hinwegtäuschen.

E. Praktische Konsequenzen des Kompetenzzuwachses beim Bundeskartellamt Der durch die unzureichend gesetzlich geregelten Rahmenbestimmungen bewirkte, weite Ermessensspielraum des Bundeskartellamtes führt in der Praxis zu erheblichen Unsicherheiten. Daraus ergeben sich nicht nur für die Betroffenen, sondern mittelbar auch für geschädigte Dritte und die Allgemeinheit problematische Konsequenzen. I. Aus Sicht der (potentiellen) Betroffenen eines Bußgeldverfahrens Die Geschäftsführung bzw. der Vorstand einer juristischen Person ist gemäß § 93 Abs. 1 S. 1 AktG verpflichtet, die Sorgfalt eines gewissenhaften und sorgfältigen Geschäftsführers anzuwenden und Schaden von der Gesellschaft abzuwen262 Vgl. für Settlements die Ausführungen in: Teil 2 § 4 E. IV. (S. 196 ff.) sowie zur Bonusregelung: Teil 2 § 4 F. IV. 1. (S. 307 ff.).

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den.263 In ihrer Entscheidungsfindung verbleibt der Geschäftsführung zwar ein unternehmerischer Ermessensspielraum.264 Um ihre Sorgfaltspflicht nicht zu verletzen und eine eigene Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 S. 1 AktG zu vermeiden, muss die Geschäftsführung ihre Entscheidungen jedoch gemäß Art. 93 Abs. 1 S. 2 AktG stets auf einer nachvollziehbaren Abwägung aller wesentlichen, sorgfältig ermittelten Informationen stützen.265 Erfährt die Geschäftsführung von einem Kartell, muss sie sich also überlegen, ob sie die Beteiligung der von ihr vertretenen juristischen Person dem Bundeskartellamt gegenüber offenbart, um eine Bebußung des Unternehmens abzuwenden, oder, sofern ein Bußgeldverfahren bereits eingeleitet wurde, ob es mit der Kartellbehörde kooperiert, um den für das Unternehmen drohenden „Schaden“ zu begrenzen. Dabei wird sie auf der einen Seite Faktoren, wie die Aufdeckungs- und Ahndungswahrscheinlichkeit, der im Fall eines Bußgeldverfahrens drohende Marken- und Imageverlust, mögliche Vergabesperren und Schadensersatzansprüche, Verteidigungskosten und die Höhe der Geldbuße im Falle einer auf Verteidigung ausgerichteten Prozessführung berücksichtigen müssen.266 Auf der anderen Seite drohen, sofern das Kartell noch nicht entdeckt wurde, womöglich gar nicht erst zu befürchtende, mit der Kooperation jedoch erleichterte Schadensersatzprozesse. Image- und materielle Schäden sind geradezu vorprogrammiert. Allerdings besteht die Möglichkeit eines Bußgelderlasses nach Randnummer 3 der Bonusregelung. Zudem ist die Geschäftsführung generell verpflichtet, für die sofortige Einstellung kartellrechtswidrigen Verhaltens zu sorgen, andernfalls handelt sie nach § 130 OWiG jedenfalls ab dem Zeitpunkt ihrer Kenntnis selbst ordnungswidrig und (haftungsbegründend) sorgfaltswidrig. Der plötzliche Rückzug aus dem Kartell weckt jedoch naturgemäß Misstrauen bei den übrigen Kartellbeteiligten, die deshalb auf die Idee kommen könnten, einer vermuteten Selbstanzeige des „Aussteigers“ zuvorzukommen.267 Wurde das Kartell bereits entdeckt, kann nach Randnummer 5 der Bonusregelung oder im Wege eines Settlements zumindest eine nicht unerhebliche Bußgeldreduktion, 263 § 93 AktG wird auch zur Bestimmung der Rechte und Pflichten der Geschäftsführer einer GmbH herangezogen. Vgl. BGH, Urt. v. 4.11.2002, Az. II ZR 224/00, NZG 2003, 81 (82), Rn. 6 ff. (juris); Beschl. v. 14.7.2008, Az. II ZR 202/07, NZG 2008, 751 (752), Rn. 4 (juris); aus der Lit., jeweils m.w. N.: Zöllner/Noack, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, § 43 Rn. 22; Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG Bd. 2, § 43 Rn. 68; umfassend: Fleischer, NZG 2011, 521 ff.; a. A. Jungmann, in: Bitter/Lutter u. a., Festschrift für K. Schmidt, S. 841 ff. (850 f., 854). 264 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesR, § 93 Rn. 22; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 29 ff.; Spindler, in: MK/AktG Bd. 2, § 93 Rn. 50 ff.; Fleischer, in: Spindler/ Stilz, AktG, § 93 Rn. 59 ff. 265 Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn, GesR, § 93 Rn. 22; Fleischer, in: Spindler/ Stilz, AktG, § 93 Rn. 73 ff.; Hölters, in: Hölters, AktG, § 93 Rn. 34 ff.; Lutter, ZIP 2007, S. 841 ff. (844 f.); Spindler, in: MK/AktG Bd. 2, § 93 Rn. 47. 266 Vgl. etwa Säcker, WuW 2009, S. 362 ff. (367). 267 Säcker, WuW 2009, S. 362 ff. (367).

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unter den Voraussetzungen der Randnummer 4 der Bonusregelung gegebenenfalls sogar ein Bußgelderlass erzielt werden. Schädigungen der Marke und des Images sowie Verluste durch Schadensersatzansprüche der Geschädigten können nur noch begrenzt werden. In diesem Geflecht aus möglichen Szenarien stellen sich für die Geschäftsführung von Kartellbeteiligten zwei grundlegende Fragen: erstens, ob das Bundeskartellamt überhaupt ein Bußgeldverfahren durchführen und mit dem Erlass einer Geldbuße abschließen wird, und zweitens, mit welcher Geldbuße bejahendenfalls zu rechnen ist. Beide Fragen vermag das Gesetz nicht hinreichend zu beantworten. Zwar hat das Bundeskartellamt nach hier vertretener Auffassung jedenfalls Hardcore-Kartelle zu verfolgen und zu ahnden; eine diesbezügliche Kontrolle findet jedoch nicht statt.268 Zwar mag es Kartellbeteiligten zudem zuzumuten sein, das Risiko einer Entdeckung selbst abzuwägen. In Verbindung mit der unbestimmten Bußgeldregelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ist jedoch ein differenziertes Bild zu zeichnen. Die Regelung verhindert, dass sich die Geschäftsführung sowohl vor als auch nach der Kartellentdeckung ein hinreichendes Bild über die drohenden wirtschaftlichen Verluste der von ihr vertretenen juristischen Person machen kann. 1. Erhebliche Bußgeldandrohung, unsichere Rechtslage und Unvorhersehbarkeit der konkreten Geldbuße

§ 81 Abs. 4 S. 2 GWB ermächtigt das Bundeskartellamt zum Erlass enormer, im deutschen Recht wohl einzigartiger Bußgelder.269 Das Bundeskartellamt hat nach eigenen Angaben bislang zwar nur selten die bislang als Belastungsgrenze interpretierte Bußgeldgrenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ausgereizt, allerdings haben die in der Vergangenheit verhängten Verbandsgeldbußen auch ohne Erreichen der Kappungsgrenze die zulässige Höchstgeldstrafe teilweise um ein Vielfaches überstiegen270 und sind angesichts ihrer – sich regelmäßig im ein- bis dreistelligen Millionenbereich bewegenden – Größenordnung als erheblich zu qualifizieren.271 Im Vorfeld der Entscheidung für oder gegen wettbewerbskonformes Verhalten konnten die kartellbeteiligten Unternehmensvertreter – ausgehend von der Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze – bislang weder die für 268 Zum fehlenden Rechtsschutz gegen die Untätigkeit des BKartA: Teil 1 § 2 B. IV. (S. 71 ff.). 269 Selbst rechtswidrige Verstöße gegen das AtomG können gemäß § 46 Abs. 2 AtomG mit maximal fünfhunderttausend Euro geahndet werden. 270 Hierzu: Teil 4 § 2 D. II. 2. (S. 522 ff.). 271 In seiner Broschüre BKartA, Erfolgreiche Kartellverfolgung, S. 9 gibt das BKartA an, dass in den Jahren von 2006 bis 2009 die Durchschnittsgeldbuße pro Unternehmen bei etwa zwölf Millionen Euro lag.

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das denkbar schwerste kartellrechtswidrige Verhalten noch die für geringfügige oder durchschnittliche Kartellverstöße drohenden Geldbußen ablesen. Sie konnten allein die schlimmstenfalls zu erwartende Geldbuße anhand des zu diesem Zeitpunkt bekannten Gesamtumsatzes schätzen, auf den es freilich bei der Bußgeldbemessung im Regelfall nicht ankam, da der Gesamtumsatz aus dem Vorjahr der Entscheidung zugrunde zu legen ist. Gleichzeitig konnte die Geschäftsführung mithilfe des geltenden § 81 Abs. 4 S. 2 GWB auch nicht die im konkreten Fall wohl schon und noch sach- und schuldangemessenen Geldbußen eingrenzen. Eine gewisse Schätzung erlaubten erst die Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamts, die – in ihrer Fassung von 2006 – in der Mehrzahl der Kartellfälle eine dem Schuld- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende Bußgeldbemessung ermöglichten. Allerdings hat die Untersuchung gezeigt, dass die Bußgeldleitlinien 2006 gerade im Hinblick auf Ein-Produkt-Unternehmen und Handelsunternehmen, aber auch bezüglich bestimmter Kartellverstöße, bei denen der tatbezogene Umsatz geschätzt werden musste, unausgereift waren. Bei Bußgeldverfahren gegen derartige Kartellbeteiligte ließ sich ein Rahmen, innerhalb dessen das Bundeskartellamt die individuelle Geldbuße wohl verhängen wird, kaum im Vorfeld bestimmen. Auch war eine verhängte Geldbuße im Nachhinein faktisch nicht auf ihre Schuldangemessenheit und Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Obgleich die Bußgeldleitlinien 2006 im konkreten Fall zu einer gewissen Vorhersehbarkeit der Geldbuße für die Betroffenen beigetragen haben, reichte die von ihnen ausgehende Orientierungswirkung nach Zementkartell-Entscheidung des OLG Düsseldorf im Jahre 2009, in der es § 81 Abs. 4 S. 2 GWB abweichend vom Bundeskartellamt als Bußgeldobergrenze qualifizierte, überdies nicht über das behördliche Verfahren hinaus. Vielmehr war unklar, zu welchem Ergebnis das OLG Düsseldorf im Falle eines Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid gelangen würde. Angesichts der jedenfalls im gerichtlichen Bußgeldverfahren unter Durchführung eines Hauptverfahrens nicht verbotenen reformatio in peius, bestand damit, unabhängig von der mangelnden Vereinbarkeit dieser Interpretation mit dem Schuldprinzip und dem Bestimmtheitsgrundsatz, eine nicht zu unterschätzende Gefahr für Unternehmen, dass eine vom Bundeskartellamt anhand der Bußgeldleitlinien 2006 ermittelte und verhängte Geldbuße durch eine höhere Geldbuße vonseiten des OLG Düsseldorf ersetzt wird.272 Die Unsicherheiten, die mit der Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB verbunden waren, sind zwar durch den Revisionsbeschluss des BGH im Fall (Grau-)Zementkartell, mit welchem sich der BGH der Auffassung des OLG Düsseldorf anschloss, nunmehr vorläufig beseitigt, da das Bundeskartellamt seine Bußgeldleitlinien entsprechend angepasst hat. Nichtsdestotrotz besteht eine nach wie vor vom BVerfG nicht überprüfte, unsichere und nach hier vertretender Auffassung verfassungs272 Vgl. die diesbezüglich überzeugenden Ausführungen von Barth/Budde, WRP 2010, S. 712 ff. zur Bußgeldbemessung bei der Interpretation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze.

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widrige Rechtslage, sodass nicht auszuschließen (und mehr noch zu erwarten) ist, dass eine Verfassungsbeschwerde eines betroffenen Unternehmens zu der erneuten Revision und womöglich der Änderung des Kartellbußgeldrechts führt. Hinzu kommt, dass sich dem – aus der (vorläufigen) Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Bußgeldobergrenze begründeten – extrem weiten Bußgeldrahmen der Vorschrift mithilfe der Zumessungskriterien der §§ 17 Abs. 3 OWiG, 81 Abs. 4 S. 6 GWB ein kaum überschaubarer Bußgeldrahmen zwischen der „schon“ und „noch“ schuld- und tatangemessenen Geldbuße im konkreten Einzelfall entnehmen lässt. Da der durch die Rechtsprechung begründete Bußgeldrahmen nicht zwischen den einzelnen Wettbewerbsverstößen differenziert, besteht für diese jeweils eine weite Spanne absolut schuld- und tatangemessener Geldbußen. Das Bundeskartellamt hat mit der Veröffentlichung der Bußgeldleitlinien 2013 jedenfalls nicht zu einer erhöhten Transparenz der Bußgeldzumessung beigetragen. Die nunmehr „zulässige“, konkrete Bußgeldbemessung durch die Kartellbehörde erweist sich für Unternehmen nach wie vor als black box, da die Bußgeldleitlinien 2013 diesbezüglich konkrete Handlungsanweisungen missen lassen. Für Unternehmen ist weder eine individuelle Bußgeldspanne für das von ihnen verwirklichte Unrecht abzusehen, noch der Ausgang eines gerichtlichen Bußgeldverfahrens, da längst nicht feststeht, dass auch das OLG Düsseldorf die durch die neuen Bußgeldleitlinien 2013 etablierte, „zweite Bußgeldobergrenze“ des multiplizierten Gewinn- und Schadenspotentials anerkennen wird, die regelmäßig zu niedrigeren Geldbußen führen dürfte, als im Falle der Anwendung der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“. Insoweit besteht durchaus die Möglichkeit, dass das OLG Düsseldorf einen abweichenden, dem Gesetz (wie es der BGH ausgelegt hat) entsprechenden Ansatz wählt. 2. Unsicherheit über die Stellung des Unternehmens innerhalb des Bußgeldverfahrens

Hat das Bundeskartellamt bereits Ermittlungen eingeleitet, weiß die Geschäftsleitung mit Ausnahme des Falls, dass eine Durchsuchung auf der Grundlage eines Bonusantrags durchgeführt wurde, nicht, ob andere Kartellmitglieder bereits mit dem Bundeskartellamt kooperieren und das von ihr geleitete Unternehmen (gegebenenfalls mit überzogenen Vorwürfen) belasten. Auch weiß sie nicht, ob sich die Kooperation mit dem Bundeskartellamt als „lohnend“ erweisen kann, zumal nach Einleitung des Bußgeldverfahrens in der Praxis realistischerweise maximal eine Bußgeldreduktion in Höhe von 50 % zu erzielen ist. Dies liegt zum einen daran, dass die anhand der Bußgeldleitlinien ermittelte Ausgangsgeldbuße ermäßigt wird, die bereits anhand der Bußgeldleitlinien 2006 nur annähernd, anhand der Bußgeldleitlinien 2013 nunmehr kaum noch im Vorfeld zu bestimmen ist. Zum anderen hängt die Bußgeldermäßigung von dem Zeitpunkt der Markersetzung und der Qualität des Bonusantrags ab. Den Markerstatus erfährt die Geschäftsführung jedoch erst nach Stellung eines Bonusantrags und die Qualität des

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Bonusantrags hängt entscheidend von der Kooperation der beteiligten, eigenen Mitarbeiter und den intern verfügbaren Beweismitteln, aber auch von dem unbekannten Kenntnis- und Beweismittelstand der übrigen Kartellmitglieder ab. Gleichzeitig hat die Geschäftsführung regelmäßig keine konkrete Kenntnis über die gegen das Unternehmen erhobenen Vorwürfe, zu denen sie Stellung nehmen soll. Zumeist gibt lediglich der Durchsuchungsbeschluss einen Anhaltspunkt über die konkreten Tatvorwürfe. Im frühen Zeitpunkt eines Bußgeldverfahrens kann die Geschäftsführung also nicht abschätzen, ob sie die Bedingungen für eine Kooperation unter der Bonusregelung überhaupt erfüllen kann. Dazu sind interne Untersuchungen nötig, die angesichts des mit der Bonusregelung bezweckten „Windhundrennens“ jedoch schnell erfolgen müssen. 3. Folge: Tendenz zur Kooperation mit dem Bundeskartellamt und Zurückdrängung des gerichtlichen Einspruchverfahrens

In Zusammenfassung der vorstehenden Ausführungen bleiben letztlich drei Kernaussagen. Erstens: Mit der Kooperation besteht eine Chance, eine ohnehin drohende, drastische, aber unberechenbare Geldbuße zu reduzieren. Zweitens: Anderweitige Schäden durch Schadensersatzklagen, Imageeinbußen oder Auftragsverluste sind nicht berechenbar und treten mehr oder weniger, mit oder ohne Kooperation ein. Und drittens: Der gerichtliche Rechtsschutz gegen die Bußgeldentscheidung ist eine black box.273 Zwar entsteht durch die Bonusregelung und die Settlement-Praxis, jeweils für sich genommen, kein Zwang zur Selbstbezichtigung.274 In Kombination mit der Unvorhersehbarkeit der in der Praxis erheblichen Bußgelder und der bestehenden Möglichkeit neben dem durch aktive Kooperation erzielbaren Bonus, im Wege eines Settlements zu einer weiteren, offenen und gegebenenfalls verdeckten Bußgeldreduktion, aber auch zu einer beschränkten Publizität zu gelangen, kann sich aus Sicht der Geschäftsführung jedoch eine andere Bewertung ergeben. Hierbei kann nicht erst von der Addition der später offenbarten Vergünstigungen ein rechtlicher Zwang im Sinne des § 136a StPO ausgehen. Faktisch wird sich die Geschäftsführung jedenfalls in Fällen, in denen sie eine Beteiligung des von ihr vertretenen Unternehmens sicher annimmt, angesichts der Kombination aus Unsicherheiten bei der Bußgeldbemessung, der zu Beginn des Bußgeldverfahrens regelmäßig noch nicht vollständig reflektierten Verteidigungsoptionen und der nicht zu überblickenden Erfolgsaussichten eines für das Unternehmen besseren Ausgangs des streitigen (gerichtlichen) Bußgeldverfahrens, zu einer Kooperation gezwungen sehen. Denn in dem Moment, in dem sich die Frage stellt, ob ein Marker für einen Bonusantrag gesetzt werden soll, weiß die Geschäftsführung 273 So schon Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (25) zur Rechtslage vor dem Grauzementkartell-Beschluss des BGH. 274 Vgl. Teil 2 § 4 F. IV. 3. (S. 318 ff.).

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nur sicher, dass theoretisch die Möglichkeit für eine Bußgeldreduktion um maximal 50 % besteht, die durch ein – wie die Praxis zeigt, in den meisten Fällen ohnehin angebotenes – Settlement um weitere 10 % und mittelbar im Wege der Verfahrensbegrenzung um einen wertmäßig prozentualen Anteil in Höhe von „x“ nochmals erhöht werden kann.275 Im Settlementverfahren erhalten Kartellbeteiligte früher Informationen über die konkreten Vorwürfe und „wesentlichen“, verfügbaren Beweise, was ihnen die Möglichkeit zu früheren Stellungnahmen, aber auch zur Beeinflussung der tatsächlichen Feststellungen des Bundeskartellamtes und dessen Bußgeldbemessung eröffnet.276 Hinzu kommen geringere Verfahrenskosten,277 geringere Verteidigungskosten,278 eine deutlich geringere Beanspruchung von Managementressourcen279 und die Aussicht auf eine Erschwerung von follow-on Klagen durch kurze Bußgeldbescheide280 sowie einer beschränkten Publizität des Verfahrens, sofern der Präsident des Bundeskartellamtes zustimmt.281 Selbst wenn man eine durch diese in Aussicht gestellten, gebündelten Vorteile begründete, den Ausübungsverzicht des Aussageverweigerungsrechts ausschließende, da zwingend wirkende „Sanktionsschere“ ablehnen wollte, was angesichts der Rechtsprechung des BGH, der bei einer Abweichung von 50 % der eigentlich angemessen Strafe eine absolute Grenze erblickte,282 nur noch schwerlich zu bestreiten sein wird, offenbaren der bisherige Siegeszug der Bonusrege275 Zum Ganzen: Teil 2 § 4 E. I. (S. 188 ff.) und Teil 2 § 4 E. V. 2. a) bb) (2) (d) (S. 250 ff.). Ferner: Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (20 f.); Burrichter, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 471 ff. (474); Deselaers/ Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21. 276 Dazu Teil 2 § 4 E. I. (S. 188 ff.); vgl. auch Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21; Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 983; Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (20 f.). 277 Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21; Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 983. 278 Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21; Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 983; Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 15, im Internet abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_dem_ 44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013). 279 Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21; Ascione/Motta, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 67 ff. (72). 280 Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21; Soltész, BB 2010, S. 2123 ff. (2126 f.); Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 984. 281 Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21. Zu diesem aus Sicht Geschädigter problematischen Folge noch zugleich: Teil 4 § 2 E. III. (S. 560 ff.). 282 BGH, Beschl. v. 12.1.2005, Az. 3 StR 411/04, StV 2005, 201; Beschl. v. 14.8. 2007, Az. 3 StR 266/07, NStZ 2008, 170 f., Rn. 6 f. (juris).

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lung und der sich abzeichnende Erfolg der Settlements jedenfalls eine eindeutige Tendenz der betroffenen Kartellbeteiligten zur Kooperation mit dem Bundeskartellamt. Angesichts der vorstehenden Vorteile der Settlements ist es daher auch durchaus nachvollziehbar, dass selbst Geschäftsführer von Unternehmen, die sich nach interner Prüfung gegen einen Bonusantrag entscheiden, vielfach SettlementGespräche führen. Unabhängig von den Vorteilen eines Settlements besteht nämlich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass das Bundeskartellamt letztlich gegen das betroffene Unternehmen tatsächlich ein Bußgeld verhängt, wenn nicht auszuschließen ist, dass andere Kartellbeteiligte mit Bonusanträgen und Geständnissen Beweise liefern und sich das Bundeskartellamt mit deren Hilfe auf die nicht-kooperierenden Täter konzentrieren kann.283 Schon deshalb ist auch die durch Settlements grundsätzlich bewirkte Einschränkung der eigenen Verteidigungsposition gegenüber Geschädigten durch das eigene Geständnis nur relativ zu bewerten.284 Zudem wird das Bundeskartellamt eine Einsichtnahme Dritter in die Settlementerklärungen und Geständnisse der kooperierenden Kartellbeteiligten analog zu den Bonusanträgen zu verhindern wissen, um die Attraktivität der SettlementPraxis nicht zu gefährden. Ferner kann die eigene Beteiligung an einem Kartell in zivilrechtlichen Schadensersatzprozessen wegen § 33 Abs. 4 GWB ohnehin nicht mehr bestritten werden, sobald eine Bußgeldentscheidung gegen das betroffene Unternehmen, gegebenenfalls mithilfe von Beiträgen anderer Kartellbeteiligter ergangen und rechtskräftig geworden ist. Sicher vorhersehbare Nachteile eines Settlements ergeben sich daher allein aus der Pflicht zur früheren Bußgeldzahlung, da das behördliche Bußgeldverfahren zu einem früheren Abschluss kommt und regelmäßig (bisher immer!) das gerichtliche Einspruchsverfahren wegfällt,285 aus der dadurch ermöglichten gegebenenfalls früheren zivilrechtli283 Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 15, im Internet abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_dem_ 44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (355); Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (26 f.); Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 984. 284 Auf ein erhöhtes Risiko für follow-on Klagen weisen etwa Deselaers/Meyring, Verhandeln statt Bestrafen lautet die neue Devise, FAZ v. 21.7.2010, S. 21 hin. Zurückhaltender Polley/Heinz, WuW 2012, S. 14 ff. (21, 27) („negative Folgen für gegebenenfalls drohende Follow-On-Schadensersatzklagen [lassen sich] nur schwer einschätzen.“). 285 Vgl. Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 16, im Internet abrufbar unter: http://www. bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_ dem_44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351). Dementsprechend findet sich in den neueren Pressemeldungen auch jeweils der folgende abschließende Absatz, mit das BKartA deutlich macht, dass es auch keinen Einspruch nach Settlement-Gesprächen erwartet: „Die Geldbußen sind noch nicht rechtskräftig, über etwaige Einsprüche entscheidet das Oberlandesgericht Düsseldorf. Allerdings haben sich [alle] Unternehmen sowie deren Mitarbeiter zu einer einvernehmlichen Verfahrensbeendigung (sog. „Settlement“) bereit erklärt.“

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chen Haftung gegenüber Dritten und aus den ebenso früheren negativen Auswirkungen auf Geschäftsbeziehungen.286 Wie die Praxis zeigt, überwiegen für Betroffene regelmäßig die Vorteile einer Kooperation mit dem Bundeskartellamt die dargestellten Nachteile.287 Um die Bußgeldreduktion zu erlangen und nicht zu gefährden, beugen sich die Betroffenen denn auch den teilweise rechtsstaatlich fragwürdigen Forderungen des Bundeskartellamtes,288 vor allem auch vor dem Hintergrund, dass Verwaltungsgrundsätze nicht gerichtlich anfechtbar sind und umgekehrt auch kein Anspruch gegenüber den Gerichten auf Bußgeldermäßigung in der durch die Bonusregelung und die Settlement-Praxis versprochenen Höhe besteht. Dies, gepaart mit der Unsicherheit, die sich aus einem gerichtlichen Bußgeldverfahren ergibt, bewegt viele Kartellbeteiligte de facto zu einem Rechtsmittelverzicht. Dies wird vor allem für die – durchaus möglichen, in Anbetracht der Intransparenz der Settlement-Verfahrens jedoch nicht nachweisbaren – Fälle gelten, in denen die unter Abzug des gewährten Bonus’ (durch Kombination aus Bonusregelung und Settlement) verhängte Geldbuße zur eigentlich angemessenen Sanktion eklatant unverhältnismäßig ist. Vor dem OLG Düsseldorf werden die Karten nämlich neu gemischt; eine Kontrolle des „gesettleten“ Bußgeldbescheids findet gerade nicht statt.289 Mangels Verbots der reformatio in peius müssen Kartellbeteiligte also mit einer höheren Geldbuße rechnen. II. Aus Sicht der Allgemeinheit Aus Sicht der Allgemeinheit stellen sich die bestehenden Entscheidungs- und Handlungsspielräume des Bundeskartellamtes als äußerst problematisch heraus. Mit der Zunahme kooperativer Verfahrensbeendigungen, vor allem im Wege der Settlements, geht die letzte, verbleibende Transparenz des Bußgeldverfahrens verloren;290 ein Paradox angesichts der Tatsache, dass Wettbewerbsschutz doch 286

Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 984. In 2012 wurden in fünf von sechs der veröffentlichten Fälle Settlements geschlossen: Vgl. PM v. 1.8.2012 – Haribo; PM v. 25.7.2012 – Automatiktüren; PM v. 5.7.2012 – Schienenfall; PM v. 15.3.2012 – Chemiegroßhandel; PM v. 1.3.2012 – Betonrohre, Betonpflastersteine (kein Settlement in der Bußgeldentscheidung gegen einen Feuerwehrfahrzeughersteller, der jedoch einen Bonusantrag gestellt hatte, vgl. PM v. 7.3. 2012). Im Jahr 2011 wurden in allen (elf) veröffentlichten Fällen Settlements vereinbart. 288 Die im Rahmen von Settlements geforderte Einverständniserklärung mit der Maximalgeldbuße und der geforderte Verzicht auf das volle Akteneinsichtsrecht sowie auf eine „formelle“ Anhörung sind, soweit von ihrer Erfüllung die Bußgeldreduktion abhängig gemacht wird, rechtswidrig. Vgl. Teil 2 § 4 E. V. 2. c) bb) (3) (S. 272 ff.). 289 Krit. dazu auch Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (155) („Verfahrenspraxis „im Niemandsland“ zwischen de facto Rechtsmittelverzicht und „neuem Anklageverfahren“). 290 Krit. zu dem sich allgemein abzeichnenden „konsensualen“ Kartellrecht: Kühne, WuW 2011, S. 577. 287

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primär im öffentlichen Interesse erfolgt. Nicht nur, dass Bußgeldentscheide generell nicht in nicht-vertraulicher Fassung veröffentlicht, sondern allenfalls in den Tätigkeitsberichten und Fallberichten des Bundeskartellamtes (äußerst) kurz zusammengefasst werden: Settlements beseitigen de facto die einzig befugten Kläger im Bußgeldverfahren, unabhängig davon, ob sie mit einem gleichzeitig gewährten Bonus durch aktive Kooperation einhergehen.291 Mit diesen und der durch Settlements erstrebten, eingeschränkten Publizität der behördlichen Kartellverfahren schwindet die von der kartellbehördlichen und gerichtlichen Kartellrechtspraxis ausgehende Orientierungswirkung für die Privatwirtschaft,292 was insbesondere vor dem Hintergrund fatal erscheint, dass Unternehmen nach Einführung des Legalausnahmesystems mit der VO 1/2003 dazu berufen sind, ihr Verhalten eigenverantwortlich auf die Vereinbarkeit mit dem Kartellrecht zu überprüfen. Aber nicht nur das. Die Gerichte verlieren ihren Einfluss auf die Auslegung des materiellen Kartellrechts gleichermaßen, wie auch auf das behördliche Bußgeldverfahren und das Bundeskartellamt.293 Fehlt es an einer „Überprüfung“ der Rechtmäßigkeit kartellbehördlichen Handelns, wird das Bun-

291 Ähnlich Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (67). Seit dem verstärkten Rückgriff auf Settlements ist es jedenfalls nach Auskunft des BKartA bis zum Jahr 2011 noch zu keiner Anfechtung des daraufhin ergehenden Bußgeldbescheides gekommen, vgl. Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 16, im Internet abrufbar unter: http://www.bundeskartellamt.de/ wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_dem_44._Innsbrucker _Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013); Vollmer, ECLR 2011, S. 350 ff. (351). 292 Mundt bestreitet hingegen ein dadurch entstehendes „Konkretisierungsvakuum“ wegen „der Vielzahl der sonstigen gegen [das BKartA] laufenden Beschwerdeverfahren.“ Vgl. Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, im Internet abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_dem_ 44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013). 293 Seit dem verstärkten Einsatz von Settlements (seit 2007) ergingen neun Entscheidungen des OLG Düsseldorf, die auf einen Einspruch gegen Bußgeldbescheide wegen Kartell-Ordnungswidrigkeiten zurückzuführen sind. Davon setzten sich gerade einmal zwei Entscheidungen mit der Verfassungsmäßigkeit des § 81 Abs. 4 GWB und der sachlichen Rechtfertigung der Bonusregelung, nicht aber ihrer rechtmäßigen Ausgestaltung, auseinander, wobei das Gericht letzten Endes ohnehin weit überwiegend lediglich altes Recht anwendete (OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.6.2009, Az. VI-2a Kart 2–6/08 OWi – Zementkartell; Urt. v. 30.3.2009, Az. VI-2 Kart. 10/08 OWi – Transportbetonunternehmen). In einer Entscheidung nahm das Gericht insbesondere zur Vereinbarkeit der am Gesamtumsatz orientierten 10 %-Grenze des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB mit der Systematik des OWiG Stellung (Urt. v. 29.10.2012, Az. V-1 Kart 1–6/12 (OWi) – Silostellgebühren I). Zwei Urteile nahmen zur Frage der Ahndungsfähigkeit einer Gesamtrechtsnachfolgerin einer kartellbeteiligten juristischen Person Stellung (Urt. v. 13.1.2010, Az. VI-Kart 55/06 OWi – HDI-Gerling, WuW/E DE-R 2932 ff.; Urt. v. 17.12.2012, Az. V-1 Kart 7/12 (OWi), NZKart 2013, 166 ff.). Im Übrigen ergingen drei neuere Beschlüsse, einschließlich eines Vorlagebeschlusses zum BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Verzinsungspflicht gemäß § 81 Abs. 6 GWB (Beschl. v. 24.5.2011, Az. V-1 Kart 1/11 (OWi), V-1 Kart 12/11 (OWi); Vorlagebeschl. v. 30.5.2011, Az. V-1 Kart 1/11 (OWi) – Zinsverpflichtung, WuW/E DE-R 3308 ff.).

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deskartellamt geradezu zur Ausreizung der bestehenden Entscheidungs- und Handlungsspielräume in Graubereichen zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem hoheitlichen Handeln „eingeladen“.294 Faktisch führt dies zu einer von der Systematik des Ordnungswidrigkeitenrechts abweichenden, weiteren Kernkompetenzverschiebung zugunsten des Bundeskartellamtes. Wie die in § 67 OWiG geregelte richterliche Ersetzungsbefugnis zeigt, soll der Entscheidungs- und Handlungsspielraum des Bundeskartellamtes jedenfalls beim OLG Düsseldorf seine absolute Grenze finden. Tatsächlich führt der more economic approach des Verfolgungs- und Ahndungsermessens durch das Bundeskartellamt jedoch zu einer weiteren, erheblichen Vergrößerung des Handlungsspielraums der Kartellbehörde unter Zurückdrängung der gerichtlichen Letztentscheidungsgewalt. Dass dies nicht im Interesse der Allgemeinheit ist, hat die Untersuchung der Settlements offenbart. Die grundsätzlich auch dem öffentlichen Interesse dienende Wahrheitserforschungspflicht kann nämlich allzu leicht vernachlässigt werden, wenn eine abgekürzte Form des Bußgeldverfahrens den Fall schneller und effizienter zu einem für alle Beteiligten zufriedenstellenden Ende bringt.295 Die Rückstellung der Amtsermittlungspflicht bei Settlements zeigt einen kritischen Trend, der in der verwaltungsrechtlichen Tätigkeit des Bundeskartellamtes noch sehr viel deutlicher wird: Die Bedeutung des Wettbewerbs und seines Schutzes drohen zu verwässern, wenn das Bundeskartellamt im Bestreben nach Effizienz Kartellrecht nur um seiner selbst willen durchsetzt, ohne die Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit seines Handelns in der Öffentlichkeit klar zu kommunizieren. Das Bundeskartellamt beschreitet damit einen Weg hin zur eigenen Unglaubwürdigkeit. Es provoziert das Vertrauen in den Wettbewerbsschutz und die Wettbewerbsfreiheit in Frage zu stellen, wenn es – wie Kühne und Podszun zu Recht anmahnen – anstelle formeller Verfahren zunehmend den Weg undurchsichtiger, informeller Verfahrensbeendigungen sowie Verbindlichkeitserklärungen von (den Wettbewerbsverstoß nicht feststellender) Verpflichtungszusagen wählt.296 III. Aus Sicht geschädigter Dritter Jene, die durch Kartelle Schäden erlitten haben, sind mit der bestehenden Gesetzeslage und dem more economic approach der Kartellrechtsdurchsetzung durch das Bundeskartellamt doppelt belastet. Einerseits verwehrt ihnen das OWiG Rechtsschutz gegen für sie relevante Verfahrensentscheidungen des Bun294 Ähnlich Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (599 f.) („Gefahr des Missbrauchs“); Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (67). 295 Umfassend dazu Teil 2 § 4 E. V. 1. a) (S. 217 ff.). 296 Bei letzterem neigt das BKartA mit der Usurpation wettbewerbspolitischer Kompetenzen dazu, die privatrechtliche Gestaltung der Wirtschaft durch behördliche Steuerung zu ersetzen. Krit.: Kühne, WuW 2011, S. 577; Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (64 ff.).

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deskartellamtes, nämlich das Absehen von der Verfolgung eines vermuteten Kartells oder die Einstellung eines Bußgeldverfahrens. Wird das Bundeskartellamt aufgrund einer Anzeige nicht tätig oder ergreift es anstelle eines Bußgeldverfahrens alternative Instrumente der Kartellrechtsdurchsetzung, obwohl das Ermessen der Kartellbehörde grundsätzlich auf die Verfolgung im Wege des Bußgeldverfahrens und die Geldbußenahndung reduziert ist,297 bleibt der Geschädigte machtlos zurück. Diese schwache Stellung des Geschädigten mag zwar mit der fehlenden, verfassungsrechtlichen Schutzwürdigkeit seines Vergeltungswunsches gerechtfertigt sein. Sie führt jedoch dazu, dass Dritten auch der Weg zu den Zivilgerichten erschwert wird. Stellt das Bundeskartellamt nämlich, wie bei den in letzter Zeit zunehmenden Verbindlichkeitserklärungen von Verpflichtungszusagen, keinen Kartellverstoß fest, läuft die den Geschädigten begünstigende Regelung des § 33 Abs. 4 GWB leer, nach welcher die Gerichte an die kartellbehördliche Feststellung eines Wettbewerbsverstoßes gebunden sind. Der Geschädigte muss folglich nicht nur einen kartellbedingten Schaden, sondern zuvor auch den Wettbewerbsverstoß der vermeintlichen Kartellanten beweisen, um einen Schadensersatzanspruch gemäß § 33 Abs. 3 S. 1 GWB gerichtlich mit Erfolg durchzusetzen. Das wird ihm mangels vom Bundeskartellamt erlangter, belastender Dokumente oder Zeugenaussagen schwerlich möglich sein. Aber auch wenn das Bundeskartellamt ein Bußgeldverfahren durchführt und eine Zuwiderhandlung feststellt, behindert seine momentane Tendenz, in Ausübung des Verfolgungsermessens Effizienz über Transparenz zu stellen, den Dritten bei der zivilrechtlichen Verfolgung seiner Interessen,298 was gleichsam das mit der 7. GWB-Novelle angestrebte Ziel, der Förderung des private enforcement des Kartellrechts299 untergräbt. Im Rahmen eines Settlements vereinbaren Bundeskartellamt und Betroffene nämlich regelmäßig, dass der letztlich ergehende Bußgeldbescheid lediglich die Pflichtangaben des § 66 OWiG enthält. Beantragen Geschädigte gemäß § 406 e Abs. 1 S. 1 StPO Akteneinsicht, können mithilfe des „abgespeckten“ Bußgeldbescheids zwar Zeit, Ort und Art der Zuwiderhandlung festgestellt werden, sodass zumindest § 33 Abs. 4 GWB anwendbar bleibt, der Geschädigte also nicht mehr den rechtswidrigen Wettbewerbsverstoß beweisen muss. Andere Informationen, die zum erleichterten Nachweis der auf den Wettbewerbsverstoß kausal zurückzuführenden Schadensentstehung und -höhe nützlich sind (Anscheinsbeweis) oder jedenfalls als Grundlagen für die richterliche Schadensschätzung gemäß § 287 ZPO dienen können, reflektiert der Bußgeldbescheid jedoch nicht.300 297

Teil 2 § 3 B. III. 2. c) aa) (S. 146 ff.). Krit. zur informellen Kartellrechtspraxis und der Zunahme von Verpflichtungserklärungen: Kühne, WuW 2011, S. 577; Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (67 f.). 299 Zur Stärkung der zivilrechtlichen Sanktionen durch die 7. GWB-Novelle: Vgl. Begr. BRegE 7. GWB-Novelle, BT-Drs. 15/3640, S. 35 f., 52 ff. 300 Ähnlich auch Soltész, BB 2010, S. 2123 ff. (2127) zur Praxis der Kommission. 298

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In der Praxis werden Settlements zudem mit der Bonusregelung kombiniert. In diesen Fällen kommt erschwerend hinzu, dass das Bundeskartellamt Dritten die Akteneinsicht in Bonusanträge und die dazu freiwillig übermittelten Beweismittel verwehren will.301 Das mag zur Sicherstellung der Attraktivität des Bonusprogramms nachvollziehbar sein,302 und wurde hinsichtlich der Bonusanträge vom AG Bonn303 und neuerdings vom OLG Düsseldorf 304 bestätigt. Dem Geschädigten versiegen dadurch jedoch systematisch sämtliche Quellen, denen er Anhaltspunkte für eine Schadensersatzklage entnehmen könnte. Dass die private Rechtsdurchsetzung, wie das AG Bonn und das OLG Düsseldorf meinen, dadurch nicht unzulässig erschwert wird,305 kann jedenfalls bei der Kombination aus Bonusprogramm und Settlements bezweifelt werden. Zwar bleibt Geschädigten immerhin noch die Einsicht in die Verfahrensakte und die dazugehörigen Asservate,306 zu denen jedoch keine Handakten des Bundeskartellamtes oder interne Aufzeichnungen,307 insbesondere Notizen über mündliche Settlementverhandlungen, gehören. Allerdings dürfte es sich als praktisch schwierig erweisen, Beweismittel für einen Zivilprozess in womöglich hunderten Dokumenten zu finden, ohne eine konkrete Vorstellung über die praktische Umsetzung der in Frage stehenden Kar301

Rn. 22 der Bonusregelung Gesteht man Dritten das Recht zur Akteneinsicht zu, unterstützen Kartellbeteiligte diese letztlich unfreiwillig dabei den Sachvortrag der Kläger mit ausreichenden Beweismitteln zu untermauern, sich also selbst haftbar zu machen. Damit büßt das Bonusprogramm jedoch seine Attraktivität ein. Es nützt den Kartellbeteiligten nämlich wenig, wenn ihnen die Geldbuße vollständig erlassen oder reduziert wird, sie dafür aber sicher zur Leistung von Schadensersatz, gegebenenfalls in Millionenhöhe, verurteilt werden. 303 AG Bonn, Beschl. v. 18.1.2012, Az. 51 Gs 53/09 – Pfleiderer II, WuW/E DE-R 3499 (3501 ff.), Rn. 15 ff. (juris). 304 Das OLG Düsseldorf entschied genauer gesagt, dass Bonusanträge und die freiwillig übermittelten Dokumente der Kronzeugen auch im gerichtlichen Bußgeldverfahren vor der Akteneinsicht Dritter geschützt sind. Vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.8. 2012, Az. V-4 Kart 5–6/11 – Kaffeeröster, WuW/E DE-R 3662 (3669 f.), Rn. 44 bis 47 (juris); BKartA, PM v. 27.8.2012. 305 AG Bonn, Beschl. v. 18.1.2012, Az. 51 Gs 53/09 – Pfleiderer II, WuW/E DE-R 3499 (3504), Rn. 29 (juris); OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.8.2012, Az. V-4 Kart 5–6/ 11 – Kaffeeröster, WuW/E DE-R 3662 (3670), Rn. 47 (juris). 306 Allerdings hat das OLG Düsseldorf für laufende Verfahren entschieden, dass bei erheblichem Umfang der Dokumente eine vollständige Akteneinsicht aufgrund der dadurch relativ sicher eintretenden Verfahrensverzögerung versagt werden kann. Wegen der notwendigen Schwärzung von Geschäftsgeheimnissen und der anschließenden Anhörung der Nebenbetroffenen werde die Arbeitskraft des Gerichts derart in Beschlag genommen, dass das gerichtliche Bußgeldverfahren unverhältnismäßig verzögert werde. Akteneinsicht sei daher nur in einen Teil der Asservate zu gewähren. Dem Dritten sei Auskunft über den Bestand zu erteilen. Der Dritte habe dann darzulegen, warum die Einsicht in bestimmte Asservate für sein Schadensersatzbegehren notwendig sei. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.8.2012, Az. V-4 Kart 5–6/11 – Kaffeeröster, WuW/E DE-R 3662 (3670 f.), Rn. 48 ff. (juris). 307 AG Bonn, Beschl. v. 18.1.2012, Az. 51 Gs 53/09 – Pfleiderer II, WuW/E DE-R 3499 (3504), Rn. 29 ff. (juris). 302

§ 2 Das Ermessen des BKartA im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes

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tellabsprache zu haben.308 Follow-on Klagen geschädigter Dritter gemäß § 33 Abs. 3 GWB dürften sich damit als „stumpfes Schwert“ erweisen, und zwar nicht nur in Bezug auf die Kartellrechtsdurchsetzung.

F. Ergebnis Die Reichweite des dem Bundeskartellamt de lege lata eingeräumten Ermessensspielraums hinsichtlich der Verfolgung und Ahndung von Kartellen widerspricht dem im Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG zum Ausdruck kommenden und vor allem durch Art. 20 Abs. 3 GG konkretisierten Gewaltenteilungsgrundsatz. Der Gesetzgeber hat sich seiner ihm durch die Verfassung originär zugewiesenen Kernkompetenz zur abstrakt-generellen Regelung von für die Grundrechtsverwirklichung der Marktteilnehmer wesentlicher Sachmaterien begeben und jedenfalls den Unternehmensbußgeldtatbestand nicht hinreichend bestimmt geregelt. Zu den ohnehin weitreichenden Kompetenzen des Bundeskartellamtes, das in Kartellfällen ermittelt und eine der Bestandskraft fähige Sanktionsentscheidung zu treffen befugt ist, sind mit Billigung des Gesetzgebers quasi-legislative Befugnisse hinzugetreten. Das Bundeskartellamt vollzieht nicht mehr nur demokratisch legitimierte, parlamentarische Gesetze, sondern schafft eigenmächtig grundlegende, quasi-gesetzliche Verwaltungsrichtlinien, die das Bußgeldverfahren mehr noch als die eigentlichen Ermächtigungsgrundlagen der §§ 17, 47 OWiG, 81 Abs. 4 GWB bestimmen, und spricht de facto Recht, da durch die Anwendung eben jener Verwaltungsrichtlinien der nachfolgende, herkömmlich effektive gerichtliche Rechtsschutz systematisch zurückgedrängt wird. Im Kartellbußgeldverfahren ist die Lage deshalb besonders prekär, weil der Gesetzgeber nicht nur seiner ihm explizit gemäß Art. 103 Abs. 2 GG zugewiesenen Aufgabe zur Schaffung eines hinreichend bestimmten Bußgeldtatbestands für die eigentlichen Normadressaten des Kartellverbots nicht nachgekommen ist, sondern darüber hinaus Wertungswidersprüche unbeachtet lässt, die sich aus der Einordnung schwerwiegender, mit Straftaten erheblicher Bedeutung vergleichbarer Kartelle309 als Ordnungswidrigkeiten ergeben. Der Stempel der Ordnungswidrigkeit kann die aus ihrer Schädlichkeit für die Allgemeinheit und einzelne Marktteilnehmer folgende Qualität der Kartelle als Quasi-Straftaten nicht mehr verdecken, wie die Eingriffsintensität heute zulässiger Kartellgeldbußen deutlich offenbart. Zu Recht wird das Kartell-Bußgeldverfahren deshalb weitgehend den

308 Der Kurzbescheid gibt darüber keinen Aufschluss, sondern enthält lediglich den relevanten Zeitraum, die betroffenen Märkte und die Art des Kartellverstoßes. 309 BVerfG, Beschl. v. 21.6.1977, Az. BvR 70/75, 2 BvR 361/75, BVerfGE 45, 272 (290 f.), Rn. 36 (juris); Beschl. v. 12.12.2002, Az. 2 BvR 1054/02, Rn. 7 (juris); LG Bonn, Beschl. v. 9.6.2004, Az. 37 Qs 14/04, Rn. 24 (juris); Beschl. v. 10.1.2011, Az. 27 Qs 33/10, NJW-Spezial 2011, 378, Rn. 13 (juris).

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strengen straf- und strafprozessualen Gewährleistungen unterworfen.310 Gleichzeitig soll das Kartellbußgeldverfahren jedoch uneingeschränkt vom Opportunitätsprinzip beherrscht sein, dessen Legitimation sich aus der geringeren Bedeutung der durch das Ordnungswidrigkeitenrecht geschützten Rechtsgüter zweiten Rangs und der Bagatellhaftigkeit des Unrechts ergibt.311 Lassen sich HardcoreKartelle jedoch unproblematisch als Straftaten einordnen, da sie sowohl strafwürdig wie strafbedürftig sind,312 kann diese generelle Wertung nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass es dem Bundeskartellamt überlassen bleibt, ermessenslenkende Verwaltungsgrundsätze im unteren Ermessensbereich, wie die Bonusregelung und die Settlement-Praxis, zu erlassen. Vielmehr hat die Untersuchung gezeigt, dass die gravierenden Auswirkungen schwerwiegender Hardcore-Kartelle in den weit überwiegenden Fällen für eine uneingeschränkte Verfolgungsund Ahndungspflicht des Bundeskartellamtes sprechen. Vor diesem Hintergrund und der festgestellten Erheblichkeit des Bußgeldrechts für die Grundrechtsverwirklichung der betroffenen Unternehmen kann es, wie auch im vom Verfolgungszwang beherrschten Strafprozessrecht, nur an dem Gesetzgeber sein, abstrakt-generelle Legitimationsgründe für einen (partiellen) Verfolgungs- und Ahndungsverzicht selbst zu regeln. Durch die Aufgabe seiner ihm originär zugewiesenen Funktion hat der Gesetzgeber ein System geschaffen, indem sich die von der Verfassung vorgesehene Verteilung staatlicher Kernkompetenzen zunehmend innerhalb eines Organs exekutiver Gewalt, dem Bundeskartellamt, bündelt. Dadurch wird die von der Verfassung vorgesehene Funktionenordnung, wonach die am besten für eine Sachmaterie geeignete Gewalt tätig werden soll, konterkariert. Denn der Gesetzgeber hat als einzig demokratisch legitimierte Gewalt den grundlegenden Volkswillen nicht in wesentliche, hinreichend bestimmte Rahmenbestimmungen gegossen, welche die Bindung der übrigen Gewalten an das Gesetz sicherzustellen geeignet sind. Die vom Gewaltenteilungsgrundsatz traditionell erstrebte Machtbalance ist damit aus dem Gleichgewicht geraten. Mangels hinreichender Lenkung durch die Gesetze und zunehmend zurückgedrängter mäßigender Einflussnahme der Rechtsprechung bestimmt die eigene quasi-legislative, rechtsanwendende und „recht310 Dies ist unabhängig von der besonderen Nähe des Kartellrechts zum Strafrecht allgemein für das gesamte Ordnungswidrigkeitenrecht anerkannt. Vgl. etwa für das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG: st. Rspr. BVerfG, Urt. v. 4.2.1975, Az. 2 BvL 5/74 – Zweckentfremdung von Wohnraum, BVerfGE 38, 348 (371 f.), Rn. 70 (bei juris); Beschl. v. 30.6.1976, Az. 2 BvR 435/76, BVerfGE 42, 261 (263), Rn. 7 (juris); Beschl. v. 29.11.1989, Az. 2 BvR 1491/87, 2 BvR 1492/87, BVerfGE 81, 132 (135), Rn. 10 (juris); Beschl. v. 1.12.1992, Az. 2 BvR 88/91, 1 BvR 576/91 – Versammlungsauslösung, BVerfGE 87, 399 (411), Rn. 58 (juris); Beschl. v. 17.11.2009, Az. 1 BvR 2717/08 – Klavierspiel am Sonntag, NJW 2010, 754, Rn. 15 (juris); ferner im Überblick: Bohnert, in: KK/OWiG, Einleitung Rn. 114 m.w. N. 311 Teil 2 § 3 B. I. 2. (S. 113 ff.). 312 Vgl. Teil 2 § 3 B. III. 2. b) (S. 132 ff.).

§ 3 Verbesserungsvorschläge de lege ferenda

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sprechende“ Tätigkeit des Bundeskartellamts das Kartellbußgeldrecht und -verfahren. Dass ein „Zuviel“ an Macht langfristig jedoch zu Einbußen in der „Produktivität“ und zu Machtmissbrauch führen kann, ist kein lediglich in der Privatwirtschaft zu beobachtendes Phänomen.

§ 3 Verbesserungsvorschläge de lege ferenda Aus dem vorstehenden Ergebnis sollen abschließend konkrete Verbesserungsvorschläge für eine Novelle des GWB erarbeitet werden. Im Grunde genommen sprechen die zahlreichen, in dieser Arbeit aufgezeigten Probleme aus Sicht der Verfasserin für die Notwendigkeit der Kodifikation eines besonderen KartellBußgeldverfahrensrechts.313 Mit einer Pönalisierung gravierender, wettbewerbswidriger Absprachen ist es, wenngleich eine solche nach hier vertretener Auffassung zu einer verbesserten, abschreckenden Wirkung beitragen würde,314 allein nicht getan, da sich die überwiegenden Probleme vor allem bei der Verfolgung und Sanktionierung der eigentlichen Normadressaten des Kartellverbots, den juristischen Personen, offenbarten. Mit einem besonderen, auf die Bedeutung der Wettbewerbsverstöße abgestimmten Verfahrens- und Bußgeldrecht könnten die zahlreichen, in dieser Arbeit diskutierten Kollisionen mit dem allgemeinen Ordnungswidrigkeitenrecht, speziell mit den Regelungen der §§ 17 Abs. 1, 20, 30, 130 OWiG,315 vermieden und ein überzeugendes, transparentes und vor allem widerspruchsfreies System effektiver Kartellrechtsdurchsetzung etabliert werden. Vor allem erscheint die Unterwerfung der Kartellverfolgung unter das Opportunitätsprinzip aus heutiger Sicht nicht mehr sachgerecht, wenn sie denn jemals überzeugend war. Wenn das Bundeskartellamt de jure einem Verfolgungszwang unterläge, würden sich problematische Kompetenzabgrenzungen zwischen Gesetzgeber und Bundeskartellamt erübrigen; zudem würde sich die eingeschränkte Rechtsstellung geschädigter Dritter deutlich verbessern, wenn das Gesetz legitime Einstellungsgründe abschließend regelte.316 Dann wäre nämlich zu überlegen, ob verletzten Dritten nicht analog zum Strafverfahren eine Beschwerde313 Ähnlich äußerten sich kürzlich nun auch die Experten auf der Tagung des Arbeitskreises Kartellrecht in Bonn: „Effiziente Kartellverfolgung – ineffizientes Verfahren?“, vgl. BKartA, PM v. 8.10.2012. Ferner: BKartA, Stellungnahme zum Referentenentwurf zur 8. GWB-Novelle v. 30.11.2012, S. 11, im Internet abrufbar unter: http:// www.bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Stellungnahmen/2011-12-06_Stel lungnahme_BKartA_Referentenentwurf_8._GWB-Novelle.pdf (Stand: 31.12.2013). 314 Vgl. die Ausführungen in Teil 2 § 3 B. III. 2. b) aa) (1) (b) (S. 135 ff.). 315 Vgl. vor allem Teil 2 § 2 C. (S. 94 ff.), Teil 3 § 2 A. II. und C. (S. 343 ff.). 316 Canenbley/Steinworth, in: Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e. V., Wettbewerbspolitik und Kartellrecht in der Marktwirtschaft, S. 143 ff. (156 ff.) sprechen sich ebenfalls, vor allem wegen des sich aus Kronzeugenregelungen und dem private enforcement ergebenden Zielkonflikts für ein einheitliches Verfahren aus, welches die Kartellbehörde auch zur Abschöpfung eines Schadensausgleichs für Dritte berechtigt.

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befugnis gegen Einstellungsentscheidungen des Bundeskartellamtes eingeräumt werden sollte.317 Zwar folgt aus Art. 19 Abs. 4 GG, der Rechtsprechung des BVerfG zufolge, kein Anspruch auf „Strafverfolgung“.318 Auch haben Klageerzwingungsverfahren in der strafgerichtlichen Praxis bislang nur wenig Erfolg.319 Allerdings würde die Installation eines vergleichbaren Rechtsbehelfs das Bundeskartellamt zu einer ausführlichen Begründung seiner ablehnenden Entscheidung und damit zu einer eingehenden Selbstkontrolle zwingen. Neben der dadurch erzielbaren unmittelbaren Berücksichtigung der Interessen geschädigter Dritter und der Allgemeinheit würde mittelbar auch ein zusätzliches Kontrollelement eingeführt. Selbst wenn an der Qualifikation der schwerwiegenden Kartelle als Ordnungswidrigkeiten festgehalten wird, wären nach Auffassung der Verfasserin jedoch folgende gesetzliche Änderungen zwingend vorzunehmen.

A. Implementierung eines überzeugenden und fest begrenzten Bußgeldrahmens für juristische und natürliche Personen Zuvorderst ist der Gesetzgeber dazu berufen, die derzeit verfassungswidrige Bußgeldanordnung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, trotz der dadurch bewirkten Abweichung vom europäischen Kartellbußgeldrecht, durch eine hinreichend bestimmte Regelung zu ersetzen. Nach der überzeugenden Rechtsprechung des BVerfG bedarf es dazu der Festlegung einer absoluten Bußgeldunter- und Bußgeldobergrenze, sodass das Bundeskartellamt mithilfe der in § 17 Abs. 3 OWiG hinterlegten Zumessungskriterien an der so gesetzlich bestimmten Unrechts- und Schuldskala in der Lage ist, eine schuld- und sachangemessene Geldbuße zu bestimmen. Für die Bußgeldandrohung natürlicher Personen sollte die momentan geltende, allgemeine Bußgelduntergrenze des § 17 Abs. 1 OWiG in Höhe von fünf Euro durch eine praxistaugliche, tatsächlich für das denkbar geringste Kartellunrecht „schon“ schuld- und sachangemessene Mindestgeldbuße ersetzt werden. Sicher mag eine Erhöhung der Mindestgeldbuße nicht im Interesse der Betroffenen liegen. Ihnen ist jedoch mit einer vollkommen irrelevanten Bußgelduntergrenze nicht geholfen, da von dem bestehenden Regelbußgeldrahmen nur eine beschränkte Orientierungswirkung ausgeht. Insofern bietet es sich an, das Verhältnis zwischen der allgemeinen Bußgeldunter- und -obergrenze des § 17 Abs. 1 OWiG auf § 81 Abs. 4 S. 1 GWB zu übertragen. Eine entsprechende Mindest317

Dies befürwortet allgemein auch Maiazza, Opportunitätsprinzip, S. 73 f. BVerfG, Beschl. v. 8.5.1979, Az. 2 BvR 782/78, BVerfGE 51, 176 (187), Rn. 36 (juris); Beschl. v. 5.11.2001, Az. 2 BvR 1551/01, NJW 2002, 815 (816), Rn. 12 (juris); Beschl. v. 31.1.2002, Az. 2 BvR 1087/00, Rn. 5 (juris); Beschl. v. 9.4.2002, Az. 2 BvR 710/01, NJW 2002, 2861, Rn. 5 (juris); Beschl. v. 4.2.2010, Az. 2 BvR 2307/06, EuGRZ 2010, 145 ff., Rn. 19. 319 Schmid, in: KK/StPO, § 172 Rn. 1; Bischoff, NStZ 1988, S. 63 ff. (64). 318

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geldbuße würde dann etwa bei 5.000 Euro liegen. Der bislang für juristische Personen und Personenvereinigungen geltende, „uferlose“ Bußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB ist ebenfalls durch eine praxistaugliche Bußgelduntergrenze und – darüber hinaus – durch eine absolute Bußgeldobergrenze zu ersetzen. Eine solche Bußgeldobergrenze müsste freilich in einer Größenordnung festgelegt werden, die eine relativ belastungsgleiche Bußgeldbemessung sowohl für kleine und mittlere Unternehmen wie auch für solche Unternehmen erlaubt, die von ihrer gesellschaftsrechtlichen Verflechtung innerhalb großer, internationaler Konzerne profitieren. Insoweit erscheint selbst eine Bußgeldobergrenze von einer Milliarde Euro mit Blick auf kleine und mittlere Unternehmen nicht zwangsläufig unverhältnismäßig.320 Die zwingende Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 17 Abs. 3 OWiG i.V. m. § 30 OWiG führt letztlich nämlich zu einer individuellen Anpassung des Bußgeldrahmens im konkreten Einzelfall, sprich bei kleinen juristischen Personen zu einer Verengung des individuellen schuld- und sachangemessenen Bußgeldrahmens. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen bereits die Bedeutung der Kartellbeteiligung kleiner Unternehmen und ihre „Schuld“ als geringfügig zu bewerten sein werden. Allerdings würde durch die Annahme einer derart hohen Bußgeldobergrenze ein extrem weiter Sanktionsrahmen entstehen, der die Bußgeldzumessung kaum vorhersehbar machen würde, sodass der Gesetzgeber zur Installation weiterer Zumessungskriterien und ihres jeweiligen Gewichts gezwungen wäre. Insoweit wäre zudem weitere Abhilfe zu schaffen durch eine bereits in den Bußgeldtatbeständen vorzunehmende Differenzierung möglicher Wettbewerbsverstöße nach ihrem Schweregrad. Um der „Belastungsgleichheit“ unterschiedlich großer juristischer Personen und Personenvereinigungen gerecht zu werden, könnte alternativ auch ein an die Geldstrafe angelehntes Sanktionssystem etabliert werden. Die Bedeutung der Kartellordnungswidrigkeit und der Vorwurf, welcher der betreffenden juristischen Person zu machen ist, wären dann in bis zu 360 Tagessätzen auszudrücken. Dabei könnte sowohl der absolute Unrechtsgrad als auch der relative, durch den tatbezogenen Umsatz ausgedrückte Unrechtsgrad der Zuwiderhandlung berücksichtigt werden. Die individuelle Höhe des Tagessatzes im konkreten Einzelfall könnte weiter mithilfe des Gesamtumsatzes der betreffenden juristischen Person unter Berücksichtigung seiner gesellschaftsrechtlichen Verflechtung ermittelt werden. Würde man etwa den Mindesttagessatz bei 1.000 Euro und den maximalen Tagessatz bei 2,5 Millionen Euro festlegen, ergäbe sich für die denkbar schwerste Beteiligung an einem Hardcore-Kartell für (sehr) kleine Unternehmen eine Geldbuße in Höhe von 360.000 Euro und für (extrem) ressourcenstarke, leistungsfähige Unternehmen eine Geldbuße in Höhe von 900 Millionen Euro. Für schwere Kartellverstöße ergäbe sich also ein Spielraum bei kleinsten Unternehmen zwischen 200.000 Euro und 360.000 Euro, bei sehr großen Unternehmen 320

Achenbach, ZWeR 2009, S. 3 ff. (23 f.).

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zwischen 500 Millionen und 900 Millionen. Die hier beispielhaft aufgeführte Spanne zwischen 1.000 Euro und 2,5 Millionen Euro dürfte genug Spielraum lassen, um die individuelle Leistungsfähigkeit aller denkbaren Unternehmen sachgerecht widerzuspiegeln. Die zwingende Folge eines solchen Modells wäre freilich eine (grobe) Kategorisierung von juristischen Personen anhand ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse. Dadurch werden Verbandsgeldbußen zwangsläufig vorhersehbarer und kalkulierbarer. Falls von den Verbandsgeldbußen eine abschreckende Wirkung ausgeht, die sich momentan jedoch empirisch nicht belegen lässt, kann damit eine Einbuße des negativ-generalpräventiven Effekts verbunden sein. Die Verfassungsväter und -mütter haben mit Art. 103 Abs. 2 GG jedoch eindeutig der Vorhersehbarkeit staatlicher Sanktionierung den Vorzug vor der durch Intransparenz bewirkten Effektivität von Strafnormen im Sinne größtmöglicher Abschreckung gegeben. Dem ist durch ein Kartell-Bußgeldrecht Rechnung zu tragen, das die (potentiellen) Betroffenen eines Bußgeldverfahrens hinreichend orientiert.

B. Gesetzliche Normierung der Rahmenbedingungen eines Kronzeugenprogramms und einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen Die Bonusregelung des Bundeskartellamtes bedarf einer gesetzlichen Legitimation. Der Gesetzgeber muss eine Regelung schaffen, nach der das Bundeskartellamt dazu ermächtigt ist, Aufklärungshilfe durch Bußgelderlass und -reduktion zu „belohnen“. Dabei hat der Gesetzgeber auch das Ausmaß des seiner Auffassung nach zulässigen Kronzeugenprogramms selbst zu regeln. Dies schließt insbesondere eine eindeutige Stellungnahme ein, ob das Bundeskartellamt abweichend von etwa § 46b StGB dazu befugt ist, die Bußgeldreduktion von der zeitlichen Stellung des Bonusantrags abhängig zu machen. Vor allem aber bedarf es unter Geltung des Opportunitätsprinzips einer Ermächtigung zum „automatischen“, das heißt ohne Einzelfallabwägung zugesicherten Bußgelderlass im Falle einer (Selbst)Anzeige eines bislang unbekannten Kartells. Gleichermaßen sind nach hier vertretener Auffassung Anlass, Gegenstand und Ausmaß einvernehmlicher Verfahrensbeendigungen abstrakt-generell durch den Gesetzgeber zu regeln.321 Insofern sollte zumindest explizit auf § 257c StPO verwiesen werden, wenngleich auch die strafprozessuale Vorschrift zu Recht nicht wenig Kritik in der Literatur hervorgerufen hat. Eine Verweisung würde jedoch wenigstens klarstellen, dass insbesondere Vereinbarungen über die rechtliche Bewertung eines festgestellten Kartellverstoßes und die Vernachlässigung der Amtsermittlungspflicht unzulässig sind. 321 Ebenso Herrlinger, ZWeR 2012, S. 137 ff. (156); Brenner, WuW 2011, S. 590 ff. (600, 601).

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Ferner sollte eine Kombination aus Kronzeugenbonus und Settlementbonus ausgeschlossen werden. Die Arbeit hat aufgezeigt, dass sich jedenfalls der durch die Bonusregelung gesetzte Anreiz zur Selbstbezichtigung nah an der Grenze zum rechtlich begründeten Zwang im Sinne des § 136a StPO bewegt. In Kombination mit der Aussicht auf eine zusätzliche Bußgeldreduktion in Höhe von 10 % und möglicher verdeckter Vorteile durch Teileinstellungen, können von der Bonusregelung in Verbindung mit der Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes schnell unwiderstehliche Anreize zur Selbstbezichtigung ausgehen. Jedenfalls besteht eine nicht unerhebliche Gefahr für die Begründung einer „Sanktionsschere“. Darüber hinaus fehlt es bereits an einer sachlichen Rechtfertigung für die Kopplung beider Verfolgungsinstrumente. Trägt ein Kartellbeteiligter zur Aufklärung eines Kartells aktiv bei, indem er dem Bundeskartellamt Informationen und Beweismittel zukommen lässt, beinhaltet diese Zusammenarbeit letztlich eine geständnisgleiche Selbstbezichtigung.322 Es besteht dann kein Grund für eine weitere Belohnung des Geständnisses. Vor dem Hintergrund, dass im Bußgeldverfahren vor allem die durch Settlements bewirkte Verfahrensbeschleunigung und Ressourcenersparnis belohnt werden, vermag es nicht recht zu überzeugen, dass Kartellbeteiligten, die im Rahmen eines Bonusantrags, um ihre Kooperationspflicht zu erfüllen und einen möglichst hohen Bußgeldrabatt zu erzielen, dem Bundeskartellamt ohnehin schon alles, was sie wissen, unterbreiten, letztlich doppelt profitieren, indem sie ihre eigenen Angaben durch ein Settlement nochmals bestätigen. Insoweit kann keine weitere Verfahrensbeschleunigung erzielt werden. Freilich kann sich anhand des Gesamtbilds mehrerer Bonusanträge und beschlagnahmter Dokumente ein umfangreicheres Bild über den Wettbewerbsverstoß ergeben, welches der Antragsteller in diesem Ausmaß nicht gezeichnet hat. In diesem Fall besteht auch die Möglichkeit, den nicht selbst offenbarten Teilausschnitt des Sachverhalts „zusätzlich“ zu gestehen. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob der Kartellbeteiligte dazu überhaupt bereit ist, und wenn ja, welcher Wert einem solchen Geständnis zukommt. Im Zweifel sollte man nämlich annehmen, dass ein Kronzeuge, schon um seinen Kronzeugenstatus nicht zu gefährden, seine eigenen Beteiligungen umfassend und zutreffend schildert. Hat jener keine Kenntnis über weitere Vorgänge, die erst durch andere Quellen offenbar werden, würde ein verständiger Kartellbeteiligter die zusätzlichen Vorwürfe bestreiten, weil „er sich keiner Schuld bewusst ist“. Letzteres wäre vor allem in Fällen anzunehmen, in denen die zusätzlich ermittelten Tatsachen zu einer erheblichen Erhöhung des Vorwurfs und der Bedeutung des Wettbewerbsverstoßes führen, etwa durch eine zeitliche, sachliche oder räumliche weitere Ausdehnung des Kartells. Andernfalls gesteht der Kartellbeteiligte ins Blaue hinein, um eine Teileinstellung, eine eingeschränkte Publizität und eine weitere Bußgeldreduktion zu erlangen. Freilich steht die Geschäftsführung juristischer Personen, die selbst nichts

322

Vgl. Teil 2 § 4 F. IV. 3. (S. 318 ff.).

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von dem Kartellverstoß wusste, vor dem erheblichen Problem, ihre an dem Kartell beteiligten Mitarbeiter zur Kooperation zu bewegen. Dies gilt vor allem für die Fälle, in denen der Kartellverstoß gemäß § 298 StGB zugleich strafbar ist. Daher kann es durchaus passieren, dass die Geschäftsführung nicht von allen Vorgängen Kenntnis erhält. Bleiben die Mitarbeiter trotz der neuerlichen Erkenntnisse jedoch stumm und räumt die Geschäftsführung die Vorwürfe im Namen der juristischen Person nur aufgrund der seitens der Behörden vorgebrachten Erkenntnisse quasi „blind“ ein, belohnte das Bundeskartellamt allein den Verzicht auf die streitige Verfahrensführung und gegebenenfalls mittelbar auf faktischen Rechtsmittelverzicht, wobei eine Verletzung des Schuldprinzips nicht ausgeschlossen werden kann. Dies steht jedoch nicht nur dem Zweck des Bußgeldverfahrens, das die Wahrheit ermitteln soll, sondern auch der Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens entgegen. Um derartige Fallgestaltungen von vornherein auszuschließen, sollte daher auf eine Kombination von Settlement und Bonusregelung verzichtet werden.

C. Beteiligung des Gerichts bei Settlement-Vereinbarungen Schließlich ist der faktischen Zurückdrängung gerichtlicher Kontrolle entgegenzuwirken. Dem OLG Düsseldorf soll nach der Systematik des OWiG grundsätzlich die Letztentscheidungskompetenz im streitigen Kartell-Bußgeldverfahren zukommen. Um Fehlentscheidungen vorzubeugen, den in der Informalität des derzeitigen Settlement-Verfahrens angelegten Missbrauchsoptionen Einhalt zu gebieten und um die Einhaltung der durch das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren begründeten (und durch Gesetz zu konkretisierenden) Grenzen zu gewährleisten, bedarf es auch in kooperativen Bußgeldverfahren einer Beteiligung des Gerichts.323 Wie eine solche Beteiligung ausgestaltet sein sollte, ist der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers überlassen. Insofern bietet sich jedoch ein grenzüberschreitender Blick auf das in den USA praktizierte plea bargaining.324 Dabei nimmt das Gericht zwar nicht selbst an den Vergleichsverhandlungen teil; das letztlich geschlossene plea agreement unterliegt jedoch einer 323 Allgemein für eine effektivere gerichtliche Kontrolle: Podszun, ZWeR 2012, S. 48 ff. (69). Im Hinblick auf („konsensuale“) Zusagenentscheidungen der Kommission auch Klees, WuW 2009, S. 374 ff. (382). Für eine umfassende Nachprüfung von Bußgeldentscheidungen im europäischen Recht sprechen sich aus: Schmidt, Die Befugnis des Gemeinschaftsrichters zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung, S. 191 ff., insb. 192 f.; Slater/Thomas/Waelbroeck, The Global Competition Law Centre Working Papers Series GCLC Working Paper 04/08, S. 1 ff. (26 ff.); Riley, ECLR 2010, S. 191 ff. (197 ff., insb. 201) aus. Noch weitergehend Möschel, der ganz allgemein eine gerichtliche Bußgeldfestsetzung fordert, für das europäische Recht: Möschel, ECLR 2011, S. 369 ff. (372 ff.); ders., DB 2010, S. 2377 ff. (2380 f.) sowie für das deutsche Recht: Möschel, WuW 2010, S. 869 ff. 324 Umfassend dazu etwa Reindl, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 47 ff.

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gerichtlichen Kontrolle, die sowohl die Versagung der Verfahrensrechte der Betroffenen als auch eine das öffentliche Interesse konterkarierende, unangemessen niedrige Strafe verhindern soll.325 Freilich würde eine gerichtlich zwingende Kontrolle zu einer Einbuße des verfahrensbeschleunigenden Effekts der Settlements führen und zwangsläufig zusätzliche Ressourcen der Kartellsenate des OLG Düsseldorf beanspruchen.326 Insofern gelten jedoch uneingeschränkt die Worte des Präsidenten des Bundeskartellamtes Andreas Mundt, freilich in geändertem Kontext und ergänzt um eine ganz wesentliche Aussage: „Dieser Preis ist für eine möglichst effektive [aber auch rechtsstaatliche] Kartellrechtsdurchsetzung zu zahlen.“ 327

325 Reindl, in: Ehlermann/Marquis, European Competition Law Annual, 2008, S. 47 ff. (63); Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 60. 326 Krit. daher Bueren, Verständigungen – Settlements im Kartellbußgeldverfahren, S. 997. 327 Mundt, Verfahren ohne Sanktionen – Sanktionen ohne Verfahren? – Alternative Instrumente der Kartellbehörden, S. 16, im Internet abrufbar unter: http://www.bundes kartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege/110310_Rede_auf_dem_ 44._Innsbrucker_Symposium_des_FIW.pdf (Stand: 31.12.2013) [Einfügung durch die Verf.].

Teil 5

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Arbeit 1. Wie im Verwaltungs- und Strafrecht besteht die Bedeutung des durch eine gelockerte Gesetzesbindung gekennzeichneten, kartellbehördlichen Ermessens darin, eine im Einzelfall möglichst gerechte und zweckmäßige Lösung innerhalb der verfassungs- und europarechtlichen sowie einfachgesetzlichen Grenzen zu ermöglichen. Die von der Verwaltungsrechtswissenschaft konkretisierte, im Strafrecht gleichermaßen gültige Ermessenskonzeption kann jedoch nicht unverändert auf das Kartell-Bußgeldverfahren übertragen werden, da die Bußgeldentscheidung des Bundeskartellamts im Falle eines Einspruchs vom OLG Düsseldorf ersetzt werden kann und Entscheidungen gegen die Verfolgung von Zuwiderhandlungen gerichtlich nicht nachprüfbar sind. Das dem Bundeskartellamt im Kartell-Bußgeldverfahren eingeräumte Ermessen verleiht ihm die Kompetenz zur gerichtlich unüberprüfbaren Letztentscheidung hinsichtlich der (Reichweite der) Verfolgung einer Zuwiderhandlung. Allerdings ermächtigt es bezüglich (der Reichweite) der Ahndung nur zu einer vorläufigen Entscheidung. 2. Für eine pflichtgemäße Ausübung des Verfolgungsermessens gemäß § 47 Abs. 1 OWiG ist nur Raum, wenn die vom Bundeskartellamt zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens zu prüfenden Verfahrensvoraussetzungen vorliegen und der Verfolgung und Ahndung der Zuwiderhandlung keine Verfahrenshindernisse entgegenstehen. 3. Theoretisch gesteht der offene Wortlaut des § 47 Abs. 1 OWiG der Kartellbehörde ein umfassendes Auswahlermessen zu. Neben der Ergreifung alternativer, formeller Verfolgungsinstrumente im Verwaltungsverfahren sowie informeller Maßnahmen kann es den sachlichen Gegenstand eines Bußgeldverfahrens nach der Gesetzeskonzeption des § 47 Abs. 1 OWiG frei bestimmen. Zudem kann es unter Wahrung des Gleichbehandlungsgebots und den Voraussetzungen der §§ 9, 30, 130 OWiG grundsätzlich auch die Betroffenen eines Bußgeldverfahrens und die Adressaten eines Bußgeldbescheids frei wählen. Eine Haftung der Muttergesellschaft für Wettbewerbsverstöße der Tochtergesellschaft ist jedoch ausgeschlossen. Erstere kann nur für eigenes Fehlverhalten sanktioniert werden. 4. Bei der Ausübung seines Verfolgungsermessens zur Durchsetzung des Art. 101 AEUV unterliegt das Bundeskartellamt keiner relevanten rechtlichen

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Beschränkung durch die europäische Kartellrechtspraxis. Allerdings binden es faktisch die Loyalitätspflichten gegenüber dem ECN. Vor allem wird das Bundeskartellamt aufgrund des Revokationsrechts der Kommission gemäß Art. 11 Abs. 6 VO 1/2003 de facto dazu angehalten, sein Verfolgungsermessen entsprechend der Kommissionspraxis auszuüben. 5. Die praktisch bedeutsamste generelle Begrenzung erfährt die kartellbehördliche Ausübung des Verfolgungsermessens durch die Bindung an den Zweck des § 47 Abs. 1 OWiG. Aus den Wertungen des § 17 Abs. 3 OWiG und des § 153 StPO folgt, dass das Bundeskartellamt verpflichtet ist, seiner Ermessensentscheidung das öffentliche Interesse an der Ahndung der konkreten Zuwiderhandlung maßgeblich zugrunde zu legen, welches sich wiederum an der für die Allgemeinheit und einzelne Marktteilnehmer fundamentalen Bedeutung des Wettbewerbs und der durch den konkreten Wettbewerbsverstoß verursachten Schädigung orientiert. Das in den Kartellbußgeldtatbeständen zum Ausdruck kommende qualitative Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitsurteil, die gegenüber Geschädigten bestehende grundrechtliche Schutzpflicht des Bundeskartellamtes sowie der Gleichbehandlungsanspruch der Zuwiderhandelnden führt bei gravierenden Zuwiderhandlungen, insbesondere horizontalen Hardcore-Kartellen im Regelfall zu einer Ermessensreduktion auf null, mit der Folge, dass das Bundeskartellamt regelmäßig zu deren (Verfolgung und) Ahndung verpflichtet ist und alternative Reaktionsmittel nicht erlaubt sind. Letztere sind überwiegend „einfachen“ Wettbewerbsverstößen vorbehalten. 6. Bei der Ausübung seines Verfolgungsermessen kann sich das Bundeskartellamt an den in den §§ 153 ff. StPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken orientieren, wenngleich für eine direkte, analoge Anwendung der Regelungen im Ordnungswidrigkeitenrecht kein Raum ist. 7. Bezüglich geringfügiger, wenig schädlicher Wettbewerbsverstöße hat das Bundeskartellamt, entsprechend dem vorstehenden Ergebnis, sein Verfolgungsermessen mit der Veröffentlichung seiner Bagatellbekanntmachung rechtmäßig und sachgerecht dahingehend gebunden, im Regelfall nicht (im Rahmen eines Bußgeldverfahrens) tätig zu werden. Darüber hinaus kann die individuell geringfügige Beteiligung an einem Hardcore-Kartell, wie § 153 StPO offenbart, einen vollständigen Verfolgungs- und/oder Ahndungsverzicht rechtfertigen. 8. Im Übrigen verbleibt dem Bundeskartellamt trotz reduzierten Verfolgungsermessens in Bezug auf Hardcore-Kartelle ein faktischer, relativ weiter Beurteilungsspielraum zur Identifikation eines die generelle Verfolgungs- und Ahndungspflicht relativierenden, atypischen Falls. Die insoweit in der Verfolgungspraxis relevant gewordenen Kriterien, die nach Auffassung des Bundeskartellamtes einen (partiellen) Ahndungsverzicht rechtfertigen, erweisen sich

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unter Berücksichtigung der Rechtsgedanken der §§ 153 ff. StPO überwiegend als sachgerecht. 9. Das unverzügliche Abstellen kartellrechtswidrigen Verhaltens berechtigt das Bundeskartellamt für sich genommen nicht dazu, von der Verfolgung und Ahndung eines gravierenden Kartellverstoßes Abstand zu nehmen. Nur unter besonderen Umständen kann ein atypischer Fall angenommen werden, der die Ahndung der Zuwiderhandlung in das Ermessen des Bundeskartellamtes stellt. Derartige Fälle liegen vor, wenn: • die Zuwiderhandlung nur von äußerst kurzer Dauer war und keine oder zumindest revidierbare Schäden zeitigte, oder • Unsicherheiten über die Wettbewerbswidrigkeit des fraglichen Verhaltens bestanden und die Beteiligten mit dem Tätigwerden des Bundeskartellamtes vorsorglich und unverzüglich von diesem Abstand nahmen, oder • vorhersehbare, erhebliche Beweisschwierigkeiten bestehen und andere Umstände, die das öffentliche Wettbewerbsinteresse entscheidend berühren, für einen Ahndungsverzicht sprechen. 10. Wettbewerbsfremde Gesichtspunkte, etwa konkurrierende gesundheits- und umweltschutzpolitische Ziele können, entgegen der früheren Einschätzung des Bundeskartellamts, einen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht nicht rechtfertigen. Derartige Aspekte sind nicht mit wettbewerblichen Interessen abwägungsfähig. Die Ermessensentscheidung hat sich ausschließlich an den Wertungen des Art. 101 AEUV und der §§ 1, 2 GWB zu orientieren, die keine Ausnahmen für außerwettbewerbliche, rechtspolitische Ziele vorsehen. 11. Das Bundeskartellamt ist befugt, mit Betroffenen zur Vermeidung komplexer Entscheidungen und potentieller Konflikte „verfahrensbeendende“ Verständigungen, sogenannte Settlements herbeizuführen. Diese sind keine Vergleichsverträge im bürgerlich- oder öffentlich-rechtlichen Sinne. Sie begründen weder rechtlich durchsetzbare Rechte, noch schließen sie das Bußgeldverfahren ab. Settlements verkürzen und vereinfachen lediglich das reguläre Bußgeldverfahren. Wegen der ihnen zugrunde liegenden prozessökonomischen Erwägungen sind Settlements überwiegend das Ergebnis ausgeübten Verfolgungsermessens des Bundeskartellamtes, wenngleich die Verständigung über eine Bußgeldermäßigung um bis zu 10 % und gegebenenfalls weitere, (durch Teileinstellungen des Bußgeldverfahrens bewirkte) verdeckte Bußgeldermäßigungen partiell auch die Ausübung des Sanktionszumessungsermessen vorwegnimmt. Die durch Settlements mit der Beschleunigung und Vereinfachung von Bußgeldverfahren erzielbaren Effektivitäts- und Effizienzvorteile rechtfertigen einen angemessenen, partiellen Verfolgungs- und Ahndungsverzicht, da sie zu einer schlagkräftigeren Durchsetzung des Wettbewerbsrechts führen kön-

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nen. Sie sind geeignet, das Rechtsbewusstsein der Allgemeinheit sowie die allgemeine Akzeptanz des Wettbewerbsrechts zu stärken. Die durch die Konsenslösung ermöglichte, von der Allgemeinheit, den Geschädigten und den Kartellbeteiligten „noch“ als gerecht empfundene Geldbuße kann eine verstärkt general- und spezialpräventive Wirkung zeitigen, wenngleich ihre Repressionswirkung nachlässt. Das Bundeskartellamt hat bei der konkreten Ausgestaltung des „SettlementVerfahrens“ die Verfahrens- und Verteidigungsrechte der Betroffenen und die zentralen rechtsstaatlichen Grundsätze, wie sie teilweise in § 257c StPO konkretisiert wurden, zu beachten. Insbesondere hat es vor der Aufnahme von Settlement-Gesprächen – zur Wahrung des auch im Bußgeldverfahren geltenden Prinzips der materiellen Wahrheit – alle bereits verfügbaren Beweismittel zu sichten, um sich ein hinreichendes Bild über den vermeintlichen Kartellverstoß zu machen und die Glaubhaftigkeit des späteren „Geständnisses“ der Betroffenen überprüfen zu können. Gegenstand des Settlements darf weder die konkrete Geldbuße noch die dieser zugrunde liegende rechtliche Würdigung sein. Beides würde zu rechtlichem Zwang im Sinne des § 136a Abs. 1 StPO führen, die einen freiwilligen Verzicht auf das – auch juristischen Personen gewährte – Aussageverweigerungsrecht ausschließt. Gleichermaßen verletzt ein Settlement-Angebot den „nemo tenetur“-Grundsatz, wenn die mit dem Settlement verbleibenden Nachteile mit denjenigen, die bei einer regulären Fortführung des Bußgeldverfahrens drohen, in einem eklatanten Missverhältnis stehen („Sanktionsschere“), die Vorteile des Settlements also derart weit reichen, dass die streitige Fortführung des Bußgeldverfahrens praktisch keine realistische Option mehr darstellt. Bei der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung sind die Sanktionsmilderungen durch die offene Bußgeldermäßigung um bis zu 10 % und die durch Teileinstellungen bewirkten, verdeckten Bußgeldnachlässe zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund begegnet die an der Settlement-Praxis der Kommission orientierte Settlement-Praxis des Bundeskartellamtes teilweise rechtsstaatlichen Bedenken. Einige Stellungnahmen der Kartellbehörde deuten darauf hin, dass diese ihrer Aufklärungspflicht nicht immer gerecht geworden ist und Vereinbarungen über die rechtliche Subsumtion eines wettbewerbswidrigen Verhaltens getroffen hat. Dem Rechtsstaatsprinzip, dem „fair trail“-Grundsatz, der im öffentlichen Interesse liegenden Wahrheitsfindung und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widerspricht auch der zur Bedingung eines Settlements gemachte Verzicht auf Ausübung des Rechts auf umfassende Akteneinsicht. Die vom Bundeskartellamt geforderte ausdrückliche Anerkennung der Geldbuße bis zur Höhe des in Aussicht gestellten Betrages trägt zur Erreichung der mit Settlements verfolgten Ziele nicht bei und ist daher ebenfalls unverhältnismäßig. Ein Settlement mit rechtmäßigem Inhalt bindet das Bundeskartellamt. Sofern die Betroffenen auf der Grundlage des Settlements – trotz Akteneinsicht und

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verweigerter Akzeptanz der Geldbuße – gestehen, ist das Bundeskartellamt entsprechend der teleologisch zu reduzierenden Vorschrift des § 257c Abs. 4 StPO verpflichtet, den versprochenen „Bonus“ zu gewähren, soweit die reduzierte Geldbuße noch „schuld- und tatangemessen“ ist. Notfalls hat das OLG Düsseldorf bei einer Anfechtung des Bußgeldbescheids den rechtswidrig verweigerten Vergünstigungen im Rahmen seiner pflichtgemäßen Ermessensausübung zur Geltung zu verhelfen. Hingegen ist ein wegen unzulässiger Vorteilsversprechen unter Zwang abgegebenes Geständnis ebenso wie die daraufhin erlangten Beweise gemäß § 257c Abs. 4 S. 3 StPO analog unverwertbar. 12. In der Praxis hat vor allem die an die Kronzeugenregelung der Kommission angelehnte Bonusregelung des Bundeskartellamts eine herausragende Bedeutung erlangt. Die in der Bonusregelung enthaltenen Verwaltungsvorschriften steuern aufgrund der ihr zugrunde liegenden kriminaltaktischen Erwägungen überwiegend die Ausübung des Verfolgungsermessens, partiell aber auch die Ausübung des Sanktionszumessungsermessens durch die Beschlussabteilungen. Die mit der Bonusregelung unter anderem bezweckte Verbesserung der Wettbewerbsverhältnisse durch die erleichterte Aufdeckung und Zerschlagung von Kartellen mithilfe kooperierender kartellbeteiligter Unternehmen rechtfertigt einen vollständigen oder partiellen Sanktionsverzicht in Fällen prinzipiell pflichtiger Ahndung. Die mit der Bußgeldreduktion (auf null) verbundenen Nachteile für das Rechtsempfinden Geschädigter und rechtstreuer Marktteilnehmer können nach der Wertung des Gesetzgebers, wie entsprechende Kronzeugenregelungen im Strafrecht belegen, durch eine verbesserte Generalprävention, verbesserte Wettbewerbsbedingungen und der Sicherstellung der uneingeschränkten Sanktionierung nicht kooperierender Kartellteilnehmer aufgewogen werden. Die ohne Atypikvorbehalt von der Bonusregelung vorgesehene Garantie eines vollständigen Bußgelderlasses im Gegenzug für die Aufdeckung eines unbekannten Kartells und für die uneingeschränkte Kooperation im Ermittlungsverfahren widerspricht jedoch dem Wesen der Ermessensausübung, nämlich der Entscheidungsfindung anhand einer wertenden Abwägung aller Umstände des konkreten Einzelfalls. Die Beschlussabteilungen handeln daher rechtswidrig, wenn sie ihr Verfolgungsermessen nicht ausüben und die Bonusregelung wie ein verbindliches Gesetz anwenden. Im Übrigen ist die Bonusregelung insbesondere mit dem „nemo tenetur“Grundsatz vereinbar. Durch die Bonusregelung wird trotz in Aussicht gestellter, erheblicher Bußgeldminderungen kein rechtlicher Zwang zur Selbstbelastung erzeugt. Die durch das Inaussichtstellen eines Bußgelderlasses erzeugte Sanktionsschere wirkt nicht zwingend, da sich die latente Gefahr der Sanktionierung vor der Kartellentdeckung noch nicht zu einer konkret individuali-

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sierbaren Sanktionsaussicht verdichtet hat. Das Angebot der Bußgeldreduktion um bis zu 50 % begründet zwar womöglich ebenfalls eine Sanktionsschere. Der von dieser ausgehende Druck zur Selbstbelastung ist jedoch gering, da das Angebot nicht verbindlich, sondern offen und veränderlich ist. 13. Insgesamt erweist sich das Verfolgungsermessen des Bundeskartellamts trotz dessen regelmäßiger Verdichtung zur Verfolgungs- und Ahndungspflicht von gravierenden Kartellen, aufgrund des – mangels gerichtlicher Überprüfbarkeit – faktisch bestehenden Beurteilungsspielraums bezüglich der Identifizierung atypischer Fälle, als sehr weit. Wie die Bonusregelung und die Settlement-Praxis deutlich offenbaren, liegt der Verfolgungspraxis des Bundeskartellamts in neuerer Zeit ein Paradigmenwechsel von der allein rückblickenden Ahnung hin zu dem Bestreben verbesserter Prävention zugrunde. Das Bundeskartellamt tendiert zu einem more economic approach des § 47 Abs. 1 OWiG. 14. Das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamt ist absolut durch die „Bußgeldrahmen“ der §§ 81 Abs. 4 GWB, 17 Abs. 1, Abs. 2 OWiG begrenzt. Unter Beibehaltung der selbst für geringfügigste Wettbewerbsverstöße unangemessenen und daher praktisch irrelevanten Mindestgeldbuße in Höhe von fünf Euro gemäß § 17 Abs. 1 OWiG hat der Gesetzgeber dem Bundeskartellamt die Möglichkeit eingeräumt, nachgewiesene Kartellverstöße natürlicher Personen gemäß § 81 Abs. 4 S. 1 GWB mit Geldbußen von bis zu einer Million Euro zu ahnden. Gegen Unternehmen kann es eine darüber hinausgehende Geldbuße verhängen, die 10 % des von diesen im Vorjahr der Entscheidung erwirtschafteten Umsatzes nicht übersteigen darf, § 81 Abs. 4 S. 2 GWB. Bei der 10 %-Umsatzgrenze handelt es sich nicht um eine Bußgeldobergrenze, wie sie im allgemeinen Bußgeldrecht üblich ist. Der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der systematische Unterschied zu vergleichbaren Regelungen, insbesondere zu § 81 Abs. 4 S. 1 GWB, die vom BGH anerkannte Rechtsprechung des EuGH, wonach selbst überschießende Richtlinienumsetzungen ins nationale Recht europarechtskonform auszulegen sind und nicht zuletzt der gesetzgeberische Wille, das deutsche Kartellbußgeldrecht an dasjenige der Europäischen Union anzupassen, sprechen eindeutig für die Qualifikation des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB als Kappungsgrenze. Sie stellt eine gesetzlich normierte Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar und soll eine bußgeldbedingte wirtschaftliche Überforderung der betroffenen Unternehmen verhindern. Die gegenteilige Auffassung des OLG Düsseldorf, des BGH und einigen Stimmen der Literatur lässt sich nicht auf eine verfassungskonforme Auslegung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB stützen, da das BVerfG eine solche mit Rücksicht auf Art. 20 Abs. 2 GG ablehnt, wenn sie –

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wie im Fall des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB – zur Unterminierung des in dem Gesetz zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens führt. Im Übrigen ließe sich eine derartige Bußgeldobergrenze nicht mit dem Schuldprinzip vereinbaren, da der Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit, auf den bei der Ermittlung des Umsatzes des Bußgeldadressaten gemäß § 81 Abs. 4 S. 3 GWB abzustellen ist, ein schuldindifferentes Kriterium darstellt, sodass keine (schuld)angemessene Abstimmung der Straffolge auf den Straftatbestand bestünde. Der Begriff des Unternehmens ist der Wertung des § 30 OWiG entsprechend so zu verstehen, dass nur juristische Personen und Personenvereinigungen, die an dem fraglichen Kartell beteiligt waren, Bußgeldadressaten sein können. Allerdings dient der Gesamtumsatz des Konzerns, dem das kartellbeteiligte Unternehmen angeschlossen ist, zulässigerweise als kalkulatorische Grundlage zur Bestimmung der Kappungsgrenze, weil die maximale Belastung des Bußgeldadressaten nur unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen des Gesamtverbunds ermittelt werden kann. Die Kappungsgrenze führt dazu, dass das Bundeskartellamt bei der Bußgeldbemessung gegen Unternehmen zunächst eine Geldbuße unbegrenzter Höhe ermitteln kann, diese jedoch anschließend zwingend auf das Maß von 10 % des Gesamtjahresumsatzes reduzieren muss. Aufgrund ihres Zwecks als Belastungsgrenze hat das Bundeskartellamt bei mehreren Zuwiderhandlungen Einzelgeldbußen im Sinne des § 20 OWiG zu bilden, die insgesamt die 10 %Umsatzgrenze nicht überschreiten. Gleiches gilt für den Fall, dass mehrere, an einem Kartell beteiligte Verbundgesellschaften sanktioniert werden sollen. 15. Die Ausübung des Sanktionszumessungsermessens durch die Beschlussabteilungen wird maßgeblich durch die pflichtgemäße Berücksichtigung der Bußgeldzumessungskriterien der §§ 81 Abs. 4 S. 6, Abs. 5 GWB, 17 Abs. 3, Abs. 4 OWiG gelenkt. Es gilt das Verbot der Doppelverwertung gemäß § 46 Abs. 3 StGB analog. Daneben bleibt nur ein begrenzter Raum für die Berücksichtigung der allgemeinen Sanktionszwecke, insbesondere der negativen Generalprävention. Zudem sind verfassungsrechtliche Grundsätze, vor allem der „fair trail“-Grundsatz und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einzelfall zu beachten, die unmittelbar bußgeldkorrigierend wirken. Dies gilt zum einen für die Fälle überlanger, das Beschleunigungsverbot verletzender Verfahrensdauer. Zum anderen hat das Bundeskartellamt bei der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Bußgeldadressaten gemäß § 17 Abs. 3 OWiG eine durch die Bußgeldverhängung drohende Zahlungsfähigkeit des betroffenen Unternehmens („inability to pay“) zu berücksichtigen. Sofern ein solches Szenario nicht sicher durch alternative Zahlungserleichterungen, wie Stundungs- und Ratenzahlungsvereinbarungen, die eine zukünftige Zahlung der

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Geldbuße und damit die Verwirklichung der Sanktion höchstwahrscheinlich sicherstellen, abgewendet werden kann, reduziert sich das Sanktionszumessungsermessen des Bundeskartellamts zu einer Pflicht zur Bußgeldreduktion um denjenigen Anteil, der den Bußgeldadressaten wirtschaftlich gefährdet. Entgegen seinem Wortlaut und der gesetzgeberischen Intention eröffnet § 81 Abs. 5 GWB dem Bundeskartellamt in der Regel kein von § 17 Abs. 4 OWiG abweichendes Ermessen zur Festsetzung einer rein ahndenden Geldbuße. Eine nicht deutlich offenbarte Vorteilsabschöpfung „im Wege der Ahndung“ widerspricht dem steuerlichen Leistungsfähigkeitsprinzip. Eine den ahndenden Teil der Geldbuße mindernde Berücksichtigung der rechtswidrig erlangten Gewinne kommt nur in besonderen, ausdrücklich zu begründenden Ausnahmefällen in Betracht, die eine Ungleichbehandlung der übrigen Kartellbeteiligten sachlich rechtfertigen können. 16. Aufgrund der erheblichen Spanne zwischen der Mindestgeldbuße und den maximal zulässigen Kartellgeldbußen ist das dem Bundeskartellamt eingeräumte Sanktionszumessungsermessen insgesamt sehr weit. Die pflichtgemäße Anwendung der ermessenslenkenden Zumessungskriterien führt bei der Bußgeldbemessung gegenüber natürlichen Personen jedoch zumindest zu einer spürbaren Ermessensbegrenzung, da sie jedenfalls die Verhängung von Geldbußen ausschließen, die außerhalb des im konkreten Einzelfall, mit ihrer Hilfe bestimmbaren Bußgeldrahmens zwischen der „schon“ und „noch“ schuld- und tatangemessenen Geldbuße liegen. Bei der Bußgeldbemessung gegenüber Unternehmen können die Zumessungskriterien hingegen kaum ihre ermessensbeschränkende Wirkung entfalten, da mangels (praktikabler) Bußgelduntergrenze- und obergrenze, die nach der Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts Ausdruck für die denkbar geringfügigste und schwerste Zuwiderhandlung sind, eine Einordnung des konkret fraglichen Wettbewerbsverstoßes mithilfe der Zumessungskriterien nicht möglich ist. 17. Das Bundeskartellamt ist dem daraus für Unternehmen folgenden Problem unzureichender Rechtssicherheit, unter Wahrnehmung der deklaratorischen Ermächtigung des § 81 Abs. 7 GWB, durch die Veröffentlichung seiner Bußgeldleitlinien vom 15.09.2006 begegnet, die stark an die Bußgeldleitlinien der Kommission angelehnt waren. Die mit der Systematik des OWiG überwiegend zu vereinbarenden, die Ausübung des Sanktionszumessungsermessens gegenüber Unternehmen lenkenden Verwaltungsrichtlinien achteten nur hinsichtlich der erschwerenden und mildernden Umstände nicht hinreichend das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB analog und führten, soweit das Bundeskartellamt allein den ahndenden Teil der Geldbuße zu kappen gedachte, den Gedanken der Kappungsgrenze nicht konsequent zu Ende. Die Bußgeldleitlinien 2006 haben zu einer erhöhten Transparenz der Bußgeldzumessung gegenüber Unternehmen beigetragen, indem sie den in der

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Mehrzahl der Fälle bestimmbaren, tatbezogenen Umsatz quasi als Ersatz für die fehlende Bußgeldobergrenze zum Ausgangspunkt der Bußgeldzumessung bestimmten. Ihre stringente Anwendung führte in der Mehrzahl der Fälle zu schuld- und tatangemessenen, verhältnismäßigen Geldbußen, wodurch zumindest die im konkreten Fall wohl „schlimmstenfalls“ zu erwartende Geldbuße hinreichend vorhersehbar war. Lediglich bei Ein-Produkt-Unternehmen und Handelsunternehmen konnte ihre Anwendung zu unverhältnismäßigen Geldbußen führen, sodass durch die Bußgeldleitlinien 2006 nicht konkretisierte, unvorhersehbare Korrekturmaßnahmen notwendig waren. Gleichermaßen undurchsichtig erschien die unter Wahrnehmung der Schätzungsbefugnis gemäß § 81 Abs. 4 S. 3 GWB ermöglichte, in den Leitlinien jedoch nicht näher veranschaulichte Schätzung des tatbezogenen Umsatzes. Die nunmehr gültigen, auf die Entscheidung des BGH in Sachen Grauzement zurückgehenden Bußgeldleitlinien 2013 können die durch die abweichende Qualifikation bewirkte Intransparenz des Kartell-Bußgeldrechts nicht abmildern. Dem Bundeskartellamt steht ein extrem weiter Bußgeldbemessungsspielraum zu, den es kaum durch seine Bußgeldleitlinien 2013 begrenzt hat. Das Bundeskartellamt hat insoweit allein eine der Systematik des allgemeinen Bußgeldrechts widersprechende, allerdings dem Schuldprinzip besser gerecht werdende „zweite Bußgeldgrenze“ mit dem multiplizierten Gewinnund Schadenspotential etabliert, die regelmäßig zu nominal geringeren Geldbußen führen dürfte, als sie unter konsequenter Anwendung der „gesetzlichen Bußgeldobergrenze“ zu erwarten sind. Die konkrete Bußgeldbemessung wird im Ganzen jedoch ebenso wenig erläutert wie die korrigierenden Maßnahmen, die etwa bei Handelsunternehmen aufgrund der geringeren Wertschöpfungstiefe zu ergreifen sind. Auch die nach wie vor für die Bestimmung des Gewinn- und Schadenspotentials relevante Schätzung des tatbezogenen Umsatzes wird nicht näher konkretisiert. Sofern eine Schätzung des (tatbezogenen) Umsatzes notwendig ist, sollte das Bundeskartellamt daher bei einmaligen Zuwiderhandlungen generell von dem Regelbußgeldrahmen des § 81 Abs. 4 S. 1 GWB Gebrauch machen, um schuldunangemessene Geldbußen zu vermeiden. Bei der Anwendung der in den Bußgeldleitlinien 2013 näher konkretisierten Zumessungskriterien wird das Bundeskartellamt zudem das Doppelverwertungsverbot beachten müssen. Insbesondere darf es die Dauer einer Zuwiderhandlung nicht, wie intendiert, berücksichtigen, wenn es diesen Umstand bereits zur Bestimmung des Gewinn- und Schadenspotentials herangezogen hat und dieses – multipliziert mit dem Unternehmensfaktor – als „Bußgeldobergrenze“ ansetzt. Positiv zu bewerten ist allerdings, dass das Bundeskartellamt die bußgeldbedingte Zahlungsunfähigkeit nunmehr in Rahmen der Bußgeldbemessung berücksichtigen will. 18. Aus der Zusammenschau des Verfolgungs- und Sanktionszumessungsermessens folgt, dass dem Bundeskartellamt insgesamt ein erheblicher, gesetzlich

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kaum vorprogrammierter Ermessensspielraum bei der Verfolgung und Ahndung von Kartellen eingeräumt ist. In der Praxis ist die Ermessensausübung des Bundeskartellamts dominiert von informellen, von der Kommissionspraxis stark beeinflussten Vollzugselementen, die gerichtlich allenfalls punktuell und indirekt überprüfbar sind und zu einer Verwischung des Verfolgungsund Sanktionszumessungsermessens führen, die herkömmlich in unterschiedlicher Intensität von verfassungs- und strafrechtlichen Prinzipien beeinflusst sind. Die insoweit unzureichende gerichtliche Kontrolle und der fehlende Rechtschutz Dritter gegen fehlerhafte Ermessensentscheidungen einerseits sowie die schlichte gesetzliche Lenkung der Ermessensausübung, die der Kartellbehörde eingeräumten quasi-legislativen Befugnisse und der Einfluss der traditionell mit weitreichenderen Kompetenzen ausgestatteten Kommission andererseits bewirken in der Praxis eine Tendenz des Bundeskartellamts, die bestehenden Handlungsspielräume – z. T. unter Verkennung verfassungsrechtlicher Grundsätze und -rechte – weiter auszudehnen und führen zu einer Funktionsballung von rechtsanwendenden, (vorläufig) rechtsprechenden und rechtsetzenden Funktionen beim Bundeskartellamt. 19. Die bestehende Rechtslage ist mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz unvereinbar, welcher eine Machtbalance durch Funktionentrennung und Optimierung staatlicher Entscheidungen durch sachgerechte Funktionszuweisung bezweckt. Das u. a. durch den Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes und den Bestimmtheitsgrundsatz definierte Machtgefüge zwischen Gesetzgeber und Bundeskartellamt ist zugunsten der Kartellbehörde aus dem Gleichgewicht geraten, indem sich der Gesetzgeber seiner ihm originären Kernkompetenz begeben hat, wesentliche Sachmaterien, der anerkannten Wesentlichkeitstheorie entsprechend, hinreichend bestimmt zu regeln. Der Bußgeldtatbestand des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB lässt einen nach oben und unten absolut begrenzten Bußgeldrahmen missen, und zwar selbst dann, wenn die Vorschrift unzulässigerweise als Bußgeldobergrenze qualifiziert würde. Denn in diesem Fall bestünde ein wandernder, abstrakt uferloser, da jeweils nur im konkreten Einzelfall anhand der Umsätze des Unternehmens bestimmbarer, individueller Bußgeldrahmen, der den Anforderungen an die Strafandrohungsbestimmtheit, die das BVerfG in seinem Urteil zur Vermögensstrafe entwickelt hat und die uneingeschränkt auf das Bußgeldverfahren zu übertragen sind, nicht gerecht wird. Die Voraussetzungen und Grenzen von Settlements sowie des im Kartell-Bußgeldverfahren angewandten Kronzeugenprogramms sind gesetzlich nicht geregelt, obgleich sie in engem Verhältnis zu den für die Verwirklichung der Rechte auf freie, unternehmerische Entfaltung, auf Eigentum und der allgemeinen Handlungsfreiheit wesentlichen Bußgeldtatbeständen des § 81 Abs. 4 GWB stehen, die erheblich eingriffsintensive Bußgelder ermöglichen. 20. Angesichts (i) der Ungewissheit der konkreten Bußgeldbemessung gegenüber Unternehmen, die nicht zuletzt durch die neuen Bußgeldleitlinien 2013 wie-

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der verstärkt wurde, (ii) der gesetzlich zulässigen, extrem hohen Geldbußen, (iii) der Unsicherheit über den eigenen Kronzeugenstatus im Kartell-Bußgeldverfahren im Hinblick auf mögliche Bonusanträge anderer betroffener Unternehmen und (iv) der schwer zu prognostizierenden Ermessensausübung des OLG Düsseldorf im Falle einer streitigen Fortsetzung des Bußgeldverfahrens tendieren Unternehmen in der Praxis zunehmend zur Kooperation mit der Kartellbehörde. Damit geht in der Praxis faktisch ein Rechtsmittelverzicht einher. Die dadurch zurückgedrängte mäßigende Wirkung gerichtlicher Kontrolle und die eingeschränkte Publizität „kooperativer“ Bußgeldverfahren führen zu einem Rückgang der Orientierungswirkung der Kartellrechtspraxis für die Privatwirtschaft und erschweren das private enforcement des Kartellrechts sowie private Schadensersatzklagen Geschädigter. 21. Den in der Arbeit aufgezeigten verfassungsrechtlichen Bedenken des bestehenden Kartellverfahrens- und bußgeldrecht ist de lege ferenda entgegen zu wirken, und zwar zumindest durch: • die Neuregelung des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB, die etwa am Geldstrafensystem orientiert werden könnte, da dieses hinreichend vorhersehbare, aber auch „belastungsgleiche“, tat- und schuldangemessene Sanktionen ermöglicht, • die gesetzliche Regelung der Voraussetzungen und Grenzen der Kronzeugenregelung und der „verfahrensbeendenden“ Vergleichsverhandlungen, die sich zwingend gegenseitig ausschließen sollten, und • die Kodifikation einer zwingenden, sachgerechten Beteiligung des OLG Düsseldorf an der Vereinbarung von Settlements.

Literaturverzeichnis Abanto Vásquez, Manuel Anselm: Die Bekämpfung von Wettbewerbsbeschränkungen mit strafrechtlichen Mitteln, Zugl.: Freiburg im Breisgau, Univ., Diss., 1996, Heidelberg 1996. Achenbach, Hans: Historische und dogmatische Grundlagen der strafrechtssystematischen Schuldlehre, Berlin 1974. – Bußgeldverhängung bei Kartellordnungswidrigkeiten nach dem Ende der fortgesetzten Handlung, in: Wirtschaft und Wettbewerb – Zeitschrift für Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht (WuW), Heft 5, 1997, S. 393 ff. – Pönalisierung von Ausschreibungsabsprachen und Verselbständigung der Unternehmensgeldbuße durch das Korruptionsbekämpfungsgesetz 1997, in: Wirtschaft und Wettbewerb – Zeitschrift für Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht (WuW), Heft 12, 1997, S. 958 ff. – Verfassungswidrigkeit variabler Obergrenzen der Geldbußzumessung bei Kartellrechtsverstößen?, in: Wirtschaft und Wettbewerb – Zeitschrift für Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht (WuW), Heft 12, 2002, S. 1154 ff. – Das Strafrecht als Mittel zur Wirtschaftslenkung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW), Heft 4, Band 119 (2007), S. 789 ff. – Die Kappungsgrenze und die Folgen – Zweifelsfragen des § 81 Abs. 4 GWB, ZWeR, Heft 1, 2009, S. 3 ff. – Ahndung materiell sozialschädlichen Verhaltens durch bloße Geldbuße?, Zur Entwicklung und Problematik „großer“ Wirtschafts-Ordnungswidrigkeiten, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (GA), 2008, S. 1 ff. – Haftung und Ahndung, Wider die Vertauschung zweier disparater Rechtsfolgemodelle, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS), Heft 5, 2012, S. 178 ff. – Grauzement, Bewertungseinheit und Bußgeldobergrenze, in: Wirtschaft und Wettbewerb – Zeitschrift für Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht (WuW), Heft 7, 2013, S. 688 ff. Ackermann, Thomas: Kartellgeldbußen als Instrument der Wirtschaftsaufsicht, ZWeR, Heft 1, 2012, S. 3 ff. – Prävention als Paradigma: Zur Verteidigung eines effektiven kartellrechtlichen Sanktionssystems, ZWeR, Heft 4, 2010, S. 329 ff. Almunia, Joaquín/Lewandowski, Janusz: Information Note, Inability to pay under paragraph 35 of the 2006 Fining Guidelines and payment conditions pre- and post-decision finding an infringement and imposing fines, SEC(2010) 737/2, im Internet ab-

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Sachwortverzeichnis Abmahnung 92, 179 Abschreckung 124, 135, 143, 209, 299, 313, 321, 382, 397, 435, 462, 491, 492, 548 Abschreckungsaufschlag 252, 382, 418, 423, 455 Abstellungsverfügung 90, 150, 527 Akteneinsicht geschädigter Dritter 561 Akteneinsicht, Verzicht auf 189, 254 – Beschränkung des Rechts auf rechtliches Gehör 257 – Vereinbarkeit mit dem fair trail-Grundsatz 274 Amtsermittlungspflicht 544, 560, 568, siehe auch Aufklärungsgrundsatz Anfangsverdacht 62, 77, 108, 300 Anscheinsbeweis 561 Anspruch auf rechtliches Gehör 255 Anwendungsvorrang 491 Aufgreifermessen siehe Verfolgungsermessen Aufklärungsgrundsatz 217, 222, 306, 545 Aufsichtspflicht – Bußgeldverantwortliche 94 – im Konzern 95 Aufsichtspflichtverletzung – Bußgeldandrohung 341, 359 – Bußgeldverantwortlichkeit 364 Auslegung, verfassungskonforme 350 Aussageverweigerungsrecht siehe nemo tenetur-Grundsatz Bagatellbekanntmachung 159–170, 488, 490 – Gegenstand 159 – Qualifikation 160

– Vereinbarkeit Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 161 – Verhältnis zur de minimis-Bekanntmachung 164 Belastungsgleichheit, bußgeldrechtliche 535, 567 Belastungsgrenze siehe Kappungsgrenze Beschleunigungsgebot siehe fair trailGrundsatz Beschlussabteilung 495 Besserungsschein 389, 390, 419, 449 Bestimmtheitsgrundsatz, allgemeiner 507 – Anwendbarkeit auf Verfahrensvorschriften 514 – Blankoermächtigung, gesetzliche 507 Bestimmtheitsgrundsatz, strafrechtlicher 507 – Anwendbarkeit auf Verfahrensvorschriften 513 – Garantiefunktion 507 – orientierender Strafrahmen 349, 521 – Orientierungsfunktion 508 – Strafandrohungsbestimmtheit 510, 513, 520 – Tatbestandsbestimmtheit 510, 513 Beurteilungsspielraum – der Staatsanwaltschaft 63 – der Verwaltung 42 – faktischer, im Kartell-Bußgeldverfahren 329, 487 Beweisverwertungsverbot – bei Settlements 284 – bei Verständigungen im Strafverfahren 269, 281 – Fernwirkung 287 Bindungswirkung – bei Settlements 261–291

Sachwortverzeichnis – der europäischen Rechtsprechung 539 – der Grundrechte-Charta 84 – von Entscheidungen der Kommission 105 – von Leitlinien der Kommission 107, 166, 374, 491 – von Verwaltungsgrundsätzen 49, 318 Bonusregelung 145, 297–327, 489, 492, 493, 551, 562 – Erlassautomatik 316 – Ermessensnichtgebrauch 318 – Gleichheitssatz 306 – Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes 545, 568 – nemo tenetur-Grundsatz 318 – Qualifikation 302 – Regelungen 299 – sachliche Rechtfertigung 307 – Sanktionsschere 319 – wertende Einzelfallbetrachtung 316 – Zweck 298 business judgement rule 249 Bußgeldbemessung siehe Bußgeldzumessung Bußgeldbescheid – Begrenzungsfunktion 70 – Begründungspflicht 410 – funktionelle Anklageschrift 70 – Informationsfunktion 411 – Kurzbescheid 191, 253, 255, 264, 313, 556, 561 Bußgeldleitlinien 2006, Bundeskartellamt – Abschreckungsaufschlag 418, 423 – Anpassungsfaktoren 418 – Anwendungsbereich 416 – Bestimmung des Grundbetrags 417 – Doppelverwertungsverbot 425 – Ein-Produkt-Unternehmen 451 – einmalige Zuwiderhandlungen 443 – Handelsunternehmen 437 – Inability to Pay 449 – Kappungsgrenze 419, 426 – Qualifikation 415

– – – –

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Schuldprinzip 432 Transparenz 431 Umsatzschätzung 444 Vereinbarkeit mit der Systematik des OWiG 421 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 448 – Zumessungskriterien 417 – Zumessungskriterien, gesetzliche 446, 416, 459 Bußgeldleitlinien 2013, Bundeskartellamt – Anwendungsbereich 460 – Bemessungsspielraum 461, 463 – Doppelverwertungsverbot 467 – Ein-Produkt-Unternehmen 470 – gesetzlicher Bußgeldrahmen 460 – Gewinn- und Schadenspotential 461– 462, 465, 468 – Gleichheitssatz 468 – Konkretisierung des Bußgeldbemessungsvorgangs 477 – Qualifikation 415 – Schuldprinzip 464, 473 – tatbezogener Umsatz 461 – Transparenz 473 – Unternehmensfaktor 462, 469 – Vereinbarkeit mit der Systematik des OWiG 464 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 464, 475 – Zumessungskriterien, gesetzliche 463, 466, 467, 459, 480 Bußgeldleitlinien, Kommission 373, 381, 416, 417, 420, 435, 438, 490 Bußgeldrahmen, allgemeiner Regel-~ 133, 334 Bußgeldrahmen, kartellrechtlicher Regel-~ – Neuregelungsbedarf 566 – Vereinbarkeit mit Bestimmtheitsgrundsatz 529, 340, 343 Bußgeldrahmen, kartellrechtlicher, umsatzbezogener Sonder-~ – Bußgeldobergrenze oder Kappungsgrenze 345 – Neuregelungsbedarf 566

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Sachwortverzeichnis

– verfassungskonforme Auslegung 350 – Verfassungswidrigkeit 532 – Verfassungswidrigkeit der Bußgeldobergrenze 354, 532 – Verfassungswidrigkeit der Kappungsgrenze 531, 343, 368 Bußgeldskala 345, 465 Bußgeldzumessung – abschöpfender Teil der Geldbuße 339 – ahndender Teil der Geldbuße 336 – Bußgeldrahmen 334 – Phasen der 334 checks and balances siehe Gewaltenteilungsgrundsatz Degussa-Urteil 536 de minimis-Bekanntmachung 164–170, 490 – faktische Bindungswirkung 168 – rechtliche Bindungswirkung 166 – Spürbarkeit 165 Demokratieprinzip 41, 122, 374, 500, 512, 513 dezentrale Anwendung 344, 538 Diskriminierung siehe Gleichheitssatz Doppelverwertungsverbot 382, 425, 467 Effektivität 117, 122, 129, 145, 147, 211, 311, 314, 544, 547 effet utile 46, 106, 166, 353, 491, 540 Effizienzerwägungen 48, 118, 122, 129, 143, 148, 158, 208, 210, 278, 304, 411, 492, 549, 560, 561 Einheit der Rechtsordnung 52 Ein-Produkt-Unternehmen 470, 476 einvernehmliche Verfahrensbeendigungen siehe Settlements Einzelfallbetrachtung, wertende 41, 316, 428 Ermessen – der Staatsanwaltschaft 62 – des Strafrichters 58

Ermessensdirektiven 46, 102, 487, 488, 517 Ermessensfehler 50, 152, 288, 318 Ermessenskonzeption siehe Opportunitätsprinzip Ermessenskriterien, strafprozessuale 157 Ermessenskriterien für die Kartellahndung siehe Zumessungskriterien Ermessenskriterien für die Kartellverfolgung – Bedeutung des Wettbewerbsverstoßes 131, 158 – Effektivität siehe Effektivität – Effizienz siehe Effizienzerwägungen – Kommissionspraxis 105 – unverzügliches Abstellen der Zuwiderhandlung 173 – Verfahrensbeschleunigung 186 – wettbewerbsfremde 183 Ermessensreduktion auf null 50, 149, 151, 152, 517 Ersetzungsbefugnis 33, 70, 496 European Competition Network 103 – Loyalitätspflichten 104, 106, 167, 491 fair trail-Grundsatz 245, 256, 270, 276, 281 – Beschleunigungsgebot 208, 384 – Waffengleichheit 256, 270, 277, 285, 286 follow-on Klagen 556, 563 Funktionenballung – bei der Kommission 492 – beim Bundeskartellamt 495 Funktionentrennung siehe Gewaltenteilungsgrundsatz Geldbuße 54 – Bemessung siehe Bußgeldzumessung – existenzgefährende 384 – Sanktionszwecke 54, 381 – Wesen 54 Geldstrafe 355, 470, 524, 567 Generalprävention siehe Sanktionszwecke

Sachwortverzeichnis Gewaltenteilungsgrundsatz 151, 497, 498–512 – Bedeutung 498 – Bestimmtheitsgrundsatz 507 – Gewaltentrennung 498 – Gewaltenverschränkung 500, 502 – Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes 503 – Kernkompetenzen der Staatsgewalten 500 – Kernkompetenzverschiebungen im Kartell-Bußgeldverfahren 512–550 – Rechtsschutzgarantie 510 – Wesentlichkeitstheorie 505 Gewinn- und Schadenspotential 461– 462, 464, 465, 468, 474, 475 Gleichheit im Unrecht 295, 327, 494, 517 Gleichheitssatz 61, 117, 172, 232, 238, 291, 306, 408, 468, 513 Grauzementkartell-Beschluss 349–357, 524, 553 Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 120, 216, 420, 503 Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes 161, 216, 503 – Delegationsverbot 505 – Eingriffsvorbehalt 504 – Totalvorbehalt 504 – Wesentlichkeitstheorie 505 Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes 216, 420, 467 GWB-Novelle, Achte 100, 317, 336 GWB-Novelle, Siebte 122, 135, 184, 303, 343, 360, 373, 420, 491, 547, 561 in dubio pro reo 80, 277, 364, 434 Inability to Pay 384 – Bußgeldleitlinien 2006, Bundeskartellamt 449 – Bußgeldleitlinien 2013, Bundeskartellamt 476 – Bußgeldreduzierung, effektives Mittel 396

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– Bußgeldreduzierung, milderes Mittel 391 – Vollstreckungsvereinbarungen siehe Vollstreckungsvereinbarungen Innenrecht 48, 68, 160, 416, 466, 546, 549 Inquisitionsprozess 496 Kappungsgrenze 345–357, 362, 363, 369, 377, 381, 412, 415, 421, 426, 451, 459, 518, 531, 552 Kartell 132 – Ahndungspflicht 146 – Strafbedürftigkeit 143 – Strafwürdigkeit 134 Kernbeschränkung 159 Kommission – Bußgeldleitlinien 373, 381, 416, 417, 420, 435, 438 – de minimis-Bekanntmachung 165 – Einfluss der 490 – Kronzeugenregelung 298, 490 – Revokationsrecht siehe Revokationsrecht Konzernhaftung 95, 357 Kriminalisierung von Hardcore-Kartellen 133–146 Kronzeugenregelung, Kommission 298, 490 Kronzeugenregelung, strafrechtliche 145, 314, 323, 547 Kumulationsprinzip 369 Legalausnahmesystem 184, 538, 559 Legalitätsprinzip 53, 112, 151, 152, 157, 213, 221, 513 Leistungsfähigkeit, wirtschaftliche 346, 355, 449, 463, 467, 525, 535, 568 Leistungsfähigkeitsprinzip, steuerliches 406 Letztentscheidungskompetenz 43, 66, 510, 560, 570

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Sachwortverzeichnis

Mehrerlös 139, 343, 376, 434, 441, 445, 469, 474 more economic approach 492, 560 ne bis in idem 81–86, 107, 192 nemo tenetur-Grundsatz 237, 318 – Sanktionsschere 244 – Verletzung durch unzulässige Vorteilsgewährung 242 – zugunsten juristischer Personen 238 nulla poena sine culpa 79, 337, 358, 362, 533 nulla poena sine lege 509, 519, 536 nullum crimen sine lege 509 Opportunitätsprinzip – Ordnungswidrigkeitenrecht 51–73, 113–120 – Strafrecht 58 – Verwaltungsrecht 38 Ordnungswidrigkeit – Qualifikation 55, 113 – Typologie 123 Organisationsstruktur, funktionsgerechte, siehe Gewaltenteilungsgrundsatz Orientierungsrahmen 349, 521 Orientierungswirkung 532 – der Bußgeldleitlinien 2006 453 – der Bußgeldleitlinien 2013 477 – der Kartellrechtspraxis 559 – der Rechtsprechung des EGMR 245 – des § 81 Abs. 4 S. 2 GWB 532 Parlamentsvorbehalt siehe Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes plea bargaining 570 Preismissbrauchsnovelle 344, 346, 360, 418, 420, 422 Prinzip der materiellen Wahrheit siehe Aufklärungsgrundsatz private enforcement 561 Punktstrafentheorie 58

quasi-legislative Tätigkeit des Bundeskartellamts 496, 550, 563 Ratenzahlungsvereinbarung 390, 403, 450, 476 Rechtsfortbildung, richterliche 350 Rechtsnachfolge in die Bußgeldhaftung 98 Rechtsschutz 66 – bei Settlements 288, 494 – faktische Zurückdrängung 555 – gegen Bußgeldbescheid 69 – gegen Einleitung des Bußgeldverfahrens 67 – geschädigter Dritter 71, 560 Rechtsschutzgarantie 510 Rechtssicherheit 82, 264, 265, 316, 353, 431, 473, 496, 498 Rechtsstaatsprinzip 41, 51, 61, 82, 112, 214, 228, 236, 238, 256, 265, 277, 305, 384, 419, 464, 498, 507, 513, 516 reformatio in peius 459, 553 Repression siehe Sanktionszwecke Revokationsrecht 103, 107, 167, 491 Sanktionsschere 319, 556, 569 Sanktionszumessungsermessen 333–485 – Bußgeldleitlinien 2006 416–459 – Bußgeldleitlinien 2013 459–480 – Ermessensgrenzen 340 – Ermessenskriterien siehe Zumessungskriterien – Kappungsgrenze 345 – Regelbußgeldrahmen, kartellrechtlicher 340 – Schuldprinzip 420 – Sonderbußgeldrahmen für Unternehmen, mehrerlösbezogener 343 – Sonderbußgeldrahmen für Unternehmen, umsatzbezogener 343–368 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 420 Sanktionszwecke – Generalprävention, negative 54, 137, 313, 382, 388, 397, 492

Sachwortverzeichnis – Generalprävention, positive 129, 207, 277, 312, 314, 382, 388, 398 – Spezialprävention 54, 135, 207, 382, 387, 397, 423, 450 – Vergeltung 54, 117, 143, 207, 312, 336, 387, 396, 492 – Vorteilsabschöpfung 54, 380, 381, 388, 396, 402, 405 Schadensschätzung, richterliche 561 Schuldprinzip 171, 218, 227, 247, 270, 272, 337, 343, 348, 351, 355, 376, 432, 464, 473, 493 Settlements 187, 214–297, 489, 542 – anfängliche Rechtswidrigkeit 271, 285 – Anspruch auf Abschluss eines 262 – Aufklärungsgrundsatz 219 – Bindungswirkung 261–291 – Ermächtigung zum Abschluss 196 – fair trail-Grundsatz 256, 270, 276, 281, 286 – Gleichheitssatz 291 – Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes 542, 568 – hybride 192, 291 – nachträgliche Rechtswidrigkeit 272, 285 – nemo tenetur-Grundsatz 237 – Notwendigkeit gerichtlicher Beteiligung 570 – Qualifikation 192 – Recht auf rechtliches Gehör 255, 276 – Rechtsfolgen bei Scheitern 261–291 – Rechtsschutz 288 – sachliche Rechtfertigung 206 – Teilunwirksamkeit 283 – Verwertungsverbot des Geständnisses 284 – Verzicht auf Akteneinsicht 254 – Widerruf des Geständnisses 266 – zulässiger Gegenstand 234 – Zweck 188 Sonderbußgeldrahmen, wandernder 346 – Bestimmtheitsgrundsatz 348, 349 – Schuldprinzip 348, 354

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– verfassungskonforme Auslegung 350 – Verfassungswidrigkeit 354 Spezialprävention siehe Sanktionszwecke Spielraumtheorie 59 Strafbegründungsschuld 376 Strafrahmen 521 Strafzumessungsschuld 376 Stundungsvereinbarung 390, 403 Tagessatz 470, 567 Tagessatzhöhe 470, 567 Transparenz 48, 431, 473, 554, 558, 561 Übermaßverbot 116, 147, 153, 337, 369, 381, 382, 384, 451 Umsatz – Berechnung 417, 461 – Gesamt- 360–368 – konzerninterner 436 – Schätzung 417, 444, 462 – tatbezogener 417, 432, 461 Untermaßverbot 147, 151, 153 Unternehmen – Begriff im Kartellbußgeldrecht 357 – Bußgeldadressat 94 – Geldbuße 343–368 – Gesamtumsatz der wirtschaftlichen Einheit 360–368 – Umsatzzurechnung im Konzern 363 Unternehmensfaktor 462, 466, 469, 474 Untersagungsverfahren 90 Untersuchungsmaxime siehe Aufklärungsgrundsatz Unterwerfungsverfahren 199 Verbot der Mehrfachahndung siehe ne bis in idem Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung siehe nemo tenetur-Grundsatz Verfahrenshindernisse 80–89 Verfahrensvoraussetzungen 75–80 Verfolgungsermessen 74–332 – Adressatenauswahl 94

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Sachwortverzeichnis

– Grenzen siehe Ermessenskriterien für die Kartellverfolgung – Intendiertes 120 – more economic approach 330 – Reichweite 89–102 – Zweck 111–155 Vergeltung siehe Sanktionszwecke Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 51, 129, 134, 153, 293, 384, 387, 420, 448, 464, 475 Verjährung 86–89 Vermögensstrafe-Urteil 519 – Übertragbarkeit auf das Bußgeldrecht 522 Verpflichtungszusagen 90, 561 Verständigung im Strafprozess 202, 204 Vertrauensschutz 265, 458 Verwaltungspraxis, gleichmäßige 47, 68, 318, 534 Verwaltungsvorschriften 47, 161 – Bagatellbekanntmachung 159–170 – Bonusregelung 297–327 – Bußgeldleitlinien 414–482 Vollstreckungsvereinbarungen 389 – Besserungsschein 390 – Eignung zu Erreichung der Sanktionszwecke 390 – Ratenzahlungsvereinbarung 390, 450, 476 – Stundungsvereinbarung 390, 403 Vollzugsinstrumente 487, 489, 542

Vorteilsabschöpfung siehe Sanktionszwecke Waffengleichheit siehe fair trail-Grundsatz Wertschöpfungstiefe 437, 457, 463, 475 Wesentlichkeitstheorie 162, 505, 518, 522, 546 Wettbewerb – Funktionen 131 – Zwischenrechtsgut 140 wirtschaftliche Einheit siehe Unternehmen Wirtschaftlichkeitsprinzip siehe Effizienzerwägungen Zahlungsunfähigkeit, sanktionsbedingte, siehe Inability to Pay Zementkartell-Urteil 347, 458, 524, 553 Zumessungskriterien 372, 466 – Bedeutung der Ordnungswidrigkeit 336, 375, 423, 446, 463, 466, 467 – Doppelverwertungsverbot 382 – ermessensbegrenzende Wirkung 405 – Konkretisierung durch die Bußgeldleitlinien 2006 453, 467, 477 – Sanktionszwecke 381 – Überlange Verfahrensdauer 384 – Vorteilsabschöpfung 380 – Vorwerfbarkeit 336, 376, 423, 466 – wirtschaftliche Verhältnisse 379 Zuständigkeit des Bundeskartellamts 76