Das Entstehen neuer Freiräume: Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert [1 ed.] 9783412512118, 9783412511111

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Das Entstehen neuer Freiräume: Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412512118, 9783412511111

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In den Städten des Ostseeraums verfügte ein stetig wachsender Bevölkerungsanteil im 18. Jahrhundert über ausreichend Zeit und Geld, um Theater, Ballsäle und Klubs zu besuchen oder an Lotterien teilzunehmen. Diese vergnüglichen und geselligen Zusammenkünfte stellten neue Möglichkeiten des Kulturkonsums dar und waren unabhängig vom gesellschaftlichen Stand gegen Bezahlung verfügbar. Hier entstanden Freiräume, in denen die alltäglichen Normen und Konventionen temporär durch andere Gepflogenheiten ersetzt wurden. Der Autor zeichnet diese Entwicklung anhand der Ostseestädte Stralsund und Reval (Tallinn) anschaulich und quellennah nach.

Matthias Müller

veröffentlichungen der historischen kommission für pommern forschungen zur pommerschen geschichte, band 51

Das Entstehen neuer Freiräume

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Matthias Müller

Das Entstehen neuer Freiräume Vergnügen und Geselligkeit in Stralsund und Reval im 18. Jahrhundert

forschungen zur pommerschen geschichte

412-51111-1_PB_Mueller_matthias_FINAL.indd Alle Seiten

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09.01.19 10:25

VERÖFFENTLICHUNGEN DER HISTORISCHEN KOMMISSION FÜR POMMERN Für die Historische Kommission für Pommern herausgegeben von Gerd Albrecht, Felix Biermann, Nils Jörn, Michael Lissok und Haik Thomas Porada RE I HE V: FO R SCH U N GE N Z U R P OMME RSCHE N GE SCHI CHTE Ba n d 5 1

M AT T H I A S M Ü L L ER

DA S E N T S T E H E N N E U E R F R E I R ÄU M E V ERGN ÜGEN U ND GE SE L L IGK EI T I N ­S T R A L SU ND U ND R EVA L I M 18. JA H R H U NDERT

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Diese Veröffentlichung erscheint mit Unterstützung der Paul-Kaegbein-Stiftung und der Historischen Kommission für Pommern. Die Arbeit der Historischen Kommission für Pommern wird gefördert durch das Land Mecklenburg-Vorpommern und das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg an der Lahn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Das Rathaus zu Stralsund, Lithographie von Heinrich Wilhelm Teichgräber, 1839; Quelle: Universitäts- und Landesbibliothek: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/content/titleinfo/4011804. Tallinna raekoda (Revaler Rathaus), Albumindruck, 1877, Quelle: Eesti Rahva Muuseum (Estnisches Nationalmuseum) Fk 542:59: http://muis.ee/en_GB/museaalview/654354 Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Satz und Layout: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51211-8

Inhalt Vorwort  ..................................................................................................................... 

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I. Einleitung  . . ......................................................................................................  1. Forschungsstand  .......................................................................................  2. Fragestellungen  . . .......................................................................................  3. Methode und Quellen  ..............................................................................  4. Struktur  .................................................................................................... 

9 10 28 29 35

II.

Historische Hintergründe  ...............................................................................  1. Der Ostseeraum  .......................................................................................  2. Schwedisch-­Pommern  ..............................................................................  3. Estland    .....................................................................................................  4. Stralsund  ..................................................................................................  5. Reval  . . ....................................................................................................... 

37 37 41 47 54 59

III. Glücksspiele  .. ...................................................................................................  1. Definition und Kategorisierung  ...............................................................  2. Die Lotterie im 18. Jahrhundert  ...............................................................  3. Lotterien in Stralsund  .. .............................................................................  4. Die Lotterien in Reval  ..............................................................................  5. Karten- und Würfelspiele in Stralsund  .....................................................  6. Die Freiräume der Revaler Klubs  .............................................................  7. Zwischenfazit  .. .......................................................................................... 

65 66 68 75 101 116 130 150

IV. Das Theater  .....................................................................................................  1. Das Theater im 18. Jahrhundert  .. ..............................................................  2. Aufführungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts  ..........................  3. Die Einrichtung des Stralsunder Theaters  ................................................  4. Das Revaler Liebhabertheater  . . .................................................................  5. Möglichkeiten und Beschränkungen der Schauspielgesellschaften  ..........  6. Die sozialen Grenzen des Zuschauerraums  ..............................................  7. Die öffentliche Wahrnehmung des Theaters  ............................................  8. Die Finanzierung des Theaterbetriebs  ......................................................  9. Zwischenfazit  .. .......................................................................................... 

153 154 158 164 167 187 203 209 218 234

V.

Bälle und Maskeraden  .....................................................................................  237 1. Festlichkeiten vor dem 18. Jahrhundert  ....................................................  239 2. Die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz ständeübergreifender Feste  . . .  242

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Inhalt

3. Die Institutionalisierung neuer Ballorte  ...................................................  4. Die soziale Interaktion bei Maskenbällen  .. ...............................................  5. Die eigene Ordnung der (Masken-)Bälle  .................................................  6. Sommerbälle  .. ...........................................................................................  7. Störfälle bei (Masken-)Bällen  ...................................................................  8. Zwischenfazit  .. .......................................................................................... 

253 266 272 287 292 294

VI. Fazit  .................................................................................................................  297 VII. Anhang  ............................................................................................................  1. Abkürzungsverzeichnis  .............................................................................  2. Verzeichnis der Karten, Diagramme und Tabellen  ...................................  3. Ortsnamenkonkordanz  ............................................................................  4. Glossar    .....................................................................................................  5. Preis- und Gehaltslisten  . . ..........................................................................  6. Quellen- und Literaturverzeichnis  .. .......................................................... 

305 305 306 306 307 308 310

Personenregister  .........................................................................................................  343

Vorwort Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um meine geringfügig überarbeitete Dissertation, die ich im Juli 2016 an der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald verteidigt habe. Zwischen der ersten Idee für diese Arbeit und dem gedruckten Buch liegen fast acht spannende und ereignisreiche Jahre, in denen mich viele Personen und Institutionen unterstützt haben. Ihnen allen sei hier von Herzen gedankt. Als erstes zu nennen ist mein Doktorvater Prof. Dr. Dr. h. c. Michael North (Greifswald), der mich durch seine lebhaften Vorlesungen und Seminare für die Geschichte der Frühen Neuzeit nachhaltig begeistert hat. Er ließ mir bei der Entwicklung des Dissertationsthemas viele Freiheiten und gab an den entscheidenden Stellen wegweisende Ratschläge. Mein Zweitbetreuter Prof. Dr. Mati Laur (Tartu) stand mir, besonders während meines sechsmonatigen Forschungsaufenthaltes 2014 in Tartu und Tallinn, stets mit Rat und Tat zur Seite. Sein stupendes Wissen und sein Humor halfen mir bei kniffligen Fragen. Darüber hinaus vermittelte er wichtige Kontakte. Neben Prof. Laur unterstützten mich noch weitere estnische Kollegen und Freunde wie Prof. Dr. Anti Selart, Dr. Marten Seppel und Hannes Vinnal. In tiefer Schuld stehe ich zudem bei Ken Ird, der durch seine praktischen Expertisen und seine unerschöpfliche Hilfsbereitschaft ebenfalls einen Anteil am Gelingen der Dissertation hat. Zwischen 2013 und 2015 befand ich mich in einem besonders inspirierenden und fruchtbaren Forschungsumfeld, da ich dem internationalen DFG -Graduiertenkolleg „Baltic Borderlands“ in Greifswald angehören durfte. Zahlreiche Gespräche im Büro oder in der Kaffeeküche, in der Mensa oder im „Hermann“ sowie in Umeå oder Riga halfen mir, sowohl wichtige theoretische Grundlagen zu verinnerlichen als auch neue Ideen zu entwickeln. Besonders gerne erinnere ich mich an die Unterhaltungen und die gemeinsame Zeit mit Tatsiana Astrouskaya, Inge Christensen, Heiner Fandrich, Elisabeth Heigl, Michael Meichsner, Sebastian Nickel, Cynthia Osiecki, Alberto Sevillano und Katja Will. Die Phase im Graduiertenkolleg war großartig, zumal auch Prof. Dr. Jens Olesen und besonders Prof. Dr. Mathias Niendorf trotz vielfältiger Verpflichtungen immer ein offenes Ohr für mich hatten. Bei Fachfragen musste ich mich nur an die bereits erwähnten estnischen Kollegen oder in Greifswald an PD Dr. Joachim Krüger und Dr. Robert Oldach wenden und erhielt wertvolle Hinweise. Darüber hinaus konnte ich mich stets auf die administrative und praktische Hilfe von Dr. Alexander Drost, PD Dr. Robert Riemer und Doreen Wollbrecht verlassen. Eine wichtige Stütze während der gesamten Promotionsphase waren der Kollegen- und Freundeskreis. Gedankt sei den Politikwissenschaftlern für die intensiven Hallenfußballspiele, den Historikerinnen und Historikern für die wöchentlichen Streitgespräche beim Mittag sowie Christian Albrecht, Peter Dabel, Franziska Franke, Dr. Benjamin Müsegades, Toni und Nora Schmidt für viele vergnügliche Abende. Richtig „gezellig“ wurde es jedoch nur mit Dr. Hielke van Nieuwenhuize. Dank je wel!

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Vorwort

Für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Forschungen zur pommerschen Geschichte“ danke ich dem damaligen Vorsitzenden der Historischen Kommission für Pommern Prof. Dr. Horst Wernicke und seinem Stellvertreter Dr. Nils Jörn, der sich für alle meine Fragen gerne Zeit nahm. Sehr dankbar bin ich zudem der Historischen Kommission für Pommern und der Paul-Kaegbein-Stiftung für die finanzielle Unterstützung bei der Veröffentlichung. Auf Seiten des Böhlau Verlags betreute mich Harald Liehr professionell und zuverlässig. Ein besonders herzlicher Dank gilt meiner Familie. Meine Eltern, Brigitte und Frank Müller, unterstützten mich bei allem, was ich mir vornahm. Es gab mir Sicherheit und Zuversicht, mich immer auf sie und meine Schwester Steffi verlassen zu können. Schließlich gebührt meiner Frau Susanne Müller ein riesiges Dankeschön, weil sie in jeder Situation zu mir gestanden und an mich geglaubt hat. Alfter, im Dezember 2018 Matthias Müller

I. Einleitung Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts kannten das Wort „Freizeit“ in seiner heutigen Bedeutung nicht, weswegen sie für die Bezeichnung dieses Phänomens auf andere Ausdrücke und Redewendungen zurückgriffen.1 Ein flüchtiger Blick auf einige Quellen dieser Studie illustriert diesen Sachverhalt. In Stralsund berichtete die späte moralische Wochenschrift Pommersche Krämerdütchen im Jahre 1775 von unterschiedlichen „Winterergötzungen“ und „Winterlustbarkeiten“, worunter sie Schauspiele, Maskenbälle und Konzerte zusammenfasste.2 Des Weiteren stellte der Publizist Johann Christoph Petri bezüglich der teuren Anstellung einer festen Schauspieltruppe zwischen 1795 und 1798 in Reval fest, dass die Geldgeber auf eine „Reihe vergnügter Stunden“ im Theater hofften.3 Als das Gericht den Stralsunder Lotterieschreiber Hinrich Hill zusammen mit fast zwei Dutzend anderen Männern im Jahre 1783 wegen illegalen Glücksspiels angeklagte, verteidigte sich der Glücksritter unter anderem mit dem Argument, nur in „müßigen Stunden“ zu seinem „Zeitvertreib“ zu würfeln.4 Schließlich forderte der Revaler Festungskommandant Graf Jacob de Castro Lacerda den Klub Erholung 1797 auf, den Zweck seines Bestehens zu definieren. Die Vorsteher legten daraufhin dar, dass der Klub seinen Mitgliedern „gesellschaftliche […] Vergnügungen“ und „Erholung nach der Arbeit“ bieten sollte.5 „Winterergötzungen“, „vergnügte“ und „müßige Stunden“, „Zeitvertreib“, „gesellschaftliche Vergnügungen“ oder „Erholung nach der Arbeit“ subsumieren wir heutzutage mit den Worten „Freizeit“ oder „Freizeitgestaltung“. Stark vereinfacht meinen wir damit einen längeren zusammenhängenden Zeitabschnitt, in dem wir keiner fremdbestimmten Arbeit nachgehen müssen, sondern unsere (unproduktiven) Interessen ungezwungen zum eigenen und/oder gemeinschaftlichen Vergnügen entfalten können. Darüber hinaus benötigen wir für unsere Freizeit finanzielle Mittel, die uns einerseits erlauben, für eine bestimmte Zeitspanne auf eine vergütete oder produktive Tätigkeit zu verzichten; andererseits müssen die Freizeitaktivitäten bezahlt werden.6 Obwohl das Wort „Freizeit“ mit seinen modernen Konnotationen sowohl in den Quellen aus oder über Stralsund und Reval als auch andernorts fehlt, existierte das Phänomen Freizeit bereits im 18. Jahrhundert. Denn ein wachsender Teil der Stadtbevölkerung verfügte über ausreichend freie Zeit und Geld, um sich selbstbestimmt zu beschäftigen. Nicht 1 Vgl. dazu Kap. 2.1. 2 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 31, 03. 08. 1775, S. 481 – 489. 3 Johann Christoph Petri: Briefe über Reval nebst Nachrichten von Esth- und Liefland. Ein Seitenstück zu Merkels Letten, Deutschland 1800, S. 82. 4 LaGr, Rep. 10, Nr. 242. 5 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 70 – 71. 6 Zur Analyse v. a. der modernen Freizeit vgl. bspw.: Hans-­Werner Prahl: Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002 und Horst W. Opaschowski: Einführung in die Freizeitwissenschaft, Wiesbaden, 5. Aufl. 2008.

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Einleitung

selten versammelte man sich dafür dort, wo Vergnügen und Geselligkeit warteten, wie z. B. in Theatern, Ballsälen, Wirtshäusern oder Klubs. Zwar hatte es bereits früher Zusammenkünfte in Verbindung mit Tanz, Musik, Schau- oder Glücksspiel gegeben, jedoch zeichnete sich das „Zeitalter der Aufklärung“ durch prägende Neuerungen aus. Vergnügen und Geselligkeit entwickelten sich zu einer immer differenzierteren Handelsware, die Adlige und (wohlhabende) Bürger gegen Bezahlung von Unternehmern erwarben. Die Kommerzialisierung eines immer differenzierteren kulturellen Angebots ermöglichte es einem stetig wachsenden Anteil der Bevölkerung, selbstbestimmt Zeit an institutionalisierten Orten der Geselligkeit und des Vergnügens zu verbringen. Der Konsument kam hier in den Genuss neuer „Freiräume“, die ihm gesetzlich verankerte Vorstellungen oder Konventionen im Alltag verwehrten.7 Im Folgenden gilt es in der Einleitung, den Forschungsstand zu den zentralen Konzepten dieser Studie darzulegen. Dafür soll zunächst erklärt werden, weshalb hier von „Freiräumen“ und nicht von „Freizeit“ die Rede ist (Kap. 2.1). Anschließend wird diskutiert, ob das 18. Jahrhundert als „Zeitalter der Aufklärung“ interpretiert werden kann, in dem ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ stattfand (Kap. 2.2). Die Kapitel 2.3 und 2.4 erörtern, inwiefern der Wandel im 18. Jahrhundert ebenfalls den materiellen Konsum und die „Freizeitgestaltung“ betraf. Danach erfolgt eine kurze Einführung in die Erforschung des Ostseeraums und der borderlands (Kap. 2.5). An den Forschungsstand reiht sich ein Abschnitt mit den grundsätzlichen Fragen dieser Arbeit (Kap. 3), woraufhin die Quellen und Methoden vorgestellt werden (Kap. 4). Die Einleitung beschließen einige Anmerkungen zur Struktur und zum Inhalt des Hauptteils (Kap. 5).

1. Forschungsstand 1.1 „Freizeit“ und „Freiräume“ Wie bereits angedeutet operierten die Zeitgenossen vor der Industrialisierung nicht mit dem Ausdruck „Freizeit“ im heutigen Sinne, obwohl es ähnliche Worte oder Wortgruppen schon viel früher gab. Bereits im Spätmittelalter nutzte man beispielsweise „frey zeyt“ als Rechtsbegriff im Sinne von „Marktfriedenszeit“, einer bestimmten Periode der erhöhten Freiheit und des gesteigerten Friedens für einen definierten Platz. Im Humanismus erhielt „frey zeyt“ eine individuelle Note; der Einzelne genoss für einen gewissen Zeitabschnitt eine gesteigerte Freiheit. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts etablierte sich dann der Terminus „Freystunde“ („Freistunde“), die den Unterrichtsstunden in der Schule als Rekreationszeit gegenüberstand. Über diese Zeit verfügten die Schüler jedoch nicht selbstständig und frei, da sie sich dem herrschenden Arbeitsethos folgend auf „nützliche Sachen“ konzentrieren mussten. Erst in der Aufklärung widmete man der „wahren“ Freiheit des Individuums in der Pädagogik wieder mehr Aufmerksamkeit. Ausgehend von dem französischen Philo 7 Die hier formulierten Thesen werden in Kap. I.2 ausgeführt.

Forschungsstand

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sophen Jean-­Jacque Rousseau („temps de liberté“) setzte sich „Freizeit“ in der Bedeutung als „Zeit der freien Beschäftigung für Schüler“ bei Pestalozzi, Kant, Schiller, Goethe und anderen prägenden Denkern durch.8 Fast während des gesamten 19. Jahrhunderts blieb das Wort ausschließlich im schulisch-­ pädagogischen Bereich verhaftet, bis es etwa um 1890 auf die Wirtschaftswelt übertragen wurde. Arbeiter hatten nach Beendigung ihrer Pflichten „Freizeit“; damit bezeichnete das Wort nun ebenfalls eine industriegesellschaftliche Kategorie. Im 20. Jahrhundert gelangte „Freizeit“ dann schnell in die Umgangssprache und erhielt wesentliche Konnotationen, die uns bis heute vertraut sind. Gleichzeit führte die Wissenschaft die „Freizeit“ als Untersuchungsgegenstand ein, ohne ihn aber methodisch zu hinterfragen.9 Nach dieser überblicksartigen, etymologischen Herleitung der „Freizeit“ ist dem historisch arbeitenden Erziehungswissenschaftlicher Wolfgang Nahrstedt beizupflichten, dass sich dieses Wort – ähnlich wie das englische „leisure“ und das französische „loisir“10 – streng genommen nicht für Darstellungen der vorindustriellen Geschichte eignet. Denn erst mit dem Zeitalter der Industrialisierung kamen präzise Instrumente der Zeitmessung großflächig zur Geltung, mit denen sich eine minutiöse Zeitdisziplin etablierte. Gleichmäßige und rigoros definierte Tages- und Jahresabläufe verdrängten nun saisonale, von Feiertagen und Festzeiten strukturierte Arbeitsrhythmen.11 Vor diesem Hintergrund ließe sich erklären, weshalb das Gros der historischen Freizeitforschung erst ab ca. 1850 ansetzt.12 Allerdings könne man, so Nahrstedt, das Phänomen Freizeit bereits vor dem gängigen Gebrauch des Wortes beobachteten.13 Der Historiker Hans-­Jörg Gilomen datierte Freizeit als Sache

8 Wolfgang Nahrstedt: Die Entstehung der Freizeit. Darstellung am Beispiel Hamburgs, Göttingen 1972, S. 31 – 34. 9 Ebd., S. 35 – 38. 10 „Leisure“ und „loisir“ bedeuteten oftmals „Möglichkeit“ oder „Gelegenheit“. Vgl.: Peter Burke: The Invention of Leisure in Early Modern Europe, in: Past and Present 146 (1995), S. 136 – 150, hier S. 139. 11 Einflussreich und grundlegend für diese Argumentation: Edward P. Thomson: Time, Work-­ Discipline and Industrial Capitalism, in: Past and Present 38 (1967), S. 56 – 97. 12 Vor allem die englischsprachige Forschung bietet sehr viel Literatur, für eine ältere Übersicht der Forschungen vgl.: Burke: The Invention of Leisure, S. 136; eine neuere Übersicht bei: Johan K. Walton: Histories of Leisure in the British Setting. Approaches and Controversies, in: Hans-­Jörg Gilomen, Beatrice Schumacher und Laurent Tissot (Hrsg.): Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert, Zürich 2005, S. 11 – 22; außerdem: Rudy Koshar (Hrsg.): Histories of Leisure, Oxford/New York 2002; Ralph G. Giordano: Fun and Games in Twentieth-­Century America. A historical Guide to Leisure, Westport, Conn. 2003; aber auch die französisch- und deutschsprachige Forschung hat ihren Beitrag geleistet: Alain Corbin: L’avènement des loisirs 1850 – 1960, Paris 1995; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen 1850 – 1970, Frankfurt a. M. 1997. 13 Nahrstedt: Entstehung der Freizeit, S. 44 – 46.

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Einleitung

wenigstens auf das 13. Jahrhundert.14 So gibt es einige Aufsätzen und Monographien, die die frühmodernen Formen und Ausprägungen der „Freizeit“ untersuchen.15 Jedoch wird in dieser Studie nicht von der Entstehung „neuer Freizeitmöglichkeiten“, sondern von „neuen Freiräumen“ gesprochen. Die Wahl für das heuristische Konzept der Freiräume erfolgte zum einen, um keine zeitgenössischen Assoziationen mit dem modernen Freizeitbegriff zu wecken. Die für das 20. Jahrhundert charakteristischen Trennungen zwischen Arbeits- und Freizeit sowie zwischen Arbeits- und Wohnort bestanden in der weitestgehend ständisch-­korporativ organisierten Welt der Frühen Neuzeit noch nicht.16 Wichtiger für das gewählte Konzept erscheint allerdings zum anderen, dass sich hier auf die Analyse von sozialen Räumen, die sich aufgrund von kulturellen Praktiken konstituierten, und weniger auf Zeitstrukturen fokussiert wird. Es wird davon ausgegangen, dass die untersuchten Akteure über ein gewisses Maß an freier Zeit verfügten.17 Verstärkt in den Blick genommen werden dagegen die kulturellen Praktiken des Theater- und Ballbesuches sowie des Glücksspiels, die die Konstituierung, Institutionalisierung und letztlich Kommerzialisierung von bestimmten neuen sozialen Räumen nachhaltig gestalteten. In Anlehnung an die Soziologin Martina Löw beschreibt ein Raum eine „relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“, der das Handeln der Akteure entscheidend prägt und dem historischen Wandel unterliegt.18 Räume konstituieren sich dort, wo Güter oder Menschen platziert werden oder sich Menschen positionieren („Spacing“), um in einem Ensemble aus Gütern und Menschen auf eine bestimmte Weise wahrgenom 14 Hans-­Jörg Gilomen: Freizeitgestaltung vom Spätmittelalter bis zum Ende des Ancien Régime, in: Ders./Schumacher/Tissot (Hrsg.): Freizeit und Vergnügen, S. 25 – 31. 15 Vgl. bspw. die Aufsätze in: Manfred Glaser (Hrsg.): Lübecker Kolloquium zur Stadtarchäologie im Hanseraum, Bd. VII: Kindheit und Jugend, Ausbildung und Freizeit, Lübeck 2012; Gilomen/Schumacher/Tissot (Hrsg.): Freizeit und Vergnügen; zudem sehr instruktiv: Gerhard Tanzer: Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert, Köln/Wien/ Weimar 1992; Hans Medick: Spinnstuben auf dem Dorf. Jugendliche Sexualkultur und Feierabendbrauch in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Gerhard Huck (Hrsg.): Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 2. Aufl. 1982, S. 19 – 49. 16 Für den Gegensatz der frühneuzeitlichen und der neuzeitlichen Zeitstruktur sowie umfangreiche Literaturangaben vgl.: Ulrich Rosseaux: Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden 1694 – 1830 (= Norm und Struktur. Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und Früher Neuzeit, Bd. 27), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 9 – 12. In der heutigen Zeit verschwimmen Arbeits- und Freizeit sowie Arbeits- und Wohnort wieder mehr miteinander, da das Internet und die ständige Erreichbarkeit die Trennlinien zwischen diesen Bereichen immer durchlässiger machen. Hierbei handelt es sich aber um andere Phänomene als z. B. im 18. Jahrhundert. Dazu vgl. bspw. Prahl: Soziologie der Freizeit, S. 9 – 17. 17 Für eine instruktive Beschreibung der zeitlichen Ausgliederung der Freizeit am Beispiel Wiens vgl.: Tanzer: Spectacle müssen seyn, S. 21 – 131. 18 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 1; für eine neuere und umfassende Auseinandersetzung mit dem ‚Raum‘ oder ‚Räumen‘ als geisteswissenschaftliche Kategorie s.: Susanne Rau: Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt a. M./New York 2013.

Forschungsstand

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men zu werden („Syntheseleistung“).19 Zwar geben im Allgemeinen relevante Kriterien den Perzeptionsprozess vor, doch die Wahrnehmung eines veränderbaren Raumes beeinflusst wiederum das Handeln der Akteure im konkreten Fall. Die Verbindung aus Wahrnehmen und Handeln lässt Routinen entstehen, die in eine Institutionalisierung der Räume übergehen, sofern sie dauerhaft und in ähnlicher Form bestehen.20 Während der relationale Raumbegriff durch die (An-)Ordnung von Körpern und Handlungen abgeleitet wird, beschreibt der „Ort“ eine Kategorie, die das Umfeld des Handels physisch beschränkt.21 Marktplätze, Theatergebäude oder Wirtshäuser sind demnach Orte, an denen unterschiedliche Räume auch in Konkurrenz zueinander existieren können. Ohne Theatergebäude etablieren sich beispielsweise keine entsprechenden Räume (z. B. Loge, Parkett und Galerie) dauerhaft, genauso wie sich ohne die langfristige Konstituierung dieser Räume die Institution des Theaters nicht herausbildet. Mit der Institutionalisierung eines vergnüglichen oder geselligen Raumes an einem Ort gehen automatisch Prozesse der Inklusion oder Exklusion einher. Denn ohne die Abgabe eines Eintrittsgeldes konnten sich beispielsweise öffentliche Theater, die keinerlei finanzielle Unterstützung erfuhren, nicht finanzieren. Doch nicht nur über die Finanzkraft erfolgte eine Auslese der Teilnehmer, wie es noch in der heutigen Zeit häufig anzutreffen ist. Darüber hinaus entschieden mitunter Kriterien wie sozialer Stand, Herkunft oder Geschlecht über die Teilhabe an organisierter Geselligkeit und Vergnügen. Der Ausschluss gewisser Gruppen ermöglichte den anwesenden Personen einige Freiheiten, die außerhalb dieses Raumes nicht vorstellbar gewesen wären. Dabei bemühten sich die Anwesenden darum, ein gemeinschaftliches Verhaltensideal aufrechtzuerhalten, das sie mit einer gesonderten Ordnung und eigenen Kontrollmechanismen durchzusetzen suchten. Nichtsdestotrotz boten diese Räume Freiheiten, die außerhalb dieser Institutionen nicht galten. „Freiräume“ werden hier demzufolge als selbstbestimmte Anordnungen von Menschen oder Gütern definiert, die sich zu Institutionen des Vergnügens und der Geselligkeit entwickeln, sofern sie dauerhaft in ähnlicher Ausprägung bestehen. Die untersuchten Freiräume stellten etwas „Neues“ dar, weil sie zumindest teilweise andere Zugangskriterien und Verhaltensideale aufwiesen, als es bei früheren Freiräumen üblich war. Die Verwendung des relationalen Raumkonzepts fand bereits in der neueren Frühneuzeitforschung Verwendung und förderte Erkenntnisse über die Bedeutung von kulturellen Praktiken für öffentliche Orte wie Wirtshäuser, Marktplätze, Rathäuser, Kurbäder und Kirchen zutage.22 In der englischsprachigen Konsumforschung bewährte sich ein ähnlicher 19 Löw: Raumsoziologie, S. 158 – 161. 20 Ebd., S. 161 – 166. „Institutionalisierte Räume sind demnach jene, bei denen die (An)Ordnung über das eigene Handeln hinaus wirksame bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacing nach sich zieht.“ (Zitat auf S. 164). 21 „Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert.“ Ebd., S. 224. 22 Vgl. Susanne Rau und Gerd Schwerhoff (Hrsg.): Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004; Rosseaux: Freiräume.

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Einleitung

relativer Raumbegriff ebenfalls: Die Konsumenten der englischen Städte des 18. Jahrhunderts produzierten mit ihrem Kauf- und Freizeitverhalten einerseits Räume und wurden andererseits von diesen in ihrem Konsumverhalten beeinflusst.23 Für die vorliegende Untersuchung ergibt sich aus dem relationalen Raumkonzept, dass sich der Blick auf einige exemplarisch gewählte neue Räume richtet, die die Stralsunder/ innen und Revaler/innen freiwillig und vorrangig der Geselligkeit und des Vergnügens wegen bildeten. Wie die folgenden Ausführungen noch zeigen werden, führte die regelmäßige Nachfrage nach beispielsweise Theatervorstellungen, (Masken-)Bällen und Glücksspielen zu einer Institutionalisierung und Kommerzialisierung der entsprechenden Räume, die eine eigene Ordnung aufwiesen.

1.2 Aufklärung und Öffentlichkeit Die strukturellen Veränderungen der „Freizeitgestaltung“ – d. h. die Institutionalisierung neuer Freiräume – gingen im 18. Jahrhundert mit einem tiefgreifenden Wandel einher, den bereits zahlreiche Historiker/innen analysiert haben. Für den Frühneuzeithistoriker Georg Schmidt trat in dieser Zeit ein „Wandel durch Vernunft“24 ein, der sich durch seine rationale Gestaltungskraft und den Willen zur Freiheit und Vervollkommnung auszeichnete. Barbara Stollberg-­Rilinger versteht, wie andere deutschsprachige Historiker/innen auch, das 18. Jahrhundert als „Zeitalter der Aufklärung“, in dem die verschiedenen kulturellen und sozialen Vorstellungen einer gebildeten und stetig wachsenden Bevölkerungsgruppe von der Theorie in die Praxis überführt werden sollten.25 So gesehen präsentierte sich dieses Jahrhundert nicht nur als ein Säkulum der neuen Theorien, sondern ebenfalls als eines der praktizierten Ideen, weshalb zahlreiche Zeitgenossen diese lebensnahen Veränderungen bemerkten.26 Der Begriff „Aufklärung“ erschien erstmals bereits am Ende des 17. Jahrhunderts als Substantivierung des Verbs „(sich) aufklären“ in der Bedeutung „Aufklärung des Verstandes“.

23 Jon Stobart, Andrew Hann und Victoria Morgan: Spaces of Consumption. Leisure and Shopping in the English Town, c. 1680 – 1830, London/New York 2007. 24 Georg Schmidt: Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009. 25 Barbara Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2. Aufl. 2011, S. 10. Des Weiteren bezeichneten Borgstedt und Körber ihre Überblicksdarstellungen zum 18. Jahrhundert ebenfalls als „Zeit(-alter) der Aufklärung“: Angela Borgstedt: Das Zeitalter der Aufklärung Darmstadt 2004 und Esther-­Beate Körber: Die Zeit der Aufklärung, Darmstadt 2006. 26 Auch Winfried Müller betont in seinem Überblickwerk, dass der Begriff „Aufklärung“ im 18. Jahrhundert universalisiert wurde, d. h. mit Toleranz, Humanität und Vernunft in Verbindung gebracht wurde. Abgesehen von diesem intellektuellen Verständnis war die Aufklärung aber zusätzlich eine praktische Bewegung, die den Alltag der Menschen prägte. Winfried Müller: Die Aufklärung (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 61), München 2002, S. 2 – 3.

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Ein halbes Jahrhundert später waren die Bezeichnungen, „aufgeklärt“ und „Aufklärung“ bereits derart gebräuchlich, dass Zeitgenossen diese gar als Modewörter verwandten, weshalb Kritiker verlangten, genauer zu definieren, was darunter zu verstehen sei.27 Die noch heute bekannteste und kompakteste Antwort lieferte Immanuel Kant mit seinem 1784 in der Berliner Monatsschrift gedruckten Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“28 Danach besaßen Intellektuelle, d. h. gut gebildete zumeist männliche Personen, zumindest theoretisch die Möglichkeit, ja geradezu die Pflicht, ihre Meinung öffentlich darzulegen und damit zur Aufklärung beizutragen. Der Intellektuelle (manchmal auch die Intellektuelle), der sich mit Bezug auf Lessing und Kant im 18. Jahrhundert entwickelte, beteiligte sich an Diskussionen, um „politische Entscheidungen, soziale Wahrnehmung oder kulturelle Belange zu beeinflussen“.29 Um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, schrieb er nicht auf Latein, sondern in der Landessprache und ließ seine Gedanken in relativ leicht zugänglichen Zeitschriften drucken. Dabei wogen die vorgebrachten Sachargumente weitaus schwerer, als die persönliche Autorität des Autors, weshalb viele ihre Publikationen anonym veröffentlichten und trotzdem zur Kenntnis genommen wurden. Damit unterschied sich der für das 18. Jahrhundert neue Intellektuellentypus vom alten Gelehrtentypus, der oft auf Latein und meist nur für einen kleinen Gelehrtenzirkel schrieb. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft bildete eine zentrale Voraussetzung der Aufklärung. Um die Gesellschaft aufzuklären, muss in der Öffentlichkeit unabhängig vom Thema – ob nun politisch, wirtschaftlich oder kulturell – räsoniert werden können. Was meint nun aber der „Öffentlichkeit“ mit Bezug auf das 18. Jahrhundert? Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas identifizierte einen Übergang von dem Idealtypus der repräsentativen Öffentlichkeit zur räsonierenden Öffentlichkeit bürgerlicher Privatleute im 18. Jahrhundert. Während der mittelalterliche Herrscher die Demonstration von Macht mittels direkter Anwesenheit ausübte und sich im Verlauf der Frühen Neuzeit auf sein prächtiges Barockschloss beschränkte, entstand am Ende des 18. Jahrhunderts eine literarische Öffentlichkeit, aus der sich die bürgerliche Öffentlichkeit entwickelte. Diese machte bürgerliche Interessen geltend, ohne selbst an die Macht zu gelangen. Die Voraussetzungen für diesen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ waren der explosionsartige Anstieg von Informationen und Gütern, wodurch neue soziale Institutionen wie Salons oder Kaffeehäuser sowie offene, inhaltsorientierte Kommunikationsmuster entstanden.30 27 Werner Schneiders: Aufklärung, in: Ders. (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa 1995, S. 47 – 48. 28 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [1784], in: Ehrhard Bahr (Hrsg.): Was ist Aufklärung?, Thesen und Definitionen, Stuttgart 1990, S. 9 – 17. 29 Dorothea von Mücke: Öffentlichkeit der Aufklärung und intellektuelle Kritik, in: Rainer Bayreuther u. a. (Hrsg.): Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre, Wiesbaden 2011, S. 275 – 303, hier S. 276. 30 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, hier besonders S. 54 – 141. Diese unveränderte

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Es handelt sich um einen Öffentlichkeitsbegriff, den Habermas aus englischen, französischen und deutschen Entwicklungstendenzen des 18. und 19. Jahrhunderts idealtypisch bildete, um zu zeigen, wie die moderne Gesellschaft dieses Öffentlichkeitsverständnis langsam zersetzt hatte; er verfasste demnach keine geschichtswissenschaftliche Untersuchung. Habermas gab im Nachhinein offen empirische Schwächen zu, die er mit der spärlich vorhandenen Forschungsliteratur sowie mit methodisch begründeten Vereinfachungen rechtfertigte. Dennoch hielt er weiter an einer kritisch debattierenden Öffentlichkeit am Ende des 18. Jahrhunderts fest.31 In der neueren Forschung wird oftmals zu Recht angemahnt, dass das „Bürgertum“ keine klar identifizierbare Gruppe darstellte. Die „bürgerliche Öffentlichkeit“ glich eher einem politisch und sozial diffusen Bevölkerungsteil, der nur theoretisch niemanden ausschloss, aber faktisch ein relativ hohes Mindestmaß an Bildung und Geld voraussetzte. Somit debattierten die Diskussionsteilnehmer nicht alle relevanten Themen einer Gesellschaft gleichermaßen öffentlich, sondern nur die für sie interessanten Angelegenheiten.32 Darüber hinaus sollte die Forschung, so Ute Daniel, das 18. Jahrhundert nicht als Epoche der Verbürgerlichung verstehen, die den Nährboden für die spätere Geschichte bereitete, wie das Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit suggeriert.33 Weiterhin wird moniert, dass das im Wandel begriffene Leseverhalten der Frau zu wenig Berücksichtigung fand.34 Zudem bleibt fraglich, ob sich die „literarische Öffentlichkeit“ vor der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ formierte.35 Viele Geschichtswissenschaftler/innen akzeptieren das Modell von Habermas aber weiterhin mit unterschiedlichen Einschränkungen.36 Georg Schmidt schreibt beispielsweise, dass sich „‚der Strukturwandel der Öffentlichkeit‘ parallel zum Vordringen des Bürgertums [vollzog], als sich im späten 18. Jahrhundert aus den literarischen Vorformen eine stände- und regionenüberschreitende räsonierende Öffentlichkeit bildete.“37 Informierte

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Neuauflage des 1962 in Neuwied erschienenen Werkes enthält ein umfangreiches Vorwort von Habermas aus dem Jahre 1990, S. 11 – 50. Ebd., S. 13. Lucian Hölscher: Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur öffentlichen Redens im 18. Jahrhundert zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte, in: Hans-­Wolf Jäger (Hrsg.): „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert, Göttingen 1997, S. 11 – 31, hier besonders S. 29 – 31. Ute Daniel: How Bourgeois was the Public Sphere of the Eighteenth Century? Or: Why it is Important to Historicize Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 26/1 (2002), S. 9 – 17. Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, München 2. Aufl 1999, S. 187 sowie kurz zusammengefasst zum Leseverhalten der Frau, S. 198 – 200. Vgl. bspw.: Erich Schön: Publikum und Roman im 18. Jahrhundert, in: Jäger (Hrsg.): „Öffentlichkeit“, S. 295 – 319. Zum Stand der Öffentlichkeitsforschung vgl. auch den Frühneuzeithistoriker: Gerd Schwerhoff: Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit – Perspektiven der Forschung, in: Ders. (Hrsg.): Stadt und Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 1 – 37. Schmidt: Wandel durch Vernunft, S. 358.

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Menschen, die durchaus soziale Privilegien genossen, wollten mitgestalten und nicht nur passive Zuschauer der Ereignisse sein. Diese exklusive Bevölkerungsgruppe könnte man an Barbara Stollberg-­Rilinger anknüpfend als „neue adlig-­bürgerliche Mittelschicht“ bezeichnen.38 Doch der von Hans Erich Bödeker und Julia Schmidt-­Funke gewählte Ausdruck „gebildete Stände“ ließe sich ebenfalls als öffentlich auftretende Gruppe verstehen, sofern man einen Teil der Adligen nicht ausschließt.39 Timothy Blanning zeigt auf der theoretischen Grundlage des Habermasschen Modells in seiner vergleichenden Studie von Großbritannien, Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, wie sich ein öffentlicher Raum im 18. Jahrhundert entwickelte, den räsonierende Individuen – die Öffentlichkeit – bevölkerten. Diese Entwicklung erklärt Blanning mit der Herausbildung einer neuen kulturellen Ordnung, die sich auf das politische System auswirkte.40 Eine derartige Öffentlichkeit setzt vor allem gut zugängliche, weit verbreitete und freie Kommunikationsmedien voraus. Einen wichtigen Teil dieser Medienlandschaft stellte die periodische Presse dar, die sich durch „eine quantitative Explosion […] charakterisieren“41 lässt. Zweifellos existierten schon im 17. Jahrhundert die für das folgende Säkulum so wichtigen Druckerzeugnisse wie Bücher, Zeitungen und Zeitschriften,42 aber der zahlenmäßige Anstieg dieser Medien entfaltete eine ungleich größere Breitenwirkung. Stark vereinfacht formuliert, sorgten Zeitungen für eine ereignisorientierte Berichterstattung und sparten bis in die 1780er-­Jahre politische Kommentare aus. Auf den wenigen kleinformatigen Seiten verzichtete man auf Artikelüberschriften und beschränkte sich meist auf die Nennung des Meldungsursprungs. Dabei deckten sie eine große geographische

38 Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung, S. 133. 39 Bödeker leitet den Ausdruck „gebildete Stände“ von Friedrich Immanuel Niethammer, einem wichtigen Bildungsreformer des frühen 19. Jahrhunderts, her. Konstituierendes Merkmal dieses „Standes“ war die gute Bildung, wodurch sich die Vertreter als „intellektuelle Aristokratie des Sachverstandes fühlten“: Hans Erich Bödeker: Die Gebildeten Stände im späten 18. Jahrhundert. Zugehörigkeiten und Abgrenzungen, Mentalitäten und Handlungspotentiale, in: Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 4: Politischer Einfluss und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 21 – 52, hier S. 51; für die neuere Forschung vgl.: Julia A. Schmidt-­Funke: Kommerz, Kultur und die ‚gebildeten Stände‘. Konsum um 1800 (15. 01. 2012), in: Goethezeitportal, URL : http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/ Schmidt-­Funke_Konsum.pdf (zuletzt eingesehen am 14. 03. 2018, 15:55 Uhr). 40 Timothy C. W. Blanning: The Culture of Power and the Power of Culture, Oxford 2003. Stark von Habermas beeinflusst ist ebenfalls: James Horn van Melton: The Rise of Public in Enlightenment Europe, Cambridge 2001. 41 Holger Böning: Aufklärung und Presse im 18. Jahrhundert, in: Jäger (Hrsg.): „Öffentlichkeit“, S. 151 – 163, hier S. 152. 42 Johannes Weber: Deutsche Presse im Zeitalter des Barock. Zur Vorgeschichte öffentlichen politischen Räsonnements, in: Jäger (Hrsg.): „Öffentlichkeit“, S. 137 – 150. Als tatsächlich neues Presseerzeugnis kam im 18. Jahrhundert das sogenannte Intelligenzblatt hinzu. Vgl. dazu: Böning: Aufklärung und Presse, S. 158 – 161.

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Fläche ab, denn nahezu jede deutsche Residenz- oder kleine Reichsstadt konnte mit einer eigenen Zeitung aufwarten.43 Zeitschriften dienten dagegen als Austragungsort von oft weltlichen Debatten, die sich an ein großes Publikum richteten. So wandten sich schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts einige Zeitschriften an „alle Menschen“ und an „ungelehrte Leser“.44 Zwar bedeutete das nicht, dass z. B. Bauern an diesem Kommunikationsprozess teilnahmen, weil man mit „ungelehrten Lesern“ gut gebildete Menschen meinte, die lediglich nicht (ausreichend) Latein lesen und schreiben konnten. Angesprochen waren die „gesitteten Stände“, die man ermunterte, über die erstrebenswerte Verbesserung des Allgemeinwesens zu diskutieren. Zudem gelangte ein sehr persönliches Medium zu einer vorher ungekannten Popularität: der Brief. Sofern man ausreichend gebildet war, schrieb man – unabhängig vom Geschlecht – seine Gefühle, Gedanken, Fragen, Alltagsbegebenheiten und Meinungen, kurz alles Mögliche, an jemand anderen. Dabei erhielt man oft eine Antwort, wodurch ein zeitlich verzögerter Dialog über teilweise große Distanzen entstand. Briefe, aber auch Dialoge von Angesicht zu Angesicht, exemplifizieren den Wunsch nach Meinungsaustausch. Darum erklärt sich auch, warum fiktive Briefwechsel oder Dialoge zu den erfolgreichsten literarischen und philosophischen Werken gehörten. Die Vorteile dieses Genres liegen auf der Hand. Anstatt lediglich seinen eigenen Standpunkt dogmatisch zu verteidigen, garantierten Briefe und Dialoge eine Meinungsvielfalt, selbst wenn diese eine andere Person nur fingierten.45 Einher mit dieser Entwicklung der Medien gingen Veränderungen beim Buchhandel, dem Lesepublikum und dem Selbstverständnis der Schriftsteller. Die Buchproduktion erhöhte sich besonders im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts deutlich. Im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts veröffentlichten die Verleger mehr landessprachliche Belletristik – allgemein deutsche Literatur –, während die Produktion theologischer Werke relativ sank.46 Des Weiteren schritt der Emanzipationsprozess der Schriftsteller bis 1800 so weit fort, dass zumindest ein größerer Autorenkreis für ein anonymes Publikum auf Honorarbasis schreiben konnte.47 Die unterschiedlichen Bücher und periodische Printmedien stießen bei dem wachsenden Leserkreis auf große Resonanz. Das bemerkten und reflektierten schon die Zeitgenossen, indem sie diesen verstärkten Konsum der Lektüre mit Begriffen wie „Lesesucht“ kennzeichneten.48 Aus der Perspektive der Forschung fasst der von Rolf Engelsing geprägte Begriff „Leserevolution“ den veränderten Lesekonsum des 18. Jahrhunderts zusammen. Die 43 44 45 46 47 48

Böning: Aufklärung und Presse, S. 152 – 155. Ebd., S. 156. Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung, S. 133 – 135. Überblicksartig über den deutschen Buchhandel: Wittmann: Geschichte, S. 121 – 154. Über die Emanzipation des Schriftstellers: Ebd., S. 155 – 185. Vgl. Johann Gottfried Hoches: Vertraute Briefe über die jetzige abentheuerliche Lesesucht und über den Einfluß derselben auf die Verminderung des häuslichen und öffentlichen Glücks, Hannover 1794.

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Leserevolution beschreibt neben der quantitativen Zunahme der Lektüre sowie der stärkeren Einbeziehung größerer sozialer Gruppen auch die veränderte Lesetechnik. Während bis zur Jahrhundertmitte ein intensives, wiederholendes Lesen vorherrschte, bei dem ein kleiner Kanon bestehend aus dem Katechismus, Erbauungsliteratur, der Bibel und wenig anderem das ganze Leben hindurch gelesen wurde, begann sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts das extensive Lesen durchzusetzen. Diese säkularisierte und individuelle Form des Lesens zeichnete sich besonders durch den Drang nach ständig neuem Lesestoff aus, wobei immer mehr der Wunsch nach neuen Informationen und Unterhaltung im Vordergrund stand.49 Die „Leserevolution“, die hier nur sehr verknappt wiedergegeben ist, verallgemeinert natürlich lokale, soziale, kulturelle und ökonomische Differenzen.50 Der Begriff sollte darüber hinaus nicht zu der Annahme verleiten, die Mehrheit der Bevölkerung hätte im großen Stil angefangen, unzählige Bücher zu verschlingen. Vielmehr blieb es eine kleine heterogene Gruppe, die sich aus Teilen des Bürgertums und des Adels rekrutierte und deren Leseverhalten sich grundlegend veränderte.51 Das Lesepublikum hatte sich im Vergleich zum 17. Jahrhundert deutlich vergrößert, aber wirkt vor dem Hintergrund der Gegenwart – genauso wie die Öffentlichkeit – immer noch sehr elitär. Insgesamt ergibt sich das Bild einer heterogenen Öffentlichkeit, deren Akteure Meinungen, Ideen, Beobachtungen und dergleichen kommunizierten. Kommunikation beschreibt damit einen interaktiven Prozess, der im 18. Jahrhundert nicht mehr nur über primäre Medien wie Sprache, Mimik und Gestik funktionierte, sondern über Bilder und Schrift sowie insbesondere Drucke ablief. Zwar existierten gedruckte Bücher und Pamphlete bereits im 16. Jahrhundert und elektronische Medien wie der Telegraph kamen erst im 19. Jahrhundert auf, sodass es gerechtfertigt ist, für diese Jahrhunderte jeweils eine Kommunikationsrevolution zu erkennen.52 Aber wegen anderer gesellschaftlicher wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Rahmenbedingungen erreichten Printmedien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert eine bis dato ungekannte Wirkung. Ob sich das gedruckte Wort nun zur „Massenware“ entwickelte, sei dahingestellt, weil der Ausdruck „Masse“ sehr relativ ist.53 Doch man kann die Presse ohne Übertreibung zugespitzt als 49 Rolf Engelsing: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500 – 1800, Stuttgart 1974; Ders.: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. Das statistische Ausmaß und die soziokulturelle Bedeutung der Lektüre, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 10 (1970), Sp. 945 – 1002. 50 Manfred Nagel: Wandlungen des Lesens in der Aufklärung. Plädoyer für einige Differenzierungen, in: Werner Arnold und Peter Vodosek (Hrsg.): Bibliotheken und Aufklärung, Wiesbaden 1988, S. 21 – 40. 51 Reinhard Wittmann: Was there a Reading Revolution at the End of the Eighteenth Century?, in: Guglielmo Cavallo und Roger Chartier (Hrsg.): A History of Reading in the West, Cambridge 1999, S. 284 – 312. 52 Michael North (Hrsg.): Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2. Aufl. 2001. 53 Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung, S. 135.

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„Zentrumsersatz im Reich“54 charakterisieren, denn dank ihr verbreiteten sich Informationen, Meinungen und Diskussionen zumindest theoretisch über die Binnengrenzen des Heiligen Römischen Reichs hinaus. Unbestritten existierten jedoch viele divergierende Druckerzeugnisse. Besonders Zeitschriften wiesen trotz ihres grenzüberschreitenden Potenzials oftmals einen bewusst regionalen Charakter auf, sodass deren Inhalt lokal und regional differierte. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst der große Rahmen, die Aufklärung, nicht als ein starres Gebilde verstanden werden kann; vielmehr beschreibt sie einen Wandel, der zeitlich und räumlich unterschiedlich verlief. Somit gilt es für das Zeitalter der Aufklärung, „Sandbänke in einem fließenden Gewässer auszuloten.“55 Selbst in kleineren Untersuchungsgebieten ist damit zu rechnen, auf vielschichtige Transformationskonflikte zu treffen, die die Rekonstruktion der Geschehen erschweren. Damit befindet sich diese Arbeit in einem Spannungsfeld zwischen lokalen und (über-)regionalen Meinungen, Debatten und Presseerzeugnissen, d. h. lokal und (über-)regionalen sich gegenseitig beeinflussenden Öffentlichkeiten.56

1.3 Die consumer revolution Wie soeben gezeigt, verbinden Frühneuzeithistoriker/innen das 18. Jahrhundert oft mit dem „Zeitalter der Aufklärung“. Das Vertrauen einer stetig wachsenden Gruppe von Intellektuellen in das Vordringen der Vernunft in alle Lebensbereiche prägte diese Epoche. Einen wichtigen Bereich des menschlichen Zusammenlebens bildet dabei die kulturelle und soziale Praxis des Konsumierens.57 Konsum beschreibt „das Kaufen, Gebrauchen und Verbrauchen/Verzehren von Waren“ vor dem Hintergrund von „Diskurse[n], Emotionen, Beziehungen, Rituale[n] und Formen der Geselligkeit und Vergesellschaftung“58. Obwohl das Konsumieren von Waren 54 Andreas Würgler: Politische Kultur in der „Provinz“ zur Zeit der Aufklärung. Unruhen und Öffentlichkeit in Süddeutschland, in: Hans Erich Bödeker und Étienne François (Hrsg): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung, Leipzig 1996, S. 79 – 104. 55 Annette Meyer: Die Epoche der Aufklärung, Berlin 2010, S. 11. 56 Die Kunsthistorikerin Ann Bermingham verweist darauf, dass sich nicht eine homogene Öffentlichkeit für Kunst interessierte, sondern dass es viele Öffentlichkeiten („publics“) waren: Ann Bermingham: Introduction. The Consumption of Culture: Image, Object, Text, in: Dies. und John Brewer (Hrsg.): Consumption of Culture 1600 – 1800. Image, Object, Text, London/ New York 1995, S. 1 – 21, hier S. 15. 57 Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln/Weimar/Wien 2003; Schmidt: Wandel durch Vernunft; Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung; Wolfgang Schmale: Das 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2012. 58 Hannes Siegrist: Konsum, Kultur und Gesellschaft im modernen Europa, in: Ders.: Hartmut Kaelble und Jürgen Kocka (Hrsg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschaftsund Kulturgeschichte des Konsums (18. – 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M./New York 1997, S. 13 – 46, hier S. 16.

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demnach eine zeitlich nicht genau begrenzte Erscheinung ist, haben Forscher/innen vor allem ab den 1980er-­Jahren begonnen, nach den Ursprüngen der modernen Konsumgesellschaft zu suchen. Dabei stellten sie u. a. fest, dass schon vor der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ein erhöhter Konsum ab dem 17. Jahrhundert in Westeuropa (v. a. in den Niederlanden und England, aber auch in Frankreich und Deutschland) und den Britischen Kolonien in Nordamerika bzw. den Vereinigten Staaten von Amerika zu verzeichnen ist.59 Das Phänomen des deutlich ansteigenden vorindustriellen Konsums fasste man mit dem Begriff consumer revolution zusammen. Die „Revolution der Konsumenten“ beschreibt die Vorstellung einer friedlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Revolution, die sehr viel direkter dem Allgemeinwohl, dem Fortschritt und dem Individuum dient als die oft mit Gewalt, Schmerz und Zwang verbundenen politischen und institutionell-­rechtlichen Revolutionen.60

Aus dieser sehr allgemeinen Definition folgt nicht zwingend, dass die consumer revolution unbedingt an der Grenze von Früher Neuzeit und Neuzeit, zwischen der „early modern“ und der „modern period“ zu verorten ist. Man kann sicherlich andere Zeiträume untersuchen, in der bedeutende wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Veränderungen auftraten. Dementsprechend verweist der Wirtschaftshistoriker Jan de Vries zu Recht darauf, dass neben der von Neil McKendrick, Lorna Weatherill, Daniel Roche, Timothy Breen und anderen vertretenen consumer revolution des 18. Jahrhunderts noch vier andere consumer revolutions identifizierbar seien.61 Was die consumer revolution des späten 17. und 18. Jahrhunderts auszeichnet, ist der schnelle und signifikante Anstieg des Erwerbs von Konsumgütern wie Porzellan (Geschirr), Besteck, Gemälden, bestimmten Kleidungsstücken und dergleichen mehr.62 Einhergehend 59 Vgl. bspw. Neil McKendrick: Commercialization and the Economy, in: Ders, John Brewer and J. H. Plumb (Hrsg.): The Birth of a Consumer Society, The Commercialization of Eighteenth-­ Century England, London 1982, S. 1 – 196; Simon Schama: The Embarrassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, London 1987; Carole Shammas: The Pre-­ Industrial Consumer in England and America, Oxford 1990; Lorna Weatherill: Consumer Behaviour and Material Culture in Britain, 1660 – 1760, London 2. Aufl. 1996; Daniel Roche: A History of Everyday Things. The Birth of Consumption in France 1600 – 1800, Cambridge 2000; North: Genuss und Glück des Lebens; Timothy H. Breen: The Marketplace of Revolution. How Consumer Politics Shaped American Independence, Oxford 2004; Maxine Berg: Luxury and Pleasure in Eighteenth-­Century Britain, Oxford 2005. 60 Siegrist: Konsum, S. 42. 61 Diese vier consumer revolutions beziehen sich auf folgende Zeiträume: die Renaissance, die Barockzeit, das Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert. Jan de Vries: The Industrious Revolution, Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008, S. 37 – 39. 62 Bei der consumer revolution wird vorausgesetzt, dass die nachgefragten Güter für den Konsumenten erhältlich waren. Daher sind die sichere und schnelle Verbreitung von Gütern sowie

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mit dem materiellen Konsum erhöhte sich auch die Nachfrage nach neuen kulturellen Praktiken, wie der nächste Abschnitt detailliert aufzeigen wird. Dieser grundsätzliche Wandel des Konsumverhaltens lässt sich nicht nur auf den erhöhten Konsum von einigen privilegierten Adligen zurückführen, sondern erfasste eine relativ breite Bevölkerungsschicht. Mit der zugespitzten Formulierung von McKendrick bedeutete das: More men and women than ever before in human history enjoyed the experience of acquiring material possessions. […] The consumer revolution was a turning point in the history of human experience.63

Die Behauptung, dass die consumer revolution des 17./18. Jahrhunderts „ein[en] Wendepunkt der Menschheitserfahrung“ darstellte, erscheint nicht zielführend. Wichtiger ist es hier zu konstatieren, dass ein Großteil der heutigen Historikergeneration davon ausgeht, dass Männer und Frauen im 18. Jahrhundert verstärkt begannen, Güter in vorher unvorstellbarem Maße zu konsumieren.64 Die daraus folgende Implikation hatte weitreichende Folgen für die frühneuzeitliche Konsumforschung. Es erschien nun denkbar, noch vor der Industriellen Revolution einen deutlich erhöhten Konsum festzustellen. Technischer Fortschritt und die damit einhergehende Senkung der Produktionskosten pro Einheit konstituierten nicht mehr die unabdingbaren Voraussetzungen für erhöhten Konsum.65 Die Konsumforschung der letzten Jahrzehnte evoziert daher ein Geschichtsbild, in dem ein wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Wandel auch schon im 17. und 18. Jahrhundert einsetzte. Vor diesem Hintergrund verdient die Aussage des Wirtschaftshistorikers Joel Mokyr besondere Aufmerkdie Entwicklung des Einzelhandels nicht zu vernachlässigen. Vgl. dafür die distribution revolution: Stuart Jenks: The London Steelyard’s Certifications of Membership 1463 – 1474 and the European Distribution Revolution, in: Justyna Wubs-­Mrozewicz and Stuart Jenks (Hrsg.): The Hanse in Medieval and Early Modern Europe, Leiden/Boston 2013, S. 59 – 108; für die Entwicklung des Einzelhandels vgl.: Bruno Blondé u. a. (Hrsg.): Buyers and Sellers. Retail Circuits and Practices in Medieval and Early Modern Europe, Turnhout 2006. 63 McKendrick: The Birth of a Consumer Society, S. 1 und 9. 64 Hier wird sich an die Formulierung von Michael Kwass angelehnt, der schreibt, dass „historians now contend that eighteenth century-­century men and women began to consume goods on a previously unthinkable scale […and] ordinary men and women freed themselves from the ‚stranglehold of scarcity‘ that had long defined their material world and began to fill their lives with objects“. Zit. aus: Michael Kwass: Ordering the World of Goods: Consumer Revolution and the Classification of Objects in Eighteenth-­Century France, in: Representations 82 (2003), S. 87 – 116, hier S. 87. 65 Für die Annales-­Historiker Fernand Braudel und Emmanuel Le Roy Ladurie waren Transformationsprozesse sehr behäbig und tief in der Sozialstruktur verwurzelt. Die Geschichte verlief immobile und man verfolgte die Idee einer longue durée, vgl.: Emmanuel Le Roy Ladurie: L’histoire immobile, in: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 29/3 (1974), S. 673 – 692; Ders.: Les Paysans de Languedoc, Paris 1966; Fernand Braudel: Histoire et sciences sociales: La longue durée, in: Annales ESC 13 (1958), S. 725 – 753.

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samkeit: „The consumer revolution […] clearly preceded the industrial revolution“.66 Für ihn hängt die wirtschaftliche Entwicklung nicht nur von Standortfaktoren und Märkten oder von Politik und Gesellschaft allgemein ab, sondern genauso vom Glauben und Wissen der Bevölkerung. In der Aufklärung fanden grundsätzliche Veränderungen im Denken der Menschen statt, die zwar nur mittelbar auf die industrielle Entwicklung Einfluss nahmen, aber das Fundament für die folgenden Innovationen und Institutionen legten.67 In den letzten Jahren hat die Forschung punktuell aufgezeigt, dass sich außerhalb des Nordseeraums und Teilen Nordamerikas Indikatoren für eine consumer revolution finden lassen. Für Lissabon und dessen Hinterland wurde ein weitreichender Luxuskonsum identifiziert und auch für den Ostseeraum wurde eine erheblich vergrößerte Einfuhr von Kolonialwaren (v. a. Zucker) nachgewiesen.68 Die Stadt Bursa im Osmanischen Reich oder die niederländische Kapkolonie erlebten ebenso in der Frühen Neuzeit einen erheblichen Anstieg des Konsums.69 Damit erscheint es gerechtfertigt, für Stralsund und Reval einen veränderten Kulturkonsum anzunehmen, zumal ein Teil der bestehenden Literatur diesen Schluss stützt.70 Dennoch sollte die consumer revolution nicht unkritisch übernommen, sondern stets mit den empirischen lokalen oder regionalen Befunden kritisch hinterfragt werden.71

1.4 Die Kommerzialisierung des Vergnügens und der Geselligkeit Die Erforschung der frühneuzeitlichen „Freizeit“ erhielt ihren Antrieb aus den gleichen Überlegungen wie die gerade beschriebene Konsumforschung. Denn der für die historische Freizeitforschung prägende englische Historiker John H. Plumb bestand am Ende eines Aufsatzes, der die „Kommerzialisierung der Freizeit“ in England während des 18. Jahrhunderts beschrieb, auf folgende Feststellung: 66 Joel Mokyr: The Enlightened Economy. An Economic History of Britain 1700 – 1850, New Haven 2009, S. 15. 67 Ebd., S. 1 – 12. 68 Andreia Durães: L’Empire à la maison. Consommation à Lisbonne du xviiie siècle au début du xixe siècle, in: Histoire et Mesure 27/2 (2012), S. 165 – 196; Klas Rönnbäck: An Early Modern Consumer Revolution in the Baltic?, in: Scandinavian Journal of History 35/2 (2010), S. 177 – 197. 69 Eminegül Karababa: Investigating Early Modern Ottoman Consumer Culture in the Light of Bursa Probate Inventories, in: Economic History Review 65/1 (2012), S. 194 – 219; Johan Fourie: The Remarkable Wealth of the Dutch Cape Colony. Measurements from Eighteenth-­ Century Probate Inventories, in: Economic History Review 66/2 (2013), S. 419 – 448. 70 Vgl. z. B.: Jörg Driesner: Bürgerliche Wohnkultur im Ostseeraum. Stralsund, Kopenhagen und Riga in der Frühen Neuzeit (= Wirtschafts- und sozialhistorische Studien, Bd. 18), Wien/ Köln/Weimar 2012; Benita Meder: Der Strukturwandel in der baltischen Lebensart um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Dortmund 1961. 71 Vgl. dazu bspw.: Sheilagh Ogilvie: Consumption, Social Capital, and the „Industrious Revolution“ in Early Modern Germany, in: The Journal of Economic History 70/2 (2010), S. 287 – 325.

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It has always been my view that the situation which gives rise to the early beginnings of the industrial revolution arose from an affluent society wanting more goods that the labour force, as then organised, could produce.72

Anders gesagt trat Plumb für ein konsumorientiertes Narrativ ein, das eine Alternative zum vordergründig nachfrageorientierten Narrativ der Industriellen Revolution bieten sollte. Plumb argumentierte, dass der wachsende Reichtum innerhalb der britischen Gesellschaft die „Kommerzialisierung der Freizeit“ im 18. Jahrhundert vorantrieb. Da immer mehr kostengünstige Druckerzeugnisse den potenziellen Freizeitkonsumenten differenzierte Informationen boten, konnte sich ein verhältnismäßig großer Teil der Bevölkerung selbstbestimmt über das Angebot erkundigen und das für ihn passende annehmen. Die Gentry und die neue middle class verlangten vermehrt öffentliche Schauspiele, Konzerte oder Bälle, weil ihre eigenen Häuser für derartig prächtige Veranstaltungen nicht ausreichten. Zudem entwickelten sich Kurstädte zu Orten des Vergnügens, der Geselligkeit und der Erholung.73 Eine Generation später brachte Roy Porter die wachsende Nachfrage nach Vergnügen direkt mit einem Mentalitätswechsel des 18. Jahrhunderts in Verbindung. Haftete am Hedonismus in der christlichen Tradition noch der Gedanke des Sündigen und Unmoralischen, entwickelten sich Genuss und Vergnügen zu akzeptierten Kategorien im alltäglichen Leben.74 Besonders prägnant exemplifiziert der Wahrnehmungswandel des sogenannten „Luxus“ auf der einen Seite die wachsende Akzeptanz eines vergnüglichen Lebens unter bestimmten Voraussetzungen und auf die anderen Seiten die erbitterten verbalen Gefechte unterschiedlicher Akteure.75 Porter arbeitete des Weiteren die Kommerzialisierung des Vergnügens und der Freizeit der englischen Gesellschaft heraus.76 John Brewer und Michael North wiesen für England und das Alte Reich im 18. Jahrhundert eine stetige Kommerzialisierung der Kultur 77 nach. Schauspiele, Konzerte, Reisen, neuartige Möbelstücke oder Kunstgegenstände, um nur einige Beispiele zu nennen, entwickelten sich zu Handelswaren, auf die eine größere Konsumentenschicht zugreifen 72 John H. Plumb: The Commercialization of Leisure in Eighteenth-­Century England, Reading 1973, S. 19. 73 Ebd. 74 Roy Porter: Enlightenment and Pleasure, in: Ders. und Marie Mulvey Roberts (Hrsg.): Pleasure in the Eighteenth Century, Basingstoke 1996, S. 1 – 18. 75 Ebd., S. 5 – 9. Zur Luxusdebatte vgl. bspw.: John Sekora: Luxury. The Concept in Western Thought, Eden to Smollett, Baltimore/London 1977; Maxine Berg und Clifford Helen (Hrsg.): Consumption and Luxury. Consumer Culture in Europe, 1650 – 1850, Manchester/New York 1999; Joseph Vogl: Luxus, in: Karlheinz Barck a. u. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 2010, S. 694 – 708. 76 Roy Porter: Material Pleasure in the Consumer Society, in: Ders./Roberts (Hrsg.): Pleasure, S. 19 – 35. 77 Zum Kulturbegriff vgl. William H. Sewell: The Concept(s) of Culture, in: Victoria E. Bonnell und Lynn Hunt (Hrsg.): Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley/Los Angeles/London 1999, S. 35 – 61.

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konnte. Was zu Beginn des aufgeklärten Säkulums einer kleinen Gruppe von Adligen und Patriziern vorbehalten blieb, stand nach damaligem Maßstab vielen Personen zur freien Verfügung. Das kulturelle Angebot differenzierte, professionalisierte und institutionalisierte sich entsprechend der steigenden Nachfrage, sodass dem Kulturkonsum eine entscheidende identitätsstiftende Funktion zufiel.78 Neben den bisher genannten Studien verwiesen auch andere Untersuchungen auf die wachsende Bedeutung des Vergnügens und der Geselligkeit. Dabei wurde die Geselligkeit oftmals – neben Geschmack, Kritik, Glückseligkeit, Vernunft oder Reform – als ein Leitbegriff des 18. Jahrhunderts herausgestellt, da sich damals wie zu kaum einer anderen Zeit vielfältige gesellige Zusammenkünfte formierten. Klubs, Gesellschaften, Salons, Kaffeehäuser und ähnliche Institutionen untersuchte man zumeist unter größeren politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zusammenhängen, während man den Momenten der Rekreation und der Erholung weniger Aufmerksamkeit widmete.79 Darüber hinaus präsentiert sich die Forschung zur Kommerzialisierung des Vergnügens und der Geselligkeit unausgewogen, da bevorzugt große urbane Zentren oder Regionen in Nordwesteuropa in den Blick genommen werden.80 Somit trägt gerade die hier vorgenommene Analyse von mittelgroßen Städten außerhalb der westeuropäischen Zentren zur Fundierung des empirischen Wissens und zur Schärfung des Gesamtbildes bei.

78 North: Genuss und Glück des Lebens, bes. S. 1 – 4; John Brewer: The Pleasures of Imagination. English Culture in the Eighteenth Century, London 1997. Ders.: „The Most Polite Age and the Most Vicious“. Attitudes Towards Culture as a Commodity, 1660 – 1800, in: Ann Bermingham und ders. (Hrsg.): Consumption of Culture 1600 – 1800. Image, Object, Text, London/ New York 1995, S. 341 – 361. Als sehr instruktiv erweist sich auch der folgende Sammelband, obwohl er zeitlich erst am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzt: Anna Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe (Hrsg.): Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, Bielefeld 2011. 79 Vgl. bspw. Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982; Van Horn Melton: The Rise of the Public, bes. S. 195 – 272; Friedrich Vollhardt: Geselligkeit, in: Schneiders (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung, S. 152 – 154; Peter Albrecht: Hans Erich Bödeker und Ernst Hinrichs (Hrsg.): Formen der Geselligkeit in Nordwestdeutschland 1750 – 1820, Tübingen 2003; Wolfgang Hartwig: Macht, Emotion und Geselligkeit. Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500 – 1900, Stuttgart 2009; zur deutschsprachigen Forschung allgemein vgl. bspw.: Richard von Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Dorf und Stadt, München 3. Aufl. 2005, S. 125 – 173; Bernd Roeck: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 9), München 2. Aufl. 2011, S. 35 – 43. 80 Diesem Desiderat widmete sich eine Konferenz des German Historical Institute London im Mai 2016: „Spaces and Places of Leisure. Recreation and Sociability in Early Modernity (c. 1500 – 1800)“. Für das Programm s.: https://www.ghil.ac.uk/fileadmin/redaktion/ dokumente/2016/Conference_20160519_programme.pdf (zuletzt eingesehen am 14. 03. 2018, 15:05 Uhr).

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1.5 Der Ostseeraum als borderland Die vorliegende Untersuchung will einen Beitrag zur Erforschung der „Freizeit“ im Ostseeraum leisten, wenngleich aufgrund der Wahl der Städte vor allem dessen südliches und östliches Gebiet im Fokus stehen.81 Als historischen Regionalbegriff nutzte man „Ostseeraum“ bereits zwischen dem Ersten und dem Zeiten Weltkrieg. Allerdings zählte man Polen, Deutschland und Russland nicht als Teil dieses Raums, wobei sich die (westliche) Forschung insbesondere bei der Einbeziehung des letztgenannten Staates schwertat.82 Ein weitgefasstes Konzept des Ostseeraums rückte ab den 1990er-­Jahren als Gegenstand der historischen Forschung verstärkt in den Blick. Dabei bezeichnete dieser Raum nicht nur die Ostsee, sondern erstreckte sich je nach Fragestellung in das Hinterland und bezog auch Gebiete wie Norwegen, die deutsche Nordseeküste oder die Niederlande mit ein.83 Ende der 1970er-­Jahre legte Klaus Zernack die Grundlage für das heuristische Konzept von „Nordosteuropa“, das allerdings erst nach 1990 verstärkt in der deutschen Forschung diskutiert wurde.84 Der erste Teil des Kompositums „Ostseeraum“ betone laut Zernack den 81 Für die geographischen Bezeichnungen „südlicher“ und „östlicher Ostseeraum“ in der neueren (historischen) Forschung vgl.: Regina Hartmann (Hrsg.): Grenzen auf der Landkarte – Grenzen im Kopf? Kulturräume der östlichen Ostsee in der Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bielefeld 2010; Oliver Auge: Handlungsspielräume fürstlicher Politik im Mittelalter. Der südliche Ostseeraum von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis in die frühe Reformationszeit, Ostfildern 2009; Anna Oleńska: Im Herzen des südlichen Ostseeraums. Danzig als Kunstzentrum und Vermittler fremder Einflüsse in Polen im Zeitalter des Barock, in: Martin Krieger und Michael North (Hrsg.): Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 91 – 108; Klara Deecke und Ingried Gabel: Der Hartlib-­Kreis im südlichen Ostseeraum, in: Krieger/ North (Hrsg.): Land und Meer, S. 221 – 252. 82 Marko Lehti: Paradigmen ostseeregionaler Geschichte: Von Nationalgeschichten zur multinationalen Historiographie, in: Jörg Hackmann und Robert Schweitzer (Hrsg.): Nordosteuropa als Geschichtsregion. Beiträge des III. Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten, Helsinki/Lübeck 2006, S. 494 – 510, hier S. 495 – 497. 83 Otfried Czaika und Heinrich Holze, (Hrsg.): Migration und Kulturtransfer im Ostseeraum während der Frühen Neuzeit, Stockholm 2012, S. 9 – 19; Michael North: Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen, München 2011; Martin Krieger und Joachim Krüger (Hrsg.): Regna firmat pietas. Staat und Staatlichkeit im Ostseeraum. Festgabe zum 60. Geburtstag von Jens E. Olesen, Greifswald 2010; Matti Klinge: The Baltic World, Helsinki 2010; Alan Palmer: Northern Shores. A History of the Baltic Sea and its peoples, London 2005; Krieger/North (Hrsg.): Land und Meer; Ulla Ehrensvärd u. a.: Die Ostsee. 2000 Jahre Seefahrt, Handel und Kultur, Helsinki 1996; David Kirby: The Baltic World 1772 – 1993. Europe’s Northern Periphery in an Age of Change, London 1995; Ders.: Northern Europe in the Early Modern Period. The Baltic World 1492 – 1772, London 1990. 84 Klaus Zernack: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte, München 1977, S. 51 – 59, 73 – 74; Ders.: Nordosteuropa. Skizzen und Beiträge zu einer Geschichte der Ostseeländer, Lüneburg 1993, bes. S. 9 – 21; zum Begriff und der Verwendung von „Nordosteuropa“ vgl. außerdem: Jörg Hackmann: Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa: lokal,

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Einfluss des Meeres auf die Anrainer zu stark. Der anschließende Begriff „Raum“ klinge im Deutschen vorbelastet und ihm hafte ein bürokratischer Klang an. Darüber hinaus benennen Himmelsrichtungen – beispielsweise Ostmitteleuropa oder Südosteuropa – den Untersuchungsgegenstand anderer regionaler Forschungen. In Analogie zu diesen akzentuiert die Region Nordosteuropa vor allem Gemeinsamkeiten in der politischen, wirtschaftlichen und/oder kulturellen Struktur.85 Die Rolle des Meeres unterstreicht der „Ostseeraum“ jedoch bewusst. Er zeichnet sich durch die seit Jahrhunderten bestehenden fruchtbaren Austauschbeziehungen aus, denn der vergleichsweise schnelle und sichere Weg über das Wasser ermöglichte den Transport von Gütern des täglichen Bedarfs sowie von Kunst- und Luxusgegenständen. Zudem verbreiteten sich Ideen und Wissen entlang der Ostseeküste bis ins Hinterland, wodurch sich beispielsweise ein relativ homogenes Rechtswesen 86 sowie eine einheitliche Kunst und Architektur 87 herausbildeten. Die jüngste Forschung hebt darüber hinaus hervor, dass ein geographischer Raum keine statische, naturgegebene Einheit darstellt, sondern unter der Mitwirkung unterschiedlicher Akteure und Diskurse konstruiert wird. Unter Berücksichtigung dieser Perspektive entstehen aus dem Naturraum Ostsee viele Räume, in denen sich politische, sprachliche, ethnische und andere Grenzen überscheiden.88 Räume, in denen sich Grenzen überlappen, bieten vielfältige Möglichkeiten zur Interaktion und können in Anknüpfung an die ertragreiche internationale Forschung als borderlands (Grenzräume) bezeichnet werden.89 Anders als die zahlreichen National- oder Landes-

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national, regional, europäisch oder global?, Ders. (Hrsg.): Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 11 – 36; Ralph Tuchtenhagen: Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa, Wiesbaden 2008, S. 11 – 14 und Stefan Troebst: Nordosteuropa: Geschichtsregion der Zukunft, in: NORDEUROPAforum. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur 9/1 (1999), S. 53 – 69. Erst in jüngerer Zeit wird die See auch als verbindendes Element in den Blick gerückt. Vgl. dazu: Lehti: Paradigmen ostseeregionaler Geschichte, S. 501. Vgl. bspw.: Franz Petri: Westfalen, Hanse, Ostseeraum (= Veröffentlichungen des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde, 1/7), Münster 1955; Kommission für das Studium der deutschen Geschichte und Kultur im Osten (Hrsg.): Der Ostseeraum im Blickfeld der deutschen Geschichte, Bd. 6, Köln/Wien 1970. Ernst Badstübner u. a. (Hrsg.): Licht und Farbe in der mittelalterlichen Backsteinarchitektur des südlichen Ostseeraums, Berlin 2005; Thomas DaCosta Kaufmann: Der Ostseeraum als Kunstregion: Historiographie, Stand der Forschung und Perspektiven künftiger Untersuchungen, in: Krieger/North (Hrsg.): Land und Meer, S. 9 – 21. North: Geschichte der Ostsee, S. 10; Anssi Paasi: Europe as a Social Process and Discourse. Considerations of Place, Boundaries and Identity, in: European Urban and Regional Studies 8/1 (2001), S. 7 – 28; Ders.: Boundaries as Social Practice and Discourse: The Finnish-­Russian Border, in: Regional Studies 33/7 (1998), S. 669 – 680. John W. I. Lee und Michael North (Hrsg.): Globalizing Borderlands. Studies in Europe and North America, Lincoln/London 2016; Pekka Hämäläinen and Samuel Truett: On Borderlands, in: The Journal of American History 98/2 (2011), S. 338 – 361.

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geschichten, die für die Ostseeanrainer verfasst wurden, schärft die Geschichte der borderlands – der Plural von borderland impliziert bereits ein vielschichtiges Narrativ – den Blick über das Kerngebiet der führenden Macht hinaus. Nicht selten befinden sich borderlands an den äußeren Enden von Reichen oder Nationalstaaten, fern des unmittelbaren Einflusses der Zentren. So lag Schwedisch-­Pommern am südlichen Rand von Schweden und in der nördlichen Peripherie des Alten Reiches.90 Estland gehörte dagegen zu den westlichen borderlands des Russischen Reiches.91 Ohne der historischen Entwicklung Schwedisch-­Pommerns (Stralsund) und Estlands (Reval) vorwegzugreifen, muss auf die Tatsache verwiesen werden, dass die regionalen Eliten – Landadel und Stadtbürgertum – beider Gebiete weitreichende Autonomierechte erhielten.92 Damit verringerten sich für das jeweilige Mutterland die Möglichkeiten der unmittelbaren Einflussnahme vor Ort. Nichtsdestotrotz wirkte sich die Zugehörigkeit zum Schwedischen bzw. zum Russischen Reich auch auf das Leben in den borderlands aus, da in beiden Städten Akteure des Kernlandes aktiv waren, zu denen u. a. Soldaten, Offiziere und Verwaltungsbeamte zählten. Zudem ergaben sich wirtschaftliche und soziale Verbindungen, die Interaktionen beförderten. Damit werden Stralsund und Reval als durch die Ostsee geprägte borderlands verstanden, in denen das „Freizeitverhalten“ durch die Vertreter unterschiedlicher kultureller Prägungen und Interessen ausgehandelt wurde.

2. Fragestellungen Die vorliegende Arbeit zielt zunächst einmal darauf ab, die Konstituierung von geselligen und vergnüglichen Freiräumen in den borderlands Stralsund und Reval vor allem für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts darzustellen. Dafür wird sich exemplarisch auf die Freiräume konzentriert, an denen (semi-)öffentliche Glücks- und Schauspiele sowie (Masken-) Bälle stattfanden. Diese Formen des Vergnügens und der Geselligkeit erfreuten sich im Untersuchungszeitraum nicht zuletzt bei zahlungskräftigen Adligen und Bürgern großer Beliebtheit, weshalb sich aufgrund der bereits existierenden Forschungen vermuten lässt, dass sich diese Freiräume institutionalisierten und kommerzialisierten. Aus diesen Überlegungen ergeben sich die folgenden Leitfragen: 1.  Welche öffentlichen Freiräume bildeten sich um Glücksspiele, Schauspiele und (Masken-)Bälle in Stralsund und Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts?

90 Stefan Herfurth: Freiheit in Schwedisch-­Pommern. Entwicklung, Verbreitung und Rezeption des Freiheitsbegriffs im südlichen Ostseeraum zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2017; Ders.: Swedish Pomerania in the Eighteenth Century: The Developement of frihet in a Borderland of the Baltic Sea Region, in: Lee/North (Hrsg.): Globalizing Borderlands, S. 135 – 154; 91 Edward C. Thaden: Russia’s Western Borderlands 1710 – 1870, Princeton 1984, bes. S. 5 – 31 und 96 – 113. 92 Die historischen Hintergründe behandelt Kap. II. gesondert.

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2.  In welchem Maße konnten sich die Teilnehmer/innen dieser geselligen Vergnügungen selbstbestimmt und frei verhalten? Mit anderen Worten: Ermöglichten die Freiräume Unterschiede zum alltäglichen Leben? 3.  Wie verlief die Institutionalisierung und Kommerzialisierung dieser Freiräume? 4.  Inwiefern machte sich die borderlands-­Lage von Stralsund und Reval bei der Herausbildung der neuen Freiräume bemerkbar? Neben diesen Leitfragen resultieren sowohl aus der Beschäftigung mit den konkreten kulturellen Praktiken als auch mit den beiden Städten spezifische Problemlagen und Fragestellungen, von denen hier nur die wichtigsten aufgeführt werden. Obwohl das Glücksspiel aus unterschiedlichen Gründen eine hochgradig umstrittene Form der „Freizeitgestaltung“ darstellte, bildeten sich in weiten Teilen Europas zwei neuartige und profitversprechende Lotterieformate heraus, deren Spieler/innen auf hohe Gewinne hoffen durften. Gleichzeitig galten viele Würfel- und Kartenspiele, bei denen große Summen den Besitzer wechselten, als unmoralisch und gemeinschaftsschädigend.93 Warum aber erlaubte die Obrigkeit in Stralsund Zahlen- oder Klassenlotterien, während sie viele Karten- und Würfelspiele in Wirtshäusern untersagte? Warum durften die Mitglieder der Revaler Klubs Karten und Billard ohne direkte obrigkeitliche Beschränkungen spielen? Dem Besuch von Schauspielen haftete bis zum 18. Jahrhundert ebenfalls etwas Anrüchiges an. Doch als bestimmte Reformen Wirkung zeigten, änderte sich die Wahrnehmung des Schauspielbesuchs, weshalb sich sowohl in Stralsund als auch in Reval ein florierendes Theaterleben etablierte. Wie gelang es jedoch, in Stralsund die Eröffnung eines Theatergebäudes bereits im Jahre 1766 zu erwirken? Warum erhielt Reval erst am Anfang des 19. Jahrhunderts einen eigenständigen Theaterbau, obwohl es zuvor eine langjährig erfolgreiche Liebhabergesellschaft und potente Investoren gegeben hatte? Wie finanzierte und organisierte man regelmäßige Theatervorstellungen? Wie setzte sich das Publikum zusammen? Tanzveranstaltungen hatte es in unterschiedlichen Formen bereits lange vor dem Untersuchungszeitraum gegeben. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierten sich allerdings (Masken-)Bälle als organisierte Vergnügen beim Adel und Teilen des Bürgertums flächendeckend. Welche alten und vor allem neuen Ballorte standen für diese Veranstaltungen zur Verfügung? Wie organisierte man öffentliche Tanzgesellschaften? Wie verhielten sich die Gäste? Welche Bedeutung besaß das Tragen einer Maske für die Zeitgenossen?

3. Methode und Quellen Wie Volker Sellin zu Recht herausgestellt hat, gibt es keine allgemeine historische Methode, sondern lediglich methodische Grundsätze, die sich aus der Fragestellung herleiten lassen.94 Die Leitfragen dieser Arbeit zielen nicht darauf ab, die Konstituierung der Freiräume oder die Kommerzialisierung des Vergnügens in zwei Städten des Ostseeraums systematisch zu 93 Vgl.: Kap. III. 94 Volker Sellin: Einführung in die Geschichtswissenschaft, Göttingen 2. Aufl. 2005, S. 83 – 97.

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vergleichen. Daher wird nicht primär untersucht, warum sich das Lotteriewesen von Stralsund und Reval unterschied, wo das Theater einen größeren Zuspruch erfuhr oder welche Maskenbälle mehr Glanz versprühten. Obwohl ein Vergleich sowohl der beiden untersuchten Städte miteinander als auch mit anderen urbanen Referenzpunkten für die Einordnung bestimmter Sachverhalte unabdingbar bleibt, beschreibt und analysiert die vorliegende Studie vielmehr die grundsätzlichen Entwicklungslinien anhand von zwei exemplarisch gewählten Städten des Ostseeraums, deren Aussagen sich komplimentieren. Die Wahl fiel auf diese Städte, weil sie sich einerseits mit Bezug auf Bevölkerungsstruktur, Einwohnerzahl sowie die historische und wirtschaftliche Entwicklung sehr ähnelten. Andererseits gehörten sie zu den borderlands verschiedener Reiche, durch deren Einfluss sie unterschiedlich stark beeinflusst wurden. Damit repräsentieren sie zwei hanseatisch geprägte mittelgroße urbane Zentren, die aufgrund ihrer borderlands-­Lage einige regionale Besonderheiten aufweisen. Neben der geographischen Beschränkung auf Stralsund und Reval fokussiert sich diese Studie auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Aufgrund der oben gemachten Ausführungen zur Aufklärung, consumer revolution und Freizeitforschung erscheint es zunächst sinnvoll, vor allem das 18. Jahrhundert zu untersuchen, da in diesem Zeitraum entscheidende Veränderungen zu erwarten sind.95 Jedoch erfährt die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hier weniger Aufmerksamkeit, da der Große Nordische Krieg (1700 – 1720/21) schwerwiegende wirtschaftliche und soziale Konsequenzen nach sich zog.96 Erst ab der Mitte des Säkulums setzte tendenziell eine längere Phase des Aufschwungs in Reval (Estland) und Stralsund (Schwedisch-­Pommern) ein, weil die Städte von schweren Kriegsfolgen verschont blieben. In diese Phasen fielen die prägnantesten Entwicklungen bei der Konstituierung der neuen Freiräume. Das Ende des Untersuchungszeitraums markieren politische Prozesse, die sich auf das gesellige und vergnügliche Leben auswirkten. Genoss Schwedisch-­Pommern nach dem Frieden von Stockholm im Jahre 1720 weiterhin weitreichende Autonomierechte,97 reformierte der schwedische König Gustav IV. Adolf (1796 – 1809) die politischen Verhältnisse. Im Jahre 1805 hatte er mit dem Eintritt Schwedens in den Dritten Koalitionskrieg gegen Frankreich die Neutralität seines Landes aufgegeben, wodurch die Aufstellung einer pommerschen 95 Noch 1995 konstatierte die Kunsthistorikerin Ann Bermingham, dass der Konsum bei der Erforschung der frühneuzeitlichen Kultur eine untergeordnete Rolle spiele, denn „[o]ne does not look for something where one has been led to believe it does not exist.“ Bermingham: Introduction, S. 3. 96 Vgl.: Joachim Krüger: Wolgast in der Asche. Ausgewählte Quellen zur Lustration der Stadt in der Dänenzeit (1715 – 1721) (= Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, Bd. 8), Greifswald 2007; Robert I. Frost: The Northern Wars 1558 – 1721, Harlow 2000; Gert von Pistohlkors: Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1710/95 – 1914), in: Ders.: Baltische Länder (= Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1994, S. 266 – 450, hier S. 266 – 294. 97 Marco Pohlmann-­Linke: Landesherrschaft und Verwaltung in Vor- und Hinterpommern nach dem Stockholmer Friedensvertrag von 1720, in: Ivo Asmus, Heiko Droste und Jens E. Olesen (Hrsg.): Gemeinsame Bekannte. Schweden und Deutschland in der Frühen Neuzeit, Münster 2003, S. 347 – 362.

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Landwehr nötig wurde, die mit erheblichen finanziellen Belastungen der Landstände einherging. Der schwedische König nahm den Streit um die Finanzierung der Landesverteidigung 1806 zum Anlass, die Landständische Verfassung aufzuheben, und erschütterte damit die gesellschaftliche Grundstruktur. Im gleichen Jahr löste sich zudem das Heilige Römische Reich deutscher Nation auf. Ohne auf die Folgen dieser Entwicklung detailliert einzugehen, ist zu konstatieren, dass die Politik Gustavs  IV. Adolf 1807 zum Einmarsch französischer Truppen führte.98 Die Entwicklung Estlands und damit auch Revals prägte insbesondere die russische Kaiserin Katharina  II. (1762 – 1796), die dem Russischen Reich die Tür nach Europa öffnete, nachdem Peter I. (1682 – 1721) bereits ein Fenster aufgestoßen hatte.99 Zudem versuchte sie, das Land zu zentralisieren: Die Statthalterschaftsverfassung von 1783, mit der erhebliche Veränderungen in der Verwaltung einhergingen, beeinflusste die politischen Verhältnisse in Estland und unterstützte die „Etablierung eines bürgerlichen Gesellschaftslebens“ in Reval.100 Katharinas Nachfolger, Paul I. (1796 – 1801), beendete allerdings nicht nur die Reformen in den Ostseeprovinzen, sondern brach allgemein mit dem aufgeklärten Regierungsstil Katharinas.101 Die Studie beginnt somit um 1750 und endet um 1800, d. h. sie deckt, vereinfacht gesagt, die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts oder die erste Hälfte der Sattelzeit ab.102 Da sich die angeführten wirtschaftlichen, militärischen und politischen Rahmenbedingungen in Stralsund und Reval unterschiedlich auf dortige Glücksspiele, Theatervorstellungen und Bälle auswirkten, definieren konkrete Zäsuren den jeweils genauen Anfangs- und Endpunkt. 98 Vgl. weiterführend: Jens E. Olesen: Schwedisch-­Pommern in der schwedischen Politik nach 1806, in: Michael North und Robert Riemer (Hrsg.): Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum, Wahrnehmung und Transformation, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 274 – 292; Johannes Friedrich Weise: Die Integration Schwedisch-­Pommerns in den preußischen Staatsverband. Transformationsprozesse innerhalb von Staat und Gesellschaft, Norderstedt 2005, S. 37 – 52. 99 Für dieses sprachliche Bild vgl.: Mati Laur u. a.: Eesti ajalugu, Põhjasõjast pärisorjuse kaotamiseni [Estnische Geschichte. Bd. 4 Vom Norschen Krieg bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft], Tartu 2003, S. 97. 100 Zitat aus: Karsten Brüggemann und Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 258; vgl. zu Katharinas Politik mit Bezug auf Estland und Reval bspw.: Mati Laur: Das Baltikum in der Politik des aufgeklärten Absolutismus der Kaiserin Katharinas  II., in: Ulrich Kronauer (Hrsg.): Aufklärer im Baltikum. Europäischer Kontext und regionale Besonderheiten, Heidelberg 2011, S. 229 – 239; Hubertus Neuschäffer: Katharina II. und die Aufklärung in den baltischen Provinzen, in: Otto-­Heinrich Elias u. a. (Hrsg.): Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit, Köln/ Weimar/Wien 1996, S. 27 – 42; Otto-­Heinrich Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II. (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 3), Bonn/Bad Godesberg 1978; Julius Eckhardt: Die baltischen Provinzen Rußlands, Leipzig 1868, S. 203 – 232. 101 Michael Schippan: Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 2012, S. 161. 102 Vgl.: Reinhart Koselleck: Einleitung, in: Ders., Otto Brunner und Werner Conze (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-­sozialen Sprache in Deutschland, Bd.1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII, hier S. XV.

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Im Untersuchungszeitraum erschienen im Zuge der sich entwickelnden Öffentlichkeit viele Zeitungen, Zeitschriften und andere Druckerzeugnisse. So publizierte der Stralsunder Verleger Hieronymus Johann Struck ab 1760 den Auszug der Neuesten Weltbegebenheiten (ab 1772 dann Stralsundische Zeitung). Diese zwei bis drei Mal wöchentlich gedruckte Zeitung gaben Strucks Nachfolger bis in das 20. Jahrhundert ununterbrochen heraus.103 In Reval publizierte August Wilhelm Hörschelmann ab 1772 die Reval(i)schen Wöchentlichen Nachrichten (bis 1778 Revalsche, anschließend Revalische), die ebenfalls noch lange nach dem Ende des 18. Jahrhunderts erschienen.104 Hier bewarben Theaterprinzipale ihre Vorstellungen, Ballorganisatoren ihre Tanzveranstaltungen und Lotteriedirektoren die nächsten Ziehungen. Zudem finden sich darin Festbeschreibungen, Verordnungen oder kurze Abhandlungen über das Benehmen der Kulturkonsumenten, wie z. B. deren Klatschverhalten bei Theateraufführungen. Das Zusammentragen dieser fruchtbaren Informationen verlangte eine systematische Durchsicht sämtlicher Jahrgänge der Zeitungen ab deren Erscheinen bis ca. 1805. Zu den wichtigsten lokalen bzw. regionalen Zeitschriften zählen das in Stralsund anonym publizierte Pommersche Krämerdütchen 105 und das von August von Kotzebue herausgegebene Periodikum Für Geist und Herz.106 Darin verarbeiten lokale Autorenkreise subjektiv und oftmals wertend ihre vor Ort gemachten Erfahrungen, indem sie sich zumeist mit anderen öffentlich bekannten Ansichten auseinandersetzten. Kritische Beiträge liefern jedoch nicht nur die Artikel der Zeitschriften, da zudem gesonderte kurze Drucke – beispielsweise über die Einrichtung einer Zahlenlotterie in Stralsund – als Instrumente der Meinungsäußerung fungierten.107 Darüber hinaus informieren überregionale Zeitschriften über die Verhältnisse in Stralsund und/oder Reval, wie die in Berlin erschienene Litteraturund Theaterzeitung oder das von Friedrich Justin Bertuch in Weimar initiierte Journal des Luxus und der Moden.108 Daher ermöglichen diese Quellen die Rekonstruktion der Mei 103 Zu detaillierten Information zum Auszug der Neuesten Weltbegebenheiten (ANW ) und der Stralsundischen Zeitung (StZ) s.: Werner Struckmann: Zur Geschichte der Stralsundischen Zeitung. 175 Jahre Stralsunder Zeitungsverlag, Stralsund 1928. Die ANW und StZ können weitestgehend digital eingesehen werden; vgl.: „Mecklenburg-­Vorpommern. Digitale Bibliothek“: http://www.digitale-­bibliothek-­mv.de/viewer/toc/PPN737081422/0/ (zuletzt eingesehen am 01. 09. 2018, 9:35 Uhr). Die fehlenden Jahrgänge (1762 – 1764, 1770, 1794 und 1797) befinden sich entweder in der AUBGr oder StASt. 104 Die Reval(i)schen Wöchentlichen Nachrichten (RWN) liegen noch nicht in digitaler Form vor und können in der UBT oder der BK eingesehen werden. 105 Das Pommersche Krämerdütchen (Stralsund 1775) kann in der AUBGr oder im StASt eingesehen werden. 106 Für Geist und Herz (Reval/Leipzig 1786 – 1787) befindet sich bspw. in der UBT und der BK. 107 Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien, Stralsund 1768 sowie Betrachtungen durch die zu Stralsund im April 1768 herausgekommenen Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien veranlasset, Stralsund o. J. Diese Drucke befinden sich in der AUBGr. 108 Das Journal des Luxus und der Moden (JLM) erschien von 1787 bis 1812 und diesen Namen und führte in den anderen Jahren seines Bestehens (1786, 1813 – 1827) unterschiedliche Titel.

Methode und Quellen

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nungsvielfalt innerhalb der (lokalen) Öffentlichkeit. Insbesondere Bertuchs Journal dient außerdem als Referenzpunkt zur Einordnung bestimmter regionaler Konsumpraktiken in den größeren Kontext. Johann Christoph Petris Briefe über Reval erweisen sich als eine reichhaltige Quelle für den dortigen Kulturkonsum, da sich der studierte Erfurter Pastorensohn zwischen 1784 und 1796 in Reval bzw. Estland aufhielt und nach seiner Rückkehr über die Sitten vor allem der baltisch-­deutschen Bevölkerung in Reval reflektierte.109 Darüber hinaus gehören rechtlich-­normative Zeugnisse zum Quellenkorpus. Die zumeist zeitgenössisch gedruckten Gesetze und Verordnungen bieten einen Einblick in die offiziell gültigen Rechtsnormen. Dabei handelt es sich einerseits um obrigkeitliche – städtische und landesherrschaftliche – Verordnungen, mit deren Hilfe Zeitgenossen die offiziellen Grenzen zwischen erlaubten und verbotenen Vergnügungen definieren.110 Andererseits wurden die Statuten der Klubs gesichtet und ausgewertet, um das festgeschriebene Reglement bei den dort stattfindenden Bällen oder Kartenspielen nachzuvollziehen.111 Diese Quellen unterscheiden sich von den obrigkeitlichen Ordnungen und Gesetzen dahingehend, dass die betroffenen Herren ihre Statuten mittels Mehrheitsentscheid selbstständig festlegten. Sowohl die obrigkeitlichen als auch die klubinternen Gesetze beschreiben allerdings nur die Norm und nicht die Praxis. Wenn man sich lediglich auf die zeitgenössischen Veröffentlichungen aufgeklärter Meinungen oder rechtlicher Normen beschränkt, besteht die Gefahr, dass man das geltende Ideal mit der Lebenswirklichkeit gleichsetzt. Jedoch entsprach die von den Aufklärern oder der Obrigkeit erwünschte Norm vielfach keineswegs dem alltäglich praktizierten Kulturkonsum. Auf die Umsetzung der Gesetze deuten beispielsweise Gerichtsakten hin, die sich als nicht publizierte, handgeschriebene DokuDieses Periodikum ist digital abrufbar bei der „Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena“: http://zs.thulb.uni-­jena.de/receive/jportal_jpjournal_00000029 (zuletzt eingesehen am 01. 09. 2018, 10:05 Uhr). Zum JLM s.: Angela Borchert und Ralf Dressel (Hrsg.): Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg 2004. 109 Petri: Briefe über Reval. Weitere Informationen zur Einordnung von Petris Publikationen: Jügen Heeg: „Uber einige Merkwürdigkeiten und Alterthümer in Lief- und Ehstland“. Die Ostseeprovinzen Rußlands in den Publikationen Johann Christoph Petris (1762 – 1851), in: Zeitschrift für Ostforschung 34/4 (1985), S. 536 – 557; Ders.: Publikationen Johann Christoph Petris (1762 – 1851) über Estland, Livland und Rußland, in: Journal of Baltic Studies 16/2 (1985), S. 128 – 137. 110 Zu Stralsund bzw. Schwedisch-­Pommern s. bspw.: AUBG r, Renovirtes Patent wegen der Policey-­Ordnung, Stralsund 1723, Kap.  IV; StZ, Nr. 20, 14. 02. 1778; Johann Carl Dähnert (fortgesetzt von Gustaf von Klinckowström, Hrsg.): Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-­Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Nachrichten, Bd. 3, Stralsund 1799, S. 86 – 87. Zu Reval bzw. Estland und Livland s. die Livländische Gouvernements-­Regierungs Patente, die in der UBT liegen und teilweise bis 1765 digitalisiert sind. 111 Bspw.: UBT, Gesetze der Societät auf dem Dom in Reval, welche den 17ten November 1788 gestiftet, und den 23sten Januar 1789 eröffnet worden, Reval 1791; UBT, Gesetze des am ersten September 1792 gestifteten Clubbs der Einigkeit in Reval, Reval o. J.; EEA, Rep. 30.1.10.15.2.

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Einleitung

mente nicht an die Öffentlichkeit richteten. Die im Stralsunder Stadtarchiv überlieferten Prozessakten bezüglich des illegalen Glücksspiels illustrieren demzufolge die Spielpraxis einiger überführter Delinquenten.112 Auskünfte über die Veranstaltung von (Masken-)Bällen und Glücksspielen in Reval beinhalteten besonders die bislang wenig berücksichtigten Protokollbücher der Bürgerlichen Klubbe. Die ab 1781 nahezu lückenlos überlieferten Versammlungsprotokolle des ersten geselligen Vereins der Stadt bieten zahlreiche Anhaltspunkte über die praktische Gestaltung des Kluballtags, zu denen selbstverständlich Bälle, Kartenspiele und Billard gehörten.113 Bezüglich der Glücksspiele hielten die Archive und Bibliotheken neben den genannten Beständen insbesondere Lotteriepläne und Ziehungslisten bereit. Damit lässt sich sowohl die tatsächliche Entwicklung der Lotterieformate als auch die praktische Umsetzung der Ziehungen rekonstruieren.114 Ferner erlaubt die offizielle Korrespondenz zwischen den Lotterieveranstaltern und den verantwortlichen Behörden, bei der es zumeist um die Konzessionierung der Lotterien oder Probleme bei deren Umsetzung ging, Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Meinungen der beteiligten Parteien. Denn in den untersuchten borderlands divergierten die Ansichten der behördlichen Instanzen z. T. deutlich, was sich die Organisatoren von Glücksspielen zu Nutze zu machen wussten.115 Die Archivrecherchen zur Theaterpraxis förderten reichhaltiges Material zutage. Im Stralsunder Stadtarchiv befinden sich vor allem unter dem Repositorien 3 (Gerichtswesen) und 18 (Polizeiwesen) zahlreiche Quellen über die Situation der Prinzipale und Schauspieler sowie über die obrigkeitliche Genehmigungspraxis des Magistrats.116 Darüber hinaus erlaubten die Akten der Freimaurerloge Zur Eintracht, die aus verschiedenen Archiven zusammentragen werden mussten, Aussagen über das Angebot von Vergnügungen in der Sundstadt. Die Eintracht etablierte nämlich das erste feststehende Theatergebäude in Stralsund, das für Schauspiele und Bälle genutzt werden konnte.117 Das Tallinner Stadtarchiv bietet 112 Im StASt unter der Rep. 3 (Das Gerichtswesen der Stadt Stralsund) befinden sich einige Akten, die Glücksspielprozesse beinhalten. Besonders zu nennen sind hier die Nummern 26, 26 a und 6021. Darüber hinaus lagern im LaGr aufschlussreiche Prozessakten zu den Glückssielen in Stralsund, wie z. B. Rep. 10, Nr. 242. Letztlich finden sich auf in den Prozessakten des Wismarer Tribunals Beispiele für zeitgenössische Meinungsverschiedenheiten beim Kulturkonsum. 113 TLA, Rep. 1441.1.1 und 1441.1.2 Einer der wenigen, der diese Quelle bereits genutzt hat, ist: Indrek Jürjo: Die Klubs in Reval im Zeitalter der Aufklärung, in: Norbert Angermann und Wilhelm Lenz (Hrsg.): Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Lüneburg 1997, S. 339 – 362. 114 Für Reval vgl. bspw. den noch nicht systematisch ausgewerteten Folioband der Zuchthauslotterie (TLA, Rep. 230.1.452-Ak 12) oder die Akte zu anderen Lotterieprojekten des 18. Jahrhunderts (TLA, Rep. 230.1.B. O.07). Informationen über die Lotterien in Stralsund befinden sich in vielfältigen Akten im StASt, LaGr und StAWi. 115 Bspw.: StASt, Rep. 29, Nr. 2314 und LaGr, Rep. 10, Nr. 2027. 116 StASt, Rep. 3, 2283, 2549, 2522 und 2560; außerdem StASt, Rep. 18, Nr. 1164, 1165, 1167, 1770 und 1772. 117 GStPK, Rep. 5.1.3, Nr. 10121, LaGr, Rep. 10, Nr. 29, StASt, Rep. 58, Nr. 319.

Struktur

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unter den verzeichneten Quellen des Revaler Magistrats einige Akten, die sich direkt mit Theaterangelegenheit auseinandersetzen. Zudem enthält die Baltische Sammlung (Baltica Kogu) der Universitätsbibliothek Tallinn einige Theaterzettel aus dem 18. Jahrhundert.118 Die Quellenauswahl komplettieren zwei Tagebücher, die erst lange nach dem Tode der Autoren veröffentlicht wurden. Weder der Wanderschauspieler Carl Julius Christian Schüler 119 noch der Stralsunder Pastor Johann Christian Müller 120 hegten zu Lebzeiten die Absicht ihre Aufzeichnungen zu publizieren, sodass sie anders als z. B. Johann Christoph Petri oder August von Kotzebue keine direkte öffentliche Wirkung anstrebten.

4. Struktur An die Einleitung schließt Kapitel  II an, das den historischen Hintergrund liefern und den exemplarischen Charakter der gewählten Städte zeigen soll. Dafür werden zum einen die ökonomischen, politischen und religiösen Entwicklungslinien des Ostseeraums sowie Schwedisch-­Pommerns und Estlands bis zum Beginn des 19. Jahrhundert skizziert. Zum anderen erfolgt ein grober Abriss der Stadtgeschichten von Stralsund und Reval, der vor allem die übereinstimmenden Prägungen auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet dargestellt, aber auch auf deren Unterschiede verweist. Auf diesen historischen Überblick folgen drei thematische Kapitel über die Entstehung neuer Freiräume und die Kommerzialisierung des Vergnügens: Glücksspiele (Kap. III), das Theater (Kap.  IV) sowie Bälle und Maskeraden (Kap. V). Bevor die eigentliche Quellenarbeit beginnt, wird in jedem Kapitel der korrekte Untersuchungsgegenstand erläutert, wozu die notwendigen Definitionen, theoretischen Überlegungen und Forschungsansätze gehören. Daran reihen sich einige Angaben zur Entwicklung der Glücksspiele, Theatervorstellungen und Bälle vor dem Untersuchungszeitraum. Den jeweils deutlich größten 118 TLA, Rep. 230.1.B. O.19 – 22, 24, 26; die Sammlung der Theaterzettel in der BK beinhaltet nur wenige Exemplare aus dem 18. Jahrhundert (XIV 429a, Revalsche Theater-­Affische 1787 – 1932). Für eine hervorragende Übersicht der Quellen zum Revaler Theater allgemein vgl.: Kyra Robert: Quellen zur Geschichte des Revaler deutschen Theaters 1784 – 1917. Materialien in der Bibliothek der estnischen Akademie der Wissenschaften: Eine Übersicht, in: Laurence P. A. Kitching (Hrsg.): Das deutschsprachige Theater im baltischen Raum, 1630 – 1918, Frankfurt a. M. 1997, S. 1 – 6. 119 Carl Julius Christian Schüler: Theatralisches Journal angefangen vom Jahr 1770 in welchem ich mich dem Theater widmete, Berlin 1927. 120 Das Tagebuch wird in einem Editionsprojekt bearbeitet, von dem bisher zwei Bände erschienen sind: Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle & Neben-­Umstände. Erster Teil: Kindheit und Studienjahre (1720 – 1746), Leipzig 2007; Zweiter Teil: Hofmeister in Pommern (1746 – 1755), Leipzig 2013. Leider ist die für diese Arbeit interessante Phase, die Zeit von 1755 – 1772 als Müller Pfarrer in Stralsund war, noch nicht publiziert. Diese Phase kann jedoch indirekt über folgendes Werk erschlossen werden: Gustav Buchholz: Neuvorpommersches Leben im 18. Jahrhundert nach dem Tagebuch des Stralsunder Predigers Joh. Chr. Müller (1720 – 72), Greifswald 1909.

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Einleitung

Teil bildet die empirische Arbeit, deren Struktur jeder Teil separat umreißt. Am Ende der Kapitel steht ein Zwischenfazit, das den inhaltlichen Erkenntnisgewinn gerafft zusammenfasst und die spezifischen Fragen dieser Untersuchung adressiert. Die Schlussbetrachtung (Kap. VI) positioniert sich letztlich zu den anfangs aufgeworfenen Leitfragen. Neben dem Quellen- und Literaturverzeichnis befinden sich zum besseren Verständnis der Arbeit unterschiedliche Anhänge (Kap. VII). Eine Ortsnamenkonkordanz gibt die landessprachlichen Bezeichnungen der Städte und Landgüter an, da in der Arbeit ausschließlich die deutschen Namen Verwendung finden. Darüber hinaus bieten die Gehalts- und Preislisten für Stralsund und Reval eine grobe Orientierung für den zeitgenössischen Wert der jeweiligen Währungseinheiten. Letztlich werden die wichtigsten Glücksspiele, die heute nicht mehr bekannt sind und in der Arbeit des Öfteren genannten werden, kurz in einem Glossar beschrieben.

II. Historische Hintergründe Dieses Kapitel dient der Einbettung des Kulturkonsums in Stralsund und Reval in den historischen Kontext. Da vor allem die Ostsee (Fern-)Handel und Kulturkontakte ermöglichte und damit die beiden Städte ebenso prägte wie die machtpolitischen Auseinandersetzungen ihrer Anrainer, werden zunächst die grundlegenden Charakteristika des Ostseeraums in der Frühen Neuzeit mit Fokus auf dem 18. Jahrhundert umrissen (Kap. 1). Anschließend werden die politischen und wirtschaftlichen Verschiebungen innerhalb Schwedisch-­Pommerns und der russischen Ostseeprovinz Estland vor allem im 17. und 18. Jahrhundert dargestellt, da sich diese Ereignisse direkt oder indirekt auf die untersuchten Städte auswirkten (Kap. 2 und 3). Letztlich zeigen die Kapitel 4 und 5 wichtige sozio-­politische und wirtschaftliche Entwicklungslinien Stralsunds und Revals bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts auf, um die Bedeutung der in den empirischen Kapiteln dargestellten Ereignisse zu verdeutlichen.

1. Der Ostseeraum Spätestens seit der Wikingerzeit bildete der Ostseeraum eine Region des intensiven Austauschs, der alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens tangierte. Die Ostsee verband die anliegenden Küsten samt deren Hinterland sowie die vom Handel profitierenden Akteure miteinander, sodass eine einheitliche Kulturregion entstand.1 Zudem prägten z. B. die Niederländer, obwohl sie nicht zu den Anrainern gehörten, den Ostseeraum durch Handel, Kunst, Architektur und Know-­how vor allem im 16. und 17. Jahrhundert.2 Doch die Kontakte der unterschiedlichen Kulturen verliefen nicht nur friedlich. Die Kontrolle strategisch wichtiger Punkte, Städte oder Küstenstreifen versprach Wohlstand und Einfluss, weshalb eine Vielzahl von Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen um diese Orte und Gebiete ausgetragen wurde.3 In der Frühen Neuzeit bündelten sich die geostrategischen, konfessionellen, politischen und ökonomischen Konflikte in der Idee des Dominium Maris Baltici, der Herrschaft über





1 Thomas DaCosta Kaufmann: Der Ostseeraum als Kunstregion: Historiographie, Stand der Forschung und Perspektiven künftiger Untersuchungen, in: Martin Krieger und Michael North (Hrsg.): Land und Meer. Kultureller Austausch zwischen Westeuropa und dem Ostseeraum in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 2004, S. 9 – 21. 2 Michael North: Zwischen Hafen und Horizont. Die Weltgeschichte der Meere, München 2016, S. 130 – 134; Ders.: Die Niederlandisierung des Ostseeraums, in: Jörg Hackmann und Robert Schweitzer (Hrsg.): Nordosteuropa als Geschichtsregion. Beiträge des III . Internationalen Symposiums zur deutschen Kultur und Geschichte im europäischen Nordosten, Helsinki/ Lübeck 2006, S. 368 – 377. 3 Grundlegend dazu: Michael North: Geschichte der Ostsee. Handel und Kulturen, München 2011; vgl. zudem den Sammelband: Jan Hecker–Stampehl und Bernd Henningsen (Hrsg.): Geschichte, Politik und Kultur im Ostseeraum, Berlin 2013.

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Historische Hintergründe

die Ostsee. In diesem Herrschaftsmodell setzten die Kontrahenten nicht nur auf eine maritime Vorherrschaft, sondern auch auf die Kontrolle strategisch wichtiger Küstenstreifen zur Durchsetzung ihrer Interessen. Nachdem die Hanse sowohl als Bündnis insgesamt als auch die meisten einzelnen Hansestädte an ökonomischem Einfluss verloren und sich die geistlichen Herrschaften im Baltikum säkularisierten, entstand ein Machtvakuum, in das zunächst die Hauptkonkurrenten Dänemark und Schweden hineindrängten. Polen-­ Litauen und Russland nahmen jedoch ebenfalls an der Neuverteilung der Kräfte teil. Die Situation gewann zusätzlich an Komplexität, da beispielsweise auch die Niederländer und später die Engländer ihre Handelsinteressen wahren wollten.4 Zunächst schied Dänemark um das Ringen nach Großmachtansprüchen aus. Der dänische König Christian IV. (1588 – 1648) engagierte sich zunächst im Dreißigjährigen Krieg erfolglos auf der Seite der Protestanten gegen die katholische Liga und wurde zum Frieden gezwungen. Der später gegen Schweden geführte Torstenssonkrieg (1643 – 1645) endete genauso wie der Zweite Nordische Krieg (1655 – 60/61) mit Niederlagen, die empfindliche Verluste nach sich zogen. Im Frieden von Brömsebro (1645) erhielt Schweden Jämtland, Härjedalen, die Inseln Gotland und Ösel, Halland für 30 Jahre als Pfand sowie Sundzollfreiheit für schwedische Schiffe. Der „Panikfrieden“ von Roskilde (1658) sprach Dänemark ein Drittel seines verbliebenen Territoriums ab; der Verlust Schonens an Schweden wog dabei besonders schwer. Obwohl Dänemark im Frieden von Kopenhagen (1660) einige Gebietsverluste wettmachen konnte – z. B. erlangte es die Insel Bornholm zurück – hatte Schweden zu diesem Zeitpunkt die Vormachtstellung im Ostseeraum inne.5 Trotz spürbarer Niederlagen wie im brandenburgischen Fehrbellin (1675) gelang es Schweden zunächst, seine Position zu verteidigen. Letztlich brach das schwedische Reich jedoch im Großen Nordischen Krieg (1700 – 1721) weitgehend zusammen und verlor seine





4 Für weiterführende Informationen zur Mächtekonstellation ab dem Spätmittelalter vgl. Heinz Schilling: Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559 – 1660, Paderborn u. a. 2007, S. 309 – 345. Ausführlich zu den Kämpfen um das Dominium Maris Baltici vgl. Joachim Krüger: Der letzte Versuch einer Hegemonialpolitik am Öresund: Dänemark-­ Norwegen und der Große Nordische Krieg (1700 – 1721), Habil. Greifswald 2015; Robert I. Frost: The Northern Wars 1558 – 1721, Harlow 2000; für einen konzisen Überblick der Auseinandersetzungen zwischen Schweden und Dänemark s.: Jens E. Olesen: Der Kampf um die Ostseeherrschaft zwischen Dänemark und Schweden (1563 – 1720/21), in: Hecker-­Stampehl/ Henningsen (Hrsg.): Geschichte und Politik, S. 59 – 79. 5 Grundlegend zur schwedischen Großmachtzeit (stormaktstiden) s. Michael Roberts: The Swedish Imperial Experience 1560 – 1718, Cambridge u. a. 1979; David Kirby: Northern Europe in the Early Modern Period. The Baltic World 1492 – 1772, London 1990. Zu den massiven Territorialverlusten Dänemarks s.: Olesen: Der Kampf um die Ostseeherrschaft, S. 69 – 73; Grundlegend zu Fragen der maritimen Kriegsführung am Beispiel des Torstenssonkriegs: Hielke van Nieuwenhuize: Die privat organisierte niederländische Hilfsflotte in schwedischem Dienst im Torstenssonkrieg (1643 – 1645). Aufstellung, Einsatz und ihre Bedeutung für den Export niederländischer Seefahrtstechnologie, Diss. phil. Greifswald 2016.

Der Ostseeraum

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Vormachtstellung an Russland, was die Gebietsabtretungen verdeutlichen.6 Zwar behielt es einen Teil Schwedisch-­Pommerns, Wismar, die Insel Poel und das Amt Neukloster, musste jedoch die Provinzen Livland, Estland und Ingermanland sowie einen Teil Kareliens an Russland abtreten. Bereits 1715 hatte Kurhannover, das eine Personalunion mit Großbritannien verband, die ehemaligen unter schwedischer Verwaltung stehende Herzogtümer Bremen und Verden erhalten.7 Ungeachtet der intensiven Kämpfe am Anfang des 18. Jahrhunderts, die zudem in den anschließenden Dekaden nicht völlig aufhörten, und der damit einhergehenden Unsicherheit für den Handel, blieb der Austausch von Waren zwischen Nordwesteuropa und dem Ostseeraum zunächst stabil und intensivierte sich später signifikant. Passierten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lediglich 1.731 Schiffe jährlich den Öresund Richtung Osten (etwa so viele wie in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts), erhöhte sich diese Zahl auf jährlich 3.176 in der zweiten Hälfte des Säkulums.8 Bis etwa 1750 prägten besonders die Aktivitäten der niederländischen Schiffe den Handel, während in der zweiten Jahrhunderthälfte die Briten von einem tiefgreifenden Wandel profitierten. Der Bedeutungsrückgang der Niederländer für den Ostseehandel resultierte aus vielschichtigen Veränderungen, die hier nur skizziert werden können. Einerseits verlor Amsterdam gegenüber Hamburg, London und anderen kommerziellen Zentren seine Attraktivität als Stapelstadt.9 Andererseits diversifizierte sich der Austausch der Waren. Vor 1750 transportierten Schiffe vor allem Getreide von Osten nach Westen und Salz, Hering und Wein stellten den Großteil der Fracht in entgegengesetzter Richtung dar. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts exportierten die Ostseeanrainer von Getreide abgesehen verstärkt Holz, Hanf, Teer, Eisen und Kupfer. Getreide, Materialien zum Schiffsbau und Metalle fragte nicht zuletzt das aufstrebende Großbritannien nach. Ohne dass der traditionelle Bedarf an Hering und Salz aufgehörte hätte, traten als Importgüter für den Ostseeraum ab 1750 zunehmend Textilien und Kolonialwaren in den Vordergrund. Beispielsweise wuchs die Menge an Kolonialwaren, die über den Sund in die Ostsee importiert wurden,

6 Joachim Krüger: The Baltic Sea Region by 1700. The Time of the Great Northern War, in: Ders. und Raf Bleile (Hrsg.): ‚Princess Hedvig Sofia‘ and the Great Northern War, Dresden 2015, S. 30 – 41. 7 Zur Übergabe der Herzogtümer Bremen und Verden vgl.: Lutz Erich Krüger: Der Erwerb Bremen-­Verdens durch Hannover. Ein Beitrag zur Geschichte des großen Nordischen Krieges in den Jahren 1709 bis 1719 (= Schriftenreihe des Landesverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden, 2), Hamburg 1974. 8 Joop A. Faber: Structural Changes in the European Economy during the Eighteenth Century as Reflected in the Baltic Trade, in W. G. Heeres u. a. (Hrsg.): From Dunkirk to Danzig. Shipping and Trade in the North Sea and the Baltic, 1350 – 1850, Hilversum 1988, S. 83 – 94, hier S. 90. 9 Zu Hamburg vgl.: Yuta Kikuchi: Hamburgs Handel mit dem Ostseeraum und dem mitteleuropäischen Binnenland vom 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Warendistribution und Hinterlandsnetzwerke auf See-, Fluss- und Landwegen, Diss. phil. Greifswald 2013.

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Historische Hintergründe

um das zwanzigfache im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Den Löwenanteil machte dabei das „neue Luxusgut“ Zucker aus.10 Mit dem Warenaustausch intensivierte sich die Kommunikation. Das lag besonders am expandierenden Verlag und Vertrieb von Büchern, wodurch das gedruckte Wort zum wichtigsten Mittel des Kulturaustausches avancierte. Dieser vielerorts in Europa zu beobachtende Trend der erhöhten Bücherproduktion machte sich auch im Ostseeraum bemerkbar und es entstand ein nordosteuropäischer Kommunikationsraum.11 Neben Büchern fanden auch periodische Zeitschriften Abnehmer im gesamten Ostseeraum. Friedrich Justin Bertuchs Journal des Luxus und der Moden subskribierte man beispielsweise in Libau, Riga, Königsbergs, Danzig, Stettin, Rostock, Lübeck und Kopenhagen.12 Jedoch erschlossen diesen nordosteuropäischen Kommunikationsraum nicht nur Zeitschriften und Bücher, sondern er fußte außerdem auf der Mobilität einzelner Bevölkerungsgruppen, zu denen beispielsweise Hofmeister, Studenten oder Schauspieler/innen gehörten. Hofmeister waren Universitätsabsolventen, die zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes für etwa vier bis sechs Jahre als Hauslehrer die Kinder von Adligen schulten. Während z. B. Sachsen und Thüringen verhältnismäßig viele junge Akademiker ausbildeten, fehlten diese in Est- und Livland, wo sich bis zur Neugründung Dorpats 1802 keine Universität etablierte. Daher gab es jährlich um die 70 bis 80 Hofmeisterstellen, die nicht selten junge „Literaten“ aus dem Reich ausfüllten. Oftmals gelangten sie mit dem Schiff über Lübeck nach Riga oder Reval.13 Die Landeskinder Est-, Liv- und Kurlands mussten, sofern sie studieren wollten, das Land verlassen und reisten dafür auch häufig über die Ostsee. Zwischen 1711 und 1800 immatrikulierten sich nicht weniger als 3.000 Studenten 10 Hans Johansen: Shipping and Trade between the Baltic Area and Western Europe, 1784 – 95, Odense 1983, S. 98 – 114; Faber: Structural Changes, S. 91 – 94; für nähere Informationen über das auch online verfügbare Sundzollregister vgl.: Erik Gøbel: The Sound Toll Registers Online Project, 1497 – 1857, in: International Journal of Maritime History 22/2 (2010), S. 305 – 324; zur Zuckereinfuhr vgl.: Klas Rönnbäck: An Early Modern Consumer Revolution in the Baltic?, in: Scandinavian Journal of History, 35/2 (2010), S. 177 – 197; für die Unterscheidung zwischen alten und neuen Luxusgütern vgl.: Jan de Vries: The Industrious Revolution. Consumer Behavior and the Household Economy, 1650 to the Present, Cambridge 2008, S. 44 – 45. 11 Vgl.: Heinz Ischreyt: Buchhandel und Buchhändler im nordosteuropäischen Kommunikationsraum (1762 – 1797), in: Giles Barber und Bernhard Fabian (Hrsg.): Buch und Buchhandel in Europa im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1981, S. 249 – 269. Allgemein zur Mediengeschichte des 18. Jahrhunderts s. bspw.: Andreas Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 85), München 2009, S. 43 – 64. 12 Michael North: Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln/Weimar/ Wien 2003, S. 19; Ders.: Geschichte der Ostsee, S. 194 – 195. 13 Heinrich Bosse: Die Hofmeister in Livland und Estland. Ein Berufsstand als Vermittler der Aufklärung, in: Otto-­Heinrich Elias (Hrsg.): Aufklärung in den Baltischen Provinzen Russlands, Köln/Wien/Weimar 1996, S. 165 – 208; Michael North: Nationale und kulturelle Selbstverortung in der Diaspora: Die Deutschen in den russischen Ostseeprovinzen des 18. Jahrhunderts, in: Georg Schmidt (Hrsg.): Die deutsche Nation im frühneuzeitlichen Europa, München 2010, S. 83 – 96.

Schwedisch-­Pommern

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aus diesen Regionen in deutschen, niederländischen und skandinavischen Universitäten.14 Doch auch in Gegenden mit Universitäten nutzte man die Möglichkeiten, innerhalb des Ostseeraums zu studieren. Viele Schweden suchten beispielsweise zwischen 1637 und 1815 die Universität Greifswald auf.15 Letztlich exemplifizieren die Wandertruppen des 18. Jahrhunderts sehr anschaulich, wie man sich die Mobilität, die die Ostsee ermöglichte, zu Nutze machten konnte. Der Schauspieler Johann Peter Hilverding trat in Königsberg, Stettin, Berlin, Riga, Mitau, St. Petersburg und Reval auf, während Jean Tilly mit seiner Gesellschaft u. a. in Schleswig, Kiel, Eutin, Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund, Greifswald, und St. Petersburg spielte.16 Die eben skizzierten Verbindungen und Austauschbeziehungen wären in dieser Form nicht ohne die Ostsee denkbar gewesen.

2. Schwedisch-­Pommern Im Ostseeraum zeichnete sich mit der Beendigung des Großen Nordischen Krieges eine positive wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung ab. Doch die Kämpfe um die Ostseeherrschaft hatten u. a. in Pommern tiefe Spuren hinterlassen. Das Herzogtum Pommern geriet im 17. und 18. Jahrhundert in die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Dänemark, Schweden und Russland, die um die Vormachtstellung im Ostseeraum rangen. Darüber hinaus starb das Pommern regierende Adelsgeschlecht der Greifen 1637 in männlicher Linie aus, weshalb das Herzogtum von den strategischen Erwägungen anderer Mächte abhing.17 Noch im Jahre 1618, als der Rostocker Mathematikprofessor Eilhard Lubinus (1565 – 1621) eine detaillierte Karte Pommerns fertigstellte, erstreckte sich das „Land

14 Arvo Tering: Baltische Studenten an europäischen Universitäten im 18. Jahrhundert, in: Otto-­ Heinrich Elias (Hrsg.): Aufklärung in den Baltischen Provinzen Russlands, Köln/Wien/Weimar 1996, S. 125 – 154; Ders.: Gelehrte Kontakte der Universität Greifswald zu Estland, Livland und Kurland im 17. und 18. Jahrhundert, in: Dirk Alvermann, Niels Jörn und Jens Olesen (Hrsg.): Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, Berlin 2007, S. 283 – 316. 15 Ivar Seth: Die Universität Greifswald und ihre Stellung in der schwedischen Kulturpolitik 1637 – 1815, Berlin 1956. 16 Eike Pies: Prinzipale. Zur Genealogie des deutschsprachigen Berufstheaters vom 17. bis 19. Jahrhundert, Ratingen/Kastellaun/Düsseldorf 1973, S. 164 und 366. 17 Michael North: Geschichte Mecklenburg-­Vorpommerns, München 2008, S. 51 – 54; Hans Branig: Geschichte Pommerns. Von 1648 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern), Köln/Weimar/Wien 2000; Stiftung Pommersches Landesmuseum (Hrsg.): Unter der schwedischen Krone. Pommern nach dem Westfälischen Frieden, Greifswald 1998; Helmut Backhaus: Reichsterritorium und schwedische Provinz. Vorpommern unter Karls XI. Vormündern (1660 – 1672) (= Veröffentlichungen des Max-­Planck-­Instituts für Geschichte, Bd. 25), Göttingen 1969.

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Historische Hintergründe

am Meer“18 ca. 400 km entlang der südlichen Ostseeküste und ragte zwischen 50 und 200 km in das Hinterland hinein. Zum Territorium gehörten die Inseln Rügen, Usedom und Wollin sowie die Städte Stralsund, Greifswald, Stettin, Kolberg und Stolp.19 Im Zuge des Dreißigjährigen Krieges marschierten kaiserliche Truppen unter der Führung des Oberbefehlshabers Wallenstein in Pommern ein und belagerten Stralsund. Obwohl die Stadt dank dänischer und schwedischer Unterstützung nicht eingenommen wurde, schienen die kaiserlichen Truppen im Norden des Alten Reiches an Einfluss zu gewinnen, weshalb der schwedische König Gustav II. Adolf (1611 – 1632) mit der Landung auf der Insel Usedom 1630 direkt in das Kriegsgeschehen eingriff. In den folgenden Jahren bedeuteten Kampfhandlungen, Plünderungen und Truppeneinquartierungen eine schwere Bürde für das Land. Zudem starb, wie bereits erwähnt, der letzte Pommernherzog Bogislaw  XIV. (1625 – 1637) noch vor Beendigung des Krieges.20 Die Neuordnung der Herrschaftsverhältnisse dauerte bis zum Westfälischen Frieden 1648. Neben vielen anderen Punkten bestimmte der Friedensvertrag die Teilung des Herzogtums Pommern in ein westliches und ein östliches Territorium. Der westliche Teil ging an Schweden und wurde alsdann Schwedisch-­Pommern genannt. Brandenburg erhielt den östlichen Teil (Hinterpommern), obwohl es gehofft hatte, sich das gesamte Gebiet aufgrund alter Erbansprüche einzuverleiben.21 Wie kompliziert sich die Verhandlungen zwischen Schweden und Brandenburg um das pommersche Territorium gestalteten, belegt zudem, dass es bis zum Stettiner Grenzrezess von 1653 dauerte, sich auf den künftigen Grenzverlauf sowie die damit verbundenen Hafenzölle zu einigen.22 18 Werner Buchholz und Günter Mangelsdorf (Hrsg.): Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte, Köln/Wien/Weimar 1995. 19 Für nähere Informationen über die Karte: D. Szymczak und R. Kupisiński: Editionen der Großen Pommern-­Karte von Eilhardus Lubinus, in: Pommersche Zeitschrift für Kultur und Geschichte 48/3 (2010), S. 19 – 22; E. Jäger und R. Schmidt (Hrsg.): Die große Lubinsche Karte von 1618, Lüneburg 1980. 20 Grundlegend zum Dreißigjährigen Krieg vgl.: Peter H. Wilson: Europe’s Tragedy. A New History of the Thirty Years War, London 2009, hier bes. S. 425 – 431; Backhaus: Reichsterritorium und schwedische Provinz, S. 47 – 54; zu Wallensteins Auftreten in Nordeuropa vgl.: Jens E. Olesen (Hrsg.): Terra felix Mecklenburg. Wallenstein in Nordeuropa (= Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, Bd. 11), Greifswald 2010; zur umstrittenen Rolle Gustav II. Adolfs vgl.: Sverker Oredsson: Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, Berlin 1994. 21 Der Vertrag von Grimnitz (1529) erneuerte den Vertrag von Pyritz (1493), der den Streit zwischen Greifen und Hohenzollern bezügliche des rechtlichen Status des Greifengeschlechts und der Erbfolge im Herzogtum Pommern lösen sollte. Darin wurde es den Hohenzollern zugestanden, im Falle des Erlöschens der Greifen Pommern zu erhalten. Für Details s.: Hans Branig: Geschichte Pommerns. Vom Werden des neuzeitlichen Staates bis zum Verlust der staatlichen Selbstständigkeit 1300 – 1648 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern), Köln/Weimar/Wien 1997, S. 93 – 94. 22 Kyra Inachin: Die Geschichte Pommerns, Rostock 2008, S. 75 – 76; Backhaus: Reichsterritorium, S. 239.

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Der Westfälische Frieden legte zusammen mit den anschließenden bilateralen Verhandlungen zwischen Schweden und Brandenburg das Fundament für die territorialen Streitigkeiten der nächsten Jahrzehnte.23 Auf der einen Seite versuchte Schweden, sein strategisch wichtiges Gebiet im Alten Reich zu behalten, während Brandenburg auf der anderen Seite vorhatte, seine alten Erbansprüche zu erzwingen. Im Schwedisch-­Brandenburgischen Krieg (1674 – 1679), der auch als Schonischer Krieg bekannt ist, konnte Brandenburg große Gebiete Schwedisch-­Pommerns einnehmen. So gelang es dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640 – 1688), nach der Belagerung und Bombardierung Stralsunds 1678 in die Stadt einzumarschieren.24 Doch Brandenburg erzielte im Frieden von St. Germain nur kleinere Gebietszugewinne östlich der Oder und musste sich beispielsweise wieder aus Stralsund zurückziehen.25 Die anschließenden drei Jahrzehnte dürfen als Erholungsphase gelten, da der Große Nordische Krieg (1700 – 1721) in Schwedisch-­Pommern erst 1711 mit dem Einmarsch russischer, dänischer und sächsisch-­polnischer Soldaten begann. Russland, Dänemark und Sachsen-­Polen hatten sich gegen Schweden und damit gegen Schwedisch-­Pommern verbündet. Obwohl der schwedische „Soldatenkönig“ Karl XII. (1697 – 1718) den Krieg anfänglich erfolgreich führte, erlitten seine Truppen eine entscheidende Niederlage in der Schlacht von Poltawa im Jahre 1709. Diese Schwäche nutzten die Gegner Schwedens, zu denen ab 1713 ebenfalls Brandenburg-­Preußen gehörte. Nachdem Stettin 1713 belagert und erobert wurde, ereilte Stralsund zwei Jahre später das gleiche Schicksal. Damit büßten die Schweden von 1715 bis 1720 den Einfluss auf ihre pommerschen Besitzungen ein.26 Da sie den Krieg letztlich verloren, mussten sie einen Großteil Schwedisch-­Pommerns im Frieden von Stockholm 1720 abtreten. Gegen eine Zahlung von zwei Millionen Talern erhielt Brandenburg-­ Preußen die Stadt Stettin, Schwedisch-­Pommern bis zum Fluss Peene sowie die Inseln 23 Martin Schoebel: Hinterpommern als brandenburgisch-­preußische Provinz 1648 bis 1815, in: Werner Buchholz (Hrsg.): Pommern (= Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1999, S. 305 – 364, hier S. 306. 24 Aus skandinavischer Perspektive: Finn Askgaard und Arne Stade (Hrsg.): Kampen om Skåne, Kopenhagen 1983; Hans-­Joachim Hacker: Stralsund von 1630 – 1720, in: Herbert Ewe (Hrsg.): Geschichte der Stadt Stralsund, Weimar 1984, S. 168 – 201, hier S. 184 – 188. 25 Für eine Einordnung des Krieges in europäische Mächtepolitik vgl.: Frost: The Northern Wars, S. 208 – 216. 26 Vgl. Martin Meier: Vorpommern nördlich der Peene unter dänischer Verwaltung 1715 bis 1721. Aufbau einer Verwaltung und Herrschaftssicherung in einem eroberten Gebiet (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 65), München 2008. Allgemein zum Großen Nordischen Krieg vgl. Frost: The Northern Wars, hier bes. S. 226 – 300. Zu dem umstrittenen Monarchen Karl XII. vgl.: Joachim Krüger: Karl XII. – Der „heroische“ Militärmonarch Schwedens, in: Martin Wrede (Hrsg.): Die Inszenierung der heroischen Monarchie. Frühneuzeitliches Königtum zwischen ritterlichem Erbe und militärischer Herausforderung (= HZ Beiheft NF, 62), München 2014, S. 359 – 382; zum Verlauf des Großen Nordischen Krieges aus vorpommischer Perspektive vgl.: Ders.: Wolgast in der Asche. Ausgewählte Quellen zur Lustration der Stadt in der Dänenzeit (1715 – 1721), Greifswald 2007, S. 11 – 28.

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Usedom und Wollin. Dafür sicherte sich Schweden gegenüber Dänemark im Frieden von Frederiksborg (1720) das Gebiet nördlich der Peene inklusive Rügens. In diesen territorialen Grenzen bestand Schwedisch-­Pommern bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts.27 Das Kerngebiet der Hohenzollern erhielt damit nicht nur weitere landwirtschaftlich nutzbare Flächen zur Anwerbung von Kolonisten, sondern mit der Odermündung und dem Stettiner Hafen zudem eine eigene Verbindung zum attraktiven Seehandel. Schweden blieb ein geostrategisch vorteilhafter „Brückenkopf“ auf dem europäischen Festland sowie ein bedeutender Agrarproduzent.28

Karte 1: Schwedische Besitzungen (ohne Wismar) im südlichen Ostseeraum nach 1720.

Da die einstige Großmacht Schweden im Großen Nordischen Krieg neben dem östlichen Teil Vorpommerns ebenfalls die Provinzen Estland, Livland und Ingermannland verloren hatte, erlangte Schwedisch-­Pommern die Funktion einer „Kornkammer“ für das Mutterland. Während des gesamten 18. Jahrhunderts prägten die Haupthandelszweige Landwirtschaft und Getreidehandel Schwedisch-­Pommern. Teilweise – die Missernten der 1770er-­ Jahre ausgenommen – stammten über die Hälfte der schwedischen Getreideeinfuhren 27 Die Übergabe von Schwedisch-­Pommern an Preußen jährte sich im Jahre 2015 zum 200. Mal. Daher organisierte die Historische Kommission für Pommern in Stralsund eine Tagung. Für einen Bericht s.: „Vom Löwen zum Adler“. Der Übergang Schwedisch-­Pommerns an Preußen 1815, 23. 10. 2015 – 24. 10. 2015 Stralsund, in: H-Soz-­Kult, 20. 06. 2016, https://www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-6568 [zuletzt eingesehen am 14. 03. 2018, 15:01 Uhr]. 28 Joachim Krüger: Pommern in der dänisch-­schwedischen-­preußischen Zeit (1715 – 1815), in: Joachim Wächter (Hrsg.): Geschichte Pommerns im Überblick, Greifswald 2014, S. 75 – 97, hier S. 82; Inachin: Pommern, S. 99; Branig: Geschichte Pommerns, S. 73 – 92.

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sowie der Großteil des Malzimports von dort. Die nicht selten adligen Gutsbesitzer und die Kaufleute profitierten von der starken Getreidenachfrage, was sich u. a. im Bau von repräsentativen Gutshäusern oder Stadthäusern bemerkbar machte. Gleichzeitig gerieten immer mehr Bauern in Abhängigkeit zu ihren Gutsherren; 1770 lebten zwei Drittel der Landbevölkerung in Leibeigenschaft.29 Als einziger „Brückenkopf“ zum Kontinent behielt Schwedisch-­Pommern zwar für das Mutterland eine strategische Bedeutung, entwickelte sich aber immer mehr zu einer Last. Die Stationierung von Soldaten kostete Ressourcen, während substanzielle Einnahmen auch wegen des lokalen Reformunwillens ausblieben. Zudem beherrschte die einstige Großmacht Schwedisch-­Pommern nicht mehr aufgrund der eigenen militärischen Stärke, sondern verdankte den Besitz der europäischen Mächtekonstellation.30 Verfassungsrechtlich blieb Schwedisch-­Pommern nach 1648 Teil des Heiligen Römischen Reiches, während es gleichzeitig die Stellung einer schwedischen Provinz erhielt, an dessen Spitze der schwedische König als Herzog von Pommern und Fürst von Rügen vertreten durch einen Generalgouverneur stand.31 Schweden hatte in den Friedensverhandlungen die Einrichtung einer obersten Gerichtsinstanz zugesichert, weshalb es 1653 das Wismarer Tribunal, d. h. die höchste Gerichtsinstanz der schwedischen Territorien im Heiligen Römischen Reich, eröffnete. Damit verhinderte man, dass deutsche Reichsgerichte Auseinandersetzungen mit der schwedischen Krone entschieden.32 Königin Christina  (1632 – 1654) hatte im Osnabrücker Friedensvertrag den pommerschen Ständen weitgehende Privilegien zugesichert und damit die direkte Einflussnahme auf die Provinz erheblich eingeschränkt.33 Diese Privilegien wurden nach den Gebietsverlusten Schwedens bestätigt bzw. sogar noch erweitert. Folglich gelang es den schwedisch-­

29 Werner Buchholz: Öffentliche Finanzen und Finanzverwaltung im entwickelten frühmodernen Staat. Landesherr und Landstände in Schwedisch-­Pommern, 1720 – 1806, Köln/Weimar/ Wien 1992, S. 99 – 116; Inachin: Pommern, S. 99 – 100. 30 Vgl. dazu bspw.: Robert Oldach (Hrsg.): Schwedens Beteiligung am Siebenjährigen Krieg im Spiegel des Tageregisters der Stadt Loitz 1757 – 1759 (= Publikationen des Lehrstuhls für Nordische Geschichte, Bd. 16), Greifswald 2014, bes. S. 7 – 57; Jens E. Olesen: Brücke nach Europa. Schwedisch-­Pommern 1630 – 1815, Baltic World 2/1 (2009), S. 22 – 26. 31 Helmut Backhaus: Aspekte schwedischer Herrschaft in Pommern, in: Roderich Schmidt (Hrsg.): Tausend Jahre Pommersche Geschichte, Köln 1999, S. 195 – 214, hier S. 195 – 196; weitere Details sind prägnant zusammengefasst bei: Robert Oldach: Stadt und Festung Stralsund. Studien zur Organisation und Wahrnehmung schwedischer militärischer Präsenz 1721 – 1807, Diss. phil. Greifswald 2012, S. 34 – 47. 32 Nils Jörn: Die Pommerschen Hofgerichte, Geschichte, Personal, Probleme der Forschung, Hamburg 2007; Ders., Bernhard Diestelkamp und Kjell Åke Modéer (Hrsg.): Integration durch Recht, Das Wismarer Tribunal, 1653 – 1806, Köln 2003. 33 Joachim Wächter: Pommern in der Zeit der Reformation und der großen Kriege (1520 – 1715), in: Ders. (Hrsg.): Geschichte Pommerns, S. 57 – 73, hier S. 70.

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pommerschen Ständen, die tradierten politischen Verhältnisse über das 18. Jahrhundert zu konservieren.34 Erst mit dem Tode Gustav III. (1771 – 1792), worauf eine Vormundschaftsregierung unter dem Freiherrn Gustav Adolf Reuterholm und die Regierungszeit von Gustav  IV. Adolf (1792 – 1809) folgten, deuteten sich ernsthafte Reformversuche an, deren Ziel darin bestand, die zerrütteten Finanzen Schwedens zu konsolidieren. Daraufhin entspann sich ein Konflikt zwischen der schwedischen Monarchie und den schwedisch-­pommerschen Ständen. Als sich im Frühsommer 1806 abzeichnete, dass sich das Heilige Römische Reich auflösen würde und die Landstände nun nicht mehr auf ein Einschreiten des Kaisers hoffen konnten, löste Gustav IV. Adolf den schwedisch-­pommerschen Landtag auf. Kurze Zeit später hob er die seit 1663 gültige landständische Verfassung auf und verkündete stattdessen die Einführung der schwedischen Verfassung von 1772. Damit war Schwedisch-­Pommern an Schweden als Provinz angegliedert. Allerdings kamen die Reformen insgesamt nicht zur Geltung, da bereits 1807 die französische Besatzung und die damit zusammenhängenden Befreiungskriege eine effektive Implementierung verhinderten.35 Trotz der politischen Gegensätze zwischen dem schwedischen Mutterland und den pommerschen Landständen näherten sich beide Seiten kulturell im Verlauf des 18. Jahrhunderts an. Schwedisch-­Pommern entwickelte sich zu einer Kontaktzone zwischen Schweden, Deutschen und Pommern, wobei diese nationalen Zuschreibungen für die zeitgenössische Identifikation eine untergeordnete Rolle einnahmen. In der Regierungsstadt Stralsund begegneten sich der Generalgouverneur, seine Regierung, Offiziere und Kaufleute, während Greifswald mit seiner Universität das intellektuelle Zentrum darstellte, wo ein intensiver akademischer deutsch-­schwedischer Austausch gedieh.36 Nach den Gebietsverlusten infolge des Großen Nordischen Krieges verkleinerte sich Schwedisch-­Pommern auf 4.013 Quadratkilometer, was etwa einem Sechstel der Fläche des preußischen Teil Pommerns oder vier Mal der Insel Rügen entsprach. 1766/67 betrug die Bevölkerungszahl etwas mehr als 87.000 Einwohner, von denen 27.000 in Städten und 60.000 auf dem Lande lebten. Zwischen 1767 und 1781 nahm die Bevölkerung um 34 Krüger: Pommern in der dänisch-­schwedisch-­preußischen Zeit, S. 85. 35 Jens E. Olesen: Schwedisch-­Pommern in der schwedischen Politik nach 1806, in: Michael North und Robert Riemer (Hrsg.): Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum. Wahrnehmung und Transformation, Köln/Wien/Weimar 2008, S. 274 – 292; zudem immer noch grundlegend: Lars Dalgren: Pommern und Schweden. Der Staatsstreich 1806 und dessen Vorgeschichte, in: Pommersche Jahrbücher 17 (1916), S. 1 – 191. 36 Grundlegend zu kulturellen Gegensätzen und Annäherungen vgl.: Stefan Herfurth: Freiheit in Schwedisch-­Pommern. Entwicklung, Verbreitung und Rezeption des Freiheitsbegriffs im südlichen Ostseeraum zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2017; Andreas Önnerfors: Svenska Pommern. Kulturmöten och identifikation 1720 – 1815, Lund 2003; Ders.: Die Freimaurer im Schwedisch-­Pommern des 18. Jahrhunderts – aufgeklärte Avantgarde und Kontaktzone zwischen Pommern und Schweden, in: Ivo Asmus, Heiko Droste und Jens Olesen (Hrsg.): Gemeinsame Bekannte, Schweden und Deutschland in der frühen Neuzeit, Münster 2003, S. 107 – 120.

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15,6 Prozent zu und erhöhte sich bis 1801 nochmals um über 10 Prozent. Dieser Zuwachs fiel relativ moderat aus, da Seuchen und Hungersnöte in einzelnen Jahren sogar einen Rückgang verursachten.37 Im Jahre 1782 war Stralsund mit etwa 10.600 Einwohnern die deutlich größte Stadt Schwedisch-­Pommerns, gefolgt von Greifswald (5.000), Wolgast (3.100) und Barth (2.900). Loitz, Tribsees, Grimmen und Bergen verzeichneten jeweils noch über 1.000 Einwohner, während alle anderen urbanen Räume diese Marke nicht überschritten.38

3. Estland 39 Zum Verständnis der Geschichte Estlands – sowie Livlands – müssen zwei mittelalterliche und frühneuzeitliche Bezeichnungen eingeführt werden, die sich auf dieses Gebiet beschränkten: „deutsch“ und „undeutsch“. Als „Undeutsche“ benannte man in den Quellen oftmals Esten, Liven oder Letten; dagegen fielen Russen, Dänen, Schweden nicht und nur selten Finnen oder Litauer in diese Kategorie. Die „Deutschen“ hingegen stammten mehrheitlich von den Kreuzfahrern, Geistlichen, Adligen und bürgerlichen Immigranten aus dem norddeutschen Raum ab, obwohl die zeitgenössischen Dokumente sie selten als „deutsch“ beschrieben.40 Diese Gegenüberüberstellung beruhte oftmals nicht auf ethnischen, sondern vielmehr auf sozialen, regionalen, ständischen oder rechtlichen Unterschieden. Die Quellen bezeichnen den Esten, der in Reval sein Brot verdiente, nicht als „undeutsch“ und sahen auch für die Deutschen oder andere Nicht-­Esten keine ethnische Zuschreibung vor. Dennoch fielen die sozialen Grenzen häufig mit kulturellen oder sprachlichen Grenzen zusammen. War es Undeutschen (Esten) in der Eroberungsperiode noch möglich das Bürgerrecht in Reval zu erwerben, blieben sie ab dem 14./15. Jahrhundert faktisch davon ausgeschlossen.41

37 Brage bei der Wieden: Die Entwicklung der pommerschen Bevölkerung 1701 bis 1918, Köln/ Weimar/Wien 1999, S. 10, 20 – 23. 38 Johann Carl Dähnert (Hrsg.): Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-­Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Ordnungen, Bd. 3, Stralsund 1769, S. 415 – 418. 39 Sofern es nicht anders angezeigt wird, meint die geographische Bezeichnung „Estland“ das Gebiet des gleichnamigen russischen Gouvernements, das nach dem Großen Nordischen Krieg entstand. Es darf nicht mit dem heutigen Staat Estland verwechselt werden, der sich aus dem nördlichen Teil des Gouvernements Livland und dem Gouvernement Estland zusammensetzt. 40 Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch als historiographisches Problem, in: Michael Garleff (Hrsg.): Zwischen Konfrontation und Kompromiss. Oldenburger Symposium: „Interethnische Beziehungen in Ostmitteleuropa als historiographisches Problem der 1930er/1940er-­ Jahre“, München 1995, S. 185 – 195. 41 Vgl. dafür: Tiina Kala: Gab es eine „national Frage“ im mittelalterlichen Reval?, in: Forschungen zur Baltischen Geschichte, 7 (2012), S. 11 – 34; Anti Selart: Non-­German Literacy in Medieval Livonia, in: Marco Mostert und Anna Adamska (Hrsg.): Uses of the written word in medieval towns (= Utrecht Studies in Medieval Literacy, 28), Turnhout 2014, S. 37 – 63.

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Noch im 18. Jahrhundert unterteilte der livländische Pastor August Wilhelm Hupel die Bewohner/innen in zwei soziale Kategorien, indem er zwischen Deutschen und Undeutschen differenzierte. In dem folgenden Zitat spiegelt sich exemplarisch der ständische Zeitgeist wider, der noch nicht auf nationale Denkmuster rekurrierte.42 Ohne auf die verschiedenen Stände zu sehen, theilt man des Landes Einwohner in zwo Hauptklassen, in Deutsche und Undeutsche. Unter den letzten versteht man alle Erbleute, oder mit einem Wort die Bauern. Wer nicht Bauer ist, heißt ein Deutscher, wenn er auch kein deutsches Wort sprechen kann, z. B. Russen, Engländer […]. Zu dieser Klasse gehören der Adel, die Gelehrten, Bürger, Amtleute, freygebohrne Bedienten, auch sogar Freygelassene, sobald sie ihre vorige Kleidung mit der deutschen verwechseln.43

Nach dieser grundsätzlichen sozialen Differenzierung wird nun auf die machtpolitische Konstellation näher eingegangen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkten sich in Altlivland 44 offensichtliche Auflösungserscheinungen, die aufgrund des diplomatischen Geschicks des livländischen Ordensmeisters Wolter von Plettenberg nur aufgeschoben werden konnten. Auseinandersetzungen innerhalb des Ordens sowie die Ausbreitung und Durchsetzung der Reformation hatten die militärische und diplomatische Position Altlivlands entscheidend geschwächt. In dieses Machtvakuum stieß 1558 der russische Zar Iwan IV. (1533 – 1584), der im sogenannten Livländischen Krieg (1558 – 1583) begann. Dänemark, Schweden und Polen-­Litauen engagierten sich ebenfalls in diesem Krieg, der sich um das alte Territorium des Ordens, das Erzbistum Riga, die Bistümer Dorpat, Ösel-­Wieck und Kurland sowie die Städte drehte.45 Neben dem machtpolitischen Einfluss ging es dabei 42 Zur ständischen Struktur in Estland bzw. im Baltikum vgl.: Ulrike Plath: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Fremdkonstruktion, Lebenswelten, Kolonialphantasien 1750 – 1850 (= Veröffentlichungen des Nordost-­Instituts, Bd. 11), Wiesbaden 2011, S. 155 – 163; Indrek Jürjo: Aufklärung im Baltikum. Leben und Werk des livländischen Gelehrten August Wilhelm Hupel (1737 – 1819), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 154 – 157. 43 August Wilhelm Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland, Bd. 1, Riga 1774, S. 140 – 141. 44 „Altlivland“ ist ein historiographisches Konstrukt für das mittelalterliche Livland, das vereinfacht die sozialen Gruppen und Korporationen ungefähr auf dem Gebiet des heutigen Est- und Lettlands umfasst. Einführend zu Altlivland: Ralph Tuchtenhagen: Geschichte der Baltischen Länder, München 2005, S. 15 – 27. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts begann man unter dem Begriff „Livland“ das Gebiet nördlich der Düna (Daugava) zu verstehen, d. h. das heutige Südestland und Nordlettland. Begrenzt wurde es durch das historische Estland im Norden und Lettgallen (auch „Inflanty Polskie“ oder „Polnisch-­Livland“) im Südosten. Das Herzogtum Kurland und Semgallen lagen südlich der Düna. Vgl.: Reinhard Wittram: Baltische Geschichte. Die Ostseelande Estland, Livland, Kurland 1180 – 1918, München 1954, S. 7. 45 Für einen neueren Überblick vgl.: Forst: The Great Northern Wars, S. 23 – 101; s. bei Frost auch eine anschauliche Karte des Ostseeraums um 1550. Für die ältere Forschungsliteratur vgl. Norbert Angermann: Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznyjs, Marburg 1972; Erich

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vor allem um die Sicherung der Handelswege, da die Region für die Getreideversorgung eine herausragende Stellung einnahm.46 Nachdem das russische Heer den Orden 1560 bei Ermes geschlagen hatte, mussten sich die Ritterschaften und großen Städte neue Schutzmächte suchen. Die Stadt Reval und die Harrisch-­Wierische Ritterschaft schlossen sich Schweden an, die Livländer dem König von Polen 47 (1582 unterwarf sich auch Riga). Kurland geriet als Herzogtum unter polnische Lehnshoheit mit dem letzten Ordensmeister Gotthard Keller an der Spitze. Der Bischof von Ösel-­Wieck verkaufte seine Diözese an den dänischen König Friedrich II., der das Gebiet an seinen jüngeren Bruder Magnus übergab.48 Am Anfang des 17. Jahrhunderts brach zwischen Polen und Schweden ein Krieg um Livland aus, der in Verbindung mit den Ansprüchen des katholischen Königs von Polen, Sigismund III. Wasa, auf den schwedischen Thron stand.49 Der schwedische König ­Gustav II. Adolf eroberte Livland, wodurch Estland und Livland ab 1629 sowie die Insel Ösel ab 1645 unter schwedische Herrschaft gerieten. Damit behielten diese Gebiete den lutherischen Glauben, während die Rekatholisierung Polnisch-­Livlands („Inflanty Polskie“) weiter voranschritt.50 Zu Beginn der Schwedenzeit unterstanden die Herzogtümer Estland und Livland in Personalunion der schwedischen Krone. Die alten Privilegien der Städte und Ritterschaften in Estland, die sich kampflos zu den Schweden bekannt hatten, wurden sofort weitgehend bestätigt. Livland, das mittels Krieg erobert werden musste, unterstand auf Anweisung Gustav  II. Adolfs dem Generalgouverneur Johan Skytte, der den Auftrag erhielt, zügig Verwaltungs- und Justizreformen durchzusetzen. Zwar scheiterte das Vorhaben nach Gustavs Tod 1632, doch die Privilegien vor allem des estländischen Adels überstiegen auch in der Folgezeit die der livländischen Landbesitzer.51 Die estländische und livländische Ritter-

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Donnert: Der livländische Ordensritterstaat und Rußland. Der livländische Krieg und die baltische Frage in der europäischen Politik, 1558 – 1583, Berlin 1963. Mati Laur u. a.: History of Estonia, Tallinn 2. Aufl. 2002, S. 99. Der König von Polen war gleichzeitig der Großfürst von Litauen. Zwischen Polen und Litauen bestand seit der Union von Lublin 1569 eine Realunion. Vgl. dafür: Mathias Niendorf: Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569 – 1795) (= Veröffentlichungen des Nordostinstituts, Bd. 3), Wiesbaden 2. Aufl. 2010, S. 44 – 46. Magnus’ ungeschicktes diplomatisches Verhalten provozierte den schwedischen König Erik XIV. und führte zu weiteren Kämpfen. Vgl.: Frost: The Great Northern Wars, S. 25; Mühlen: Das Baltikum, S. 27 – 29. Vgl. dazu weiterführend: Walter Leitsch: Sigismund  III. von Polen und Jan Zamoyski. Die Rolle Estlands in der Rivalität zwischen König und Hetman, Wien 2006. Weiterführend zu Polnisch-­Livland vgl.: Bogusław Dybaś: Livland und Polen-­Litauen nach dem Frieden von Oliva (1660), in: Dietmar Willoweit und Hans Lemberg (Hrsg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation, Oldenburg 2006, S. 107 – 127. Laur: History of Estonia, S. 114. Der Adel in Estland konnte bspw. mehr Abgaben von den Bauern fordern als ihre Standesgenossen in Livland, s.: Toivo U. Raun: Estinia and the Estonias (= Studies of Nationalities), Standford 2. Aufl. 2001, S. 30. Vgl. zudem: Andres Kasekamp: A History of the Baltic States, Basingstoke 2010, S. 51 – 55.

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schaft sowie die Stadt Reval verweigerten sich der schwedischen Reichsstandschaft, um ihre Eigenständigkeit nicht einzubüßen.52 Die Schweden legten ihren Fokus deshalb zunächst auf die geistige Bildung der Bevölkerung. Neben der Gründung der Universität Dorpat (Livland) im Jahre 1632, zeigten sich diese Bestrebungen mit der Einrichtung einer Schule für Lehrer, an der Bengt Forselius ab 1684 junge Esten zu Lehrern ausbildete.53 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts änderte die schwedische Regierung ihre Politik aber gegenüber dem estländischen und livländischen Adel. Mit der sogenannten Güterreduktion begann König Karl XI., die vorher ausgegebenen Güter wieder einzuziehen. Auf diese Weise wollte Schweden seine Ausgaben für das Militär kompensieren. Das bedeutete, dass rund die Hälfte der estländischen und sogar 80 % der livländischen Güter in den Besitz der schwedischen Krone übergingen, was den ansässigen Adel zum Pächter seines ehemaligen Landbesitzes degradierte. Zudem verlor er grundsätzliche administrative, judikative und finanzielle Rechte. Dazu gehörte, dass der schwedische König 1687 die Leibeigenschaft in den Kronländern der baltischen Provinzen theoretisch untersagte, obgleich die Umsetzung dieses Verbots fraglich ist.54 Die Opposition des Provinzadels gegen die schwedische Wirtschafts- und Ständepolitik profitierte nach dem Großen Nordischen Krieg von der politischen Neuordnung Est- und Livlands. Die Ritterschaften von Liv- und Estland sowie die eingeschlossenen Städte Riga und Reval unterzeichneten bereits 1710/11 die „Capitulationen“, durch die sie zu einem Teil des Russischen Reiches wurden. Russland stieg zur Großmacht im Ostseeraum auf, während Schweden zu einer Mittelmacht herabgestuft wurde. Im Frieden von Nystad (1721) garantierte der russische Kaiser Peter I. seinen dazugewonnenen Ostseeprovinzen Liv- und Estland, d. h. insbesondere den Ritterschaften und den Städten, die alten Privi-

52 Heinz von zur Mühlen: Das Ostbaltikum unter Herrschaft und Einfluß der Nachbarmächte (1561 – 1710/1795), in: Gert von Pistohlkors (Hrsg.): Baltische Länder (= Deutsche Geschichte im Osten Europas), Berlin 1994, S. 174 – 265, hier S. 228. 53 Ebd., S. 203 – 207; Cornelius Hasselblatt: Die Geschichte der estnischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/New York 2006, S. 133 – 134. 54 Aleksander Loit: Reformation und Konfessionalisierung in den ländischen Gebieten der baltischen Lande von ca. 1500 bis zum Ende der schwedischen Herrschaft, in: Matthias Asche, Werner Buchholz und Anton Schindling (Hrsg.): Die baltischen Lande im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Livland, Estland, Ösel, Ingermanland, Kurland und Lettgallen. Stadt, Land und Konfession 1500 – 1721, 1. Teil, Münster 2009, S. 49 – 215. Tatsächlich wird in der estnischen Historiographie über den Status der Bauern in Est- und Livland am Ende der schwedischen Herrschaft debattiert. So argumentiert Marten Seppel bspw., dass die Bauern der Krongüter gar nicht frei waren, da sie zwischen den Korngütern gehandelt werden konnten. Damit unterschieden sie sich nicht von den Leibeigenen. Zur Debatte s.: Välitus. Eesti- ja Liivimaa talurahva olukorrast Rootsi aja lõpus [Diskussion: Der Status der Bauern in Est- und Livland am Ende der schwedischen Herrschaft], in: Ajalooline Ajakiri 147/3 (2013), S. 375 – 403, englische Zusammenfassungen S. 401 – 403.

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legien; zudem bekamen die Adligen ihre Güter zurück. Insgesamt behielten die russischen Behörden allerdings die schwedischen Verwaltungsstrukturen bei.55

Karte 2: Estland nach 1722.

Der direkte russische Einfluss auf die Ostseeprovinzen blieb nach dem Großen Nordischen Krieg gering und ihre traditionellen kulturellen Kontakte zum westlichen Europa – vor allem zum Heiligen Römischen Reich – bestanden weiterhin, bis sie sich am Ende des 18. bzw. am Anfang des 19. Jahrhunderts abschwächten.56 Eine herausgehobene Stellung innerhalb dieses Informationsnetzes nahm Riga ein, wo sich der Verleger Johann Friedrich Hartknoch besonders hervortat. Nach der Eröffnung seines Geschäfts versorgte er nicht 55 Mati Laur: Der Einfluss schwedischer Gesetze auf das politische Leben des Ostbaltikums im 18. Jahrhundert, in: Aleksander Loit und Helmut Piirimäe (Hrsg.): Die schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland im 16. – 18. Jahrhundert, Stockholm 1993; grundlegend zur Verwaltung des Gebiets der heutigen Republik Estlands bis zur Statthalterschaftszeit s.: Ders.: Eesti ala valitsemine 18. sajandil (1710 – 1783) [Die Verwaltung des estnischen Gebiets im 18. Jahrhundert (1710 – 1783)], Tartu 2000, für die deutsche Zusammenfassung s. S. 242 – 250. 56 Estland und Livland waren für Peter I. von Russland (1682 – 1721) „Fenster nach Westen“, da insbesondere die Deutsch-­Balten enge Kontakte zum Alten Reich pflegten und somit über entsprechendes Know-­how verfügten. Vgl. dazu bspw.: Kasekamp: A History of the Baltic States, S. 55 – 61. Trotz einiger Ausnahmen schwächte sich der Kontakt der Deutsch-­Balten nach Deutschland ab, während sich der Kontakt zu Russland nicht entscheidend intensivierte. Dadurch gerieten sie im 19. Jahrhundert zunehmend in die Isolation. Vgl. Plath: Esten und Deutsche, S. 68 – 82.

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nur Riga, sondern Est-, Liv- und Kurland sowie den deutschsprachigen Markt allgemein mit Büchern, Zeitschriften und Musikalien. Sein Verlag veröffentlichte beispielsweise die Hauptwerke Immanuel Kants und Johann Gottfried Herders. Hartknoch freundete sich mit vielen einflussreichen Persönlichkeiten an und pflegte mit manchen von ihnen einen Briefkontakt, wie mit dem bereits erwähnten livländischen Pastor August Wilhelm Hupel.57 Der weitgehenden Selbstverwaltung der Ritterschaften und Städte bereitete die Statthalterschaftszeit (1783 – 1796) ein jähes Ende. Seit ihrem Regierungsantritt bemühte sich Katharina II. (1762 – 1796) darum, das Russische Reich effizienter, d. h. administrativ vereinheitlicht zu regieren. Die angestrebten Neuerungen des Reiches, die bereits 1775 mit der Gouvernementsreform anfingen, verschoben sich aber aufgrund der außenpolitischen Probleme, zu denen beispielsweise der türkisch-­russische Krieg (1768 – 1774) zählte. In den 1780er-­Jahren konnte die Zentralisierungspolitik, die sich an west- und nordeuropäischen Vorbildern orientierte, auch in den Ostseeprovinzen beginnen.58 Viele Aufklärer wie der Ökonom Wilhelm Christian Friebe oder der spätere Tartuer Medizinprofessor Daniel Georg Balk legten große Hoffnungen in diese umfassenden Reformen, die die überkommenen, verkrusteten Strukturen aufbrachen. Est- und Livland erhielten einen Statthalter und unterstanden damit der direkten staatlichen Kontrolle. Mit der Adelsordnung von 1785 hörten die ritterschaftlichen Landratskollegien auf zu existieren. Die neue Verwaltung bot attraktive Stellen, die nicht vom Familiennamen oder lokalen Institutionen abhingen, sondern vom Rang innerhalb des Russischen Reiches. Darüber hinaus konnte nun theoretisch jeder z. B. das Revaler Bürgerrecht erlangen, sofern er persönliche Freiheit genoss und ökonomisch selbstständig agierte. Die Liste der gestiegenen Freiheit zu Ungunsten des Adels und des Patriziats ließe sich noch fortsetzten.59 Der neue Kaiser Paul I. (1796 – 1801) nahm einen Teil der Reformen zurück, ohne aber die alte Ordnung komplett wiederherzustellen. Zwar erlaubte er beispielsweise die Konstituierung des alten Revaler Rates, doch dafür übertrug er den Ostseeprovinzen die russischen Rekrutengesetze. Für die bäuerliche Bevölkerung bedeutete dies, dass je 350 bis 500 Personen ein Rekrut gestellt werden musste. Für die Revaler Bürger galt diese Militärverordnung ebenso, nur dass sich die oberen Schichten von dieser Pflicht freikaufen konn 57 Henryk Rietz: Vertrieb und Werbung im Rigaer Buchhandel des 18. Jahrhunderts, in: Herbert Göpfert, Gerard Kozielek und Reinhard Wittmann (Hrsg.): Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1977, S. 253 – 262; zur Verbindung zwischen Hartknoch und Hupel vgl.: Jürjo: Aufklärung im Baltikum, bes. S. 76 – 80 und 101 – 108. 58 Tuchtenhagen: Geschichte der Baltischen Länder, S. 47. 59 Für eine neue Sicht auf die Statthalterschaftszeit siehe: Lea Leppik: The Privincial Reforms of Chatherine the Great and the Baltic Common Identity, in: Ajalooline Ajakiri 139/140 (2012), S. 55 – 78; weiterhin grundlegend: Otto-­Heinrich Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II. (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 3), Bonn/Bad Godesberg 1978; Gert von Pistohlkors: Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1710/95 – 1914), in: Der. (Hrsg.): Baltischer Länder, S. 287 – 294.

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ten. Das bedeutete de facto die Einführung einer neuen Steuer, die der Zentralregierung zugutekam. Die Statthalterschaftszeit prägte somit die Verfassung der Ostseeprovinzen über ihre formale Gültigkeit hinaus.60 Die darstellten politischen Entwicklungen wirkten sich ebenfalls auf die wirtschaftlichen Beziehungen aus. Das Hauptausfuhrgut Estlands war Getreide, das insbesondere seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verstärkt an die schwedische Regierung ging. Das bedeutendste Einfuhrgut Salz lieferten holländische Schiffe oft gegen Getreide.61 Bedingt durch eine große Hungersnot zwischen 1695 und 1697 sowie die Ereignisse während des Großen Nordischen Kriegs brach der Handel ein und verbesserte sich erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts v. a. für Getreide. Die adligen Grundbesitzer profitierten davon, dass sich die Ankaufspreise für beispielsweise Roggen in Reval zwischen 1760 und 1800 fast versechsfachten.62 Zudem wirkte sich der verstärkt einsetzende Branntweinverkauf positiv auf die Einnahmen der Gutsbesitzer aus. Ab 1766 durfte baltischer Branntwein nämlich für den russischen Markt produziert werden, wodurch sich ein attraktiver Absatzmarkt erschloss und St. Petersburg zum bedeutendsten Zielhafen machte. Der Branntweinhandel florierte derart, dass bis 1800 etwa 650 bis 700 Brennereien in Est- und Livland entstanden.63 Der Einfluss der Spirituosenproduktion machte sich insbesondere im ländlichen Raum bemerkbar. Das zu Branntwein verarbeitete Getreide brachte den Gutsbesitzern höhere Erlöse als das Rohprodukt. Die bei der Destillation abfallende sogenannte Schlempe nutzte man zur Ochsenmast, womit man ebenfalls Gewinne einstrich. Der Mist des Viehs wiederum verbesserte als Dünger auf den Feldern die Ernteerträge und es konnte sogar noch mehr starker Alkohol hergestellt werden. Die Profiteure dieses Systems waren in erster Linie die zumeist adligen Gutsbesitzer, deren wachsende Kaufkraft außerdem den Importeuren von Luxus- und Kolonialwaren florierende Geschäfte bescherten. Darüber hinaus freuten sich die Inhaber einer Schankgenehmigung in Reval über die günstige Branntweinkonjunktur. Als klare Verlierer dieses Prozesses standen die leibeigenen Bauern da, die die zusätzlichen Arbeitsleistungen verrichten mussten. Weil die Gutsherren zusätzlich rege von ihrem Recht Gebrauch machten, den Branntwein an die Landbewohner zu verkaufen, breitete sich der Alkoholismus unter den Bauern aus. Damit fielen eine Reihe von

60 „…it is not at all possible to talk about a full restitution of the institutional system. The Middle Ages never came back.“ Zit. aus: Leppik: The Provincial Reforms, S. 75; ähnlich bewertete bereits Elias die Reformen Katharinas: Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 185 – 190. 61 Mühlen: Das Ostbaltikum, S. 224. 62 Hannes Vinnal: Der baltische Getreidehandel und das internationale Preisniveau: Der Roggenpreis in Reval im 18. Jahrhundert, in: Forschungen zur baltischen Geschichte 8 (2013), S. 103 – 126, hier S. 111. 63 Juhan Kahk und Enn Tarvel: An Economic History of the Baltic States (= Acta UniversitatisStockholmiensis, 20), Stockholm 1997, S. 73 – 75; Juhan Kahk: Bauer und Baron im Baltikum. Versuch einer historisch-­phänomenologischen Studie zum Thema „Gutsherrschaft in den Ostseeprovinzen“, Tallinn 1999, S. 42.

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Missständen im Verhältnis der Gutsherren mit ihren Bauern, die Garlieb Merkel Ende des 18. Jahrhunderts brandmarkte, mit der Branntweinbrennerei zusammen.64 Während der Kriegszeiten zwischen 1620 und 1640 betrug die Bevölkerungszahl Estlands etwa 70.000 bis 100.000, was wahrscheinlich nur ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung Mitte des 16. Jahrhunderts entsprach.65 Nach dem Tiefpunkt der Einwohnerzahl zu Beginn des 18. Jahrhunderts, der auf Krieg und Krankheiten zurückzuführen ist, erholte sich das Land in der zweiten Hälfte des Säkulums. Ohne Berücksichtigung des Militärs stieg die Bevölkerungszahl auf etwa 167.000 im Jahre 1772.66 Davon machten die Stadtbewohner nur einen Bruchteil aus, obwohl ihre Zahl von insgesamt 10.000 in den 1720er-­Jahren auf 23.000 im Jahre 1782 kletterte.67 Tatsächlich gilt diese Zahl jedoch nur für die Städte des heutigen Nationalstaats Estland, da beispielsweise Narwa oder Dorpat ebenso in die Statistik eingeflossen sind. Demnach war Dorpat 1782 mit gut 3.400 Einwohnern die zweitgrößte Stadt hinter Reval. Es folgten Narwa (3.000), Pernau (2.000) und Arensburg (1.400).68

4. Stralsund Das 1234 nach lübischem Recht gegründete Stralsund etablierte sich aufgrund seiner geographisch vorteilhaften Lage und der Zugehörigkeit zur Hanse im Spätmittelalter als wirtschaftliches Zentrum. Hier erhielten Kaufleute einen direkten Zugang zum offenen Meer und fanden ein fruchtbares Hinterland einschließlich Rügens vor. Gleichzeitig konnte die Stadt am Strelasund als Bindeglied zwischen Danzig und Hamburg fungieren.69 Bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts wuchs Stralsund auf etwa 13.000 Einwohner und zählte am Ende des Säkulums sogar noch ein- bis zweitausend Personen mehr. Aus dieser Zeit datiert die erste kulturelle Blüte der Hansestadt, da prachtvolle Profanbauten wie die Nordfassade des Rathauses oder Sakralbauten wie die Marienkirche entstanden.70 Darüber hinaus

64 Otto-­Heinrich Elias: Aufklärungsbedingte Wandlungen des wirtschaftlichen Denkens in Estland, in: Nordost-­Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte NF 7/1 (1998), S. 195 – 218. 65 Kahk/Tarvel: An Economic History, S. 14. 66 Csaba Janos Kenez: Beiträge zur Bevölkerungsstruktur von Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1754 – 1804), Marburg 1978, S. 20. 67 Kahk/Tarvel: An Economic History, S. 78. 68 Raimo Pullat: Die Stadtbevölkerung Estlands im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Abteilung Universalgeschichte, 38), Mainz 1997, S. 21 – 57, bes. S. 26. 69 Hans-­Joachim Hacker: Die Stadt Stralsund in der frühen Schwedenzeit (1630 – 1690), Diss. phil Greifswald 1982, S. 1. 70 Konrad Fritze: Entstehung, Aufstieg und Blüte der Hansestadt Stralsund, in: Ewe (Hrsg.): Geschichte, S. 9 – 102, hier S. 88 – 102.

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spiegelt noch heute ein Teil des Kircheninterieurs der Nikolaikirche den Glanz des Spätmittelalters wider.71 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kristallisierten sich zwischen dem Stadtrat auf der einen sowie der Bürgerschaft und dem pommerschen Herzog auf der anderen Seite zunehmend Spannungen heraus, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts eskalierten und erst mit dem Erbvertrag (1615) und dem Bürgervertrag (1616) beruhigt werden konnten.72 Innerhalb der städtischen Hierarchie bildeten die Ratsherren, oft auch als „Ratsverwandte“ bezeichnet, die soziale Elite. Sie verfügten über einen nennenswerten Immobilienbesitz und betätigten sich als Kaufleute oder Juristen. Zusammen stellten sie die oberste gesetzgebende, juristische und polizeiliche Körperschaft dar. Neben diesem Stadtrat gab es viele nicht ratsfähige Bürger, die nur wenig oder gar keinen Einfluss auf die Entscheidungen des Rats nehmen konnten. Die Bürger ohne Zugang zum Rat bildeten trotz ihrer sozialen Heterogenität formal einen einheitlichen Stand. Hatten wohlhabende Gewandscheider und Brauer noch am ehesten die Möglichkeit in den Kreis der Ratsfamilien aufzusteigen, blieb dies den Angehörigen der „kleinen“ Gewerke (z. B. Knochenhauer, Tischler oder Seiler) verwehrt. Da die Besteuerung der Bevölkerung auf diese Unterschiede keine Rücksicht nahm und insbesondere die begüterte Rats- und Bürgerschicht begünstigte, entwickelte sich am Anfang des 17. Jahrhunderts eine innerstädtische Opposition gegen den Rat, der sich der pommersche Herzog Philipp Julius (1592 – 1625) anschloss. Von der Einschränkung der Ratsprivilegien versprach sich der Landesfürst einen besseren Zugriff auf die Stadt.73 Der zwischen Rat, Philipp Julius und Vertretern der Bürgerschaft geschlossene Erbvertrag von 1615 verpflichtete die Stadt zur Treue gegenüber dem Herzog. Dass der Rat gegenüber dem Landesherrn deutlich an Einfluss einbüßte, verdeutlicht beispielsweise die Ergänzung des Bürgereides: Nun musste jeder Neubürger zuerst dem Landesherrn und erst dann dem Rat Gehorsam schwören. Die sozialen und verfassungsrechtlichen Streitigkeiten innerhalb der Stadt regelte der Bürgervertrag von 1616, der bis 1870 Gültigkeit behielt. Zunächst einmal sah der Vertrag ein sozial gerechteres Steuersystem vor, bei dem Vermögende deutlich mehr bezahlen mussten als „Unvermögende“. Des Weiteren verlor der Rat, bestehend aus vier Bürgermeistern, zwei Syndici (Rechtsgelehrte) und 14 Ratsherren, gegenüber der Bürgerschaft an Macht, konnte aber weiterhin wichtige Kompetenzen für sich beanspruchen, zu denen die Rechtsprechung und die Oberaufsicht über die Verwaltung, die Führung des Kriegswesens und die Repräsentation nach außen gehörten. Zudem galt bei dem Rat das Prinzip der Selbstergänzung, nach dem dieser eigenständig neue Ratsmitglieder aus 71 Zur Nikolaikirche vgl.: Sabine-­Maria Weitzel: Die Ausstattung von St. Nikolai in Stralsund. Funktion, Bedeutung und Nutzung einer hansestädtischen Pfarrkirche, Kiel 2011. 72 Für derartige Auseinandersetzungen in anderen vorpommerschen Städten vgl.: Rudolf Biederstedt: Die Entstehung ständiger Bürgervertretungen in Greifswald und anderen vorpommerschen Städten: 1600 – 1625, Köln/Wien 1993. 73 Herbert Langer: Innere Kämpfe und Bündnisse mit Schweden. Ende des 16. Jahrhunderts bis 1630, in: Herbert Ewe (Hrsg.): Geschichte der Hansestadt Stralsund (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Stralsund, Bd. 10), Weimar 1984, S. 137 – 167, hier S. 146 – 150.

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den Kandidaten der Bürgermeister wählte. Die Vertretung der Bürgerschaft übernahm das Kollegium der Hundertmänner, die u. a. die Achtmänner nominierten, die die alltägliche Führung der städtischen Hauptkasse beaufsichtigten. Die aus Ratsherren und Bürgern bestehende Achtmannskammer übernahm die jährliche Rechnungsprüfung.74 Obwohl der Bürgervertrag auf den ersten Blick eine breite Teilhabe der Bevölkerung an der Stadtpolitik suggeriert, stellten die Entscheidungsträger doch einen exklusiven Kreis dar. Denn nur Personen des ersten Grades durften dem Rat angehören und auch die überwiegende Mehrheit der bürgerlichen Deputierten gehörte dieser Schicht an. Insgesamt gliederte sich die Stadtgesellschaft in drei Bürgergrade. Im ersten befanden sich der Kaufmannstand, Mitglieder der Kompanien der Gewandschneider, Brauer, Mälzer und Krämer sowie Doktoren, Advokaten, Apotheker und Inhaber von Landgütern. Der zweite Stand setzte sich u. a. aus den „Viergewerken“ (Festbäcker, Schuster, Schneider und Schmiede), den meisten anderen Handwerksämtern sowie Schiffern, Schreibern und Musikern zusammen. Zum dritten Grad zählten Hauszimmerleute, Maurer, weniger bedeutende Handwerksämter, Schornsteinfeger, Fuhrleute, Fischer, Krüger und noch andere Personengruppen.75 Die soeben umrissenen Konflikte sind nicht nur im Rahmen der Stadtgeschichte zu fassen, sondern müssen zudem auf die strukturell veränderten Bedingungen im Übergang zwischen dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit gesehen werden. Der Ausbau der fürstlichen Macht, die europäische Expansion, die Preisrevolution und der Frühkapitalismus sollten stichwortartig darauf hinweisen, dass sich die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen im Umbruch befanden, die Stralsund ebenso betrafen wie die Hanse.76 Zwar konnten sich einzelne Städte wie Hamburg (Atlantikhandel) oder Danzig (Getreideexport) den veränderten Verhältnissen anpassen und von diesen sogar profitieren, der Stadt am Sund gelang dies jedoch nicht.77 Neben dem Niedergang der Hanse verursachte der Dreißigjährige Krieg, in dem kaiserliche Truppen Stralsund 1628 erfolglos belagerten, und dessen Folgen weitere Hemmnisse für eine florierende Wirtschaft. Da Stralsund zusammen mit dem westlichen Teil Pommerns an Schweden fiel, spürte man die Konsequenzen der Politik des Königreichs Schweden hier ebenfalls, das bis zum Großen Nordischen Krieg die Vormachstellung im Ostseeraum innehatte.78 Angefangen von der Einquartierung einiger hundert bis mehrerer tausend Soldaten und den damit zusammenhängenden finanziellen Belastungen und sozialen Spannungen innerhalb der Stadtbevölkerung über den Ausbau der Festungsanlagen bis hin zur unmittel 74 Stefan Kroll: Stadtgesellschaft und Krieg. Sozialstruktur, Bevölkerung und Wirtschaft in Stralsund und Stade 1700 bis 1715 (= Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 18), Göttingen 1997, S. 124 – 131. 75 Ebd., S. 120. 76 Stephan Selzer: Die mittelalterliche Hanse, Darmstadt 2010, S. 104 – 112. 77 Inachin: Pommern, S. 101. 78 Zur Belagerung Stralsund s.: Wilson: Europe’s Tragedy, S. 428 – 432; Herbert Langer: Wallenstein in Pommern, in: Olesen (Hrsg.): Terra felix Meckenburg, S. 159 – 173.

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baren Teilnahme an unterschiedlichen Kriegen wirkte sich der erste Teil der Schwedenzeit (1628 – 1715) auf die Stadtentwicklung entscheidend aus.79 Die Tiefpunkte der politischen Zugehörigkeit stellten die Belagerungen von 1678 und 1715 dar. Vor allem die Beschießung durch brandenburgische Truppen 1678, bei der 285 „Häuser“, 476 „Buden“ und 194 „Keller“ unbrauchbar gemacht wurden, erwies sich in Verbindung mit einem Stadtbrand zwei Jahre später, dem weitere 48 Häuser, 89 Buden und 82 Keller zum Opfer fielen, als tiefgreifender Einschnitt.80 Laut einer offiziellen Zählung des Jahres 1665 verfügte die Stadt über 523 Häuser, 923 Buden und 469 Keller 81, sodass nach den Ereignissen von 1678/80 mehr als die halbe Stadt wieder aufgebaut werden musste. Die Belagerung von 1715, worauf Stralsund samt Vorpommern für fünf Jahre unter dänische Herrschaft geriet,82 verlief glimpflicher für die Stadt. Allerdings hatte Stralsund bereits die nur wenige Jahre vorher wütende Pest zusammen mit einer Pockenepidemie signifikant geschwächt. So verringerte sich die Zahl der kopfsteuerpflichtigen Haushalte von 1.609 im Jahre 1702 um mehr als 40 Prozent auf 959 sieben Jahre später.83 Aufgrund der beschriebenen Ereignisse verwundert es nicht, wenn die ehemals prosperierende Hansestadt nicht an ihre einstige wirtschaftliche Stärke anknüpften konnte. Neben den verheerenden Ereignissen zwischen 1628 und 1715 setzte die geographische Lage der Handelsentwicklung zusätzliche Grenzen. Da Stralsund keine Wasserwege ins pommersche oder mecklenburgische Hinterland besaß, blieb das Einzugsgebiet der Getreideproduktion beschränkt; der Transport schwerer Massengüter auf dem Landweg wäre zu aufwendig gewesen. Damit hatte die Stadt gegenüber Hamburg, Bremen, Danzig oder Stettin einen Wettbewerbsnachteil. Darüber hinaus verringerte sich das ohnehin schon begrenzte Hinterland mit den Gebietsverlusten des Großen Nordischen Krieges.84

79 Hans-­Joachim Hacker kommt zu dem Ergebnis, dass die Politik des Stralsunder Rates, der schwedischen Könige und deren Regierungen zwischen 1630 und 1720 dazu führte, „daß von der einst blühenden Handelsstadt nur noch ein zerrüttetes Gemeinwesen übriggeblieben war.“ Hans-­Joachim Hacker: Stralsund von 1630 – 1720, in: Ewe (Hrsg.); Geschichte der Stadt Stralsund, S. 168 – 201, hier S. 196. 80 Stefan Kroll und Gyula Pápay: Wohnen und Wirtschaften in Stralsund um 1700. Ein Historisches Stadtinformationssystem, in: Kersten Krüger u. a. (Hrsg.): Stadtgeschichte und Historische Informationssysteme. Der Ostseeraum im 17. und 18. Jahrhundert, Münster 2003, S. 90 – 135, hier S. 107. 81 Herbert Langer: Stralsund 1600 – 1630. Eine Hansestadt in der Krise und im europäischen Konflikt, Weimar 1970, S. 20. 82 Ausführlich zur dänischen Verwaltung Vorpommerns vgl.: Meier: Vorpommern nördlich der Peene. 83 Kroll: Stadtgesellschaft und Krieg, S. 116; zusätzlich zur Pest in Stralsund s.: Jörg Zapnik: Pest und Krieg im Ostseeraum. Der „Schwarze Tod“ in Stralsund während des Großen Nordischen Krieges (1700 – 1721), Hamburg 2007. 84 Langer: Innere Kämpfe und Bündnisse, S. 141; Reinhard Kusch: Stralsund von 1720 bis 1815, in: Ewe (Hrsg.): Geschichte der Stadt Stralsund, S. 202 – 233, hier S. 202.

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Seit dem Mittelalter basierte die Wirtschaft vor allem auf den Fernhandel über See, während sich der Landhandel weit weniger ausgeprägte. Stralsunder Schiffe verkehrten von England und Schottland im Westen bis Russland im Osten, wobei der Binnenhandel auf der Ostsee eine herausragende Stellung einnahm; vor dem Dreißigjährigen Krieg machte dieser weit über 50 Prozent des Fernhandels aus. Man exportierte besonders Getreide oder verarbeitete Getreideprodukte (Malz, Mehl, Bier). Dafür erhielt man Fisch, Salz, Wein, Textilien oder Kolonialwaren. Die Kaufleute pflegten gute Beziehungen mit Danzig, Riga, Reval und Lübeck, aber zunehmend auch mit Schweden (z. B. Stockholm und Kalmar).85 Bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts belegte Stralsund hinter den Städten Lübeck und Danzig sowie der Provinz Holland und dem Königreich Dänemark den fünften Platz im schwedischen Handel.86 Nachdem die Sundstadt unter schwedische Herrschaft kam, intensivierten sich die Handelsbeziehungen zu Schweden. Im Jahre 1706 steuerten beispielsweise fast die Hälfte der auslaufenden Schiffe Schweden an.87 Getreide und insbesondere Malz blieben die Hauptexportgüter, während die Ausfuhr von Bier geringer ausfiel.88 Insgesamt entwickelte sich der bereits vor der Schwedenzeit rückläufige Seehandel im 17. und 18. Jahrhundert kaum, da Schweden lange eine für Stralsund eher nachteilige merkantilistische Handelspolitik vertrat und die konservative Stralsunder Kaufmannschaft liberale Neuerungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verhinderte.89 Die innerstädtische Warenproduktion wurde ebenfalls von der weitgehend intakten Zunftverfassung gehemmt. Diese erklärt zudem, weshalb die Gründung von Manufakturen erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nur mit mäßigem Erfolg voranschritt. Eine Wollmanufaktur verzeichnete zwar zwischen 1746 und 1754 eine gute Entwicklung und beschäftige zu Spitzenzeiten bis zu 800 Arbeiterinnen. Doch letztlich scheiterte das Unternehmen an der illegalen Einfuhr fremder Waren und den Auseinandersetzungen mit den Raschmachern, d. h. den zünftisch organisierten Produzenten von groben Wollstoffen. Auch eine 1755 gegründete Fayencemanufaktur ging bis zum Ende des 18. Jahrhundert wieder ein. Hierbei trug die traditionelle Wirtschaftsordnung jedoch keine Schuld, da die Fayenceherstellung außerhalb der herkömmlichen Gewerbestruktur produzierte. Vielmehr sättigte die englische Konkurrenz mit billigem Steingut die potenziellen Absatzmärkte.90 Ungeachtet des wirtschaftlichen Bedeutungsrückganges blieb Stralsund der wichtigste Ex- und Importhafen Schwedisch-­Pommerns, der sich insbesondere nach der Beendigung des Großen Nordischen Krieges wieder erholte. Dennoch musste die Stadt weitere 85 Langer: Innere Kämpfe und Bündnisse, S. 140. 86 Johannes Schildhauer: Die Stadt im 16. Jahrhundert, in: Ewe (Hrsg.): Geschichte der Stadt Stralsund, S. 119. 87 Kroll: Stadtgesellschaft und Krieg, S. 76. 88 Kusch: Stralsund von 1720 bis 1815, S. 202. 89 Einen grundlegenden Einblick bietet noch immer: Lotte Müller: Die Entwicklung des Stralsunder Seehandels in der Zeit der schwedischen Herrschaft (1648 – 1814), Diss. phil. Königsberg 1925 (in AUBGr). 90 Kusch: Stralsund von 1720 bis 1815, S. 211 – 222.

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Rückschläge verkraften, zu denen insbesondere die sechsmonatige Blockade durch das preußische Heer während des Siebenjährigen Krieges (1756 – 1763) zählte. Statt Getreide zu exportieren, sahen sich die Stralsunder gezwungen, welches aus Riga, Königsberg und Danzig zu importieren.91 Stralsund stellte mit 14.000 bis 15.000 Einwohnern Anfang des 17. Jahrhunderts das größte urbane Zentrum der Region dar,92 verlor aber im folgenden Säkulum einen Teil seiner Bevölkerung. Aufgrund der 1677 bevorstehenden Belagerung ließ der Stralsunder Stadtrat die Bevölkerung zählen und kam auf rund 8.500 Stadtbewohner und etwas über 2.100 „Fremde“, d. h. in der Stadt schutzsuchende Personen. Am Anfang des 18. Jahrhunderts verringerte sich die Einwohnerzahl durch Missernten, Pocken und Pest noch einmal deutlich.93 Nach diesem Tiefstand stieg die Zahl der Einwohner im Jahre 1767 auf knapp 9.70094 und 1782 auf etwa 10.600 an.95 Es dauerte aber bis zum ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, bis Stralsund erneut eine Einwohnerzahl von 14.000 Personen erreichte.

5. Reval In der Stadtgeschichte Revals fällt der markante Unterschied zu Stralsund auf, dass sich Reval schon im 13. Jahrhundert aus zwei unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungsbereichen zusammensetzte, zwischen denen eine an zwei Stellen unterbrochene Mauer verlief. Auf dem Domberg befand sich die Oberstadt, die sich ab 1219 als Residenz der im Verlauf der Zeit wechselnden Landesherrschaften, des Adels und des Revaler Bischofs entwickelt hatte; sie fußte auf dem Land- bzw. Kirchenrecht. Die sogenannte Unter- oder Bürgerstadt erhielt 1248 das Lübische Stadtrecht und kann als „eigentliche“ Stadt Reval bezeichnet werden, da hier die meisten Menschen lebten, die zudem das wirtschaftliche Leben entscheidend prägten. Diese Unterscheidung dauerte mit Ausnahme der Statthalterschaft Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Einführung der Stadtrechtsreform von 1877.96 Trotz dieser grundsätzlichen Differenzierung innerhalb der Stadt verliefen die verfassungsrechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungslinien der Revaler Unterstadt verglichen mit Stralsund sehr ähnlich. Reval behauptete seine städtische Autonomie, die beispielsweise eine eigenständige Verwaltung, Justiz und Wirtschaft ermöglichten, zwischen dem 13. und 19. Jahrhundert. Daran änderten auch die wechselnden Landesherrschaften 91 92 93 94 95 96

Müller: Die Entwicklung des Stralsunder Seehandels, S. 74. Langer: Innere Kämpfe, S. 139. Kroll: Stadtgesellschaft und Krieg, S. 104 – 109 und 115. Buchholz: Öffentliche Finanzen, S. 77. Dähnert: Sammlung, Bd. 3, S. 415 – 418. Grundsätzlich zu dieser Entwicklung: Bradley D. Woodworth: Administrative Reform and Social Policy in the Baltic Cities of the Russian Empire. Riga and Reval, 1870 – 1914, in: Jahrbücher für Europäische Verwaltungsgeschichte 16 (2004), S. 111 – 150; Heinrich Sielmann: Die Verfassung der Stadt Reval bis zur endgültigen Beseitigung des Rats im Jahre 1889 unter besonderer Berücksichtigung nationalpolitischer Gesichtspunkte, Würzburg 1935, bes. S. 12 – 20.

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grundsätzlich nichts. An der Spitze der Stadt stand ein gewählter Rat, für den nur Bürger mit bestimmten Voraussetzungen in Frage kamen. Sie mussten Eltern aus freiem Stand in rechtmäßiger Ehe vorweisen und innerhalb der Stadtmauern ein Grundstück besitzen, das nicht in Verbindung mit der Ausübung eines Handwerks stehen durfte.97 Der Stadtrat übernahm die Verantwortung für das Rechtswesen und die Verwaltung, die besonders finanzielle und militärische Aufgaben beinhaltete. Er verfolgte das Ziel, die Ordnung und Wohlfahrt der Gemeinschaft zu erhalten und den Frieden zu sichern. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts bestand der Rat aus vier Bürgermeistern und 14 Ratsherren, zu denen 100 Jahre später ein Syndikus hinzutrat, der als Rechtsgelehrter und gleichzeitig als Direktor der städtischen Kanzlei diente. Zusammen mit den amtierenden Bürgermeistern ernannten sie die neuen Stadtvertreter. Der Rat rekrutierte sich aus einer kleinen Oberschicht, die mehrheitlich aus deutschen Kaufleuten bestand und verzweigte verwandtschaftliche Verbindungen aufwies.98 Die Bürgerschaft setzte sich allgemein fast ausschließlich aus deutschen Kaufleuten oder Handwerkern zusammen, während Leibeigene in jedem Fall estnischer Herkunft waren.99 Nach dem Rat bildeten die Große Gilde, die mit dem Korps der Schwarzhäupter enge Verbindungen aufwies, und die beiden kleinen Gilden die anderen Stände der Bürgerschaft. Die Große Gilde galt als vornehmste und einflussreichste Berufskorporation, die de facto nur verheiratete Söhne von Gildenbrüdern mit Immobilienbesitz aufnahm oder ortsfremde Kaufleute oder Literaten, die eine Tochter eines Gildenbruders geheiratet hatten. Sie pflegten regen Kontakt mit dem Rat und stellten in ihrer Geschichte zahlreiche Bürgermeister und Ratsherren.100 Dem Korps der Schwarzhäupter gehörten traditionell unverheiratete Kaufmannsgesellen an, die aufgrund des fehlenden Bürgerrechts noch nicht in die Große Gilde aufgenommen werden durften.101 Die beiden kleinen Gilden, die Knuds- und die Olafsgilde, setzten sich aus den Meistern der kleineren Kaufmanns- und Handwerkszünfte zusammen. Die Knudsgilde 102 rekrutierte 97 Sielmann: Die Verfassung der Stadt Reval, S. 25; für die Voraussetzungen zum Erwerb des Bürgerrechts vgl.: Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 10 – 13. 98 Sielmann: Die Verfassung der Stadt Reval, S. 25 – 32. Im Jahre 1782 zählte Reval 774 männliche Vertreter der Oberschicht, unter denen sich nur 78 russische Kaufleute befanden. Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 7. 99 Zur Sozialstruktur und der politischen Verfassung Revals vgl.: Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 10 – 40. 100 Stefan Hartmann: Reval im Nordischen Krieg (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 1), Bonn 1975, S. 62 – 64. 101 Zur Großen Gilde vgl. Ival Leimus u. a.: Tallinna Suurgild ja gildimaja [Die Tallinner Große Gilde und das Gildenhaus], Tallinn 2011; zu den Schwarzhäuptern vgl. grundlegend: Stadtarchiv Tallinn (Hrsg.): Tallinna Mustpead. Mustpeade vennaskonna ajaloost ja varadest [Die Revaler Schwarzhäupter. Geschichte und Schätze der Bruderschaft der Schwarzhäupter], Tallinn 1999. 102 In der deutsch-­baltischen und estnischen Forschung wird häufig von der Kanutigilde (Kanuti gild) gesprochen, während man in der deutschen Forschung eher die Bezeichnung Knudsgilde

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sich aus den größeren und vornehmeren Ämtern (u. a. Bäcker, [Gold-]Schmiede und Schneider), während sich die Olafsgilde, der auch Esten angehören konnten, aus Männern der mit geringerem Ansehen ausgestatteten Ämtern zusammensetzte (u. a. Fleischer, Böttcher, Kürschner und Sattler). Ende des 17. Jahrhunderts befahl eine königliche Resolution die Vereinigung beider Gilden, wobei die Esten nicht in diese aufgenommen wurden. Weder vor noch nach der Zusammenlegung waren die Gildenbrüder ratsfähig, besaßen aber für die Finanzverwaltung der Stadt wichtige Kontrollfunktionen.103 Die unterschiedlichen Körperschaften vereinten Bürgerstände, die sich mittels eines äußerlich zur Schau gestellten Standesbewusstseins voneinander abgrenzten. Beispielsweise durfte niemand von den Schwarzhäuptern mit jemanden von der Knudsgilde trinken. Außerdem wollten Erstere nicht zusammen mit den Handwerkern bei der feierlichen Einholung des Monarchen auftreten.104 Die ständische und städtische Ordnung blieb grundsätzlich bis zum Anfang der 1780er-­ Jahre intakt. Zwar hatte schon der schwedische König Karl  XI. 1687 einen sogenannten Justizbürgermeister gegen den Willen des Rates ernannt, der als königlicher Kommissar die justizielle Zuständigkeit des Rates übernahm. Aber derartige Eingriffe wirkten auch aufgrund der wechselnden Landesoberhäupter nicht dauerhaft.105 Deutlich schwerer wogen die Reformen Katharinas II. während der bereits erwähnten Statthalterschaftszeit. Zunächst wurde 1782 das städtische Zollwesen der staatlichen Verwaltung zugeordnet. Ein Jahr später stellte man das Steuersystem dahingehend um, dass es die traditionelle Ständestruktur angriff. Nun konnte jeder dem einst exklusiven Kaufmannsstand angehören, sofern er sich bereit erklärte, die notwendige Vermögenssteuer zu entrichten. Bei der Wahl für die Positionen der neuen Statthalterschaftsinstitutionen durften erstmals Personen wählen, die keiner Gilde angehörten. In der Praxis erwiesen sich diese revolutionären Umwälzungen als bedingt wirkmächtig, da Paul I. zentrale Punkte der Reformen bereits 1796 zurücknahm. Nicht zu unterschätzen ist dennoch der Anschluss Revals an das russische Zollsystem, womit die Stadt aus wirtschaftlicher Perspektive ihrer provinziellen Isolation entkam. Dagegen blieb die traditionelle Führungsschicht vor, während und nach der

findet. Hier wird sich der zweiten Variante angeschlossen. Für einen aktuellen Überblick über diese Gilde im Spätmittelalter s.: Lars Bisgaard: The Transformation of St. Canute Gilds in the Late Middle Ages, in: Jörg Hackmann (Hrsg.): Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge, Wien/Köln/Weimar 2012, S. 77 – 92. 103 Hartmann: Reval, S. 65 – 67; einen guten Überblick über die Revaler Gilden bietet auch: Anu Mänd: Geselligkeit und soziale Karriere in den Revaler Gilden und der Schwarzhäupterbruderschaft. Kaufmannsassoziationen und der soziale Aufstieg eines Kaufmanns im spätmittelalterlichen Reval, in: Hackmann (Hrsg.): Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa, S. 39 – 76. 104 Ebd., S. 69. 105 Die Position des Justizbürgermeisters bestand bis 1710. Vgl.: Mühlen: Das Ostbaltikum, S. 220.

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Statthalterschaftsperiode weitgehend unter sich und räumte den „Undeutschen“ keinerlei gesellschaftliche Partizipationsrechte ein.106 Aus wirtschaftlicher Perspektive präsentierte sich Reval seit dem Mittelalter als ein wichtiges Handelszentrum an der Südküste des Finnischen Meerbusens; erst später wurde die ökonomische Bedeutung der Stadt zunächst von Riga und im 18. Jahrhundert von St. Petersburg übertroffen. Reval entwickelte sich zu einem zentralen Umschlagsplatz des Russlandhandels, besonders als Zar Iwan III. 1494 das Hansekontor in Novgorod schloss und zerstörte. Zudem besaß die Stadt eine Monopolstellung in Narwa, was dem Ausbau des Russlandhandels zusätzlich zugutekam. Eine Verordnung von 1516 verbot den Handel von fremden Händlern untereinander, weshalb die Revaler Bürger den Profit aus dem Zwischenhandel einstrichen. Nachdem die Lübecker gegen diese Politik lange erfolglos protestiert hatten, umgangen sie Reval und handelten direkt mit Russland; Reval war handelspolitisch isoliert. Die Situation verschlechterte sich 1558 mit dem Ausbruch des Livländischen Krieges.107 Zwischen 1561 und 1710/1721 setzte sich der Niedergang des Handels fort, da die schwedische Krone eine merkantilistische Wirtschaftspolitik betrieb. In Form von Zöllen und Steuern schöpfte man die städtischen Handelsgewinne ab, sodass Reval mit der schwindenden ökonomischen Autonomie gleichzeitig an Wirtschaftskraft verlor.108 Dagegen profitierte Narwa wirtschaftlich von der politischen Situation im 17. Jahrhundert, da die Stadt als einzige in Altlivland direkt den schwedischen Zentralbehörden unterstellt wurde. Narwa erhielt dadurch beispielsweise das Handelsmonopol für Salz, Hering, Wein und Tabak mit dem russischen Markt. Darüber hinaus konnte die Stadt wegen der liberalen schwedischen Wirtschaftspolitik aus der steigenden westeuropäischen Nachfrage nach Getreide und Schiffsbaumaterialien erheblichen Nutzen ziehen.109 Im 18. Jahrhundert hatte die Stadt ihre frühere Bedeutung insbesondere im Fernhandel eingebüßt und stagnierte wirtschaftlich auf relativ niedrigem Niveau. Dem städtischen

106 Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 194 – 195. Insgesamt sollte der nachhaltige Einfluss der Reformen, wie bereits in Abschnitt 1.2 dargestellt, nicht außer Acht gelassen werden. 107 Johansen/ Mühlen: Deutsch und Undeutsch, S. 70 – 72. 108 Arno Weinmann: Reval 1646 bis 1672. Vom Frieden von Brömsebro bis zum Beginn der selbständigen Regierung Karls  XI ., Bonn 1991, S. 11 – 35; Brüggemann/Tuchtenhagen, Tallinn, S. 98. 109 Grundlegend zum Einfluss der schwedischen Wirtschaftspolitik auf Narwa vgl.: Enn Küng: Rootsi majanduspoliitika Narva kaubanduse küsimuses. 17. sajandi teisel poolel [Die schwedische Wirtschaftspolitik in Narwa bezüglich der Handelsfragen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts] (= Scripta Archivi Historici Estoniae), Tartu 2001, (mit englischsprachiger Zusammenfassung, S. 349 – 358); in deutscher Sprache: Ders.: Die schwedische Ostseepolitik, die internationale Handelskonjunktur und die Entstehung der Narvaer Handelsflotte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Forschungen zur Baltischen Geschichte 3 (2008), S. 87 – 102.

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Handwerk erging es nach dem Großen Nordischen Krieg nicht besser.110 Für die regionale Wirtschaft Estlands blieb Reval allerdings vor allem als Importhafen wichtig; hinter St. Petersburg und Riga belegte dieser die dritte Position. Aber als Exporthafen – das Gros der Ausfuhr beschränkte sich auf Branntwein und Getreide – konnte Reval in der Regel nicht einmal mit Narwa oder Pernau mithalten. Obwohl für den Rückgang des Handelsvolumens vielerlei (handels-)politische Gründe existierten,111 hatte Reval darüber hinaus den Nachteil, dass es – anders als z. B. in Riga – keinen schiffbaren Fluss ins Hinterland gab. Immerhin wies Reval im Vergleich mit St. Petersburg den Vorteil auf, dass der Hafen lange eisfrei blieb. Deshalb löschte man die Waren für die russische Metropole in Reval.112 Die Entwicklung der Bevölkerungszahl spiegelt weitgehend die wirtschaftliche Entwicklung wider. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hatten Dom- und Unterstadt 5.000 Einwohner.113 Diese Zahl wuchs bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf etwa 6.700 Menschen an, die sich wie folgt verteilten: In der Unterstadt lebten 5.000 und in der Domstadt 1.000 Personen, während in den Vorstädten 700 Menschen angesiedelt waren.114 Mit den Vorstädten, der Unter- und der Oberstadt hatte Reval 1708 zwar noch 9.800 Bewohner, von denen sich aber fast 4.700 in den Vorstädten niedergelassen hatten, während die Unterstadt nur etwa 4.500 Personen zählte. Wegen der Folgen des Krieges und der Pest verringerte sich die Bevölkerung bis 1711 auf kaum mehr als 1.700 Menschen in der Unterstadt. Der schlimme Zustand der Stadt in diesem Jahr lässt sich auch daran ablesen, dass sich in der Unterstadt über 100 wüste Steinhäuser befanden.115 Davon erholte sich Reval innerhalb der nächsten 50 Jahre, sodass Unterstadt (5.638) und Dom (1.107) über 6.700 Einwohner zählten. 1782 betrug die Bevölkerungszahl ohne Adel und Militär aber mit den Vorstädten bereits über 10.000 und stieg bis 1816 auf fast 12.000 Menschen an.116 Die Angabe für das Jahr 1782 beruht auf einer Steuerrevision, an der man zudem die nationale Zusammensetzung der männlichen Bevölkerung rekonstruieren kann. Demnach betrug der Anteil der Russen 38 %, der Deutschen 30,5 %, der Esten 22 % und der Schweden 9,5 %. Dabei gilt es zu beachten, dass die Mehrheit der Russen sogenannte 110 Stefan Hartmann: Revaler Handwerker im Spiegel der Ratsprotokolle von 1722 bis 1755, in: Norbert Angermann u. a. (Hrsg.): Ostseeprovinzen, Baltische Staaten und das Nationale. Festschrift für Gert von Pistohlkors zum 70. Geburtstag, Münster 2005, S. 89 – 112. 111 Hier sei nur an die Auseinandersetzungen um die Aufteilung der Privilegien der Kaufmannschaft erinnert. Vgl. dazu exemplarisch: Gottfried Etzold: Die Nürnberger Krämer- und Bauernhändler-­Kompagnie in Reval 1743 – 1785, in: Jürgen von Hehn und Csaba János Kenéz (Hrsg.): Reval und die Baltischen Länder. Festschrift für Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag, Marburg 1980, S. 313 – 327. 112 Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 41 – 44. 113 Johansen/Mühlen: Deutsch und Undeutsch, S. 93. 114 Ebd., S. 92. 115 Zur Pest in Reval vgl. bspw.: Zapnik: Pest und Krieg im Ostseeraum, S. 46 – 57; Hartmann: Reval, S. 22 – 25. 116 Grundlegend zur Bevölkerungsstruktur Revals: Csaba János Kenéz: Beiträge zur Bevölkerungsstruktur von Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (1754 – 1804), Marburg 1978.

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„Katharinenthaler Bauern“ waren, die man wohl mehrheitlich nicht zur Stadtbevölkerung rechnen kann. Zwar besaßen sie weitgehende Freiheiten, dank derer sie in Reval Handel und Gewerbe treiben durften, und eine Minderheit von ihren besaß in der Vorstadt ein Haus. Allerdings wohnten sie außerhalb der Stadt und unterstanden der Aufsicht eines Ökonomiedirektors. Ohne die Kathaninenthaler Bauern ergibt sich folgende nationale Zusammensetzung: Deutsche 48,1 %, Esten 34,9 % Schweden 14,9 % und Russen 2,2 %.117 Reval blieb trotz aller Krisen die größte Stadt Estlands während des Untersuchungszeitraums, da nur wenige Orte über 1.000 Menschen beherbergten und einige urbane Zentren wie Wesenberg, Hapsal oder Weißenstein eher Dörfern glichen. Deutlich mehr Einwohner im näheren Umfeld zählten nur das 300 Kilometer südlich gelegene Riga bzw. das 350 Kilometer östlich verortete St. Petersburg. Die Bevölkerungszahl Revals glich der Stralsunds und befand sich damit auf einem ähnlichen Niveau mit Städten wie Frankfurt an der Oder, Halberstadt oder Freiburg.118

117 Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 7. 118 Kenéz: Beiträge zur Bevölkerungsstruktur von Reval, S. 15.

III. Glücksspiele Die historische Erforschung des Glücksspiels erfolgte erst in den 1980er-­Jahren verstärkt. Noch 1973 machte der britische Historiker John H. Plumb darauf aufmerksam, dass es keine wissenschaftliche Abhandlung über das Glücksspiel im 18. Jahrhundert gebe.1 Obgleich sich die Forschungslage seitdem verbessert hat,2 verwies der Literaturwissenschaftler Peter Schnyder fast 40 Jahre nach Plumb darauf, dass in den einschlägigen Lexika und Enzyklopädien der Aufklärungsforschung 3 keine Einträge zum Glücksspiel zu finden seien.4 Eine mögliche Erklärung für die Tatsache, dass außerdem viele Überblickswerke dieses Thema aussparen, liegt wahrscheinlich in der Ausrichtung der Forschung selbst. Wer davon ausgeht, im 18. Jahrhundert habe ein Wandel durch Vernunft und die Herausbildung einer rationalen Öffentlichkeit stattgefunden, wird das scheinbar Unvernünftige und Irrationale nur schwer in sein Narrativ integrieren können.5 Dieses Kapitel zielt darauf ab, die standesübergreifenden Freiräume der Glücksspiele darzustellen und gleichzeitig deren unterschiedliche Organisationsformen und Legitimationsstrategien aufzuzeigen. Dafür werden im Folgenden Lotterien als reine Glücksspiele (Kap. 2 bis 5) von Karten- und Würfelspielen (Kap. 6 und 7), die neben dem Zufall auch agonale Elemente beinhalten, unterschieden.6 Zunächst gilt es, für eine angemessene Kontextualisierung der Lotterie die allgemeine Wahrnehmung und Entwicklung der unterschiedlichen neuen Formate darzustellen (Kap. 2). Die vielfältigen Möglichkeiten für Spieler, ihr Geld regelmäßig in moderne Lotterieformate zu „investieren“, führten zu einer kontroversen Diskussion in Stralsund (Kap. 3.1). Trotz dieser Debatte und obwohl bereits vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Lotterien in Stralsund stattfanden, organisierte man erst ab den späten 1760er-­Jahren regelmäßig moderne Lotterieformate unter obrigkeitlicher Aufsicht (Kap. 3.2). Dabei kam es auch zu Auseinandersetzungen zwischen den Stadt- und Landesbehörden (Kap. 3.3). Neben der Obrigkeit versuchte sich die Freimaurerloge Zur Eintracht ebenfalls als Lotterieunternehmerin, was jedoch in einem Desaster endete (Kap. 3.4).



1 John H. Plumb: The Commercialisation of Leisure in Eighteenth-­Century England, Reading 1973, S. 16 in Fußnote 58. 2 Zu nennen ist hier bspw. die von 1991 bis 1998 herausgebe Zeitschrift Homo Ludens. Zudem findet man in der Enzyklopädie der Neuzeit u. a. folgende Einträge: Michaela Fenske: Glücksspiel, in: EdNz, Bd. 4, Darmstadt 2006, Sp. 976 – 979; Michael North: Lotterie, in: EdNz, Bd. 7, Darmstadt 2007, Sp. 1011 – 1013; Ulrike Krampl: Spiel, in: EdNz, Bd.12, Darmstadt 2010, Sp. 337 – 342. 3 Werner Schneiders (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995; Alan Charles Kors (Hrsg.): Oxford Encyclopedia of the Enlightenment, 4 Bde., Oxford 2003; Michel Delons (Hrsg.): Dictionnaire des lumières, Paris 2007. 4 Schnyder: Aufklärung als Glückssache?, S. 37. 5 Zum Forschungsstand zu Aufklärung und Öffentlichkeit vgl. Kap. I. 2.2. 6 Für die Definition und die Kategorisierung des Glücksspiels s. Kap. III.1.

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In Reval entwickelte sich das Lotteriewesen vor allem wegen der Haltung der Kaiserin Katharina II. grundlegend anders als in Stralsund. Im Jahre 1771, als die neuen Lotterien im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation einen Höhepunkt erreichten, untersagte sie die Ausspielung nahezu aller Lotterien, wozu insbesondere Formate mit den größten Spielanreizen zählten. In der Praxis bedeutete das für Reval die Einstellung aller Lotterien (Kap. 4.1). Vor diesem Ukas beheimatete Reval dagegen eine Reihe von unterschiedlichen Lotterien, die teilweise bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert stattfanden (Kap. 4.2). Darüber hinaus veranstaltete die Stadt Zuchthaus- (Kap. 4.3) und Kirchenlotterien (Kap. 4.4). Neben diesen zeitgenössisch populären Glücksspielen existierten weiterhin die traditionellen Waren- oder Jahrmarktslotterien sowie einige weniger erfolgreiche, neue Lotterieformate (Kap. 5). Bei der Analyse der Karten- und Würfelspiele in Stralsund steht nach der Darstellung der gültigen Rechtsnormen (Kap. 6.1) die Umsetzung der Gesetze im Fokus. Erst werden dafür die Strafen für Stralsunder aufgezeigt, die sich in Wirtshäusern zum Spielen trafen (Kap. 6.2). Daran schließt sich ein Beispiel für das Konfliktpotenzial des Glücksspiels zwischen den stationierten Soldaten und den Bürgern Stralsunds an (Kap. 6.3). Einen wichtigen Freiraum des Glücksspiels exemplifizieren die Klubs der Stadt Reval, wo für einen exklusiven Mitgliederkreis eigene Gesetze galten (Kap. 7).

1. Definition und Kategorisierung Beim Glücksspiel handelt es sich um eine spezielle Form des Spiels. Laut dem niederländischen Kulturwissenschaftler Johan Huizinga beschreibt der Begriff keine lediglich von Menschen ausgeführte Tätigkeit, da auch Tiere spielen.7 Doch auf den Menschen verengt, versteht Huizinga das Spiel als eine freie Handlung, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft […].8

Da Huizinga das Glücksspiel in seiner Abhandlung nahezu völlig aussparte, musste seine immer noch instruktive Definition von Spiel, die den Unterschied zum „gewohnten Leben“

7 Huizinga argumentiert, dass das Spielen älter als Kultur sei, „denn so ungenügend der Begriff Kultur begrenzt sein mag, er setzt doch auf jeden Fall eine menschliche Gesellschaft voraus, und die Tiere haben nicht auf den Menschen gewartet, daß diese sie erst das Spielen lehrten.“ Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbeck 1987 (dt. Erstübersetzung 1956, Originalausgabe 1938), S. 189. 8 Ebd., S. 22.

Definition und Kategorisierung

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hervorhebt, teilweise modifiziert werden. Folglich kritisierte der französische Soziologe und Philosoph Roger Caillois zu Recht, dass das Spiel in seiner Ausprägung als Glücksspiel gerade aufgrund seines finanziellen Anreizes durchgeführt werde.9 Caillois schlug stattdessen eine Einteilung der Spiele nach ihren primären Zielen vor. Neben den Verkleidungsspielen (mimicry), zu denen Maskenbälle oder Karnevalsveranstaltungen gehören, und den berauschenden Spielen (illinx), wie Achterbahnfahren oder Tanzen, nennt er zwei für dieses Kapitel wichtige Spielformen: Wettkampf- und Glücksspiele (agon und alea). Konstituierend für die Wettkampfspiele ist die angestrebte völlige Gleichheit der Teilnahmevoraussetzungen, weshalb nur das Können der Spieler über den Ausgang des Spiels entscheiden soll. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise Fußball, Billard und Schach. Dagegen zählt bei Glücksspielen, wie der Lotterie oder dem Roulette, ausschließlich der Zufall, sodass die geistigen und körperlichen Fähigkeiten der Teilnehmenden keinen Einfluss auf das Spielergebnis haben. Agon und alea treten in der Praxis häufig als Mischform u. a. in Karten- und Würfelspielen auf, bei denen Fähigkeits- und Glücksmomente das Ergebnis beeinflussen. So muss man für Poker zwar ein gutes mathematisches Verständnis haben und bluffen können, aber ohne das richtige Blatt wird es selbst für einen Profi unmöglich zu gewinnen. Darüber hinaus verbindet diese beiden Spielformen ein entscheidender Aspekt, der darin besteht, dass es bei ihnen zur „Schöpfung einer vollkommenen Gleichheit unter den Spielern [kommt], einer Gleichheit, die den Menschen in Wirklichkeit versagt bleibt.“10 Sowohl aus Caillois’ als auch aus Huizingas Definition geht eine strikte Unterscheidung zwischen der Welt des Alltags und des (Glücks-)Spiels hervor, weswegen eine deutliche räumliche und institutionelle Trennung beider Bereiche zu vermuten ist. Damit bietet sich die Analyse des Glücksspiels in dieser Studie an, um die Konstituierung, Institutionalisierung und Kommerzialisierung von neuen Freiräumen nachzuzeichnen. Während das tägliche Leben des 18. Jahrhunderts ständische und/oder funktionale Differenzierungen prägten, konnten die Menschen beim Glücksspiel unabhängig von den geltenden gesellschaftlichen Normen für die Dauer des Spiels Freiheit und Gleichheit genießen, weil es seine eigenen Regeln hatte. Neben dem wichtigen monetären Aspekt setzte die Möglichkeit, gesellige und vergnügliche Stunden zu erleben, weitere Anreize, Freiräume des Glücksspiels zu konstituieren. Dem Glücksspiel frönten alle Bevölkerungsschichten von der Antike bis in die Neuzeit,11 wobei die Spielräume häufig nach sozialen Kriterien örtlich getrennt blieben. In

9 Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Stuttgart 1960, S. 11 (Originalausgabe 1958). 10 Ebd., S. 27. 11 Für einen guten Überblick über die Geschichte des Glücksspiels vgl.: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Volles Risiko! Glücksspiel von der Antike bis heute, Leinfelden-­Echterdingen 2008; eine umfassende Lotteriegeschichte für Nordwest- und Südeuropa ab dem Mittelalter bietet: Hans Devisscher (Hrsg.): Lotteries in Europe. Five Centuries of History, Brüssel 1994.

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der Frühen Neuzeit spielten Adlige an Höfen oder in adligen Klubs,12 während mittlere und untere Bevölkerungsteile dies in Wirtshäusern oder auf Jahrmärkten taten.13 Zusätzlich zu der örtlichen Trennung kam hinzu, dass der Gesetzgeber besonders dem niedrigeren Bevölkerungsteil strenge Grenzen in der Ausübung seiner Vergnügungen setzte. Die Obrigkeit reagierte nämlich mit Verordnungen gegen immer populärer werdende neue und alte Formen des Glücksspiels, die das Spielen nur unter strengen Auflagen erlaubten oder gänzlich verboten. Neben Karten- und Würfelspielen standen Lotterien unter strenger Beobachtung,14 setzten sich aber zeitweilig trotzdem, wie noch zu zeigen sein wird, als akzeptierter ständeübergreifender Freiraum durch. Dabei blieb insbesondere die Zahlenlotterie, das sogenannte Lotto di Genova, in der Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts umstritten. Doch nicht nur die bereits wenig wohlhabenden Menschen, sondern auch betuchte Adlige und Bürgerliche liefen aus Sicht der Zeitgenossen Gefahr zu verarmen, womit die neuen Freiräume in den Verdacht gerieten, die gesellschaftliche Ordnung ins Wanken zu bringen.15

2. Die Lotterie im 18. Jahrhundert Ich bekam ein Los vom H. Kaufmann Israel geschenkt, und meine Frau war so glücklich, die Uhr darauf zu gewinnen. Ich gewann nach Abzug verschiedener Unkosten 22 Reichstaler.16

Hier berichtet der Schauspieler Carl Julius Christian Schüler, wie seine Frau, die ebenfalls als Schauspielerin auftrat, 1773 von einem jüdischen Kaufmann namens Israel 17 in Stral 12 Manfred Zollinger: Geschichte des Glückspiels. Vom 17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, Weimar/Wien/Köln 1997, S. 47 – 93. 13 Vgl. Michaela Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln/Weimar/Wien 2006. 14 Vgl. Helma Houtman-­De Smedt: North-­West Europe and the Spell of Lotteries and Lotto in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Homo Ludens. Der Spielende Mensch 7 (1997), S. 69 – 99; Edith Saurer: Zur Disziplinierung der Sehnsüchte: Das Zahlenlotto in Lombardo-­ Venetien, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Bibliotheken und Archiven 63 (1983), S. 143 – 167; Dies.: Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-­Venetien im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 13 – 30. 15 Wolfgang Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse. Das Zahlenlotto in der Einschätzung des deutschen Bürgertums im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte 69 (1987), S. 116 – 149. 16 Otto Altenburg: Aus der Geschichte des Theaters in Pommern während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Baltische Studien 33 NF (1930), S. 199 – 216, hier S. 207. Altenburg zit. aus dem Originaltagebuch des genannten Schauspielers, das auszugsweise ediert vorliegt. Der Aufbewahrungsort des weitaus umfangreicheren Originals ist heute nicht mehr zu klären. Carl Julius Christian Schüler: Theatralisches Journal angefangen vom Jahr 1770, in welchem ich mich dem Theater widmete, Berlin 1927. 17 In den 1770er-­Jahren befanden sich vier Brüder der jüdischen Familie Israel in Stralsund. Aus wirtschaftlichen Gründen tolerierte man in Stralsund einige Juden (1770 ca. 50 – 60; 1784

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sund ein Los zu einer Klassenlotterie erhielt und dabei einen wertvollen Sachpreis gewann. Womöglich beteiligte sich Herr Schüler an derselben Lotterie und konnte sich über stattliche 22 Reichstaler freuen, was in etwa der Hälfte seines regulären Jahreseinkommens entsprach. Für den heutigen Leser stellt eine Lotterie, bei der es eine bestimmte Anzahl an Losen gibt, hinter denen sich Geld- oder Sachpreise verbergen, nichts Besonders dar und bedarf daher wenig Erklärung. Allerdings existierte nicht nur dieses Lotterieformat und einige Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts assoziierten mit einer Lotterie andere Ideen als die Menschen der heutigen Zeit. Zunächst soll daher der Frage nachgegangen werden, was man auf deutschsprachigem Gebiet zu Beginn des Untersuchungszeitraums unter einer Lotterie verstand. Der 18. Band von Zedlers Universal-­Lexicon bietet mit zwei aufschlussreichen Einträgen („Lotterie“ und „Lotterie, die geistliche“) einen hervorragenden Ausgangspunkt für die zeitgenössische Wahrnehmung der Lotterie. Das bedeutend kürzere Lemma „Lotterie, die geistliche“ informiert über eine schon sehr lange existierende Lotterieform. Dafür schlug man eine Bibel auf und zeigte auf eine bestimmte Stelle, der man anschließend eine besondere Bedeutung zusprach.18 Die Grundlage dieser religiösen Praxis bildete der Glaube, dass Gott Einfluss auf die Auswahl der Bibelstelle nehmen konnte. Da aber die Gefahr bestand, Gott auf diese Art zu oft und/oder mit trivialen Angelegenheiten zu behelligen, galt eine Vorhersage als nicht für den alltäglichen Gebrauch statthaft.19 Der weitaus längere und hier ertragreichere Artikel diskutierte die Lotterie in ihrer damals gebräuchlichen säkularen Form.20 Danach gab es zwei unterschiedliche Spielarten: Nach der ersten Variante konnten viele Personen zusammen etwas kaufen, das dann per Losentscheid in den Besitz von nur einer dieser Personen überging. Bei der zweiten Variante legten die Spieler einen Zettel, auf denen die Gewinne geschrieben standen, in ein Gefäß – den sogenannten „Glücks-­Topff“. Für die Zahlung eines bestimmten Betrags durfte der Spieler dann die gewünschte Anzahl an Zetteln ziehen und erhielt den darauf vermerkten Gewinn.21 Laut dem Lexikoneintrag bestanden einige Zeitgenossen darauf, den „Glücks-­Topff“ und die „Lotterie“ voneinander zu unterscheiden. Während Privatpersonen Glückstöpfe zum eigenen Vorteil ausspielten, stand die Bezeichnung „Lotterie“ für ein obrigkeitlich organisiertes Ereignis, das man zur Beförderung des Allgemeinwohls durchführte. Die klare Differenzierung der Begriffe verdeutlicht, für wie wichtig es die Befürworter der Lotterien

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119 Juden), die allerdings vielfachen Beschränkungen unterlagen. Richard Marsson: Aus der Schwedenzeit von Stralsund. v. Olthof und Giese (= Veröffentlichungen der Stadtbibliothek des Archivs zu Stralsund, Bd. 2), Stralsund 1928, S. 62 – 65. Einer ihrer Erwerbszweige war der Vertrieb unterschiedlicher Lotterielose, s. dafür Kap. 3.2. ‚Lotterie, die geistliche‘, in: Zedlers Universal-­Lexicon, Bd. 18, Halle/Leipzig 1738, Sp. 573. Keith Thomas: Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Belief in Sixteenth- and Seventeenth-­Century England, New York 1971, S. 142. ‚Lotterie‘, in: Zedlers Universal-­Lexicon, Bd. 18, Halle/Leipzig 1738, Sp. 564 – 573. Ebd., Sp. 564.

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hielten, die obrigkeitliche Genehmigung und den guten Zweck ihrer Unternehmungen herauszustellen und ganz klar von anderen Glücksspielpraktiken abzugrenzen. Anschließend erörterte der Autor des Lexikonartikels die staatlichen Benefizlotterien unter zwei zeitgenössisch bedeutenden Aspekten: Ist es vernünftig und moralisch vertretbar, Lotterien zu veranstalten und sich daran zu beteiligen? Und, wer ist für das Glück oder Unglück bei der Lotterie verantwortlich? Die Beantwortung der ersten Frage fiel im ersten Moment überraschend deutlich aus. Sofern man lediglich die Vernunft als Maßstab anlegte, sei eine Lotterie ein vollkommen zulässiges Mittel, denn mit den zu erwartenden Gewinnen könne die Obrigkeit den Armen und Bedürftigen helfen. Damit kategorisierte man die Lotterie als eine Art Kollekte, in die besonders die Menschen einzahlen würden, die sonst nichts oder nur widerwillig spendeten. Außerdem entscheide jeder selbst, was er mit seinem Vermögen mache. Diese Antwort hob vor allem auf den Nutzen für die Allgemeinheit ab und entsprach dem aufgeklärten Zeitgeist. Sie überrascht insofern, als vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert rationale Aufklärer herausstellten, dass die Lotterie aus Sicht des Spielers irrational sei. Dieser gewinne nämlich nur mit geringer Wahrscheinlichkeit.22 Allerdings stellen diese beiden Positionen nicht zwingend einen Widerspruch dar. Während der Schreiber des Artikels noch das Verständnis der mathematischen Wahrscheinlichkeit eines vernünftigen Spielers voraussetzte, waren die Kritiker später nicht mehr so optimistisch und sprachen Lotteriespielern das Wissen um die Gewinnchancen ab. Bedenklich werde die Lotterie erst aus theologischer Perspektive, weil diverse Kirchenvertreter mahnten, dass jene die menschlichen Leidenschaften reize. Damit gehe es den Spielern beim Setzen nicht um den guten Zweck, sondern um den erhofften Gewinn. Zudem könne ein guter Christ sein Vermögen nicht beliebig verwalten. Er müsse es vielmehr zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Mitmenschen einsetzen, dann könne ein Spieler „solches ohne Verletzung des Christlichen Gewissens tun.“23 Diese Ansicht brachte deutlich die Skepsis der Kirchenvertreter gegenüber der Lotterie zum Ausdruck. Natürlich sei es wichtig, für Bedürftige zu sammeln, aber diesen wichtigen Zweck erfüllte bereits die kirchliche Kollekte. Wenn nun durch Lotterien mehr Geld zusammenkomme, dann geschehe das nicht aus christlicher Nächstenliebe, sondern aus menschlicher Gewinnsucht. Dieses Argument blieb in den folgenden Jahrzehnten wirkmächtig vertreten, musste jedoch oftmals dem obrigkeitlichen Wohlfahrtsgedanken sowie dem allgemeinen Finanzbedarf weichen. Zedlers Universal-­Lexicon wies bei Frage nach der Verantwortlichkeit des Lotterieausgangs auf das Schicksal und „blindes Glück“, den Zufall sowie Engel oder Geister. Danach wurde zudem die Rolle Gottes diskutiert, wobei es hier bei den Gelehrten viele Ansichten gab. Ohne auf diese im Detail einzugehen, zeigen die Ausführungen, dass man im 18. Jahrhundert nicht nur die mathematische Wahrscheinlichkeit für die Beurteilung eines Ziehungsausganges heranzog. Vielmehr lässt sich der Wunsch erkennen, den Ausgang der

22 Vgl. dazu Kap. III.3.1. 23 ‚Lotterie‘, in: Zedlers Universal-­Lexicon, Sp. 565.

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Ziehung mit „abergläubischen“ Praktiken zu beeinflussen.24 Diese Momentaufnahme aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts veranschaulicht die Spannungsfelder, in denen sich die Lotterie bewegte: zwischen traditioneller Caritas und aufgeklärter Wohltätigkeit,25 Wahrscheinlichkeitstheorie und Zufall 26 sowie Leidenschaft und Rationalität.27 Trotz dieser aufschlussreichen Einordnung des Lotteriespiels in die zeitgenössische Diskussion, fehlten in dem Lexikoneintrag andere wichtige Lotterieformate. Waren- und Geldverlosungen, die man als „Glückstöpfe“ oder „Glückshäfen“ bezeichnete und die den heutigen Sofortlotterien 28 sehr nahestehen, existierten schon deutlich vor der Entstehung des Lexikonartikels. An bestimmten Orten wie Jahrmärkten gab es zu genau festgelegten Zeiten – beispielsweise zum Karneval – Verlosungen und Glücksspiele aller Art.29 Diese führten nicht nur, wie es der Eintrag suggeriert, Privatpersonen durch, sondern es gab derartige Verlosungen auch mit obrigkeitlicher Genehmigung. Allerdings zeichneten sich diese durch drei wichtige Merkmale aus, die sie von den neuen Lotterieformen des 18. Jahrhunderts unterschieden:30 Erstens achtete die Obrigkeit darauf, dass die Veranstalter nur moderate Gewinne durch die Verlosung erhielten. Spieler und Veranstalter hatten also nur geringfügig unterschiedliche Gewinnaussichten. Die Gewinne standen zweitens noch in einem relativ engen Verhältnis zum Einsatz, weswegen ein Glückspilz mit einem geringen Einsatz keinen enormen Profit erzielte. Außerdem blieben die Preise bei Warenverlosungen oft unattraktiv, weil die Veranstalter auf Produkte 24 Vgl. bspw. Saurer: Zur Disziplinierung der Sehnsüchte, S. 156 – 157; Hans–Peter Ullmann: Der Staat, die Spieler und das Glück. Lotterien im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts (= Historische Kommission zu Berlin, 14), Berlin 1991, S. 1. 25 „Caritas“ (lat. hingebende Liebe, uneigennütziges Wohlwollen) ist eine der christlichen Grundtugenden. Der Begriff meint hier die barmherzigen Bemühungen von Stadt, Kirche und Einzelpersonen mittels Spenden, den Hunger und das Leid der Menschen zu lindern. In der Aufklärung versuchte man dagegen, den Armen verstärkt in speziellen Einrichtungen zu helfen. Dazu: Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750 – 1850), Göttingen 2000, S. 173. 26 Zu der wachsenden Bedeutung der Wahrscheinlichkeitstheorie: Thomas M. Kavanagh: Enlightenment and the Shadows of Chance. Novel and the Culture of Gambling in Eighteenth-­ Century France, Baltimore/London 1993, S. 9 – 28. 27 Für das Ansteigen der rationalen Interessen bei gleichzeitiger Zähmung der Leidenschaft auf staatlicher Ebene vgl.: Albert O. Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M. 1980 (Original: The Passions and the Interests. Political Arguments for Capitalism before its Triumph, Princeton 1977). 28 Der Name „Sofortlotterie“ wird für Lotterien verwendet, bei denen der Spieler unmittelbar nach der Teilnahme den Ausgang des Spiels erfährt. Bei einem Rubbellos erkennt man bspw. sofort nach dem Freimachen des Feldes, ob man gewonnen hat oder nicht, sodass keine Ziehung abgewartet werden muss. 29 Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit; Dagmar Maria Schumacher: „Des Teufels Spiel“ – Glücksspiel im Mittelalter und früher Neuzeit, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Volles Risiko! Glücksspiel von der Antike bis heute, Leinfelden-­Echterdingen 2008, S. 85 – 92. 30 Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse, S. 119 – 120.

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zurückgriffen, die sich unter regulären Marktbedingungen nur schwer verkauften.31 Letztlich fanden derartige Ausspielungen lediglich selten und vor allem zu besonderen Anlässen statt, wozu Schützenfeste oder Messen zählten. Unter diesen Umständen ließ sich nur ein verhältnismäßig geringer Bevölkerungsteil dazu animieren, an Waren- und Geldverlosungen teilzunehmen. Zudem gestalteten sich derartige Glücksspiele weder für Unternehmer noch für die Obrigkeit besonders attraktiv, weil sie nur geringe Kapitalmengen umsetzten. Abhilfe schuf im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Etablierung einer neuartigen Lotterie, bei der Spieler mit einem geringen Einsatz regelmäßig hohe Gewinne erzielen konnten. Die Wahrscheinlichkeit war allerdings so gering, dass attraktive und kalkulierbare Einnahmen auf den Veranstalter und damit nicht auf die Obrigkeit warteten. Zedlers Universal-­Lexicon unterschied nicht explizit zwischen der sogenannten „Zahlenlotterie“ („Genuesischen Lotterie“, „Lotto di Genova“ oder „Lotto“) und der „Klassenlotterie“ („Holländischen Lotterie“). Zwar erwähnte es, dass in der Stadtrepublik Genua das Los bei der Bestimmung der Signoria (Ratsversammlung) eine entscheidende Rolle spielte und sich um diesen Losentscheid kommerzielle Wetten entwickelten; zudem beschrieb es Holland als Lotteriehochburg.32 Eine klare Abgrenzung der „Genuesischen“ zur „Holländischen Lotterie“ blieb allerdings aus. Dies verwundert insofern nicht, als dass Bayern eine Zahlenlotterie als erstes deutschsprachiges Gebiet 1735 einführte, also drei Jahre vor der Veröffentlichung des Artikels. Darüber hinaus scheiterte das Unternehmen bereits nach zwei Jahren. Erst mit der Einrichtung einer Zahlenlotterie in Österreich 1751 und vor allem in Preußen 1763 kam der Durchbruch dieser Lotterieform im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation.33 Was unterscheidet die Zahlen- von der Klassenlotterie? Die Klassenlotterie entstand im 15. Jahrhundert in den Niederlanden und entwickelte sich ab 1581 besonders in den Vereinigten Niederlanden weiter. Der im 18. Jahrhundert von Willem Vaucher und Isaac Damain konzipierte Plan diente als Blaupause für die niederländische Klassenlotterie bis ins 20. Jahrhundert und soll hier exemplarisch für die „Holländische Lotterie“ erläutert werden. Der Plan sah vier Klassen vor, bei denen jeweils bis zu 10.000 Lose verkauft werden konnten. Alle sechs Wochen losten die Veranstalter eine Klasse aus, wobei die Spieler entweder ein komplettes Los über alle Spielklassen oder eines, das lediglich für die ausgespielte Klasse gültig war, erwarben. Von Klasse zu Klasse stiegen sowohl die Lospreise als 31 Auf diesen berechtigten Punkt macht Helma Houtman-­De Smedt aufmerksam. Vgl.: Helma Houtman-­De Smedt: North-­West Europe under the Spell of Lotteries and Lotto in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, in: Homo Ludens 7 (1997), S. 69 – 99, hier S. 86. 32 In Holland gebe es so viele Lotterien, „daß man der gemeinen Meynung ist, daß im Lande keine Flecken, und in Amsterdam keine Familie, so nicht eine gehalten, und überall, die Bettler ausgenommen, in den gesamten Volck-­reichen Provinzien keine 1000. Person, die nicht ihr Glück darinnen versucht.“ ‚Lotterie‘, in: Zedlers Universal-­Lexicon, Sp. 572. 33 Günther G. Bauer: „6 aus 45“. Das Österreichische Lotto von 1751 – 1876, in: Homo Ludens 7 (1997), S. 21 – 68, hier S. 28 und 33 – 42.

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auch die Gewinne.34 Zunächst beschränkte sich diese Lotterie auf die urbanen Zentren oder einzelne Provinzen der Niederlande. Im Heiligen Römischen Reich erhielt dieses Glücksspiel zunächst auf der lokalen Ebene Zuspruch und setzte sich in Leipzig (1697), Nürnberg (1699) und Frankfurt am Main (1707) durch.35 Großflächig etablierte es sich insbesondere in Preußen ab 1703.36 Wie die zeitgenössischen Bezeichnungen „Genuesisches Lotto“ oder „Lotto di Genova“ bereits verraten, entstand dieses Glücksspielformat in der italienischen Stadtrepublik Genua. Das Losverfahren hatte sich in den italienischen Stadtrepubliken seit dem 11. Jahrhundert für die Bestimmung der Ratsmitglieder eingebürgert.37 Mitte des 16. Jahrhunderts loste man in Genua aus 90 Kandidaten, deren Namen auf Zetteln geschrieben standen, jährlich fünf neue Ratsmitglieder. Die Genueser begannen bald, private Wetten auf den Ausgang der Ziehungen abzuschließen. Da es dabei mit der Zeit um hohe Summen ging, die den Missbrauch dieses Verfahrens lukrativ erschienen ließen, nahm der genuesische Rat die Organisation dieser Wetten selbst in die Hand. Der Reiz dieser Lotterie reichte schnell über die Stadtgrenzen hinaus und außerhalb Genuas eröffneten Annahmestellen für die Wetten. Der ursprünglich politische Kontext war damit aufgehoben und statt auf Namen setzten die Spieler auf Zahlen zwischen eins und 90. Sofern sie richtig tippten, erhielten sie ein Vielfaches ihres Einsatzes, wobei dieser Faktor stets bedeutend geringer ausfiel als die mathematische Wahrscheinlichkeit des Ziehungsereignisses (genauere Erklärungen s. Kap. III.3.1). Andere italienische Städte erkannten daraufhin das Potenzial der Lotterie, als Einnahmequellen zu dienen, weshalb Mailand 1665, Rom 1670, Turin 1674, Bologna 1676 und Neapel 1682 ihre eigenen Zahlenlotterien veranstalteten.38 Im deutschsprachigen Raum erlangte die Genuesische Lotterie nach ihrer Einführung in Wien und Berlin sehr große Beliebtheit, weshalb im Jahre 1771 schon mehr als zwei Dutzend Zahlenlotterien im Reich operierten, von denen Schwedisch-­Pommern eine beheimatete.39 34 Houtman-­De Smedt: North-­West Europe under the Spell of Lotteries, S. 70 – 72. 35 Ullmann: Der Staat, S. 5. 36 Otto Warschauer: Die Entstehung und Entwickelung der Klassen-­Lotterie in Preussen (1703 – 1813), in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 42 (1886), S. 666 – 708. 37 Eine gute Beschreibung des Losverfahrens in Venedig und Florenz bietet: Hubertus Buchstein: Demokratie und Lotterie. Das Los als politisches Entscheidungsinstrument von der Antike bis zur EU, Frankfurt a. M. 2009, S. 150 – 185. 38 Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse, S. 121; Ulrike Näther: „Das große Los“ – Lotterie und Zahlenlotterie, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Volles Risiko! Glücksspiel von der Antike bis heute, Leinfelden-­Echterdingen 2008, S. 99 – 105, hier S. 101. 39 1750 in Wien, 1763 in Berlin, 1764 in Mannheim, 1767 in Würzburg, 1768 in Augsburg, Hildburghausen, Koburg, 1769 in Mainz, Koblenz, Ansbach und Stralsund, 1770 und 1771 in Wiesbaden, Bonn, Köln, Hamburg, Dillingen, Regensburg, Gotha, Neustrelitz, Altona, Friedberg, Wetzlar, Eutin, Ludwigsburg, Braunschweig, Langfuhr, Kassel und Darmstadt. Vgl. Hans Grotjan: Das Kölner Lotto. Ein Beitrag zur Kölner Wirtschaftsgeschichte, Köln 1923, S. 11 und 140.

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Die Forschung verwies vor allem auf drei entscheidende Vorteile der Zahlen- gegenüber der Klassenlotterie sowie allen anderen Lotterieformaten: Erstens verschoben sich die zu erwartenden Gewinne deutlich zu Gunsten der Veranstalter. Nicht selten erreichten erfolgreich geführte Lotterieunternehmen Profite von 30 Prozent oder mehr, womit sich diese zu einer lukrativen Einnahmequelle der Obrigkeit wandelten. Trotzdem blieb der Kauf eines Loses für den Spieler attraktiv, da zweitens der Gewinn sehr viel höher sein konnte als der Einsatz. Betrugen die Gewinne bei traditionellen Verlosungen das zehn- oder zwanzigfache des Einsatzes, konnte man beim Lotto im günstigsten Fall das 60.000-fache erwarten. Letztlich darf man nicht den Vorteil unterschätzen, moderne Lotterien unabhängig von Festtagen in Abständen von ein oder zwei Wochen abhalten zu können. Bis auf wenige Feiertage durfte so das ganze Jahr über eine Zahlenlotterie unterhalten werden.40 Insbesondere die ersten beiden Aspekte bemerkten bereits zeitgenössische Kommentatoren. Der aus Schweden stammende und in Greifswald lehrende Philosophieprofessor Johann Christoph Muhrbeck fasste die Vorteile der Zahlen- gegenüber der Klassenlotterie 1774 prägnant zusammen: Aber, wenn man den grossen Unterschied des Einsatzes [bei der Klassenlotterie], die Zeit, da man den beträchtlichen Einsatz entbehren muß, ferner, die bey aller Behutsamkeit, doch mögliche Fehler des Buchdruckers und des Correctors der Ziehungs-­Listen […] ein wenig überlegt, und überdem noch bemerkt, daß die allermeisten Gewinne so klein sind, daß es einem jeden fast gleichgültig seyn kann, ob er einen bekomme, oder nicht: So verschwinden von selbsten die vorzüglichen Vortheile, welche man sich gewöhnlich bey den Classen-­ Lotterien [gegenüber den Zahlenlotterien] einbildet.41

Mit anderen Worten betrachtete Muhrbeck die Klassen- im Vergleich zur Zahlenlotterie als zu teuer, zu langwierig, fehlerbehaftet und für den Spieler wenig ertragreich. Der Philosophieprofessor implizierte zudem noch einen weiteren Vorteil für die Veranstalter. Da die Veranstalter den Mindesteinsatz für die Spieler beim Lotto sehr niedrig ansetzten, konnte ein relativ großer Teil der Bevölkerung an diesem Glücksspiel teilnehmen. Damit stieg das Gesamtvolumen des Unternehmens, sodass der erwartbare Profit von 30 Prozent die Einnahmen aus der Klassenlotterie um ein Vielfaches überstieg. Der geringe Mindesteinsatz in Kombination mit den verführerisch hohen Gewinnen stellte zugleich die zentrale Angriffsfläche für die Kritiker der Zahlenlotterie dar. Der bereits in Zedlers Universal-­Lexicon geäußerte Kritikpunkt, dass die Lotterie den Menschen verführe, Lose nicht aus Nächstenliebe, sondern aus purem Gewinnstreben zu erwerben, traf auf die Zahlenlotterie ganz besonders zu.42 Noch wirken diese Ausführungen sehr theo 40 Ullmann: Der Staat, S. 6. 41 StZ, Nr. 1, 01. 01. 1774. 42 Vgl. dazu bspw. das von Casanova überlieferte Zitat Katharinas  II. (Kap.  III.4.1); instruktiv in diesem Zusammenhang ist zudem die Debatte um die Zahlenlotterie in Bayern, die erst in

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retisch und spekulativ, werden aber im Verlauf der Untersuchung anhand von Beispielen aus Stralsund und Reval illustriert.

3. Lotterien in Stralsund 3.1 Die Stralsunder Debatte um die Zahlenlotterie In Stralsund setzten sich drei nacheinander publizierte Streitschriften Ende der 1760er-­ Jahre mit dem Für und Wider des Lottospiels auseinander. Diese Schriften gehörten zu einer im deutschsprachigen Raum ausgetragenen Diskussion, die um 1765 die Vor- und Nachteile der Genuesischen Lotterie besonders ausgiebig und kontrovers behandelte.43 Die Öffentlichkeit reagierte damit auf die große Beliebtheit eines noch weitgehend unbekannten Spiels, das seinen Höhepunkt zwischen 1770 und 1775 erreichte.44 Die in Stralsund auftauchenden Argumente ähnelten denen in anderen Teilen des Reiches, wobei auch lokale und regionale Besonderheiten zutage traten. Zunächst publizierte ein anonymer Autor im April 1768 eine zwölfseitige Abhandlung über die Gefahren der Zahlenlotterie. Dabei versuchte er die Leser davon zu überzeugen, dass diese „eine Art Hazardspiel [sei], wobey der Vortheil auf Seiten der Banke so erstaunlich groß ist, daß sich unmöglich jemand bey einer kleinen Ueberlegung darauf einlassen kann.“45 Die Gleichsetzung der Zahlenlotterie mit einem Hasardspiel verdeutlichte den zeitgenössischen Lesern sofort die warnende und mahnende Haltung des Autors. Den Begriff „Hazard“ definiert Zedlers Universal-­Lexicon als „Gefahr, Verwegenheit, ingleichen das Glück, ein unvermutheter Zufall.“46 Beim Hasardspiel schwang demnach eine negative Konnotation mit, weil die Spieler verhältnismäßig geringe Gewinnchancen hatten. Sie verloren stattdessen vom Spielrausch ergriffen ihr schwer verdientes und dringend benötigtes Einkommen. Daraus ergaben sich nicht nur für die Spieler, sondern auch für deren Familien sowie in letzter Konsequenz für die Gemeinschaft unabsehbare soziale Konsequenzen, weswegen die Gesetzgeber Hasardspiele vielerorts so rigoros verboten.47 Für den Autor der Streitschrift zeigte die Zahlenlotterie im Gegensatz zu Karten- und Würfelspielen sogar besondere Heimtücke, weil man nicht sofort das eingesetzte Geld verlor, sondern „die Teilnehmer eines langsamen Todes“48 starben. Ganz konkret ging es dem Verfasser darum, seinen Mitmenschen, die diesem Spiel immer mehr frönten, rechnerisch

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den 1860er-­Jahren abgeschafft wurde: Johannes Thomas Koch: Geschichte des Lotteriewesens in Bayern, München 1908, S. 139 – 177. Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse, S. 128. Grotjan: Das Kölner Lotto, S. 12. AUBGr, Anonym, Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien, Stralsund 1768, S. 1. ‚Hazard, Hasard‘, in: Zedlers Universal-­Lexicon, Bd. 12, Halle/Leipzig 1735, Sp. 966. Annette Köger: Spielkarten und Glücksspiel, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Volles Risiko!, S. 62 – 67. AUBGr, Anonym, Anmerkungen, S. 1.

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die Nachteile der Zahlenlotterie vor Augen zu führen, während der „Bankier“ von diesem Geschäft profitierte. Auf den nächsten Seiten erfolgte daher eine kleinteilige, durchaus nachvollziehbare Rechnung, die die Ziehung von fünf aus 90 möglichen Zahlen erklärte. Während die mathematischen Details der Kalkulation hier nicht relevant sind, soll doch zum besseren Verständnis das Regelwerk dieser Lotterie kurz erklärt werden. In einem Glücksrad befanden sich 90 Zahlen, von denen zumeist Waisenkinder fünf nacheinander ohne Zurücklegen zogen. Jeder Spieler musste vorher seine Wetten für den Ausgang der Ziehung platzieren und hatte dabei verschiedene Möglichkeiten. Ein einfacher „Auszug“, den man heute wohl als „Einer“ bezeichnen würde, nannte man einen Tipp auf eine Zahl, deren Ziehungsposition unerheblich war; sie musste sich lediglich unter den fünf Gewinnzahlen befinden. Als „bestimmten Auszug“ bezeichnete man die Wette auf eine Zahl und deren genau vorhergesagte Position bei der Ziehung. Waren die Gewinnchancen bei den „Auszügen“ noch recht hoch und die Gewinnsummen eher gering, vergrößerte sich beim Setzen auf zwei („Ambe“), drei („Terne“) oder vier Zahlen („Quarterne“) die Differenz zwischen Einsatz und Profit rasant.49 Das Zahlenlotto reizte die Spieler, da diese mit wenigen Einschränkungen selbst bestimmen konnten, wie viel Geld sie auf welche Kombinationen setzten. Neben der Streichung bestimmter Zahlen, die dann für das Platzieren einer Wette ausfielen (mehr dazu weiter unten) begrenzten die Veranstalter lediglich die Höhe des Tipps. Der Mindesteinsatz für Auszug, Ambe und Terne betrug zwei Schillinge; bei einer Quarterne war es nur ein Schilling. Dagegen differierten die Höchsteinsätze stärker: Bei einem Auszug durfte man 100 Reichstaler setzen, während sich dieser Wert bei einer Ambe auf 20 Reichstaler, bei einer Terne auf zehn Reichstaler und bei einer Quarterne auf 20 Schillinge verringerte. Für die Spielpraxis bedeutete das jedoch nur geringfügige Einschränkungen, weil die Teilnehmer ansonsten freie Hand über ihre Wetten hatten.50 Wegen taktischer Erwägungen tippten manche Teilnehmer auf mehrere Kombinationen bei einer Ziehung und entwickelten regelrechte Gewinnstrategien. Ein Brief des Aufklärers Gotthold Ephraim Lessing an seine Freundin und spätere Frau Eva König belegt dieses Verhalten eindrücklich: Ich hatte das Billet so eingerichtet, daß wir auf einen simplen Auszug schadlos wären, und den haben wir auf Nummer 19. bekommen; gerade auf der Nummer, auf der ich mir am wenigsten etwas versprochen, weil sie in den vorhergehenden sieben Ziehungen bereits dreymal herausgekommen war.51

49 Vgl. dazu bspw. auch: Ullmann: Der Staat, S. 6. 50 StAWi, Prozessakten des Tribunals, Nr. 3611. 51 Brief von Lessing an König vom 15. 12. 1770, zit. aus: Gerhard Lutz: Lessing und die Quinterne. Primärquellen zum Lottofieber im 18. Jahrhundert, in: Dieter Harmening und Erich Wimmer (Hrsg.): Volkskultur. Geschichte. Region, Würzburg 1992, S. 128 – 141, hier S. 135.

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Lessings Lotterieschein („Billet“) bestand also aus mehreren Tipps, von denen ein einfacher Auszug seinen Einsatz egalisierte. Er präsentiert sich Eva König als informierter Spieler, der die vorherigen Ziehungszahlen kannte und seine Gewinnzahlen mit Bedacht wählte. Dabei glaubte er an eine Kausalität zwischen den Ziehungen, da er sich erstaunt darüber zeigte, dass der Auszug gerade auf die bereits mehrmals gezogene 19 fiel. Wenn selbst einer der großen Aufklärer meinte, dieses Spiel mit einer Strategie zu meistern, verwundert es nicht, wenn andere Teilnehmer davon überzeugt waren. Dabei verdeutlichte die Kalkulation des anonymen Lotteriekritikers aus Stralsund, die man so oder ähnlich vielerorts nachlesen konnte, mit welch geringer Wahrscheinlichkeit sich ein positives Ergebnis für die Spieler einstellte. Gewinnzahl(en)

Gewinnchance

Gewinnausschüttung

Eine Zahl „Auszug“

1:17

Einsatz mal 15

Zwei Zahlen „Ambe“

1:399,5

Einsatz mal 270

Drei Zahlen „Terne“

1:11.747

Einsatz mal 5.300

Vier Zahlen „Quarterne“

1:511.037

Einsatz mal 60.000

Fünf Zahlen „Quine“

1: 44 Millionen (theoretisch)

Wird nicht ausgespielt

Tabelle 1: Statistische Wahrscheinlichkeit auf Gewinne bei der Zahlenlotterie.

Aufgrund der teilweise frappierenden Differenz zwischen Gewinnchance und Gewinnausschüttung resümierte der Autor sarkastisch, dass das komplette Vermögen der Spieler „in recht kurzer Zeit in guten Händen seyn [werde], nur nicht in den Ihrigen.“52 Das Urteil fiel niederschmetternd aus, obwohl die Abhandlung gar nicht die Nachteile aus der Lotteriepraxis einbezogen hatte. Die Gewinnchance verringerte sich nämlich zudem durch den gängigen Kunstgriff der Lotterieunternehmer, eine Zahl oder ganze Zahlenkombinationen als Tippmöglichkeit zu streichen. Manchmal setzten sehr viele Spieler auf wenige Ziehungsergebnisse, wenn beispielsweise eine wichtige Person einen besonderen Tag oder ein Jubiläum feierte. Dann fungierten nur wenige Zahlen, die sich aus bekannten Ereignisse ableiten ließen, als glückbringende Zahlenkombination. Falls die Ziehung dann zufällig wirklich so ausgefallen wäre, hätte es dem Unternehmer einen ruinösen Verlust zugefügt. Zwar empfanden manche Spieler dieses Verhalten als rechtswidrig, doch das oberste Gericht Schwedisch-­Pommerns, das Wismarer Tribunal, erklärte diese Verfahren für legal. Damit verminderte sich das Risiko des Unternehmens genauso wie die Chancen auf hohe Gewinne für die Spieler.53 52 Ebd., S. 12. 53 Johann Christian von Quistorp: Rechtliche Bemerkungen aus allen Theilen der Rechtsgelahrtheit [sic] besonders für practische Rechtsgelehrte, Leipzig 1793, S. 151 – 152. Die Entscheidung des Wismarer Tribunals beruhte auf einem Präzedenzfall, bei dem der Kapitän von Hess die Auszahlung seines Lotteriegewinns forderte. Hess hatte regelkonform einen Reichstaler auf

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Auf die präsentierte Kritik folgte kurz darauf eine ebenfalls anonyme vierseitige Erwiderung.54 Darin ging es dem Schreiber vordergründig darum, die Autorität des ersten Autors anzuzweifeln und die Zahlenlotterie zu verteidigen. Zunächst stellte der Lotterieapologet fest, dass die ausführlich dargelegte Rechnung gar nicht neu und darüber hinaus noch in Teilen fehlerhaft sei. Natürlich gewinne man nur mit viel Glück eine „Quarterne“, aber dafür bekomme man immerhin den 60.000-fachen Einsatz. Vor einigen Jahren habe man in Berlin gleich drei Quarternen gezogen, sodass jeder Spieler tatsächlich hohe Summen erhalten könne. Eine höhere Gewinnausschüttung gefährde die Einnahmen der Veranstalter, die dann sogar Verluste fürchten müssten. Der Spieler habe vielmehr selbst auf seine finanzielle Lage zu achten. Dafür bekomme er nicht nur die Chance auf viel Geld, sondern zudem die Hoffnung auf Reichtum, die zum Träumen animiere: Warum wollen wir durchaus Hofnungen aufgeben, die uns wenig kosten, die unserer Vorstellung schmeicheln, und die das Glück am Ende nicht selten zu realisiren pflegt?55

Die Erwiderung schloss mit einem merkantilistischen Argument. Da die Lotterie „im äußersten Winkel Deutschlands, in einer kleinen, entvöllkerten, armen Provinz“56 stattfinde, seien die Veranstalter auf Spieler aus anderen Provinzen angewiesen. Tatsächlich, so argumentierte der Autor, gebe es Auswärtige, die so Geld ins Land brächten. Unterhielte man keine Lotterie, würde kein auswärtiges Kapital angezogen und einheimische Spieler müssten sogar ihr Vermögen ins Ausland geben. Letztlich profitiere demnach das „Vaterland“ von einer Zahlenlotterie. Interessanterweise fehlte das vermeintlich stärkste zeitgenössische Argument: die finanzielle Unterstützung Bedürftiger. Nur indirekt kam es in dem letzten Punkt zur Sprache, als es hieß, dass die Provinz Geldeinnahmen erwarten könne. Über die Gründe dafür lässt sich nur spekulieren, aber es ist zu vermuten, dass ein Lotterieunternehmer die Verteidigung verfasste. Da dieser letztlich hauptsächlich auf seinen Profit schaute und nicht angeben konnte, wofür die Obrigkeit ihren Teil des Gewinns ausgeben würde, blieb der Verfasser lieber allgemein, ohne ein konkretes Projekt zu benennen. Die öffentlich ausgetragene Diskussion endete mit einer achtseitigen anonymen Antwort.57 Darin bezog der Autor zu den Vorwürfen der Erwiderung Stellung, indem er eine Ambe gesetzt und gewonnen. Als er sich den Gewinn von 270 Reichstalern abholen wollte, erfuhr er, dass diese Zahlen gesperrt gewesen waren. Obwohl er davon beim Kauf nicht informiert worden war, konnte er seinen Anspruch nicht geltend machen. Vgl. dafür: StASt, Rep. 3, 2428a. 54 AUBGr, Anonym, Betrachtungen durch die zu Stralsund im April 1768 herausgekommenen Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien veranlasset, Stralsund o. J. 55 Ebd., S. 4. 56 Ebd. 57 AUBGr, Anonym: Ueber die Betrachtung, durch die im April 1768 zu Stralsund herausgekommene Anmerkungen über die Zahlenlotterien veranlasset, Stralsund o. J.

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zunächst konstatierte, dass es nicht darum gegangen sei, eine neue Rechnung zu präsentieren. Vielmehr wollte er die Mitbürger, die nicht rational über diese nachdachten, über die Zahlenlotterie aufklären. Danach rechtfertigte er die ursprüngliche Rechnung und belegte deren Korrektheit. Besonders aufschlussreich ist jedoch, wie er erklärte, warum so viele „christliche Fürsten“ Lottos gestatteten. Die Landesfürsten stünden nämlich vor der Wahl, entweder eine eigene Zahlenlotterie zu unterhalten und zu hoffen, dass sich niemand mit seiner Teilnahme ruinierte; oder sie müssten zusehen, wie die Spieler in andere Territorien auswichen, wo ihnen ebenfalls hohe Geldeinbußen drohten. Bei der zweiten Möglichkeit verlöre das Land in jedem Fall, weil das Geld ins Ausland flösse. Vor diese Wahl gestellt, entschieden sich die meisten für das kleinere Übel, eine eigene Zahlenlotterie. Damit gab der Verfasser zu, dass das Lotto durchaus gut gegen den Geldabfluss helfe, und konnte das oben angeführte Wirtschaftsargument nicht widerlegen.58 An dieser lokal geführten Debatte fallen drei Punkte besonders auf, die in dieser oder ähnlicher Gestalt in anderen zeitgenössischen deutschen Publikationen ebenfalls aufkamen. Als Erstes stellte der Lotteriegegner das Zahlenlotteriespiel als Krankheit dar, die den Spieler „eines langsamen Todes sterben“ lasse. Auch in anderen Schriften tauchte diese Pathologisierung des Glücksspiels auf, obschon man dort oftmals eine noch prägnantere Sprache gebrauchte, indem die Autoren das Lottospiel beispielsweise als „Mode-­Seuche“59 oder „Lottosucht“60 denunzierten.61 Besonders Komposita mit „Sucht“, wie „Trunksucht“, „Lesesucht“ oder „Modesucht“, traten häufig bei anderen zeitgenössischen Debatten auf.62 Bei all diesen Verwendungen schwang häufig etwas Epidemisches mit, wie sich an dem Eintrag zu „Mode“ in Zedlers Universal-­Lexicon ablesen lässt: „Eine neue Mode überschwemmt in kurtzer Zeit, wie ein reissender Strohm, ein gantz Land, und inficirt, wie

58 In der Tat war das Argument, der Landesfürst oder die Stadtväter würden Geld verlieren, wenn sie kein eigenes Lotto einrichteten, sehr wirkmächtig. Obwohl sich bspw. in Köln eine starke Opposition gegen das Lotto etabliert hatte, verlängerte der Stadtrat ein entsprechendes Patent um 12 Jahre. Die Lottounternehmer schrieben u. a. an den Rat: „Solang die Lotto-­Spiele in andern Reichs- und Fürsten-­Landen allgemein bestehen, so lang werden Euer Gnaden auch deren octroyrtes Lotto in Bestand zu lassen wohl gesinnt seyn, weil ansonst bey Aufhebung des hiesigen Lotto und dem Verboth dieses Spiels doch nichts gewisser seyn würde, als daß alle Spielliebhaber ihr Geld in fremde Lotti wagen und in auswärtige Landen Vertragen würden.“ Zit. aus: Grotjan: Das Kölner Lotto, S. 94. 59 Anonym: Der fürsichtige und glückliche Lotto-­Spieler, Frankfurt/Leipzig 1775, S. 3. 60 Vgl. Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse, S. 135. 61 Es sei hier nur angemerkt, dass sich auch die ältere Fachliteratur bis ins 20. Jahrhundert dieses negativen Sprachgebrauchs bediente. Vgl. bspw. Grotjan: Das Kölner Lotto, S. 12: „[…] das Jahrfünft von 1770 – 1775 bedeutet den Gipfel der Spielwut in Deutschland, die sich wie eine geheimnisvolle Epidemie über den ganzen Volkskörper ausdehnte“. 62 Julia A. Schmidt-­Funke: Vom „Alamode-­Teufel“ zur „Modesucht“. Wertung des Konsums im langen 18. Jahrhundert, in: Frauke Berndt und Daniel Fulda (Hrsg.): Die Sachen der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale, Hamburg 2012, S. 584 – 591.

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eine ansteckende Seuche, die meisten Leute, bey denen sie eindringt.“63 Im Extremfall mischte sich die Pathologisierung der Lotterie mit Xenophobie, woraus sich dann sehr deutliche Gleichnisse ergaben: „Die Natur straft die Türken mit der Pest, die Christen aber mit Lotterien.“64 Während die Kritiker dem Lotto eine unkontrollierbare Ansteckungsgefahr zum Nachteil des Gemeinwesens zusprachen, behaupteten dessen Befürworter hingegen, dass die Gesellschaft von ihm profitiere. Daher stellte die Obrigkeit bei der Genehmigung von (Zahlen-) Lotterien stets heraus, dass deren Gewinn wohltätigen Zwecken zugeführt würde. Zwar griffen die Stralsunder Streitschriften dieses Argument nicht direkt auf, aber genau dieser Punkt bewirkte, dass dieses Glücksspiel „gut“ und „nützlich“ für die Gemeinschaft erschien: Unter die gute[n] und nützliche[n] Lotterie-­Spiele kan[n] man alle jene Anstalten zehlen, welche zu Aufrichtung der Spitäler, Armen-­Siechen- und Lazareth-­Häuser, oder zur Unterhaltung der Armuth, zu Schulen für arme Kinder, und Erziehung der dürftigen Jugend angestellet werden.65

Zweitens konnten die Lottogegner ihren Zeitgenossen keine schlagkräftige Widerlegung des merkantilistischen Argumentes entgegensetzten. Die Gegner, wie beispielsweise der Aufklärer August Ludwig von Schlözer, konnten nur ständig betonen, dass man Geld nicht mit Moral aufwiegen dürfe: Und weil sich das Verbot, nicht in ausländische Lotti zu legen, nicht ganz durchsezen läßt: also soll man in inländisches Anlegen? – Weil sich die Ehebruchs Verbote nicht ganz durchsezen lassen: also soll man öffentliche Bordelle privilegiren?66

Doch in der politischen Realität fand dieses moralische Argument selten Berücksichtigung. Einige Lotteriegegner gaben sogar zu, dass es zwar besser gewesen wäre, man hätte Lotterien niemals zugelassen. Da man sie nun aber eingerichtet hatte und sie sich großer Beliebtheit erfreuten, sollte die Obrigkeit diese nicht mehr verbieten.67 Letztlich zeigte sich ein diametraler Gegensatz: Auf der einen Seite stand die Hoffnung auf Reichtum und Wohlstand, auf der anderen Seite die mathematische Wahrscheinlichkeit, sich seine Träume mit der Teilnahme an einer Lotterie erfüllen zu können. Nicht nur der Stralsunder Lotteriegegner betonte das rechnerisch hohe Risiko, Geld bei der Lotterie 63 ‚Mode‘, in: Zedlers Universal-­Lexicon, Bd. 21, Halle/Leipzig 1739, Sp. 700 – 712, hier Sp. 702. 64 Christian Friedrich Daniel Schubart: Deutsche Chronik. Eine Auswahl aus den Jahren 1774 – 1777 und 1787 – 1791, hrsg. von Evilyn Radczun, Leipzig 1988, S. 198. 65 Anonym: Der fürsichtige und glückliche Lotto-­Spieler, S. 5. 66 Anonym: Schlözer, Lotto und Pütter, o. O. 1780, S. 4. Digitalisiert von der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: http://vd18.de/de-­sub-­vd18/content/ titleinfo/16913623 (zuletzt eingesehen am 14. 03. 2018, 15:11 Uhr). 67 Ebd., S. 13 – 30.

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zu verlieren und verunglimpfte damit indirekt die irrationale Hoffnung der Spieler auf einen Gewinn. Andernorts findet man derartige, teilweise viel explizitere Ausführungen: Ja man läßt sich oft noch, nach erlittenem Verlust durch einfältige Traumbücher, Caballistische Ausrechnungen, […] dergestalt verführen, daß man in der Hoffnung, sein verlohrnes Geld wieder zu bekommen, und mit wenigem Geld grosse Summen zu gewinnen, sich entschliesset, das Spiel fortzusezen […].68

Die aufgeklärten Gegner des Lottos blieben gegen das Prinzip Hoffnung auf schnellen Reichtum auch deshalb unnachgiebig, weil es eine Abwertung der ehrlichen Arbeit bedeutete. Das aufgeklärte Ideal einer bürgerlichen Gesellschaft, in der Fleiß, Genügsamkeit, Sparsamkeit und Nüchternheit als unerlässliche Tugenden galten, war nicht mit einer irrationalen Träumerei vereinbar, die Unternehmer und Obrigkeit mit der Einrichtung einer Lotterie ausnutzten.69 Dieses Argument konnte ferner auf die ganze Bevölkerung eines Landes ausgeweitet werden, indem man den Grundsatz vertrat, dass eine „Nation“ umso fauler und damit wirtschaftlich unproduktiver werde, je mehr der einzelne seinen Wohlstand durch das Spielen der Zahlenlotterie erreichen wollte.70 Die Geißelung der Zahlenlotterie durch zwei Streitschriften, die im Kern unwissende Spieler belehren sollten, führte nicht dazu, dass man in Stralsund diesem Glücksspiel entsagte. In der Praxis zeigte sich bald, dass die befürchteten Probleme der Lotteriekritiker weniger gravierend wirkten als die Durchführung eines kommerziell erfolgreichen Lottounternehmens. Dadurch ergaben sich für viele Personen neue Freiräume, denn nun konnte man unabhängig von Stand, Geschlecht oder Herkunft selbstständig agieren und auf hohe Gewinne hoffen. Sie benötigten dafür lediglich etwas Geld.

68 Anonym: Der fürsichtige und glückliche Lotto-­Spieler, S. 9. 69 Weber: Zwischen gesellschaftlichem Ideal und politischem Interesse, S. 132; Kavanagh: Enlightenment and the Shadows of Chance, S. 60. 70 Zu einem unermüdlichen Gegner der Zahlenlotterie gehörte auch der 1719 in Schwedisch-­ Pommern geborene Ludwig von Hess, der u. a. in Hamburg als Schriftsteller tätig war. Er formuliert das vorgetragene Argument sehr prägnant: Der Begierde zu gewinnen, „muß eigentlich nur ein einziger Weg […] offen stehen, der Weg der Arbeitsamkeit […]. [J]e größer in einem Lande die Menge der Menschen ist, die mit einer enthusiastischen Hoffnung in die Zahlenlotterie setzen darf, desto weiter entfernt man sich von jener Regel, und je weiter man sich von ihr entfernt, desto mehr muß nothwendig die Industrie [der Nation] darunter leiden.“ Ludwig von Heß: Die Schädlichkeit der Zahlen-­Lotterie. Ein Geschenk an das Publikum, Hamburg 1774, S. 10.

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3.2 Die Zahlenlotterie in Schwedisch-­Pommern (1769 – 1805) Der schwedische König Adolf Friedrich verfasste am 18. Dezember 1769 ein „Rescript“, also ein Antwortschreiben, an den Baron Friedrich von Vegesack und erlaubte ihm, „eine sogenannte Genuesische Lotterey in Unserer Stadt Wismar zu errichten.“71 Das zeitgleich ausgestellte Patent beinhaltete praktische Erläuterungen dieses Privilegs, wonach eine Lotterie nach den Vorbildern Wien, Brüssel oder Berlin durchgeführt werden durfte. Es handelte sich dabei um genau die Zahlenlotterie, die der aufklärerische Autor der „Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien“ gegeißelt hatte.72 Das Patent regelte des Weiteren die Rechte und Pflichten des Lotterieunternehmers. Vegesack musste das nötige Kapitel zur Absicherung des Unternehmens und die Anstellung des Personals selbst stemmen. Dafür garantierte der König für jede Ziehung die Anwesenheit respektabler schwedischer Beamter. Das Hauptkontor durfte Vegesack in einer beliebigen Provinzstadt ansiedeln und auch Anzahl und Ort der Annahmestellen („Laden Collecturen“) in Schwedisch-­Pommern eigenverantwortlich bestimmen. Weiterhin stand ihm die Festlegung des Ziehungsturnus frei, doch musste er pro Ziehung 100 Reichstaler an die Rentenkammer zahlen. Damit seine Lotterie eine größere Sicherheit ausstrahlte, genehmigte Adolf Friedrich zum einen als offizielle Bezeichnung des Unternehmens „Sr. Königl. Majestät zu Schweden Allergnädigst priviligirte Genuesische Lottorie“. Zum anderen stellte er Schildwachen der städtischen Garnison ab, um die Kasse bewachen zu lassen.73 Mitte des Jahres 1770 unterrichtete Vegesack das Tribunal, dass er sich mit dem Kaufmann Galland zusammengeschlossen hatte.74 Zusammen informierten sie im Juli 1770 den schwedischen König darüber, dass sie das Unternehmen bald eröffnen würden. Zur finanziellen Absicherung hinterlegten sie sogar einen Sicherungsschein über 150.000 Reichstaler.75 Diesen unterzeichnete und deckte der Graf von Plauen, Heinrich  XI. Reuß. Als 71 Johann Carl Dähnert (Hrsg.): Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-­Urkunden Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Nachrichten, Bd. 2, Stralsund 1786, S. 339. 72 Dies geht aus dem nachher veröffentlichten Lotterieplan hervor, s.: StAWi, Prozessakten des Tribunals, Nr. 3611. Nils Jörn gibt den Inhalt des Lotterieplans zusammengefasst wieder. Vgl. Nils Jörn: Wo das Elend blüht, hat die Hoffnung fruchtbaren Boden! Prozesse wegen Lotterien in der schwedischen Herrschaft Wismar, in: Anja Amend-­Traut, Albrecht Cordes und Wolfgang Sellert (Hrsg.): Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution, Berlin 2013, S. 23 – 40, S. 36 – 37. 73 Dähnert: Sammlung, Bd. 2, S. 339 – 340. 74 Möglicherweise handelte es sich bei diesem Galland um dieselbe Person, die unter Giovanni Antonio Calzabigi (1714 – 1795) in der Generaldirektion der preußischen Zahlenlotterie von 1764 bis 1766 angestellt war. Obwohl Galland von Calzabigi als neuer Pächter vorgeschlagen wurde, erhielt er diese Position nicht. Vgl. K. Th. Odebrecht: Geschichte der Preußischen Lotterie-­Einrichtung von 1763 – 1815, in: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 1/1 (1864), S. 33 – 46, 79 – 104, 156 – 182, hier S. 79 – 80 und 89. 75 StAWi, Prozessakten des Tribunals, Nr. 3610.

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Hauptkontor wählte Vegesack nicht Wismar, sondern Stralsund, wo beispielsweise bei der zweiten Ziehung der Lotterie am 4. Januar 1771 Baron von Höpken (der Stadtkommandant Stralsunds), Graf von Jahnke (Regierungsrat) und Herr Kantzow (Ratsverwandter) anwesend waren.76 Es schien ungeachtet aller Sicherheiten von Anfang an nicht alles reibungslos zu verlaufen, wie die Korrespondenz zwischen den Lotterieunternehmern und dem Stralsunder Stadtrat erahnen lässt. Im September 1770 verfasste die Generaldirektion der Zahlenlotterie einen Brief an den Stadtrat, in dem man diesen unter Verweis auf das königliche Patent darum bat, in der Stadt für die Lotterie werben zu dürfen. Zudem benötigte man einen großen Raum, da zur ersten Ziehung viele zivile und militärische Standespersonen erwartet wurden. Die Lotteriedirektion erachtete den Saal des Hundert-­Kollegiums im Rathaus, d. h. den Bürgerschaftssaal, als angemessen. Letztlich benötigte man noch einen munteren Waisenknaben im Alter von sieben bis acht Jahren.77 Die Vertreter des Stadtrates antworteten, dass die Unternehmer gerne Werbung machen dürften und ein Waisenknabe für die Ziehung bereitstünde. Jedoch benötigte die Bürgerschaft ihren Saal für städtische Angelegenheiten, sodass dieser nicht zur Verfügung stand. Mit ihrer Verweigerungshaltung scheinen sich die Ratsherren tatsächlich durchgesetzt zu haben, denn als die Stralsundische Zeitung im Dezember 1770 über erste Ziehung der Zahlenlotterie informierte, sollte diese im Haus der Lotteriedirektion stattfinden.78 Dafür bewirkte die Generaldirektion in einem anderen wichtigen Punkt ein Entgegenkommen der Ratsherren. Die Unternehmer hatten sie nämlich im November 1770 darum gebeten, einen Vertreter des Magistrats zur ersten Ziehung zu entsenden: „Der einzige Endzweck, welcher der Gerneral-­Direction zu dieser Bitte veranlasset, ist, dem Publico von der Aufrichtigkeit, mit welcher die Ziehung geschiehet, desto mehr zu überzeugen.“79 Die Ratsherren sträubten sich zunächst gegen dieses Anliegen, weil alle von ihnen angaben, sehr beschäftigt zu sein. Sie zögerten die Nominierung eines Repräsentanten der Stadt lange hinaus, sodass die Generaldirektion bis zuletzt nicht mit einer konkreten Person werben konnte.80 Am Ende erschein, wie bei der oben erwähnten zweiten Ziehung, der Ratsherr Kantzow.81 Ein königliches Reskript vom 19. Februar 1771 deutet darauf hin, dass Vegesack noch mehr Hindernisse überwinden musste, die der schwedische König allerdings nach bestem Vermögen beseitigen wollte. Laut dem Reskript hatte sich Vegesack beschwert, dass ihm beim Aufhängen des schwedischen Wappens über der Haustür, beim Führen des offiziellen Lottosiegels sowie beim Überlassen einer Schildwache Schwierigkeiten gemacht 76 ANW, Nr. 2, 05. 01. 1771. 77 StASt, Rep. 29, Nr. 2314. Sofern nicht anders angegeben, beziehen sich die folgenden Angaben ebenfalls auf diese Akte, die nicht paginiert ist. 78 StZ, Nr. 95, 04. 12. 1770. 79 StASt, Rep. 29, Nr. 2314. 80 StZ, Nr. 95, 04. 12. 1770. 81 StZ, Nr. 98, 15. 12. 1770.

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worden seien. Nur eine Woche nach dem Tode seines Vaters, Adolf Friedrich, bestätigte der junge Gustav  III. das ausgestellte Privileg und erklärte deutlich: Vegesack dürfe die schwedischen drei Kronen nebst „applicablen Zierrathen“ und der Beschriftung „Haupt-­ Comtoir der Königl. privilegirten Schwedischen Zahlen-­Lotterie“ an der Tür befestigen. Die Verwendung des Siegels gestattete er ebenso wie er ihm eine Schildwache unentgeltlich zur Bewachung der Kasse gewährte.82 Für Vegesack und Galland bedeutete die mangelnde Akzeptanz vor Ort trotz der Unterstützung des Monarchen den Anfang ernsthafter Probleme, weil man zudem noch offen über die Liquidität der Lottobetreiber diskutierte.83 Es machte für die Zeitgenossen einen erheblichen Unterschied, ob Bargeld oder lediglich ein Sicherungsschein das Unternehmen deckte. Die Lottobetreiber behaupteten noch am 30. November 1770 im Altonaer Mercurius, sie hätten 150.000 Reichstaler in bar hinterlegt. Die pommerschen Landstände forderten daraufhin am 2. März 1771 nähere Informationen zur Lotterie und beschwerten sich zwei Monate später darüber, dass die 150.000 Reichstaler lediglich als Sicherungsschein amtlich verwahrt seien. Daraufhin veröffentlichten Vegesack und Galland am 15. Juni in der Stralsundischen Zeitung eine Anzeige, die ausdrücklich darauf verwies, dass sie lediglich eine Garantie über die fragliche Summe beim Tribunal deponiert hatten.84 Eine derartige Richtigstellung der Angelegenheit geschah jedoch nicht im Altonaer Mercurius, weshalb ein Wismarer Fiskal Galland und Vegesack zu 200 Reichstalern Strafe verurteilte.85 Das folgende Jahr hielt für das Unternehmen sogar noch schlechtere Nachrichten bereit. Abgesehen davon, dass der Graf von Plauen seine Sicherungsgarantie zurückzog,86 meldeten zwei angebliche Gewinner ihren Anspruch auf erhebliche Geldsummen an. Des Weiteren 82 Dähnert: Sammlung, Bd. 2, S. 339 – 340. Zur Korrespondenz zwischen Galland und der schwedischen Regierung s.: LaGr, Rep. 10a, Nr. 47. 83 Eine glaubhafte und ausreichend hohe Geldreserve zur Auszahlung der Gewinne stellten bei allen Lottos eine unumgängliche vertrauensbildende Maßnahme dar. Sofern die Spieler die Liquidität des Unternehmens anzweifelten, bedeute dies für die Unternehmer hohe Umsatzeinbußen. Vgl. dazu: Grotjan: Das Kölner Lotto, S. 16. 84 Vgl. ANW, Nr. 46, 15. 06. 1771. 85 Jörn: Wo das Elend blüht, S. 38. Vegesack und Galland weigerten sich zunächst, die Strafe zu bezahlen. Doch selbst der schwedische König Gustav III. forderte die Beklagten 1773 auf, die Strafzahlung über 200 Reichstaler zu entrichten und bestätigte gegenüber dem Tribunal ein Jahr später nochmals die Richtigkeit der Entscheidung. Vgl. dazu: StAWi, Prozessakten des Tribunals, Nr. 3617. 86 Die Auflösung der Sicherungsgarantie bzw. der Kaution wurde überregional wahrgenommen. Exemplarisch kann hier der Rechtsgelehrte Johann Jacob Mosers genannt werden, der Folgendes veröffentlichte: „Stralsund, den 17. May [1772]. Es ist die für die Herren Entreprenneurs der allhiesigen Königl. Schwedischen privilegirten Zahlenlotterie, dem Publico wegen richtiger Auszahlung derer aus sothanem [solchem] Lotto ausfallenden Gewinnsten ehedem bestellte Caution vor einigen Tagen wieder aufgehoben, und der diserhalb bey dem Hohen Königl. Tribunal zu Wismar am 6ten Julii 1770. auf 150000. Rthlr. eingelegte, unterm 21ten Junii ej. a. datirte Cautionsschein wieder zurück verlangt worden.“ Johann Jacob Moser: Landes-­Hoheit in Policey-­Sachen, Frankfurt/Leipzig 1773, S. 486.

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forderte ein Hamburger Lotterieunternehmer am 28. Mai 1772 einen enormen Schadensersatz, für den aus seiner Sicht illegalen Verkauf von pommerschen Losen in Hamburg und seine damit verbundenen Umsatzeinbußen.87 Zu dieser Zeit befand sich Vegesack bereits in Stockholm, wo er die Position des königlichen Lotto-­Direktors übernommen hatte.88 Damit liegt die Vermutung nahe, dass das notwendige Know-­how für diese Form der staatlichen Einnahmengewinnung, die noch bis 1841 fortgeführt wurde, aus Schwedisch-­Pommern ins Mutterlang gelangte. Die schwedische Historiographie schweigt jedoch weitestgehend zu diesem Thema. Nur gelegentlich klingt es in Zusammenhang mit dem Nationaldichter Carl Michael Bellman an, der sein Auskommen ab 1776 als Sekretär der Zahlenlotterie sicherte.89 Eine genauere Analyse der Anfangszeit der Nummerlotteri könnte neue Erkenntnis bezüglich der schwedisch-­ pommerschen Kulturbeziehungen zutage fördern.90 Vegesack, der das königliche Lottoprivileg in Schwedisch-­Pommern 1769 für zehn Jahre erhalten hatte, überließ die Verantwortung für das Privileg seiner Frau. Diese verpachtete es am 7. Dezember 1772 an Galland, der ihr dafür 1.500 Reichstaler in drei Raten zu jeweils 500 Reichstaler jährlich garantierte.91 Daher liegt der Schluss nahe, dass der erfahrene Kaufmann das Lottoprojekt in Schwedisch-­Pommern trotz aller Anlaufschwierigkeiten immer noch als ein attraktives Unternehmen betrachtete. Wahrscheinlich ließ sich mit dem Lotto tatsächlich viel Geld verdienen. Denn alle geschilderten Turbulenzen zogen für die schwedisch-­pommerschen Zahlenlotterie und deren Teilnehmer keine spürbaren Konsequenzen nach sich. Der Ziehungsturnus blieb bei drei Wochen 92 und auch die Anzeigen für die einzelnen Ziehungen veränderten sich nicht. Für die Leser der Stralsundischen Zeitung war nur ersichtlich, dass es offene Differenzen zwischen den Unternehmern der Hamburger und der schwedisch-­pommerschen Zahlenlotterie gab. Noch am 12. Mai 1772 inserierte ein Kollekteur, der für beide Lotterien Einsätze entgegennahm, dass er noch bis zum 13. Mai Wetten für die Hamburger Zahlenlotterie annehmen würde.93 Doch schon in der nächsten Ausgabe meldeten die Lotteriebetreiber der schwedisch-­pommerschen Lotterie, sie würden keine Listen von den regionalen Kollektoren mehr an ihre Hamburger Kollegen weiterleiten und forderten die Spieler auf, 87 Jörn: Wo das Elend blüht, S. 39. Vgl. zudem: StAWi, Prozessakten des Tribunals, 3614 und 3616. 88 ‚Vegesack (Friedrich Baron v.)‘, in: Encyklopädie der Freimaurerei. Zweite völlig umgearbeitete Auflage von Lenning’s, Bd. 3, Leipzig 1867, S. 404. 89 Marita Jonsson: På Bellmans tid, Stockholm 2002, S. 50 – 52. 90 Grundlegend zu den Kulturbeziehungen vgl. Andreas Önnerfors: Svenska Pommern. Kulturmöten och identifikation, 1720 – 1815, Lund 2003. 91 AUBGr, Anonym: Handlungen betreffend das von dem Regierungsrath von Olthof und des sel. Cammerrath Giesen Erben revidenten ergriffene Remedium Revisionis, Stettin 1780, S. 11. 92 Ziehungen fanden regulär am 11.04., 02.05., 23.05. und 16. 06. 1772 statt, sodass sich der interne Streit nicht direkt auf das laufende Geschäft auswirkte. 93 StZ, Nr. 56, 12. 05. 1772.

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ihre bereits getätigten Einsätze zurückzuholen.94 Insgesamt reichten diese Ungereimtheiten wohl nicht, um das Vertrauen der Spieler zum Landeslotto zu erschüttern. Was sich hier anhand der vorliegenden Quellen nicht mehr im Detail rekonstruieren lässt, waren die Symptome der Konkurrenz zwischen den Zahlenlotterien in Hamburg und Schwedisch-­Pommern.95 Vegesack und Galland erhielten dabei kaum Unterstützung von den regionalen Instanzen und Entscheidungsträgern. Während der schwedische Monarch grundsätzlich für das Lotto in Schwedisch-­Pommern eintrat, blockierten die regionalen Eliten die konkrete Umsetzung des Unternehmens. Für sie schien es eine Grenzüberschreitung darzustellen, dass zwei vermeintlich unehrliche Lotterieunternehmer auf Kosten des Landes, gestützt von königlicher Autorität, Profite erwirtschaften. Trotz dieser negativen Erfahrung führte Galland das Unternehmen als Pächter weiter. Möglicherweise verbuchte er dabei so hohe Gewinne, dass es für Joachim Ulrich Giese und Adolf Friedrich Olthof attraktiv erschien, sich um die Konzession für diese Zahlenlotterie zu bemühen. Die beiden ehemaligen Direktoren der Stralsunder Münzstätte hatten während des Siebenjährigen Krieges die Prägung von Bargeld übernommen und erhoben nach der Einstellung dieses Unternehmens gegenüber Schweden hohe Geldforderungen für die geleistete Arbeit. Obwohl eine Prüfung ihrer Forderungen positiv beschieden wurde, hatten sie 1774 immer noch kein Geld erhalten, weshalb der in finanzielle Bedrängnis geratene Giese um eine Audienz bei Gustav  III. bat und auch erhielt. Giese unterbreitete in Olthofs und seinem Namen den Vorschlag, die Schulden von insgesamt 150.000 Reichstaler Hamb. Banko wie folgt abzutragen. Ein Zehntel sollte ihnen in verzinsten Obligationen der pommerschen Kammer gezahlt werden. Auf den Rest würden sie verzichten, wenn sie im Gegenzug eine zwanzigjährige Konzession für das Genuesische Lotto sowie die Erlaubnis zur Errichtung eines Pfandhauses erhielten.96 Olfthof und die Erben Gieses behaupteten später, dieses Angebot deshalb unterbreitet zu haben, weil sie damit „ohne fühlbare Belästigung des Staats“97 eine angemessene Entschädigung erhalten hätten. Da sie in Schwedisch-­Pommern zu hohen Beamten aufgestiegen waren und dem „Staat“ daher gute und regelmäßige Einkünfte zu verdanken hatten, klingt ihre Motivation plausibel. Zudem hatten sie sicherlich die Erfahrung der letzten Jahre gelehrt, keine überzogenen Geldforderungen zu stellen. Im Wesentlichen erfüllten sich ihre Forderungen, auch weil der Generalgouverneur Sinclair Olthofs und Gieses Verhalten während des Siebenjährigen Krieges als beispielhaft hervorhob und ihre monetären Ansprüche unterstützte. Der schwedische König gewährte 94 StZ, Nr. 63, 28. 05. 1772. Es ist ein Ausdruck des Konkurrenzkampfes, dass die Landesfürsten oder Ratsherren einheimischen Kollekteuren verboten, ausländische Lotterien zu unterstützen. Gleichzeitig versuchten Unternehmer, insbesondere Kollekteure aus ausländischen Gebieten mit hohen Provisionen zu ködern. Vgl. hierzu: Gotjan: Das Kölner Lotto, S. 25 – 30. 95 Zur Zahlenlotterie in Hamburg vgl.: Max G. A. Predöhl: Die Entwicklung der Lotterie in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte der Lotterie, Hamburg 1908, S. 35 – 43. 96 Marsson: Aus der Schwedenzeit, S. 72 – 76. 97 Anonym: Handlungen betreffen das von dem Regierungsrath von Olthof, S. 10.

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ihnen das Privileg für die Zahlenlotterie sogar für 25 Jahre.98 Dieses Zugeständnis ruhte auf den noch andauernden Ansprüchen von Vegesacks Frau bzw. dem aktuellen Pächter Galland. Mit ihnen mussten sich die zukünftigen Lotterieunternehmer noch vergleichen. Am 1. Juli 1775 schlossen Olthof und Giese unter der Billigung von Galland einen Vertrag mit Frau Vegesack, der ihr auf einen Schlag das Produkt von 1.500 Reichstaler multipliziert mit der „bestimmten Jahreschaar“99 garantierte. Damit meinten sie den Zeitraum bis zum Dezember 1779, da der damalige schwedische König Adolf Friedrich 1769 ein Privileg für zehn Jahre erlassen hatte. Tatsächlich begann das Lotto wegen der nötigen Vorbereitungen aber erst ein Jahr später, sodass Frau Vegesack, die sich in dieser Sache von Galland vertreten ließ, zusätzlich 1.500 Reichstaler für 1780 verlangte. Daraufhin begann ein langer und teurer Rechtsstreit, bei dem Galland letztlich Recht behielt.100 Ungeachtet der Frage, wie lange das ursprüngliche Privileg für Baron von Vegesack gültig sein sollte, übernahmen Olthof und Giese die Führung der Lotterie 1775. Damit konnten sie auf den bereits bestehenden Strukturen aufbauen. Beispielsweise blieb das Hauptkontor in Stralsund bestehen und beschäftigte einen Sekretär, einen Faktor und einen Schreiber. Darüber hinaus setzten sie auch neue Akzente. Zunächst gewannen sie den Regierungspräsidenten Graf Malte Friedrich von Putbus als Bürgen über 25.000 Reichstaler, um das Unternehmen nach dem Ausfall des Sicherungsscheins des Grafen von Plauen auf eine solide Basis zu stellen. Allerdings reichte diese Summe noch nicht und sie mussten weitere Bürgen finden. Olthof zog sich aus dem Geschäft zurück, weil er in der Vergangenheit bereits schwere Verluste erlitten hatte und er seine Gläubiger nicht mit zusätzlichen Investitionen zu beunruhigen gedachte. Stattdessen trat der Kammerrat Johann David von Reichenbach in die Direktion der Zahlenlotterie.101 Die neue Direktion weitete die Zahlenlotterie aus. Am 12. September 1775 verkündete man in der Stralsundischen Zeitung, dass am 3. Oktober die erste Ziehung der Zahlenlotterie in Wismar stattfinden würde. Eine Woche später sollte die 85. Ziehung (gezählt seit Beginn von Vegesacks und Gallands Unternehmung) in Stralsund vollzogen werden, bevor in der darauffolgenden Woche erneut Wismar als Ziehungsort fungierte.102 Dieser Rhythmus setzte sich in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren fort und erhöhte wahrscheinlich sowohl den Umsatz und Gewinn des Unternehmens als auch die Zahl der Spieler. Zuletzt engagierte Giese verstärkt Juden für den Außenhandel. Bereits unter Galland erlaubte die Obrigkeit, Nathan Berend, Abraham Israel und Moses Brügel als Kollekteure 98 99 100 101

Marsson: Aus der Schwedenzeit, S. 76 – 78. Anonym: Handlungen betreffen das von dem Regierungsrath von Olthof, S. 11. Ebd., S. 35 – 36. Stefan Herfurth: Freiheit in Schwedisch-­Pommern. Entwicklung, Verbreitung und Rezeption des Freiheitsbegriffs im südlichen Ostseeraum zum Ende des 18. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 172 – 203; Marsson: Aus der Schwedenzeit, S. 81; umfassend zum Leben und Wirken von Johann David von Reichenbach s.: Bernhard Müller: Johann David von Reichenbach. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Schwedisch-­Pommern, Greifswald 1920. 102 StZ, Nr. 109, 12. 09. 1775.

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in Stralsund zu agieren.103 Doch Giese verstand es, das über Stralsund und Schwedisch-­ Pommern hinausreichende jüdische Netzwerk verstärkt zu nutzen. Allgemein befanden sich einige wenige Juden seit dem Siebenjährigen Krieg in Stralsund, da sie für die Beschaffung von Edelmetallen unentbehrlich waren. Olthof und Giese, die als Direktoren die Münzproduktion in Stralsund verantworteten, setzten sich selbst für die Duldung einiger Juden ein. Nach Beendigung des Kriegs und der Schließung der Münze verließen sie die Stadt nicht wieder und die Obrigkeit duldete sie weiterhin. Aufgrund seiner früheren Tätigkeit pflegte Giese gute Kontakte zu der jüdischen Bevölkerung und nutzte diese zum Wohle seiner Zahlenlotterie. Zudem erlangte er sich bei ihnen nachhaltig Sympathien, als er 1776 die Errichtung eines Judenfriedhofes auf seinem Gut in Niederhof gestattete.104 Das schwedisch-­pommersche Lotto hielt 30 Jahre im wöchentlichen Rhythmus. Dabei entwickelte es sich zu einem so angesehenen und bekannten Glücksspielformat, dass sich sogar anderen Lotterien die Ziehungen zu Nutze machten. Eine Anzeige aus der Stralsundischen Zeitung von 1775 beschreibt dieses Vorgehen anschaulich: Bey der am 19ten December in Stralsund vestgestzten 90sten Ziehung der Königl. Schwedischen privilegirten Zahlen-­Lotterie soll des Tischlers Gärtner in Richtenberg am Markte belegenes Wohnhaus, worinnen 2 Stuben, 2 Kammern und 2 Küchen; […] mit Genehmigung der dortigen Obrigkeit, auf Amben ausgespielet werden. […] Es gewinnet […] derjenige alle vorbemeldete Stücke, welcher die beiden ersten Nummern, so bey gedachter 90ster Ziehung herauskommen, auf dem Billet hat, die übrigen aber aus den herauskommenden 5 Nummern entstehende neun Amben gewinnen jede zwanzig Rthlr. in Louis d’or. […] Der Einsatz ist à Ambe 16 ßl. in Louis d’or.105

Das Haus in Richtenberg wurde demnach nicht in einer eigenständigen Klassenlotterie versteigert, sondern an die Ziehung der Zahlenlotterie angebunden. Dieses Verfahren suggerierte den potenziellen Spielern eine korrekte Ausführung. Zudem senkte es die Kosten für den Veranstalter, weil er keine eigene Ziehung durchführen musste. Es ist nicht überliefert, ob diese Lotterie erfolgreich war. Vermutlich blieb es aber für den Veranstalter schwierig, einen großen Gewinn zu erzielen, da man allein für die Auszahlung eines Geldpreises den Verkauf von 60 Losen benötigte.106

103 104 105 106

StZ, Nr. 131, 4. 11. 1773. Marsson: Aus der Schwedenzeit, S. 64. StZ, Nr. 117, 30. 09. 1775. Wie schwierig es sich trotz der Anziehungskraft der Zahlenlotterie gestaltete, eine Immobilie durch ein Lotto zu veräußern, belegt das Beispiel des bereits zitierten Philosophieprofessors Muhrbeck (s. Kap.  III.1). Er plante, das Wohnhaus der Lilljeströms zum Wohle der verwitweten Frau Ende Oktober 1773 bei der Ziehung der Zahlenlotterie als Preis anzubieten. Doch es ließen sich nicht genug Spieler dazu bewegen, zusätzliches Geld auf eine Ambe zu setzen, weshalb er das Unternehmen abbrechen musste. Vgl.: StZ, Nr. 107, 09. 09. 1773.

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Wenn man jetzt nach der tatsächlichen Spielpraxis der Bevölkerung fragt, muss man die interne Korrespondenz der Lotterieverwaltung, einzelne Hinweise in Gerichtsprozessen oder die Äußerungen der Lotteriegegner heranziehen, da keine offiziellen Vertriebs- oder Ziehungslisten überliefert sind. Einer der Kollektoren schrieb im Mai 1771 an die Generaldirektion und berichtete, dass der Graf von Putbus ein Los für die neunte Ziehung erstanden habe. Unter den Wetten befanden sich einzelne Zahlen sowie Zahlenkombinationen zu jeweils acht Schillingen, sodass sich ein Gesamteinsatz von über 21 Reichstalern ergab. Allerdings sei das Geld noch nicht bezahlt worden und der Graf befinde sich momentan auf einer Reise. Daher erkundigte sich der Kollektor, ob er wie sonst üblich keinen Kredit gewähren und das Los annullieren solle oder ob er eine Ausnahme machen dürfe.107 In einem anderen Fall klagte die Ehefrau des Kopisten Bauer gegen die Ehefrau des Fumisten Boujou – einem Sachverständigen für Feuerstellen – wegen nicht zurückgezahlter Kredite für Lotterieeinsätze. Zwischen Juni und Dezember 1785 hatte Madame Boujou nämlich mehrfach bis zu einem Reichstaler und 26 Schillingen pro Ziehung bei vier unterschiedlichen Zahlenlotterien (Wandsbek, Altona, Stralsund und Wismar) gewettet. Die Schulden bei der Geldgeberin beliefen sich anschließend auf 45 Reichstaler und 42 Schillinge.108 Das Protokoll der städtischen Vertreter der Landstände vom Dezember 1802 vermerkte, dass die Zahlenlotterie vor allem nachteilig für den niedrigen Teil der Bevölkerung sei. Von der Spiellust ergriffen, würden einige Spieler sogar auf das Nötigste verzichten oder ihre Dienstherren bestehlen. Daher beantragten sie, beim König darauf zu drängen, das Lotteriepatent nicht zu verlängern. Da die Ritterschaft nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden hatte, verfassten die Landstände im April 1803 ein Schreiben, das die bestehenden Missstände zusammenfasste. Das Grundübel bestand demzufolge in dem Anreiz für die Unternehmer, möglichst viele zahlende Spieler anzulocken, um satte Gewinne einzustreichen. Dabei ließen sich aber gerade zumeist wenig betuchte Personengruppen wie Soldaten, Tagelöhner, Handwerker, Dienstboten und Witwen von der Hoffnung auf einen Geldsegen verführen.109 Das Gesuch an den schwedischen König zeigt, dass die Landstände vor allem den hohen Teil der armen Bevölkerung als Spieler der Lotterie ausmachten. Dagegen deutet die Nachricht des Kollektors auf eine Nachfrage innerhalb der ständischen Elite hin. Wahrscheinlich wird die Zahlenlotterie Spielerinnen und Spieler unterschiedlicher Herkunft aus allen Ständen angezogen haben, wobei der zu erwartende Verlust für diejenigen mit wenig Besitz und Einkommen am schwersten wog.110 107 StASt, Rep. 29, Nr. 2314. 108 StASt, Rep. 3, Nr. 2428. 109 StASt, Rep. 13, Nr. 2606 110 Die Abschaffung der Zahlenlotterie folgte ebenso wie ihre Einführung dem Zeitgeist. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts verbannten immer mehr Landesherren diese Art der Lotterie, weil sie angeblich die Bevölkerungsschicht mit niedrigen Einkommen zum Spielen verführte. Vgl. dazu: Wolfgang Paul: Erspieltes Glück. 500 Jahre Geschichte der Lotterie und des Lotto, Berlin 1978, S. 83 – 100; eine Ausnahme stellte dagegen Bayern dar, wo die Zahlenlotterie bis 1861 bestehen blieb. Vgl. dazu ausführlich: Koch: Geschichte des Lotteriewesens in Bayern, S. 178 – 202.

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In letzter Konsequenz führte wohl der 1803 zwischen Schweden und Mecklenburg geschlossene Pfandvertrag von Malmö zum Ende der Zahlenlotterie in Schwedisch-­ Pommern. Der Vertrag regelte u. a. die zunächst zeitlich begrenzte Rückgabe Wismars an Mecklenburg. Der mecklenburgische Herzog Friedrich Franz I. (1785 – 1837) versuchte, das Lotto sofort zu unterbinden, weil er kein Interesse daran hatte, auf seinem Gebiet ein derartiges ausländisches Unternehmen zu dulden. Da der schwedische König das Lotto jedoch ursprünglich bis 1805 genehmigt hatte, gestand Friedrich Franz den Wismarern eine Weiterführung des Unternehmens bis zum Ende des Patents zu.111 In der Stralsundischen Zeitung erschien am 3. September 1805 die letzte Anzeige für eine Wismarer Lotterieziehung; es handelte sich um die 782.112 Die Gewinnzahlen publizierte man jedoch schon nicht mehr, sodass fraglich ist, ob diese Ziehung überhaupt stattfand. Im gleichen Jahr endeten auch die Ziehungen in Stralsund. Möglicherweise fehlten der Lotterie ohne Wismar (und Mecklenburg) wichtige Absatzmärkte, sodass es für einen neuen Pächter wenig attraktiv erschien, das Unternehmen weiter zu führen. Darüber hinaus stützte die Politik des mecklenburgischen Herzogs die Position der pommerschen Landstände gegenüber dem schwedischen König. Am 10. Dezember 1805 veröffentlichte die Stralsundische Zeitung die Gewinnzahlen der 872. Lottoziehung, der letzten in Schwedisch-­Pommern.113 Giese verstarb 1780 und vermachte seinen Erben unter anderem das Privileg der Zahlenlotterie. Sie bezogen aus dieser wohl gute Einnahmen, obwohl genaue Belege dafür fehlen. Jedoch berichtete der Pastor von Brandshagen, Carl Hermann Kellmann, im Jahre 1807 davon, wie er 1.000 Reichstaler aus der Zahlenlotterie vor den französischen Besatzern versteckte. Kellmann hatte den Hauslehrerposten bei den Gieses inne und lernte dabei wohl eine von Gieses Töchter kennen und lieben. Aufgrund der darauffolgenden Heirat erhielt er als Schwiegersohn einen Anteil der nicht unbeträchtlichen Unternehmenseinlagen.114

3.3 Die Auseinandersetzung zwischen dem Stralsunder Magistrat und der schwedischen Regierung um eine Klassenlotterie (1769 – 1770) Bereits zu der Zeit, als König Adolf Friedrich das Unternehmen der Zahlenlotterie genehmigte, boten sich für Spieler vielfältige Möglichkeiten, an Klassen- und Warenlotterien teilzunehmen. Eine systematische Durchsicht der Stralsundischen Zeitung des Jahres 1769 demonstriert die vielfältigen Optionen eindrücklich. Zur Auswahl standen die Hanauer Bücher-­Lotterie,115 die vierte Hamburger Hospital-­Lotterie,116 die 12. und 13. Lübeckische

111 StAWi, Ratsakte Nr. 5332. 112 StZ, Nr. 105, 03. 09. 1805. 113 StZ, Nr. 147, 10. 12. 1805. 114 Ferdinand Fabricius: Aus Schwedisch-­Pommerns Franzosenzeit, in: Baltische Studien 39 (1889), S. 44 – 80, hier S. 51 – 52. 115 ANW, Nr. 3, 10. 01. 1769. 116 Ebd.

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Stadt-­Lotterie,117 die erste „extraordinaire“ Hannoversche Geld-­Lotterie 118 und die erste fürstliche Hanauische Geld-­Lotterie.119 Darüber hinaus gab es noch die regionalen Ziehungen der Stralsunder Fayence-­Lotterie 120 und der „kleinen Silber-­Lotterie“ eines Garzer Goldschmieds.121 Wenn man nun noch bedenkt, dass man viele der genannten Lotterien noch in mehreren Klassen ausspielte und sicherlich einige Kollekteure zusätzlich illegal Lose vertrieben oder Wetten annahmen, hätte ein informierter Stralsunder wöchentlich an wenigstens einer anderen Ausziehung teilnehmen können. Aus Sicht der lokalen Lotteriegegner kam es jedoch noch viel schlimmer. Im April 1769 lasen sie in der Stralsundischen Zeitung, dass Lose für die erste königlich genehmigte schwedisch-­pommersche Lotterie, die in einer Klasse ausgespielt werden sollte, für 16 Schillinge das Stück erhältlich seien.122 Nicht weniger als vier Verlosungen dieses Glücksspiels folgten noch bis zum Jahresende. Wie bereits oben erläutert, privilegierte der schwedische König Adolph Friedrich 1769 außerdem eine „Genuesische Lotterey“, zu deren Hauptsitz Baron von Vegesack Stralsund bestimmte. Somit veranstaltete man in Stralsund nur zwei Jahre nach der Auseinandersetzung über den Schaden und Nutzen der Zahlenlotterie sowohl eine Klassen- als auch eine Zahlenlotterie mit königlicher Erlaubnis. Die Klassenlotterie veranstaltete die schwedische Regierung allerdings in Absprache mit der Stralsunder Obrigkeit, sodass in der Stadt nicht mit ernsthaften Widerständen zu rechnen war. Die erwarteten Gewinne widmete man Projekten in der Stadt und der Region, wobei genaue Information bezüglich ihrer Verwendung fehlen. Allerdings berichtete der bereits erwähnte Aufklärer und Reformer Johann David von Reichenbach 123 in seinen Patriotischen Beyträgen über die wirtschaftliche Entwicklung der Provinz und bemerkte dabei beiläufig einen Verwendungszweck der Lotterieeinnahmen: An den Plan, unsere verschlammten Flüsse rein und schifbar zu machen, war freylich schon lange und oft genug gedacht. […] die von […] Sr. Excellenz, dem Herrn Reichsrath und Generalgouverneur, Grafen Lieven, zur Reinigung der [Wasserläufe] Ziese und Trebel im Jahr 1770 errichtete Lotterie, sowie das Landespatent wegen Aufräumung der Graben und Wasserläufe vom 18ten November 1775 brachten uns dem Punct, wovon Rede ist, ein merkliches näher.124

117 ANW, Nr. 6, 21. 01. 1769 und Nr. 53, 08. 07. 1769. 118 ANW, Nr. 16, 25. 02. 1769. 119 ANW, Nr. 80, 14. 10. 1769. 120 Ebd. 121 ANW, Nr. 72, 16. 09. 1769. 122 ANW, Nr. 29, 15. 04. 1769. 123 Reichenbach übernahm 1775 Olthofs Posten in der Direktion der Zahlenlotterie, s. dazu Kap. III.3.2. 124 Johann David von Reichenbach: Patriotische Beyträge zur Kenntniß und Aufnahme des Schwedischen Pommerns, Bd. 2, Stralsund 1784, S. 63 – 64.

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Die Klassenlotterie sollte demzufolge der Verbesserung der Infrastruktur dienen. Allerdings schweigen die eingesehenen Quellen über die genauen Hintergründe des Unternehmens. Den ersten Hinweis zur Klassenlotterie von 1769 liefert die Stralsundische Zeitung: Von der ersten Königl. allergnädigst genehmigten Schwedisch Pommerschen und in einer Classe bestehenden Lotterey, sind bey mir noch Loosse à 16 ßl. [Schilling] Pomm. Cour. bis den 18ten kommenden Maymonaths zu haben.125

Wahrscheinlich stammte diese Anzeige von dem erfahrenen Kaufmann Juchnewitz, der als „Directeur der köngl. Lotterie in Pommern“ arbeitete. Er schien diese Lotterie aber nicht zu pachten, sondern lediglich als Experte für die Durchführung zu dienen. In dieser Funktion hatte er die Lotterie konzipiert und verantwortete deren korrekte Ausführung, weshalb sein Name immer in den überlieferten Lotterieprotokollen auftaucht.126 Ein Altermann sollte das Protokoll führen, ein Finanzbeamter in schwedischen Diensten die Ziehungen beaufsichtigen und zwei Notare das ordentliche Vorgehen beglaubigen. So waren bei jeder Ziehung Stadt- und Regierungsbeamte anwesend. Ihre Zusammenarbeit funktionierte offenbar gut, denn die Protokolle der ersten vier Ziehungen bestätigen, dass keine Unregelmäßigkeiten auftraten. Jedoch verliefen die ersten vier Ziehungen aus finanzieller Sicht dürftig, weshalb die schwedische Regierung die Klassenlotterie nicht weiterführen wollte. Der Finanzbeamte Töpfer bat daraufhin am 21. Mai 1770 in einem Brief an die schwedische Regierung in Stralsund, die Lotterie nicht einzustellen und ihm die Weiterführung dieser anzuvertrauen. Aus Töpfers Schreiben ist zu entnehmen, dass man unter dem Strich nur den „geringe[n] Überfluß“ von 293 Reichstalern und 33 Schillingen eingespielt hatte. Dabei hatte man die Lose nicht nur in Stralsund vertrieben, sondern auch, wie es in der Anzeige für die erste Klassenlotterie hieß, in den schwedisch-­pommerschen Städten Damgarten, Tribsees, Barth, Wolgast, Greifswald, Bergen auf Rügen und Garz. Das Inserat nannte ebenfalls die Namen und Professionen der Kollekteure. Demnach handelte es sich zumeist um Kaufleute oder Beamte (einen „Steuer-­Collector“ und einen Postmeister). Die Werbung für die dritte Klassenlotterie verwies neben den genannten Städten zusätzlich auf Kollektoren in Rostock und Hamburg.127 Töpfer versprach, zum Wohle des Landes jährlich 800 Reichstaler zu erwirtschaften. Jedoch müsse die Regierung das notwendige Personal stellen (z. B. die Notare) und den Bürgersaal des Rathauses für die Ziehungen bereithalten. Zudem reklamierte Töpfer die 125 ANW, Nr. 29, 15. 04. 1769. 126 Die nachfolgenden Ausführungen gründen, falls nicht anders angegeben, auf der folgenden nicht paginierten Akte: LaGr, Rep. 10, Nr. 2027. Darin befinden sich die umfangreichen Protokolle der ersten vier Ziehungen sowie mehrere Briefwechsel zwischen dem Stadtrat, der schwedischen Regierung und dem Kaufmann Juchnewitz. 127 ANW, Nr. 82, 31. 10. 1769.

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Einnahmen, die über 800 Reichstaler hinausgingen, für sich. Obwohl die entsprechende Antwort in der eingesehenen Akte nicht überliefert ist, kann man vermuten, dass sein Gesuch bewilligt wurde. Denn am 1. August 1770 schicke Töpfer eine Erinnerung an die schwedische Regierung. Darin mahnte er an, dass er für die Ziehung der ersten Klasse der fünften schwedisch-­pommerschen Lotterie, die in wenigen Tagen stattfinden würde, Zugang zum Rathaus haben müsse und einen Stadtbeamten als Schreiber brauche. Er benötigte außerdem den Schlüssel des Rathaussaals, damit die Ziehung pünktlich beginnen könne.128 Aus den nächsten Schreiben an die schwedische Regierung, die zum einen Töpfer und zum anderen die Stralsunder Bürgermeister sowie der Stadtrat abfassten, lässt sich die Uneinigkeit der Akteure darüber erkennen, ob die Ziehung der Lotterie nun im Bürgerschaftssaal des Rathauses stattfinden durfte oder nicht. Am 10. August 1770 teilten die Bürgermeister und der Stadtrat der schwedischen Regierung in Stralsund mit, dass sie für die anstehende Ziehung noch einmal den Rathaussaal zur Verfügung stellten und einen Stadtbeamten als Kostenschreiber bereithielten. Jedoch habe sich der Status der Lotterie grundsätzlich geändert, da es sich nun um eine „Privat-­ Lotterie“ und nicht mehr um eine gemeinnützige Lotterie handle. Töpfer habe die Lotterie von der schwedischen Regierung gepachtet und müsse sich nun selbst um die Organisation eines Saals und das nötige Personal kümmern. Der Rathaussaal werde für Sitzungen der Bürgerschaft benötigt und die Stadtbeamten hätten genug anderen Aufgaben zu erledigen. Darum forderten die Stadtvertreter, sie in dieser Angelegenheit nicht mehr zu behelligen. Der Lotterieveranstalter zeigte sich von den Ereignissen unbeeindruckt und kündigte am 14. August der schwedischen Regierung die Termine für die zweite, dritte und vierte Klasse an; die nächste Ziehung sollte am 10. September erfolgen. Zudem bewarb er die Lotterie weiter unbeirrt in der Stralsundischen Zeitung.129 Um wirklich sicherzugehen, dass alles wie geplant ablaufen würde, insistierte er auf der Bereitstellung des Rathaussaals und der Stadtbeamten. Dies habe ihm immerhin die schwedische Regierung zugesagt. Außerdem verteidigte er sich gegen den Vorwurf, eine Privatlotterie auszuspielen: Die Ziehungen würden immer noch zum Wohle des Landes vorgenommen, nur dass die Krone jetzt einen sicheren Gewinn verbuchen könne, der um ein Vielfaches höher liege als zuvor. Die Regierung dürfe darüber hinaus nicht vergessen, dass es nun keine Änderungen mehr in der fünften Ziehung geben dürfe, da er den diesbezüglichen Plan schon lange erstellt habe. Jede Abweichung davon werde sich negativ auf das Gesamtunternehmen auswirken. Den letzten Brief der Akte schrieben die Stadtvertreter am 19. September an die schwedische Regierung. Während die Bereitstellung der Stadtbeamten nun gar nicht mehr angesprochen wurde, erregte die Nutzung des Bürgersaals noch immer die Gemüter: Die Stadt habe mit der erneuten Lotterieziehung im Rathaus einen Schaden an ihren Eigentumsrechten erfahren und sehe diese „Occupation“ als Kränkung. Sie beharrten auf der Nutzung 128 Töpfer hatte bereits, wie es bei Juchnewitz üblich gewesen war, die Ziehung in der Stralsundischen Zeitung publik gemacht. Vgl. StZ, Nr. 58, 28. 07. 1770. 129 Vgl. StZ, Nr. 69, 04.09. und Nr. 81, 16. 10. 1770.

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ihres Saals für ihre Angelegenheiten. Wie diese Auseinandersetzung letztlich ausging, muss ungeklärt bleiben. Die Stralsundischen Zeitung veröffentlichte jedoch keine Anzeige zur Ausspielung der vierten Klasse, weshalb Töpfer die Lotterie wahrscheinlich einstellen musste. Unabhängig von den Details des Scheiterns der vorgestellten Klassenlotterie repräsentiert sie zwei typische Tendenzen. Erstens brachte sie wegen ganz unterschiedlicher Gründe nicht den erwarteten finanziellen Erfolg. Die Lospreise von immerhin 16 Schillingen pro Stück sprachen die breite Bevölkerung sicher nicht an. Doch gerade über den Preis ließ sich die Nachfrage zu Gunsten des Absatzes steuern, wie die noch folgenden Ausführungen zu Reval demonstrieren werden (s. Kap.  III.4). Zudem hatten die Veranstalter das Pech, dass die Spieler offenbar gerade die Hauptpreise erhielten. So informierte Juchnewitz am 31. Januar 1770 darüber, dass der Hauptpreis von 1.000 Reichstalern auf ein in Loitz verkauftes Los fiel. Ebenso konnten sich einige Spieler über einen Geldsegen von 500, 200 oder 100 Reichstalern freuen.130 Was bei den Gewinnern sicherlich Glücksgefühle hervorrief, verringerte die Profite des Unternehmens. Zweitens traten die aus den Akten ersichtlichen Streitigkeiten erst auf, als Töpfer die Genehmigung der schwedischen Regierung erhielt, die Lotterie mit der Unterstützung der Stadtbeamten und der Nutzung des Rathaussaals weitzuführen sowie die überschüssigen Einnahmen selbst zu behalten. Daraufhin entspann sich eine Grundsatzdiskussion. Den Stralsundern ging es darum, keine Unterstützung für diese mit dem Betreiberwechsel unmoralisch gewordene Lotterie zu leisten. Solange die Durchführung und die Kontrolle für dieses Glücksspiel in obrigkeitlicher Hand lagen, überwog für den Stadtrat das Benefizargument. Als aber ein Privatunternehmer die Lotterielizenz pachtete, verschob sich die Grenze des aus Sicht des Rates Vertretbaren und er befürchtete den Verlust über die Kontrolle des Unternehmens. Töpfer hatte nun einen Anreiz, die Leidenschaften der Spieler zu wecken und verstärkt auf die Gewinnsucht der ‚Glücksritter‘ abzuzielen. Der zu erwartende höhere Gewinn für wohltätige Zwecke wäre mit der Lizenzvergabe an eine Privatperson weniger vor dem Hintergrund christlicher Nächstenliebe als vielmehr wegen des monetären Anreizes für Unternehmer und Spieler generiert worden. Während für die schwedische Regierung die zeitlich befristete partielle Abgabe des obrigkeitlichen Glücksspielmonopols aufgrund der höheren Einnahmen für wohltätige Zwecke vertretbar schien, handelte es sich für die lokale Verwaltung um einen inakzeptablen Schritt, der die Geldgier des Privatunternehmers und der Spieler unterstützte. Auf einer machtpolitischen Interpretationsebene fühlte sich die Stralsunder Obrigkeit von der schwedischen Regierung gedemütigt und verweigerte daher ihre Kooperation. Immerhin hatte die Regierung Töpfer den Sitzungssaal der Bürgerschaft und die Anwesenheit von Stadtbeamten zugesagt, obwohl das die Autonomie der Stadtvertreter in Frage stellte. Das Rathaus sowie dessen Räumlichkeiten symbolisierten die Autonomie der Stadt und deren Vertreter. Der Rat musste seine Position auch in dieser Angelegenheit vertei-

130 Nr. 14, 13. 02. 1770.

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digen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, bei anderen Entscheidungen ebenfalls außen vor gelassen zu werden.

3.4 Die Klassenlotterien der Freimaurerloge Zur Eintracht Zu Beginn der 1770er-­Jahre waren moderne Klassen- und Zahlenlotterien in Stralsund bekannt und erfreuten sich großer Beliebtheit. Zwar kam es bei deren konkreter Umsetzung zu Streitigkeiten, die auf moralischen oder praktischen Argumenten beruhten, doch die zu erwartenden Gewinne lockten und die ausländische Konkurrenz zögerte nicht. Tatsächlich konnte eine gut organisierte und beliebte Lotterie Geld für gute Zwecke generieren, barg aber gleichzeitig ein Risiko für die Veranstalter. Letzteres blendeten diese teilweise aus, weshalb eine Lotterie sogar für eine aufgeklärte Vereinigung wie eine Freimaurerloge desaströs enden konnte. 3.4.1 Die Organisation kleiner Klassenlotterien Die Johannisloge Zur Eintracht hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Situation der Waisenkinder in Stralsund zu verbessern. Da die finanziellen Mittel der Loge dafür nicht ausreichten und auch andere Initiativen zur Geldakquise gescheitert waren (vgl. Ausführungen zum Stralsunder Theater), wollte die Loge eine eigene Lotterie durchführen. Dafür benötigten sie als erstes die Erlaubnis der schwedischen Regierung in Stralsund. Am 23. März 1770 ging ein entsprechendes Schreiben bei der Regierung ein, in dem die Freimaurer darlegten, wofür sie den geplanten Gewinn verwenden würden.131 Sie wollten ein Waisenhaus gründen, was den in Schweden befindlichen Freimaurerlogen „unsterbliche Ehre“ beschert habe. Dafür strebten sie die Etablierung einer eigenen Lotterie an und begründeten diesen Schritt wie folgt: Die allgemein gewordene Begierde des Publici an Lotterien Theil zu nehmen, zeiget uns einen Weg, durch welchen wir jährlich einen etwaigen Zuschub zum besten unseres Findelhauses gewinnen können.

Der Brief verfügte über einen Anhang, in dem die Loge eine detaillierte Kalkulation der zukünftigen Lotterie präsentierte. Es sollten 3.000 Lose verkauft und letztendlich ein Reingewinn von 50 Reichstalern verbucht werden.132 Verglichen mit der schwedisch-­ pommerschen Klassenlotterie, bei der bis zu 8.000 Lose emittiert werden sollten, war die Lotterie deutlich kleiner und der kalkulierte Gewinn moderat. Daher kann man die Lot-

131 Die folgenden Ausführungen beziehen sich, falls es nicht anders angegeben ist, auf diese paginierte Akte: LaGr, Rep. 10, Nr. 29. 132 Für den Lotterieplan s.: StASt, Rep. 14, Nr. 399.

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terieinitiative der Freimaurer als einen vorsichtigen Versuch werten, mit dem sie eruierten, welchen Erfolg ihr geplantes Unternehmen bringen würde. Aus der weiteren Korrespondenz mit der schwedischen Regierung geht hervor, dass die Loge die angestrebte Konzession erhielt; einer Lotterie für den Sommer 1770 stand nichts mehr im Wege. Das erzielte Ergebnis ernüchterte die Freimaurer jedoch, da das Unternehmen statt eines Gewinns von 50 Reichstalern schließlich einen Verlust von 120 Reichstalern verbuchte. Daraufhin beauftragten die Logenbrüder den Kaufmann Carl Herman Westphal die Unternehmung in ihrem Namen fortzusetzen. Westphal hatte schon seit Längerem Lose in Stralsund vertrieben, weshalb er sich mit diesem Geschäft deutlich besser auskannte als die Freimaurer.133 Dass er öffentlichkeitswirksamer arbeitete, zeigen die regelmäßig geschalteten Annoncen in der Stralsundischen Zeitung. Es gelang ihm sicherlich auch dadurch, ab dem Herbst 1770 in den folgenden zwölf Monaten sechs Lotterien mit vier bzw. fünf Gewinnklassen auszuspielen und einen kleinen Profit zu erwirtschaften.134 3.4.2 Das Desaster der großen Klassenlotterie Westphals moderate Gewinne brachten die Freimaurer der Finanzierung eines Waisenhauses nicht entscheidend näher. Sie baten daher die schwedische Regierung noch im Jahre 1770 um die Konzession für eine große, aus vier Klassen bestehende Lotterie. Dabei handelte es sich um eine typische Klassenlotterie, bei der die Einnahmen beim Verkauf aller Lose genau der Gewinnausschüttung entsprachen.135 Dieser Modus sollte wohl auf die Zeitgenossen attraktiv wirken, da das Unternehmen auf den ersten Blick keinen Profit verbuchte. Bedenkt man zudem, dass die Kollekteure eine Bezahlung forderten, sah das Geschäft sogar nachteilig für die Organisatoren aus. Immerhin mussten die Unternehmer je nach Höhe des Gewinnerloses eine pauschale Gebühr zwischen zwei und vier Schillingen als „Schreibgeld“ an die Losverkäufer entrichten. Das Geld für das Waisenhaus plante man aber mittels einer Abgabe auf die Siegerlose abzuschöpfen, was der gängigen Praxis entsprach: Für Gewinne über 1.000 Mark (333 Reichstaler und 16 Schillinge) sollten 12 Prozent des Betrags einbehalten werden und bei geringeren Summen immerhin noch 10 Prozent. Davon ausgespart blieb lediglich der Hauptpreis, das Lehn- und Allodialgut Wüstenhagen, das man mit einem stattlichen Wert

133 Westphal verkaufte bspw. die Lose der „Ersten Hanauischen Geld-­Lotterie“ (ANW, Nr. 80, 14. 10. 1769). 134 Es finden sich viele Annoncen in der Stralsundischen Zeitung, die hier nicht alle aufgelistet werden können. Einen sehr guten und knappen Überblick über die „kleinen“ Lotterien der Freimaurerloge bietet: August Pütter: Die Stralsunder Loge „Zur Eintracht“, in: StZ, Nr. 224, 24. 09. 1927. 135 Tatsächlich gab es bei der Ziehung jeder Klasse sogar noch sechs bzw. acht Nebengewinne, weshalb die Zahl der Gewinne die der Lose sogar überstieg.

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von 180.000 Mark (60.000 Reichstalern) veranschlagte.136 Beim Verkauf aller Lose in allen vier Klassen versprachen sich die Freimaurer, einen Betrag von über 5.000 Reichstalern für das Waisenhaus einzuspielen. Dafür mussten allerdings 24.000 Lose im In- und Ausland verkauft werden, acht Mal mehr als bei den wenig profitablen vorherigen Lotterien.137 Für diesen ambitionierten Plan setzten die Brüder der Johannisloge Kaufmann Juchnewitz als Lotteriedirektor ein, da dieser bereits, ebenso wie Westphal, Erfahrungen im Lotterievertrieb gesammelt hatte.138 Juchnewitz’ Position umfasste beispielsweise die Organisation der Werbung, den Losverkauf und die ordnungsgemäße Durchführung der Lotterie. Im November 1770 erschien die erste Anzeige der großen Freimaurerlotterie in der Stralsundischen Zeitung; außerdem waren gedruckte Gratispläne bei Juchnewitz erhältlich.139 Der Vertrieb der Lose fand großflächig in Schwedisch-­Pommern statt, da insgesamt 24 Kollekteure in allen größeren und kleineren Städten des Landes Lose anboten.140 Trotz der professionellen Vermarktung erfuhren die Lose nicht den gewünschten Absatz. Die Freimaurer informierten daraufhin am 18. Februar 1771 die schwedische Regierung über den schleppenden Verlauf ihres Unternehmens. Sie glaubten, alles in ihrer Macht Stehende getan zu haben, um den Verkauf der 24.000 Lose zu gewährleisten. Dazu gehörte neben dem großflächigen Losvertrieb in Schwedisch-­Pommern, dem attraktiven Hauptgewinn und der Anstellung von Juchnewitz, dass sie andere schwedische Logen über ihr Unternehmen in Kenntnis gesetzt und dazu die nötigen Informationen in schwedischer Sprache übermittelt hatten. Zudem hofften sie immer noch, Spieler aus Preußen, Holland, England und Dänemark vom Losverkauf der Freimaurerlotterie zu überzeugen.141

136 Dass ganze Güter als Hauptpreis in einer Lotterie verlost wurden, stellte keine Besonderheit dar. In Preußen organisierte die Regierung am Anfang des 19. Jahrhunderts sogar regelmäßig stattfindende Güterlotterien, die jedoch nie den gewünschten Gewinn erwirtschafteten. Vgl. Otto Warschauer: Die Quinen- und Güterlotterie in Preussen, in: Finanz Archiv 2 (1885), S. 128 – 158, hier bes. S. 142 – 151. 137 Der Lotterieplan setzte eine Mark mit 16 Schillingen an. 48 Schillinge entsprachen einem Reichstaler, s.: LaGr, Rep. 10, Nr. 29. Grundsätzlich zur Geld- und Münzentwicklung vgl.: Michael North: Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute, München 2009, S. 121 – 144; zu den Währungseinheiten Mark, Reichstaler und Schilling vgl. die entsprechenden Einträge in: Michael North (Hrsg.): Von Aktie bis Zoll. Ein historisches Lexikon des Geldes, München 1995. 138 Juchnewitz vertrat die „Erste Extraordinaire Hannöversche Geld-­Lotterie“ in Stralsund (ANW, Nr. 77, 03. 10. 1769). Zudem agierte er bereits als Direktor der ersten vier Ziehungen der Lotterie in Schwedisch-­Pommern (s. Kap. III.3.2). 139 Eine kurze und knappe Zusammenfassung in der Stralsundischen Zeitung bietet wieder: August Pütter: Die Stralsunder Loge „Zur Eintracht“, in: StZ, Nr. 225, 25. 09. 1927 und Nr. 226, 27. 09. 1927. 140 In dem Artikel der ANW, Nr. 12, 09. 02. 1771 werden folgenden Vertriebsorte genannt: Stralsund, Wismar, Damgarten, Tribsees, Loitz, Gützkow, Wolgast, Greifswald, Lassan, Grimmen, Richtenberg, Barth, Gingst, Sagard, Garz, Bergen sowie die Halbinsel Wittow. 141 LaGr, Rep. 10, Nr. 29.

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Juchnewitz blieb nichts anderes übrig als in der Stralsundischen Zeitung vom 25. Mai 1771 die Verschiebung des ersten Ziehungstermins vom 27. Mai auf den 2. September 1771 anzukündigen. Offiziell machte er für diese Verzögerung von mehr als einem Vierteljahr den langen Winter verantwortlich. Es sei der über den Wasserweg laufenden Korrespondenz nicht möglich gewesen, rechtzeitig einzutreffen.142 Ob die Loskäufer diese Rechtfertigung für die Planänderung als schlüssig ansahen, kann aufgrund der Quellen nicht beurteilt werden. Doch aus heutiger Perspektive erscheint eine kurzfristige Verschiebung aufgrund des strengen Winters von Ende Mai auf Anfang September unwahrscheinlich. Anhand eines Briefes der Freimaurer an die schwedische Regierung, den sie kurz nach der ersten Ziehung verfassten, lässt sich erkennen, dass besonders der Absatz im Ausland stockte. Preußen (Berlin, Stargard und Stettin), Sachsen (Dresden und Leipzig), Braunschweig und Kopenhagen untersagten nämlich den Losvertrieb der Johannisloge. Die schwedische Regierung in Stralsund versuchte der Loge zu helfen, indem sie Schreiben an die genannten Länder oder Städte schickte und um die Konzessionierung des Losverkaufs bat. Doch aus der Akte ist ersichtlich, dass von Oktober bis Dezember 1771 zumindest aus dem Kurfürstentum Braunschweig-­Lüneburg sowie den Städten Berlin und Kopenhagen ablehnende Antworten eintrafen.143 Die ablehnende Haltung der ausländischen Regierungen verwundert wenig, weil sich deren Lotterien einem harten Konkurrenzkampf erwehren mussten. Besonders Klassenlotterien konnten aufgrund der hohen Lospreise nur begrenzt erfolgreich durchgeführt werden. In Preußen, wo man beispielsweise zwischen 1767 und 1794 Klassenlotterien nach einem Modell ähnlich der Stralsunder Freimaurer ausspielte, mangelte es regelmäßig an finanzkräftigen Teilnehmern.144 Den Freimaurern blieb nichts anderes übrig, als sich auf den heimischen und einen sehr begrenzten ausländischen Absatz zu verlassen. Doch noch am 31. August, also drei Tage vor der Ziehung der ersten Klasse, bot Juchnewitz Lose für den Preis von 32 Schillingen zum Verkauf feil.145 Vor den Ziehungen der zweiten, dritten und vierten Klasse erinnerte er die Leser der Stralsundischen Zeitung ebenfalls eindringlich, weitere Lose zu

142 ANW, Nr. 40, 25. 05. 1771. 143 Die Loge bekräftige in diesem Schreiben noch einmal ihre Absicht, mit den Lotterieeinnahmen ein Waisenhaus zu errichten. Dabei unterstrich sie die Notwendigkeit dieser Einrichtung damit, dass erst kürzlich in Stralsund ein Pulverturm explodiert sei, s.: LaGr, Rep. 10, Nr. 29. Bei der Explosion am 12. 12. 1770 erlitt die Fayencemanufaktur erheblichen Schaden und musste ihren Betrieb vorübergehend einstellen. Die Angestellten, die bereits vorher oftmals nur einen Arbeitslohn in Höhe des Existenzminimums erhalten hatten, verloren ihr Auskommen, was für die Angehörigen erhebliche soziale Konsequenzen nach sich zog. Gesine Schulz-­Berlekamp: Stralsunder Fayencen 1755 – 1792: Ausstellung Kunstgewerbemuseum Berlin (Schloss Köpenick), Berlin 1991, bes. S. 11 – 13. 144 Warschauer: Die Entstehung und Entwickelung der Klassen-­Lotterie in Preussen, S. 674 – 686. 145 ANW, Nr. 68, 31. 08. 1771.

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kaufen bzw. die bereits gekauften Lose für die neue Klasse zu erneuern.146 Dabei stieg der Preis der Lose erheblich, sodass man für Lose in der vierten Klasse fünf Reichstaler und 33 Schillinge zahlen musste und selbst eine Erneuerung des alten Loses kostete zwei Reichstaler und 28 Schillinge. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie teuer diese Lose für die einheimische Bevölkerung waren, kann man die zeitgenössischen Preise für Waren des Alltagslebens heranziehen. Eine Eisenpfanne oder ein Messingkessel kosteten jeweils 16 Schillinge, während ein Porzellanteller mit fünf Schillingen zu Buche schlug. Für ein Männerhemd bezahlte man 16 und für eine Hose 32 Schillinge. Der Preis für ein komplettes Bett mit Laken, Kissen und Decke betrug mit fünf Reichstalern sogar weniger als ein ganzes Los für die vierte Klasse.147 Zwar durfte man immer damit rechnen, zumindest einen kleinen Gewinn zu erhalten, da es keine Nieten gab. Doch die meisten „Trostpreise“ betrugen abzüglich der Wohltätigkeitsgebühr nur ca. einen Schilling. Bei einem derartig hohen Preis und einem verhältnismäßig kleinen Verkaufsgebiet erstaunt der geringe Losverkauf weniger als die unrealistisch hohen Absatzerwartungen. Da die Gewinne bei dieser Lotterie aber feststanden – vor allem der mit 60.000 Reichstalern angesetzte Hauptpreis, das Gut Wüstenhagen –, ergaben sich bei der Gewinnausschüttung erhebliche Engpässe.148 Die Auszahlung der regulären Preise schien noch zu funktionieren,149 aber der Gewinner des Hauptpreises erhielt weder das Gut Wüstenhagen noch eine angemessene monetäre Entsprechung. Die Hintergründe der folgenden Ereignisse können nicht vollständig rekonstruiert werden, da die eingesehenen Quellen dazu kaum Anhaltspunkte liefern und die spärliche Literatur teilweise widersprüchliche Angaben macht. Eine Artikelserie der Stralsundischen Zeitung aus dem Jahre 1927150 und der Historiker Andreas Önnerfors widmeten sich zuletzt der Einstellung der freimaurerischen Arbeit in Stralsund.151 Zudem verfasste Rudolf von 146 In den Anzeigen taucht oft der Ausdruck „eine Appellation machen“ auf. Das bedeutete, die Losbesitzer konnten für die Zahlung des Unterschiedsbetrages eine Gewinnberechtigung für die höhere Klasse erwerben. Vgl. für die zweite Klasse: ANW, Nr. 83, 22. 10. 1771 und Nr. 84, 26. 10. 1771; dritte Klasse: ANW, Nr. 93, 26. 11. 1771 und Nr. 101, 24. 12. 1771; vierte Klasse: StZ, Nr. 12, 28. 01. 1772 und Nr. 19, 13. 02. 1772. 147 StaSt, Rep. 33, Nr. 651. Der Inhalt dieser Quelle wurde von Dr. Robert Oldach zur Verfügung gestellt. 148 Der Stadtrat hatte den Verkauf des Gutes einer gut begründeten Anfrage des Besitzers, Hofgerichtsdirektor von Usedom, genehmigt. Vgl. StASt, Rep. 13, Nr. 1783. 149 In der StZ vom 07. 04. 1772 stand, dass am dem 06.04. begonnen wurde, die Gewinne regulär auszuzahlen. 150 Vgl. dazu auch: August Pütter: Die Stralsunder Loge „Zur Eintracht“, in: StZ, Nr. 226, 27. 09. 1772. Pütter gründet seine Abhandlung besonders auf Anzeigen in der Stralsundischen Zeitung zur fraglichen Zeit. 151 Önnerfors: Svenska Pommern, S. 184 – 186. Önnerfors schildert die Ereignisse anhand von Quellen aus dem Svenska Frimurare Ordens Arkiv och Bibliotk (Archiv und Bibliothek des schwedischen Freimaurerordens). Dabei hatte er keine Kenntnis vom Haselberg-­Aufsatz.

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Haselberg, der Logenmeister der später gegründeten Stralsunder Loge Sundia zur Wahrheit, 1882 einen Aufsatz über die Anfänge der Freimaurerei in Schwedisch-­Pommern.152 Ihm standen die heute als verloren geltenden Protokollbücher der Loge Zur Eintracht von 1765 bis 1769 und das Kassenbuch von 1762 bis 1778 zur Verfügung. Wie nach dem Verlauf der Lotterie nicht anders zu erwarten, blieben am Schluss nicht 60.000 Reichstaler übrig, die ausgezahlt werden mussten, falls der Gewinner das Gut Wüstenhagen nicht haben wollte, sondern lediglich 6.000 Reichstaler. Darüber hinaus erschwerte die Lage des Gutes Wüstenhagen die Angelegenheit. Dessen Vorbesitzer Herr von Usedom hatte Konkurs anmelden müssen, womit das Gut nicht mehr den ursprünglich kalkulierten Wert behielt. Ein russisch-­jüdischer Kaufmann namens Rosenthal aus Riga gewann den Hauptpreis 153 und forderte nun die bare Auszahlung seines Preises ein. Als er bemerkte, dass es Schwierigkeiten gab, formulierte er einen langen Brief an Herzog Karl, den späteren Karl  XIII . von Schweden (1809 – 1814), und berichtete ihm von den Ereignissen. Des Weiteren reiste der Kaufmann nach Stralsund zu Verwandten, um seinen Gewinn persönlich in Empfang zu nehmen. Mit dem mittellosen Gutsbesitzer hatte sich Rosenthal geeinigt und richtete nun seine Forderungen ausschließlich an die Eintracht. Rosenthal verstarb noch vor einer tragbaren Lösung und seine Erben übernahmen die Geldforderung. Ein Vergleich der Parteien ergab, dass sich die Erben mit den 6.000 Reichstalern zufriedengaben. Der Freimaurer Daniel Heinrich Thomas 154 sollte das Geld auszahlen, erhielt von Juchnewitz allerdings nur minderwertige Wechsel und konnte daher nicht den geforderten Betrag begleichen. Ob die Loge oder irgendjemand anders den Gewinn jemals auszahlte, ist nicht klar. Doch die geschilderte Episode wirkte sich sehr negativ auf das Ansehen der Loge aus, die sich Mitte der 1770er-­Jahre faktisch auflöste.155 Das Beispiel der Klassenlotterien der Freimaurer in Stralsund illustriert eingängig, wie weit sich der zeitgenössische Irrglaube verbreitet hatte, die Organisation einer Lotterie würde automatisch einen ansehnlichen Gewinn erzeugen. Doch zu den unbedingten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Gelingen einer Lotterie gehörte ein attraktives und dennoch realisierbares Format. Denn das Angebot derartiger Glücksspiele war vielfältig und Spieler 152 Rudolf von Haselberg: Ueber die ersten Anfänge der Freimaurerei in Neu-­Vor-­Pommern (Schwedisch-­Pommern) und besonders in Stralsund, in: Bausteine gesammelt von Brüdern des Logen-­Bundes Royal York zur Freundschaft zu Berlin, Bd. 2, Berlin 1882, S. 8 – 27. 153 Haselberg meinte, der Kaufmann stamme aus Mitau, während Önnerfors von einem Rigaer Kaufmann spricht. Da Önnerfors einen Brief Rosenthals eingesehen hat, wird seiner Ortsangabe gefolgt. 154 Daniel Heinrich Thomas schrieb zahlreiche Werke wie z. B. Versuch über Schwedens Geschichte und die dermalige Verwaltung, Stralsund 1780. 155 Dafür spricht, dass die eingesehene Akte im GStPK (5.1.3, Nr. 10121) fast keine Aktivitäten mehr verzeichnet. Haselberg glaubt, die Eintracht habe noch im Stillen weitergearbeitet, bis auf Betreiben des Bruders Lucas Friedrich Stegemann die Loge neu initiiert werden sollte. Jedoch sollte der alte Name aufgrund der unerfreulichen Ereignisse getilgt werden. Im Jahre 1798 wurde endlich die Loge Gustav Adolph zu den drei Strahlen ins Leben gerufen. Vgl. Haselberg: Ueber die ersten Anfänge, S. 18 – 19.

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wählerisch. Zudem musste eine Stadtlotterie bei der eigenen Bürgerschaft auf Zustimmung stoßen, damit diese Lose erwarb und für den Verkauf von weiteren Losen innerhalb ihres Netzwerkes warb. Dafür bedurfte eine Klassenlotterie vertrauenswürdiger Personen mit dem nötigen Know-­how, die innerhalb einer funktionierenden Vertriebsstruktur agierten.

4. Die Lotterien in Reval 4.1 Die russische Lotteriepolitik Nach den Ausführungen zur spezifischen Situation des Lotteriewesens in Stralsund und Schwedisch-­Pommern wird sich nun den Lotterien in Reval zugewandt. Dabei gilt es zu betonen, dass sich weder hier noch anderswo im Russischen Reich eine Zahlenlotterie etablierte. Als diese gerade in Mode kam, verbot Katharina im „ganzen Rußischen Reiche“ alle Lotterieformate, die man „ohne Hoch-­Obrigkeitliche Approbation“ anstellte. Dieser Ukas von 1771 führte als Begründung einen konkreten Betrugsfall eines „gewissen Ausländers“ in St. Petersburg an, der zum Nachteil der Spieler Geld für eine Lotterie eingesammelt hatte. Es reichte jedoch nicht, diese Einzelperson auszuweisen, da dieses Glücksspiel eine grundsätzlich schädliche Sache für die Bevölkerung und das Gemeinwesen darstellte.156 Über die genauen Hintergründe dieses Verbots liegen keine weiteren Informationen vor, genauso wie die russischen Lotterien bisher nur am Rande der Forschung Beachtung fanden. Dabei gibt es Hinweise darauf, dass das Russische Reich bis 1771 eine ähnliche Entwicklung nahm wie ein Großteil Europas. Abgesehen von den unten näher vorgestellten Klassenlotterien in Reval und Riga initiierte man nämlich einige nennenswerte Unternehmen. Beispielsweise veranstalte die Kaiserin Elisabeth (1741 – 1762) eine aus vier Klassen bestehende „Reichs-­Lotterie“, die ein Invalidenhaus für Offiziere und gemeine Soldaten unterstützen sollte. Laut einem im Tallinner Stadtarchiv überlieferten Lotterieplan betrug der Hauptgewinn der letzten Klasse unglaubliche 25.000 Rubel. Dafür bestand das Projekt aus 50.000 Losen, für das die Spieler jeweils elf Rubel aufwenden mussten; die Möglichkeit, nur an der ersten Klasse teilzunehmen, wurde nicht gewährt. Aufgrund des hohen Preises richtete sich das Spiel ausschließlich an wohlhabende Personen, denen man die Lose in St. Petersburg, Moskau, Riga, Reval und Königsberg in russischer, deutscher und französischer Sprache anbot.157 Womöglich resultierte das Lotterieverbot aus einer persönlichen Abneigung der Kaiserin Katharina, die wohl schlechte Erfahrungen mit diesem Glücksspiel gemacht hatte. Die Erinnerungen des Venezianers Giacomo Casanova berichten jedenfalls von einer illustren

156 Der Befehl vom 7. Juni 1771 wurde in Riga am 25. Juni 1771 gedruckt. Zu finden in: Livländische Gouvernements-­Regierungs-­Patente, UBT, Est.B-197, Jg. 1770 – 1774, Nr. 1893. 157 Ein entsprechender Lotterieplan befindet sich im Tallinner Stadtarchiv. Nähere Information zu dieser Lotterie sind nicht bekannt. TLA, Rep. 230.1.B. O.07, S. 90 – 91.

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Pharaorunde,158 bei dem ein gewisser Baron Lefort erzählte, wie er anlässlich der Krönung Katharinas zur Kaiserin eine Lotterie veranstaltete. Katharina selbst stellte ihm dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung, damit er ihrem Hof Vergnügen bereiten würde. Lefort scheiterte damit jedoch, da er die Lotterie nicht richtig berechnet hatte und fiel daraufhin in Ungnade bei der neuen Herrscherin.159 An späterer Stelle unterhielt sich Casanova sogar direkt mit Katharina, die das Gespräch auf das Glücksspiel und konkret auf die Genuesische Lotterie lenkte. Wahrscheinlich wusste sie, dass Casanova ein Experte für das Lotto war und bereits Friedrich  II. von Preußen in dieser Angelegenheit beraten hatte. Der Venezianer zitierte daraufhin die Ansicht der Kaiserin wie folgt: Man hat mich überreden wollen, sie [die Genuesische Lotterie] in meinem Staate zu erlauben. Ich wäre einverstanden gewesen, aber nur unter der Bedingung, daß der Einsatz nicht weniger als einen Rubel betragen dürfte, damit die Armen nicht spielen würden, denn da sie nicht rechnen können, glaubten sie sicher eine Terne [einen Dreier] zu gewinnen.160

Katharina änderte ihre Haltung gegenüber Lotterien wohl nicht mehr. Als ihr der Botschafter in Berlin ein Angebot aus Mainz übermittelte, das darin bestand, eine Lotterie in Russland zu etablieren, antwortete sie, dass sie entschlossen sei, derartige Spiele solange sie lebe nicht zu dulden.161 Ungeachtet der offiziellen Missbilligung der Kaiserin kannte man die Zahlenlotterie in Reval und pflegte möglicherweise einen spielerischen Umgang außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung. Darauf deutet zumindest ein Inserat der Revalschen Wöchentlichen Nachrichten hin. Der Buchhändler Illig bewarb darin 1772 ein „Lotto-­Spiel in Miniatur“, das aus hölzernen Halbkugeln mit den Nummern 1 bis 90 sowie 24 Tippzetteln bestand.162 Darüber hinaus existierten Ausnahmegenehmigungen für ungefährlich scheinende Lotterien. Stellvertretend dafür kann die Bücherlotterie einer Revaler Witwe stehen, die 1793 in einer einmaligen Ausziehung den Bibliotheksbestand ihres Mannes verloste.163 Ihr Ziel bestand wahrscheinlich darin, möglichst viel Geld für ihren Unterhalt zu erwirtschaften, da ihr die Einnahmen aus einer Lotterie attraktiver als aus einer regulären Auktion erschienen. Gerade um Bücher organisierte man im 18. Jahrhundert regelmäßig Lotterien, wie die 158 Für Erläuterungen zu diesem Spiel s. das Glossar. 159 Giacomo Casanova: Geschichte meines Lebens, hg. von Günter Albrecht, Bd. 10, Leipzig/ Weimar 1987, S. 115 – 116. Zu Casanova und den Glücksspielen vgl. Thomas M. Kavanagh: Dice, Cards, Wheels. A Different History of French Culture, Philadelphia 2005, S. 85 – 109. Ein Lotterielos kostete zwei Rubel und die Ausspielung umfasste 15.000 Nieten sowie 2.000 Gewinnerlose, vgl.: Simon Dixon: Catherine the Great, London 2009, S. 61. 160 Casanova: Geschichte meines Lebens, S. 158. 161 Simon Dixon: Catherine the Great, Harlow 2001, S. 151. 162 RWN, Nr. 4, 23. 01. 1772. 163 RWN, Nr. 24, 13. 06. 1793.

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oben bereits zitierte Hanauer Bücherlotterie illustriert (s. Kap. III.3.2). Dabei konnten die Veranstalter von den Teilnehmern eine gewissene Bildung erwarten und darüber hinaus argumentieren, sie würden zur Verbreitung von Wissen beitragen.164

4.2 Lotterien in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Obwohl die Analyse erst mit den Revaler Zuchthauslotterien zwischen 1746 bis 1757 ansetzt, hatte es schon zuvor andere kleinere Lotterien gegeben. Im Jahre 1721 plante der Stadtrat eine Lotterie für den Gotteskasten, ohne eine konkrete Maßnahme näher zu beschreiben. Die Lotterie sollte aus 4.000 Losen bestehen und in vier Klassen ausgespielt werden. Da die Organisatoren bis Anfang 1723 nur etwas mehr als die Hälfte der Lose verkauft hatten, beschlossen sie, die Lotterie zu halbieren, d. h. auf 2.000 Lose zu begrenzen. Doch es befanden sich bereits mehr als diese 2.000 Lose im Umlauf, sodass die letzten Käufer ersucht wurden, ihre Nummern zurückzugeben. Der Hauptpreis der vierten Klasse betrug nun 500 Rubel. Die Ziehungen sollten am 11. Februar 1723 im Rathaus beginnen und montags und mittwochs so lange fortdauern, bis alle Preise zugelost worden waren.165 In Reval ergab sich etwa zur gleichen Zeit die Möglichkeit, Geld in eine Rigaer Klassenlotterie zu investieren. Der Rigaer Rat beschloss 1721 zum Wiederlaufbau der Petrikirche eine Lotterie durchzuführen, die aus 15.000 Losen zu je 2 Reichstalern bestand.166 Zuvor hatte ein Blitzeinschlag ein vernichtendes Feuer entfacht und das Gotteshaus weitgehend zerstört. Wie erfolgreich diese große Lotterie war, lässt sich zwar nicht sagen, aber bereits Anfang 1724 weihte man die Kirche für den Wiederbeginn der Gottesdienste. Für den noch fehlenden Turm wurde anschließend eine weitere Lotterie im Jahre 1734 initiiert. Dieses Mal zog sich der Beginn entsprechenden Bauarbeiten jedoch noch bis 1745 hin.167 Dem Anschein nach plante der Revaler Rat 1744 eine noch größere Lotterie. Nicht weniger als 25.000 Lose sollten für zwei Rubel pro Stück an interessierte Käufer gegeben werden. Der Höchstgewinn der einklassigen Lotterie betrug 4.000 Rubel. Jedoch kam dieses überdimensionierte Projekt wohl nie zur Ausführung, da der entsprechende Plan nur handschriftlich überliefert wurde.168 Die aufgezählten Beispiele belegen somit, dass es 164 Zu Wissenschafts- und Kunstlotterien vgl. Erwin Leibfried: „…an den Zufall muß man gleich übertriebene Forderungen machen.“ Lotterie und Literatur bei Goethe, in: Roland Borgards u. a. (Hrsg.): Kalender kleiner Innovationen. 50 Anfänge einer Moderne zwischen 1755 und 1856, Würzburg 2006, S. 149 – 153, hier S. 151. 165 Die Informationen zu der genannten Lotterie befinden sich in: TLA, Rep. 230. 1.B. O.07, fol. 83v-85r. 166 Der Lotterieplan befindet sich in: Ebd., fol. 81v-82r. 167 Philipp Schwartz: Die von der Stadt Riga veranstalteten Lotterien im 17. und 18. Jahrhundert, in: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Russlands aus dem Jahre 1906, Riga 1907, S. 61 – 62. Der tatsächliche Aufsatz ist wahrscheinlich nicht überliefert. In den Sitzungsberichten der Gesellschaft befindet sich lediglich eine kurze Zusammenfassung der Arbeit des damaligen Rigaer Stadtarchivars. 168 TLA, Rep. 230.1.B. O.07, fol. 87v-88r.

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durchaus schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Möglichkeiten zur Teilnahme an unterschiedlichen Lotterien für die Revaler Bevölkerung gab; die Obrigkeit hatte bereits das Profitpotenzial dieses Glücksspiels erkannt und genutzt. Doch erst mit den drei in kurzen Abständen aufeinander folgenden Zuchthauslotterien erlangte diese Spielform eine größere Aufmerksamkeit.

4.3 Die Zuchthauslotterien (1746 – 1757) Die Überlieferungssituation stellt sich besonders für die erste Revaler Zuchthauslotterie (1746 – 1748) hervorragend dar. Das Tallinner Stadtarchiv bewahrt einen dicken Folioband von mehreren hundert handgeschriebenen Seiten auf, in dem sich zwei aussagekräftige Quellen befinden. Zum einen enthält der Band das komplette Protokoll der Losverkäufe, zum anderen vervollständigen die Ziehungslisten das Bild der Lotterie.169 Das Protokoll ermöglicht eine genaue Beschreibung der Verwaltungs- und Vertriebsstrukturen sowie detaillierte Angaben zu den Losverkäufen. Für die zweite Zuchthauslotterie (die Ziehung erfolgte 1750) stehen dagegen lediglich die gedruckten Ziehungslisten zur Verfügung, die eine weniger detaillierte Rekonstruktion erlauben.170 Über die dritte und letzte derartige Lotterie informiert ein kurzes Protokoll, das in der Akte über die Finanzierung des Zuchthauses enthalten ist. Diese Quelle dokumentiert zudem vor allem die Einnahmen und Ausgaben der Besserungsanstalt, wodurch die Gewinne der Lotterien ins Verhältnis der Jahresbilanzen gestellt werden können.171 4.3.1 Die Organisationsstruktur und der Losverkauf der ersten Zuchthauslotterie Der Revaler Stadtrat beschloss am 2. Dezember 1746 mit der Einwilligung „beyder Gilden“, eine Lotterie zu realisieren. Zuvor hatte der Ratsverwandte Wilhelm Hinrich Gernet einen Plan entworfen, der eine einklassige Lotterie mit 10.000 Losen für jeweils einen Rubel skizzierte. Neben dem Hauptpreis von 800 Rubeln gab es zusätzlich mehr als 3.000 andere Gewinne, die aber größtenteils nur einen Rubel betrugen. Wie üblich ergaben die Bruttoeinnahmen für die Lotterieveranstalter die Bruttogewinne für die Spieler (beides 10.000 Rubel). Die Unternehmung rentierte sich beim Verkauf aller Lose für den Veranstalter trotzdem, weil 12 Prozent aller Gewinne als Spende an das Zuchthaus abgeführt werden mussten. Der eben erwähnte Gernet sowie der Ratsverwandte und Kämmerer Christian Wistinghausen wurden zu Lotteriedirektoren erhoben. Adrian Heinrich Frese erhielt die Posten des Sekretärs und verfasste damit das eingesehene Protokoll sowie die Ziehungsliste. Zwei Tage später, am 4. Dezember, berief man zusätzlich die Ältesten Hans Jacob Eggers und 169 TLA, Rep. 230.1.452-Ak 12. 170 TLA, Rep. 230.1.B. O.07, fol. 138v-181v. 171 TLA, Rep. 230.1.Bs37.

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Hermann Bluhm (beide Kaufhändler) aus der Kaufmannsgilde sowie die Ältesten Johann Gellern (Buchhändler) und Jean Bouillon (Perückenmacher) aus der St. Knudsgilde zu „Mit-­Directeurs“ der Lotterie. Damit besetzten ausgewählte Repräsentanten lokal angesehener Korporationen des Stadtrates die Schlüsselpositionen der Klassenlotterie und legitimierten sie dadurch für die Öffentlichkeit.172 Zum Aufgabenbereich des Sekretärs gehörte die Ausgabe der Lose, wozu sein in der Langenstraße befindliches Haus montags und donnerstags als Verkaufsstelle diente. Käufer von bis zu 50 Losen sollten sofort bezahlen, wenn „aber ein bekandter 50 Loße und darüber zugleich nimt,“ musste derselbe die Zahlung erst zwei Wochen vor Beginn der Lotterieziehung leisten.173 Obwohl man es nicht direkt formulierte, zielte diese Verkaufsstrategie keineswegs darauf ab, begeisterten Lotteriespielern durch die Gewährung eines Zahlungsaufschubs die Kaufentscheidung zu erleichtern. Vielmehr ging es um die Vergrößerung des Netzwerkes an Verkäufern, denn jeder Abnehmer von mehr als 50 Losen konnte und sollte als Zwischenhändler fungieren. Mit anderen Worten, man beschäftigte bis auf Frese keine professionellen Kollektoren, sondern lediglich Freiwillige, die den Losvertrieb mit Hilfe ihrer persönlichen Netzwerke unterstützten. Die erste Ziehung sollte nach Johannis (24. Juni) 1748 stattfinden. Da der Verkauf am 4. Januar 1748 begann, planten die Direktoren folglich, die 10.000 Lose innerhalb von gut einem halben Jahr abzusetzen. Doch das gesteckte Ziel erwies sich schnell als unrealistisch. Es hätten, grob überschlagen, 400 Lose pro Woche einen Käufer finden müssen. Schon am ersten Verkaufstag wechselten jedoch nur wenige Dutzend Lose ihren Besitzer. Viele Käuferinnen und Käufer gehörten zum Personenkreis um die Lotterieorganisatoren; das erste Los erwarb beispielsweise die Frau des Sekretärs.174 In den darauffolgenden Tagen stellte Frese zwar mehr Lotteriequittungen aus. Die Nachfrage beschränkte sich jedoch auf einzelne Personen aus der lokalen Elite. Am 8. Januar zeichnete der Ratsverwandte Johann Hermann Haecks 100 Lose. Am gleichen Tag erwarb Hans Jacob Eggers, einer der Vizedirektoren, 50 Lose und der Lotteriedirektor Hermann Bluhm folgte vier Tage später mit 60 Losen. Nur wenig andere Bürger der Stadt erwarben eine überschaubare Anzahl an Losen, die wahrscheinlich den eigenen Einsatz widerspiegeln. Unter ihnen befanden sich beispielsweise der Ratsverwandte Thomas Clayhills (10 Lose), der Assessor Carl Gustav Schulmann (7), Gold- und Silberschmied Herling (1) oder der Kaufhändler Reinhold Friedrich Krull (1). Natürlich reichte dieser auf die Stadtbürger fokussierte Absatz bei Weitem nicht zur Umsetzung des angestrebten Ziels. Zum ursprünglichen Ziehungstermin hatte Frese laut Protokoll lediglich 1.894 Lose verkauft, was eine planmäßige Ausspielung der Gewinne wegen des hohen Verlustrisikos für die Veranstalter unmöglich machte. Deshalb beschloss die Direktion, den Losvertrieb bis 172 TLA, Rep. 230.1.452-Ak 12, fol. 4v-4r; für den gedruckten Lotterieplan mit einer Erklärung des Spielmodus’ s. fol. 5v-6r. 173 Ebd., fol. 5r. 174 Ebd., fol. 7v. Die Devise des ersten Loses lautete: „Ich bin die Erste.“

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Michaelis (29. September) zu verlängern und die erste Ziehung auf den 26. Oktober zu verschieben. Die Verkaufsstrategie besagte nun offiziell, die „rückständigen Lose unter eigene Freunde zu vertheilen“.175 Die Verschiebung der Ziehung blieb nicht ohne Erfolg. Bürgermeister Balthasar Hinrich Lado übernahm 155 Lose und verteilte alle erfolgreich in seinem Bekanntenkreis. Auch die Schwarzhäupter gaben zunächst 50 und später noch mehr Lose innerhalb ihrer Korporation aus. Mitunter reihten sich in die Gruppe der Käufer Institutionen, die nicht ihr Geld, sondern das von einer zweckgebundenen Kasse ausgaben. Beispielsweise erwarb die Armenkasse einer Kirche 50 Lose und aus der Kasse für Kirchenbauten finanzierte man 14 Lose. Die Verkaufszahlen reichten jedoch erneut nicht. Am 24. September, d. h. weniger als eine Woche vor dem Verkaufsstopp, trafen sich Wistinghausen, Gernet, Eggers, Bluhm, Gellern und Bouillon mit dem Schreiber Frese zu einer Krisensitzung. Diesmal hatte man zwar bereits verhältnismäßig viele Lose verteilt (8.754), von denen allerdings 1.200 noch nicht verkauft waren. Für eine noch viel größere, nicht benannte Anzahl von Losen stand die Bezahlung zudem noch aus, obwohl die vierzehntägige Zahlungsfrist längst verstrichen war. In dieser prekären Situation entschied sich das Gremium, den Ziehungstermin auf einen unbestimmten, in der nahen Zukunft liegenden Tag zu verschieben. Hauptsächlich sollte es nun darum gehen, sich auf die Verteilung und Bezahlung der bereits ausgegebenen Lose zu beschränken.176 Am Anfang des Jahres 1748 tagte das Lotteriegremium und besprach die nur unwesentlich verbesserte Situation. Frese hatte 9.356 Lose ausgegeben, wobei die Bezahlung von 3.000 Losen noch ausstand. In der Hoffnung, dass die erwarteten Summen nach der ersten Ziehung eintreffen würden, einigte man sich auf den 28. März als Ziehungstermin. Zwei Wochen vor diesem Datum setzten die Lotteriedirektoren ein „Memorial“ an den Revaler Stadtrat auf, in dem sie in ungewöhnlicher Deutlichkeit die immer noch unbefriedigende Situation der Lotterie aufzeigten. Zunächst betonten sie, dass der Rat sie mit der Durchführung der Lotterie beauftragt hatte und sie ihre Aufgaben mit großer Sorgfalt ausführten; trotzdem konnten sie nichts an der zweimaligen Verschiebung des Ziehungstermins ändern. Sie strebten an, den anberaumten dritten Termin, für den die nötigen Aushänge angeschlagen und sämtliche praktische Vorkehrungen getroffen waren, zu halten. Sie hofften, „auf solche Weise, den durch die zweimalige prolongationes einigermasen geschwächten öffentl. Credit wiederzuerhalten“. Sie durften den Termin kein weiteres Mal aussetzen, wenn sie sich in der Öffentlichkeit nicht gänzlich unglaubwürdig machen und der „unausbleiblichen Schimpf- u. Schmach-­Rede“ ausgesetzt werden wollten. Nach Ansicht der Direktoren musste der Stadtrat, um nicht öffentlich gegeißelt zu werden und gleichzeitig die Lotterie zu einem finanziellen Erfolg zu führen, zunächst „die hiesige ehrhafte Gemeinde […] zum freiwilligen Einsatze“ ermahnen und den „wohlver-

175 Ebd., fol. 37v. 176 Ebd., fol. 146 r-147v.

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ordneten Herren“ nahelegen, ein Los zu zeichnen. Der Rat sollte dem „Publici“ deutlich die „heilsame Absicht“ des Projektes kommunizieren.177 Die unmissverständliche Ansage der Direktoren, dass das Lotterieprojekt nur mit einer sofortigen aktiven Unterstützung des Rates gelingen könne, verfehlte seine Wirkung nicht. Im März gingen viele der ausgegebenen Lose samt den entsprechenden Zahlungen beim Sekretär Frese ein. Beispielsweise verteilten und bezahlten Wilhelm Hinrich von Wehren 200, Barthold Straelborn 225 und Johann Hermann Haecks 229 Lose. Noch schwerer wog der Beitrag des Bürgermeisters Adolph Oom und dessen Söhnen, die sogar 703 Rubel einzahlten. Doch nicht jeder Verkäufer vermeldete derartige Erfolge. Ewert Lohmann schickte 40 Rubel für die 100 entgegengenommenen Lose und einem der Lotteriedirektoren, Hermann Bluhm, der 500 Lose übernommen hatte, gelang es lediglich, knapp die Hälfte der Lose zu verkaufen. Wie die mächtigen Ratsherren ihre Beziehungen für die Lotterie innerhalb Revals einsetzten, lässt sich auch daraus ablesen, dass selbst der Gottkasten, also das Geld der Kirchengemeinde, 100 Lose finanzierte. Zwei Tage zuvor hatte schon die „Allgemeine Stadt-­ Cassa“ 191 Lose erworben. Darüber hinaus beteiligten sich die meisten Ratsverwandten selbst rege am Ankauf von Losen. Obwohl die Direktoren nicht alle 10.000 Lose planmäßig absetzten, weil einige Abnehmer einen Teil ihrer großen Kontingente wieder zurückgaben, gelang den Veranstaltern die Ausgabe aller Lose. Die letzten beiden erwarb übrigens Sekretär Frese persönlich.178 4.3.2 Die Ziehung der Lose und der finanzielle Ertrag der ersten Zuchthauslotterie Trotz aller Unwägbarkeiten fand die erste Ziehung am 28. März 1748 im Haus der Großen Gilde öffentlich statt. Neben interessierten Zuschauern waren die „wohlverordneten Herren Directeurs“ und zwei Waisenknaben anwesend. „[N]achdem zuverhero die 24 größten Gewinne öffentl. eingewickelt und gemischet worden“, griffen die Waisen die Lose eins nach dem anderen aus dem Glücksrad.179 Die geringeren Gewinne hatte die Direktion zusammen mit den Nieten bereits vorher mehrfach genau geprüft und in die dazu speziell gefertigten Glücksräder gelegt. Die Ziehung selbst verlief ohne Zwischenfälle und endete gut sechs Wochen später am 9. Mai 1748. Es ließ sich im Mai noch nicht abschätzen, wie viel die Lotterie eingebracht oder ob sie sogar Verlust produziert hatte. Zum einen bezahlten einige Losabnehmer erst später die fällige Summe. Der Kämmerer Wistinghausen überwies beispielsweise erst am 20. Juni 244 Rubel und der Älteste Eberhard zur Mühlen beglich eine ähnliche Summe am 11. Juli. 177 Ebd., fol. 175v-176v. 178 Ebd., fol. 179r. Die beiden Devisen von Frese lauteten: Für das Los Nr. 9.999: „Die Zahlen sprechen 4. Mal Nein, die Antwort wird gewogen seyn.“ Für Los Nr. 10.000: „Im Circul küßen sich der Anfang und das Ende!“. 179 Ebd., fol. 182r.

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Zum anderen ergaben sich noch Kosten, zu denen kleinere Beträge für die „Arbeitskerle“ oder verauslagte Postkosten gehörten. Das Gehalt des Sekretärs Frese schlug mit über 200 Rubeln schon deutlicher zu Buche. Anfang Dezember 1748 erfolgte eine vorläufige Abrechnung, nach der „durch diese Lotterie zum besten des Zuchthauses rein, und nach Abzug aller Unkosten, 1.168 Rub. 71 Kop. gewonnen“ wurden.180 Mehr als ein Jahr später konnte dieses respektable Ergebnis sogar nach oben korrigiert werden. Da einige Spieler ihre Gewinne nicht abgeholt hatten, lag der Gewinn am Ende sogar bei 1.419 Rubel und 59 Kopeken.181 Bedenkt man nun, dass bei idealem Verlauf dieser Klassenlotterie – alle Lose wären verkauft und alle Preise wären abgeholt worden – ein Bruttogewinn von 1.200 Rubeln gestanden hätte, war die Unternehmung ein voller monetärer Erfolg. Wie ist dieses augenscheinlich hervorragende Gesamtergebnis mit dem schleppenden Verkauf der Lose, der mehrmaligen Verschiebung der Ziehung und der zeitweiligen Verzweiflung der Direktion in Einklang zu bringen? Tatsächlich gelang der beachtliche Gewinn nur dank einiger Kunstgriffe und etwas Glück. Als Erstes vergüteten die Organisatoren einige notwendige Leistungen mit Losen. Der Tischlermeister Lüdemann hielt für die Anfertigung der beiden Glücksräder beispielsweise sechs Lose und auch der Buchdrucker Köhler bekam als Lohn für seine Arbeit kein Bargeld, sondern zwölf Lose. Damit steigerte die Direktion den stagnierenden Losabsatz und konnte außerdem aufgrund der relativ geringen Gewinnwahrscheinlichkeit darauf hoffen, die Leistung letztlich kostenlos zu erhalten. Brachte dieser Trick höchstens einige Rubel zusätzlich auf die Habenseite, wog der Ankauf recht großer Loskontingente durch öffentliche Kassen schon schwerer. Wie bereits oben erwähnt, erwarb die Kirchenkasse für Arme 50 und die Kirchenbaukasse 14 Lose. Einmal kaufte jemand mit dem Geld des Gotteskastens 100 Lose. Die Korporationen, welche die Zuchthauslotterie unterstützen, nahmen auf Kosten ihrer Kassen ebenso eine stattliche Menge an Losen ab. Letztlich beglich die allgemeine Stadtkasse Revals nach Vollendung der Ziehung eine Rechnung über 150 Rubel, für die sie wahrscheinlich eine entsprechende Anzahl an Losen erhalten hatte. All das bedeutet letztlich, dass das Geld für wohltätige oder gemeinnützige Zwecke erst auf dem Umweg über die Zuchthauslotterie an die Bedürftigen floss. Die Summe der zusätzlichen, sonst nicht eingegangenen Gelder betrug somit sicher weniger als 1.419 Rubel. Weiterhin verriet die Durchsicht der Ziehungsliste das Glück der Veranstalter. Viele der höheren Preise fielen nicht mit einem gezeichneten Los zusammen, weshalb eine nicht unerhebliche Summe bei der Lotteriedirektion verblieb. Die höchsten einbehaltenen Preise betrugen 200 und 100 Rubel. Um einen anschaulichen Eindruck der Größenordnung der nicht ausgeschütteten Gewinne zu erhalten, kann man alle nicht besetzten Preisgelder über 10 Rubel zusammenrechnen und erhält 941 Rubel. Somit resultierten

180 Ebd., fol. 187v. 181 Ebd., fol. 188v.

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Zweidrittel des Gewinns aus dem glücklichen Umstand, dass viele hohe Preise nicht ausgezahlt werden mussten. Der letzte Grund für den enormen Gewinn des Unternehmens ist naheliegend, lässt sich allerdings für diese Lotterie nicht nachweisen. Die lokale Elite verantwortete nicht nur den Großteil des Losvertriebs, sondern hatte auch einen beträchtlichen Teil der Lose selbst übernommen. Da es in ihrem Interesse lag, ihre Finanzierungsidee für das Zuchthaus in ein positives Licht zu rücken, dürften einige Personen freiwillig auf ihren Gewinn verzichtet haben. Immerhin erhöhte sich der Reingewinn, der die nicht entgegengenommenen Preisgelder einkalkulierte, um fast 300 Rubel. Insgesamt führte demnach weniger eine große anonyme Nachfrage zu dem glänzenden Ergebnis. Vielmehr glückte das Vorhaben dank einiger Rechentricks, des Zufalls und der aktiven Unterstützung der lokalen Elite. 4.3.3 Die zweite Zuchthauslotterie Obwohl die Lotteriedirektion den Reingewinn von über 1.400 Rubel nur mühsam erwirtschaftet hatte, beschloss der Stadtrat eine weitere Lotterie in Angriff zu nehmen. Immerhin beförderte die erwirtschaftete Summe das Gelingen des Zuchthausprojektes in nicht zu unterschätzendem Maße (s. Kap.  III.4.3.5). Auf ein ähnlich gutes Ergebnis hoffend, verpflichtete der Stadtrat die bereits erfahrenen Direktoren Wistinghausen und Gernet zur Leitung des Unternehmens. Als Kommissionsmitglieder stand ihnen neben den bekannten Eggers, Gellern und Bouillon noch der Kaufhändler Johann Friedrich Hippius zur Seite; Frese fungierte wieder als Sekretär. Der Lotterieplan nahm dagegen eine völlig andere Gestalt an. Statt 10.000 Lose für einen Rubel das Stück zu verkaufen, entschied man sich 6.000 Lose für jeweils zwei Rubel anzubieten. Gleichzeitig gab es keine Nieten mehr. Tatsächlich versprach der Lotterieplan sogar mehr Gewinne als Lose vorhanden waren – einige Spieler konnten also mit einem Los doppelt gewinnen. Dafür halbierte sich der Höchstgewinn auf nur 400 Rubel.182 Zwar erlauben die Quellen keine Angaben über den Verlauf dieser Unternehmung, weil das zugehörige Lotterieprotokoll nicht auffindbar war. Allerdings existiert noch die vollständige Ziehungsliste, aus der hervorgeht, wie viel die tatsächlich verkauften Lose den Besitzern einbrachten. Zudem ergibt sich aus ihr der Anteil von verkauften und einbehaltenen Losen, woraus sich Rückschlüsse zur Beliebtheit der Lotterie ziehen lassen. Von 6.000 Losen waren lediglich 727 besetzt, d. h. gerade einmal 12 Prozent. Anders gesagt, es hatten fast 90 Prozent der Lose keinen Abnehmer gefunden. Es lässt sich nur spekulieren, weshalb der Absatz derart ernüchternd ausfiel. Einen entscheidenden Faktor stellte sicherlich die Preiserhöhung dar. Bedeutete ein Rubel für die Mehrheit der Revaler bereits eine hohe oder gar unerschwingliche Zugangsbarriere zu diesem Spiel, verringerte sich der Personenkreis bei einer Verdopplung des Preises umso mehr. Gleichzeitig reizte der halbierte Hauptgewinn die Spieler weniger. Auf dem Papier 182 TLA, Rep. 230.1.B. O.07, fol. 138 r-139 v.

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gab es zwar keine Nieten mehr, aber die meisten wussten wohl, dass ein Gewinn von einem Rubel, den man für mehr als 5.000 Lose ausschüttete, einer Niete gleichkam. Weiterhin hatten viele potenzielle Käufer bereits wenige Jahre zuvor in großem Umfang Lose gekauft und/oder vertrieben. Möglicherweise widerstrebte ihnen ein erneuter Einsatz, zumal eine direkte Spende an das Zuchthaus die rechnerisch vernünftigere Lösung darstellte. Insgesamt verwundert der mangelnde monetäre Erfolg dieser Klassenlotterie nicht, weil die Verantwortlichen Konsequenzen aus dem ersten Versuch gezogen hatten, die zu keinem höheren Absatz führen konnten. Dass die Lotterie letztlich nicht zu einem finanziellen Desaster avancierte, war eine Mischung aus Wahrscheinlichkeit und Glück. Da man nur wenige Lose ausgab, brauchte man den Spielern auch nur wenige Gewinne auszahlen. Und die Preise, die die Loskäufer zugelost bekamen, blieben mehrheitlich niedrig; der Hauptreis von 400 Rubel musste beispielsweise nicht entrichtet werden. 4.3.4 Die dritte Zuchthauslotterie Wie bereits bei der ersten und wahrscheinlich auch bei der zweiten Zuchthauslotterie genehmigte der Stadtrat samt den beiden Gilden eine weitere Lotterie am 4. Februar 1755. Dieses Mal verfolgten sie wieder eine andere Strategie. Insgesamt sollten 6.000 Lose zu je einem Rubel verkauft werden. Entscheidend veränderten sich die Preise, denn nicht Bargeld, sondern „Galanterie- und andere Wahren“ warteten auf die Gewinner.183 Mit einer Warenlotterie hofften die Organisatoren womöglich auf eine höhere Marge, denn Sachpreise ließen sich leicht höher ansetzen, als deren tatsächlicher Marktwert war. Wilhelm Hinrich Gernet, der erneut den Plan entworfen hatte, stand zusammen mit dem Ratsverwandten Hans Jacob Eggers in der Verantwortung eines reibungslosen Ablaufs. Die beiden fanden Unterstützung in den Kommissionsmitgliedern Johann Nicolas von Suhden (Ältester der Großen Gilde), Cornelius von zur Mühlen (Große Gilde), Jürgen Pahp und Sven Herling (beide Älteste der Knudsgilde). Der bekannte Adrian Heinrich Frese erledigte die Tätigkeit des Sekretärs. Die Verkaufsstrategie zielte diesmal deutlich auf die Nutzung der persönlichen Netzwerke der Kommissionsmitglieder ab. Allein Direktor Gernet erwarb in den ersten zwei Monaten insgesamt 500 Lose und zur Mühlen übernahm weitere 200 Stück. Doch bereits Ende Mai 1756 bahnte sich ein ungenügender Absatz an, da nicht einmal ein Sechstel der Lose verkauft war. Die Kommission entschied sich daher dafür, den Lotterieplan dahingehend zu ändern, dass zu gleichen Teilen Bargeld- und Sachpreise ausgespielt werden sollten. Zugleich benannten sie die zu gewinnenden Waren sowie deren monetären Wert explizit. Als Hauptsachpreis wartete ein gefütterter Zobel für 250 Rubel auf einen neuen Besitzer. Die Lotterie bot weitere luxuriöse Artikel wie ein Porzellanservice (75 Rubel), ein paar große englische Spiegel (50 Rubel) und zwei englische Wanduhren (jeweils 30 Rubel). 183 TLA, Rep. 230.1.Bs37, fol. 37r. Unter Galanteriewaren (franz. galanterie – Aufmerksamkeit) verstand man modische Accessoires.

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Im unteren Preissegment befanden sich alltägliche Haushaltsgegenstände und Kramwaren, wozu beispielsweise Pfeifen, Butterdosen, Messer, Schnallen, Wollstrümpfe oder Scheren zwischen 25 Kopeken und zwei Rubeln gehörten. Den Sachpreisen stand die gleiche Anzahl an Bargeldpreisen gegenüber. Der höchste Gewinn betrug 250 Rubel und der niedrigste 25 Kopeken, wobei von diesen Werten noch 12 Prozent „zum Besten des Zucht-­Hauses“ subtrahiert wurden. Die Sachpreise erhielten die Glücklichen dagegen ohne weitere Abzüge, da diese wahrscheinlich bereits entsprechend überbewertet waren.184 Der Verkauf der Lose verbesserte sich trotz alledem nur unwesentlich. Direktor Eggers übergab beispielsweise seinem Buchhalter, der nach St. Petersburg reiste, 100 Lose für den dortigen Vertrieb. Insgesamt verlief der Losverkauf weiterhin sehr schleppend, weshalb die Veranstalter den Spielmodus der Lotterie im März 1756 erneut modifizierten; das Protokoll gibt über die Details der Änderungen keine Auskunft. Nachdem sich jedoch der Absatz bis zum Juli 1756 nicht entscheidend erhöht hatte, halbierten die Veranstalter die Lotterie: Statt 6000 gab es nur noch 3000 Lose und dasselbe galt für den Wert der Sach- und Bargeldpreise. Damit verringerten sie zwar das Risiko, mit der Unternehmung Verluste zu verzeichnen, nahmen aber der sowieso schon wenig attraktiven Lotterie zusätzlich ihren Reiz.185 Die Kommission setzte die erste Ziehung, die zuvor bereits verschoben worden war, für den 11. September 1756 an. Noch am Tag vor der Ziehung verringerten die Organisatoren die Lotterie um weitere 300 Lose und hoben den Bargeldhauptpreis auf 400 Rubel an; sie veränderten den ursprünglichen Plan somit erheblich. Nachdem man die Ziehung ordnungsgemäß vollzogen und die Ziehungslisten veröffentlicht hatte, mussten bis zum November Waren im Werte von fast 1.200 Rubel und Barpreise für über 860 Rubel ausgezahlt werden; es bahnte sich trotz aller Unwägbarkeiten ein positives Ergebnis an. Bei der Abschlussbilanz im August 1757 blieb ein Reingewinn von 359 Rubeln, der dem Zuchthaus zugeführt wurde.186 4.3.5 Die Bewertung des Ertrags der Zuchthauslotterien Aufgrund der Protokolle der ersten und der dritten Lotterie kennen wir die Reinerträge, die sich auf 1.419 bzw. 359 Rubel beliefen. Über das Ergebnis der zweiten Lotterie lässt sich nur spekulieren, jedoch wird es wohl keinen Verlust gegeben haben, da der Stadtrat in diesem Fall wohl auf eine Neuauflage verzichtet hätte.187 Was aber bedeuteten diese Einnahmen für die Finanzierung des Zuchthauses? Ein zwischen 1748 und 1753 geführtes Rechnungsbuch listet als Gesamtausgaben des Zuchthauses für diese Periode insgesamt 184 185 186 187

Der Lotterieplan befindet sich in: TLA, Rep. 230.1.Bs37, S. 38v-­r. Ebd., fol. 40r. Ebd., fol. 45v. Eine Position in einem Rechnungsbuch der Zuchthauslotterie wies einen Eingang von 651 Rubel als Gewinn der 2. Lotterie aus. Zudem folgt direkt danach ein weiterer Zahlungseingang von Frese in Höhe von 200 Rubeln. TLA, Rep. 230. 1.Bs 37, die Liste ist nicht paginiert.

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über 3.400 Rubel. Als besonders kostenintensiv erwiesen sich die Jahre 1749 (921 Rubel) und 1750 (1.165 Rubel). Die Einnahmeseite enthält eine differenzierte Angabe der einzelnen Positionen, entspricht in der Summe jedoch exakt den Ausgaben. Die mit Abstand größten Einnahmequellen waren die Lotterien, denn Sekretär Frese überwiese mehrfach stattliche Tranchen im dreistelligen Bereich. Darüber hinaus finden sich auch andere Eingänge, die mit der Lotterie in Zusammenhang stehen, sodass die Kosten ohne die Lotterien nicht gedeckt worden wären; es hätten andere Einnahmenquellen erschlossen werden müssen.188 Leider beginnen die detaillierten Rechnungsbücher erst ab 1769 und besonders für die 1770er-­Jahre ließen sich genaue Einnahmen- und Ausgabenstatistiken anfertigen. Zu dieser Zeit fanden jedoch schon keine Zuchthauslotterien mehr statt. Einerseits besteht die Vermutung, dass der sukzessive Rückgang der Einnahmen durch derartige Unternehmen, die zudem nicht ohne Risiko waren, dafür verantwortlich ist. Andrerseits zeigen die überlieferten Rechnungsbücher, dass sich ein ausgeglichener Haushalt auch ohne Lotterien realisieren ließ. Die laufenden Kosten für Heizung, Nahrung und dergleichen betrugen oftmals nicht mehr als 400 Rubel. Diese Summe erwirtschafte das Zuchthaus neben Spenden und Zuwendungen aus der allgemeinen Stadtkasse insbesondere durch die Arbeitsleistung der Insassen.189 Die beschriebenen Lotterien leisteten damit einen substanziellen finanziellen Beitrag zur Etablierung des Zuchthauses, das möglicherweise anders nur schwer zu gründen gewesen wäre. Doch in den späteren Jahren, als die laufenden Kosten auf ein kalkulierbares Maß sanken, bedurfte es dieser riskanten und anstrengenden Methode der Kapitalakquise nicht mehr.

4.4 Die Kirchenlotterien in Reval Die Lotterien zur Unterstützung der Olafs- (1769) und der Nikolaikirche (1771) waren die letzten nachweisbaren Lotterien Revals sowie der Provinz, bevor Katharina  II . diesem Glücksspiel ein vorläufiges Ende setzte. Es handelte sich wieder um Klassenlotterien, wobei die Organisatoren diesmal – anders als bei den Zuchthauslotterien – ein Modell bestehend aus vier Klassen wählten. Nun unterstützte die Lotterie auch nicht mehr eine dem aufgeklärten Zeitgeist entsprechende neugegründete Institution, sondern finanzierte das Interieur der Gotteshäuser. Zwar mutet es im ersten Moment seltsam an, dass die Kirche vom kommerziellen Glücksspiel profitierte, weil beispielsweise Zedlers Universal-­Lexicon die Bedenken der Kirchenvertreter herausgestellt hatte (s. Kap.  III.2). Bei genauerem Hinsehen offenbart sich dagegen im 18. Jahrhundert ein oftmals sehr pragmatisches Verhältnis der Gemeinden gegenüber den Lotterien, wenn es um die Finanzierung von Sakralbauten und deren 188 Vgl. ebd. 189 Für die Rechnungsbücher der Jahre 1769/70, 1773/74, 1774/75, 1775/76, 1777/78, und 1778/79 vgl. ebd., S. 49 – 170.

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Ausstattung ging. Die 1721 abgebrannte Rigaer Petrikirche erhielt, wie oben beschrieben, durch die Veranstaltung mehrerer Lotterien monetäre Unterstützung. Die Beispiele ließen sich beliebig fortführen: Zwischen 1714 und 1729 renovierten die Pariser mehr als die Hälfte ihrer Kirchen mit den Gewinnen aus Lotterien.190 Den barocken Neubau der Dresdner Frauenkirche im Jahre 1726 finanzierte zum Teil die Ausspielung einer Lotterie.191 Und der Altar der Stralsunder Jakobikirche sollte Mitte des 18. Jahrhunderts ebenso mit der monetären Unterstützung einer Lotterie gefertigt werden.192 Im Folgenden interessiert besonders der Unterschied zwischen den Zuchthaus- und den Kirchenlotterien und inwiefern dieser auf einer Erhöhung der Nachfrage beruhte. Während die Zuchthauslotterien hauptsächlich wegen des persönlichen Einsatzes der Stadtelite nicht scheiterten und sogar stattliche Gewinne erzielten, setzten die Kirchenlotterien erfolgreich auf eine tendenziell anonyme Nachfrage. 4.4.1 Die Klassenlotterie der Olafskirche (1769)193 Als sich die Verantwortlichen der Olafskirche im Jahre 1763 entschieden, eine neue Orgel einsetzen zu lassen, suchten sie nach einem dafür geeigneten Meister. Fündig wurden sie in dem aus Halle in Sachsen stammenden Heinrich Andreas Contius, der sich bereits bei Orgelbauten in St. Petersburg (1761) und Riga (1766) bewährte hatte. Zwischen 1768 und 1771 organisierte er in Reval die Fertigstellung einer großen Orgel mit 42 Registern, die nicht weniger als 10.000 Rubel kostete. Da die reguläre Kirchenkasse mit dieser monetären Belastung überfordert gewesen wäre, bedurfte es zusätzlicher Einnahmen. Neben den regulären Kollekten leistete die hier vorzustellende Klassenlotterie einen nennenswerten, wenngleich nicht genau zu beziffernden Beitrag.194 Ähnlich wie bei den Zuchthauslotterien hatten der Stadtrat und beide Gilden die Ausspielung der Lotterie genehmigt. Der Lotterieplan benennt Johann Christian Gernet, einen Sohn des Direktors der Zuchthauslotterien, als „Collecteur“. Während dieses familiäre Verhältnis auf eine gewisse personelle Kontinuität hindeutet, verzichtete man auf eine Kommission, wie man sie bei der zurückliegenden Zuchthauslotterie eingerichtet hatte. Der zeitliche Abstand schien die notwendigen Lehren aus den früheren Projekten nicht zu verhindern. Der Plan der Kirchenlotterie setzte beispielsweise noch keinen Ziehungstermin

190 Kavanagh: Enlightenment and the Shadows of Chance, S. 58. 191 Paul: Erspieltes Glück, S. 47. 192 StASt, Rep. 28, Nr. 926. Diese Lotterie kam allerdings nicht zu Stande. 193 In den zeitgenössischen Quellen wird häufig der Name „Olai-­Kirche“ verwendet. Zur Vereinheitlichung wird hier konsequent der deutsche Name „Olaf“ genutzt. 194 Vgl. Wilhelm Joachim Rickers: Etwas über die Olai-­Kirche in Reval, Reval 1820, S. 22; zu Contius vgl. Richard Kassel: Contius, in: Ders. und Douglas E. Bush (Hrsg.): The Organ. An Encyclopedia, New York 2006, S. 124 – 125.

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fest, weshalb sich eine Verschiebung desselben nicht negativ auf die Glaubwürdigkeit des Unternehmens auswirken konnte.195 Anhand des erhaltenen Lotterieplans wird weiterhin sofort ersichtlich, dass es sich um eine aus vier Klassen besehende Lotterie mit insgesamt 10.000 Losen handelte. Den Höchstgewinn in der vierten Klasse setzte man mit 2.000 Rubel an und gestaltete diesen für die Spieler deutlich attraktiver als bei den Zuchthauslotterien. Es gab zwar einige Nieten, jedoch lagen die Gewinne mehrheitlich höher als der Preis eines Loses. Die Teilnahme an der ersten Klasse kostete 50 Kopeken und verteuerte sich mit jeder Klasse um diesen Wert, sodass der Preis für ein komplettes, alle vier Klassen umfassendes Los fünf Rubel betrug.196 Womöglich hatte diese Lotterie einen ähnlich schwachen Absatz wie die Zuchthauslotterien. Doch diesmal entschieden sich die Organisatoren nicht zu einer Verlängerung der Verkaufsfrist oder halbierten die Zahl der auszugebenden Lose, sondern sie änderten den Plan in einem anderen grundlegenden Punkt. Statt 50 bezahlte ein Spieler nur noch 25 Kopeken und statt fünf Rubel für ein komplettes Los lediglich zwei Rubel und 50 Kopeken. Gleichzeitig halbierten sich freilich die Gewinne, aber entscheidender scheint doch die Tatsache, dass man für einen Einsatz von einem Viertel Rubel zumindest an der ersten Klasse teilnehmen konnte. Damit vergrößerte sich der potenzielle Käuferkreis.197 Ob diese Maßnahme wirklich fruchtete, kann auf der Grundlage der vorliegenden Quellen nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Allerdings besteht die Möglichkeit, anhand der Ziehungslisten den Anteil von verkauften und nicht verkauften Losen zu berechnen. Demzufolge verkaufte man bei jeder der vier Klassen mehr als 20 Prozent der Lose (s. Diagramm 1). Was im ersten Moment nach einem schlechten Ergebnis ausschaut, entpuppt sich im Vergleich zu der zweiten Zuchthauslotterie als Erfolg. Bei dieser hatten nämlich bloß 12 Prozent aller Lose einen Abnehmer gefunden (s. Kap. III.4.3.3). 4.4.2 Die Klassenlotterie der Nikolaikirche (1771) Trotz der insgesamt wohl zufriedenstellenden Zusatzeinnahmen für die Orgel der Olafskirche gab es immer noch Steigerungspotenzial. Die anschließende Klassenlotterie der Nikolaikirche, deren konkreter Verwendungszweck nicht eindeutig zu klären ist, nahm erfolgreich einige Änderungen vor, um für die Spieler attraktiver zu werden. Zunächst verringerten die Organisatoren die Gesamtzahl der Lose auf 8.000 Stück, da diese einen Umsatz von 10.000 Losen wohl als unrealistisch erkannten. Außerdem erhöhten sie die

195 Vgl. zu diesen und den folgenden Angaben den ersten Lotterieplan in: BK, Ziehungs-­Liste der mit Bewilligung Eines Hochedlen und Hochweisen Raths der Kayserlichen Stadt Reval, zum Besten der hiesigen St. Olai-­Kirche errichteten Lotterie von 10.000 Looßen in vier Abtheilungen, Reval den 22 Junii 1769. 196 Der Preis von fünf Rubeln ergibt sich aus folgenden Rechnung: 50 Kopeken (1. Klasse) + einen Rubel (2. Klasse) + einen Rubel 50 Kopeken (3. Klasse) + zwei Rubel (4. Klasse). 197 Dazu s. den zweiten Plan in: BK, Veränderter Plan der Revalschen St. Olai Kirchen-­Lotterie.

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Zahl der Gewinnlose auf fast 6.500. Diese beiden Maßnahmen steigerten die Wahrscheinlichkeit der Teilnehmer etwas zu gewinnen; ein Spieler mit einem kompletten Los konnte nun zu 80 Prozent davon ausgehen, keine Niete zu erwerben. Gleichzeitig behielten die Organisatoren den Hauptgewinn in der vierten Klasse vierstellig (1.000 Rubel), weshalb die Lotterie sehr vorteilhaft auf ‚Glücksritter‘ wirken musste.198 Tatsächlich ermöglichte das auf den ersten Blick attraktive Spiel nur die Einführung von sogenannten „freyen Looßen“. Anhand der ersten Klasse lässt sich die Wirkung dieser besonderen Loskategorie anschaulich erläutern. Unter den insgesamt 1.204 Gewinnen in dieser Klasse befanden sich 1.000 Freilose, die jeweils mit einem Wert von 56 Kopeken berechnet wurden. Mit diesem Freilos erhielt der Spieler dann automatisch Zugang zur zweiten Klasse, für die er 50 Kopeken hätte bezahlen müssen; eine Barauszahlung des Gewinns unterließ man hingegen. In der zweiten und dritten Klasse funktionierten die Freilose analog zu dem eben beschriebenen Prinzip, weshalb ein Spieler theoretisch mit einem Einsatz von nur 25 Kopeken bis in die vierte Klasse vorstoßen konnte. Es stellte sich allerdings als wahrscheinlicher heraus, dass man nach dem Erhalt eines Freiloses in der anschließenden Klasse nicht zu den Gewinnern gehörte. Daher konnte ein Gewinner der ersten Klasse letztlich doch als Verlierer dastehen. 50

Olafskirche (1769)

45

Nikolaikirche (1771)

40 35 30 25 20 15 10 5 0

1. Klasse

2. Klasse

3. Klasse

4. Klasse

Diagramm 1: Anteil der verkauften Lose der Revaler Kirchenlotterien in Prozent.

Insgesamt entwickelte sich das modifizierte Lotterieformat zur verkaufsstärksten Klassenlotterie der hier für Reval analysierten Beispiele. Darauf weist der prozentuale Anteil von gezogenen Gewinnlosen hin. In jeder Klasse lag dieser nicht nur bei knapp über 20 Prozent, 198 Ebd., Ziehungs-­Liste der mit Bewilligung Eines Hochedlen und Hochweisen Raths der Kayserlichen Stadt Reval, zum Besten der hiesigen St. Nicolai-­Kirche errichteten Lotterie von 8000 Looßen in vier Abtheilungen, Reval den 10. 02. 1771.

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sondern verdoppelte sich auf deutlich über 40 Prozent der Lose. Nun ließe sich einwenden, dass die hinteren Klassen hauptsächlich aufgrund der Freilose mehr Zulauf erhielten. Dieses Erklärungsmuster griffe dann allerdings nicht für die erste Klasse, in der sich mehr als 40 Prozent der Lose in Spielerhand befanden. Das Beispiel der Kirchenlotterien veranschaulicht eindrucksvoll die Einwicklung von Lotterieformaten, die auf einen immer größeren Käuferkreis abzielten. Im Vergleich zu den Zuchthauslotterien richtete sich das Glücksspiel zur Finanzierung der Orgel in der Olafskirche vor allem an ein breiteres Publikum, da der Einstiegspreis für ein Los bei nur 25 Kopeken statt bei einem oder sogar zwei Rubeln lag. Bei der Klassenlotterie für die Nikolaikirche gründete sich der größere Anreiz, sein Geld zu setzen, auf der Einführung von Freilosen, die den Anschein einer größeren Gewinnchance erweckten. Doch auch wenn ein Spieler erkannte, dass ein Freilos wahrscheinlich keinen monetären Gewinn nach sich zog, konnten die Organisatoren die Hoffnung auf diesen steigern. Denn statt nur einmal auf Geld nach einem Loskauf hoffen zu dürfen, ermöglichte das Freilos, auch bei der anschließenden Klasse davon zu träumen.

5. Karten- und Würfelspiele in Stralsund „Ja, gespielt habe ich. Es war meine Pflicht. Ich muß wieder haben, was mein war.“199 Der überaus populäre Schauspieler und Dramatiker August Wilhelm Iffland ließ seine Hauptfigur, Baron von Wallenfeld, Ende des 18. Jahrhunderts in dem Schauspiel „Der Spieler“ dieses Geständnis vor seiner Familie ablegen. Zuvor hatte von Wallenfeld in nächtelangen Kartenspielen sein ganzes Vermögen verloren, womit er seine Ehre als Edelmann sowie die finanzielle Situation seiner treusorgenden Frau und seines minderjährigen Sohns gefährdete. Ifflands Theaterstück, das in einer langen Reihe von anderen zeitgenössischen dramatischen und literarischen Werken, die das Glücksspiel verarbeiten, einzuordnen ist, endet nach einem emotionalen Auf und Ab doch glücklich.200 Der Baron schwört dem Glücksspiel ab, nachdem er im Verlauf des Stückes viele typische Verhaltensmuster eines Spielsüchtigen gezeigt hat, von denen der Trieb, immer weiter zu setzen, um vorherige Verluste wettzumachen, nur ein Beispiel ist.201

199 August Wilhelm Iffland: Der Spieler. Ein Schauspiel in fünf Aufzügen, Grätz 1799, S. 103. 200 Exemplarisch genannt seien hier Florent Carton Dancourt: La Lotterie, Comedie, o. O. 1705; Christian Fürchtegott Gellert: Das Loos in der Lotterie. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, Bremen 1746; Karl Gotthelf Lessing: Der Lotteriespieler, oder die fünf glücklichen Nummern. Ein Lustspiel in drey Aufzügen Berlin 1769; Carl Gottfried Klaehr: Die Lotterielisten. Ein Lustspiel in zwey Akten, Meißen 1811; Isouard Nicolo: Das Lotterie-­Loos, Oper in einem Akt, Hamburg 1813. 201 Für weiterführende Informationen zu Suchtanzeichen vgl.: Günther Zeltner: Glücksspielsucht: Von der Leidenschaft zur Abhängigkeit, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Volles Risiko! Glücksspiel von der Antike bis heute, Leinfelden-­Echterdingen 2008, S. 271 – 273.

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Die vorhergehenden Abschnitte behandelten ausschließlich Lotterien, die idealtypisch für die Kategorie eines reinen Glücksspiels (alea) stehen, da der Spielende objektiv keinen Einfluss auf deren Spielausgang hat. Die folgenden Ausführungen widmen sich Glücksspielen, die agonale Elemente mit unterschiedlichen Ausprägungen aufweisen, sodass auch die Fähigkeiten des Einzelnen das Spiel entscheiden. Zudem wird mit dem Billard ein Wettkampfspiel (agon) in die Untersuchung aufgenommen, bei dem Fortuna höchstens eine untergeordnete Rolle einnimmt. Ziel dieses Kapitels wird es sein, die behandelten Spiele in den historischen Kontext von Stralsund und Reval einzuordnen. Wo erlaubte und wo tolerierte die Obrigkeit Karten- und Würfelspiele? Wie wirkte die offizielle Gesetzgebung in der Stadtgesellschaft? Inwiefern wurden diese Spiele in Stralsund und Reval institutionalisiert und professionalisiert? In der Praxis traten und treten Wettkampf- und Glücksspiele häufig als Mischformen auf. Dies beachteten auch die Zeitgenossen und unterschieden deshalb zwei Kategorien voneinander: Kommerzspiele (jeux de commerce) und Hasardspiele (jeux de hasard). Während Erstere in der subjektiven Wahrnehmung mehr Elemente beinhalteten, die das Können des Spielers auf die Probe stellten, galten Letztere als reine Glücksspiele.202 Die Obrigkeit sprach besonders Hasardspielen, zu denen Lotterien zumeist nicht gehörten, eine gesellschaftsgefährdende Wirkung zu, weshalb sie diese einem Großteil der Bevölkerung strengstens verbot.

5.1 Die Gesetzgebung Unter den vielen „Policey-­Ordnungen“203 der Stadt Stralsund, die das tägliche Miteinander organisierten, finden sich auch Glücksspielordnungen, welche der Stadtrat besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erließ und erneuerte. Zusätzlich zogen die Stralsunder Gerichte ältere Gesetze Schwedisch-­Pommerns 204 heran, die dem öffentlichen Vabanquespiel klare Grenzen setzten. Das erneuerte „Patent wegen der Ordnung“ von 1723205 verbot beispielsweise den Spielbetrieb von fremden „Spitz-­Buben“, welche die Leute mit Kartenspielen um ihr Geld brächten und „Leut-­Betrieger[n]“, die auf Jahrmärkten „Glücks-­Räder“ oder „Glücks-­Töpffe“ veranstalteten. Das Gesetz wandte sich damit insbesondere gegen das Glücksspiel von Ausländern und Betrügern zum Wohle der Landeskinder, wohingegen unklar blieb, welche Sanktionen auf die Übeltäter warteten. Die nachweislich erste eigenständige Stralsunder Glücksspielordnung datiert auf das Jahr 1762. Den Impuls dafür setzte die schwedische Regierung, indem sich der Kommandant 202 Kavanagh: Enlightenment and the Shadows of Chance, S. 30. 203 Zum Begriff und Konzept „Policey“ in der Frühen Neuzeit s.: Andrea Inselin: Gute Polizey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009. 204 Beispielsweise verwies der Stadtrat bei der Beschwerde von Hinrich Hill auf die Landespolizeiordnung von 1723. Vgl. LaGr, Rep. 10, Nr. 242. 205 AUBGr, Renovirtes Patent wegen der Policey-­Ordnung, 1723, Kap. IV.

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Glücksspiele

von Stralsund Graf Gabriel Spens im Namen des Generalgouverneurs Alex von Löwen an den Stadtrat richtete und dafür plädierte, die „Jeux de hazard“ zu verbieten. Jegliche Glücksspiele sollten vor allem in Kellern, Kaffeehäusern und anderen „publiquen Orten“ untersagt werden. Nur eine Woche nach dieser Bitte befahl der Rat, ein entsprechendes Verbot an den in Frage kommenden Orten anzuschlagen.206 Wahrscheinlich zeigten diese Maßnahmen noch nicht die gewünschte Wirkung, da Spens’ Nachfolger Johann Cronhielm 1764 die Forderung der schwedischen Regierung nach einem Glücksspielverbot erneuerte. In seiner Erklärung formulierte er deutlicher als sein Vorgänger, warum er sich überhaupt an die Stadtvertreter wandte. Er müsse nämlich Maßnahmen ergreifen, wenn er befinde, daß unterschiedliche von der Bürgerschaft und Stadt Einwohnern, welche nicht unter [s]einer Jurisdiction stehen auf Kellern, Caffée-­Häusern, Masqueraden und andern Zusammenkünften sich public damit abgeben, und dann solches der Militaire Anlaß giebet, gleichfalls darinnen theil zu nehmen.207

Er sah sich mit dem Dilemma konfrontiert, das Angebot von Hasardspielen für Soldaten unterbinden zu wollen, ohne aber über Sanktionsmaßnahmen zu verfügen, falls Militärs mit Stadtbürgern an zivilen öffentlichen Orten spielten. Ein anderes, bereits bekanntes Problem zeigte der Generalgouverneur Hans Henrik von Liewen dem Stadtrat im Februar 1768 an: Fremde befanden sich in der Hansestadt, die erlaubte Glücksspiele organisierten, wodurch sie den Bürgern und letztlich der Stadt und dem Land Bargeld entzogen. Daher sollten derartige Personen nicht mehr in den „öffentlichen Häusern“ der Stadt geduldet werden. Nur drei Tage später verfasste der Rat eine entsprechende Ordnung, die es Wirten bei 50 Gulden (25 Reichstalern) Strafe untersagte, fremde Spieler zu beherbergen.208 Im Unterschied zu dem allgemein gehaltenem Landespatent von 1723 nahm diese Verordnung die Wirte unter einer konkreten Strafandrohung in die Verantwortung. Diese Beispiele der Glücksspielgesetzgebung verdeutlichen, wie eingeschränkt die Kompetenzen des Generalgouverneurs und des Stadtkommandanten waren, wenn die Angelegenheiten im Aufgabenbereich der städtischen Legislative lagen. Der Regierung blieb in diesem Fall nur der Verweis auf einen Missstand und das Vorschlagsrecht, denselben zu beheben. Anders als bei den Klassenlotterien (s. Kap. III.3.3) befürwortete der Stralsunder Stadtrat jedoch die Initiativen der Regierung bezüglich des Hasardspieles und setzte ihre 206 StASt, Rep. 3, Nr. 26a. Es ist für dieses Jahr nicht überliefert, wo und wie viele Verordnungen angeschlagen wurden. Allerdings gibt es diese Informationen für eine Verordnung von 1799. Danach befand sich die Bekanntmachung an insgesamt 151 Orten, von denen die meisten im Quartier St. Marien (71) waren. In den Quartieren St. Jakobi (36), St. Nikolai (23) und St. Jürgen (14) hingen deutlich weniger aus. Die restlichen Verordnungen verteilten sich auf die angrenzenden Gebiete (Franken-, Triebseer und Knieperdamm). Vgl. StASt, Rep. 3, Nr. 26. 207 StASt, Rep. 3, Nr. 6021. 208 StASt, Rep. 3, Nr. 26a.

Karten- und Würfelspiele in Stralsund

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Vorschläge in konkreten Verordnungen um. Die Bevölkerung erfuhr die Gesetze dann über entsprechende Aushänge in öffentlichen Lokalen. Auf der Grundlage der letztgenannten Ordnung von 1768 verfasste der Stadtrat zehn Jahre später das erste Glücksspielverbot, das er in der Stralsundischen Zeitung veröffentlichte.209 Es enthielt sowohl die bereits bekannten Informationen als auch weiterführende Konkretisierungen zum Strafmaß. Die Stadtvertreter untersagten ohne konkrete Angabe von Gründen alle Hasardspiele in Schänken und Kaffeehäusern. Man verpflichtete Wirte, jegliche Spielversuche zu unterbinden. Falls sie das nicht schafften, sollten sie die Behörden informieren. Wirten und Spielern drohte bei Zuwiderhandlung eine Strafe von 25 Reichstalern, wovon der eine Teil des Geldes an den „Denunzianten“ gehen und der andere für fromme Zwecke verwendet werden sollte. Ein sehr viel umfassenderes Glücksspielverbot war die „Verordnung wegen der Glücksund Hazardspiele“ von 1794. Der erste Absatz warnte jeden potenziellen Spieler davor, „wie unverantwortlich und nachtheilig es für ihn und seinen Nahrungsstand 210 sey, sich auf dergleichen Spiele einzulassen“. Denn dabei bringe er „nicht [nur] einen vielleicht beträchtlichen Theil seines Vermögens auf einmal in Gefahr“, sondern versetze auch „sich und die Seinigen – als wovon leider! die Beyspiele nicht selten sind – in die traurigsten Umstände“.211 Damit gab eine Stralsunder Glücksspielverordnung das erste Mal eine direkte Begründung für das Reglement an, wohingegen der nachfolgende Teil weitgehend früheren Verboten entsprach. Es war „allen und jeden Wirthen auf Wein- und Caffee-­Häusern, Kellern und andern öffentlichen Orten, nicht weniger auch anderen bürgerlichen Personen, welche in ihren Häusern für Jedermann freyes Spiel verstatten“, untersagt, jegliches Würfelund Kartenspiel zu tolerieren. Sollten sie nicht in der Lage sein, das Spiel zu verhindern, hatten sie die Pflicht, „den verordneten Herren des Gerichts davon sogleich die Gehörige Anzeige zu thun“.212 Die Verordnung erfuhr darüber hinaus eine Erweiterung. Nun gestattete der Gesetzgeber den Herren, ihre Bedienten, Gesellen oder Burschen für illegales Spiel zu bestrafen, indem die Delinquenten drei Monatslöhne an ihre Arbeitgeber zahlen mussten. Zudem drohte den Straftätern die Entlassung ohne Angabe von weiteren Gründen. Diese Verordnung modifizierte der Stralsunder Rat nur fünf Jahre später, nachdem das verantwortliche Gericht die Nachteile der bisherigen Rechtsnorm in der Praxis beschrieben

209 StZ, Nr. 20, 14. 02. 1778. 210 In der Oeconomischen Encyclopädie von Krünitz wird man von ‚Nahrungsstand‘ zum Eintrag ‚Nährstand‘ weitergeleitet. Dieser sei „derjenige Stand unter den Menschen, welcher sich zunächst mit der Erwerbung seiner Nahrung, d. i. seines Unterhaltes beschäfftiget.“ ‚Nährstand‘, in: Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, Bd. 101, Berlin 1801. 211 Johann Carl Dähnert (fortgesetzt von Gustaf von Klinckowström, Hrsg.): Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-­Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Nachrichten, Bd. 3, Stralsund 1799, S. 86 – 87, hier S. 87. 212 Ebd.

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Glücksspiele

hatte.213 Besonders kritisierte es die fehlende Abstufung des Strafmaßes. Die Geldstrafe von 25 Reichstalern sei niedrig für Fälle, bei denen um mehrere hundert Reichstaler gespielt werde – das Kartenspiel „Pharao“214 wird hier explizit als Beispiel genannt – während der Betrag bei Karten- und Würfelspielen mit kleineren Einsätze zu hoch gewählt sei. Zudem könne man auch Wiederholungstäter nicht angemessen bestrafen. Nur zwei Monate später ließ der Rat eine neue Ordnung drucken, die viele der gemachten Vorschläge aufgriff. Die wichtigsten Punkte lauteten wie folgt: •• Sowohl Wirte von Wein- und Kaffeehäusern als auch bürgerliche Personen mussten verhindern, dass Gäste bei ihnen spielten. Sollten sie sich nicht daran halten, bekamen sie beim ersten Nachweis einer Zuwiderhandlung eine Geldbuße von 25 und beim nächsten Mal von 50 Reichstalern. Beim dritten Gesetzesübertritt verloren die Wirte ihre Schankgenehmigung. •• Für die einheimischen Delinquenten veranschlagte man ein Bußgeld von fünf bis 25 Reichstalern, das von der Spielsumme und der Häufigkeit der Tat abhängig war. Fremde Übeltäter gingen für zwei Wochen bei Brot und Wasser ins Gefängnis. •• Geschädigte Spieler konnten ihr verlorenes Geld zurückfordern und blieben überdies straffrei, sofern sie ihre Mitspieler denunzierten. •• Eine besondere Spielergruppe stellten weiterhin die Bediensteten und Lehrburschen dar. Sie durften keine für andere Personen erlaubte Würfel- und Kartenspiele um Geld spielen. Sofern sie es in einem Wirtshaus dennoch taten, erhielt ein untätiger Wirt eine Strafe von zehn Reichstalern. Zudem konnten sie von ihren Herren und Meistern körperlich gezüchtigt werden und ihnen drohte die Einbehaltung des Lohns oder der Verlust der Arbeitsstelle. Diese differenzierte Verordnung markierte das Ende der Glücksspielregulierung in Stralsund während der Schwedenzeit, blieb aber mit der Übergabe Schwedisch-­Pommerns an Preußen weiterhin in Kraft. Denn 1827 ergänzte der Stadtrat die alte Ordnung um den Zusatz, dass auch das Spielen um die Zeche nicht erlaubt sei. Fortan galt demnach das Spiel um Speisen und Getränke als unerlaubtes Glücksspiel. Doch um auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückzukommen, sind zwei Entwicklungen der Stralsunder Glücksspielverordnungen hervorzuheben. Zum einen herrschte zwischen dem Stadtrat und der schwedischen Regierung – anders als bei der Klassenlotterie – über die Gefahr des Hasardspiels Einigkeit, weshalb beide Seiten dieses Glücksspiel unterbinden wollten. Die Initiative ging dabei von der schwedischen Regierung aus, während der Stadtrat auf Vorschläge mit konkreten Verordnungen reagierte. Zum anderen sticht die Spezifizierung der Gesetze hervor. Waren es anfangs nur fremde „Spitz-­Buben“ und „Leut-­Betrieger“, welche die Obrigkeit kritisch beäugte, standen nachher ebenfalls einheimische Spieler und Wirte unter verstärkter Beobachtung. Die Gesetze enthielten 213 Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich, sofern es nicht anders angegeben ist, auf folgende Akte: StASt, Rep. 3, Nr. 26 a. Die Akte ist nicht paginiert. 214 Für Erläuterungen zu diesem Spiel s. das Glossar.

Karten- und Würfelspiele in Stralsund

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Anreize, Karten- und Würfelspieler anzuzeigen und sanktionierten besonders Verstöße einzelner, besonders gefährdeter Zielgruppen (Lehrlinge und Bediente). Je nach Schwere und Häufigkeit der Tat sowie nach sozialer und geographischer Herkunft fällte die Justiz am Ende des Untersuchungszeitraums ein für den Einzelfall zutreffendes Urteil. Die vorgenommenen Erläuterungen der Gesetzesnormen erklären noch nicht den Umgang mit verbotenem Glücksspiel und dessen Teilnehmern. Die folgenden zwei Fälle werden die legale Praxis exemplifizieren und zudem die Wechselwirkung von Norm und tatsächlichem Verhalten aufzeigen. Darüber hinaus wird aufgedeckt, wie der ursprüngliche Freiraum des Wirtshauses immer umfangreicheren Eingriffen ausgesetzt war.215

5.2 Bürger beim Hasardspiel unter sich Hinrich Hill arbeitete als Schreiber der Zahlenlotterie und verbrachte seine Zeit nach Feierabend gerne im Wirtshaus mit geselligen Karten- und Würfelspielen. Im Februar 1783 verhörten ihn diesbezüglich Stralsunder Gerichtsbeamte, weil sie ihm und einigen anderen zumeist jungen Männern illegales Glücksspiel mit hohen Einsätzen zur Last legten.216 Nachdem das Gericht Hill zu einer Geldstrafe von 25 Reichstalern verurteilt hatte, entspann sich ein Rechtsstreit zwischen dem angeblichen Hasardeur und dem Gericht. Die Aussagen der Angeklagten, der Einspruch Hills sowie die Rechtfertigung des Gerichts ermöglichen einen praktischen Einblick in das alltägliche Glücksspielverhalten. An diesem exemplarisch gewählten Beispiel lässt sich zudem darlegen, wie die Verordnung von 1778 konkret zur Anwendung kam und wie die Spieler ihr demnach gesetzeswidriges Verhalten rechtfertigten.217 Am 14. Februar 1783 lud das Stralsunder Gericht über 20 Männer vor, weil man sie beschuldigte, besonders im Ratskeller und beim Weinschenker Nussbaum Glücksspiele mit hohen Einsätzen zu betreiben. Das stellte insofern eine Straftat dar, als die Verordnung gegen das Hasardspiel von 1778 das Würfel- und Kartenspiel aller Art in Kaffee- und Weinhäusern sowie anderen öffentlichen Orten ohne Ausnahme verbot. Zwölf Befragte räumten ein, sehr selten zu Erholungszwecken um geringe Geldbeträge zu spielen. Sieben 215 Als Beispiel für die Regulierung der Wirtshäuser vgl. bspw. Gerd Schwerhoff: Die Policey im Wirtshaus. Obrigkeitliche und gesellschaftliche Normen im öffentlichen Raum der Frühen Neuzeit. Das Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Christian Hochmuth und Susanne Rau (Hrsg.): Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2006, S. 355 – 376; zudem informativ: Beat Kümin: Drinking Matters. Public Houses and Social Exchange in Early Modern Central Europe, Basingstoke 2007. 216 Unter den Befragten waren zumeist Ladendiener oder Gesellen. Aber auch ein Seidenhändler, ein Bäcker und ein Lotterieschreiber befanden sich unter den Vernommenen. Zudem verhörte man auch noch die Wirte der Schänken, in denen man das Glücksspiel betrieben hatte. 217 Die folgenden Ausführungen beziehen sich, sofern es nicht anders angegeben wird, auf die folgende Akte: LaGr, Rep. 10, Nr. 242. Außerdem lässt sich der Fall auch im Stralsunder Stadtarchiv nachverfolgen: Rep. 3, Nr. 26.

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Glücksspiele

Verdächtigte stritten jegliche Teilnahmen an Glücksspielen ab, gaben aber zu, manchmal sonntags während der Predigt Wein und Bier im Ratskeller zu konsumieren. Nur der Schlosser Comet stritt konsequent jeglichen Kontakt zum Glücksspiel ab. Die beiden Wirte gestanden dagegen, von kleineren Würfel- und Kartenspielen um Geld zu wissen. Daraufhin sprach das Gericht den Schlosser und einen der beiden Wirte frei, während die Gottesdienstverweigerer fünf Reichstaler Strafe zahlen mussten. Bei den geständigen Spielern und dem anderen Wirt verhängte das Gericht das festgeschriebene Ordnungsgeld von 25 Reichstalern. Daraufhin legte Hinrich Hill, der sich unter den verurteilten Spielern befand, vehement Einspruch gegen das Urteil ein. Zunächst appellierte er Ende Februar an den Stadtrat, die Strafzahlung zu negieren. Da dem Einspruch nicht stattgegeben wurde, wandte sich Hill im April an die schwedische Regierung, indem er einen zehnseitigen Brief mit einem achtzehnseitigen Anhang verfasste. Daraufhin forderte die schwedische Regierung den Stadtrat auf, sich zu rechtfertigen; das tat dieser alsdann nicht weniger ausführlich. Hill beharrte in seinem ursprünglichen Einspruch an den Stralsunder Rat zunächst auf der Position, dass es ein „unwahres Gerücht“ sei, er würde mit anderen Personen regelmäßig um hohe Geldsummen spielen. Vielmehr setze er nur selten kleinere Beträge, was er bei der Befragung zusammen mit anderen Angeklagten gestanden habe. Bei ihren Aussagen hätten einige aber „aus Bladigkeit [Dummheit] und Unruhe“ die Spieleinsätze höher als tatsächlich angegeben. Hill erhob nur Einspruch gegen das Urteil, weil er sich ungerecht behandelt fühlte. Denn die Ordnung von 1778 untersagte keine konkreten Spiele, weshalb er gefolgert hatte, nur unangemessenes Spiel sei verboten. Ansonsten müsse man auch das harmlose „Lomber-­Spiel“218 ahnden. Doch genau, wie es legitim sei, in „müßigen Stunden“ zum „Zeitvertreib“ ab und zu einmal eine Partie „Lomber“ zu spielen, dürfe man ebenso würfeln. Hill appellierte demnach für die komplette Aufhebung seiner Strafe, weil er seiner Meinung nach nichts Unrechtes getan hatte. Die Ordnung von 1778 sei zu unpräzise, um daraus einen Straftatbestand für ihn abzuleiten. In dem Einspruch an die schwedische Regierung, den er nach der Ablehnung seiner Appellation an den Stadtrat verfasste, erläuterte er sein Unverständnis für die Strafe weiter und zweifelte offen an der Sinnhaftigkeit der Verordnung. Auf der einen Seite sei sie bei „jungen, unerfahrenen Leuten, die noch nicht zu völligem Verstande gekommen, und Meister ihrer Leidenschaften sind, oder auch fremdes Geld unter Hände haben“ durchaus sinnvoll. Aber auf der anderen Seite könne er das Verbot bei einem „freyen, unabhängigen, sich, die Welt und Menschen kennenden Mann, der bereits in den Jahren der Ueberlegung ist, der ohnedies schon weiß, wie weit er gehen darf, ohne die bürgerliche Ordnung zu stören“ nicht nachvollziehen. Natürlich glaubte Hill, er gehöre der zweiten Gruppe an, weswegen man ihn nicht belangen solle. Zudem sehe er täglich, dass „das Spiel Hohen und Niedrigen zu einer unschuldigen und durchaus erlaubten Zeitverkürzung dient“. Er selbst

218 Zu einigen Erläuterungen zu diesem Spiel s. das Glossar.

Karten- und Würfelspiele in Stralsund

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spiele ebenfalls nur wegen des Zeitvertreibs und der Erholung. Dabei gewinne und verliere er lediglich sehr kleine Beträge, mit denen er sich und andere unmöglich schaden könne. Letztlich fügte er noch ein neues, dem Stadtrat nicht geäußertes Argument hinzu, indem er erklärte, dass die Strafe in doppelter Hinsicht unverhältnismäßig wirke. Zum einen spiele er nur um so kleine Summen, dass die Strafe von 25 Reichstalern sehr viel höher ausfalle als dem Delikt angemessen sei. Zum anderen sei das Ordnungsgeld auch im Vergleich zu seinem Einkommen viel zu hoch. Falls er die Strafe bezahlte, könne er einen Monat seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Damit würde er nicht gebessert, sondern ruiniert, wobei doch der eigentliche Sinn der Verordnung darin bestehe, den Einzelnen und die Gesellschaft vor ebendiesem Ruin zu schützen. Da die schwedische Regierung den Rat Stralsunds nach dieser heftigen Kritik des Verurteilten zu einer Stellungnahme aufforderte, verfassten die Stadtvertreter Ende Juli 1783 eine unmissverständliche Antwort. Darin brachte der Rat sein Unverständnis über die Klagen des Delinquenten gegenüber der königlichen Regierung zum Ausdruck. Es gebe nämlich eine klare Verordnung, welche die durch das Hasardspiel verursachte Unordnung verhindern solle. Das Gericht sei einem Hinweis nachgegangen und habe dabei einige Übertäter erwischt und nach einer ordnungsgemäßen Anhörung verurteilt. Danach folgte eine Herleitung der Verordnung von 1778 aus den schwedisch-pommerschen Gesetzen, um zu zeigen, dass die Stadt lediglich im Sinne des schwedischen Königs und der Regierung gehandelt hatte. Nicht nur die „Landes-­Policeyordnung“ untersagte das Hasardspiel, sondern auch die Verordnungen des Stadtkommandanten. Zur besseren Kontrolle dieses Verbotes habe der Rat eine eigene Verordnung erlassen und diese „nicht nur durch die hiesigen Zeitungen und durch einen Aushang unter dem Rathause, sondern auch, damit sich niemand mit Unwißenheit schützen könne, durch die Diener in allen Wirthshäusern und Krügen“ bekannt gemacht. Dieses Gesetz habe man bereits im Jahre 1781 durchgesetzt, als „eine ganze Anzahl von Schopenbrauern, Bürgern und Bedienten sich in ein Würfelspiel eingelaßen hatten“.219 Danach habe die königliche Regierung selbst noch einmal darauf hingewiesen, dass dergleichen Spielen nirgendwo Platz eingeräumt werden dürfe. Damit hatte der Rat den meisten Argumenten Hills sowohl auf der Grundlage der geltenden Rechtsnorm als auch der Rechtspraxis deutlich widersprochen. Nur an einer Stelle schienen die Stadtvertreter, Hills Ausführungen nicht gänzlich entkräften zu können. Der Rat gab nämlich zu, dass das Gericht dem Verurteilten eine „Moderation“ der Strafe nicht versagt hätte. Doch dessen Appellation habe kein Schuldeingeständnis erkennen lassen und sei im Ton nicht angemessen gewesen. Eine der Schwächen der Verordnung, die Strafe nicht im Verhältnis zum Delikt und den finanziellen Möglichkeiten des Übeltäters festzulegen, erkannte man somit bereits 1783. Doch es dauerte noch bis 1799, diese Erkenntnis in eine gültige Rechtsnorm zu überführen.

219 Dieser Fall wird als zweites Beispiel weiter unten behandelt, s. III.Kap. 6.3.

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Glücksspiele

Ob die Glücksspieler und besonders Hill letztlich ihre Strafe bezahlten, ist nicht bekannt. Die geschilderte Episode deutet aber darauf hin, dass Verordnungen rigoros zur Durchsetzung gelangen konnten, obwohl es rationale Argumente gegen pauschale Verurteilungen gab. Warum aber verbot und bestrafte derselbe Stadtrat, der Lotterien billigte und sogar unterstütze, das Hasardspiel? Für eine Antwort auf diese Frage ist es sinnvoll, sich der zeitgenössischen Wahrnehmung von Arbeit und Müßiggang zu widmen. Dafür soll exemplarisch die Abhandlung von Philipp Peter Guden, einem Beamten in Hannoversch-­ Münden, herangezogen werden, der ein Preisausschreiben der königlich hannoverschen Akademie der Wissenschaften in Göttingen im Jahre 1766 gewann.220 In Auseinandersetzung mit den Ideen der französischen Physiokratie (Jean-­François Melon) und der deutschen Kameralistik (Johann Heinrich Gottlob von Justi) beschrieb Guden im Kern, wie man den Fleiß und die Geschicklichkeit der Einwohner fördern könne, damit diese zu ihrem eigenen Wohle den Reichtum der Gemeinschaft mehrten. Das Spiel bei Bauern und Handwerkern sei dabei nichts grundsätzlich Schlechtes: „Ball-­ Spiele in den Ball-­Häusern“ seien zu befürworten, denn „[s]ie ermuntern den Körper, [und] machen ihn hurtig“.221 Spiele mit Wettcharakter, wie besonders das Kartenspiel, würden den Menschen dagegen „bloß zu einer trägen Wohllust […] reizen.“222 Dadurch würden Menschen von der Arbeit abgehalten und daraus folgenden „Ausschweifungen“ Tür und Tor geöffnet.223 Nicht erwähnt werden Lottos, obwohl diese auf Wetten beruhten. Unter den Sammelbegriff „Ausschweifungen“ fielen beispielsweise Alkohol- und Gewaltexzesse, die die zeitgenössische Wahrnehmung der Aufklärer untrennbar mit dem Glücksspiel der Bauern und Handwerker in Verbindung brachte.224 Ähnlich wie Guden bewertete der Stadtrat das Karten- und Würfelspiel in Wirtshäusern und anderen öffentlichen Orten, weil es besonders Handwerker und andere Bürger niedrigen Standes von der Arbeit abhielt und mit „Ausschweifungen“ assoziiert war. Die Angeklagten wussten um diese Vorwürfe ihnen gegenüber und bemühten sich deshalb mehrheitlich klar herauszustellen, nur für kurze Zeit am Abend nach der Arbeitszeit 220 Zur näheren Einordnung vgl.: Albert Schirrmeister: Muße und Müßiggang als individuelle Charakterfehler und sozialer Habitus. Kommentar zu Philipp Peter Guden und Adolph von Knigge, in: Bernhard Kleeberg (Hrsg.): Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750 – 1900, Berlin 2012, S. 149 – 161. 221 Philipp Peter Guden: Polizey der Industrie, oder Abhandlung von den Mitteln, den Fleiss der Einwohner zu ermuntern, Braunschweig 1768, S. 168. Zum Sport und der damit einhergehenden Gesundhaltung und Disziplinierung des Körpers vgl. Gerhard Tanzer: Spectacle müssen seyn. Die Freizeit der Wiener im 18. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 256 – 276. 222 Guden: Polizey der Industrie, S. 168. 223 Ebd., S. 166 – 168. 224 Vgl. zu diesem Punkt bspw.: Hans Medick: Plebejische Kultur, plebejische Öffentlichkeit, plebejische Ökonomie. Über Erfahrungen und Verhaltensweisen Besitzarmer und Besitzloser in der Übergangsphase zum Kapitalismus, in: Robert M. Berdahl u. a. (Hrsg.): Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1982, S. 157 – 203.

Karten- und Würfelspiele in Stralsund

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gespielt zu haben. Hill rekurrierte in seiner Verteidigung ebenso auf dieses Argument und erweiterte es dahingehend, dass ihm das Hasardspiel Erholung beschere, weshalb er seine Arbeit letztlich besser verrichten könne. Darüber hinaus vermieden alle Zeugen eine Verbindung zwischen Alkohol und Spiel herzustellen. Entweder sie gaben vor, gespielt oder Wein und Bier konsumiert zu haben. Es scheint, als wollten die Beschuldigten bewusst einen Zusammenhang zwischen beiden Vergehen vermeiden. Zusätzlich ist zu vermuten, dass der Stadtrat bereits vor der Veröffentlichung der Ordnung von 1794, die die sozialen Folgen des Hasardspiels mit zu hohen Einsätzen explizit als Grund des Erlasses benannte, die Gefährdung von Individuum, Familie und letztlich der Gesellschaft erkannte. Es werde nämlich, aus Sicht eines anonymen Verfassers, so lange gespielt, „bis der Handwerksmann kein Stück Werkzeug mehr in der Werkstatt, das Weib ihre Küsten und Küchen ausgelehrt hat, und beede sich samt ihren unschuldigen Kindern dem erbärmlichen Schicksaal überlassen müssen“.225 Aus diesem Grunde versicherten alle geständigen Glücksspieler, nur geringe Summen zu gewinnen oder einzubüßen. Zudem wies Hill den Vorwurf des „hohen Spiels“ vehement zurück und versuchte überdies, die Angaben der anderen verurteilten Spieler über die Einsatzhöhe nach unten zu korrigieren. Doch offensichtlich wog für das Gericht und den Stadtrat die Gefährdung der Gemeinschaft durch Müßiggang und Spielschulden höher als die Beteuerungen der Angeklagten und insbesondere Hills. Letztlich wollte der Stadtrat gegenüber den Spielern und der schwedischen Regierung wohl ein Exempel statuieren. Spätestens seit den 1760er-­Jahren drängte die schwedische Regierung auf die Unterbindung der Hasardspiele an den zivilen öffentlichen Orten der Stadt, damit die Soldaten nicht dazu verleitet würden. Diese Aufgabe musste die Stadt erfüllen, weil die Regelung ziviler Angelegenheiten außerhalb der Militärgerichtsbarkeit lag. Die Verantwortlichen für die stationierten Soldaten versuchten ihrerseits, die Möglichkeiten für Ausschweifungen und Glücksspiel zu begrenzen. Daher mussten die Marketender,226 die in Kriegs- und Friedenszeiten die Verpflegung der Garnison bereitstellten, einen Eid leisten, der ihnen viele traditionelle Verhaltensweisen der Wirte verbot: Karte und Würffel- oder andere Spiele umb Geldt, will ich in meinem hause nicht zugeben. Wann ich auch vermercken solte, daß ein Kerl etwas betruncken zu mir kombt, soll ich ihme

225 Anonym: Der fürsichtige und glückliche Spieler, S. 10. 226 Ursprünglich dienten die Marketender zur Absicherung der Garnisonsversorgung während eines Krieges. Allerdings blieben sie auch zu Friedenszeiten aktiv, indem sie kleine Häuser anmieteten und darin Essen und Trinken für die Soldaten bereitstellten. Damit griffen sie aber bspw. in das Gewerbe der Schlachter ein, s. dazu: Robert Oldach: Stadt und Festung Stralsund. Studien zur Organisation und Wahrnehmung schwedischer militärischer Präsenz 1721 – 1807, Diss. phil. Greifswald 2012, S. 196 – 200.

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Glücksspiele

nichts mehr an Bier- und Brandtwein reichen- oder durch die meinige geben laße sondern Ihn mit bescheidenheit, ab- und nach seinem Quartier zur Ruhe weisen.227

Inwiefern die Marketender diesem Eid folgten, muss hier offenbleiben. Doch die städtischen Verordnungen bewirkten im täglichen Leben wohl zunächst keine Lösung des Problems, da die Weinschenker Nussbaum und Ube unumwunden zugaben, dass sie Glücksspiele in ihren Lokalen erlaubten. Ohne ein entschiedenes Durchgreifen hätte die schwedische Regierung an der Durchsetzungsfähigkeit des Stralsunder Stadtrates zweifeln können, dieser Angelegenheit Herr zu werden. Die Stadt wies die Beschwerde Hills bei der schwedischen Regierung entschieden zurück und untermauerte damit ihre Autonomie. Die Änderungen der Ordnung von 1778 in den 1790er-­Jahren ergeben nach der Analyse der Verurteilung Hills einen Sinn, weil sie diesem konkreten Fall Rechnung getragen hätten. Vor allem junge Männer (Gesellen und Bediente) betrieben Glücksspiele. Sie davon mit der Einbehaltung ihres Lohes oder dem Verlust der Anstellung abzuhalten, entsprach den persönlichen Umständen der Delinquenten. Außerdem reagierte die Obrigkeit auf die fehlende Flexibilität des Strafmaßes. Denn das Bußgeld von 25 Reichstalern konnte einen Gelegenheitsspieler, der sich nur von der Arbeit regenerieren wollte, unverhältnismäßig hart treffen. Dagegen dürften die Wirte diese Gesetzesübertretungen nicht mehr so leicht vollzogen haben, wenn sie damit ihre Schankgenehmigung und die eigene Existenz gefährdeten.

5.3 Bürger beim Hasardspiel mit schwedischen Soldaten Die Garnisonsstadt Stralsund beherbergte je nach strategischem Bedarf mehr oder weniger Militär.228 Sofern die Soldaten keinen militärischen Aufgaben nachgingen, mussten sich die zumeist jungen Männer beschäftigen. Das Glücksspiel in öffentlichen Schänken schien eine willkommene Abwechslung, zumal sie dann nicht der Militärjurisdiktion unterstanden, wie die Korrespondenz zwischen der schwedischen Regierung und dem Stadtrat erahnen lässt. Doch nicht nur dieses Indiz deutet auf Begegnungen von Zivilisten und Soldaten an den Spieltischen hin. Die Gerichtsakten der Stadt demonstrieren darüber hinaus lebhaft, wie intensiv und konfliktbeladen ihre Zusammentreffen verlaufen konnten. Der folgende Fall zeigt zum einen, wie die Justiz bei Streitfällen zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung

227 Ausschnitt des Marketendereids, den Franz Görtz 1748 leistete. Zit. aus: Ebd., S. 485 – 486, hier S. 486. 228 Im Jahre 1720 waren beispielsweise 1.600 Soldaten mit ihren Frauen und Kindern in Stralsund stationiert. Vgl.: Robert Oldach: Das Einquartierungswesen in der schwedischen Festung Stralsund 1721 – 1807, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit 16/2 (2012), S. 218 – 256, hier besonders S. 218 – 219.

Karten- und Würfelspiele in Stralsund

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verfuhr und bietet zum anderen einen Einblick in das Verhalten und die Verteidigungsstrategien der Konfliktparteien.229 Anfang August 1781 informierte Kommandant Pollett den Stralsunder Stadtrat darüber, dass der „Mousquetier“ (eine Art Infanteriesoldat) Wilhelm Lichtenhagen mit dem Branntweinbrenner Drevs in eine handgreifliche Auseinandersetzung geraten sei. Zunächst hatten ihn Drevs, dessen Bruder und der Schoppenbrauer Krüger überredet, in ein Würfelspiel einzusteigen. Dabei verlor Lichtenhagen 21 Reichstaler, bevor er mit den drei Bürgern in Streit geriet und „sehr übel zugerichtet“ wurde. Nun forderte der Geschädigte sein Geld zurück und „Satisfaction“ für die erhaltenen Schläge. Es folgte ein umfangreiches Verhör der Beteiligten, was hier nicht detailliert wiedergegeben werden braucht. Mehrere vernommene Personen sagten die Unwahrheit, weil ihre Aussagen diametral voneinander abwichen. Lediglich einige Eckdaten des Tatverlaufs beschrieben sie einhellig. Der betrunkene Lichtenhagen hatte sehr risikoreich gespielt, weshalb er einen großen Geldbetrag verlor. Wahrscheinlich handelte es sich um das Würfelspiel „Elf hoch“,230 bei dem man trotz eines niedrigen Grundeinsatzes innerhalb kurzer Zeit enorme Summen verlieren konnte. Außerdem konnte der betrunkene Soldat tatsächlich von seinen drei Mitspielern sehr leicht betrogen werden.231 Im Verlauf der Verhöre ergab sich weiterhin, dass das Spiel Lichtenhagens nicht das einzige an diesem Abend blieb. Auch beim Weinschenker Pagenkopf legten viele Männer ihr Glück in Fortunas Hände. Unter den dort gastierenden 16 bis 20 Personen befanden sich abgesehen von Brauern, Brennern, Krügern und einigen Mannschaftssoldaten sogar der Korporal (Unteroffizier) Podewils und der Altermann Holz. Der Branntweinbrenner Eggers behauptete zudem, er habe auf dem letzten Johannis-­Jahrmarkt in Pagenkopfs Haus mit bis zu 50 ‚Glücksrittern‘ gespielt. Lichtenhagens Anschuldigungen ließen sich nicht beweisen, weshalb dieser keinerlei Kompensation für sein Unglück erhielt. Da sich aber herauskristallisierte, dass die Anwesenden tatsächlich gespielt hatten, verhängte das Gericht auf Grundlage der Ordnung von 1778 beinahe 20 Strafzahlungen zu jeweils 25 Reichstalern – auch gegen den Altermann

229 Die folgenden Ausführungen beziehen sich, sofern keine anderen Quellen angegeben sind, auf die folgenden nicht paginierte Akte: StASt, Rep. 3, Nr. 26. 230 „Elf hoch“ wird mit zwei Würfeln gespielt, die von den teilnehmenden Spielern der Reihe nach geworfen werden. Jeder Spieler setzt dabei einen festgelegten, relativ geringen Betrag und kann den Pott nur gewinnen, wenn er eine elf wirft. Würfelt er stattdessen eine niedrigere Zahl, muss er die Differenz aus elf und den tatsächlichen Würfelaugen mit dem Grundeinsatz multiplizieren und diesen Betrag in den Pott legen. Bei einer Sieben – die Zahl mit der höchsten Wahrscheinlichkeit bei zwei Würfeln – ergibt sich bspw. die Differenz vier, weshalb der Grundeinsatz mit vier multipliziert wird. Wirft ein Spieler aber eine zwölf, muss er je nach Spielregeln den zwölffachen Grundeinsatz einzahlen oder den Pott verdoppeln. 231 Zu Betrug im Glücksspiel vgl.: Andreas Seim: „Mit gezinkten Karten“ – Einige Aspekte des Falschspiels, in: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Volles Risiko!, S. 255 – 260.

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Holz. Dieser und andere Verurteilte sahen ihren Ruf gefährdet und baten sogleich um Strafminderung. Der Altermann tat sich dabei besonders hervor: Überdem bin ich bei allen Leuten, die mich kennen, als ein stiller, ordentlicher Manne bekannt, und meine Kundleute, die bei mir aus und eingehen werden, so wie meine Nachbarn, ich wohne dem Herrn Bürgermeister Dinnes gegenüber, es bezeugen, daß es in meinem Hause ruhig und still zugeht und daß sie nie von Anordnung oder Duldung eines Hazardspieles in meinem Hause gehört haben.232

Diese Reaktion ist mit Blick auf die zeitgenössische Beurteilung des Spiels von Personen höheren Standes nachvollziehbar. Der aufgeklärte Philipp Peter Guden führte 1768 beispielsweise unmissverständlich aus: Das Exempel der Vornehmen, insonderheit der obrigkeitlichen Personen, reizet die Geringern mit einer überaus grossen Kraft zur Nachfolge. Diese thun daher sehr wohl, wenn sie sich auf den öffentlichen Schau-­Plätzen der Schwelgerey, des Müßiggangs und der Wohllust nicht zu oft, oder vielmehr gar nicht, sehen lassen.233

Holz dürfte es sehr unangenehm gewesen sein, für das Hasardspielen in einer öffentlichen Schenke mit Handwerkern und Mannschaftssoldaten zur Verantwortung gezogen und verurteilt zu werden, weil er als Bürger höheren Standes als Vorbild hätte dienen sollen. Darüber hinaus war es ihm sicherlich peinlich, überhaupt mit niederen Standespersonen öffentlich auf frischer Tat ertappt worden zu sein. Er hätte nämlich auch mit höheren (bürgerlichen) Ständen spielen können. Gudens Vorschlag zur praktischen Umsetzung für bürgerlich elitäre Spiele lautete: Es ist dahero sehr gut, wenn auf den Schenken, oder andern dritten Oertern, besondere geschlossene Gesellschaften errichtet werden, und die so genannten Clubbs sind bequeme Gelegenheiten, sich in ausgesetzten Erquick-­Stunden mit guten Freunden zu vergnügen.234

Diskreten Möglichkeiten zum Glücksspiel existierten schon 1781 in Stralsund, wenngleich die Ressource, die erste gesellige Vereinigung der Hansestadt, erst 1795 gegründet wurde.235 Doch im 1766 eröffneten Theater gab es bei Maskenbällen stets die Möglichkeit für die

232 StASt, Rep. 3, Nr. 26. 233 Guden: Polizey der Industrie, S. 169. 234 Ebd. 235 Die Geschichte der Stralsunder Ressource ist bisher noch nicht eingehend erforscht. Zu einem Überblick vgl.: Anonym: Geschichtliche Nachrichten über die Ressource-­Gesellschaft zu Stralsund während ihres fünfzigjährigen Bestehens, Stralsund 1846.

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wohlhabenden Gäste, in einem separaten Raum dem Glücksspiel zu frönen.236 Zusätzlich fanden in den Häusern der lokalen Elite, wie bei Kühl, Fabricus, Scheven und Erichson, wöchentlich Kartenspiele statt. Laut der Einschätzung des Historikers David Rabuzzi handelte es sich bei diesen illustren Runden, an denen sogar hochrangige Kirchenvertreter teilnahmen, um einen Mikrokosmos der bürgerlichen Elite Stralsunds, bei denen Kartenspiele zum guten Ton gehörten.237 Holz verstieß mit seinem Verhalten gegen die ungeschriebenen Gesetze seines Standes und versuchte daher, seine Verurteilung zu verhindern. Ob es ihm gelang oder nicht, ist in den eingesehenen Archivbeständen nicht überliefert. Wahrscheinlich zahlten alle Delinquenten jedoch ihre Strafe, weshalb die Stadtvertreter diesen Vorfall als Beispiel bei der Causa Hill zwei Jahre später herangezogen, um zu zeigen, wie sie die Ordnung bereits früher umgesetzt hatten. Ende 1781 ermahnte die schwedische Regierung den Stadtrat, das Glücksspiel in der Stadt zu verhindern und die Verordnung von 1778 entschieden durchzusetzen. Damit wollte sie wohl dem Ungehorsam der schwedischen Soldaten vorbeugen, mit den Bürgern der Stadt um Geld zu spielen. Denn diese endeten nicht selten in Streit und Gewalt, wie es noch zahlreiche weitere Prozesse belegen, die das Kammergericht besonders in den 1790er-­Jahren verhandelte. Zudem verliefen derartige Zwischenfälle oft in Verbindung mit Alkohol, weshalb festzuhalten ist, dass sich Gudens stereotyper Zusammenhang von Gewalt, Alkohol und Glücksspiel in den Stralsunder Gerichtsakten widerspiegelt. Es ist schwierig für das 18. Jahrhundert, die Häufigkeit dieser Prozesse mit einer belastbaren Statistik zu veranschaulichen, weil die Akten die Prozessverläufe nicht immer wiedergeben. Mitunter tauchen in den Akten Verweise zu Prozessen auf, die heute gar nicht mehr zu finden sind. Allerdings existiert eine zeitgenössische Liste, die Aufschluss darüber gibt, wie viele Untersuchungen die Justiz zwischen 1799 und 1818 anstellte. Danach ermittelte das Gericht in 25 Fällen gegen 73 Männer (Frauen werden nicht genannt), wobei die meisten Untersuchungen zwischen 1799 und 1811 (23 Prozesse mit 69 Beschuldigten) stattfanden.238 Obwohl die Dunkelziffer der in Stralsund verübten Glücksspieldelikte diese Zahl sicherlich deutlich überstieg, veranschaulicht die Statistik dennoch, dass die Obrigkeit illegale Karten- und Würfelspiele verfolgte.

236 Vgl.: Struck: Die ältesten Seiten, S. 37. Genaueres zum Glücksspiel im Theater folgt im nächsten Kapitel. 237 Daniel A. Rabuzzi: At Home in the Market: Stralsund Merchants and their Families, 1740 – 1830, Diss. phil. Baltimore 1996, S. 291. 238 StASt, Rep. 3, Nr. 26.

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6. Die Freiräume der Revaler Klubs In Reval untersagte die Obrigkeit Hasardspiele ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter ähnlichen Vorzeichen wie in Stralsund (Kap. 6.1). Glücksspiele fanden aber nicht nur in Schänken, Wirtshäusern oder im eigenen Zuhause in privater Runde statt. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, in geselligen Klubs zu spielen, wie es Philipp Peter Guden vorgeschlagen hatte.239 Klubs stellten eine bestimmte Form der vielfältigen neuen Assoziationen dar und breiteten sich besonders in der Aufklärung aus (Kap. 6.2). Am Anfang des 19. Jahrhunderts existierten in Reval vier gesellige Klubs (Kap. 6.3), deren offizieller und expliziter Zweck darin bestand, ihren Mitgliedern Erholung und Vergnügen zu gewährleisten (Kap. 6.4). Zudem betonten sie stets ihren Beitrag zur Armenfürsorge (Kap. 6.7). Allerdings wurden nur Personen mit genau definierten Voraussetzungen als Mitglieder aufgenommen, nachdem sie ein minutiös beschriebenes Aufnahmeverfahren durchlaufen hatten (Kap. 6.5). Sobald man dem Klub angehörte, regelte die jeweilige Satzung das Verhalten der Mitglieder. Dazu gehörten eine Reihe von Ge- und Verboten, die das Glücksspiel – besonders das Karten- und Billardspiel – betrafen (Kap. 6.6). Damit bildeten die Klubmitglieder einen von der Umwelt abgegrenzten Raum, in welchem sich die Mitglieder vergnügen durften. Jedoch blieb der entstandene Freiraum nicht frei von Auseinandersetzungen, wovon Kapitel 6.8 exemplarisch berichtet. Der Beschreibung der Revaler Klubs wird hier besonders viel Platz eingeräumt, weil sie für Institutionalisierung der Geselligkeit und des Vergnügens eine wichtige Position einnehmen. Hier konnten unterschiedliche Stände nicht nur bei legalen Karten- und Billardspielen, sondern auch bei den später noch näher vorzustellenden Bällen anders interagieren, als es der alltäglichen Praxis entsprach.

6.1 Die Glücksspielgesetzgebung in Est- und Livland Die Entwicklung der Glücksspielgesetzgebung kann für Reval nicht ebenso rekonstruiert werden wie für Stralsund, weil keine entsprechenden Verordnungen aus dem Untersuchungszeitraum überliefert sind. Anhand der kaiserlichen Ukasse, die für Estland und Livland galten, lassen sich allerdings ganz ähnliche Tendenzen ableiten. In den Jahren 1717 und 1733 erließen der Kaiser Peter I. bzw. Kaiserin Anna  annähernd gleichlautende Ukasse, die konstatierten, dass viele Leuten infolge von „Charten- Würffel- und andere[n] Spiele[n]“ ihren Besitz einbüßten. Dadurch würde nicht nur ein Teil der Bevölkerung verarmen, sondern auch der Sünde zum Opfer fallen und letztlich ihre Seele ins Verderben stürzen. Daher sollten die Untertanen weder in öffentlichen noch privaten Häusern spielen. Bei einem Verstoß drohte eine nicht näher benannte Geld-, Haft- oder Prügelstrafe, die sich am Stand der Delinquenten orientierte. Wer nach einer Bestrafung rückfällig wurde, sollte eine härtere Maßregelung erfahren. Sofern der Täter eine Geldzahlung leisten musste, erhielt derjenige, der die Tat aufgedeckt hatte, ein Drittel und zwei Drittel 239 Vgl. Kap. 6.3.

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der Summe gingen an ein Hospital.240 Im Kern wiederholten zwei Ukasse von 1743 und 1747 diese Ausführung, nur dass man eine nicht so moralisierende Sprache und weniger Bezüge zu Gott verwandte.241 Der Ukas von 1761 unterschied sich dagegen deutlich von den früheren Gesetzestexten, da nun jeglicher Gottesbezug fehlte. Weiterhin verbot der Kaiser explizit „Hazard-­Spiele“ und benannte konkret „Pharao“. Während er die kaiserlichen Appartements von dieser Reglung aussparte, durfte man in adligen Häusern „eintzig zum Zeit-­Vertreib“ weniger gefährliche Spiele mit kleinen Einsätzen organisieren (z. B. L’Hombre oder Piquet).242 Glücksspiele anderer Personen zogen drastische Strafen nach sich, wobei die Gerichte deren Aussetzung mit Augenmaß anzuwenden hatten, „damit niemanden zur Ungebühr Schaden und Nachtheil erwachsen möge“.243 Ein weiteres Gesetz von 1801 definierte, dass Hasardspiele schändlicher seien als ein offener Raub.244 Diese Rhetorik verschärfte sich 1818 nochmals, indem ein Ukas das Hasardspiel mit der Straßenbettelei als zwei der „verderblichsten Grundübel der bürgerlichen Gesellschaft“ geißelte. Allen Akteuren beim Glücksspiel – Bankhaltern, Gastwirten, Dienstboten und natürlich den Spielern selbst – drohten empfindliche Strafen.245 Für die nachfolgenden Ausführungen ist es wichtig festzuhalten, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein klares Hasardspielverbot in Est- und Livland bestand, welches so oder ähnlich ebenfalls in Reval Gültigkeit hatte. Wollte man als gesetzestreuer Revaler Bürger dennoch Karten spielen, musste man sich auf die akzeptierten Kommerzspiele mit kleinen Einsätzen beschränken. Einerseits konnten diese Spiele im eigenen Zuhause stattfinden; andererseits existierten ähnlich wie in Stralsund Weinschänken, Wirts- und Kaffeehäuser, in denen man eingeschränkt oder heimlich zocken konnte. Während Ersteres aber oft nur einem kleinen Personenkreis offenstand, hätte ein angesehener Bürger seine Reputation gefährdet, wenn er an öffentlichen Orten gespielt hätte (s. das Beispiel des Stralsunder Altermann in Kap. III.5.3). Denn die Übergänge zwischen Kommerz- und Hasardspielen waren genauso fließend wie die von geringen zu hohen Einsätzen. Ab den 1780er-­Jahren konstituierte sich daher ein Raum, zu dem zunächst nur mehrere Dutzend und später einige hundert gleichgesinnte Männer Zutritt erhielten. Bei dieser Institution handelte es sich um den oben von Philipp Peter Guden vorgeschlagenen Klub. Diese entwickelten sich im Zuge des aufkommenden Assoziationswesens, das es im Folgenden in den historischen Kontext einzuordnen gilt.

240 241 242 243 244 245

UBT, Est.B-197, Jg. 1710 – 1720, Nr. 1893 und Jg. 1730 – 1733, Nr. 493.

Ebd., Jg. 1741 – 1744, Nr. 781 und Jg. 1745 – 1750, Nr. 883. Zu den genannten Spielen s. die Erläuterungen im Glossar. UBT, Est.B-197, Jg. 1759 – 1761, Nr. 1415. Ebd., Jg. 1801 – 1802, Nr. 2893. Ebd., Jg. 1816 – 1819, Nr. 4122.

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6.2 Grundsätzliches zum Assoziationswesen Der Terminus „Assoziation“ ist ein Überbegriff, zu dem u. a. Sozietäten und Gesellschaften gehören. In der modernen Forschung werden die Begriffe „Sozietät“ und „Gesellschaft“, die dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts entlehnt sind, synonym verwendet. Eine Assoziation beschreibt Zusammenschlüsse von prinzipiell gleichberechtigten Männern (und manchmal auch Frauen), die das Leben ihrer Mitglieder auf vielfältige Weise prägten. Damit glichen sie den herkömmlichen ständischen Korporationen wie den Zünften. Im Unterschied zu diesen bestanden Assoziationen aber aus freiwillig beigetretenen Mitgliedern unterschiedlicher Stände und verfolgten einen mehr oder weniger deutlich definierten aufklärerischen Zweck; sie grenzten sich insbesondere aufgrund der Interessen und Ziele ihrer Mitglieder voneinander und vom Umfeld ab.246 Sozietäten lassen sich in mehrere idealtypische Unterformen gliedern: Akademien und Gelehrte Gesellschaften, Deutsche und Literarische Gesellschaften, Freimaurerlogen, Patriotisch-­gemeinnützige und Ökonomische Gesellschaften, Lesegesellschaften, Geheimbünde und die politischen Klubs des Revolutionszeitalters.247 Die unten vorgestellten, in Reval gegründeten Gesellschaften entsprechen allerdings nicht dieser Typologie, obwohl sie in ihren Organisationsformen den Sozietäten ähnelten. Es handelte sich bei ihnen eher um Geselligkeitsvereine oder Klubs, in denen die geistigen und praktischen aufgeklärten Bestrebungen weniger ausprägt waren als in den Sozietäten. Geselligkeitsvereine agierten ausdrücklich unpolitisch und den Mitgliedern ging es vor allem um einen Freiraum, in dem sie sich mit Gleichgesinnten unterhielten und spielten, Musik hörten und Journale lasen. Geselligkeitsvereine sind trotz vielfältiger Parallelen von den Sozietäten dahingehend abzugrenzen, als dass sie einen „signifikante[n] Wandel in den Formen der sozialen Organisation“ einleiteten.248 Das Assoziationswesen entwickelte sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Seit den 1760er-­Jahren traten Assoziationen verdichtet auf, bevor es zwischen 1770 und 1800 zu einem wahren ‚Gründungsfieber‘ kam. Zeitgleich avancierten die Geselligkeitsvereine zu flächendeckend beliebten Vereinigungen. Oftmals lassen sie sich anhand ihrer typischen Namen wie ‚Casino‘, ‚Club‘, ‚Harmonie‘, ‚Museum‘ oder ‚Ressource‘ erkennen. 246 Walter Demel: Reich, Reformen und sozialer Wandel 1763 – 1806 (= Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 12), Stuttgart 2005, S. 135 – 147; Holger Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitgliederstrukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 38. 247 Zaunstöck: Sozietätslandschaften, S. 34 – 59. 248 Zit. aus: Thorsten Maentel: Reputation und Einfluß – die gesellschaftlichen Führungsgruppen, in: Lothar Gall (Hrsg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft (= Stadt und Bürgertum Bd. 4), München 1993, S. 295 – 314, S. 298. Zum Begriff „Verein“: Wolfgang Hardtwig: Verein, in Otto Brunner, Werner Conze und Reinhard Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 798 – 829, hier bes. 801 – 802.

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Ein Hauptgrund für den sprunghaften Anstieg der Assoziationen waren die allgemein veränderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, die den Mitgliedern von Vereinigungen ideale Möglichkeiten boten, ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen in gebündelter Form durchzusetzen. So vielfältig sich die Assoziations- und Vereinslandschaft ausformte, so unterschiedlich gestalteten sich die Interessen der Mitglieder: Gedanken- oder Informationsaustausch, Bildung, Kunst, Wissenschaft, Politik oder einfach nur Geselligkeit.249

6.3 Überblick der Klubs in Reval Die Klubs in Reval erregten bei einigen zeitgenössischen Kommentatoren des sozialen Lebens Aufmerksamkeit, weshalb eine Reihe anschaulicher Zeugnisse über Vereinigungen vorliegen. Beispielsweise veröffentlichte ein anonymer Autor insgesamt vier Briefe über „Ehstlands Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche“250 in der von August von Kotzebue herausgegebenen Zeitschrift Für Geist und Herz. Obwohl der Verfasser seinen Namen nicht nannte, bieten seine kurzen Schilderungen vereinzelte Hinweise zu seiner Person. Er diskutierte nämlich die negativen Auswirkungen der Schnürleiber auf die Gesundheit der Frauen. Dabei erinnerte er sich an einen estländischen Landtag, auf dem er sich gegen unnötige Kleiderpracht, zu der auch das Korsett gehörte, ausgesprochen und zusammen mit den restlichen Anwesenden eine Luxusordnung verabschiedet hatte.251 Es könnte sich demnach um einen der estländischen Ritterschaft angehörenden Adligen handeln, der zumindest auf dem Gebiet des Kleiderluxus aufgeklärte Ansichten vertrat. Doch auch unabhängig von der Autorenfrage gewähren die Briefe einen lebhaften Blick in das Leben in Estland und besonders Reval, zumal viele seiner Aussagen in Einklang mit den unten noch zu diskutierenden Quellen stehen. Er widmete sich in seinem ersten Schreiben dem Charakter der deutsch-­baltischen Frauen und informierte im letzten über seine Erlebnisse als Gast einer Hochzeit. Für das gesellige Klubleben der 1780er-­Jahre in Reval bieten der zweite und der dritte Brief anschauliche Informationen. „Wir haben in Reval drey Clubbs […] einen sogenannten adlichen Clubb, einen bürgerlichen Clubb und den schwarzen Häupter Clubb“, stellte der Autor zu Beginn seiner 249 Wolfgang Hardtwig: Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997, S. 301; Hans-­Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band 1700 – 1815, München 1987, S. 317 – 325. 250 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, über Ehstlands Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, in: August von Kotzebue (Hrsg.): Für Geist und Herz, Bd. 1 (1786), 1. Brief S. 100 – 114, 2. Brief S. 114 – 124; Bd. 2 (1786), 3. Brief S. 167 – 175 und 4. Brief S. 175 – 178. 251 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, Bd. 2, S. 169. Für eine Einordnung dieser Luxusordnung s.: Matthias Müller: Konsum und Konsumverhalten der Deutschbalten in Est- und Livland während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Luxusdebatte 1780/81, in: Anne Sommerlat-­Michas (Hrsg.): Das Baltikum als Konstrukt (18. – 19. Jahrhundert). Von einer Kolonialwahrnehmung zu einem nationalen Diskurs, Würzburg 2015, S. 237 – 254.

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Ausführungen im zweiten Brief fest.252 Der Adliche Clubb war ein 1783 gegründeter Zusammenschluss, der größtenteils aus Landadligen bestand. Seine gesellschaftlichen Aktivitäten beschränkten sich zumeist auf die Monate Februar und März. Fünf Jahre nach der Gründung dieser adligen Gesellschaft stiftete man die Societät auf dem Dom. Den Domberg bewohnten zum Großteil Adlige, weshalb die Societät wohl als direkte Nachfolgerin des Adlichen Clubbs agierte.253 Der als zweites genannte Bürgerliche Clubb hatte sich bereits 1781 gegründet und war damit der erste kontinuierlich bestehende Klub der Stadt. Lediglich der offizielle Name Bürgerliche Klubbe änderte sich noch im 18. Jahrhundert. Nach den Revolutionsereignissen in Frankreich gerieten im Russischen Reich besonders unter der Herrschaft Pauls I. (1796 – 1801) Vereinigungen, die die Begriffe „bürgerlich“ oder „Klub“ im Namen führten, sowie Vereine im Allgemeinen unter Generalverdacht, die Monarchie stürzen zu wollen. Daher wurde einem der Vorsteher des Klubs 1797 zu verstehen gegeben, dass es „wohl der Klugheit gemäß sey“, den Namen zu ändern. Die Kommission handelte sofort und benannte sich in Erholung um.254 Der als drittes aufgezählte Klub meinte die 1782 als Abendgesellschaft von Mitgliedern der Schwarzhäupter gegründete Vereinigung.255 Zudem etablierten die Schwarzhäupter 1786 noch ein Pique-­nique, das jedoch kein Essen unter freien Himmel war. Vielmehr handelte es sich um einen illustren Tanzabend, der in seiner Ausführung an einen regulären Ball erinnerte.256 Die Abendgesellschaft änderte 1792 ihren Namen und hieß alsdann Einigkeit. Damit einher ging eine organisatorische Umstrukturierung der Gesellschaft, womit der Klub eine eigenständige Organisation im Hause der Schwarzhäupter wurde. Fortan bestand beispielsweise ein offizieller Mietvertrag zwischen den Schwarzhäuptern und der Einigkeit, der eine jährliche Zahlung von 1.000 Rubeln vorsah.257 Neben diesen drei Klubs gab es laut der Revalischen Wöchentlichen Nachrichten bereits im Februar 1777 ein Gast- und Kaffeehaus namens Stadt Hamburg, in dem zwei Mal pro Woche „Club gehalten“ wurde.258 Der Inhaber, Benedict Georg Witt 259, hatte sein „Caffee-­ 252 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, Bd. 1, S. 114. Auch ein anderer Kommentator bestätigt diese Aussage für die Mitte der 1790er-­Jahre: Johann Christoph Petri, Briefe über Reval nebst Nachrichten von Esth- und Liefland. Ein Seitenstück zu Merkels Letten, Deutschland 1800, S. 88. 253 UBT, Gesetze der Societät auf dem Dom in Reval; welche den 17ten November 1788 gestiftet, und den 23sten Januar 1789 eröffnet worden, Reval 1791. 254 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 33. 255 TLA, Rep. 87.1.651, fol. 2v. 256 TLA, Rep. 87.1.244. 257 TLA, Rep. 87.1.647, fol. 8r. 258 RWN, Nr. 6, 06. 02. 1777. 259 Möglicherweise handelt es sich um die gleiche Person oder einen direkten Vorfahren von „Benedikt Georg Witt“, der 1813 die erste Meeresbadeanstalt Revals eröffnete. Vgl. Karsten Brüggemann und Ralph Tuchtenhagen: Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt, Köln/Weimar/ Wien, 2011, S. 167.

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Hauß“ in der Nikolaistraße (Niguliste) drei Jahre zuvor eröffnet und versprach neben dem günstigen Verkauf von Speisen und Getränken auch die Vermietung von Pferden und Kutschen „für einen billigen Preiß“.260 Die Freimaurerloge Zur Bruderliebe versammelte sich nach ihrer Stiftung im Juli 1777 in der Stadt Hamburg und ersetzte damit möglicherweise die im Winter beworbenen öffentlichen Klubabende.261 Jedenfalls scheinen diese nicht fortgeführt worden zu sein, da der anonyme Verfasser nichts davon in Kotzebues Zeitschrift erwähnte und auch die anderen Quellen keine weiteren Aktivitäten dokumentieren. Innerhalb von nur drei Jahren etablierten sich in Reval drei unterschiedliche Klubs. Daher verwundert die Einschätzung des Briefschreibers von 1786 nicht, dass „besonders in den letzten drey oder vier Jahren, die unbegreiflich schnelle Veränderung der Sitten und Art zu denken“ stattgefunden hatte.262 Tatsächlich war die Gründung von Vereinen noch nicht zum Abschluss gekommen. Die Knudsgilde veranstaltete ab 1789 ebenso wie die Schwarzhäupter regelmäßig ein Picknick, welches ein Jahr später auch eine offizielle Ordnung erhielt.263 Gut eine Dekade (1801) später gründeten sie eine „Abendgesellschaft“ mit dem Namen Harmonie.264 Obwohl die restriktive Politik des bereits erwähnten russischen Kaisers Paul I. das Revaler Klubleben verstärkt beobachtete und reglementierte, wie die Namensänderung der Bürgerlichen Klubbe in Erholung veranschaulicht, lassen sich bis 1800 keine Anzeichen eines tatsächlich eingeschränkten Vereinslebens ausmachen. In der Erholung, wie wohl auch in allen anderen Klubs, fanden weiter Bälle und Konzerte nach der ursprünglichen Regelung statt und scheinen nicht nennenswert von außen beschränkt worden zu sein. Einen Einschnitt bedeutete allerdings ein Ukas des Kaisers von 1800, nach dem alle Klubs im Russischen Reich zu schließen waren. Dementsprechend vermerkten der Protokollat der Erholung am 6. Dezember 1800, dass man bis auf Weiteres sämtliche Räumlichkeiten des Klubs verschlossen halten würde.265 Allerdings währte das Klubverbot lediglich einige Monate, da nach dem Staatsstreich vom März 1801 der kaiserlichen Sohn Alexander den Thron bestieg und einen „liberalen Frühling“ einleitete. Bereits am 7. März 1801 durfte die Erholung ihre Türen wieder öffnen.266

260 RWN, Nr. 43, 27. 10. 1774. 261 Heinning von Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773 – 1820, Bd. 1, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 376 – 378. 262 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, Bd. 1, S. 101. 263 Otto-­Heinrich Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II. (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd. 3), Bonn/Bad Godesberg 1978, S. 183. Zur Picknickordnung s.: TLA, Rep. 190.1.61. 264 Indrek Jürjo: Die Klubs in Reval im Zeitalter der Aufklärung, in: Norbert Angermann und Wilhelm Lenz (Hrsg.): Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Lüneburg 1997, S. 339 – 362, hier S. 346. 265 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 89 – 90. 266 Ebd., S. 90; zum „liberalen Frühling“, der bis 1805/06 andauerte s.: Schippan: Die Aufklärung in Russland, S. 169 – 171.

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Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts brachte die Stadt Reval mit ihren ungefähr 10.000 Einwohnern vier Vereine sowie zwei Picknicks hervor. Zwar konnte man damit nicht mit Metropolen wie Hamburg 267 oder London 268 mithalten, aber im Gegensatz zu Stralsund, wo mit der Ressource erst 1795 eine ähnliche Vereinigung gegründet wurde, erscheint diese Zahl doch beträchtlich.269 Daher ergibt sich die Frage, warum ein Bedarf für vier unterschiedliche Klubs bestand? Um darauf eine Antwort zu finden, sollen im Folgenden die Merkmale der Klubs insbesondere anhand ihrer Statuten rekonstruiert werden.270 Die Statuten bieten sich als normative Quellen an, weil sie in jeder Gesellschaft regelten, „auf welche Art, ein jeder Einzelner zum allgemein Besten beytragen, und was er dagegen von den Uebrigen, gleichsam als Entschädigung, erhalten soll.“ Darüber hinaus reflektieren die Gesetze „die localen Umstände, [die] Individualität und [die] gemachten Erfahrungen“, weshalb sie pars pro toto einen Einblick in die Eigenarten eines Vereins ermöglichen.271

6.4 Der Zweck der Klubs Die einzige Ordnung, die explizit über den Zweck eines Klubs informiert, ist die der 1801 gegründeten Harmonie in der St. Knudsgilde: „Diese Gesellschaft ist ursprünglich und hauptsächlich zur Erholung, und zum geselligen Vergnügen […] bestimmt.“272 In den Ordnungen der anderen Klubs fehlen die konkreten Zwecke wohl deshalb, weil vor dem Tode Katharinas II. noch kein Zwang bestand, diese explizit zu formulieren. Das änderte sich unter Paul I., als dem Klub ein sofortiges Verbot drohte. Aus Angst, es könnte sich innerhalb der geselligen Vereine eine subversive politische Strömung entwickeln, mussten diese ihre unpolitischen Zwecke herausstellen.

267 Vgl. zu Hamburg bspw. Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 2. Aufl.1990. 268 Vgl. zu London bspw.: Jerry White: London in the 18th century. A great and monstruous thing, London 2013; allgemein zu den britischen Klubs und Gesellschaften vgl.: Peter Clark: British Clubs and Societies 1580 – 1800, Oxford 2000. 269 Vgl. zur Stralsunder Ressource: Anonym: Geschichtliche Nachrichten über die Ressource-­ Gesellschaft. 270 Die Klubstatuten unterscheiden sich in Überlieferungsart und -form. Die Gesetze der Bürgerlichen Klubbe von 1781 konnten nur indirekt über eine Artikelserie des Revaler Beobachters von 1889 (Nr. 168, 171 und 178) zur Kenntnis genommen werden, da keine zeitgenössisch gedruckte Ausführung zu finden war. Zudem fehlen in den beiden eingesehenen Protokollbüchern der Gesellschaft, von denen in diesem Abschnitt ebenfalls teilweise Gebrauch gemacht wird, die ersten Seiten. Aus diesen scheint der Autor der Zeitungsartikel die Vereinsstatuten zu zitierten. Die Ordnung der Picknicks bei den Schwarzhäuptern und der Knudsgilde sowie des Klubs Harmonie umfassen nur wenige handgeschriebene Seiten, während für die Einigkeit und die Societät ausführliche gedruckte Exemplare vorliegen. 271 UBT, Gesetze der Societät auf dem Dom in Reval, S. 5. 272 EAA, Rep. 30. 1. 1015.

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Bereits 1797 hatte sich die Bürgerliche Klubbe in den politisch unverdächtigen Namen Erholung umbenannt.273 Doch zwei Jahre später forderte der Revaler Festungskommandant Graf Jacob de Castro Lacerda die Erholung auf, in ihren Statuten den direkten Zweck ihres Bestehens zu definieren und zudem ein aktuelles Mitgliederverzeichnis zu erstellen.274 Der Klub reagierte mit einem ausführlichen Schreiben, in dem er zunächst die mittlerweile 230 Mitglieder als die „ersten obrigkeitlichen Personen dieser Provinz“ bezeichnete.275 Der Kommandant solle sich nicht an den ursprünglichen Klubstatuten orientieren, da nun andere Vorschriften als bei der Gründung gelten. Der Zweck der Gesellschaft sei, wie es ihr Nahme ankündigt, um in einem freien gesellschaftlichen Umgange und bey freien gesellschaftlichen Vergnügungen, Erholung nach der Arbeit der edlen Geschäfte zugenesen, zugleich aber auch nach ihren Kräften die hiesigen Armen durch jährliche Beyträge zu unterstützen.276

Ihrem Selbstverständnis folgend erfüllte die Erholung damit genau die Zwecke, die sich nach den Klubstatuten indirekt schließen lassen: Geselligkeit, Rekreation und Wohltätigkeit. Darüber hinaus müssen die geschäftlichen Beziehungen und wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder Erwähnung finden. An kaum einem anderen Ort kamen regelmäßig derart viele einflussreiche Männer zusammen, die in der angenehmen Atmosphäre des Klubs Kontakte knüpften oder auffrischten und sich über geschäftliche Angelegenheiten verständigten. Einen exemplarischen Eindruck dessen, was man heute womöglich ‚Networking‘ nennen würde, vermittelt Petris Beschreibung des „Schwarze-­Häupter-­Clubbs“: Einige würden bei russischen und deutschen Zeitungen Unterhaltung suchen und andere einen lange nicht gesehenen Freund anzutreffen hoffen, oder auch gelegentlich einen Handel schließen. So vertritt also dieser Ort die Stelle der Börse, sodass man da manchen Abend, besonders im März, wo der Adel häufig vom Lande in die Stadt kommt, eine zahlreiche Gesellschaft antrifft […].277

Trotz des Fehlens expliziter Gründungszwecke verdeutlicht die Tatsache, dass ein Verein eigene Gesetze formulierte und dessen Mitglieder nur unter bestimmten Voraussetzungen nach einem streng regulierten Verfahren aufgenommen wurden,278 das Bestreben, einen von der Alltags- und Außenwelt unterschiedlichen Raum zu schaffen. In diesem ging es auch um wirtschaftliche Interessen oder den Informationsaustausch, da die all 273 274 275 276 277 278

TLA, Rep. 1441.1.2, S. 33.

Ebd., S. 69. Ebd., S. 70 – 71, hier S. 70. Ebd., S. 71. Petri: Briefe über Reval, S. 91. Das Aufnahmeverfahren stellte einen substanziellen Teil jeder Ordnung dar.

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gemein zugänglichen Nachrichtenkanäle wie Zeitungen Ende des 18. Jahrhunderts noch bedeutend langsamer und weniger zuverlässig waren als der persönliche Kontakt.279 Die Bedeutung von vertraulichen Gesprächen und Diskussionen war sicherlich unter der restriktiven Regierungszeit von Paul I. besonders groß, zumal der Kaiser im Apil 1800 die Einfuhr sämtlicher ausländischer Schriften verbot.280 Wohl nicht zufällig sollten jedoch laut der Klubstatuten die Erholung bei Spielen, Konversationen und der Zeitungslektüre sowie die Armenfürsorge im Vordergrund stehen.

6.5 Die Mitgliedschaft Da die Bürgerliche Klubbe am 17. September 1781 als erster Verein Revals ins Leben gerufen wurde, konnten sich deren Gründer nicht an anderen städtischen Statuten orientieren. Sie versuchten vergeblich andere Beispiele zu erhalten, sodass der erste Vorsteher der Gesellschaft, Prof. Carpov, in Abstimmung mit dem anderen Vorsteher 281 und den Kommissionsmitgliedern 282 selbst eine Verordnung entwerfen musste. Bereits am 1. Oktober präsentierte er der versammelten Gesellschaft seinen Entwurf, den die Mitglieder nach einigen Änderungen einstimmig annahmen. Der Verein machte seinem Namen Ehre und gewährte nur Personen des bürgerlichen Standes das Beitrittsrecht.283 Nachdem sich die Gesellschaft mit 30 Mitgliedern konstituiert hatte, betrug die maximale Zahl der Mitglieder 50.284 Einerseits deutet diese vergleichsweise geringe Mitgliederzahl auf den Wunsch der Gesellschaft hin, einen bürgerlich-­exklusiven Raum zu schaffen. Unmissverständlich verbietet der erste Paragraph der Ordnung, dass „[n]iemand von Adel und Militär-­Stande, wie auch niemand, der nicht sein eigener Herr ist, […] auf- und angenommen werden“ kann.285 Andererseits dürfen die räumlichen Umstände nicht außer Acht gelassen werden. Man hatte sich einen kleinen Raum gemietet, der für sehr viel größere Gesellschaften nicht geeignet gewesen wäre. In den folgenden Jahren ballotierten die Mitglieder stets auch unter Berücksichtigung des Platzes in den Gesellschaftsräumen für eine Erhöhung der maximalen Mitgliederzahl, sodass der Klub am Beginn des 19. Jahr-

279 Hannes Vinnal: The World Refuses to Shrink: The Speed and Reliability of Information Transmission in North and Baltic Sea Region, 1750 – 1825, in: European Review of Economic History 18 (2014), S. 398 – 412. 280 Schippan: Die Aufklärung in Russland, S. 168. 281 Kaufhändler Peter Lohmann. 282 Ratsverwandter Sendenhorst, Dr. Walther, Protonotarius Riesemann, Sekretär Nottbeck und Kaufhändler Jenken. 283 Revaler Beobachter, Nr. 168, 08. 09. 1889. 284 Revaler Beobachter, Nr. 171, 20. 09. 1889. Bereits ein halbes Jahr später wurde vorgeschlagen, 15 Mitglieder mehr aufzunehmen (TLA, Rep. 1441.1, S. 4). Das Protokollbuch gibt für den 3. September an, dass die Gesellschaft nun 72 Mitglieder hatte und damit „ein für allemal geschlossen“ sei (ebd., S. 28). 285 Revaler Beobachter, Nr. 171, 20. 09. 1889.

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hunderts aus 250 Männern bestand.286 An dieser Stelle genügt es festzuhalten, dass der Klub das Statut Adligen keinen Zutritt zu gewähren, offenbar in den ersten Jahren seines Bestehens sehr ernst nahm, da der adlige Kommentator in Kotzebues Für Geist und Herz keinen Zutritt erhielt.287 Der Adliche Clubb zeichnete sich, dem anonymen Zeitgenossen folgend, durch seine „Steifigkeit“ aus, weil dort „Rang und Etikette zu ängstlich“288 überwacht würden. Die meisten Adligen in Estland glaubten, dass sie besser seien als andere Menschen, „weil sie von Thon, und die anderen nur aus Thon geformt“ wären.289 Als Reaktion auf dieses Standesbewusstsein mieden namhafte bürgerliche Familien den Adlichen Clubb, obwohl sie von seinen Mitgliedern eingeladen wurden. Am Anfang der 1780er-­Jahre standen sich also zwei klar voneinander abgegrenzte Klubs gegenüber, deren wichtigstes Kategorisierungskriterium – abgesehen vom Geschlecht 290 – der Stand war. Allerdings dürften die abendlichen Bälle oder geselligen Vergnügen nur ungenügend besucht gewesen sein, weil beide Klubs bald von ihrer bürgerlichen bzw. adligen Exklusivität abließen. Mit der Gesellschaft der Schwarzhäupter hatten sie zudem ein gutes Vorbild, weil dort von Anfang an Bürgerliche und Adlige zusammentrafen. Der Schreiber der Briefe bezeichnete den Klub als den „ansehnlichsten und beliebtesten Versammlungs-­Ort […] wo man immer die zahlreichsten Gesellschaften findet.“291 Obwohl der bauliche Zustand und die Einrichtung der Räumlichkeiten seiner Meinung nach nicht den Anforderungen eines Ball- und Gesellschaftsgebäudes entsprachen, lobte er die dort stattfindenden Vergnügungen. Positiv fiel zudem auf, dass klare Regeln für das gesellschaftliche Miteinander existierten und eingehalten würden. Daher konnte er sich auf einem Ball so verhalten, wie es ihm angemessen schien. Er sah in allen Anwesenden „blos einen Theilnehmer des frohen Abends, aber nie einen Mann mit Band, Stern oder Titel“.292 Für ihn bedeutete die Partizipation an solchen gesellschaftlichen Tanzvergnügen, den Eintritt in einen von der Außenwelt klar zu unterscheidenden Raum: [V]or jeder Dame, die mich durch Geist und Schönheit bezaubert, bücke ich mich; aber ihren Rang muß sie zu Hause, oder wenigstens unten vor der Thür im Wagen lassen.293

286 287 288 289 290

Ausführlich zur Mitgliederzahl der Bürgerlichen Klubbe s. Kap. V.3.2.1. Anonym: Die Briefe des Ungenannten, Bd.1, S. 117. Ebd., S. 116. Ebd., S. 117 Alle Klubs erlaubten es Frauen nicht, ordentliche Mitglieder zu werden. Sie waren nur bei Bällen und teilweise bei Konzerten willkommen. Zur Rolle der Frauen vgl.: Michael Sobania: Vereinsleben. Regeln und Formen bürgerlicher Assoziationen im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein und Andreas Schulz (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 170 – 190, hier S. 181 – 183. 291 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, Bd. 1, S. 119. 292 Ebd., S. 116. 293 Ebd.

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Da das erste gedruckte Gesetz der Einigkeit erst für 1792 vorliegt, kann nicht mit letzter Gewissheit garantiert werden, dass sowohl Adlige als auch Bürgerliche bereits davor der Gesellschaft beitreten durften. Doch laut eines sogenannten „Verpflichtungs-­Buchs“, in dem sowohl jedes Mitglied als auch jeder Gast unterschreiben musste, kehrten Personen aus beiden Ständen bei den Schwarzhäuptern ein.294 Mit ihrer Unterschrift sicherten zwischen 1782 und 1785 nicht weniger als 530 Männer zu, sich gesetzeskonform zu verhalten.295 Es liegt demnach der vorläufige Schluss nahe, dass in den 1780er-­Jahren gesellschaftliche Zusammenkünfte wie Bälle, Redouten oder gesellige Abende nur dann genügend Teilnehmer begrüßen konnten, wenn sich der bürgerliche und adlige Stand nicht voneinander abschotteten. Die „Pique-­nique Verordnung“ von 1786, die der Älteste Eberhard Dehn auf dem Schwarzhäupterhaus unterzeichnete, erlaubte es sowohl Bürgerlichen als auch Adligen teilzunehmen. Voraussetzung war lediglich, dass sich die Teilnehmer, sofern sie nicht zu den „uns angehende[n] obrigkeitliche[n] Personen“ gehörten, der Abendgesellschaft anschlossen. Die relative Aufgeschlossenheit dieses Festes belegt weiterhin, dass Mitglieder selbst Reisende und Fremde mit Billett einführen durften.296 Trotz der ständeübergreifenden Festlichkeiten auf dem Schwarzhäupterhaus sollte man die Offenheit der dortigen Veranstaltungen nicht überschätzen. Denn alle bisher genannten Gesellschaften schlossen den Stand der Handwerker aus. Diese ständische Barriere blieb auch noch zum Ende des 18. Jahrhunderts intakt, wie der Publizist Johann Christoph Petri bezeugte: „Handwerker sind in Reval und ganz Ehstland von allen ansehnlichen Gesellschaften ausgeschlossen.“297 Die Aufnahme von Handwerkern schien für die Einigkeit oder die Societät auf dem Dom nicht nötig, um eine ausreichend große Gruppe zahlungskräftiger Mitglieder anzusprechen. In den Statuten der Einigkeit gewährte man ihren keinen Eintritt, sondern nur den Personen des „Militair-, Civil-, Adel-, Gelehrten- und Kaufmanns-­Standes.“298 Indirekt 294 Petri berichtet, dass der Klub ungefähr 300 bis 400 Mitglieder gehabt habe. Damit wäre die Abendgesellschaft der deutlich größte Klub in Reval gewesen. Unter ihnen befanden sich Personen aus allen Ständen, „vom Gouverneur und Commandanten bis zum Schreiber und Fähnrich, vom Kaufmann der ersten Gilde bis zum Ladendiener.“ Petri: Briefe über Reval, S. 90. 295 Der zu unterschreibende Text lautete: „Ich mich eigenhändig hierinnen Eingeschriebener verpflichte mich hiermit, mich, so oft ich der, unter den Nahmen der Brüder-­Gesellschaft, auf dem Hause der Löblichen Schwarzen-­Häupter-­Brüder wiederum aufgerichteten täglichen Abend-­Gesellschaft beiwonen werde, nicht nur in allen Stücken nach derselben Gesetzen genau und pünktlich zu richten, sondern auch dieselben in jedem vorkommenden Falle unverweigerlich zu befolgen, zu dem Ende ich gegenwärtige Verpflichtung mit meiner eigenhändigen Nahmens Unterschrift nochmehr bekräftige.“ TLA, Rep. 87.1.651, fol. 2v. 296 TLA, Rep. 87.1.244 fol. 1v. 297 Johann Christoph Petri: Ehstland und die Ehsten oder historisch-, geographisch-, statistisches Gemälde von Ehstland, Th. 1, Gotha 1802, S. 225. 298 UBT, Gesetze des am ersten September 1792 gestifteten Clubbs der Einigkeit in Reval, Reval o. J., S. 3.

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grenzte man so die Handwerker aus, obwohl es hier nicht primär an den Räumlichkeiten lag. Denn die Verordnung beschränkte ausdrücklich nicht die Mitgliederzahl, solange kein Platzmangel herrschte.299 Nahezu identisch lesen sich die Bestimmungen der Societät auf dem Dom. Dort gestaltete man den Beitritt von allen „Civil- und Militär-­Personen, Adliche[n], Gelerht[n] in öffentlichen Aemtern und Kaufleute[n]“.300 Die anhaltende Exklusivität erklärt, warum die St. Knudsgilde im Jahre 1790 in den sogenannten „Picknick-­Punkten“ eine eigene Veranstaltung begründete. Neben Angehörigen der Gilde durften Adlige, Gelehrte und Offiziere zu den Picknicks eingeführt werden, wogegen Kaufleute ausgeschlossen blieben. Damit illustriert diese Regelung eine ständische Barriere insbesondere unter zwei Bürgerständen der Stadt.301 Die Spaltung der Bürgerschaft hob die im Jahre 1801 gegründete Harmonie aber zumindest theoretisch auf. In den Statuten des Vereins erlaubte man es nämlich, „Civilpersonen, Adliche[n], Gelehrte[n], und Bürger[n] dieser Stadt“ sich der Wahl zur ordentlichen Mitgliedschaft zu stellen.302 Da die Gilde über entsprechende Räumlichkeiten verfügte, musste sie die Zahl der Mitglieder nicht beschränken. Im Unterschied zur Einigkeit und zur Harmonie definierte die Societät eine maximale Mitgliederzahl. Insgesamt durften höchsten 200 ordentliche und 80 außerordentliche Mitglieder aufgenommen werden. Ein ordentliches Mitglied musste sich dauerhaft oder wenigstens für drei Jahre im Revalschen Gouvernement aufhalten. Die außerordentliche Aufnahme einer Person setzte voraus, dass sie entweder dem Offiziersrang angehörte und in Estland stationiert war oder in einem anderen Gouvernement wohnte bzw. weniger als drei Jahre im Revalschen Gouvernement lebte. Außerordentliche Mitglieder durften weder an Mitgliederversammlungen teilnehmen und über neue Mitglieder ballotieren noch über den Vorstand oder das Komitee entscheiden bzw. in diese Gremien gewählt werden. Dafür erließ man ihnen die Aufnahmegebühr und sie mussten nur den regulären Jahresbeitrag zahlen. Gleichzeitig erhielten sie Zugang zu allen geselligen Veranstaltungen.303 Doch unabhängig davon, welchen Mitgliedsstatus man anstrebte, das Aufnahmeprozedere der Klubs beruhte auf einem präzise geregelten, größtenteils einheitlichen Wahlverfahren. Ein Mitglied schlug dem Vorstand einen Herrn vor, der Teil der Gesellschaft werden wollte, woraufhin die Vorsteher oder die Kommission diesen in den Status eines Kandidaten erhoben und die Gesellschaft darüber per Aushang informierten. Bei der nächsten Vollversammlung, bei der wenigstens die Hälfte der Mitglieder anwesend sein sollten, verteilte der Vorstand unter allen Wahlberechtigten zwei unterschiedliche Bälle: Der erste repräsentierte eine Ja- und der zweite eine Neinstimme. Anschließend ballotierte 299 Ebd. S. 4. 300 UBT, Gesetze der Societät auf dem Dom in Reval, welche den 17ten November 1788 gestiftet, und den 23sten Januar 1789 eröffnet worden, Reval 1791, S. 8 – 9. 301 Elias: Reval in der Reformpolitik Katharinas II., S. 183. 302 EAA, Rep. 30.1.10.15.2, 1801. 303 UBT, Societät, S. 10 – 12.

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man über die Aufnahme eines Kandidaten. Dabei untersagte man die Übertragung der eigenen Stimme auf ein anderes Mitglied, erlaubte dagegen eine Stimmenenthaltung. Als aufgenommen galt derjenige, dessen Auszählungsergebnis mindestens eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Bälle ergab. Abgelehnte Kandidaten durften innerhalb einer bestimmten Frist nicht erneut vorgeschlagen werden.304 Insgesamt setzten alle Vereine in Reval während des 18. Jahrhunderts hoch selektive Kriterien für die Auswahl ihrer Mitglieder an, was nicht nur an der geringen Mitgliederzahl der Bürgerlichen Klubbe sichtbar wird. Auch die Abgrenzung der unterschiedlichen Stände beschränkte die Zahl der Kandidaten entscheidend. Doch zumindest zwischen der bürgerlichen Elite und dem Adel kam es zu Annäherungen, sodass Landadlige, Offiziere oder Kaufleute am Ende des 18. Jahrhunderts in allen Klubs zu finden waren. Gegenüber Handwerkern schotteten sich die Klubs dagegen gleichzeitig ab, weshalb die Knudsgilde zunächst ein Picknick und schließlich eine eigene Abendgesellschaft gründete. Neben dem Stand sollte zudem noch der Wohnort Bedeutung erlangen, wie die Unterscheidung zwischen ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern in der Societät belegt. Somit kann festgehalten werden, dass die Klubstatuten einen von der Umwelt abgegrenzten Raum kreierten, dessen Merkmale neben geschlechterspezifischen auf ständischen und geographischen Grenzen beruhten.

6.6 Die Rechte und Pflichten der Mitglieder mit Bezug aufs Spiel Für jedes Vereinsmitglied traten zu den üblichen gesellschaftlichen Verhaltensregeln genau definierte klubspezifische Normen hinzu. Gleichzeitig erwarb sich jedes Mitglied Rechte, die im klubexternen alltäglichen Miteinander nur schwer vorstellbar gewesen wären. Dazu gehörte u. a. die Möglichkeit, zu den Klubzeiten in der angenehmen Atmosphäre des Vereinshauses Karten oder Billard zu spielen. Die Societät und die Bürgerliche Klubbe hießen ihre Mitglieder zwischen neun Uhr morgens und Mitternacht willkommen. Zu einer ähnlichen Uhrzeit öffnete die Einigkeit, nur dass man das Klubleben dort eine Stunde später anfing. In den Räumen der Harmonie konnte man sich vom 1. September bis zum 30. April immerhin von 16 bis 23 Uhr aufhalten. Zu beachten war lediglich, dass alle Klubs zu den Zeiten der Gottesdienste verschlossen blieben und dass zu festlichen Veranstaltungen gesonderte Regelungen galten. Die Billard- und Spieltische gehörten zum Inventar jedes guten Klubs. Darum erhielt der Vorstand der Bürgerlichen Klubbe bereits kurz nach der Vereinsgründung den Auftrag, einen ordentlichen, gebrauchten Billardtisch zu erwerben. Tatsächlich existierte bereits ab den 1770er-­Jahren ein anonymes Angebot an neuen und gebrauchten Billardtischen, wie die Durchsicht der Revalischen Wöchentlichen Nachrichten ergab. Entsprechende Annoncen

304 UBT, Einigkeit, S. 21 – 23; EAA, Rep. 30.1.10.15.2, § 2; UBT, Societät, S. 12 – 14.

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lassen sich für 1776 und 1778 aber auch für spätere Jahre nachweisen,305 genauso wie der Vertrieb von Tischen für andere Spiele wie L’Hombre oder Whist.306 Allerdings gestaltete sich die Suche schwierig, weil ein gut erhaltender Billardtisch 140 Rubel kosten sollte,307 was im Vergleich zu den Einnahmen ein unbezahlbares Vergnügen darstellte.308 Unter diesen Umständen erwogen die Mitglieder doch lieber, ein neues Produkt in Auftrag zu geben. Es werde günstiger und dafür von besserer Qualität sein, begründete die Gesellschaft ihre Entscheidung. Zum Glück für den Klub unterbreitete die Frau des Mannrichters von Knorring ein generöses Alternativangebot. Die Bürgerliche Klubbe könne ihren Billardtisch ab sofort benutzen und für 100 Rubel erwerben, wobei das Geld ohne zusätzliche Zinsen erst in zwei Jahren fällig werden sollte. Falls der Tisch nicht den Ansprüchen der Gesellschaft entspreche, dürften sie diesen so lange kostenlos benutzen, bis sie einen neuen erworben hätten. Die Vorsteher gingen auf das Angebot noch am selben Tag ein und bereits 24 Stunden später spielte man in der Klubbe Billard.309 Die Gesellschaft erachtete das Preis-­Leistungs-­Verhältnis des gebrauchten Tisches letztlich doch nicht als ausreichend und informierte sich bei einem Handwerker, wie teuer ein neuer Billardtisch sei und wie lange dessen Herstellung dauere. Nachdem der Tischler versichert hatte, dass er 70 Rubel kosten und in fünf Wochen verfügbar sein werde, entschieden sich die Mitglieder, das Angebot anzunehmen.310 Das war jedoch erst der Anfang, denn nur wenige Jahre nach ihrer Gründung besaß die Klubbe nicht nur einen Billardtisch, sondern ein eigens für dieses Spiel eingerichtetes Zimmer wie die Einigkeit und die Societät auch. Vor dem Hintergrund der Kosten, die beispielsweise für einen Billardtisch anfielen, sowie den moderaten Einnahmen versuchten die Mitglieder verständlicherweise, das kostbare Klubeigentum zu schützen. In der Societät bezahlte derjenige, der das erste Loch in das Tuch des Billardtisches stieß, zehn Rubel. Für das zweite Loch wurden fünf Rubel und für jede weitere Beschädigung drei Rubel fällig.311 Die Einigkeit sanktionierte Beschädigungen des Billardtisches sowie des Queues. Das erste Loch im Tuche des Tisches kostete fünf, das zweite drei und jedes weitere Loch zwei Rubel. Für einen zerbrochenen Queue musste man zwei Rubel hinterlegen.312

305 Für Angebote eines neuen oder gebrachten Billardtisches s. bspw.: RWN, Nr. 16, 18. 04. 1776; Nr. 10, 05. 03. 1778 und Nr. 8, 21. 02. 1799. 306 Für den Verkauf von L’Hombre-­Tischen bspw. RWN, Nr. 4, 03. 02. 1774 und Nr. 9, 02. 03. 1997; für das Angebot eines Tisches für Whist vgl. bspw.: RWN, Nr. 14, 1779. Nähere Erläuterungen zu diesen Spielen befinden sich im Glossar. 307 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 11. 308 Ohne die Spenden der Mitglieder für die Ausstattung verfügte der Klub 1781 über ca. 150 Rubel reguläre Einnahmen aus Mitgliedsbeiträgen, die 1782 auf 450 Rubel stiegen. 309 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 11. 310 Ebd., S. 15. 311 UBT, Societät, S. 31 bzw. 39. 312 UBT, Einigkeit, S. 7.

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Vordergründig organisierten die Klubstatuten nicht den Schutz des Eigentums, sondern regulierten das soziale Miteinander. Bei geselligen Zusammenkünften konnte es am ehesten zu Meinungsverschiedenheiten kommen, weshalb bei ihnen ein besonders hoher Regelungsbedarf bestand. Kartenspiele und Billard fanden in jeder Gesellschaft als wichtiges Element der Geselligkeit statt und standen somit unter besonderer Beobachtung. In der Bürgerlichen Klubbe und der Einigkeit erlaubte man nur das Spiel mit klubeigenen Karten, die durch den Stempel eines der Vorsteher markiert waren.313 Auch bei der Societät durften die Mitglieder nur mit den gesiegelten Karten der Vorsteher spielen, da jene sonst eine Strafe von zwei Rubeln zu entrichten hatten.314 Es drängt sich die Vermutung auf, dass diese Reglementierung dem Falschspiel mit gezinkten Karten vorbeugte und damit einem vorhersehbaren Streitpunkt präventiv entgegenwirkte. Konflikte riefen zudem (Karten-)Spiele hervor, deren Regeln Gesellschaftsmitglieder dazu ermunterten, unvorsichtige Entscheidungen mit unvorhersehbaren Konsequenzen für sich selbst oder andere Mitglieder zu provozieren. Zeitgenossen bezeichneten derartige Spiele, wie aus den oben zitierten Ukassen und Ordnungen hervorgeht, als „Hasardspiele“ (s. Kap. III.6.1). „Kommerzspiele“ beruhten zwar ebenfalls auf dem Einsatz von Geld, galten aber bei den geselligen Vereinigungen subjektiv als weniger gefährlich. Daher erklärt sich, weshalb in allen Klubs oder Picknicks Hasardspiele rigoros geächtet, während Kommerzspiele gestattet waren. Grundsätzlich besagten die Statuten der Klubs diesbezüglich das Gleiche; exemplarisch sei hier die Ordnung der Einigkeit zitiert: In der Clubb-­Gesellschaft ist jedes Commerz-­Spiel erlaubt, dagegen sind alle Hazard-­Spiele in dieser Gesellschaft untersagt. Es ist daher niemande[m] […] erlaubt, sich damit abzugeben, bey Strafe der Ausbalottierung.315

Bei der Bürgerlichen Klubbe findet man diese Formulierung noch dahingehend verschärft, dass auch „hohe Commerz-­Spiele“ in das Verbot einbezogen waren.316 Die Societät konkretisierte, dass selbst Hasardspiele, die „nur zum Spaße“ begangen wurden, einen Ausschließungsgrund darstellten.317 Einen weiteren potenziellen Streitpunkt boten Spielschulden unter den Mitgliedern, die sowohl bei Kartenspielen als auch beim Billard entstehen konnten. Dementsprechend untersagten viele Gesellschaften die Aufnahme von Spielschulden, wobei man insgesamt verhältnismäßig entspannt mit diesem Thema umging. Bei der Einigkeit duldete das Klubgesetz zwar keine Spielschulden, aber im Falle eines Regelverstoßes sollte sich der Übeltäter nur bei den Vorstehern melden und die Summe, sofern das noch nicht geschehen war, 313 314 315 316 317

Revaler Beobachter, Nr. 171, 12. 09. 1889; UBT, Einigkeit, S. 38.

UBT, Societät, S. 33. UBT, Einigkeit, S. 8.

Revaler Beobachter, Nr. 171, 12. 09. 1889.

UBT, Sozietät, S. 32.

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innerhalb einer Zahlungsfrist von 14 Tagen begleichen. In der Societät reglementierte man das eigene Schuldenmachen gar nicht. Mitglieder hafteten lediglich für die nicht bezahlten Verbindlichkeiten ihrer Gäste.318 Da es sich grundsätzlich beim Billard um eine Form des Spieles handelt, bei dem eher das Können denn das Glück über den Ausgang einer Partie entscheidet, galten ganz ähnliche Regeln wie für das Kartenspiel. Zusätzlich musste man jedoch klären, wer den Billardtisch benutzen durfte. Anders als ein Spieltisch für das beliebte Kartenspiel L’Hombre, war ein Billardtisch ein großes und teures Möbelstück, von dem Klubs nur eins oder zwei besaßen.319 Daher widmeten die Societät und die Einigkeit dem Billard ein eigenes Unterkapitel in ihren Vereinsstatuten. Nach der Beendigung der Partie musste man beispielsweise den als nächstes angemeldeten Personen weichen. Zudem hatten sogenannte „A-la-­guerre-­Spieler“ den Vorrang vor „Partiespielern“.320 Insgesamt oblag den Mitgliedern und Gästen aller Vereine beim Kartenspiel sowie beim Billard die Pflicht, nach einem durchdachten, teilweise undurchschaubaren Reglement zu handeln. Dadurch sollten etwaige Konflikte unter den Spielern und die negativen sozialen Konsequenzen des Hasardspiels oder des Spiels um hohe Einsätze unterbunden werden. Sowohl zeitgenössische Beobachter des Kluballtags als auch gerichtlich ausgetragene Auseinandersetzungen belegen jedoch, dass die Statuten in diesem Punkt mehr einer Idealvorstellung als den Tatsachen entsprachen.321

6.7 Die Armenfürsorge Der aufgeklärte Zeitgeist verlangte danach, nicht einfach nur das Leben zu genießen. Dies galt besonders für das bürgerliche Selbstverständnis, das die Tugend des Fleißes beinhaltete. Daher akzeptierte man vielerorts gesellige Vergnügungen lediglich nach getaner Arbeit zur Rekreation, jedoch nicht als Ersatz zur Arbeit. Als zweites nicht zu unterschätzendes Rechtfertigungsschema tritt die Armenfürsorge aus den Statuten hervor, ohne dabei zu präzisieren, was man darunter genau zu verstehen hatte. Alle Ordnungen beziehen sich an verschiedenen Stellen lediglich auf die finanzielle Unterstützung der Armen. Grundsätzlich verfügte ein Klub immer über reguläre Einkünfte, die sich zum einen aus den Aufnahme- und Mitgliedsbeiträgen und zum anderen aus den Gebühren für das Karten- oder Billardspiel zusammensetzten. Weiterhin gab es noch die Möglichkeit, von den Mitgliedern regelmäßig bei Versammlungen Spenden einzunehmen oder ihnen Geld bei bestimmten Ereignissen wie Bällen oder Konzerten abzuverlangen. Weiterhin spülten die Strafgelder schwer voraussehbare Extraeinnahmen in die Kassen. Die Statuten aller 318 319 320 321

Ebd., S. 31.

TLA, Rep. 87.1.454. UBT, Societät, S. 40. Erläuterungen zu diesen Billardspielen befinden sich im Anhang. Zu den Auseinandersetzungen und Gesetzesübertretungen in den Revaler Klubs s. Kap. III.6.8

und Kap. V.7.

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Vereine bis auf die der Harmonie veranschlagten bestimmte Summen dieser Einnahmen für die Armen. Besonders deutlich trat die Verbindung von Vergnügen und karitativem Zweck bei der Einigkeit hervor. Der Klub gewährte seinen Mitgliedern, sich zum Wohle der Armen von der gewöhnlichen Öffnungszeit freizukaufen, da man sie „in Ansehung ihres Vergnügens nicht zu sehr einzuschränken“ wünschte. Eine Extrastunde kostete pro Person einen und für jede nachfolgende Stunde zwei Rubel.322 Die anderen Klubs formulierten das Tauschgeschäft Spende gegen Vergnügen nicht genauso plakativ, aber handelten im gleichen Sinne. Die Bürgerliche Klubbe verpflichtete, wie oben bereits erwähnt, jedes Neumitglied zu einer Spende an die Bedürftigen über mindesten einen Rubel. Zusätzlich ging bei jeder ordentlichen Versammlung eine Spendenbüchse für die Armenkasse herum. Diese Kasse füllte der Klub weiterhin mit seinen Strafgeldern sowie dem zehnten Teil der Kartengelder.323 Die Societät reservierte ebenso die Strafgelder „zum Besten der Armen“.324 Auch in der bereits oben zitierten offiziellen Erklärung zum Zweck der Bürgerlichen Klubbe (Erholung) fand die Unterstützung der Armen Erwähnung. Tatsächlich ist aus den Protokollbüchern des Klubs zu entnehmen, dass die Armenfürsorge für die Mitglieder einen nicht zu vernachlässigenden Stellenwert einnahm. Bei jeder Vollversammlung gaben die Anwesenden geringe Beträge in eine Kollekte, in der sich letztlich jedes Mal ca. ein bis vier Rubel befanden. Bei jedem Ball spendeten die Gäste zusätzlich insgesamt zwischen etwa fünf und zwölf Rubel. Diese Gelder verwahrte der Vorstand in einer Armenkasse, in der bereits im November 1782 – nur 14 Monate nach der Klubgründung – über 120 Rubel lagen.325 Mit diesem Geld unterstützte die Klubbe die verarmten Personen, die von den Mitgliedern empfohlen wurden. Im Jahre 1782 verteilte man vor Weihnachten beispielsweise 60 Rubel an neun Frauen (jeweils sechs Rubel) und zwei Männer (jeweils drei Rubel). Die Frauen waren entweder verwitwet und benötigten nach dem Tode ihres Mannes die Unterstützung der Gemeinschaft oder sie hatten Männer geehelicht, die beispielsweise gerade im Ausland studierten.326 Unter den männlichen Spendenempfängern befanden sich ein Künstler und ein Tanzmeister.327 In ähnlicher Weise führte der Klub die Verteilung auch in den folgenden Jahren durch; die Spendensumme erhöhte sich tendenziell sogar.328 Zwar 322 UBT, Einigkeit, S. 19 – 20. 323 Revaler Beobachter, Nr. 178, 20. 09. 1889. Die Einigkeit bezeichnete das Kartengeld als eines der Haupteinkünfte des Klubs. Da dies womöglich auch für die Bürgerliche Klubbe zutraf, ist von einer relativ großen Summe für die Armenkasse auszugehen. Vgl.: UBT, Einigkeit, S. 8. 324 UBT, Societät, S. 28. 325 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 39. 326 Beispielsweise erhielt die Frau von Thomas Hippius eine Unterstützung. Hippius wurde 1762 in Reval geboren, besuchte anschließend das dortige Gymnasium studierte ab 1782 in Jena Theologie. Vgl.: Hugo Richard Paucker: Ehstlands Geistlichkeit in geordneter Zeit- und Reihenfolge, Reval 1849, S. 99. 327 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 44 – 45. 328 Im Jahre 1791 waren es bspw. 91 Rubel, Ebd., S. 231.

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konnte es vorkommen, dass die wirtschaftlichen oder politischen Rahmenbedingungen keine Spenden zuließen, wie es im Jahre 1798 geschah. Dafür verteilte der Vorstand vor Weihnachten 1799 aber sogar 160 Rubel.329 Im 19. Jahrhundert trugen die Mitglieder insgesamt höhere Spendensummen zusammen, weshalb sie im Jahre 1814 beispielsweise fast 360 Rubel an Bedürftige verteilten.330 Allerdings erscheint diese Summe vor allem dadurch so viel höher, weil einerseits mehr Mitglieder der Gesellschaft angehörten und andererseits eine anhaltende Inflation das Geld entwertete.331 Während regelmäßige Spenden eher an respektable Revaler Bürgerinnen gingen, unterstütze die Erholung ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zudem ein Projekt, das die Gründung eines Findelhauses in St. Petersburg vorsah. Dafür trat der Gouverneur Estlands, Andreas von Langell, 1798 im Namen von Jacob Johann von Sievers, dem Leiter der russischen Kinderheime, an die Gesellschaft heran und warb für das wohltätige Projekt. Daraufhin genehmigte die Erholung eine Spende von 50 Rubeln.332 Insgesamt war die Wohltätigkeit der geselligen Klubs in Reval, in denen bestimmte Herren u. a. Karten und Billard spielen konnten, ein wichtiger Legitimationsgrund für deren Bestehen. Dabei versuchten sie nicht wie andere Assoziationen eigene soziale Projekte zu initiieren, sondern begnügten sich mit Spenden für Standespersonen, die sich in finanziellen Schwierigkeiten befanden, oder reichten ihr Geld an entsprechende Projekte weiter. Natürlich sorgten sie mit ihren Statuten zumindest offiziell für ein geregeltes und der gesetzlichen Norm weitgehend entsprechendes Spielangebot. Aber ähnlich wie bei den Lotterien konnte der Zeitvertreib mit Karten oder Billard moralisch nur glaubwürdig gerechtfertigt werden, wenn man gleichzeitig Gutes tat. Die Spenden präsentierten demnach nicht nur die Wohltätigkeit der Geldgeber, sondern gleichzeitig eine Legitimation für den geselligen und vergnüglichen Freiraum.

6.8 Der Fall des Barons Magnus von Tiesenhausen Bereits zeitgenössische Kritiker zweifelten öffentlich daran, dass die Klubs tatsächlich ihre selbst postulierten Zwecke erfüllten. Der Publizist Johann Christoph Petri, der das Revaler Leben aus eigener Erfahrung kannte, glaubte beispielsweise nicht, dass Klubs auf das Familienleben positiven Einfluss nahmen. Zwar schätzte er die Erholung und die Geselligkeit, die Mitglieder bei den Vereinigungen erfuhren; aber zum einen ließen die Männer ihre Frauen mit „kummervollen“ Gedanken allein zu Hause und zum anderen seien Klubs Orte, „wo die Spielsucht die meiste Nahrung“ erhalte. Männer, deren Haushaltung jähr 329 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 81. 330 Ebd., S. 187. 331 Für ausführliche Informationen zur Inflation im Russischen Reich vgl.: Bernd Knabe: Bevölkerung und Wirtschaft Rußlands in der Ära Katharinas II., in: Klaus Zernack (Hrsg): Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 2/2: 1613 – 1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht, Stuttgart 2001, S. 624 – 675, bes. S. 666 – 675. 332 Ebd., S. 45.

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lich 1.000 Rubel kostete, verspielten angeblich an einem einzigen Abend 25.000 Rubel und ruinierten damit die eigene sowie die familiäre Existenz.333 Was sich wie eine überspitzte Darstellung der Spielverluste liest, fußte zumindest in einem nachweisbaren Fall auf Tatsachen, die aus dem ersten Protokollbuch der Bürgerlichen Klubbe sowie einer umfangreichen gerichtlichen Korrespondenz ersichtlich sind. Der Experte der Revaler Freimaurerei, Henning von Wistinghausen, behandelte jüngst den Fall Tiesenhausen einschließlich der umfangreichen juristischen Quellen, sodass diese Episode nur in groben Zügen wiedergegeben werden braucht.334 Zwei Tage vor dem Heiligen Abend des Jahres 1791 musste sich die Kommission der Bürgerlichen Klubbe mit der bis dahin eklatantesten Übertretung des erlaubten Glücksspiels auseinandersetzen, die sich laut der Klubprotokolle wie folgt ereignete: In der Nacht vom 17. zum 18. Dezember befanden sich noch mehrere Herren im Billardzimmer. Dazu zählten der Kameralhofassessor Jonas Blix, der Kaufmann Martin Heinrich Gebauer, der Protokollist Johann Friedrich Oom und der, wie sich später herausstellte, illegal eingelassene Major Jakob von Lambsdorff. Diese Herren standen jedoch nur um den Billardtisch herum und schauten dem Baron Magnus von Tiesenhausen zu, wie er nacheinander gegen den Zollbeamten Justus Nottbeck, den Kapitänleutnant Otto von Essen und den Präsidenten des Gouvernementsmagistrats August von Kotzebue spielte. Vor allem Tiesenhausen und Kotzebue wetten, so das Protokollbuch, um exorbitant hohe Beträge, weshalb der Baron in den Morgenstunden 20.000 bis 30.000 Rubel verloren hatte. Der unterlegene Baron verschwieg seinen bitteren Verlust jedoch nicht und führte gegen den Klub und dessen Mittglieder „kränkende Rede“.335 Die Gerichtsakten verraten, dass zum Zeitpunkt des Protokolleintrags bereits ein wichtiger Justizbeamte von dem nächtlichen Spiel sowie seinem allgemeinen Glücksspielverhalten wusste: der Gouvernementsprokurator Gustav von Silfwerharnisk. Am 19. Dezember legte Tiesenhausen vor Silfwerharnisk und dem Anwalt Johann Jakob Reutlinger ein umfangreiches Geständnis ab, woraufhin die Revalsche Statthalterschaftsregierung von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt wurde. Damit erfuhren innerhalb kürzester Zeit die höchsten juristischen und administrativen Instanzen des Gouvernements offiziell von dem illegalen Glücksspiel. Später adressierten die Beteiligten zudem Schreiben an Generalgouverneur George von Browne und Kaiserin Katarina II.336 Die Details des Vorfalls hatten das Potenzial, sich sowohl auf den Ruf der Bürgerliche Klubbe als angesehene Institution als auch auf die beteiligten Personen nachteilig auszuwirken. Denn Tiesenhausen summierte seine Verluste in einem schriftlichen Geständnis auf 100.000 Rubel innerhalb des letzten dreiviertel Jahres. Dabei unterstellte er den Beteiligten, 333 Petri: Briefe über Reval, S. 86. 334 Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung, S. 476 – 507. 335 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 230; für weitere Informationen zu den genannten Personen s.: Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung, S. 481 – 482. 336 EAA, Rep. 30. 1. 21490.

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ihn zum hohen Spiel gereizt zu haben, was er von ehrbaren Personen an rechtschaffenen Orten nicht erwarten konnte: Ich habe nur in der Societät auf dem Dom und in der Bürgerclubbe in der Stadt für Billard gespielt. Beide Orthe sollten nur gesellschaftliche Spiele verstatten, aber ein Spiel das ein ganzes Vermögen kostet und ganze Tage und Nächte hindurch bis an den Morgen dauert, ist kein Commerce Spiel mehr.337

Er benannte die Namen der Spielgefährten, an die er sich noch erinnern konnte, und zählte dabei insbesondere hochrangige Militärs und Regierungsbeamte auf. Dazu gehörten beispielsweise Oberst von Wächter, Flottleutnant Vsevolodskij, Rittmeister von Frederici, Assessor Blix, Graf von Manteuffel, Kapitänleutnant von Essen, Freiherr von Steinheil und Freiherr von Untern-­Sternberg und der Zollbeamte Nottbeck.338 Über den kürzlich zurückliegenden Billardabend auf der Bürgerlichen Klubbe meinte er, Schuldscheine im Werte von 21.000 Rubel an Herrn Kotzebue, 6.400 Rubel an Herrn Nottbeck und 3.000 Rubel an Herrn von Essen ausgestellt zu haben. Wie sehr die Beteiligten die mögliche Aufnahme von offiziellen Ermittlungen in diesem Fall erregte, demonstriert das Verhalten des Obristen von Wächter eindrücklich. Er erschien am 19. Dezember 1791 in Tiesenhausens Zimmer, wo Silfwerharnisk und Reutlinger den Baron gerade befragten. Wächter überreichte Tiesenhausen Geld und Bankassignaten, um seine Schuld aus einem früheren Spiel auszugleichen. Anschließend verlangte er, aus dem ganzen Verfahren herausgehalten zu werden. Als Silfwerharnisk Wächter darüber informierte, dass er dafür schon zu spät komme, entgegnete der Obrist angeblich zu Tiesenhausen: „[…], wenn Sie meinen Namen nennen, so thue ich der Kayserin einen Fußfall, und sollte das nichts helfen; so reiße ich ihnen das Hertz aus dem Leibe.“339 Wie verhielt sich nun die Bürgerliche Klubbe? Die Kommission, zu der auch Hahn und Nottbeck zählten, musste das Glücksspielvergehen in ihren Klubräumen weiterverfolgen und verhörte Anfang Januar 1792 alle Beteiligten bis auf folgende ferngebliebene Personen: Major Lambsdorff, der sowieso nicht zu den Mitgliedern gehörte, Tiesenhausen, der sich auf seinem Gut Borkholm befand, und Kotzebue, der aus beruflichen Gründen in St. Petersburg weilte und sich vertreten ließ. Es ist erstaunlich, dass die Kommission niemanden zu den hohen Geldeinsätzen befragte. Vielmehr ging es ausschließlich um die Übertretung der regulären Öffnungszeiten, was alle Beteiligten zugaben. Die Herren boten freiwillig Strafzahlungen zwischen zwei und zehn Rubeln an und die Kommission akzeptierte diese. Bei der regulären Vollversammlung Ende Januar informierte die Klubführung die Anwesenden über die Ereignisse. Alle Übeltäter hatten ihre Strafgelder bereits 337 Ebd., aus dem Schreiben von Tiesenhausen an den Gouvernementsprokurator vom 20. 12. 1791. 338 Zu diesen Personen s. Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung, S. 480 – 481. 339 Ebd., aus dem Schreiben vom Gouvernementsprokurator Silfwerharnisk, an die Revalsche Statthalterschafts-­Regierung vom 22. 12. 1791.

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bezahlt, nur Tiesenhausen nicht, der sich bisher gar nicht gegenüber der Klubbe geäußert hatte. Der Baron stellte vor allem deshalb ein Ärgernis dar, weil er sich „zum Nachtheil des Clubs erklärt und diese Gesellschaft auf eine empfindliche Art angegriffen“ habe.340 Darüber hinaus dürfte der Ansehensverlust der Gesellschaft bei derart hohen Geldwetten immens gewesen sein. Tiesenhausen sollte noch einmal die Gelegenheit erhalten, sich persönlich zu erklären. Falls er das nicht machte, drohte ihm die Kommission mit einem Ausschluss aus der Gesellschaft. Doch der Baron kam diesem Schritt mit einem freiwilligen Austritt ohne persönliche Anhörung zuvor. Allerdings deckte die Klubbe noch auf, dass sich Tisenhausen bereits im Jahr vor dem öffentlich gewordenen Vorfall mit zu hohem Billardspiel in den Ruin getrieben hatte. Er habe sich dementsprechend seinen Verlust zurückholen wollen und noch mehr verloren.341 So lenkte man die Schuld auf den Baron, der, getrieben von früheren Verlusten, den geselligen Verein für seine finanziellen Interessen ausgenutzt hatte. Alles in allem zog der exorbitante Verlust Tiesenhausens letztlich keine nachweislichen Konsequenzen für den Klub nach sich.

7. Zwischenfazit Glücksspiele erzeugen eine vom Alltag zu unterscheidende Welt, in der eigene Regeln gelten. Daher boten die unterschiedlichen Glücksspiele in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Alternative zur traditionellen gesellschaftlichen Ordnung. Allerdings bestanden grundsätzliche Unterschiede in der Akzeptanz der verschiedenen Spielformate und deren Teilnehmern. Während die Obrigkeit die Entfaltungsmöglichkeiten der niedrigeren Stände zu beschränken versuchte, ergaben sich besonders für die städtische Elite neue Freiräume, die sich durch eine zunehmende Kommerzialisierung und Institutionalisierung auszeichneten. Dabei verlief diese Entwicklung sowohl mit Blick auf die Spielformate als auch auf die untersuchten borderlands uneinheitlich. In Schwedisch-­Pommern setzte sich, wie vielerorts im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in der Praxis die Überzeugung durch, dass die Vorteile der Genuesischen Lotterie überwogen. Das lag insbesondere am wachsenden Bedürfnis nach Einnahmen, die der schwedische König in Pommern nur sehr eingeschränkt erzeugen konnte. Zwar gab es gegen die Zahlenlotterie vielfältige theoretische Argumente, die in Stralsund öffentlich diskutiert wurden, doch der finanzielle Vorteil der schwedischen Regierung wog letztlich stärker. Immerhin erschloss man sich eine neue Einnahmequelle, deren Ertrag in gemeinnützige Zwecke fließen sollte. Mit der Einrichtung einer kommerziellen Zahlenlotterie in Schwedisch-­Pommern duldete der schwedische König gegen den Widerstand der Landstände ein Glücksspiel, an dem alle unabhängig von Stand, Geschlecht oder Herkunft teil-

340 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 233. 341 Ebd., S. 237 – 238.

Zwischenfazit

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nehmen durften – man benötigte zum Mitmachen lediglich etwas Geld. Für viele Personen eröffnete sich so ein neuer Freiraum, wo sie selbstbestimmt agieren konnten. Im Russischen Reich verbot Katharina II. die Etablierung der Zahlenlotterie und untersagte darüber hinaus ab 1771 sämtliche Lotterieformate. Damit wurde insbesondere der ärmere Teil der Bevölkerung von der verführerischen Träumerei hoher Gewinne und irrationaler Hoffnungen geschützt. Mit demselben Argument schaffte die Mehrheit der deutschen Landesfürsten die Zahlenlotterie um 1800 wieder ab und selbst der schwedische König verlängerte das entsprechende Patent für Schwedisch-­Pommern nicht. Gleichzeitig verschwand damit für viele Spieler ein obrigkeitlich geduldeter Freiraum. Das ebenfalls populäre Format der Klassenlotterie schaffte hauptsächlich für wohlhabende Personen Freiräume, da der Zugang zum Spiel deutlich mehr Geld kostete. Dennoch versprachen sich die Organisatoren hohe Gewinne, mit denen sie wohltätige Projekte finanzieren wollten. Der Stadtrat von Reval unterstützte beispielsweise die Einrichtung eines Zuchthauses oder den Bau einer neuen Orgel. Allerdings erforderten erfolgreiche Klassenlotterien erhebliche Anstrengungen der Organisatoren oder Innovationen beim Spielformat. Die Zuchthauslotterien erwirtschafteten vorrangig deshalb Profite, weil die Direktion über ein Netzwerk aus zahlungskräftigen Käufern verfügte; die Kirchenlotterien schlugen nicht fehl, da die Verantwortlichen die Lospreise senkten und Freilose einführten. Die Stralsunder Ratsherren verhinderten dagegen innovative Ideen im Vertrieb oder der Organisation, sodass der Kreis der Spieler eng begrenzt blieb. Zudem unterschätzte die Freimaurerloge Zur Eintracht, die mit den Einnahmen ein Waisenhaus eröffnen wollte, das unternehmerische Risiko einer Klassenlotterie und musste letztlich sämtliche Aktivitäten einstellen. Diese Entwicklungen zeigen, dass Lotterien nicht automatisch Geld generierten. Vielmehr hing der langfristige Erfolg von einer ausreichenden Nachfrage ab, die über einen elitären Kreis hinausreichte, was die Veranstalter mit attraktiven Formaten und professionellen Strukturen erreichen konnten. Während sich Klassen- und Zahlenlotterien von der Obrigkeit verhältnismäßig leicht kontrollieren ließen, gestaltete sich die Steuerung von Karten- und Würfelspielen in Schänken und Wirtshäusern erheblich schwieriger. Dennoch versuchten die Gesetzgeber, verstärkt Zugriff auf diese Freiräume zu gewinnen, zumal dort vermehrt Alkohol konsumiert und Gewalt ausgeübt wurde. Daher erließ der Stralsunder Stadtrat mit der Unterstützung der schwedischen Regierung viele Verordnungen, mit denen er Spielern und Wirten empfindliche Strafen androhte und Denunzianten belohnte. Doch es gelang der Obrigkeit nur bedingt, Karten- und Würfelspiele an diesen traditionellen Orten der Geselligkeit zu verhindern. Die Verordnungen schränkten jedoch den Freiraum der weniger wohlhabenden Stände ein. Mit entsprechendem Unverständnis wehrte sich der Stralsunder Lotterieschreiber Hinrich Hill gegen die Umsetzung der erlassenen Glücksspielverbote. Er fand nichts Unrechtes daran, sich nach vollbrachter Arbeit mit Bekannten zu treffen und sich die Zeit mit Karten oder Würfeln zu vertreiben. Dabei gefährdete er weder die Ordnung noch seine Existenz, wie es die Gesetze unterstellten. Trotzdem kamen diese zur Anwendung, selbst wenn es

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sich bei den Delinquenten um angesehene Personen aus der Stadt handelte, wovon das Urteil gegen den Altermann Holz zeugte. Da die städtischen Eliten ebenso wie die niedrigeren Stände Karten spielten, organisierten sie ihre Zusammenkünfte anders und entzogen sich damit den Glücksspielbestimmungen. Neben dem privaten Spiel im eigenen Haus stellte die Mitgliedschaft in einem Klub eine beliebte Möglichkeit dar. Die Obrigkeit billigte die Entwicklung des geselligen Klublebens, sofern die Vorstände nachweisen konnten, keine politisch subversiven Treffen zu organisieren. Da sich beispielsweise die Bürgerliche Klubbe in Erholung umbenannte und zusicherte, lediglich als Ort der Geselligkeit und Rekreation zu wirken, musste sie keine obrigkeitlichen Restriktionen fürchten. Darüber hinaus sammelte sie nebenbei Geld für die Wohlfahrt, was entweder öffentliche Einrichtungen entlastete oder den Bedürftigen direkt zugutekam. Klubmitglieder konnten nicht nur selbstbestimmt entscheiden, wen sie in ihren Kreis aufnahmen, sondern sich auch eigene Verhaltensnormen auferlegen und überwachen. Die Statuten verboten zwar Hasardspiele, eröffneten aber dennoch genügend Freiräume zum ungehinderten Spielen. Diese Freiheiten nutzten einige Mitglieder mit teilweise gravierenden Folgen, wie das Beispiel des Barons von Tiesenhausen veranschaulichte.

IV. Das Theater Das Wort „Theater“ (lat. theatrum) trug in der Frühen Neuzeit eine gesellschaftliche Bedeutung, die weit über das heutige Maß hinausging. Neben den jetzt noch geläufigen Formen des Theaters als Gebäude, Bühne oder Institution, existierte zudem ein anthropologisches Modell: Die Welt sei eine Bühne, auf der jeder Mensch seine Rolle möglichst gut zu spielen habe. Dieses omnipräsente Rollenspiel konnte sowohl theologisch als auch weltlich erklärt werden. Aus theologischer Perspektive leitete Gott das Spiel, während aus weltlicher Sicht das Schicksal oder der Zufall die Rolle des Regisseurs einnahm.1 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfuhr der Begriff „Theater“ eine Einschränkung und entwickelte sich sukzessive zum Überbegriff für Aufführungen von Dramen, Opern und Balletten. Darüber hinaus bezeichnete das Theater allmählich ebenfalls die Aufführungsorte der genannten Darstellungsformen sowie die Institution des Kunst-­ Theaters, wie wir es heute kennen.2 Charakteristisch für das frühneuzeitliche Theater im engeren Sinn waren seine vielfältigen Erscheinungsformen, die den Darstellern und dem Publikum die Möglichkeit boten, moralische, soziale, politische oder religiöse Ideen zu verbreiten, zu festigen oder zu diskutieren. Damit verwundert es nicht, dass man Vorstellungen bei religiösen, höfischen und städtischen Gelegenheiten inszenierte. Die vorliegende Arbeit untersucht vor allem den Besuch der theatralischen Vorstellungen in Stralsund und Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und wird sich daher im Folgenden auf die für diesen Zeitraum relevante Forschungsliteratur beschränken.3



1 Vgl. Dirk Niefanger: Theater, in: EdNz, Bd. 11, Darmstadt 2011, Sp. 418 – 441, hier Sp. 418 – 422; Erika Fischer-­Lichte: Kurze Geschichte des deutschen Theaters, Tübingen/Basel, 1994, S. 40 – 59. Schon Norbert Elias argumentierte, dass dem höfischen Adel des 17. Jahrhunderts andere Fähigkeiten abverlangt wurden als noch dem Kriegsadel des Mittelalters. Dabei war das Spielen einer Rolle, die normierten Verhaltensmustern folgte, überaus wichtig: „Überlegung, Berechnung auf längere Sicht, Selbstbeherrschung, genaueste Regelung der eigenen Affekte, Kenntnis der Menschen und des gesamten Terrains werden zu unerlässlichen Voraussetzungen jedes sozialen Erfolgs.“ Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a. M. 20. Aufl. 1997, S. 381. 2 Erika Fischer-­Lichte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs, Tübingen 2009, S. 7. 3 Anthony Meech: Classical Theatre and the Formation of a Civil Society, 1720 – 1832, in: Simon Williams und Maik Hamburger (Hrsg.): A History of German Theatre, Cambridge 2008, S. 65 – 91. Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 1996, S. 701 – 702. Sybille Maurer-­Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982.

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Das Theater

1. Das Theater im 18. Jahrhundert Zunächst einmal gab es nicht das deutsche Theater, was besonders an der geopolitischen Situation lag. Anders als in Frankreich oder England fehlte im Heiligen Römischen Reich ein eindeutiges Zentrum, sodass viele Höfe ein eigenes Theater unterhielten. Dort dienten sie dem Vergnügen, der Geselligkeit und vor allem der Repräsentation. Das barocke Hoftheater, dessen Funktionen bis weit in das 18. Jahrhundert hineinreichten, bildete einen bedeutenden Baustein der Repräsentationskultur,4 weshalb Fürsten weder Kosten noch Mühen scheuten, dieses nach ihren machtpolitischen Ansprüchen zu unterhalten.5 Neben einem prachtvollen Gebäude – zumeist ein Opernhaus 6 – gehörten italienische Sänger und französische Dramatiker zu einer gelungenen Vorstellung, mit der der Fürst ein (west-)europäisches Spitzenniveau anstrebte. Zudem bestand die Möglichkeit, Theaterstücke in urbanen Räumen zu sehen. Den städtischen Theatertypus, der parallel zu den Hoftheatern existierte, stützten Wandergesellschaften mit ihren Vorstellungen in Scheunen, Schänken, Bretterbuden, Ball-, Gildenund Rathäusern oder auf Marktplätzen.7 Theatergebäude, die speziell für Aufführungen und andere festliche Aktivitäten fungierten, entstanden flächendeckend erst in der zweiten Hälfte des 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert. Dennoch musste bei festen Bühnen nicht automatisch ein Ensemble aus professionellen Künstlern dauerhaft angestellt sein, sodass von Stadt zu Stadt ziehende Schauspielgesellschaften weiterhin agierten. Wandergesellschaften führten ein äußerst vielfältiges Repertoire auf, das mehrheitlich aus dramatischen Werken der zeitgenössischen Weltliteratur bestand. Zumeist waren sie aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt und zeichneten sich oft durch deutliche Eingriffe in die Handlung und in die Charaktere der dargestellten Rollen aus, was die Originale teilweise bis zur Unkenntlichkeit veränderte. Zusätzlich räumte man komi-



4 Allgemein zur barocken Repräsentationskultur vgl. Peter Burke: The Fabrication of Louis XIV, New Haven 1992. 5 Eine immer noch einschlägige Untersuchung zur Kulturgeschichte der deutschen Hoftheater im 18. und 19. Jahrhundert legte Ute Daniel vor. Darin finden sich gute Beschreibungen und Einordnungen der Hoftheater in Mannheim und Karlsruhe. Vgl. Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, hier bes., S. 9 – 112. 6 Allgemein nahm das reine Sprechtheater noch eine untergeordnete Position ein. An den Höfen wurden oft Opern gegeben und auch in den Städten wurden die Stücke bevorzugt gespielt und beworben, bei denen die Musik eine große Rolle spielte. Vgl. North: Genuss und Glück des Lebens, S. 171 – 194; Jerzy Marian Michalak: Theaterzettel und das Danziger Musikleben in den Jahren 1779 bis 1801, in: Ders. (Hrsg.): Aufsätze zur Musik- und Theatergeschichte Danzigs vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2012, S. 11 – 45. 7 Für einen Überblick über die Wandergesellschaften vgl. Fischer-­Lichte: Kurze Geschichte, S. 60 – 64.

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schen Figuren wie dem Pickelhering, Harlekin oder Hanswurst bei den Aufführungen eine exponierte Stellung ein.8 Erst mit den Theaterreformern Johann Christian Gottsched, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller stieg die Wahrscheinlichkeit, deutschsprachige Theaterstücke auf die Bühne zu bringen, die es in den Augen des Adels und der bürgerlichen Elite verdient hatten, einem anspruchsvollen Publikum präsentiert zu werden. Gottsched hielt sich dabei an das französische Drama, das auf einer rational begründbaren Ordnung beruhte. Lessing, der sich u. a. an englischen Autoren orientierte, verbannte aristokratische Helden von der Bühne und entwarf das Genre der bürgerlichen Tragödie. Schiller sprach sich dafür aus, das Theater als moralische Anstalt, also als Schule der Sitten zu nutzen.9 Die Aufklärer unterstrichen allgemein den Bildungs- und Erziehungszweck von Theaterinszenierungen. Zwar gab es weiterhin in religiösen Kreisen Aufführungen, die theologische Inhalte vermittelten, oder man lernte bestimmte dramatische Texte zur Einübung der Rhetorik. Idealtypisch diente das Theater jedoch der höfischen Repräsentation und der bürgerlichen Erziehung. Daher ist es möglich, anknüpfend an aufgeklärte Ideale, das Theater als Sittenschule darzustellen.10 Immerhin handelte es sich beim Theater um eine zeitgenössisch sehr wichtige Vermittlungsinstanz, da es das illusionsmächtigste Medium des 18. Jahrhunderts darstellte, dessen Wirkung auf das Publikum enorm sein konnte.11 Doch das Theater ausschließlich als Sittenschule zu verstehen, greift zu kurz. Nicht selten kündigten Prinzipale bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Nummernprogramme an, bei denen Haupt- und Staatsaktion oftmals nur wenig miteinander in Verbindung standen. Es blieb außerdem lange unüblich, den Zuschauerraum abzudunkeln und im Parterre eine feste Bestuhlung einzurichten; Theatergäste konversierten nebenbei oder speisten zu Abend. Somit erscheint es berechtigt, das Theater als einen Ort der Geselligkeit zu präsentieren, bei dem es um Kurzweil und Zerstreuung, Unterhaltung und Amüsement ging.

8 Ebd., S. 69 – 80. 9 Zu den Theaterreformen vgl. bspw. Horst Steinmetz: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick, Stuttgart 1987; Meech: Classical Theatre, S. 67 – 74. Für Schillers Ansicht über das Theater vgl. den 1784 von ihm gehaltenen Vortrag „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“: Friedrich Schiller. Sämtliche Werke, Bd. 5, Wolfgang Riedel (Hrsg.): Erzählungen, theoretische Schriften, München 9. Aufl. 1993, S. 818 – 831. Bei der überarbeiteten Veröffentlichung dieses Vortrags im Jahre 1802 wählte er den Titel: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“. 10 Vgl. bspw.: Georg-­Michael Schulz: Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts, in: Erika Fischer–Lichte und Jörg Schönert (Hrsg.): Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 483 – 502; Roland Dreßler: Von der Schaubühne zur Sittenschule. Das Theaterpublikum vor der vierten Wand, Berlin 1993. 11 Frank Möller: Das Theater als Vermittlungsinstanz bürgerlicher Werte um 1800, in: Hans-­ Werner Hahn und Dieter Hein (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf – Vermittlung – Rezeption, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 193 – 210.

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Es diente eher in der Theorie als vernünftiger Ort der Sittenlehre, in der Realität blieb es vielfach ein primär geselliger Raum eines heterogenen Publikums.12 Das Publikum hatte bei der Auswahl der gespielten Stücke indirekt eine starke Position. In städtischen Theatern, bei denen kein Fürst oder andere potente Geldgeber die Finanzierung des Schauspielbetriebes garantierten, musste das inszeniert werden, was das Publikum begehrte. Denn nur auf der Grundlage der zu entrichtenden Eintrittsgelder konnten die Schauspielgesellschaften ökonomisch funktionieren. Damit entwickelten sich Komödien, Tragödien und Opern zu Waren, die nur einen Käufer fanden, wenn sie dessen Bedürfnissen entsprachen.13 Der allgemeine Geschmack war zumeist trivialer, als es aufgeklärte Besucher antizipierten. Da sich jedoch eine öffentliche Meinung einer gelehrten Elite herausbildete, lassen sich viele Rezensionen und Kritiken in den zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften finden, die das Verhalten einiger Zuschauer anprangern. Der heutigen Forschung dienen diese Zeugnisse als reichhaltige, wenngleich gefärbte Quelle, weil sie den Inhalt und die Inszenierung der Stücke, die Leistungen der Schauspielerinnen und Schauspieler sowie das Verhalten des Publikums während der Aufführung aus der Perspektive eines Liebhabers oder Kenners beschreiben.14 Im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts erhielten Wandergesellschaften aufgrund von Schauspielerinnen, Schauspielern und Prinzipalen wie Friederike Caroline Neuber, Franz Schuch und Konrad Ernst Ackermann eine stetig höhere gesellschaftliche Anerkennung. Zuvor konnten sie als fahrendes Volk nur wenig Sozialprestige für sich beanspruchen. Mit der Aufwertung des sozialen Status der Schauspieler/innen ging ihre von den Aufklärern vorangetriebene Professionalisierung einher. Damit verbanden sie beispielsweise Forderungen nach einer verstärkten Literarisierung des Theaters, der Disziplinierung der Schauspieler/innen und der Gründung fester Nationaltheater.15 12 Erika Fischer-­Lichte: Zur Einleitung, Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts, in: Dies./ Schönert (Hrsg.): Inszenierung und Wahrnehmung, Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache, Göttingen 1999, S. 11 – 20. 13 Vgl. North: Genuss und Glück des Lebens; Brewer, „The Most Polite Age and the Most Vicious“. Attitudes towards culture as a commodity, 1660 – 1800, in: Ders. und Ann Bermingham (Hrsg.): Consumption of Culture 1600 – 1800, London/New York 1995, S. 341 – 361. 14 Dazu s. Kap. IV.6; außerdem: Hermann Korte: „Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten“. Die Akteure von der Bühne in Texten aus Theaterzeitschriften und Kulturjournalen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Ders., Hans-­Joachim Jakob und Bastian Dewenter (Hrsg.): „Das böse Tier Theaterpublikum“ Zuschauerinnen und Zuschauer im Theater- und Literaturjournalen des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2014, S. 9 – 49; Peter Heßelmann: Gereinigtes Theater? Dramaturgie und Schaubühne im Spiegel deutschsprachiger Theaterperiodika des 18. Jahrhunderts (1750 – 1800), Frankfurt a. M. 2002; Roland Krebs: Die frühe Theaterkritik zwischen Bestandsaufnahme und Bühnenpraxis und Normierungsprogramm, in: Fischer-­ Lichte/Schönert (Hrsg.): Inszenierung und Wahrnehmung, S. 463 – 482. 15 Für diese Entwicklung vor allem aus Perspektive von Schauspielern und Prinzipalen s.: Hugo Fetting: Conrad Ekhof. Ein Schauspieler des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1954. Auf

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Intellektuelle forderten die Gründung von Nationaltheatern ab den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, da dort die oben genannten Reformideen umgesetzt werden sollten. Mit dem Hamburger Nationaltheater kam ein solches Projekt zu seiner ersten Umsetzung, das allerdings nach nur zwei Jahren, nicht zuletzt an finanziellen Schwierigkeiten, scheiterte. Erst als sich die aufgeklärten Fürsten aus finanziellen Gründen der Idee des Nationaltheaters annahmen, eröffneten deutschsprachige Hoftheater, denen aus politischen Erwägungen der Name Nationaltheater gegeben wurde. Wien (1776), Mannheim (1777), Berlin (1786) und München (1789) sind Beispiele für diese Entwicklung.16 Die Zuschauer im Theater, ob im National-, Hof- oder Stadttheater, ordneten sich räumlich entsprechend ihrer Hierarchie an. Üblicherweise bestand ein Zuschauerraum aus einem (ansteigenden) Parterre, das erhöhte Logen halbkreisförmig umfassten. Über der letzten Logenreihe befand sich eine offene Galerie. Während man in Schlosstheatern Plätze idealtypisch nach höfischer Etikette und Status zuteilte, entsprach die Platzverteilung im Stadttheater der Zahlungsfähigkeit des Besuchers. Doch selbst bei Letzterem lag eine soziale Differenzierung des Publikums zugrunde. In der Loge befand sich das adlige und im Parterre das bürgerliche Publikum, während Dienstboten und andere wenig angesehene Personen auf der Galerie standen. An diese Differenzierung anknüpfend, entwickelten sich Stereotype für bestimmte Zuschauergruppen. Im Parterre fanden sich Gelehrte, Studenten, Literaten und Kritiker, die mit Beifall oder Pfiffen dem Stück ein ästhetisches Zeugnis ausstellten. In der Loge saßen die vornehmen und vergnügungssuchenden Adligen, die meist sehr zurückhaltend das Spiel zur Kenntnis nahmen. Lautstark und für die Besucher des Parterres pöbelhaft fieberte das Publikum der Galerie mit, dessen Geschmack als derb galt.17 Vor diesem Hintergrund widmet sich das folgende Kapitel den Theatervorstellungen in Stralsund und Reval, um die stetige Kommerzialisierung des kulturellen Angebotes darzulegen. Obwohl es dort bereits vor dem Untersuchungszeitraum zahlreiche Schauspielvorstellungen gegeben hatte, stieg das Ansehen und damit das Angebot dramatischer Aufführungen kontinuierlich (Kap. 2). Als Belege für die weitreichende Popularität des Theaters dient einerseits die Eröffnung eines Theatergebäudes in Stralsund im Jahre 1766 (Kap. 3). Andererseits deutet die 1784 erfolgreiche Gründung einer öffentlich auftretenden Liebhabergesellschaft in Reval auf die Breitenwirkung des Schauspiels hin (Kap. 4).

Schauspielerinnen wirkte sich die voranschreitende Professionalisierung zum Ende des 18. Jahrhunderts so aus, dass sie einerseits als Künstlerinnen verehrt und andererseits zu Lustobjekten degradiert wurden. Dazu ausführlich: Barbara Becker-­Contarino: Von der Prinzipalin zur Künstlerin und Mätresse. Die Schauspielerin im 18. Jahrhundert, in: Renate Möhrmann (Hrsg.): Die Schauspielerin – Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a. M./Leipzig 2000, S. 100 – 126. 16 Fischer-­Lichte: Kurze Geschichte, S. 107 – 115. 17 Dazu s. Kap. IV.5; außerdem sehr instruktiv: Korte: „Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten“; Isabel Matthes: Das öffentliche Auge. Theaterauditorien als Medium der Vergesellschaftung im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Fischer-­Lichte/Schönert (Hrsg.): Inszenierung und Wahrnehmung, S. 419 – 432; Maurer-­Schmoock: Deutsches Theater, S. 75 – 86.

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Das Theater

Schauspielgesellschaften unterlagen dem obrigkeitlichen Wohlwollen. Nur mit einer Aufführungserlaubnis des Stadtrates, vor der zumeist eine Supplik des Prinzipals einer Truppe stand, konnten sie ihr Repertoire präsentieren. Zusätzlich beschränkte die Zensur das Angebot an Vorstellungen. Dennoch blieben den Prinzipalen weitgehende Freiheiten das Repertoire ihrer Schauspielgesellschaft der Nachfrage des Publikums anzupassen. Daher lässt sich der Zuschauergeschmack an den gespielten Stücken ableiten (Kap. 5). Das Theaterpublikum stellte allerdings keine homogene Masse dar. Vielmehr gliederten sich die Spielorte in unterschiedliche (Frei-)Räume, denen insbesondere aufgeklärte Publizisten jeweils stereotype Eigenschaften zusprachen (Kap. 6). Diese Kenner oder Liebhaber prägten das öffentliche Urteil über die Qualität der Vorstellungen (Kap. 7). Trotzdem sollte man den Einfluss der relativ kleinen Gruppe von selbsternannten Kennern nicht überschätzen, wie die Finanzierungspraxis der Schaubühnen veranschaulicht. Ein kompliziertes Geflecht aus Aufgebot und Nachfrage, privatem Unternehmungsgeist, gemeinschaftlicher Unterstützung und nicht zuletzt einer gewissen Portion Glück entschied über Erfolg oder Misserfolg des Theaters in Stralsund und Reval (Kap. 8).

2. Aufführungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts 2.1 Schauspiele in Stralsund und Reval Schauspiele gab es in Stralsund schon lange bevor ein festes Theatergebäude eingerichtet wurde, obwohl die Quellenlage dazu nur wenige gesicherte Aussagen zulässt.18 Es ist aber anzunehmen, dass besonders auf Jahrmärkten Schausteller auf improvisierten Bühnen die Stadtbevölkerung belustigten.19 Darüber hinaus boten die Schüler des Stralsunder Gymnasiums bereits im 17. Jahrhundert gut besuchte Vorstellungen. Als sie beispielsweise 1692 in der Brauerkompanie die Komödie „Adam- und Eva-­Geschichte“ aufführten, „kamen so viele Zuschauer, daß verschiedene Bänke brachen und sich einige Unglücksfälle ereigneten.“20 Erst für die Zeit nach dem Frieden von Stockholm (1720), der die Auseinandersetzung zwischen Preußen und Schweden im Großen Nordischen Krieg beendete, lassen die Überlieferungen genauere Aussagen über das Schauspiel zu. Im Jahre 1723 bewarben sich die Hildeburghausenschen Komödianten beim Stralsunder Stadtrat um ein Privileg für die Aufführung von Schauspielen. Der Rat verwehrte der Schauspielgesellschaft jedoch die

18 Zu früheren Aufführungen in Stralsund vgl.: Theodor Pyl: Die Entwicklung der dramatischen Kunst und des Theaters in Greifswald, in: Pommersche Jahrbücher 6 (1905), S. 15 – 48 bes. S. 17 – 26. 19 Grundlegend zum Vergnügen auf Marktplätzen: Michaela Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 94 – 137. 20 Helmut Heyden: Die Kirchen Stralsunds und ihre Geschichte, Berlin 1961, S. 249.

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Erlaubnis, weil er fürchtete, dass die Bürger der Stadt nur unnötig Zeit und Geld vergeuden sowie die Jugend durch die obszönen und derben Aufführungen verdorben würden.21 Die Vorbehalte des Stadtrates waren für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Erst die späteren Theaterreformen von Johann Christian Gottsched in Verbindung mit der Schauspielerin Friederike Caroline Neuber versuchten, das Theater von etwaigen Derbheiten und Obszönitäten zu reinigen.22 Der Prinzipal der Hildeburghausenschen Gesellschaft gab sich allerdings nicht mit dieser Ablehnung zufrieden und bat, ohne den Stadtrat davon in Kenntnis zu setzen, bei der schwedischen Regierung um eine Konzession. Diese bewilligte die Gastauftritte des Prinzipals, wobei „einzig Comoedien mit geziemender Ehrbarkeit zu praesentiren“23 sein sollten. Als Spielort diente das Haus der Stralsunder Brauerkompagnie. Der brüskierte Stadtrat wandte sich daraufhin an die schwedische Regierung und forderte die alleinige Entscheidungsgewalt über die Konzessionierung von Schauspielgesellschaften. Als die Regierung dies nicht zusicherte, zogen die Stadtvertreter vor das Wismarer Tribunal, dem höchsten Gericht Schwedisch-­Pommerns. Der Ausgang dieses Verfahrens muss wegen des Mangels an Quellen offenbleiben. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ergab sich aber ein Kompromiss zwischen den streitenden Parteien, der die Zustimmung sowohl des Stadtrates als auch der Regierung vorsah.24 Bis 1766 gastierten einige Schauspieltruppen in Stralsund, von denen die Schönemannsche Gesellschaft besondere Erwähnung verdient. Der Leiter der Schauspieltruppe, Johann Friedrich Schönemann, gehörte vor der Gründung seiner eigenen Gesellschaft zur Neuberschen Truppe und stand in Korrespondenz mit dem Theaterreformer Gottsched. Als Schönemann 175025 in Stralsund gastierte, gehörte u. a. der vielgerühmte Schauspieler Conrad Ekhof der Gesellschaft an.26 Daher verwundert es nicht, wenn selbst der konservative Stralsunder Pfarrer Johann Christian Müller rückblickend in seinem Tagebuch vermerkte: „Die Schönemannsche Bande ist als eine berühmte endlich auch in Stralsund ohngefehr 1752 oder 53 bekannt geworden.“27 Während seiner Studienzeit in Leipzig hatte 21 Vgl.: Ferdinand Struck: Die ältesten Zeiten des Theaters zu Stralsund (1697 – 1834), Stralsund 1895, S. 13 – 28. 22 Steinmetz: Das deutsche Drama; Meech: Classical Theatre, S. 67 – 74. 23 Zit. aus: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 17. 24 Die Wiedergabe der Ereignisse beruht auf Strucks Stralsunder Theatergeschichte. Leider ließen sich die Angaben mithilfe der Archivbestände nicht verifizieren. Aber insgesamt erweist sich seine Abhandlung durchweg als zuverlässiger Wegweiser, weshalb kein Grund besteht, die grundsätzliche Korrektheit der Angaben anzuzweifeln. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 16 – 18. 25 Die Jahresangabe geht zurück auf: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 25. Eine zeitgenössische Quelle spricht von 1749. Möglicherweise befand sich Schönemann im Winter 1749/50 in Stralsund. Vgl. Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, in: Litteratur- und Theater-­Zeitung, 15 (1782), S. 225 – 233, hier S. 225. 26 Zu der Verbindung von Ekhof und Schönemann vgl.: Fetting: Conrad Eckhof, S. 34 – 36. 27 Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle & Neben-­Umstände. Erster Teil Kindheit und Studienjahre (1720 – 1746), hrsg. von Karin Löffler und Nadine Sobirai, Leipzig 2007,

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Das Theater

Müller den Einfluss Gottscheds auf das Theaterspiel direkt zur Kenntnis genommen, indem er selbst das dortige Komödienhaus bei Vorstellungen der Neuberin besuchte hatte. Mit der Anwesenheit der Schönemannschen Truppe wirkten sich die Leipziger Reformansätze in der Mitte des 18. Jahrhunderts wohl auch in Stralsund positiv auf die Akzeptanz des Schauspiels aus, weshalb es sich allmählich zu einer beliebten und weitgehend akzeptierten öffentlichen Veranstaltung entwickelte. Die Quellenlage zu den Schauspielen in Reval, die vor dem Ausbruch des Großen Nordischen Kriegs aufgeführt wurden, präsentiert sich deutlich besser als in Stralsund. Den detailliertesten Überblick für diese Zeit bietet noch immer die mehr als 100 Jahre alte Abhandlung von Elisabet Rosen.28 Es genügt daher hier, die wichtigsten Ereignisse stark gerafft darzustellen. Die erste überlieferte Supplik an den Revaler Stadtrat verfasste der Komödiant und Puppenspieler Joacob Wigandt im Januar 1630. Kurz darauf erhielt er die Erlaubnis, drei Tage im Hause der St. Knudsgilde aufzutreten, wobei er bezüglich der genauen Konditionen mit der Gilde direkt verhandeln musste.29 Diese Vorgehensweise bestand in ähnlicher Form noch lange, da ein festes Ensemble erst am Ende des 18. Jahrhunderts kurzfristig gegründet wurde und ein festes Theatergebäude nicht vor 1809 als Schauspielort diente (s. Kap. IV.8.2).30 Die erfolgreichsten Wanderdarsteller im Reval des 17. Jahrhunderts waren die „Hochteutschen Commedianten“. Sie hatten vom Stockholmer Statthalter das Privileg erhalten, im ganzen Schwedischen Reich zu spielen. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht nur derbe Possen mit einem Hanswurst oder Pickelhering aufführten, sondern auch hochwertige Komödien und Tragödien zeigten. Daran fanden scheinbar sowohl das Publikum als auch der Stadtrat Gefallen, da sie mehrere Male in Reval gastierten.31 Doch die Aufführung von Schauspielen sorgte auch für Streitigkeiten, wie die Auseinandersetzung zwischen dem Tanzmeister Heinrich Moos und dem Prediger der Domkirche Julius Heinrich Oldecop aus dem Jahre 1665 belegt. Moos, der mit seinen aus gutem Hause stammenden Tanzschülern beispielsweise Johann Rists „Das Friedenswünschende Teutschland“ aufführte, verklagte Oldecop wegen dessen wiederholter Schmähung von der Kanzel. Der Theologe bezeichnete den Tanzmeister als einen „Komödianten, Pickelhering, Landläufer [und] Verführer der adligen Jugend, der nichts redliches gelernt“ habe

S. 245. 28 Elisabet Rosen: Rückblicke auf die Pflege der Schauspielkunst in Reval, Reval 1910. 29 Ebd. S. 14 – 15. 30 Rosen berichtet von einem „bescheidenen“ nicht lange bestehenden Theatergebäude, das Ende des 17. Jahrhunderts existierte. Vgl. Ebd. S. 57. 31 Ebd. S. 54 – 56; für Näheres zu den Suppliken s.: Laurence Kitching: Wandernde Spieler im Baltikum im 17. Jahrhundert und ihre Suppliken im Revaler Stadtarchiv, in: Ders. (Hrsg.): Das deutschsprachige Theater im baltischen Raum, 1630 – 1918. The German-­Language Theatre in the Baltic, 1630 – 1918, Frankfurt a. M. 1997, S. 45 – 70.

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und darüber hinaus ein „Leibeigener des Teufels“ sei.32 Eine Generation später predigte der Pastor Jacob Helwig von der Kanzel der Domkirche gegen die theatralischen Übungen in Schulen, die nicht erbaulich seien und die Schüler ihrer edlen Zeit liederlich beraubten.33 Die exemplarisch genannten Vorfälle verdeutlichen zum einen die Sorgen um den moralisch fragwürdigen Einfluss des Schauspiels auf die Jugend. Zum anderen demonstrieren die Auseinandersetzungen, wie um die Deutungshoheit bei der (Frei-)Zeitgestaltung der Heranwachsenden gestritten wurde. Ungeachtet der von Schauspielen angeblich ausgehenden Gefahr besuchten Wandergesellschaften Reval regelmäßig bis zum Großen Nordischen Krieg. Während des Kriegs sowie in den Jahren danach lassen sich keine Vorstellungen nachweisen, bis sich vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein deutlicher Aufschwung bemerkbar machte. Dieser zeichnete sich jedoch nicht nur durch die regelmäßige Präsenz von wandernden Schauspieltruppen aus, sondern auch durch die Gründung eines Liebhabertheaters im Jahre 1784.34

2.2 Liebhabergesellschaften in Stralsund Neben dem professionellen öffentlichen Theaterspiel entfalteten Liebhabergesellschaften unter Adligen und Offizieren sowie wohlhabenden und gelehrten Bürgern eine große Anziehungskraft. Eine Liebhabergesellschaft bestand laut der Oekonomischen Encyklopädie aus einer „Anzahl von Personen, die zu ihrem Vergnügen oder um sich zu bilden, und zugleich ihre Freunde zu unterhalten, Schauspiele aufführen, ohne Bezahlung zu nehmen.“35 Eine solche Gesellschaft förderte Christian Ehrenfried Charisius von Olthoff in Stralsund.36 Olthoff bekleidete, nachdem er in den Militärdienst eingetreten war, über viele Jahre verschiedene Ämter bei den schwedischen Zentralbehörden. 1733 erhielt er die Position eines Kammerherrn und stieg 1743 zum Regierungsrat auf, bevor man von Olthoff 1745 zum Postdirektor in Schwedisch-­Pommern berief. Er ließ sich darauf in seiner Geburtsstadt Stralsund nieder. Während seiner Zeit in Schweden hatte er sich aktiv für das Theaterwesen eingesetzt und zusammen mit Anders Johan von Höpken, einem 32 Rosen: Rückblicke, S. 30. 33 Ebd. S. 53 – 54; Diese Schauspieltruppe lässt sich ebenfalls in Dorpat und Mitau nachweisen. Wahrscheinlich gastierten sie zudem in Riga, Königsberg und Danzig. Vgl. Laurence P. A. Kitching: Auf den Spuren deutscher Wandertruppen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Tartuer Ratsprotokolle und ein Theaterzettel der Hochteutschen Comoedianten, in: Ders. (Hrsg.): Das deutschsprachige Theater, S. 71 – 88. 34 Zu den Wandergesellschaften Revals im 18. Jahrhundert vgl. Rosen: Rückblicke, S. 60 – 86. 35 ‚Liebhabergesellschaft‘, in: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, Bd. 78, Berlin 1800, S. 547 – 548, hier S. 547. 36 Christian Ehrenfried Charisius von Olthoff (1691 – 1751) wird oft mit Adolf Friedrich von Olthof(f ) (1718 – 1793) verwechselt. Letzterer war ein schwedisch-­pommerscher Regierungsrat und ein einflussreicher Kunstmäzen in Stralsund. Weiterhin ist er dafür bekannt, dass er 1757 gemeinsam mit dem Stralsunder Kaufmann und Bankier Joachim Ulrich Giese (1720 – 1780) die Stralsunder Münze pachtete.

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Das Theater

der Mitbegründer der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften, und dem französischen Schauspieler Charles Langlois die erste Theatertruppe gegründet, die ausschließlich Stücke auf Schwedisch aufführen wollte. Ab 1737 durfte die Truppe sogar im prestigeträchtigen Bollhuset spielen.37 Olthoff gab 1749 in Stralsund ein Fest zu Ehren des „gesegneten zweiten Prinzen“,38 auf dem sich offenbar „eine vornehme Gesellschaft von Standespersonen beyderley Geschlechts“39 zu Liebhabervorstellungen zusammenfand. Denn nur wenige Tage später eröffnete eine Schaubühne, auf der sie beinah wöchentlich ein Stück im Rahmen von „Assembleen, Redouten, Bällen, Gastmahlen, und andern Festen“40 präsentierten. An einem heute nicht mehr eindeutig zu identifizierenden Ort traten sowohl Personen aus der Adelsfamilie von Putbus als aus viele Offiziere der schwedischen Garnison auf. Ob Regierungsrat Olthoff selbst als aktiver Schauspieler auftrat, ist nicht bekannt. Doch seine ältere Tochter stellte Frauenrollen in Voltaires Tragödien „Brutus“ und „Alzire“ dar. Die jüngere Tochter sang darüber hinaus zusammen mit ihrem Bruder Duette, die „die Ohren und das Herz der Zuhörer in angenehmes Entzücken setzten.“41 Das nachweisbare Repertoire der Liebhabergesellschaft bestand aus dem Lustspiel „L’Oracle“ von Germain-­François Poullain de Saint-­Foix, das 1740 in Paris uraufgeführt wurde, sowie drei Tragödien von Voltaire: „Brutus“ (1731), „Der Tod Cäsars“ (1736) und „Alzire“ (1736). Wahrscheinlich fanden die Vorstellungen auf Französisch statt, da diese Sprachkenntnisse in vornehmen Kreisen vorausgesetzt werden konnten. Zudem präsentierte Graf von Meyerfeldt eine Anrede vor dem Beginn des Lustspiels „L’Oracle“ auf „wohlgesetztem“ Französisch.42 Darüber hinaus veranstaltete der Stralsunder Kaufmann und Unternehmer Joachim Ulrich Giese um die Jahrhundertmitte gesellige Zusammenkünfte, bei denen ebenso französische Stücke zur Aufführung kamen. Gieses Ehefrau wirkte dabei als aktive Laiendarstellerin mit. Zwar lässt sich über den Veranstaltungsort nur spekulieren, aber womöglich fanden die Vorstellungen im Haus des Kaufmanns statt – seinem nach dem zweiten Weltkrieg zerstörten Herrenhaus in Niendorf. Neben einem Stadthaus in Stralsund besaß Giese die Insel Hiddensee und das südöstlich von der Hansestadt gelegene Gut Niendorf. Dort ließ er 1761 ein repräsentatives Herrenhaus errichten, das italienische Stuckarbeiter, 37 Brauneck: Die Welt als Bühne, S. 919 – 920. „Das Ballhaus“ (Bollhuset) war das erste Theater in Stockholm. Ursprünglich diente es nach seiner Fertigstellung 1627 als Sporthalle. Als Theater nutzte man es erst ab 1667, bevor es 1793 abgerissen wurde. 38 Johann Carl Dähnert (Hrsg.): Pommersche Bibliothek, Bd.1, St. 6 (1750), S. 49 – 52, hier S. 49. Gemeint ist damit der spätere schwedische König Karl XIII. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 52. 42 Ebd., S. 50. Außerdem berichtete die Litteratur- und Theater-­Zeitung, dass sich 1749 in Stralsund ein Liebhabertheater formierte, „auf dem aber Deutsche leider französisch redeten.“ Zit. aus: Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, S. 226.

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die sich auf der Rückreise von Stockholm befanden, mit hochwertigen Arbeiten ausstatteten. Das Haus bot sich sicherlich geeignete Räumlichkeiten für Liebhabervorstellungen.43 Für das Jahr 1749 ist weiterhin die Gründung der sogenannten Arkadischen Gesellschaft 44 überliefert, die aus neun jungen und gebildeten Männern sowie neun „geistvolle[n] junge[n] Frauenzimmern“ bestand. Sie bezeichneten sich selbst als Schäfer und Schäferinnen und gaben sich „arkadische“ Namen. Die gemeinsame Zeit verbrachten sie mit der Nachbildung französischer Tragödien, aber auch mit der Lektüre von Friedrich Gottlieb Klopstocks Gedichten.45 Ob bei der Gründung der Arkadischen Gesellschaft und der adligen Liebhabergesellschaft ein Zusammenhang besteht oder ob es sich lediglich um dasselbe Entstehungsjahr handelt, ist nicht bekannt. Außerdem weiß man nicht, ob beide Gesellschaften personell voneinander getrennt agierten oder ob es Doppelmitgliedschaften gab. Da es sich aber bei der Liebhabergesellschaft um einen adligen Personenkreis handelte und sich die Arkadische Gesellschaft aus Freunden und Bekannten des Kaufmanns und späteren Stralsunder Bürgermeister, Johann Albert Dinnies, zusammensetzte, wird es wohl kaum direkte Berührungspunkte gegeben haben.46 Bereits 1751 ging aus der Arkadischen Gesellschaft die Englische Gesellschaft hervor. Statt französischen Dichtungen lasen und übersetzten die Mitglieder nun englische Texte. Der pommersche Theologe Johann Joachim Spalding urteilte 1752 in einem Brief an den Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim positiv über sie: In Stralsund ist eine Gesellschaft von geschickten Köpfen, von welchen ich einige besonders gut übersetzte kleinere englische Gedichte gesehen; Addisons Feldzug; Heloisens Schreiben an Abelard von Pope, in Prose, Herr Langemarck, welche vor einige Wochen in Stralsund Professor geworden, hat angefangen Pope’s Versuch vom Menschen in Hexametern zu übersetzen.47

43 Richard Marsson: Aus der Schwedenzeit von Stralsund: Von Olthof und Giese (= Veröffentlichungen der Stadtbibliothek des Archivs zu Stralsund, Bd. 2), Stralsund 1928, S. 11 – 17. 44 Arkadien ist eine Landschaft im heutigen Griechenland, deren Einwohner seit der Antike als ursprüngliches Hirtenvolk galten. Arkadien verklärte man bereits im Hellenismus zu einem wunderschönen sorglosen Ort, wo die Menschen ohne Arbeit und soziale Verpflichtungen im Einklang mit der Natur lebten. Für nähere Informationen vgl. Klaus Garber: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur, Paderborn 2009. 45 Helmut Beug: Heinrich Ehrenfried Warnekros und die pommersche Geistesgeschichte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Pommernforschung, Bd. 5), Greifswald 1938, S. 85 – 87. 46 Auch Helmut Beug geht davon aus, dass die Liebhabergesellschaft um Olthoff und die arkadische Gesellschaft nach Ständen getrennt waren. Vgl. Beug: Heinrich Ehrenfried Warnekros, S. 138. Bekannte Mitglieder der arkadischen Gesellschaft waren Assessor Charisius, Advokat Köppen, Syndikus Johann Lukas Kühl, die Pastoren Johann Daniel Kühl (Wismar) und Gregor Langemak (Stralsund). Vgl. ebd., S. 86 – 87. 47 [Johann Wilhelm Ludwig Gleim (Hrsg.)]: Briefe von Herrn Spalding an Herrn Gleim, Frankfurt/Leipzig 1771, S. 106 – 107.

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Das Theater

Die Gesellschaft hielt fast drei Dekaden, bis sie sich 1780 auflöste. Die Mitglieder schenkten ihren ansehnlichen Büchervorrat von 125 Bänden, unter denen sich die Werke Alexander Popes, James Thomsons und Henry Fieldings befanden, der Stralsunder Ratsbibliothek.48 Obwohl es dafür keine direkten Quellennachweise gibt, ist anzunehmen, dass die dramatischen Werke nicht nur gelesen und übersetzt, sondern auch aufgeführt wurden.49 Die genannten Initiativen des Liebhaberspiels beschränkten sich auf einen kleinen Personenkreis. Es sieht so aus, als hätten die Laiendarstellerinnen und -darsteller ausschließlich unentgeltlich für sich und einen sehr begrenzten Zirkel gespielt. Zudem fanden die Aktivitäten der Liebhaber/innen mit Ausnahme der Englischen Gesellschaft wahrscheinlich nur für kurze Zeit in einem nicht institutionalisierten Rahmen statt und waren an das persönliche Engagement von Einzelnen gebunden. Darin unterschieden sich die Stralsunder und die Revaler Liebhabergesellschaft (s. dazu Kap. 4) voneinander.

3. Die Einrichtung des Stralsunder Theaters Wie die bisherigen Ausführungen zu Stralsund demonstriert haben, entwickelten sich Schauspiele in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beliebten und zumindest weitgehend akzeptierten (öffentlichen) Veranstaltungen und Vergnügen. Deshalb wirkte es aus zeitgenössischer Perspektive für einen Kulturunternehmer durchaus attraktiv, einen speziellen Ort zu schaffen, an dem die Aufführungen von Schauspielgesellschaften regelmäßig stattfinden konnten. Doch die Einrichtung eines festen Theaters sollte mehr dem Zufall als einer geplanten unternehmerischen Initiative geschuldet sein. Die Eröffnung eines festen Theaters in Stralsund war eng mit der Johannisloge Zur Eintracht verbunden. Nach der Greifswalder Loge Zu den drei Greifen und dem Stralsunder Zusammenschluss La Charité bildete die Eintracht nach ihrer Gründung im Jahre 1762 die dritte Loge Schwedisch-­Pommerns.50 In Person des Logenmeisters Christian Ehrenfried Charisius,51 der gleichzeitig als einer der Stralsunder Bürgermeister fungierte, und des stellvertretenden Logenmeisters Adolf Friedrich von Olthof 52 bestanden gute Kontakte 48 Diedrich Hermann Biederstedt: Nachrichten von dem Leben und den Schriften neuvorpomerisch-­ rügenscher [sic] Gelehrten seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zum Jahre 1822, Greifswald 1824, S. XI. 49 Diese Vermutung äußert auch: Lutz Winkler: Musiktheater in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts in Stralsund und Greifswald, in: Ders., Ekkehard Ochs und Nico Schüler (Hrsg.): Musica Baltica. Interregionale musikkulturelle Beziehungen im Ostseeraum, Frankfurt a. M. 1997, S. 212 – 225, hier S. 216. 50 Andreas Önnerfors: 240 Jahre schwedische Freimaurerei in Deutschland – die Logen Schwedisch-­ Pommern 1761 – 1816, in: Jahrbuch der Forschungsvereinigung Frederik 16 (2003), S. 143 – 190, hier S. 155 – 156. 51 Christian Ehrenfried Charisius (1722 – 1773) wurde 1761 unter dem Namen „von Charisien“ in den schwedischen Adelsstand aufgenommen. Vgl. Gabriel Anrep: Svenska Adelns Ättar-­ Taflor. 1. Teil, Stockholm 1858, S. 391. 52 Zum Leben Olthofs vgl.: Marsson: Aus der Schwedenzeit von Stralsund.

Die Einrichtung des Stralsunder Theaters

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nach Schweden. Ganz allgemein war die Zusammenarbeit zwischen den schwedischen und pommerschen Brüdern in allen Logen Schwedisch-­Pommerns sehr eng, weshalb die Freimaurerei als „Kontaktzone“ zwischen Schweden und Pommern gewertet werden kann.53 Die Logenmitglieder der Eintracht wussten um die vorbildliche Arbeit ihrer Brüder in Schweden, die beispielsweise 1753 in Stockholm ein Waisenhaus gegründet hatten.54 Da die Garnisonsstadt Stralsund ein solches dringend benötigte, machte es sich die Eintracht zur Aufgabe, vor Ort ein Waisenhaus ins Leben zu rufen. Für dieses Vorhaben erwarb die Loge 1765 das Haus des Achtermanns Nicolas Gottfried Sellmer für 1.800 Reichstaler. Logenmeister Charisius bürgte für die Summe, da die Eintracht über kein nennenswertes Vermögen verfügte. Doch die finanziellen Ressourcen, die es für den Umbau des Gebäudes und den Unterhalt des Waisenhauses bedurfte, scheinen in den darauffolgenden Monaten nicht akquiriert worden zu sein. Denn die Freimaurer entschieden sich am Ende des Jahres 1765, das erworbene Objekt zu einem Theater umzubauen und es an Schauspielgesellschaften weiterzuvermieten. Der Baumeister David Heinrich Westphal, der ebenfalls Mitglied der Loge war, organisierte die notwendige Neugestaltung des Hauses.55 Damit begann die Johannisloge ihre Tätigkeit als Kulturunternehmerin. Was bewegte die Eintracht, diesen auf den ersten Blick willkürlich wirkenden Schritt zu gehen? Für die Loge stellte die Einrichtung eines Theaters grundsätzlich ein probates Mittel zur Erwirtschaftung von Einnahmen dar, wie aus dem Protokollbuch und der offiziellen Korrespondenz der Eintracht hervorgeht.56 Mit dem Gewinn intendierten sie, die Realisierung ihres eigentlichen Projekts, die Gründung eines Waisenhauses, voranzutreiben. Die Annahme der Brüder, ein Theater könne als profitables Unternehmen geführt werden, war in Stralsund in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht abwegig. Drei Beobachtungen stützen diese These: Erstens beschwerten sich die Alterleute der Brauerkompagnie über den Ausbau des alten Sellmerschen Hauses, weil sie monetäre Einbußen fürchteten. Immerhin vermieteten sie bis dahin oft einen Spielort an die Schauspieltruppen.57 Zweitens hatten sich Konzerte, die später ebenso im Komödienhaus stattfinden konnten, als profitabel erwiesen. La Charité, die andere Stralsunder Loge, hatte z. B. in der Fastenzeit des Jahres 1763 ein öffentliches Konzert im Gebäude der Brauerkompagnie organisiert, das einen Reinerlös von stolzen 375 Reichstalern einbracht hatte.58 53 Andreas Önnerfors: Die Freimaurerei im Schwedisch-­Pommern des 18. Jahrhunderts – aufgeklärte Avantgarde und Kontaktzone zwischen Pommern und Schweden, in: Ivo Asmus, Heiko Droste und Jens Olesen (Hrsg.): Gemeinsame Bekannte. Schweden und Deutschland in der Frühen Neuzeit, Münster 2003, S. 107 – 120. 54 Zum Stockholmer Waisenhaus vgl.: Stiftelsen Frimurarebarnhuset i Stockholm (Hrsg.): 250 år i barmhärtighetens tjänst. Frimurarnas barnhusverksamhet, Stockholm 2003. 55 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 30 – 31. 56 Grundlegend hierfür ist die folgende Akte: GStPK, Rep. 5.1.3, Nr. 10121. 57 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 31 in der Fußnote. 58 Andreas Önnerfors: Freimaurerei und Offiziertum im 18. Jahrhundert, in: Militär und Gesellschaft in der frühen Neuzeit 14/1 (2010), S. 229 – 250, bes. S. 246.

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Das Theater

Letztlich zielte die Eintracht laut ihrer offiziellen Stellungnahmen nie darauf ab, den Soldaten und/oder Bürgern in der Stadt einen Ort für Vergnügungen anzubieten. Zwar schließen sich die Schaffung von Kulturangeboten und monetäre Profite nicht aus, doch die Freimaurer betonten stets bei ihren Unternehmungen, vor allem Geld für die Ausführung ihres wohltätigen Projekts einnehmen zu wollen. Als der Unterhalt des Theaters nicht die gewünschten Einnahmen brachte, baten sie 1770 um die Erlaubnis für die Organisation einer Klassenlotterie.59 Bei ihrem Gesuch brachten sie das Ziel dieses Lotterieunternehmens sowie der vorhergingen Theatergründung deutlich zum Ausdruck: „Bey der Errichtung der hiesigen Frey-­Maurer Loge ist es derselben von der Schwedischen Reichsgroßen Land Loge, als eine Pflicht auferlegt, für die Errichtung eines Waisen- und Findel-­Hauses zu sorgen.“60 Um das dafür nötige Geld zu erhalten, richteten sie einen „Theater und Redouten-­Saal“ ein. Neben dem finanziellen Nutzen sollte das Theater zusätzlich eine „Sittenschule“ sein und die „Ausschweifungen einer rohen und flüchtigen Jugend“ stoppen. Dem aufgeklärten Diskurs folgend, rechtfertigten die Logenbrüder die Gründung des Theaters zwar auch mit der Schaffung einer Sittenschule und eines nützlichen „Freizeitangebots“ für die Jugend, aber im Fokus stand das benötigte Geld. Aufgrund des Profitstrebens für wohltätige Zwecke verwundert es nicht, dass das Theater in den ersten Jahren als Veranstaltungsort von Bällen und als Aufführungsort für Schauspiele diente. Besonders die Anzeigen in der Stralsundischen Zeitung zeugen von einem reichhaltigen kulturellen Angebot, das dem Ideal der Freimaurer folgend versuchte, Standesschranken zu überwinden. Wie sich bald herausstellte, reichten die Einnahmen allerdings nicht, um sich der Einrichtung eines Waisenhauses entscheidend zu nähern. Trotzdem hatte die Eintracht mit dem Theater einen Ort des Kulturkonsums geschaffen, an dem sich vielfältige neue Freiräume ergaben. Reval erhielt erst ein knappes halbes Jahrhundert nach Stralsund ein eigenes Theatergebäude; es eröffnete im Februar 1809 seine Bühne.61 Das soll aber nicht heißen, dort habe es davor keine Vorstellungen gegeben. Vielmehr gastierten Wandergesellschaften bereits in vorherigen Jahrzehnten regelmäßig in den Räumlichkeiten der Großen Gilde oder in der Knudsgilde.

59 Vgl. dazu Kap. III.3.4. 60 LaGr, Rep. 10, Nr. 29. Die folgenden Zitate des Absatzes stammen ebenfalls aus dieser Akte, deren Seiten nicht paginiert sind. 61 Rosen: Rückblicke, S. 152.

Das Revaler Liebhabertheater

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4. Das Revaler Liebhabertheater Unter einem Liebhabertheater verstanden die Zeitgenossen „eine auf einem ziemlich feststehenden Fuße eingerichtete Privatgesellschaft, die zu ihrem Vergnügen, also ohne Bezahlung anzunehmen, Schauspiele aufführt“.62 Damit unterschied sich das Liebhabertheater von der bereits oben beschriebenen Stralsunder Liebhabergesellschaft aufgrund seiner Organisationsstruktur, während das Ziel, die unentgeltliche Aufführung von Schauspielen zum eigenen Vergnügen, gleich lautete. Mit anderen Worten beschreibt der Begriff „Liebhabertheater“ vordergründig eine Institution und „Liebhabergesellschaft“ meint eher den Personenkreis von Darstellerinnen und Darstellern.

4.1 Gründung Die Einrichtung des Liebhabertheaters 1784 ist untrennbar mit August Friedrich Ferdinand von Kotzebue verbunden.63 Der in Weimar geborene Kotzebue stammte aus einer angesehenen nichtadligen Familie; sein Vater stand im Dienste der Herzogin Anna Amalia. Im Umfeld des Weimarer Hofes entdeckte er sein Interesse für das Schauspiel und stand im Alter von 15 Jahren mit Johann Wolfgang von Goethe auf der Bühne des dortigen Privattheaters. Nur wenig später studierte er in Jena und Duisburg und ließ sich 1779 als Anwalt in seiner Heimatstadt nieder. Doch bereits zwei Jahre danach gelangte er dank seiner guten Kontakte nach St. Petersburg, wo er als Sekretär des Hoftheaters arbeitete. Im Zuge der Reformen der sogenannten Statthalterschaftsverfassung erhielt Kotzebue 1783 eine Stelle als Ober-­Appellationsassessor (Richter) beim Revaler Magistrat. Bereits vier Jahre später ernannte ihn der Generalgouverneur George von Browne zum Präsidenten des Gouvernements-­Magistrats (Vorsitzenden Richter). Mit dieser Position erhielt Kotzebue den Rang eines Oberstleutnants und stieg zudem in den Adelsstand auf.64 Damit hatte der theaterinteressierte Weimarer innerhalb von nur wenigen Jahren eine beachtliche Karriere in der neuen russischen Verwaltungsstruktur gemacht. Seine Liebe zur Bühne konnte er

62 ‚Liebhaber–Theater‘ in: Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats-, Stadt-, Haus- und Landwirtschaft, Bd. 78, Berlin 1800, S. 547. 63 Grundlegend zum Wirken Kotzebues im Baltikum vgl.: Otto-­Heinrich Elias: August von Kotzebue, baltischer Beamter und Dichter. Seine Revaler Theaterstücke als Texte der politischen Aufklärung, in: Carola L. Gottzmann (Hrsg.): Deutschsprachige Literatur im Baltikum, Berlin 2010, S. 77 – 105; Henning von Wistinghausen: Die Kotzebue-­Zeit in Reval im Spiegel des Romans „Dorothee und ihr Dichter“ von Theophile von Bodisco, in: Otto-­Heinrich Elias u. a. (Hrsg.): Aufklärung in den baltischen Provinzen Rußlands (= Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte, Bd. 15), Köln/Weimar/Wien 1996, S. 255 – 304 (dieser Aufsatz ist ein Jahr zuvor auch als selbstständige Veröffentlichung in Tallinn erschienen). 64 Peter Kaeding: August von Kotzebue. Auch ein deutsches Dichterleben, Berlin 2. Aufl. 1987, S. 72. Wistinghausen verweist darauf, dass Kotzebue bereits vor seiner Heirat (1785) ein unbestrittenes Adelsprädikat führte, s. Wistinghausen: Die Kotzebue-­Zeit in Reval, S. 273.

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Das Theater

aber nur pflegen, weil er in enger Verbindung zu anderen angesehenen Persönlichkeiten des Gouvernements Estland stand.65 Der anfänglich bedeutendste Kontakt für den Schriftsteller Kotzebue war der Regierungsrat Baron Friedrich Gustav von Rosen, dem das Gut Kiekel ca. 170 Kilometer östlich von Reval gehörte. Der junge Beamte fand bei von Rosen nicht nur die Zeit, seine ersten Werke zu verfassen,66 sondern lernte dort auch den Hofmeister Friedrich Gustav Arvelius kennen, der in der Folgezeit das Liebhabertheater nach Kräften unterstützte und gegen Kritik verteidigte.67 Mindestens genauso wichtig wie die Freundschaft zu Arvelius war das Zusammentreffen Kotzebues mit Friederike von Essen, der Tochter des Revaler Kommandanten. Dank der Fürsprache des Barons bei ihrem Vater stimmte dieser 1785 der Eheschließung zu.68 Als Regierungsrat hielt sich von Rosen häufig in Reval auf und wohnte hauptsächlich zu Fest- und Feiertagen auf dem Gut Kiekel. Dabei umgaben ihn meist zahlreiche Freunde und Bekannte, zu deren Unterhaltung und Vergnügen er ein kleines Theater einrichten ließ, in dem die illustren Gäste beispielsweise Kotzebues „Eremit von Formentera“ aufführten. In dieser Phase entstand auch die Idee, eine Gesellschaft von Schauspielliebhabern zu gründen, die zur wohltätigen Unterstützung leidender Menschen und zum Vergnügen des Publikums spielen sollte. Als nächstes trugen einige Herren, die in Kiekel mitgewirkt hatten, 65 Kotzebue wurde in St. Petersburg vor die Wahl gestellt, sich entweder für Riga oder Reval zu entscheiden. Er wählte letztere Stadt, weil er, wie er sich in einem späteren Rückblick erinnerte, in Jena „Ehstländer“ zu seinen liebsten Freunden gezählt hatte. Die Existenz des Rigaer Theaters nahm er dagegen nicht mit in seine Entscheidungsfindung auf. „Wäre hingegen in diesem Augenblick mir eingefallen, daß Riga ein Theater, und in Reval keines war, so würde ich ohne Zweifel mich für Riga entschieden haben.“ Zit. aus: Wistinghausen: Die Kotzebue-­ Zeit in Reval, S. 260. 66 Zum einen schrieb er das romantische Ritterschauspiel „Adelheid von Wulfingen, ein Denkmal der Barbarei des XIII. Jahrhunderts“ und zum anderen das Schauspiel in zwei Aufzügen „Der Eremit auf Formentera“. Vgl. dazu: Rosen: Rückblicke, S. 92. 67 „Die Feinde dieses gemeinnützigen Instituts [des Liebhabertheaters], deren es im Publikum noch immer eine beträchtliche Anzahl giebt, haben sich von jeher aus allen Kräften bemüht, den Werth desselben herabzuwürdigen, seine wichtigen Vorzüge in eine falsches Licht zu stellen und zu verdunkeln, […] seinem wesentlichen, erhabenen Zwecke, ihrer eigenen Denkungsund Empfindungsart entsprechende Zwecke unterzuschieben.“ Friedrich Gustav Arvelius: Skizze einer Geschichte der Revalschen Liebhaber-­Theaters von seiner Entstehung, seinem Fortgange, und seinem gegenwärtigen Zustande, in: Livländische Lese-­Bibliothek, Nr. 1 (1796), S. 55 – 72, hier S. 57. 68 Reinhold Wilhelm von Essen (1722 – 1788) betrachtete den Titularrat Kotzebue als einen unbedeutenden Parvenü, der unmöglich gut genug für die immatrikulierte Adelsfamilie sein konnte. Nach mehreren Unterredungen mit Baron von Rosen erteilte von Essen doch seine Einwilligung zur Hochzeit. Die Tatsache, dass Julie Elenore bereits im sechsten Monat schwanger war, dürfte seine Entscheidung zudem beeinflusst haben. Vgl. Kaeding: August von Kotzebue, S. 62 – 65; Wistinghausen meint, dass die Heirat heimlich geschlossen wurde und sein Schwiegervater erst nachträglich seine Einwilligung gab, s. Wistinghausen: Die Kotzebue-­Zeit in Reval, S. 268 – 269.

Das Revaler Liebhabertheater

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die Idee der Schaubühne nach Baltischport, einem kleinen Ort ca. 50 Kilometer westlich von Reval. Der Oberlandgerichtsassessor Jacob von Klugen veranlasste 1784 auf eigene Kosten den Bau eines Theatersaals, wo Liebhaber beispielsweise Lessings Lustspiel „Die Juden“ und Ifflands Schauspiel „Die Jäger“ unter dem Beifall des Publikums aufführten.69 Von den Initiativen in Kiekel und Baltischport ermutigt, stieß die Idee eines Liebhabertheaters nun in Reval auf fruchtbaren Boden. Bereits am 8. Dezember 1784 führte die neu gegründete, aus acht Männern bestehende Gesellschaft 70 Lessings Lustspiel „Der Schatz“ im Saal der St. Knudsgilde auf. Das Protokoll der konstituierenden Sitzung der Liebhabergesellschaft informiert präzise über die Motivation der Laiendarsteller. Eine Bühne könne „in den langen Winterabenden eine angenehme Unterhaltung gewähre[n]“ und „zugleich [die] Bildung des Herzens und des Verstandes“ befördern. Daneben bezwecke man aber ebenfalls, mit den Einnahmen Notleidenden beizustehen.71 Es ist im Einzelnen nicht nachzuweisen, wen die Gesellschaft als „notleidend“ ansah, weil man die Anonymität der Spendenempfänger wahren wollte.72 Für die erste Vorstellung lässt sich allerdings konkretisieren, für welchen wohltätigen Zweck jeder Gast 50 Kopeken bis einen Rubel Eintritt zahlte. Einem gewissen Herrn Lüdkens mangelte es an Geld, das Studium eines Sohnes weiterhin zu finanzieren. Um die Bildung und anschließende Karriere des Studenten nicht zu gefährden, wollte die Liebhabergesellschaft sämtliche Eintrittsgelder an Lüdkens weitergeben. Insgesamt ergaben sich aus dem ersten Auftritt Einnahmen von 270 Rubel, weshalb die Größe des Publikums auf einige hundert Personen geschätzt werden kann.73 Die Liebhaber spielten natürlich ohne Gage und die Unkosten zahlten die Mitglieder aus eigener Tasche (Kotzebue übernahm beispielsweise die Saalmiete), sodass die Gesellschaft den eingespielten Betrag ohne Abzüge weiterleiten konnte. Dafür wählte man den Umweg über das sogenannte „Kollegium der allgemeinen Fürsorge“, das den Betrag an Lütkens überreichte. Dieser freute sich so über die Unterstützung, dass er sich nur wenig später euphorisch in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten bedankte.74 69 Arvelius: Skizze einer Geschichte, S. 59 – 61. 70 Zunächst befanden sich ausschließlich Männer unter den Mitgliedern: Jacob von Klugen, August von Kotzebue, Martin Heinrich Arvelius, N. N. Süßmilch, Justus Riesenkampff, von Krüdner, von Roberti und von Franza. Diese Angaben folgen: Arvelius: Skizze der Geschichte, S. 62 – 63. 71 Zit. aus: Ebd., S. 61 – 62. 72 Augst von Kotzebue: Nachricht von einem theatralischen Institut zu Reval, welches der Welt bekannt zu werden verdient, in: Ders. (Hrsg.): Kleine gesammelte Schriften, Bd. 2, Leipzig/ Reval 1788, S. 343 – 374, hier S. 349. 73 Eine Schätzung gestaltet sich schwierig, weil nicht bekannt ist, wie viele Karten zu welchem Preis ausgegeben wurden. Es lässt sich zudem vermuten, dass einige Personen wegen des guten Zwecks freiwillig ein höheres Eintrittsgeld bezahlt haben. 74 „Innigst gerührt durch den von dem Erlauchten und verehrungswürdigen Collegio der allgemeinnen Fürsorge, in Anleitung der Unterlegung des Herrn Tit. Raths und Tribual-­Assessoris Kotzebue vom 10ten dieses Monats, von einer verehrungswürdigen Gesellschaft den 8ten dieses zum Studiren für meinen Sohn veranstalteten, mir schriftlich so gnädig zugesandten ansehn-

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Bereits bei der nächsten Vorstellung am 20. Dezember 1784 war die Gesellschaft um vier Personen, unter denen sich drei Frauen befanden, angewachsen.75 Die Laientruppe führten wieder Lessings „Die Juden“ sowie das Lustspiel „Die Beyden Billets“ auf. Letzteres war ein zeitgenössisch überaus populäres Stück, das die Verwechslung eines Liebesbilletts (ein kurzer Liebesbrief ) und eines Lottobilletts thematisierte.76

4.2 Mitglieds- und Organisationsstruktur Innerhalb der ersten sechs Jahren ihres Bestehens stieg die Mitgliederzahl der Gesellschaft von nicht einmal zehn auf knapp 50 an; ein Drittel gehörte dem weiblichen und zwei Drittel dem männlichen Geschlecht an.77 Wie Wistinghausen kürzlich herausgearbeitet hat, gehörten von den insgesamt 34 namentlich bekannten männlichen Mitgliedern 18 bis 19 Personen zu einer Freimaurerloge, 14 von ihnen zu einer Revaler Loge.78 Die Vertreter des indigenen Adels und der alteingesessenen Ratsfamilien fugierten als Beamte in den Statthalterschaftsbehörden oder als Offiziere. Dagegen kam nur einer, Christan von Glehn 79, aus der Gruppe der Kaufleute und auch der Landadel war nur durch zwei Personen, Friedrich Baron von Rosen und Fabian Wilhelm von Schilling, vertreten. Die Damen waren häufig die Ehefrauen oder Töchter von männlichen Mitgliedern. Allerdings rekrutierten sie sich ebenfalls aus Kaufmannsfamilien, deren Männer nicht am Theaterspiel teilnahmen. Besonders erstaunlich erscheint, dass 1788 mit Margaretha Charlotte Carlblohm sogar eine Pastorentochter in die Gesellschaft eintrat. Im selben Jahr heiratete sie darüber hinaus noch den Theologen Johann Sverdsjöe, der nur wenig später zum Diakon der St. Michelskirche berufen wurde.80 Offenbar wogen die später noch zu schildernden Vorbehalte einzelner Geistlicher gegenüber dem Theater nicht mehr derart schwer, dass die Mitgliedschaft einer mit der Kirche in Verbindung stehenden Frau voll-

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lichen Beytrag statte ich, laut und Empfindungsvoll, sowohl diesem erhabenen Collegio, als den großmüthigen Beförderern der Wissenschaften den ehrerbietigsten Danck um so viel mehr öffentlich ab, als hierdurch und die mir bereits erwiesene Gnade dieses hohen Collegii dieser mein Sohn reichlich in den Stand gesetzet ist, seine academische Laufbahn ohne mein Zuthun glücklich zu vollenden.“ RWN, Nr. 53, 30. 12. 1784. Margarethe Wistinghausen, Demoiselle Büsing, Anna von Rosenberg und Gottlieb von Meyendorff. Diese Angaben folgen: Arvelius: Skizze, S. 68. Damit kam das Revaler Publikum trotz des Verbotes von Lotterien indirekt mit diesem beliebten Glücksspiel in Berührung. Für eine Auflistung der Mitglieder s.: Rosen: Rückblicke, S. 239 – 240. Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung, S. 527 – 529. Glehn war in vielerlei Hinsicht eine nicht repräsentative Ausnahme: Er trat aufgrund seiner Frau Margarete, die bereits Mitglied war, der Gesellschaft bei. Zudem arbeitete er als Buchhändler und Verleger, der zwischen 1786 und 1788 Kotzebues Schriften herausgab. Allgemein war die Beziehung des Ehepaars Glehn zu Kotzebue sehr intensiv. Für genauere Informationen dazu s.: Wistinghausen: Die Kotzebue-­Zeit in Reval, S. 281 – 283. Wistinghausen: Freiraumerei und Aufklärung, S. 528 – 529.

Das Revaler Liebhabertheater

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kommen unmöglich war. Dennoch wird die Mitgliedschaft viel Mut und Unterstützung erfordert haben. Der Mitgliederstruktur zufolge repräsentierte die Liebhabergesellschaft einen gemischtgeschlechtlichen Teil der sozialen Elite Revals. Die Organisation der Gesellschaft ähnelte den etwa zeitgleich gegründeten lokalen Klubs.81 Alle Posten wählte die Vollversammlung jährlich mit einfacher Mehrheit. An der Spitze stand ein Direktor, den zwei Assistenten (ab 1786 vier)82 und ein Sekretär unterstützen. Bei der ersten Wahl im Januar 1785 votierten die Mitglieder für Baron von Rosen als Direktor, Baron von Meyendorff und Herr Nottbeck wurden Assistenten und Kotzebue erhielt den Sekretärsposten. Zusammen bildeten sie die Kommission, die vielfältige Aufgaben wahrnahm, zu denen die Einsetzung eines Kassenwartes, der die Einnahmen und Ausgaben überblickte, zählte. Darüber hinaus vertrat die Kommission die Gesellschaft nach außen, bestimmte die aufzuführenden Stücke, vergab die Rollen und verantwortete die Besorgung der Garderobe und der Dekoration. Letztlich entschieden die Kommissionsmitglieder auch über die Vergabe von Spenden bis zu einem Betrag von 20 Rubeln. Falls ein Bedürftiger mehr Geld benötigte, entschied die Vollversammlung mehrheitlich über die Zuwendungshöhe.83 Obwohl sich zahlreiche einflussreiche Mitglieder in der Liebhabergesellschaft befanden, fühlten einige von ihnen einen starken Rechtfertigungsdruck. Davon zeugen die Publikationen in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten, die Epiloge und Prologe der Vorstellungen und die Veröffentlichungen von Kotzebue und Arvelius. Doch wer konfrontierte die Liebhabergesellschaft mit kritischen Aussagen oder herausfordernden Verhaltensweisen? Was warf man ihren vor? Und wie sahen die Abwehrstrategien der Gesellschaft aus?

4.3 Gegner Wer sich gegen das Liebhabertheater stellte, lässt sich nicht genau rekonstruieren, da die Kritik zumeist nicht öffentlich geäußert wurde. Eine Ausnahme bildete der Pastor von Lais Johann Heinrich von Jannau, der die Gesellschaft aufforderte, ihre Anstrengungen lieber für die Bildung der Landbevölkerung einzusetzen, als Komödien aufzuführen. Denn ihre Bemühungen im Theater blieben nach Meinung von „Kennern“ zweideutig.84 Kritische Töne schlug zudem der Publizist Johann Christoph Petri an, weil das Theater „manches

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Zu der Gründung geselliger Vereinigungen in Reval s. Kap. III.7.3. Arvelius: Skizze, S. 89. Vgl. Kotzebue: Nachricht, S. 347 – 348 und Arvelius: Skizze, S. 75. Johann Heinrich Jannau: Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Ehstland: Ein Beytrag zur Verbesserung der Leibeigenschaft, Riga 1786, S. 139 – 140. Zu Jannaus wirken als Aufklärer im Baltikum vgl. bspw.: Erich Donnert: Agrarfrage und Aufklärung in Lettland und Estland. Livland, Estland und Kurland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., 2008, S. 120 – 145.

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häusliche Weib zu einer Theaterheldin“ umbildete, was sich aber zum „Nachtheil der häuslichen Glückseligkeit“ auswirkte.85 In ihren Rechtfertigungen benannten Kotzebue und Arvelius keine konkreten Namen, wenn es um die Kritiker ging. Sie wehrten sich nur gegen gewisse Stände oder Personengruppen. Arvelius stellte fest, dass sich im Publikum gleich nach der ersten Aufführung des Liebhabertheaters Fraktionen gebildet hatten, von denen eine „wider dieses Institut öffentlich redete und handelte“. Diese Gruppe führten „Personen von Gewicht in der bürgerlichen Gesellschaft“ an.86 Kotzebue dagegen sah seine Gegner „besonders unter dem Adel“, der spotten und die Unternehmung schmälern würde.87 Zwar differenzierte er sein pauschales Urteil, indem er zugab, dass dieses „Betragen unsers Adels [nicht] allgemein gewesen“ sei.88Dennoch ließ Kotzebue keinen Zweifel daran, dass Adlige eine erhebliche Mitschuld am problematischen Ansehen der Liebhabergesellschaft trugen. Der Geistlichkeit, der man aufgrund ihrer früheren Ressentiments (s. Kap.IV. 2.1) eine ablehnende Haltung gegenüber dem unterhaltsamen Schauspiel hätte nachsagen können, stellte Kotzebue ausdrücklich ein gutes Zeugnis aus. Kirchenvertreter hätten nicht an den „Possen“ gegen das Theater mitgewirkt.89 Als Beleg dafür zitierte Kotzebue, wie auch Arvelius, ein Schreiben von Philipp Christian Moier, dem Oberpastor der Domkirche.90 Zuvor hatte die Liebhabergesellschaft den geistlichen Stand gebeten, zahlreich zu ihren Vorstellungen zu erscheinen, weil so die moralische Integrität des Theaterprojekts gestärkt werden würde. Moier verfasste daraufhin 1786 eine diplomatisch geschickt formulierte Antwort im Namen der estländischen Geistlichen. Darin befürwortete er die Ziele der Gesellschaft und meinte, dass sich jeder Geistliche ein Stück ansehen dürfe. Er zweifelte aber daran, dass die Anwesenheit von möglichst vielen Geistlichen die Vorurteile gegen das Unternehmen

85 Johann Christoph Petri: Briefe über Reval nebst Nachrichten üben Esth- und Liefland, Deutschland 1800, S. 81. 86 Arvelius: Skizze, S. 73 – 74. In einem 1880 publizierten Aufsatz berichtet Theodor Kirchhofer über eine Notiz aus dem Hausbuch Luthers. Dabei handelte es sich wahrscheinlich um den aus Breslau stammenden Unternehmer und Kaufmann Georg Christian Luther (1717 – 1800), der 1742 nach Reval übersiedelte. Die Notiz lautet: „1784 errichtete der Präsident Kutscheboy (so ist der Name Kotzebue verstümmelt) eine Komödiantengesellschaft von hiesigen adeligen und bürgerlichen Dames, Männern und Fräulein und Jungfern, und fing dabei an auf der grossen Gildenstube vor Geld zu agiren. Der Vorwand war: es geschehe zur Unterstützung der Armen.“ Zit. aus: Theodor Kirchhofer: Eine Revaler belletristische Zeitschrift des vorigen Jahrhunderts, in: Baltische Monatsschrift 27 (1880), S. 641 – 662, hier S. 643. 87 Kotzebue: Nachricht, S. 354. 88 Ebd., S. 370. 89 Ebd., S. 363. 90 Für nähere Informationen zu Moier s.: Hellmuth Weiss: Ein Bericht Philipp Christian Moiers über die kirchlichen und sozialen Verhältnisse in Estland um 1770, in: Rudolf von Thadden (Hrsg.): Das Vergangene und die Geschichte. Festschrift für Reinhard Wittram zum 70. Geburtstag, Göttingen 1973, S. 164 – 173, hier S. 164 – 166.

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ausräumen könne. Mit anderen Worten, das Theater sei weder pauschal zu befürworten noch zu skandalisieren und jeder müsse sich selbst sein Urteil bilden.91 Der aufgeklärte Moier, der in Halle studiert hatte und sich ab 1771 in Estland befand,92 verschwieg die kritischen Stimmen innerhalb der Synode. Diese sind anschaulich in einem verschriftlichen Referat überliefert, das ein Dorpater Juraabsolvent 1824 in einem Freundeskreis junger Literaten hielt. Er stützte sich dabei wohl auf die Erzählungen seines Vaters, Pastor Peter Koch, mit dem Kotzebue eng befreundet war. Kein Geistlicher, hieß es, durfte es nach 1784 wagen, ins Theater zu gehen, obwohl viele von ihnen nichts gegen einen Besuch gehabt hätten. Aber „die alten Herrn mit strammen Perücken und gepolstertem Bein gaben den Ausschlag“ dafür, dass die Geistlichen weiter das Theater meiden mussten.93

4.4 Kritik am Liebhabertheater und dessen Mitgliedern Alles in allem setzte sich die Opposition gegen die Laiendarstellerinnen und -darsteller aus Geistlichen, Bürgerlichen und Adligen zusammen. Was sprach nun aber gegen das Liebhabertheater? Welcher Kritik sahen sich die Mitglieder der Gesellschaft ausgesetzt? Zunächst diente Kotzebue als Zielschreibe der Anfeindungen: Seine Stücke seien weder von guter Qualität noch meine er es ernst mit der Wohltätigkeit. Als nächstes gab es zwei Punkte, die vor allem von adliger Seite geäußert wurden. Zum einen sei es dem sozialen Stand der Darsteller/innen nicht angemessen für Geld zu spielen und zum anderen sei es unwürdig, sich dem Urteil des „Pöbels“ auszusetzen. Ein Teil des Publikums kritisierte zudem die theatralische Qualität der Aufführungen. Darüber hinaus sahen manche Christen die Deutungshoheit der Religion gefährdet, weil Schauspielen und Kanzelreden eine ähnliche Funktion zugesprochen wurde. Andere wiederum hielten das Schauspiel als Quelle von Wohltätigkeit für zweifelhaft, da es sich beim Besuch der Vorstellungen um ein Vergnügen handelte. Am stärksten schien aber der Vorwurf gegenüber den weiblichen Mitgliedern der Gesellschaft zu wirken, sie würden ihre häuslichen Pflichten vernachlässigen. Zum besseren Verständnis der genannten Punkte gilt es im Folgenden, sowohl die Anschuldigungen selbst als auch die Widerlegungen genauer zu erklären und einzuordnen. Die Originalität Kotzebues früher Stücke kritisierten die Zuschauer zu Recht. „Jeder Narr hat seine Kappe“, das erste Stück der Liebhabergesellschaft für das Revaler Publikum, kommentierte der Autor knapp eine Dekade später selbstkritisch: „Als ein ächter Deutscher krankte ich noch immer an der Nachahmungssucht; das Stück glich dem Geizigen von Moliere, wie eine Zuckerpuppe einer Dresdener Biscitstatue, und ich habe es daher unter meinen Papieren vergraben.“94 Originalität war aber keine Voraussetzung für Erfolg, weshalb er das Stück gewinnbringend inszenierte. Nun behaupteten böse Zungen, Kotzebue 91 92 93 94

Vgl. Kotzebue: Nachricht, S. 365 – 368; Arvelius, Skizze, S. 85 – 87. Weiss: Ein Bericht, S. 164. Zitiert aus: Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung, S. 523. August von Kotzebue: Die jüngsten Kinder meiner Laune, Bd. 5, Leipzig 1797, S. 153.

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stecke sich die Einnahmen, die bei der ersten Vorstellung immerhin 270 Rubel betrugen, in die eigene Tasche. Es war allgemein bekannt, dass er eine Reise nach Deutschland plante, weshalb diese Anschuldigung wohl plausibel klang. Doch da der Empfänger nur wenig später den Erhalt einer ansehnlichen Spende in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten inserierte (s. Kap. IV.4.2), erwiesen sich die Vorwürfe als haltlos.95 Der nächste Kritikpunkt ergab sich aus dem stark verankerten, historisch hergeleiteten Standesdenken. Der europäische Adel hatte wegen des Besitzes an Grund und Boden sowie seiner militärischen Stellung einen aus der Tradition privilegierten Herrschaftsanspruch, dem die Standespersonen durch die Pflege gewisser Normen und die Ausführung bestimmter Tätigkeiten Ausdruck verliehen. Dementsprechend manifestierten Muße und demonstrativer Konsum, wozu beispielsweise Reiten, Fechten, Jagen und Spielen gehörten, den adligen Habitus. Weiterhin pflegten Adelsfamilien ihren Rang, der ihnen qua Geburt zufiel, indem sie Wert auf Wappen, Ahnentafeln und dergleichen legten. Ihrem Selbstverständnis folgend sollten Adlige nicht für Geld arbeiten, weil sie das als bürgerlich ansahen; Lohnarbeit stellte eine Tätigkeit unter ihrem Stand dar. Ausgenommen davon waren prestigeträchtige Dienste im Militär oder in der Staatsverwaltung, die nebenbei finanzielle Einkünfte brachten.96 Vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Standesdenkens erklärt sich die adlige Kritik am Revaler Liebhabertheater. Indem eine Person adligen Standes vor Publikum auftrat, das dafür einen festgelegten Betrag zahlen musste, „arbeitete“ sie für Geld. Liebhabervorstellungen empfand man zwar in vornehmen Kreisen zur Überbrückung müßiger Stunden als akzeptabel,97 aber das Schauspielen unter kommerziellen Aspekten stand im diametralen Gegensatz zum adligen Ständebewusstsein.98 Obwohl die Gesellschaftsmitglieder lediglich einen wohltätigen Zweck unterstützten wollten, setzte ihnen die Nähe zu einer bürgerlichen Tätigkeit Grenzen, zumal Schauspielerinnen und Schauspieler selbst in der bürgerlichen Gesellschaft wenig Anerkennung fanden. Denn Wandergesellschaften, die für gewöhnlich theatralische Aufführungen gegen Bezahlung in Reval veranstalteten, genossen als fahrendes Volk nur ein sehr geringes Sozialprestige.99 95 Kaeding: Kotzebue, S. 67 – 68. 96 Vgl. bspw. Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung, S. 76 – 85. 97 Zum Liebhabertheater allgemein vgl. Robert Falk: Zur Geschichte des Liebhabertheaters. Ein kulturhistorischer Beitrag, Berlin 1887; zum Weimarer Liebhabertheater vgl. Gisela Sichardt: Das Weimarer Liebhabertheater unter Goethes Leitung. Beiträge zu Bühne, Dekoration und Kostüm unter Berücksichtigung der Entwicklung Goethes zum späteren Theaterdirektor, Weimar 1957; Heide Eilert: Bertuch und das zeitgenössische Theater, in: Gerhard R. Kaiser und Siegfried Seifert (Hrsg.): Friedrich Justin Bertuch (1747 – 1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000, S. 113 – 131. 98 Siehe bspw. die RWN, Nr. 37, 15. 09. 1785: „Wie? Ich sollte für Geld die Bühne betreten, und mich vom niedristen Pöbel kritisiren lassen?“. 99 Der Berufsstand der Schauspieler/innen genoss zur Zeit der Wandergesellschaften kaum Sozialprestige. Als Fahrende standen sie eher auf einer Stufe mit Herumtreibern und Vagabunden. Sie galten als Gefahr für die „bürgerliche Ordnung“. Vgl. Fetting: Conrad Ekhof, S. 14; Klaus

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Nun traten die Adligen in Estland aber nicht nur mit dem ausdrücklichen Zweck auf, Geld zu erwirtschaften, sondern setzten sich auch zwangsläufig der Kritik der Zuschauer aus. Außenstehende Adlige verstanden die Theaterkritik als Angriff auf ihren seit Generationen bestehenden und nicht zu hinterfragenden Stand und nicht als Beurteilung der künstlerischen Qualität des Schauspiels. Der Liebhabergesellschaft fiel es schwer, sich gegen diese adlige Kritik zu wehren, weil sie lediglich mit rationalen Argumenten kontern konnte. Adlige Mitglieder sollten sich etwaige Schmähungen nicht zu Herzen nehmen und sich vielmehr auf die positive Resonanz konzentrieren. Zudem würde keine andere Institution so viel Geld für wohltätige Zwecke generieren.100 Diese Einwände zeigten jedoch aufgrund der Mentalität des Adels keine Wirkung und es verwundert daher nicht, wenn einige adlige Mitglieder durch das „unaufhörliche Geschwätz wankend gemacht“ wurden und aus dem Amateurtheater austraten.101 Doch selbst unabhängig vom adligen Habitus fühlten sich die Mitglieder der Schauspielgesellschaft wegen der teilweise harschen Kritik an ihrer darstellerischen Leistung ungerecht behandelt. Angriffe auf die Qualität der Vorstellungen waren nur schwer abzuwehren, da es sich um Laiendarsteller/innen handelte. Mitunter sprach man in der zeitgenössischen Theaterkritik selbst professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern die Fähigkeit ab, Charaktere angemessen verkörpern zu können. Wer die Leistung von Laien attackieren wollte, fand somit eine große Angriffsfläche. Amateure konnten nicht so viel Zeit für das Lernen von Rollen und Proben aufwenden, weil sie einer anderen Haupttätigkeit nachgehen mussten. Daher blieb der Liebhabergesellschaft nur, die Bemühungen der Mitglieder herauszustellen, so gut wie möglich zu spielen. Außerdem würde die Rollenvergabe nach den Talenten der Personen vorgenommen; untalentierte Liebhaber nehme man erst gar nicht in die Gesellschaft auf. Letztlich blieb ihnen jedoch nur die trotzige Feststellung: „Sollte unser Spiel auch nicht den Beyfall der Kenner verdienen; so hat unsere Absicht doch gewiß den Beyfall Gottes!“102 Die Vereinnahmung „Gottes“ für das Spiel der Liebhabergesellschaft wiederum weckte religiöse Vorbehalte. Konkret ging es um den Ausdruck „im Namen Gottes die Bühne öffnen“, den die Darsteller/innen am Anfang einer Saison oder eines Theaterabends gebrauch-

Laermann: Die riskante Person in der moralischen Anstalt. Zur Darstellung der Schauspielerin in deutschen Theaterzeitschriften des späten 18. Jahrhunderts, in: Renate Möhrmann (Hrsg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt a. M. 2000, S. 147 – 173. 100 RWN, Nr. 37, 15. 09. 1785. In dieser Ausgabe erschien der Appell „Das Liebhabertheater zu Reval an das Publikum“, um für die neue Spielzeit zu werben und Kritiker verstummen zu lassen. Doch nach Kotzebues Angaben richtete diese Apologie nur wenig aus. Vgl. Kotzebue: Nachricht, S. 362. 101 Kotzebue: Nachricht, S. 369 – 370. 102 Zit. aus: RWN, Nr. 37, 15. 09. 1785; zur Beschreibung der einzelnen Leistungen vgl. RWN, Nr. 6, 10. 02. 1785.

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ten.103 Aus Sicht der Kritiker stellte diese Formulierung eine gotteslästerliche Aussage dar, weil es einer Schauspielgesellschaft nicht gebührte, eine Spielzeit oder eine Vorstellung an Gottes statt oder auf Befehl Gottes zu beginnen. Tatsächlich sahen die Liebhaber darin jedoch lediglich eine Redewendung ohne tiefgründigen Inhalt. So könne ein Wandernder beispielsweise „im Namen Gottes eine Reise antreten“, ohne sich der Gotteslästerung schuldig zu machen. Ihr Spruch bedeutete für die Gesellschaft lediglich, „im Vertrauen auf seinen [Gottes] Beyfall und den daher mit zu erwartenden glücklichen Ausgang einer Unternehmung“.104 Auf einer abstrakteren Ebene demonstriert die Auseinandersetzung um den Gebrauch des Wortes „Gott“ das Ringen um die Vermittlung von bestimmten moralischen Wertevorstellungen. Auf der einen Seite stand die Kirche und auf der anderen Seite das Liebhabertheater; eine Vermischung beider Sphären hielt man für unangemessen.105 Die Mitglieder der Liebhabergesellschaft versuchten in diesem Punkt zu beschwichtigen, indem sie herausstellten: „Das Schauspiel soll uns nicht bekehren – dieses wichtige Geschäffte mag der Kanzel und dem Alter vorbehalten bleiben – aber es soll ein lehrreiches Vergnügen geben.“106 Sie wollten demnach nicht auf die Glaubensinhalte Einfluss nehmen, sondern lebensnahe Orientierungshilfen interessant präsentieren. Damit griffen sie trotzdem, ob sie wollten oder nicht, in einen Bereich ein, den manche Geistliche ausschließlich für sich reklamierten. Einen weiteren Ausdruck fand die Auseinandersetzung zwischen religiösen Erwägungen und säkularen Zielen in der Frage um das Sonntagsspielverbot.107 Während die eine Seite am „Tag des Herrn“ keine Aufführungen billigen wollte, meinten die Befürworter der Spielerlaubnis, dass es gleich wäre, „ob man am Sonntage Nachmittag den Menschen auf dem Theater vorstellen, oder ihn in großen u. kleinen Gesellschaften selbst handeln sieht.“108 Denn das Schauspiel sei nur eine Kopie dessen, was man sowieso ständig erleben

103 Für diese Auseinandersetzung vgl. RWN, Nr. 40, 26. 10. 1785. Dort sind auch die in diesem Absatz angeführten Zitate zu finden. 104 Für sämtliche Zitate dieses Absatzes s.: RWN, Nr. 37, 15. 09. 1785. 105 Damit soll keineswegs behauptet werden, dass Theater und Religion im Widerspruch zueinander stünden. Man denke nur an die Tradition des Schuldramas, die der Rektor der Rigaer Domschule noch im 18. Jahrhundert pflegte. Vgl. Heinrich Bosse: Über die soziale Einbettung des Theaters: Riga und Reval im 18. Jahrhundert, in: Laurence P. A. Kitching (Hrsg.): Das deutschsprachige Theater im baltischen Raum. The German-­Language Theatre in the Baltic, 1630 – 1918, Frankfurt a. M. 1997, S. 105 – 122, hier S. 105. 106 RWN, Nr. 40, 26. 10. 1785. 107 Das Sonntagsspielverbot wurde zum Ende des 18. Jahrhunderts gelockert und auch zur Fastenzeit durfte immer häufiger gespielt werden. Allerdings blieb das Spielen an besonderen Feiertagen weiterhin verboten. Beispielsweise ersuchte der in Reval gastierende Schauspieldirektor beim Stadtrat 1804 um die Erlaubnis, am Palmsonntag spielen zu dürfen. Das Gesuch wurde abgeschlagen. Vgl. Rosen: Rückblicke, S. 147 – 148. 108 RWN, Nr. 6, 10. 02. 1785.

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könne. Es ist anzunehmen, dass religiös motivierte Kritiker diesen Aspekt des Schauspiels als eine Konkurrenz zur sonntäglichen Kanzelpredigt deuteten und daher missbilligten.109 Der nächste Vorwurf, der teilweise bereits bei den religiösen Vorbehalten mitschwang, waren die moralischen Implikationen des Theaters als „Zeitvertreib“ für das Publikum. Je nach Perspektive konnten die Gegner der Gesellschaft Schauspiele als sündige oder nutzlose Zeitverschwendung brandmarken. Dieser Kritik begegneten die Liebhaber mit der Feststellung, dass der Mensch nicht nur für die grundsätzliche Befriedigung seiner Primärbedürfnisse lebte. Sonst würden er nichts als „schwarzes Brod und Kartoffeln essen, ja nichts als klares Wasser trinken, kein anderes Kleid, als ein Thierfell um sich haben, kein Puder auf seine Perrücke streuen […]. Denn alles dieses ist ja nicht einmahl lehrreiches, sondern nur eitles, sinnliches Vergnügen.“110 Schwieriger gestaltete es sich hingegen, das Argument zu widerlegen, dass die Frauen der Liebhabergesellschaft ihre häuslichen Pflichten vernachlässigten. Während der Mann laut des bürgerlichen Idealbildes einer geregelten Arbeit nachging, verantwortete die Frau die Organisation des häuslichen Bereichs. Dort sollte sie als omnipräsente Aufseherin des Hauswesens, als aufopferungsvolle Mutter und nicht zuletzt als liebevolle Ehefrau in Erscheinung treten. Aufgrund ihrer herausragenden Bedeutung für die Familie standen Frauen unter besonderer Beobachtung und mussten den teilweise selbst auferlegten Erwartungen entsprechen.111 Adligen Frauen begegnete die Gesellschaft ebenfalls mit einer Erwartungshaltung, dem das Engagement in einer Amateurschauspielgesellschaft entgegenstand. Da das Liebhabertheater viel Zeit in Anspruch nahm, konnte eine Laiendarstellerin – so die Argumentation – ihren häuslichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, womit zunächst die Familie und letztlich das Gemeinwesen gefährdet würde.112 Wie schwer die Ansicht über die gesellschaftlich akzeptierte Rolle der Frau in Reval wog, veranschaulichen die praktischen Probleme des Liebhabertheaters. Bei der ersten Vorstellung am 8. Dezember 1784 ließ sich keine Frau zu einem Auftritt bewegen, weshalb ein junger Mann die weibliche Rolle übernehmen musste.113 Erst nach der Premiere schloss sich die 17-jährige Margarete Wistinghausen, die Tochter eines städtischen Kaufmanns und Ratsherrn, der Gesellschaft an. Schon am 20. Dezember debütierte sie auf der Bühne und bot sogar einen Epilog dar. Kotzebue selbst hatte diesen verfasst und darin das unsichere Gefühl einer jungen Frau bei ihrem ersten Auftritt verarbeitet, die selbstbewusst für ihr Geschlecht und den Zweck des Liebhabertheaters eintrat:

109 Für einen weiteren anschaulichen Beleg dafür, dass das Theater und die Kirche in Konkurrenz um den Zuspruch der Menschen standen, vgl.: Anonym: Nicht ohne zureichenden Grund, oder Warum lieber in die Komödie, als in die Kirche?, in: Pommersches Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks, 2 (1784), S. 96 – 112. 110 RWN, Nr. 40, 26. 10. 1785. 111 Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung, S. 147 – 167. 112 Vgl. Petri: Briefe über Reval, S. 81. 113 Kotzebue: Nachricht, S. 347.

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Zitternd trat ich auf die Bühne, Als Thaliens jüngste Schülerin, Zitternd sah ich auf Euch hin, Und erforsche Eure Miene: Meiner Kühnheit wohl bewußt, Klopfte furchtsam mir das Herz in meiner Brust. […] Doch warum? so dacht ich dann: Ist denn Wohlthun eine Sünde? Soll ich denn nicht auch da, wo ich Armuth finde, Statt unfruchtbaren Mitleids, helfen wenn ich kann? Und bedarf denn eine Komödie Ihr unsern Tagen noch Apologie? Nein! schweige Vorturtheil, und du Vernunft erwache! Freundinnen, nehmet Theil an unserm frohen Spiel! Damit der Mann uns nicht das himmlische Gefühl Des süßen Mitleids streitig mache. […].114

Wenige Wochen später ehelichte sie den Revaler Kaufmann Christian von Glehn, der ebenfalls dem Amateurtheater beitrat. Beide blieben der Bühne mehrere Jahre verbunden, bis sie 1791 aufgrund ihrer „häuslichen Lage“ austraten (s. dazu Kap. 4.7). Margarete blieb damit der Gesellschaft recht lange erhalten. Möglichweise ermöglichte ihr die Mitgliedschaft des Ehemannes, der selbst nur kleine Rollen übernahm, so lange als Schauspielerin zu agieren und beim Publikum Beliebtheit zu erlangen.115 Jedoch befanden sich viele unverheiratete Frauen, die der Gesellschaft beigetreten waren, in einer anderen Situation. Sobald sie in den Ehestand gelangten und Kinder gebaren, vermehrten sich ihre häuslichen Pflichten schlagartig, weshalb sie austreten mussten. Konkret verließen beispielsweise 1794 fünf Frauen wegen ihrer häuslichen Geschäfte oder anderer Gründe die Gesellschaft.116 Die Summe der Kritikpunkte verdeutlicht, warum insbesondere Kotzebue und Arvelius das Liebhabertheater öffentlich vehement gegen dessen Gegner verteidigten. Die dargestellte Auseinandersetzung impliziert zudem, wie neuartig und unerhört der entstandene Freiraum auf einflussreich Teile der Bevölkerung wirkte. Doch die Bereitschaft von etwa 50 Personen aus gutem Hause, das Liebhabertheater aktiv mitzugestalten, zeigt die gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit. Nicht zuletzt erklärt sich die Akzeptanz des Unternehmens aber 114 Arvelius: Skizze, S. 68 – 69. 115 Zur Eheschließung mit und zur Scheidung von Glehn vgl.: Wistinghausen: Die Kotzebue-­ Zeit in Reval, S. 276 – 287; über die Beliebtheit von Margarete beim Publikum vgl.: Arvelius: Skizze, S. 89. 116 Arvelius: Skizze, S. 92 – 94.

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aus der Tatsache, dass es wegen der hohen Spenden für die Bedürftigen ein überzeugendes Argument lieferte und demzufolge auch einige angesehene Fürsprecher gewann.

4.5 Wohltätige Projekte und obrigkeitliche Unterstützung So harsch die Kritik am Liebhabertheater ausfiel, so konnte doch niemand bestreiten, dass es stattliche Spendenbeträge erwirtschaftete. Die Gesellschaft veröffentlichte in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten regelmäßig, wie viel Geld sie gesammelt hatte, und nirgendwo sind Zweifel an den Zahlen auszumachen. Anfang März 1786 verkündete die Gesellschaft, dass sie seit ihrem Bestehen 17 Vorstellungen gegeben hatte, bei denen 2.394 Rubel und 60 Kopeken zusammengekommen waren. Anschließend wurden Verwendungszwecke aufgeschlüsselt: Ungefähr die Hälfte des Gesamtbetrages erhielten Witwen und Waisen, knapp 700 Rubel wandte man „zur Unterstützung hoffnungsvoller Jünglinge“ auf und 221 Rubel bekamen „unglückliche Personen“. Das restliche Geld ging an das „Kollegium der allgemeinen Fürsorge“ und eine öffentliche Erziehungsanstalt oder an Personen, die die Beerdigungskosten für ihre Verwandten aufbringen mussten.117 Bis zum vierten Stiftungstage ihres Bestehens, d. h. bis Anfang Dezember 1788, beliefen sich die gesamten Nettoeinnahmen auf 5.700 Rubel;118 insgesamt spendete die Gesellschaft bis zu ihrer vorläufigen Auflösung im März 1796 über 14.000 Rubel zur „Verminderung der Erden-­Noth“.119 Zwar lässt die Quellenlage keine detailliertere Aufschlüsselung der Verwendungszwecke zu, doch einzelne Projekte vergegenwärtigen die Ziele der Spenden. Im Jahre 1791 druckte und verteilte man beispielsweise 10.000 Exemplare des Ratgebers Josepi Hädda- ja Abbi-­ Ramat (Joseps Not- und Hilfsbuch, 1790) an das estnische Landvolk. Damit erhielten estnische Bauern Zugang zu Informationen über Gesundheit, Ernährung, Haus- und Landwirtschaft sowie anderen lebensnahen Themen.120 Mit Kosten in Höhe von 1.282 Rubeln war dieses Projekt das teuerste des Liebhabertheaters und hatte darüber hinaus das Potenzial, in der Breite am meisten Wirkung zu entfalten. Zudem könnte man das Buchprojekt als eine Reaktion auf Jannaus Kritik verstehen (s. Kap. IV.4.3), sich der Bildung

117 RWN, Nr. 9, 02. 03. 1786. 118 RWN, Nr. 51, 18. 12. 1788. 119 Friedrich Gustav Arvelius: Fortsetzung und Beschluß des im 1sten Quartal-­Stück abgebrochenen Aufsatzes: Geschichte des Revalschen Liebhabertheaters, in: Livländische Lese-­Bibliothek, 4 (1796), S. 73 – 102, hier S. 102. 120 Jesepi Hädda- ja Abbi-­Ramat basiert auf dem überaus erfolgreichen „Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute“ (1788) von Rudolph Zacharias Becker (1752 – 1822). Arvelius hatte Beckers Text für seine Geschichte ins Estnische übersetzt und auf den regionalen Kontext angepasst. Vgl. Cornelius Hasselblatt: Geschichte der estnischen Literatur: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin/New York 2006, S. 155 – 156. Zu Arvelius und seinen Bemühungen zur Volksaufklärung s.: Otto-­Alexander Webermann: Studien zur volkstümlichen Aufklärung in Estland: Friedrich Gustav Arvelius (1753 – 1806), Göttingen 1978 (postum von Johann Dietrich von Pezold bearbeitet und herausgegeben).

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der Landbevölkerung zu widmen.121 Ob das wohlgemeinte und doch auch doktrinäre Buch tatsächlich die erhofften „Verbesserungen“ erreichte, ist freilich eine andere Frage, zumal Arvelius’ vorherige Schriften auf Estnisch keinen großen Erfolg zeitigten. Dafür ignorierte er, anders als beispielsweise August Wilhelm Hupel, zu sehr die estnische Volkssprache, die er a priori für primitiv und unkultiviert hielt.122 Die hohen Einnahmen und die damit finanzierte Wohltätigkeit wirkten sich positiv auf die aktive Unterstützung der Obrigkeit aus. Eine bedeutende Position nahm dabei der Generalgouverneur George von Browne ein, der das Liebhabertheater vor Konkurrenz schützte, wie die folgende Episode demonstriert.123 Ende 1785 erreichte eine französische Schauspieltruppe von Moskau kommend Reval und erwarb das Recht, im kleinen Gildenhaus zu spielen. Tatsächlich führten sie einige Stücke auf, womit sie den Unmut des Amateurtheaters und dessen Unterstützer auf sich zogen. Der Herausgeber der Revalischen Wöchentlichen Nachrichten verheimlichte beispielsweise nur oberflächlich, was er von der Wandergesellschaft hielt und bezeichnete sie als „Französische Sauspieler [sic]“.124 Um einen schlichten Flüchtigkeitsfehler wird es sich hierbei wohl nicht handeln, weil derartige orthographische Schwierigkeiten oder Setzfehler untypisch für die Wochenschrift waren. Die professionellen Schauspieler machten den Laiendarstellern nicht nur ernstzunehmende Konkurrenz, sondern gefährdeten darüber hinaus die Existenz des Liebhabertheaters. Denn wenn die Zuschauer Letzterem wirklich den Rücken kehrten, konnten die Amateurschauspieler nicht mehr behaupten, sie würden dem Publikum Vergnügen bereiten und Spenden für wohltätige Zwecke sammeln. In dieser Situation setzte sich von Browne gegen die Spielerlaubnis der französischen Truppe ein, weil sich diese nur bereichern wolle und nicht für die Armen auftrete. Nur kurz darauf verließ die Wandergesellschaft Reval und das Liebhabertheater hatte seine Monopolstellung bewahrt.125 Weiteren Rückhalt erfuhr die Gesellschaft durch den Mäzen des Rigaer Theaters Otto Hermann von Vietinghoff. Er befand sich 1789 in Reval auf der Durchreise und wünschte, eine Aufführung des Liebhabertheaters zu sehen. Für ihren feierlich empfangenen Ehrengast präsentierte die Gesellschaft Kotzebues „Menschenhaß und Reue“, was Vietinghoff mit seinem „lauten Beyfall“ würdigte. Darüber hinaus lobte er den Zweck der Einrichtung.126 121 Arvelius: Fortsetzung und Beschluß, S. 83. 122 Jürjo: Aufklärung im Balikum, S. 335 – 336. 123 Zu George von Browne sowie zur Position des Generalgouverneurs s.: Mati Laur: Generalgouverneur George von Browne und die „gute Policey“ in Livland in den 1760er-­Jahren, in: Norbert Angermann, Karten Brüggemann, Inna Põltsam-­Jürjo (Hrsg.): Die Baltischen Länder und Europa in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/ Wien 2015, S. 371 – 381; Lea Leppik: Die Generalgouverneure im Baltikum – Instrumente der Vereinheitlichung des Russischen Imperiums oder ein Schutz der baltischen Sonderordnung?, in: Olaf Mertelsmann (Hrsg.): Estland und Russland. Aspekte der Beziehungen beider Länder, Hamburg 2005, S. 53 – 76. 124 RWN, Nr. 09. 02. 1786. 125 Arvelius: Skizze, S. 80 – 83. 126 Arvelius: Fortsetzung und Beschluß, S. 81.

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Begünstigt von der Fürsprache einflussreicher Autoritäten, die insbesondere den wohltätigen Zweck dieser Institution hervorhoben, existierte das Liebhabertheater ununterbrochen für mehr als eine Dekade. Der finanzielle Erfolg über mehrere Spielzeiten wäre dennoch ausgeblieben, wenn man nicht Stücke aufgeführt hätte, die das Publikum unterhielten.

4.6 Repertoire Zwar lässt sich das Repertoire nur für die ersten vier Spielzeiten lückenlos rekonstruieren, aber diese Periode bietet bereits einen repräsentativen Einblick. Denn zwischen 1784 und 1787 inszenierte das Amateurtheater 23 Stücke, die abhängig von der Nachfrage aufgeführt wurden.127 Dagegen ging die Zahl der Vorstellungen insbesondere in den letzten Jahren der Gesellschaft deutlich zurück.128 Das Repertoire beinhaltete zeitgenössisch beliebte Werke, die im heutigen Theaterprogramm nur noch äußerst selten zu finden sind. Bis auf ein Lustspiel („Le Français a Londres“) brachte man ausschließlich deutschsprachige Werke – entweder im Original oder in Übersetzung – auf die Bühne. Komische Stücke dominierten mit insgesamt 14 Inszenierungen. Mit deutlich weniger Popularität mussten sich die Trauerspiele begnügen, während die Genres von sechs Vorstellungen nicht eindeutig zugeordnet werden können. Meist handelte es sich bei den Schriftstellern um bekannte Persönlichkeiten der Zeit. Wenig überraschend führte Kotzebue die Liste der am häufigsten gespielten Autoren mit vier Stücken an („Jeder Narr hat seine Kappe“, „Das Liebhabertheater vor dem Parlament“, „Der Eremit auf Formentera“, „Adelheid von Wulfingen“). Jeweils zwei der präsentierten Stücke hatten August Wilhelm Iffland („Verbrechen aus Eifersucht“, „Die Mündel“), Johann Jacob Engel („Der Edelknabe“, „Der dankbare Sohn“) Christoph Friedrich Bretzner („Das Räuschgen“129, „Der argwöhnische Liebhaber“) und Louis de Boissy („Der Mann, den seine Frau nicht kennt“, „Le Français a Londres“) geschrieben. Weiterhin lieferten die folgenden Autoren jeweils eine Schriftvorlage: Gotthold Ephraim Lessing („Die Juden“), Gustav Friedrich Großmann („Nicht mehr als sechs Schüsseln“), Johann Friedrich Jünger („Der Strich durch die Rechnung“), Johann Anton Leisewitz („Julius von Tarent“), Johann Friedrich Schink („Gianetta Montaldi“), Friedrich Ludwig Schröder („Der Fähndrich“), Wilhelm Heinrich Brömel („Gerechtigkeit und Rache“) und Alois Friedrich von Brühl („Die Brandschatzung“). Zudem gab es noch eine Autorin, die „Die Betrüger“ verfasst hatte. Dabei handelte es sich um eine deutsche Übersetzung eines Lustspiels der Kaiserin Katharina II.

127 Die nachfolgenden Aussagen zu den Stücken basieren auf einer Auflistung bei: Kotzebue: Nachricht, S. 372 – 374. 128 Ebd., S. 93 – 96. 129 Von diesem Stück ist ein Theaterzettel überliefert, wonach es u. a. am Dienstag, den 17. November 1787 um 18 Uhr gegeben wurde. Die Eintrittskarten konnte man beim Sekretär Riesenkampff in der Rußstraße (heute Vene tänav) einen Tag vorher von 2 bis 5 Uhr erwerben. BK, XIV 429a.

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Die große Beliebtheit dieser Aufführungen resultierte unter anderem aus der Verarbeitung lokaler Auseinandersetzungen, wovon besonders Kotzebues „Liebhabertheater vor dem Parlament“ Zeugnis ablegt. Der Autor selbst kommentierte die Aufführung des Lustspiels, indem er 1788 über die Verteidigungsstrategie seiner Liebhabergesellschaft anmerkte: „Wie oft Scherz und Ernst angewandt worden, die Feinde unserer Bühne zu bekehren, mag auch folgendes Nachspiel beweisen, welches am achten December 1786. aufgeführt worden.“130 Zum zweijährigen Jubiläum der Gesellschaft karikierte er die Ressentiments gegen das Liebhabertheater damit, dass er einen Gerichtsprozess darstellte, dessen Urteil im Vorhinein feststand. Verhandelt werden sollte der Fall des Liebhabertheaters zusammen mit der gesunden Vernunft gegen das Vorurteil.131 Den Vorsitz führte der voreingenommene Richter Güldenkalb, der seinem Sekretär bereits aufgetragen hatte, ein Urteil zu Ungunsten des Theaters abzufassen. Den größten Teil der Verhandlung verbrachte er schlafend oder übers Essen sinnierend. Der richterliche Name verwies bereits auf den kritikwürdigen Zustand des Gerichts und auch die Parlamentsräte, die als Jury agierten, verhielten sich ihrer Namen entsprechend. „Weibermund“ zitierte unablässig die Meinung seiner Frau, während „Klatschsieb“ ständig auf der Jagd nach neuem Gerede war und selbst den aktuellen Tratsch verbreitete. „Olim“ (lat. „einst“) rekurrierte unentwegt auf die angeblichen Werte und Normen der Vergangenheit und „Jaja“ wurde nicht müde, allem und jedem beizupflichten, sobald dies einen Vorteil für ihn bedeutete. Gegen diese vier voreingenommenen und dümmlich wirkenden Figuren standen zwei aufrichtige Parlamentsräte („Herz“ und „Selten“) zusammen mit einem Advokaten. Herz plädierte dafür, auch die andere Seite anzuhören und dann das gefühlsmäßig beste zu entscheiden. Selten personifizierte einen der wenigen Befürworter der Bühne und stellte vor allem die positiven Seiten dieses Unternehmens heraus. Schließlich überstimmten die vier Gegner die beiden Befürworter, weil Letztere mit ihrer rationalen Argumentation nichts gegen die bestehenden Vorurteile ausrichten konnten. Selbst die plötzliche Erscheinung der Göttin der Mildtätigkeit sowie Thalias und einiger Nymphen änderte nichts an dem vorgefertigten Urteil, weckte aber bei Selten und Herz den Glauben an einen wahrhaftigen Richterstuhl. Beim Publikum dürften die überzeichneten Figuren real lebende Personen aus der Stadtverwaltung in Erinnerung gerufen haben. Wer diese im Einzelnen sind, lässt sich mangels konkreter Hinweise nicht nachvollziehen. Daher kann man diskutieren, ob es sich um ein persönliches Pasquill handelte, bei dem jeder wusste, wer genau gemeint war, oder ob es sich um stereotype Figuren handelte.132 Wichtiger als diese Frage ist hier jedoch 130 Kotzebue: Nachricht, S. 374. 131 August von Kotzebue: Das Liebhabertheater vor dem Parlament, in: Kleine gesammelte Schriften, Bd. 2, Leipzig/Reval 1788, S. 375 – 420. 132 Zur Diskussion dieses Punktes vgl. Rosen: Rückblicke, S. 122 – 123; Elias sieht in Güldenkalb niemand anderen als den Bürgermeister Joachim Dehn und in Klatschsieb möglicherweise den Gerichtsvogt Gottlieb Pfützner. Otto-­Heinrich Elias: Reval in der Reformpolitik Katha-

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die theatralische Aufarbeitung der lokalen Auseinandersetzung, die sicherlich mehr zur Polarisierung der gegensätzlichen Meinungen beitrug, als eine konstruktive Annäherung zu erlauben. Nichtsdestotrotz scheint es wahrscheinlich, dass insbesondere die Befürworter des Liebhabertheaters die Inszenierung dieser lokalen Angelegenheit stark nachfragten. In der Phase nach 1787 zeigte die Gesellschaft weiterhin einige zeitgenössisch überaus populäre Uraufführungen aus der Feder Kotzebues wie „Menschenhaß und Reue“ und „Die Indianer in England“. Vor allem mit dem erstgenannten Schauspiel bewies der Gerichtsbeamte, dass er nicht nur in Reval, sondern europaweit provozieren konnte. Nach der Premiere in Reval 1788 führten es ein Jahr später bereits die Bühnen in Hamburg, Hannover, Mannheim, Mainz, Leipzig, Breslau, Weimar und Wien auf. Allein in Berlin gab es bis 1843 mindestens 87 Wiederholungen. Übersetzt ins Englische, Dänische, Italienische, Spanische, Portugiesische und Griechische eroberte es noch andere Bühnen Europas und Amerikas. In „Menschenhaß und Reue“ thematisierte Kotzebue den Ehebruch einer Frau, was an sich schon unerhört genug war, und polarisierte endgültig damit, dass der gehörnte Ehemann ihr den Fehltritt verzieh. Doch nicht nur thematisch traf der Autor damit den Nerv der Zeit. Die Charaktereigenschaften der Protagonisten und der Plot brachten das Publikum zum Weinen, weshalb es als Prototyp eines Rührstücks gewertet werden kann.133 Das anhand von Kotzebues Stücken exemplarisch vorgestellte Repertoire der Revaler Liebhabergesellschaft lockte das zahlende Publikum ins Große Gildenhaus. Kotzebue selbst bezifferte die Zuschauerzahl auf 400 bis 500 Personen pro Vorstellung und behauptete weiter, dass der Schauspielsaal immer ausverkauft gewesen sei. Seine Angaben lassen sich nicht durch eine andere Quelle überprüfen, können aber als annähernd realistisch gelten. Denn ohne eine große Anzahl zahlender Gäste hätte bei einem Eintrittspreis von 50 Kopeken bis einem Rubel niemals eine Spendensumme von 14.000 Rubeln erzielt werden können. Zwar hatte die Liebhabergesellschaft weniger Ausgaben als eine Wandergesellschaft, da sie nicht reisten und die Mitglieder auf eine Gage verzichteten. Aber die Miete für die Bühne, die Dekoration, die Druckkosten für Plakate und die Kostüme mussten sie genauso wie andere bezahlen. Sie zogen folglich ein großes Publikum an, das bereit war, einen verhältnismäßig moderaten Beitrag für ein Vergnügen auszugeben, mit dem sie letztlich einen guten Zweck unterstützten. Der hohe Überschuss der Liebhabergesellschaft ist demnach auf die große Nachfrage zurückzuführen, die wiederum auf dem massentauglichen Repertoire basierte. Kritiker mögen Kotzebue als einen „Meister der Zwiebel“ diffamieren oder ihn für einen Kitschfabrikanten halten.134 Die inszenierten rührseligen und lustigen Stücke entpuppten sich nichtsdestotrotz als ein kommerzieller und damit gleichzeitig als ein wohltätiger Erfolg. rinas  II . (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte, Bd.3), Bonn/Bad Godesberg 1978, S. 178. 133 Armin Gebhardt: August von Kotzebue. Theatergenie zur Goethezeit, Marburg 2003, S. 106 – 113; Rosen: Rückblicke, S. 105 – 110. 134 Vgl. Elias: August von Kotzebue, S. 77.

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Dennoch fanden in den letzten Jahren des Amateurtheaters weniger Vorstellungen statt, bevor man 1796 zeitweise pausierte. Wie aber erklärt sich das Scheitern einer zunächst so erfolgreichen Gesellschaft?

4.7 Die vorläufige Auflösung Für den Niedergang des Revaler Liebhabertheaters gibt es nicht nur einen Grund, da eine Verkettung mehrerer ungünstiger Umstände zu einer stetigen Verringerung des Theaterbetriebs führte. Zunächst einmal wirkte sich die Abwesenheit Kotzebues sowie dessen Ansehensverlust negativ auf das Unternehmen aus. Der Spiritus Rector der Liebhabergesellschaft erkrankte 1788 an einer „Nervenkrankheit“, weshalb er in Bad Pyrmont eine Kur machte. Für diese Zeit entband ihn Kaiserin Katharina II. von seinen Aufgaben. Als der frühe Tod seiner Ehefrau nach seiner Abreise unausweichlich erschien, entschloss sich Kotzebue, zunächst nicht nach Estland zurückzukehren. Er hielt sich stattdessen u. a. längere Zeit in Paris auf, wo er schriftstellerisch tätig blieb. Das 1790 veröffentlichte Pasquill gegen den Theologen und Publizisten Karl Friedrich Bahrdt empörte viele zeitgenössische Gelehrte, da der pornographische Text gänzlich unangemessen schien. Schlimmer als die Sprache wog allerdings, dass Kotzebue das Werk unter dem Namen „Freiherr von Knigge“ publiziert hatte.135 Kotzebue, der die Dimension des Skandals zunächst falsch abschätzte und anschließend nur noch die Autorenschaft leugnen konnte, wurde nach monatelanger Suche als Urheber der Schmähschrift überführt. Lediglich seine Rückkehr ins Russische Reich und der persönliche Schutz der Kaiserin bewahrten ihn vor der Strafverfolgung. Trotzdem spürte er die Konsequenten der Bahrdt-­Affäre auch in seiner Wahlheimat; sein Ruf war ruiniert.136 Kotzebue fiel damit als wichtige Stütze der Liebhabergesellschaft zumindest vorübergehend weg. Doch nicht nur die nun vielerorts zu vernehmende öffentliche Kritik an Kotzebue wirkte sich nachteilig auf die Liebhabergesellschaft aus. Der zeitliche Aufwand, den die Proben und Aufführungen in Anspruch nahmen, stellte nach der anfänglichen Euphorie eine stetig steigende Bürde für die Mitglieder dar. Daher konnten in der Spielzeit 1793/94 nur noch deutlich weniger Vorstellungen auf die Bühne gebracht werden. Trotzdem erschien die aufzuwendende Zeit insbesondere für Frauen, die unter besonderer öffentlicher Beobachtung standen, viel zu umfangreich, weshalb 1794 gleich fünf Laiendarstellerinnen aus der Gesellschaft austraten. In einer Krisensitzung besprachen die Mitglieder daraufhin, ob sie

135 [August von Kotzebue]: Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder die deutsche Union gegen Zimmermann, o. O. 1790. Kotzebue veröffentlichte das Pasquill unter dem Namen des Freiherrn Adolf von Knigge (1752 – 1796), der zuvor Stücke von Kotzebue kritisiert hatte. 136 Zu Kotzebues Krankheit, dem Tode seiner Frau, seinen Aufenthalten in Paris und „Deutschland“ sowie den Details der Bahrdt-­Affäre vgl.: Kaeding: Kotzebue, S. 82 – 114; Elias: Kotzebue, S. 88 – 95.

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ihr Unternehmen weiterführen wollten. Zwar entschieden sie sich dafür, konnten aber in der anschließenden Spielzeit nur noch vier Vorstellungen zeigen.137 Neben dem Zeitaufwand sprach zudem die zeitgenössische Moral bezüglich der Ehe gegen die Teilnahme der Frauen. Wie bereits erwähnt, hatte Kotzebue mit dem 1788 uraufgeführten Stück „Menschenhaß und Reue“ ein Tabuthema angesprochen. Darüber hinaus nährten sich die Anschuldigungen, dass es besonders bei den weiblichen Mitgliedern der Gesellschaft ebenfalls nicht gut um das Treugelübde stand. Die Scheidung von Margarete und Christian von Glehn am 1. Juni 1793 bestätigte anscheinend die Anschuldigungen der Moralaufseher. Nachdem Martin Heinrich Arvelius – ebenfalls Mitglied des Liebhabertheaters – im Auftrag von Margarete erfolgreich die Scheidungsklage gegen ihren Ehemann geführt hatte, heiratete sie Kaspar von zur Mühlen am 22. September 1793. Gut sechs Wochen vor dieser Heirat gebar sie einen Sohn, dessen biologischer Vater aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ihr früherer, sondern ihr neuer Ehemann Kaspar von zur Mühlen war.138 Obwohl sich aus der Quellenlage kein direkter Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen und den verstärkten Austritten der Damen in der Spielzeit 1793/94 nachweisen lässt, liegt dieser Schluss nahe. Nachdem die Gesellschaft zwei Jahre hintereinander nur eine geringe Aktivität entfaltet hatte, begann sie selbst an ihrer Unternehmung zu zweifeln. Weder verbreiteten sie Vergnügen beim Publikum, das sich regelmäßige Vorstellungen zwischen den ersten Herbsttagen und der Fastenzeit wünschte, noch erwirtschafteten sie nennenswerte Beträge für wohltätige Zwecke. Allerdings entschied sich die Gesellschaft in dieser Phase erneut, ihr Unternehmen so gut es ging fortzuführen.139 Die nächste Spielzeit brachte das vorläufige Aus der Gesellschaft, da nun eine professionelle Schauspieltruppe in Reval gastierte. Die aus Braunschweig stammende Madam Tilly hatte zuvor in St. Petersburg nur wenig Erfolg gehabt. Sie erfuhr in der russischen Metropole, dass das Revaler Publikum besonders Operetten und Opern liebte, aber selten zu sehen bekam. Gut informiert über die Verhältnisse in Reval bat die Theaterdirektorin die Liebhabergesellschaft, einige Wochen auf der großen Bühne wirken zu dürfen. Dieses Gesuch bewilligten die Mitglieder der Gesellschaft zur Überraschung Kotzebues nicht. Er kommentierte die Entscheidung in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten entschuldigend: Wider Vermuthen haben einige Mitglieder des Liebhabertheaters, ihre Einwilligung zu der Anherokunft der Tillyschen Gesellschaft versagt. Ich halte es für meine Pflicht, dieses anzuzeigen, damit das Publikum es mir nicht zurechne, wenn es sich in seiner Erwartung getäuscht sieht.140

137 138 139 140

Arvelius: Fortsetzung und Beschluß, S. 93 – 96. Wistinghausen: Die Kotzebue-­Zeit in Reval, S. 284 – 287. Ebd., S. 96 – 97. RWN, Nr. 19, 17. 05. 1795.

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Wohl aufgrund der Nachfrage des Publikums und Fürsprache einzelner Mitglieder zeigte sich die Liebhabergesellschaft gegenüber einigen Gastauftritten der professionellen Truppe letztlich doch nicht abgeneigt. Madam Tilly konnte sich problemlos die kleine Gildenstube mieten und erhielt sogar noch einige Dekorationen aus dem Fundus der Gesellschaft. Die Tillysche Gesellschaft fand beim Revaler Publikum Anklang und veranlasste „einige Herren“, einen Plan für eine stehende Bühne auszuarbeiten. Mit der Unterstützung gut betuchter Adliger und Bürger konnte dieser Plan umgesetzt werden, sodass nun ein Teil der früheren Wandergesellschaft eine feste Anstellung in Reval fand. Die geschwächte Liebhabergesellschaft protestierte nicht und führte vorläufig keine Stücke mehr auf, weil man sich nicht mit professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern messen konnte und wollte.141 Damit endete gleichzeitig das mehr als ein Jahrzehnt dauernde Quasi-­Monopol des Amateurtheaters und das Theaterpublikum konnte nun noch direkter als zuvor über die Nachfrage das Repertoire bestimmen. Immerhin verfügte eine professionelle Wandergesellschaft über eine ungleich größere Anzahl eingeübter Stücke als eine Liebhabergesellschaft.142

4.8 Das kurzzeitige Aufleben Obwohl zwischen 1795 und 1798 eine Reihe finanzkräftiger Investoren die beliebte stehende Bühne in Reval unterstützten, endete das Unternehmen zunächst erfolglos (s. Kap. IV.8.3.2). Nur traute sich die Liebhabergesellschaft wieder aufzutreten, zumal es in der Spielzeit 1798/99 keine Konkurrenz in Reval gab und sie den Schutz des Gouverneurs Andreas von Langell genossen.143 Fast schien es so, als hatte sich die Gesellschaft nie zurückgezogen, wenngleich ihr der nach Wien berufene Kotzebue sicherlich fehlte. Baron von Rosen fungierte wieder als Direktor und ihm stand ein vierköpfiges Kollegium zur Seite. Insgesamt wirkten 25 Personen aktiv an der Gestaltung des Theaterprogramms mit: neun Frauen und 16 Männer, 15 Personen gehörten dem Adelsstand an. Sie mieteten sich für wenige Auftritte zunächst in das Gildenhaus ein; insgesamt gaben sie in dieser Saison acht Vorstellungen, die einen Reinerlös von 1.100 Rubeln generierten.144 Dazu kamen noch individuelle Spen-

141 Arvelius: Fortsetzung und Beschluß, S. 97 – 99. 142 Mitte 1797 kommentierte ein Beobachter die Gründung einer stehenden Bühne und die Einstellung des Spielbetriebs des Liebhabertheaters im Journal für Theater und andere schöne Künste folgendermaßen: „Enthusiasmus fürs Theater ist Karakterzug der Revalenser, der Wunsch eine stehende Bühne zu besizzen, schien Bedürfniß. Dazu gesellte sich gegen die Liebhabergesellschaft ein stiller Vorwurf über Eigenmächtigkeit und Superiorität.“ Zit. aus: Rosen: Rückblicke, S. 131. 143 Johann Christoph Petri: Ueber den neuesten Zustand der Gelehrsamkeit, Litteratur, Künste und Wissenschaften in Lief- und Ehstland, in: Allgemeiner Litterarischer Anzeiger, Nr. 114, 30. 07. 1801, Sp.1181 – 1188, hier Sp. 1086. 144 Rosen: Rückblicke, S. 139 – 141.

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den von Mitgliedern der Gesellschaft. Öffentlichkeitswirksam berichteten die Liebhaber über das verteilte Geld und dessen Verwendungszweck.145 Die Höhe der Einnahmen gründete zudem darauf, dass der Stadtrat und der Laiendarsteller Franz Ulrich Albaum bei dem geselligen Verein Erholung darum baten, die geplanten Aufführungen der Liebhabergesellschaft in den Klubräumen zu gestatten. Die Erholung genehmigte die Anfrage wohl auch mit einer deutlichen Mehrheit von 40 zu 10 Stimmen, weil Albaum selbst ein geschätztes Mitglied des Geselligkeitsvereins war. Zudem konnten die Stücke am Anfang des Jahres 1799 teilweise in Verbindungen mit anschließenden Bällen stattfinden und damit die Attraktivität der geselligen Zusammenkünfte erhöhen. Der Mietpreis für die neuen Räumlichkeiten fiel aufgrund dieser Umstände wahrscheinlich geringer aus als im Gildenhaus.146 Im Januar und Februar 1800 fand dann jeweils noch eine Liebhabervorstellung statt. Kotzebues „Die Indianer von England“ und Bretzners „Eheprokurator“ blieben aber die letzten nachweisbaren Aufführungen, die die Gesellschaft inszenierte.147 Es ist unklar, was danach mit dem wohltätigen Unternehmen passierte.

5. Möglichkeiten und Beschränkungen der Schauspielgesellschaften 5.1 Die Suppliken und deren Genehmigung Das Beispiel der Revaler Liebhabergesellschaft soll nicht von der Tatsache ablenken, dass in den meisten nicht-­höfischen Städten Wandertruppen das Theaterleben bestimmten. Oftmals führte ein Mann, Prinzipal oder Direktor genannt, die Truppe, wobei auch Frauen die Leitung übernehmen konnten. Diese Position umfasste sowohl die Auswahl der Stücke sowie deren Be- und Umsetzung als auch die Organisation der finanziellen Angelegenheiten. Eine Gesellschaft bestand zumeist aus Schauspielerinnen und Schauspielern, die nicht selten in verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander standen. Sie erhielten einen Lohn, mit dem sie selbstständig wirtschaften mussten. Die Kernkompetenz der Prinzipale und ihrer Gesellschaften war das Schauspiel und damit direkt assoziierte Fähigkeiten wie das Darstellen, Singen und Tanzen. Um in Stralsund und Reval spielen zu dürfen, mussten Prinzipale den Stadtrat um Erlaubnis bitten, weil es sich bei der Erteilung einer Schauspielkonzession um eine städtische Angelegenheit handelte. Wie oben bereits dargelegt (s. Kap. IV.2.1), verwehrte der Stralsunder Magistrat einigen Gesellschaften das Spielrecht. Daraufhin wandten sich die Prinzipale an die schwedische Regierung und erhielten nicht selten eine Schauspielerlaubnis. Peter Pooth, der in den 1930er-­Jahren im Stralsunder Stadtarchiv arbeitete, schrieb in der 145 Am 14. März 1799 bedankte sich Arvelius bei den Spendern für die Versorgung eines kleinen Jungen. Eine Woche später bestätigte das Fürsorgekollegium den Erhalt von 900 Rubeln in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten. 146 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 56 und 60; vgl. außerdem Rosen: Rückblicke, S. 141. 147 Rosen: Rückblicke, 147.

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Festschrift zum 175-jährigen Jubiläum des Stralsunder Theaters, dass sich die Kompetenzstreitigkeiten in einem langandauernden Briefwechsel niederschlugen. Da Pooth leider auf keine Quelle verwies und die entsprechende Korrespondenz in den Akten nicht auffindbar war, lässt sich dieser Konflikt nicht näher rekonstruieren.148 Allerdings konnten die Anfragen der Prinzipale an die Stadtvertreter gesichtet werden.149 Beispielsweise schrieb der über mehrere Jahre in Stralsund gastierende Prinzipal Johann (Jean) Tilly im Dezember 1784: Auf Begehren vieler dortigen Herrschaften habe ich mich entschlossen, mit meiner Schauspieler-­Gesellschaft von Lübek nach Stralsund zu gehen, um diesen Winter daselbst mit öffentlichen Schauspielen aufzuwarten. Ich kan die Ehre haben zu versichern, daß meine Gesellschaft, seitdem ich das letzte Mahl das Glück gehabt, in Stralsund zu seyn, keinen Abgang an guten Schauspielern erlitten, der nicht vollkommen durch andere eben so fähige Personen ersetzt worden.150

Es scheint wahrscheinlich, dass die Stralsunder „Herrschaften“ Tilly tatsächlich angefragt hatten, wieder in der Hansestadt zu gastieren, weil er dort bereits ab 1781 regelmäßig aufgetreten war. Er versicherte dem Magistrat, keine unersetzlichen Mitglieder der Gesellschaft verloren zu haben und spielte damit wohl auf die gleichbleibend gute Qualität seiner Vorstellungen an. Nicht zuletzt deshalb genehmigte der Rat dieses Gesuch. Mitunter forderte der Rat aber auch nähere Informationen zu der Gesellschaft ein. So vermerkte man schriftlich auf einer Anfrage vom 27. Juli 1772, man wolle „sich zunächst theils nach der Beschaffenheit der Stücke theils nach der Anzahl der Schauspieler näher zu kundigen und danechst weiter entscheiden“.151 Dies ist ein Indiz dafür, dass der Rat zumindest offiziell die „Beschaffenheit“ der Stücke sowie die Zahl der Schauspielerinnen und Schauspieler als wichtige Entscheidungskriterien erachtete. Darüber hinaus erwartete man in Stralsund für den August des Jahres den Besuch der schwedischen Königinwitwe Luise Ulrike, für deren Unterhaltung der Stadtrat mit einer möglichst fähigen Schauspielgesellschaft aufwarten wollte. Das wusste auch Prinzipal Barzanti und versuchte, diese Information zu seinem Vorteil zu nutzen: Ich hoffe um so viel mehr, eine hochgeneigte Willfahrung meiner Bitte zu erlangen; da Ihro Majestat die verwittwete Königin von Schweden des Nächsten alhier eintreffen werden, und

148 Peter Pooth: Aus der Geschichte des Stralsunder Theaters, in: Statistische Amt und Informationsdienst der Stadt Stralsund (Hrsg.): 175 Jahre Stralsunder Theater, Stralsund 1941, S. 17 – 104, hier S. 48 – 49. 149 Vgl. bspw.: StASt, Rep. 18, Nr. 1164, 1165, 1167, 1770, 1772. 150 StASt, Rep. 18, Nr. 1165. 151 StASt, Rep. 18, Nr. 1164.

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ich meines Theils vor hiesige Stadt, bey diesem glücklichen Vorfalle einige Freudensbezeugungen den Tag zu legen gesonnen bin.152

Die Barzantische Gesellschaft erhielt nur eine Woche später ein Aufführungsprivileg und gab drei Vorstellungen vor der royalen Theaterbesucherin.153 Speziell für Luise Ulrike verfasste der Prinzipal einen Prolog mit dem Titel „Apollo unter den Hirten“, der zusammen mit „neue[n] Arien, nebst einem Divertissement; beides von der Composition des Musik-­ Directeurs Escherich“154 zur Aufführung kam. Des Weiteren brachte die Gesellschaft an diesem Abend das bereits vorher in Stralsund gezeigte Lustspiel „Der Lotteriespieler“ von Karl Gotthelf Lessing, einem jüngeren Bruder des berühmten Gotthold Ephraim, zur Aufführung. Aufgrund der Umstände dieser besonders wichtigen Vorstellung kann man bereits erahnen, dass im Theater lustige Stoffe und musikalische Darbietungen ein wichtiges Element im Repertoire der Schauspieler darstellten; sonst hätte die Gesellschaft wohl kaum ein derartiges Stück gewählt.155 In Reval wandten sich die Schauspieltruppen ebenfalls an den Stadtrat, wovon eine Reihe überlieferter Suppliken und Genehmigungsschreiben zeugen.156 Aus diesen ist ersichtlich, dass sich nicht nur Wandergesellschaften um eine Auftrittserlaubnis bemühten. Tatsächlich durften Seiltänzer, „Equilibristen“ (Gleichgewichtsartisten), Marionettenschausteller sowie Künstler mit einer „optischen Maschine“ oder Hunden und Puppen meist für zwei bis vier Wochen auftreten.157 Dementsprechend konzessionierte man auch Wandergesellschaften, deren Stärken oft im komischen Fach lagen, weshalb häufig extemporierte Burlesken zur Aufführung kamen.158 Häufig erlegten die Stadträte von Stralsund und Reval den Schauspielgesellschaften mindestens eine von zwei entscheidenden Bedingungen für eine Auftrittserlaubnis auf: die Unterstützung eines wohltätigen Zwecks und/oder Freikarten für die Obrigkeit. Der Revaler Stadtrat erteilte den angereisten Komödianten im Jahre 1740 nur eine Spielgenehmigung, weil sich diese am letzten Tag ihres Aufenthalts zu einer Vorstellung zum Wohle

152 Ebd. 153 Die Gesellschaft brachte bspw. folgende Stücke zur Aufführung: Am 03. 08. 1772 das Drama „Der Deserteur“, eine deutsche Übersetzung des französischen Schriftstellers Louis-­Sébastien Mercier (StZ, Nr. 90, 01. 08. 1772); am 05.08. das Lustspiel „Der Schatz“ von Gotthold Ephraim Lessing (StZ, Nr. 91, 04. 08. 1772) und am 06.08. das Lustspiel „Der Lotteriespieler“ von Karl Gotthelf Lessing (StZ, Nr. 92, 06. 08. 1772). 154 StZ, Nr. 93, 08. 08. 1772. 155 Für weitere Details zu Lessings Stück und den Kontext der Aufführung s.: Matthias Müller: Lotteriefieber im „Zeitalter der Aufklärung“: Der Fall Stralsund, in: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 52/3 (2014), S. 12 – 16. 156 TLA, Rep. 230. 1.B. O.19. 157 Zu den Suppliken des 17. Jahrhunderts vgl.: Kitching: Wandernde Spieler im Baltikum im 17. Jahrhundert, S. 45 – 70. 158 Rosen, Rückblicke, S. 77.

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der Armen verpflichteten. Für das Jahr 1751 ist überliefert, dass eine derartige Aufführung 53 Rubel einbrachte.159 Die Truppen spendeten jedoch nicht immer nur allgemein für die Bedürftigen, sondern gaben auch einen Teil ihrer Einnahmen für bestimmte Projekte. Die Schaubühne des Direktors Scolari zahlte beispielsweise einen gewissen Betrag an das kaiserliche Kinderhaus.160 Noch am Anfang des 19. Jahrhunderts erhielt der Schauspieler Rundthaler nur eine Spielgenehmigung, weil er sich verpflichtete, „zum besten des Kaiserlichen Erziehungs-­ Hauses alle Monat ein neues Stück aufzuführen und das dafür einkommende Geld, ohne allen Abzug“161 zu spenden. In Stralsund gestaltete sich die Entwicklung der Abgabe ganz ähnlich. Während die Wandergesellschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch eine festgelegte Pauschale oder 25 Prozent ihrer Einnahmen an die Stadt abführen mussten, floss das Geld nachher direkt an das Erziehungshaus für Soldatenkinder oder an die Stadtarmen. Die Schönemannsche Truppe gab 1749 beispielsweise eine Extraaufführung für die „Stadt-­Armen“.162 Um 1800 setzte man die Gebühren auf 24 Schillinge pro Vorstellung fest.163 Die genannten Maßnahmen ergaben sich aus dem allgemein üblichen Bestreben der Räte, aus dem Theatervergnügen einen finanziellen Profit für die Bedürftigen zu generieren.164 Die zweite Bedingung für eine Spielerlaubnis stellte die Vergabe von Freikarten an das „Collegium Consulare“ oder „Collegium Consulum“ in Reval, d. h. den vier Bürgermeistern der Stadt und dem Syndikus, dar. Der Prinzipal Hilverding garantierte dem Kollegium sechs Freikarten und durfte daraufhin in Reval auftreten. Ähnlich erging es der Gesellschaft von Hindeberg, der man ebenso sechs Freikarten abverlangte.165 Vergleichbar handhabte man die Vergabe der Freikarten in Stralsund.166 Diese Maßnahme bewirkte zweierlei: Einerseits bestätigte die Anwesenheit der lokalen Autoritäten die Rechtmäßigkeit der Vorstellungen. Da die hochrangigen Bürger für jeden im Publikum sichtbar das dargebotene Stück sahen, konnte es für die anderen (bürgerlichen) Besucher nicht unsittlich oder anrüchig sein, denn ansonsten hätte man die Bürgermeister indirekt der Unmoral bezichtigen müssen. Andererseits sorgten die Stadtvertreter für die Einhaltung von gewissen Mindestanforde 159 160 161 162

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Ebd., S. 72. Ebd., S. 72 und 75. TLA, Rep. 230. 1.B. O.19, Schreiben vom 19. 06. 1800. Der Text des Anschlagszettels lautete: „Für die Stadt-­Armen in Stralsund wird heute (den 5. August) auf der bekannten Schaubühne der Hochdeutschen Gesellschaft ein dazu verfertigter Prolog nebst einem noch nicht vorgestellten Schauspiel […] aufgeführt werden. […] Da die heutige Einnahme gänzlich den Armen gewidmet ist, so verspricht man sich ein zahlreiches Auditorium.“ Zit. aus: Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, S. 225 – 226. Pooth: Aus der Geschichte, S. 17 – 104, hier S. 57. Diese Praxis hielt in vielen Städten, wie Köln oder Augsburg, noch bis weit ins 19. Jahrhundert an. Vgl. Frank Möller: Zwischen Kunst und Kommerz. Bürgertheater im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein und Andreas Schulz (Hrsg.): Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelten, München 1996, S. 19 – 33, hier S. 21. Rosen: Rückblicke, S. 74 – 75. Pooth: Aus der Geschichte, S. 57.

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rungen, weil sie sich durch ihre Anwesenheit selbst von der Qualität der Aufführungen ein Bild machten. Sollten die Possen zu derb oder die Sprache zu obszön sein, konnten sie der Gesellschaft immer noch die Spielerlaubnis entziehen oder zumindest mit diesem Schritt drohen. Dementsprechend bemühten sich die Prinzipale, nicht zu frivol und vulgär aufzutreten. Offiziell gaben sich kluge Prinzipale so, wie es die gebildete Öffentlichkeit von ihnen erwartete. Dies veranschaulicht der folgende Auszug der Abschiedsrede der in Reval gastierenden Scolarischen Gesellschaft aus dem Jahre 1753: Ihr habt gezeigt, daß Euch der Schauplatz schätzbar ist, Daß ihr den Unterschied von schlecht und guten wißt, Daß ihr ein sittsam Spiel für gut und lehrreich haltet, Daß bey der Dichter Gluth nicht euer Herz erkaltet, Daß euch ein reiner Schertz, kein grober Schmutz ergötzt, Kurtz, daß ihr liebt, was Pflicht und Wohlstand nicht verletzt; Ihr kennt der Bühne Zweck, sie soll die Tugend preisen, Die Laster züchtigen und ihre Flecken weisen.167

5.2 Das Repertoire der Schauspielgesellschaften 5.2.1 Allgemeine Entwicklungen Was führten Wandergesellschaften auf, sobald sie ihre Schauspielerlaubnis erhalten hatten? Um dieser Frage näher zu kommen, bleibt die Stralsundische Zeitung für die Sundstadt unentbehrlich, weil die jeweils anwesende Schauspieltruppe die Bühnenstücke darin regelmäßig wenige Tage vor der Aufführung annoncierte. Das folgende Beispiel aus dem Jahre 1769, das „Directeur“ Johann Christian Wäser inserierte, soll exemplarisch für dutzende Anzeigen ähnlicher Art wiedergegeben werden: Am Mittwochen, als den 29sten dieses [Monats], wird die hier aus Hamburg angekommene Wäsersche Gesellschaft Deutscher Schauspieler, mit Bewilligung einer hohen Obrigkeit, ihre Schaubühne mit dem Trauerspiele, betitelt: Codrus, eröffnen. Den Beschluß wird ein neu gesetztes Ballet, die galante Hauben-­Putzerin betitelt, machen. Das Entrée zur Loge ist 24 Lßl.; zum Parterre 16, und zur Gallerie 8 Lßl.168

Der Prinzipal bewarb ein bekanntes Trauerspiel, an das sich wie so häufig ein (kurzes) Ballett zum Ausklang anschloss, und hoffte damit das Publikum anzusprechen. Die einzige Information, die man für gewöhnlich zusätzlich lesen kann, ist der Spielbeginn, der für gewöhnlich gegen 5 Uhr nachmittags erfolgte. Die Gesellschaft befand sich jedoch noch 167 Zit. aus: Rosen: Rückblicke, S. 73. 168 StZ, Nr. 23, 21. 03. 1769.

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nicht in Stralsund, als die Anzeige erschien, und wusste daher den Spielbeginn eine Woche vor dem Aufführungsdatum wohl selbst noch nicht. Diese wichtige Nachricht machte der Prinzipal sicherlich auf einem Theaterzettel rechtzeitig bekannt. Eine systematische Analyse der Anzeigen verdeutlicht, dass die in Stralsund gastierenden Prinzipale sich aus dem gängigen Fundus des Sprechtheaters bedienten. Das Stralsunder Dramenangebot entsprach von 1780 bis 1806 somit dem vieler anderer zeitgenössischer Bühnen.169 In den letzten beiden Dekaden des 18. Jahrhunderts griffen die Wandergesellschaften bei einem Drittel der Vorstellungen auf Übersetzungen internationaler Dramatiker wie Pierre-­Augustin Caron de Beaumarchais, Carlo Goldoni, William Shakespeare und Voltaire zurück. Prinzipale räumten allerdings auch tiefgründigen deutschen Autoren wie Gotthold Ephraim Lessing 170 und Friedrich Schiller einen Platz in ihrem Programm ein. Vor allem aber erfreuten sich massenwirksame Stücke von Joseph Marius Franz von Babo, Friedrich Wilhelm Gotter, Friedrich Ludwig Schröder, Friedrich Wilhelm Ziegler sowie besonders August Wilhelm Iffland und August von Kotzebue großer Beliebtheit.171 Ein bisher unbeachtetes Inventar der Stücke, die sich in gedruckter Form im Besitz des Prinzipals Johann Ferdinand Kübler befanden, untermauert und vervollständigt dieses Ergebnis. Kübler gastierte zwischen 1795 und 1797 regelmäßig in Stralsund. Bei seinen vorherigen Stationen in Greifswald, Schwerin, Doberan, Wismar und Rostock hatte sich der Prinzipal allerdings derart verschuldet, dass er seinen gesamten Besitz, wozu alle gedruckten Bühnenwerke zählten, an den Stralsunder Kaufmann Klünder abtreten musste.172 Das „Verzeichniß, der in der Theaterbibliothek vorhandenen Bücher“ vom 23. Januar 1796 gliedert sich in fünf Abschnitte. Zunächst erfolgt eine Auflistung von 42 Trauerspielen, an die sich 57 „Schauspiele und Dramas“ anschließen. Am meisten Platz nehmen die danach verzeichneten 116 Lustspiele ein, bevor das Inventar mit zwei Opernkategorien 169 Horst Hartmann: Zur massenwirksamen Dramatik im Stralsunder Komödienhaus am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Wilhelm Kühlmann und Horst Langer (Hrsg.): Pommern in der Frühen Neuzeit. Literatur und Kultur in Stadt und Region, Tübingen 1994, S 649 – 657. Hartmanns Aussage fußt auf der Vorarbeit von Wolfgang Klötzer, der in seiner unveröffentlicht gebliebenen Dissertation auch auf das Theaterwesen einging (S. 168 – 178). Für die Auflistung des Repertoires zog er die Stralsundische Zeitung heran. Klötzer zufolge kamen zwischen 1780 und 1815 37 Autoren mit insgesamt 107 Werken zur Aufführung, wobei das Theater Anfang des 19. Jahrhunderts über mehrere Jahre geschlossen blieb. Kotzebue wurde mit 33 Aufführungen deutlich am meisten gespielt. Es folgten Iffland (10), Schiller (8) und Shakespeare (7). Vgl. Wolfgang Klötzer: Ausgewählte Probleme zu den Literaturverhältnissen in Stralsund zur Zeit der Epochenwende um 1800, Diss. phil. Neubrandenburg 1990, S. 172. 170 Natürlich wurde Gotthold Ephraim Lessing schon deutlich vor 1780 in Stralsund aufgeführt. So warb bspw. der Prinzipal Wäser am 01. 04. 1769 damit, dass man das „von dem berühmten Herrn Leßing nach dem Englischen Geschmack verfertigte Original Tauerspiel, betitelt: Miß Sara Sampson“ spielen werde. 171 Hartmann: Zur massenwirksamen Dramatik, S. 650. 172 Für den Kaufvertrag sowie das gesamte Inventar s.: StASt, Rep. 3, Nr. 2560. Eine genauere Auswertung des Inventars erfolgt im Kap. IV.8.3.1.

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abgeschlossen wird. Bei der ersten Kategorie handelt es sich um 14 Opern, „wozu auch die vollständige Musik vorhanden“ ist, während bei der zweiten 12 Opern, „wozu keine Musik vorhanden ist“, angeführt werden. Die Autoren oder Übersetzer der Stücke werden ausnahmslos nicht genannt und auch das Erscheinungsjahr der Textvorlage bleibt stets offen. Nur die Komponisten der Opernmusik, zu denen die Noten vorhanden sind, erscheinen neben den Titeln. Die einzige Zusatzinformation bei allen anderen Kategorien ist die Anzahl der Akte jedes Stücks. Damit suggeriert das Inventar, dass die Verfasser sämtlicher Opernlibretti sowie die Autoren der anderen Werke des Sprechtheaters den Verkaufspreis nicht beeinflussten, während die Komponisten und die Länge der Stücke ein relevantes Kriterium bildeten. Unter den Komponisten befinden sich national und international angesehene Komponisten. Mit drei Opern erscheint Johann Carl Ditters von Dittersdorf am häufigsten unter den gelisteten Personen.173 Mit jeweils zwei Stücken sind Carl Friedrich Ebers 174 und Nicolas-­Marie Dalayrac 175 vertreten. Jeweils eine Oper wird für sieben Komponisten gelistet, unter denen sich beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozart, Wenzel Müller, Pietro Alessandro Guglielmi oder Niccolò Piccinni befinden.176 Damit verfügte Kübler über eine gewisse Anzahl zeitgenössisch beliebter Opern, von denen Mozarts „Zauberflöte“ den größten Publikumserfolg erzielte.177 Nach dem Inventar folgt noch eine kurze Auflistung von „dazu gekommenen Opern“ und „dazu gekommenen Stücken“. Diese undatierte Liste entstand wohl nach der Erstellung des ursprünglichen Inventars im Januar 1796 und vor der endgültigen Abreise Küblers im Frühjahr 1797. Besonders interessant erscheint bei dem Inventar das Verhältnis zwischen Opern und Stücken des Sprechtheaters. Während 21 Opern mit Musik angekauft wurden, was ihren Bestand mehr als verdoppelte, beträgt die Zahl der neuen Stücke gerade einmal 28. Wenn man ferner bedenkt, dass sich unter diesen 28 Werken zusätzlich zehn Opernlibretti ohne Musik befinden, fällt dieser Zuwachs im Verhältnis zu den über 200 vorhandenen Lust-, Trauer- und Schauspielen sehr moderat aus. Offenbar gab es beim Publikum vor allem eine große Nachfrage nach (neuen) Opern, weshalb der frühere Prinzipal Kübler mit der finanziellen Unterstützung des Kaufmanns Klünder überwiegend das Angebot des Musiktheaters ausbauen wollte. Zumindest gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich die Stralsunder Obrigkeit die Aufführung von Opern vertraglich zusichern ließ, wie es in

173 Die drei Opern sind: „Hieronymus Knicker“, „Das rothe Käppchen“ und „Der Apotheker und Doktor“. 174 „Die bezauberte Blumeninsel“ und „Der Emerit auf Formentera“. 175 „Die Wilden“ und „Die beyden kleinen Savoyarden“. 176 Von Mozart „Die Zauberflöte“, von Müller „Die Zauberzitter“, von Guglielmi „Robert und Calliste“ und von Piccini „Das gute Mädchen“. Weiterhin werden noch Vincenz Martinis „Der Baum der Diana“, Johann Adam Hillers „Der lustige Schuster“ und Bauers „Das Gespenst auf dem Lande“ aufgezählt. 177 Vgl. unten dazu Näheres.

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anderen Städten der Fall war, weil die Theaterunternehmer für gewöhnlich Opernvorstellungen wegen der hohen Kosten scheuten.178 Der Besitz von Opern oder Schauspielen allein sagt jedoch noch nichts über die Aufführung der Stücke aus. Ein Abgleich des Inventars mit der Stralsundischen Zeitung verrät, welche Werke zwischen Dezember 1795 und Mai 1797 tatsächlich wie häufig durch Kübler zur Aufführung gelangten. Dabei ergibt sich, dass man in der Zeit Opern sogar häufiger präsentierte als Lustspiele (teilweise auch als „Possen“ bezeichnet). Schauspiele waren zudem noch recht häufig zu sehen, während Trauerspiele nur selten auf dem Plan standen. Bei den Opern blieb Mozarts „Zauberflöte“ das am häufigsten präsentierte Werk, obwohl es bereits mehrere Vorstellungen im Juni und Juli 1795 gegeben hatte und somit für das Publikum gar keine Neuheit mehr darstellte.179 Danach folgte schon Mozarts „Die Einführung aus dem Serail“180 und Giuseppe Sartis „Im trüben ist gut Fischen“181. Zum erstgenannten hatte Kübler erst kurz vorher die Musik erhalten und die zweite Oper gehörte zu den komplett neu erworbenen Stücken, sodass die Nachfrage nach neuen Opern tatsächlich hoch gewesen sein muss. Das einzige Trauerspiel, das in dieser Zeit auf die Bühne kam, war Zschokkes „Abällino, der große Bandit“.182 Doch nur zwei der drei Vorstellungen inszenierte die Wandergesellschaft als Trauerspiel; das andere Mal führten sie es als „Schauspiel“ auf.183 Bei den Lustspielen erfreute sich das neue erworbene „Die Heirat durch ein Wochenblatt“ von Schröder 184 großer Beliebtheit, genauso wie Kotzebues „Die Witwe und das Reitpferd“185 oder „Der Mann von Vierzig Jahren“.186 Das am meisten gegebene Schauspiel, „Die Dienstpflicht“, hatte Iffland verfasst.187 Zwar erlaubt es die Quellenlage nicht, für Stralsund einen allgemeinen Bedeutungsrückgang der Trauerspiele eindeutig nachzuzeichnen, allerdings sprechen einige Indizien für eine solche Entwicklung. Zunächst einmal fällt auf, dass die ersten Prinzipale ihre Bühne mit einem Trauerspiel eröffneten. Obgleich das neue Komödienhaus 1766 mit einem Maskenball begann, warb der Prinzipal Leppert mit dem Trauerspiel „Codrus“ in der Bearbeitung von Johann Friedrich von Cronegk als erstes Stück.188 Die Wäsersche Gesellschaft eröffnete die Bühne 1769 ebenfalls mit dem Trauerspiel „Codrus“, sodass dieses Genre für die wichtige erste Vorstellung in den 1760er-­Jahren angemessen schien. 178 Möller: Zwischen Kunst und Kommerz, S. 23. 179 StZ Nr. 151, 19. 12. 1795; Nr. 72, 16. 06. 1796; Nr. 21, 18. 02. 1797 und Nr. 23, 23. 02. 1797. 180 StZ Nr. 72, 16. 06. 1796 und StZ, Nr. 28, 07. 03. 1797 181 StZ, Nr. 17, 09. 02. 1797 und StZ Nr. 24, 25. 02. 1797. 182 StZ, Nr. 14, 02. 02. 1796 und StZ, Nr. 21, 18. 02. 1797. 183 StZ, Nr. 151, 19. 12. 1795. 184 StZ, Nr. 1, 02. 01. 1796 und StZ, Nr. 23., 23. 02. 1797. 185 StZ, Nr. 20, 16. 02. 1797. 186 StZ, Nr. 24, 28. 02. 1797. 187 StZ, Nr. 17, 09. 02. 1797 und StZ, Nr. 28, 07. 03. 1797. 188 StASt, Rep. 18, 1164.

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Doch im November 1781 bewarb Prinzipal Johann Tilly als erstes Stück seiner Gesellschaft kein Trauerspiel, sondern das Schauspiel „Die Gefahren der Verführung“ von Schröder.189 Zudem brachte die Tillysche Truppe in den folgenden drei Monaten vier Opern und vier Ballette sowie neun Lustspiele auf die Bühne. Dennoch erfreute sich das Trauerspiel mit fünf Vorstellungen einer immer noch bemerkenswerten Beliebtheit. „Agnes Bernauerin“ von Joseph August von Toerring musste „auf Verlangen“ des Publikums nach der Premiere am Folgetag sogar wiederholt werden.190 Zudem fand Shakespeares Trauerspiel „Romeo und Julia“ in der Version von Christian Felix Weiße Anklang bei den Zuschauern. Dieser Erfolg gründete sicherlich insbesondere auf Madam Scholtz, die umjubelt als Julia in Stralsund gastierte. Scholtz, die Schwester von Johann Tilly, spielte ansonsten vornehmlich in Berlin.191 Alles in allem blieben Trauerspiele im Stralsund der 1780er-­Jahre eine gefragte Gattung, was nicht nur an Schillers Publikumserfolg „Die Räuber“ lag. Erst in den 1790er-­ Jahren lässt sich insbesondere mit der Küblerschen Truppe ein deutlicher Rückgang an Trauerspielen erkennen. Nach den Ausführungen zum Trauerspiel sollen nun die Opernaufführungen näher beleuchtet werden. Aus dem Abgleich des bereits oben verwandten Inventars mit der Stralsundischen Zeitung ergibt sich nämlich weiterhin, dass sich das Repertoire an Opern zwar nicht so vielfältig gestaltete wie das der Lustspiele. Aber die Aufführungsfrequenz neuer Stücke des Musiktheaters überstieg die Aufführungsanzahl einzelner Stücke des Sprechtheaters deutlich. Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass einige wenige Opern die gleiche Nachfrage generierten wie eine Vielzahl dramatischer Bühnenwerke. Die Beliebtheit der Opern war kein plötzlich auftretendes Phänomen der 1790er-­Jahre. Bereits 1768, also nur zwei Jahre nach der Eröffnung des Komödienhauses, gastierte Prinzipal Gilly mit seiner „deutschen Opera comique“ in Stralsund und präsentierte am 11. April die Operette „Matz und Anne“ mit der Musik des böhmischen Komponisten Anton Laube. Das Orchester bestand aus immerhin 19 Personen.192 Gilly gab noch bis Ende Juni Vorstellungen, die er allerdings nicht in der Stralsundischen Zeitung bekannt gab, sondern auf separat gedruckten Theaterzetteln bewarb. Nur seinen letzten Auftritt machte er noch in der Zeitung publik. Es sollte zuerst „Raton et Rosetti“ mit einigen Arien aus der Oper „Ninette à la Cour“ aufgeführt werden, worauf die komische Oper „Rose et Colas“ mit der Musik von Pierre-­Alexandre Monsigny folgte.193 Ein Jahr später gastierte die „Gesellschaft 189 190 191 192

StZ, Nr. 137, 20. 11. 1781. StZ, Nr. 143, 04. 12. 1781. StZ, Nr. 6, 12. 01. 1782. StZ, Nr. 28, 09. 04. 1768. Bei dem Gastspiel von Mme. Tilly im Jahre 1795 in Reval bildeten acht lokale Musiker ein Kammerensemble, das sich vor der Bühne platzierte. Vgl. Kristel Pappel: Von der Wandertruppe zum ständigen Theater – Schwierigkeiten des Übergangs im Tallinner (Revaler) Musiktheater 1795 – 1809, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa. Mitteilungen der internationalen Arbeitsgemeinschaft an der Technischen Universität Chemnitz 3 (1998), S. 3 – 13, hier S. 8. 193 StZ, Nr. 50, 28. 06. 1768.

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Das Theater

Deutscher und Italienischer Operisten“ und inszenierte hauptsächlich Stücke italienischer Herkunft.194 Somit reüssierten Opern und Operetten bereits Ende der 1760er-­Jahre, obwohl diese Vielzahl an musikalischen Aufführungen mit den zufällig gerade gastierenden Wandergesellschaften zusammenhing. In den folgenden Jahren lassen sich für die Gesellschaften von Wäser, Döbbelin und Barzanti keine musikalischen Stücke nachweisen. Spätestens mit der Gesellschaft deutscher Schauspieler fanden Opern allerdings wieder den Weg ins Programm.195 Im Jahre 1777 führten sie die komische Oper „Der Kobold“ auf. Die Musik stammte vom Musikdirektor Escherich und das Libretto von Daniel Heinrich Thomas; beide waren Stralsunder. Sofern ein im Theater-­Journal für Deutschland veröffentlichter Brief richtig informiert, dann wohnten in Stralsund Ende der 1770er-­Jahre zahlreiche Theaterdichter, die für die Musik von Opern und Operetten die Texte lieferten.196 Somit bestand bei einem Teil der lokalen Bevölkerung ein Interesse, das Musiktheater zu fördern. Mit der Tillyschen Gesellschaft, die in den 1780er-­Jahren oft in Stralsund gastierte, entwickelten sich Opern dann zum Standardrepertoire,197 bevor sie Mitte der 1790er-­Jahre den Spielplan von Kübler dominierten. In Reval erhielten Konzerte in den letzten beiden Dekaden des 18. Jahrhunderts starken Zulauf.198 Das Theater tangierte diese Entwicklung insofern, als dass das reine Sprechtheater weniger Anziehungskraft entfaltete, wie der zeitgenössische Kommentator Petri berichtet: Die Revaler seien „grosse Liebhaber der Musik […] und lieben darum auch keine Art der Schauspiele mehr, als Operetten. Daher werden in Reval meist Operetten, selten ein Lustspiel, nie ein Trauerspiel aufgeführt.“199 Es verwundert daher nicht, wenn August von Kotzebue dem Zeitgeist entsprechend begann, in Zusammenarbeit mit Musikliebhabern oder Komponisten Schauspiele mit Musik zu entwerfen. Beispielsweise veröffentlichte er 1789 in Reval das Schauspiel „Die väterliche Erwartung“. Das Titelblatt verwies eindeutig auf die „untergemischten Gesänge“, die Gymnasialprofessor Hörschelmann komponiert hatte.200 Da die Revalischen Wöchentlichen Nachrichten nur sporadisch über die Theatervorstellungen informierten und nur wenige Theaterzettel überliefert sind, muss offenbleiben, ob sich das Repertoire in Reval während des Untersuchungszeitraums ähnlich entwickelte wie 194 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 39, Pooth, Aus der Geschichte, S. 49. 195 Winkler: Musiktheater in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 220. 196 „An Theaterdichtern besitzt übrigens Stralsund den Sekretair Buschmann, Urheber des Grafen von der Weide und der komischen Oper die Schleichhändler; Herrn Thomas, Verfasser der von Frischmuth in Musik gesetzten kranken Frau, des Kobolts, einiger Prologen [sic] und verschiedener Theaterreden.“ Theater-­Journal für Deutschland, Bd. 9 (1779), S. 79. 197 Winkler: Musiktheater in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, S. 221. 198 Zur Musikkultur in Reval während des 18. Jahrhunderts s.: Heidi Heimaa: Tallinna muusikaelust 18. sajandil [Das Tallinner Musikleben im 18. Jahrhundert], in: Eesti Ajalooarhiivi Toimetised/Acta et Commentationes Archivi Historici Estoniae 21 (28) (2014), S. 193 – 222, engl. Zusammenfassung S. 219 – 222. 199 Petri: Briefe über Reval, S. 84 – 85. 200 August von Kotzebue: Die väterliche Erwartung, eine ländliche Familien Scene in Esthland, Reval 1789.

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das in Stralsund. Allerdings listete Stollmers, der Theaterdirektor der stehenden Bühne, die Aufführungen seiner Truppe in der Sommerspielzeit 1797 regelmäßig auf, weshalb die subjektive Wahrnehmung Petris einer Prüfung unterzogen werden kann.201 Zwischen Ende April und Mitte August trat die fest angestellte Schauspieltruppe an 26 Abenden auf und brachte dabei insgesamt 33 Vorstellungen auf die Bühne. Mit Abstand am wenigsten zeigten sie Trauerspiele (2), während sich die Zahl der aufgeführten Opern und Singspiele (9), Lustspiele (10) und Schauspiele (12) nur geringfügig unterschied. Damit führten musikalische Inszenierungen zwar nicht das Repertoire an, jedoch standen sie – wie bei Kübler in Stralsund – deutlich mehr in der Gunst des Publikums als Trauerspiele. Das lag vor allem an der mehrmals wiederholten Aufführung der „Entführung aus dem Serail“. Petris Kommentar veranschaulicht somit die steigende Nachfrage nach Musik auf der Theaterbühne. Trotzdem wirkt seine Aussage, dass man keine Trauerspiele und nur wenige Lustspiele aufgeführte, zumindest für 1797 deutlich überspitzt formuliert. Die wachsende Beliebtheit der Oper in Stralsund und Reval deckt sich mit ihrem allgemein auf deutschsprachigen Bühnen zu beobachtenden Aufstieg zwischen ca. 1770 und 1800. Anhand einer quantitativ-­vergleichenden Analyse ausgewählter deutschsprachiger Bühnen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat der Germanist Reinhart Meyer die wachsende Bedeutung des Musiktheaters (Opern, Operetten, Ballette und Divertissements) überzeugend demonstriert. Gleichzeitig, so die Studie weiter, erhöhte das Schauspiel als einziges Genre des Sprechtheaters seinen Anteil am Repertoire. Den Zugewinn erzielte es auf Kosten des Trauerspiels, das in den 1790er-­Jahren nur noch regional bedingte Erfolge feierte, insgesamt aber nur von geringer Relevanz für die Spielpläne war. Das immer noch populäre Lustspiel fungierte dagegen verstärkt als Verschleißware, d. h. als kurzfristige und kurzweilige Unterhaltung.202 Der Erfolg der Lust- und Schauspielautoren Kotzebue, Iffland und Schröder zwischen 1780 und 1806 bestätigt die steigende Beliebtheit der Schauspiele und anhaltende Nachfrage nach Lustspielen in Stralsund. Mit 13 Stücken führte Kotzebue die Liste der präsentierten Autoren an, gefolgt von Iffland und Schröder mit neun bzw. sieben Werken.203 Für ihre Popularität spricht weiterhin, dass Prinzipale gern explizit mit diesen angesehenen Namen warben, wie es u. a. für 1798 belegbar ist: „Es werden die neuesten Schauspiele von Ifland, Kotzebue, Schröder und andern beliebten deutschen Schauspiel-­Dichtern, so wie die beliebtesten Singspiele aufgeführt.“204

201 Die nun folgenden Angaben ergeben sich aus den Anzeigen RWN, Nr. 19, 11.05.; Nr. 20, 18.05.; Nr. 26, 29.06.; Nr. 28, 13. 07. 1797. 202 Reinhart Meyer: Der Anteil des Singspiels und der Oper am Repertoire der deutschen Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Heidelberg 1981, S. 27 – 76. 203 Hartmann: Zur massenwirksamen Dramatik, S. 650. 204 StZ, Nr. 111, 15. 09. 1798.

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Das Theater

Die Nachfrage nach Lust- und Schauspielen in Reval lässt sich für das Jahr 1797 insbesondere an zwei bereits häufig genannten Autoren festmachen: Iffland und Kotzebue. Etwas überraschend übertraf die Anzahl von Ifflands Stücken (9) die Kotzebues (7). Womöglich hatte das Publikum noch aus der Zeit des Liebhabertheaters, bei dem der dort zeitweise sehr aktive Kotzebue einen Gutteil des Repertoires selbst verfasst hatte, schon zur Genüge gesehen. Lediglich seine neuen Werke „Der Leibkutscher Peter des Dritten“ und „Der Opfertod“ wünschten sich die Revaler an mehreren Abenden. 5.2.2 Die Bearbeitung der Textvorlagen Das Publikum forderte hochwertig aufgeführte Neuheiten und strafte ungewünschte Wiederholungen mit seiner Abwesenheit. Kritiker verlangten zudem „natürliche“ und textsichere Schauspielerinnen und Schauspieler, harmonische Musik, klaren Gesang sowie authentische Kostüme und Kulissen. Allein diesen Ansprüchen zu genügen, stellte eine große Herausforderung für Prinzipale dar. Doch die wachsende Nachfrage nach Opern erschwerte ihre Arbeit zusätzlich, da sie sich nun um ein angemessenes Orchester kümmern mussten. Machten sie es nicht, riskierten Gesellschaften einen abfälligen Kommentar wie den Petris: „Du kannst Dir indess leicht vorstellen, wie die Operetten ausfallen müssen, da nur wenige Musikliebhaber das kleine Orchester ausmachen. Das kümmert sie [die Revaler] aber nicht, wenn sie nur trillern und pfeifen hören.“205 Zudem bedurfte eine Opernproduktion größerer Investitionen für Kostüme und Kulissen, sodass sie ein Publikumsmagnet werden musste, um die entstandenen Kosten zu amortisieren. Nur wenn eine Gesellschaft ihre vorhandenen Kapazitäten optimal nutzte, konnte sie den vielfältigen Ansprüchen einigermaßen genügen, ohne sich zu verschulden. Anders formuliert, sie mussten auf Vorhandenes so gut es ging aufbauen. Bühnenbild, Kostüme, Charaktere und Handlungsverläufe neuer Stücke durften nicht zu kompliziert, umfangreich oder speziell sein, weshalb viele Gesellschaften die Plots – immer mit Blick auf den Geschmack des Publikums und der Obrigkeit – kürzten oder umschrieben. Ein anschauliches Beispiel für die Bearbeitung der Textvorlagen liefert die Aufführung des Schillerschen Dramas „Kabale und Liebe“ in Stralsund, das erheblich vom Original abwich. Für das Publikum schien das jedoch keineswegs ein Problem darzustellen, da der Prinzipal Tilly das abweichende Ende öffentlichkeitswirksam angekündigte: Morgen ist auf allgemeines Begehren Kabale und Liebe, das große und bekannte Trauerspiel. Wir wollen aber das inständige Anliegen unserer geneigten Gönner willfahren und es als Drama aufführen, so daß die Catastrophe sich glücklich endet.206

205 Petri: Briefe über Reval, S. 85. 206 StZ, Nr. 32, 15. 3. 1785.

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Der Begriff „Gönner“ meinte womöglich die Ratsherren, die Tilly bereits seit mehreren Jahren eine Spielerlaubnis erteilt hatten. Sie wären zumindest befugt gewesen, entscheidende Änderungen zu erwirken. Andererseits könnte es sich auch um das Publikum handeln, das ein Happy End lieber sah als eine Katastrophe. Einen weiteren Beleg für die Bearbeitung eines Trauerspiels zu einem Schauspiel findet sich 1783 in der Litteraturund Theater-­Zeitung, in der ein Mitglied der Tillyschen Gesellschaft über die Praxis des Umschreibens informierte. Doch eines noch, bevor ich völlig schliesse. – Als hier [in Stralsund] die Räuber gegeben werden sollten, ersuchte Hr. Tilly mich, ihm das Stück etwas abzukürzen. Das that ich denn, und bey der Gelegenheit kam auch mir die Grille [der Gedanke], daran ändern zu wollen. Die Katastrophe schien mir unnatürlich, allzu mordvoll, und von keiner Wirkung zu seyn. Ich schmeltze sie also ganz um. Bloß Franz war und blieb todt. Den Vater, Amalia, Schweitzern, Carln, alle ließ ich leben, Carln und die Räuber umkehren, Amalie mit ihrem Geliebten glücklich werden, den Alten ins Kloster und die übrigen in die weite Welt gehen. Der genauere Detail wäre für einen Brief zu weitschweifig. Hier wurde das goutirt, in Rostock auch.207

Eine Aufführung der „Räuber“ mit derartigen Änderungen verlor viel von seiner ursprünglichen Wirkung und seines gesellschaftskritischen Inhalts.208 Interessanterweise bat Tilly – wahrscheinlich auf Betreiben des Stadtrates – nur darum, das Stück „abzukürzen“ und nicht den Plot auf ein harmonisches Ende hin umzudichten. Doch dem Autor des Briefes erschien die Katastrophe „unnatürlich“, „mordvoll“ und wirkungslos, weshalb er sich für eine grundlegende Umgestaltung der Handlung entschied. Damit nahm nicht nur der Magistrat oder der Prinzipal direkt Einfluss auf den Plot eines Stücks, sondern auch einzelne Mitglieder einer Gesellschaft, die den Zuschauergeschmack antizipierten. Optimal erwies es sich für eine Gesellschaft, wenn sie selbst einen anerkannten Bühnenautor oder Komponisten beschäftigte, der speziell auf das Ensemble abgestimmte Stücke verfasste. Diese komfortable Situation ergab sich in Reval zumindest während der erfolgreichen Zeit des Liebhabertheaters, als August von Kotzebue das Repertoire wesentlich mitbestimmte (s. Kap.  IV.4.6). Der Autor versuchte, die darstellerischen Möglichkeiten der Liebhaber/innen bei der Besetzung der Rollen zu berücksichtigen. Denn bei den Stücken, in denen er die Figuren selbst schuf, konnte er direkt auf das individuelle Talent der Laien eingehen. Bei seinen Werken hatte er wohl außerdem die Wirkung der Figuren im Blick, sodass er besonders nahestehenden Personen sehr positiv wahrgenommene Charaktere übertragen konnte. Bei der Uraufführung der „Sonnenjungfrau“ am 8. Dezember 207 Litteratur- und Theater-­Zeitung, Nr. 39, 1783, S. 616 – 619, hier S. 618 – 619. 208 Zwar wurde das Stück am 22. März für den folgenden Tag in der Stralsundischen Zeitung angekündigt, aber es kam wohl trotz der Änderungen nicht zu einer Aufführung, weil der Rat diese untersagte. Vgl. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 55, 61 – 66 u. 75 – 76.

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1789 vergab er beispielsweise die Rolle der Amazili, einer der Sonnenjungfrauen, an seine Frau Friederike. Nachdem sie ein Jahr später verstorben war, erinnerte er sich in seiner Autobiographie melancholisch an diese Vorstellung: Heute ist in Reval Jubel und Freunde, heute vor einem Jahr wurde meine Sonnenjungfrau zu ersten Mahle dort gespielt, meine theure Friederike machte die Amazili, der Kranz im Haar stand ihr so gut – o Gott! welch eine schmerzliche Erinnerung!209

Obwohl Kotzebues Trauer über den Tod seiner geliebten Frau hervortritt, vermittelt er zusätzlich den Eindruck, als habe er Friederike bereits an dem Premierenabend in einem besonders guten Lichte präsentieren wollen. Kotzebues Stücke durften nicht zu kompliziert werden, wenn sie für eine Liebhabergesellschaft spielbar sein sollten. Die großen Bühnenerfolge „Menschenhaß und Reue“ und „Die Indianer von England“ wurden beispielsweise von Dilettanten in Reval uraufgeführt, weshalb sie den eingeschränkten Möglichkeiten entsprechen mussten.210 Wahrscheinlich gründet die zeitgenössische Beliebtheit Kotzebues neben dem Publikumsgeschmack auch darauf, dass er den Schauspielgesellschaften viele neue und einfach zu spielenden Werke zur Verfügung stellte. Das Repertoire musste für die vielen von Ort zu Ort ziehenden Wandergesellschaften, die wenig Zeit zum Proben aufwenden konnten, leicht umzusetzen sein. 5.2.3 Zensur Bei sämtlichen Aufführungen galt es aber nicht nur, den Publikumsgeschmack zu befriedigen oder die Fähigkeiten der Schauspielgesellschaft einzubeziehen, sondern zusätzlich die bestehende Ordnung nicht zu gefährden. Aufgrund der Überzeugungskraft des Theaters, das das soziale Miteinander täuschend echt nachstellen konnte, mussten ordnungsgefährdende Stücke zensiert und ihre Aufführung im Extremfall sogar gänzlich unterbunden werden. Insgesamt waren die Zensurbestimmungen in Stralsund und Reval wohl nicht besonders restriktiv, da die meisten der zeitgenössisch erfolgreichen Werke zur Aufführung kamen. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellte die Regierungszeit Pauls I. (1796 – 1801) dar, die zu Recht als „antiaufklärerische Reaktion“ bewertet wird.211 Sein Hass auf die Französische Revolution und die Jakobinerherrschaft nahm deutlichen Einfluss auf seine Gesetzgebung, zu der umfangreiche Zensur- und Regulierungsmaßnahmen gehörten, die sich direkt auf das alltägliche Leben der Revaler auswirkten. Paul I. verbot beispielsweise das Tragen runder Hüte, da diese als Zeichen der Jakobiner galten. Damit änderte sich schlagartig die Form der Kopfbedeckung in Reval:

209 August von Kotzebue: August von Kotzebues Selbstbiographie, Wien 1811, S. 81. 210 Vgl. dazu. Rosen: Rückblicke, S. 105 – 106. 211 Michael Schippan: Die Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 2012, S. 161 – 168.

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Sobald es bekannt wurde, dass der Kaiser die runden Hüthe nicht wohl leiden könnte, warfen sie [die Revaler] […] sogleich die ihrigen in die Ecke, und staffirten sich und ihre kleinsten Kinder, und Kutscher und Bedienten, mit dreieckigen Hüthen aus.212

Indirekt wirkte sich diese Beschränkung ebenfalls auf das Theater aus. Denn als die populäre Oper „Das rote Käppchen“ angekündigt wurde, Befahl der Gouverneur sogleich, „die Zettel umzudrucken, und statt des rothen Käppchens, das grüne vorzusetzten, unter welchem Titel jenes Stück nachher jedesmal gespielt wurde.“213 Aus Sicht des gehorsamen Gouverneurs erschien diese Maßnahme konsequent, da die typische Jakobinermütze rot war und somit für Paul I. als ein Zeichen potenzieller Unordnung und Unruhe galt. Der Aufklärer Petri bezeichnete diese Form der Zensur dagegen nur abschätzig als „lächerlichen Streich“.214 Während man der Reglementierung der Kappenfarbe aus heutiger Perspektive noch eine gewisse Komik abgewinnen könnte, entpuppten sich andere Maßnahmen als ernsthafte Gefährdung für die stehende Bühne in Reval. Nach der Beendigung der Trauerzeit um Katharina II. zensierte die Obrigkeit einzelne Stücke derart, dass sie für das Publikum nicht mehr verständlich waren.215 Alles in allem litt das gesamte Theaterprogramm bis 1801 unter der restriktiven Gesetzgebung Pauls, der letztlich sogar die Einfuhr ausländischer Schriften gänzlich untersagte. Zudem befanden sich Schriftsteller und Verleger in Angst, nachdem Johann Friedrich Hartknoch überraschend verhaftet und August von Kotzebue plötzlich nach Sibirien verbannt worden waren.216 Dieser tiefgreifende Einfluss der Obrigkeit auf das Theaterrepertoire blieb die Ausnahme. Typischerweise ging es um einzelne, als aufrührerisch geltende Stücke, wie beispielsweise die Aufführung von Schillers „Räubern“ in Stralsund. Obwohl das Trauerspiel, wie oben dargestellt, bereits eine entscheidende Umgestaltung erfahren hatte, erfolgte mehrfach keine obrigkeitliche Genehmigung für diese Aufführung.217 Aus einem Schreiben des Magistrats an den Generalgouverneur Graf Erich Ruuth vom 15. April 1794 geht hervor, dass der Stadtrat ernsthafte Bedenken gegen die Genehmigung der „Räuber“ hegte.218 Zunächst erklärten die Stadtvertreter den Inhalt des Dramas zu einem schlechten Vorbild für die Zuschauer: 212 213 214 215

Petri: Briefe über Reval, S. 62. Ebd., S. 64. Ebd., S. 63. Diese Ausführungen folgen einem Bericht aus dem „Journal für Theater und andere schöne Künste“ aus dem Jahr 1797. Entnommen aus: Rosen: Rückblicke, S. 135. 216 Schippan: Die Aufklärung in Russland, S. 166 – 168. 217 In der Stralsundischen Zeitung Nr. 111 vom 17. 09. 1791 kündigte Tilly nochmals das Stück an: „Mit Bewilligung der hohen Obrigkeit, wird Montags den 19sten Septemb., aufgeführet: Die Räuber, ein Trauerspiel in fünf Aufzügen von F. Schiller.“ Trotzdem wurde das Stück wohl erneut verboten. In der Forschung umstritten, ob gespielt oder nicht. Herman von Petersdorff: Die ersten Aufführungen Schillerscher Stücke in Pommern, in: Monatsblätter, Nr. 5 (1905), S. 65 – 77. 218 Struck zitiert in seiner quellenbasierten Studie den kompletten Brief. Vgl. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 62 – 65.

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Wenn in diesem Stücke eine Geselschaft junger Leute vorgestellet wird, welche gut und edel zu handeln glaubt und würklich dann und wann edel und großmüthig handelt; dabei aber zur Rettung ihrer Spießgesellen und sonst zu Erreichung ihrer Absichten sich erlaubt, eine Stadt anzuzünden und die in Asche zu legen, anderen Menschen ums Leben zu bringen und einen Selbst-­Mord zu begehen und wenn ein solche Geselschaft in einem so vortheilhaften Lichte dargestellet wird, daß sie den Zuschauern Beifal abgewinnen sol, muß dann nicht der davon zu erwartende Eindruck für höchst nachteilig und gefährlich geachtet werden?219

Insbesondere sorgte sich der Rat um jene Menschen, die keine Erziehung genossen hätten und nicht über feste Grundsätze verfügten. Diese könnten die gesehene Handlung nicht als Ganzes verstehen und würden einzelne Aktionen der Charaktere unreflektiert in die Tat umsetzen. Anschließend erinnerten die Stadtvertreter daran, dass der frühere Generalgouverneur Friedrich von Hessenstein selbst das Verbot der zuerst geplanten Vorstellung der „Räuber“ erteilt hatte.220 Daher sei es unverständlich, wenn einige zum hiesigen Militaire gehörige Personen […] die Vorstellung des genannten Stücks zu erzwingen sich bestrebet und unter dem Nahmen des Publicum solche von den sich sträubenden Schauspielern bedrohentlich gefordert haben.221

Der Generalgouverneur sollte nun Stellung gegen die Aufführung des Stückes beziehen, indem er das vom Stadtrat erlassene Verbot bestätigte und dem Militär untersagte, die Schauspieler zu bedrohen. Ruuth bestätigte daraufhin das Aufführungsverbot, ohne dass bekannt ist, was ihn genau zu diesem Schritt bewogen hat. Allerdings deutet die historische Publikumsforschung darauf hin, dass insbesondere junge Offiziere und Studenten verstärkt zu Krawallen in Theatern neigten. Garnisonsstädte sahen sich besonders zu Friedenszeiten der Gefahr gegenüber, dass Militärs ihren Tatendrang mangels beruflicher Beanspruchung durch öffentlich ausgelebte Gewalt kanalisierten. Davon zeugen beispielsweise die Berliner Offizierskrawalle, die zwischen 1787 und 1795 trotz obrigkeitlicher Strafandrohungen immer wieder ausbrachen.222 Es dauerte noch fünf weitere Jahre bis die „Räuber“ letztlich auf der Stralsunder Bühne ihr Unwesen trieben. Nachdem Prinzipal Döbbelin den Vize-­Generalgouverneur Bror Cederström um eine Aufführungserlaubnis ersucht hatte, willigte dieser ein. Cederström übernahm die Verantwortung für die von Seiten der Stadt befürchteten Ausschreitungen, 219 Zit. aus: ebd., S. 63. 220 Es scheint, als wäre damit die für den 22. 03. 1783 geplante Vorstellung gemeint, da Hessenstein die Vorstellung verbot, obwohl „annoncirende Zettel schon angeschlagen und herumgetragen waren“. Zit. aus: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 64. 221 Zit. aus: ebd. S. 64. 222 Arno Paul: Aggressive Tendenzen des Theaterpublikums. Eine strukturell-­funktionale Untersuchung über den sog. Theaterskandal anhand der Sozialverhältnisse der Goethezeit, München 1969, bes. S. 156 – 198.

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sodass Schillers Drama am 15. Dezember 1799 Premiere feierte.223 Über Krawalle liegen keine Belege vor.

6. Die sozialen Grenzen des Zuschauerraums Die bisherigen Ausführungen zu Stralsund und Reval suggerieren, dass das Publikum ein homogener Personenkreis gewesen wäre. Jedoch handelt es sich bei dem in dieser Arbeit bereits häufig gebrauchten Begriff ‚Publikum‘ um einen Kollektivsingular. Es gab keine einheitliche Zuschauergruppe und deren Zusammensetzung gestaltete sich in der Praxis sehr differenziert. Schon aufgrund der baulichen Gegebenheiten saßen oder standen die Theatergäste voneinander getrennt. Üblicherweise befand sich das Publikum in einer von vielen Logen, im Parterre und auf der Galerie. Mit dieser physischen ging eine mentale Trennung der Zuschauer/innen einher, denn sie verhielten sich aus aufgeklärter Perspektive in jedem der drei Bereiche vollkommen unterschiedlich.224 Der gelehrte Prinzipal und Publizist Heinrich August Ottokar Reichard grenzte in seinem Theaterkalender die einzelnen Gruppen sehr genau voneinander ab.225 Zunächst postulierte er, dass in einer kultivierten Nation ein Kunstwerk von einem „Kenner“ beurteilt werde, der über Geschmack und Wissen verfüge.226 Diese Voraussetzungen würde aber der Großteil des Publikums nicht erfüllen, da dieses lediglich in das Theater gehe, um sich die Zeit zu vertreiben. Nur im Parterre gebe es zumindest einige Leute, die die Qualität eines Stückes und die Schauspielleistungen einzuschätzen wüssten. Als Beispiele führte Reichard Gelehrte, Schriftsteller, Schöngeister und Dilettanten auf,227 deren Pflicht es sei den Schauspielern eine sofortige Rückmeldung zu geben. Thut der Akteur seiner Rolle ein Genüge, so mag das Parterre das Stück beklatschen oder auspfeifen, dieses Urtheil geschieht doch allemal in Rücksicht auf die Vorstellung; dem Parterre ist es bloß darum zu thun, den Schauspieler zu benachrichtigen, daß das gespielte Stück entweder einer guten Vorstellung fähig sey oder nicht, daß es an ihm allein gelegen, daß das Stück verlohren haben, oder nicht gehoben worden.228

223 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 75 – 76. 224 Grundlegend für die Publikumsforschung des Theaters im 18. Jahrhundert s.: Korte: „Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten“, S. 9 – 49, hier bes. S. 14 – 15. 225 Heinrich A. O. Reichard: Versuch über das Parterre, in: Theaterkalender auf das Jahr 1775, Gotha 1775, S. 47 – 63. Diese Quelle befindet sich mit Anmerkungen bei: Korte/Jakob/Dewenter (Hrsg.): „Das böse Tier Theaterpublikum“, S. 73 – 85. 226 „Ohne Kenntniß und Geschmack kann niemand urtheilen, vielweniger entscheiden.“ Reichard: Versuch über das Parterre, S. 57. 227 Ebd., S. 52. 228 Ebd., S. 59.

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Das Theater

In den Logen befänden sich, wie es weiter hieß, nur „Personen vom hohen Range“229 und Frauen, die ebenso wenig urteilen könnten wie die Galerie. Zwar applaudierten auch Zuschauer von der Galerie, aber deren Zuspruch solle eher als Tadel denn als Lob für die Schauspieler gewertet werden.230 Es deutet vieles darauf hin, dass Reichards stereotype Kategorisierung des Publikums auch im Stralsunder Schauspielhaus sowie an den verschiedenen Revaler Spielorten und ab 1809 ebenso im dortigen Theater zu beobachten war. Als erster Indikator für diese soziale Raumaufteilung können die Eintrittspreise für Schauspielabende herangezogen werden, da das adlige und betuchte Publikum die teuersten Karten nachfragte, während sich auf den günstigen Plätzen Personen unterer Stände mit niedrigen Einkommen befanden. Aus der Stralsundischen Zeitung lässt sich in Erfahrung bringen, dass die Billetts für die Loge in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stets am teuersten und jene für die Galerie am günstigsten waren. Exemplarisch kann neben der bereits oben zitierten Anzeige der Wäserschen Gesellschaft, die 24 Schillinge für die Loge, 16 Schillinge für das Parterre und 8 Schillinge für die Galerie veranschlagte,231 ebenfalls die knapp zehn Jahre später in Stralsund gastierende Truppe des Direktors deutscher Opern, Anton Berger, angeführt werden. Er nahm für „den ersten Platz [die Loge] 24 ßl., aufs Parterre 16 ßl., und auf die Galerie 6 ßl“.232 Zwar verbilligte sich ein Platz in der Galerie um immerhin 25 Prozent, aber die Preise für Loge und Parterre blieben gleich. Das Verhältnis der Preise von Loge, Parterre und Galerie zueinander lag insgesamt mit 3:2:1 bzw. 4:2,67:1 auf einem durchaus üblichen Niveau.233 In Reval gab es bis zum Theaterbau oftmals nur zwei unterschiedliche Preisklassen. Auf den wenigen überlieferten Theaterzetteln des 18. und frühen 19. Jahrhundert geht hervor, dass man für die Loge und das Parkett einen Rubel und für das Parterre 50 Kopeken zahlen musste. Unter dem Ausdruck „Parkett“ schien man die vorderen nummerierten Plätze verstanden zu haben, während sich lose angeordnete Bänke oder Stehplätze dahinter befanden und als „Parterre“ bezeichnet wurden.234 Nur sehr selten setzten die Schauspielgesellschaften drei Preiskategroien an. Die Gesellschaft Deutscher Schauspieler führte 1804 Ifflands „Mündel“ auf und veranschlagte für einen Sitzplatz auf den beiden vorderen Bänken einen Rubel und 25 Kopeken. Die Preise für die Loge und das Parkett sowie für 229 230 231 232 233

Ebd., S. 52. Ebd., S. 56. StZ, Nr. 23, 21. 03. 1769. StZ, Nr. 41, 04. 04. 1778. In Greifswald war das Verhältnis von Loge zur Parterre und Galerie bspw. 4:2:1 (16, 8 und 4 Schillinge). Vgl. Borchardt: Zur Geschichte des Schauspiels, S. 423. In Stettin ergab sich laut eines Theaterzettels von 1772 ein Verhältnis von 6:3:1 (12, 6 und 2 Groschen. Vgl. StASt, Rep. 18, 1164. Man veranschlagte in Rostock 1788 eine Preisbeziehung von 4:2:1 (32, 16 und 8 Schillinge). Vgl. Wilhelm Schacht: Zur Geschichte des Rostocker Theaters (1756 – 1791), Rostock 1908, S. 40. 234 Vgl. die Theaterzettel vor 1809: TLA, Rep. 230.1.B. O.26 und BK Revalsche Theater-­Affische 1787 – 1918, XIV 429 a.

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das Parterre blieben bei einem Rubel beziehungsweise 50 Kopeken.235 Auffällig im Unterschied zu Stralsund sowie zu vielen anderen Aufführungsorten ist das Fehlen der verpönten Galerie. Erst mit Einweihung des neuen Theatergebäudes im Jahre 1809 findet sich in Reval die typische Raumaufteilung mit entsprechenden Preisunterschieden, wie ein Augenzeuge bildlich beschrieb: Zunächst dem Orchester befinden sich einige Reihen Lehnstühle; dann folgen numerirte Pätze, dann folgt das Parterre mit Bänken. Unten befinden sich keine Logen. Ueber diesem erhebt sich nun eine Reihe Logen, deren Brüstung mit einer rotgemalten Drapperie verziert ist. Dann folgt die Gallerie, welche rings herum von Säulen getragen wird […].236

In den Schauspielhäusern von Stralsund und Reval herrschte demnach die typische Raumaufteilung in Loge, Parterre (Parkett) und Galerie vor. Zwar gab es in Reval vor 1809 die Galerie nicht als offizielle Kategorie beim Eintritt. Allerdings heißt das nicht, dass kein angeblich ungebildetes Galeriepublikum in den Gildenstuben erschien, wie Petri bezeugt: Hierzu kommt noch das Getöse und Lärmen, welches das ruhige Nachdenken und Zuhören hindert, da man, wie der GallerieTross in kleinen Teutschen Städten, bei den rührendsten Stellen laut auflacht und wie über die grösste Posse klatscht.237

Wenn man Petris Kommentar Glauben schenkt, brauchte es keine Galerie, um die Banausen ausfindig zu machen. Dabei blieb es dem Urteil des Parterres überlassen, die ‚Banausen‘ als solche zu brandmarken. Die sich im Parterre befindlichen Kenner begründeten ihre Kompetenz zur Beurteilung eines Stückes mit ihrem Platz im Publikum. Der Herausgeber des Pommerschen Krämerdütchens legitimierte beispielsweise seine Theaterkritik durch seine erkaufte Sitzposition im Stralsunder Theater, indem er rhetorisch fragt: „Aber da ich meinen Platz im Parterre eben so gut bezahle, wie Sie; Warum sollte ich nicht auch so gut meine Meynung sagen dürfen?“238 Die Galerie erwähnte er dagegen nur abschätzig am Rande, als es darum ging, die Qualitäten eines Schauspielers im komischen Fache zu bewerten. Fluchen, Improvisieren und Stottern seien nicht lustig, weil niemand darüber lache: Der Zuschauer, (es müste denn etwan auf der Gallerie einer seyn, und für den sollte der würklich komische Acteur nicht brillieren) lacht über dergleichen nicht, wenn er gleich noch so viel dazugenöthiget wird.239

235 236 237 238 239

TLA, Rep. 230.1.B. O.26.

Ruthenia, Mai-­Heft 1809, S. 76. Petri: Ueber den neuesten Zustand, Sp. 1086. Pommersches Krämerdütchen, Nr. 34, 24. 08. 1775, S. 529 – 539, hier S. 529. Ebd., S. 533.

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Das Theater

Hier reklamiert der Rezensent pars pro toto das Recht für sich als Gast im Parterre, den Geschmack des Publikums zu äußern und gleichzeitig die Meinung anderer Zuschauer aufgrund ihrer Position im Raum zu degradieren. Es passt daher ins Bild, dass der Kritiker Prinzipal Amberg lobte, da dieser die Eigenschaft habe, sich vom Parterre „einreden“240 zu lassen. Wie grundsätzlich verschieden sich das Schauspielpublikum verhalten konnte, demonstriert eine in Reval geführte Diskussion über das „Händeklatschen bey theatralischen Vorstellungen“.241 Der Applaus sei ein allgemeines Zeichen der Zustimmung und der Belohnung für die Schauspieler. Der Beifall werde aber dann lästig, wenn er zur falschen Zeit erfolge oder bei einer besonders guten Leistung ausbleibe. Zwei Problemlösungen schloss der Autor sogleich aus. Es könne nicht die ganze Zeit geklatscht werden, da man sonst nichts mehr verstehe und die Geste zudem ihre Aussagekraft verliere. Andererseits sollten die Zuschauer das Klatschen gleichzeitig nicht ganz unterlassen, weil die Schauspieler sonst demotiviert würden. Gut sei hingegen eine dritte Möglichkeit: Man solle einen „Anführer“ wählen, der dann immer an den richtigen Stellen zu applaudieren beginne. Jedoch könne sich gegen diesen Kenner eine „geheime Conföderation“ herausbilden, die seine Führung vereiteln würde. Letztendlich appellierte der Autor an die Schauspieler, nicht nur die „Bewegung der Hände“ als Ausdruck des Gefallens zu werten, sondern auch „eine ungewöhnliche Stille beym Anhören ihres Vortrags“, das wiederholte Abtrocknen der Tränen oder ein einzelnes „Bravo“ als Lob aufzufassen. Obwohl die stereotype Raumaufteilung eines Theaters hier nicht direkt zur Anwendung kam, fällt doch auf, dass ein gelehrter Besucher, der wohl am ehesten im Parterre zu finden wäre, den Applaus anführen sollte. Da das aber nicht leicht zu realisieren sei, sollten die Schauspieler auf andere Zeichen des Publikums achten, die allerdings nicht typisch für die Galerie, sondern eher für das Parterre oder die Loge waren. Hier ist es entscheidend festzuhalten, dass sich im Zuschauerraum ganz unterschiedliche Personen mit völlig verschiedenen Geschmäckern versammelt hatten. Sie sahen und hörten sich unabhängig davon, welchem Stand sie angehörten oder wie viel Geld sie besaßen. Und doch kristallisierte sich langsam eine Deutungshoheit für das Parterre, das heißt für die aufgeklärten Kenner heraus. Dieser Befund stimmt mit der Publikumsforschung weithegend überein, die die Konsequenzen der vielerorts auftretenden Debatte über den Beifall sowie über die Lautstärke während einer Vorstellung als Ausdruck der voranschreitenden Deutungshoheit einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit interpretiert. Der Applaus diente den Kennern und Kritikern als Indikator des „guten Geschmacks“, den ein Zuschauer nachweislich nicht hatte, wenn er an falscher Steller klatschte.242 Wenn das Parterre ein Stück forderte, war ein Prinzipal gut beraten, dieses zeitnah auf die Bühne zu bringen. Sonst lief er Gefahr, als geschmacklos in Verruf zu geraten und 240 Ebd., S. 532. 241 RWN, Nr. 48, 29. 11. 1787. 242 Korte: „Jedes Theaterpublikum hat seine Unarten“, S. 44 – 49.

Die sozialen Grenzen des Zuschauerraums

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damit weniger zahlende Zuschauer begrüßen zu dürfen. Die einzigen Akteure, die sich gegen den Publikumsgeschmack stellen konnten, waren der Magistrat und die landesherrliche Regierung. Da sie aber vor allem in Schwedisch-­Pommern nicht selten eine unterschiedliche Meinung vertraten und die Autorität der Gegenseite in Frage stellten, erhielt das Parterre eine besonders starke Position. Magistrat und schwedische Regierung mussten schon mit einer Stimme gegen den Wunsch des Parterres sprechen, um eine unliebsame Vorstellung wie beispielsweise Schillers „Räuber“ in Stralsund zu verbieten. Darum wusste auch der Stadtrat, weshalb er das bereits zitierte Schreiben des Jahres 1794 an den Generalgouverneur Graf Erich Ruuth verfasste. Im ersten Absatz wird der Ernst der Angelegenheit sofort sichtbar: Die am vorigen Freitage im Comoedien-­Hause von einigen auf dem Parterre befindlichen Personen gemachten ungestühmen Auforderungen an die Schauspieler, daß das Schauspiel: Die Räuber von ihnen das nächste mahl gegeben werden sollte, veranlasset uns, Eurer Excellence nachfolgende Vorstellungen zur gnädigen Beprüfung in Untertänigkeit vorzulegen.243

Es scheint den Rat vor allem in Aufregung versetzt zu haben, dass das Parterre diese Unordnung verursacht hatte. Dagegen konnte die lokale Obrigkeit nur deswegen in Zusammenarbeit mit der Regierung vorgehen, weil es sich bei den Übeltätern um Militärpersonal handelte. Bemerkbar machten sich die Spannungen zwischen der schwedischen Regierung und dem Stadtrat nicht nur hinsichtlich des Parterres, sondern auch der Loge. Die große Mittelloge des ersten Ranges war für die Vertreter der schwedischen Regierung reserviert.244 In der Ehrenloge konnten der Mitglieder des Königshauses oder hohe schwedische Amtsträger gebührend von der gastierenden Schauspielgesellschaft sowie dem Parterre in Empfang genommen werden. Fräulein Amberg, der ein Theaterkritiker besonderes Talent attestierte,245 begrüßte 1775 den nach längerer Abwesenheit zurückgekehrten Generalgouverneur Friedrich Carl Sinclaire mit einem feierlichen Prolog: Empfang ihn itzt, im feierlichen Kleide Thalia! – rühre den durch Spiel und Saitenklang, Bei dessen Gruß ein Strom der Freude Vom Busen schnell hinauf in jedes Antlitz drang. […]

243 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 62. 244 Ebd., S. 34. 245 Im Pommerschen Krämerdütchen heißt es über sie: „Sie spielt mit Wärme, Leichtigkeit und Empfindung, trift die Natur, hat ihren Arm in der Gewalt, und declamirt fast niemals falsch. Hat sie in mancher Rolle nicht schon geleistet, was wir, auch wenn wir strenge gewesen wären, kaum würden gefordert haben?“ Zit. aus: Pommersches Krämerdütchen, Nr. 34, S. 535.

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Das Theater

Nur wie Dein Anblick unsre Stadt entzückte, Dis zu bekennen, heischt [erfordert] die Plicht. Was unter Sterblichen noch kein Gesetz erzwungen, Was nie durch finstern Ernst der strengsten Macht gelungen, Das Glück vom Volk geliebt zu seyn; Dis, Herr, ist der Tribut, den Dir die Herzen weihn. […]246

Nach weiteren Lobpreisungen wandte sich die Schauspielerin direkt an das Parterre. Euch, Patrioten, ruf ich hier zu Zeugen, Ob Ihr durch meinen Mund dis Opfer ihm gebracht? Ich kenn Euch – und durft ich’s dann verschweigen, Was seine Gegenwart in Euch für Regung macht? Ließ Rom, das Muster für die Bühnen, Der Macht der Regung nicht den Lauf? Kaum war ein Liebling, kaum ein Held erschienen, So jauchzte alles Volk, von Freude trunken auf. Ich sehs – schon wallt der Trieb, den ich in Euch erhebe – Ich rufe dann für Euch – Ich rufe dann: Er lebe!247

Das Parterre verkörpert in diesem Lobgesang das Volk, welches seinem „Helden“ und „Liebling“ in Vertretung Fräulein Ambergs zujubelt. Der Generalgouverneur als Repräsentant der schwedischen Monarchie konnte von der Loge auf sein Volk hinabblicken und dessen Wünsche entgegennehmen. Damit kam dem Stralsunder Parterre die von Reichard antizipierte Funktion zu.248 Tatsächlich eignete sich die Ehrenloge wohl besser, das Parterre zu beobachten, als das Schauspiel zu sehen und zu hören. Stralsunds Schauspielhaus hatte einen schlauchartigen Grundriss; in der Breite maß es etwas mehr als zwölf und in der Länge beinahe 40 Meter.249 Im vorderen Bereich befanden sich die Kasse und ein Erfrischungszimmer. Der Rest der Grundfläche diente als Zuschauerraum und Bühne. Die Logen lagen in drei Rängen an der Längsseite und liefen rechtwinklig mit der Querseite zusammen. Aufgrund des spitzen Winkels zur Bühne war die Sicht auf die Schauspieler von den ersten Logen der Längssei 246 Zit. aus: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 43. 247 Ebd., S. 43 – 44. 248 „Das Parterre ist der Repräsentant eines Volkes, […].“ Zit. aus: Reichard: Versuch über das Parterre, S. 54. 249 Bei Stuck befindet sich ein Grundriss des Schauspielhauses, der genaue Angaben über die Maße des Gebäudes macht. Die Längenangaben entsprechen dem preußischen Fuß und wurden ins metrische System übertragen. Vgl. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 33.

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ten nicht optimal. Von der Ehrenloge blicke man zwar zentral auf die Bühne, befand sich dafür aber weit von dieser entfernt.250 Wenn Besucher für die Loge mehr Geld zahlten, dann wohl nicht, weil sie dem Treiben auf der Bühne besonders gut folgen wollten. Vielmehr verkehrten hier die Standespersonen unter ihresgleichen und konnten von der erhöhten Position aus das Volk, d. h. das Parterre, überschauen. Zudem bot eine Loge den Vorzug, einen klar definierten Platz zu bekommen, während im Parterre, wenn überhaupt, nur lose Bänke positioniert waren. Nur die Logen konnten also standesgemäße und komfortable Verhältnisse gewährleisten. Die traditionelle gesellschaftliche Ordnung innerhalb eines Theaters stellten einzelne Besucher allerdings in Frage, wie sich aus einer Bekanntmachung des Stadtrates aus dem Jahre 1779 schließen lässt. Darin wurde unmissverständlich gefordert, „keine verschlossene[n] Logen zu erbrechen, oder vom Parterre in selbige hineinzusteigen, und sie dadurch zu occupiren“.251 Bei Zuwiderhandlungen würde die dazu abgestellte königliche Wache die Ordnung wiederherstellen und die Übeltäter gegebenenfalls arretieren. Ob die Logen in Beschlag genommen wurden, weil die Ständeordnung aufgebrochen werden sollte oder weil dieser Platz mehr Komfort als das Parterre garantierte, kann aus den Quellen nicht rekonstruiert werden. Die Reaktion des Rates ist aber insofern interessant, als dass dieser die alte Ordnung festschrieb und dazu auf die Unterstützung der schwedischen Regierung zurückgreifen konnte, die den Einsatz der königlichen Wachen genehmigen musste. Offensichtlich herrschte in dem Punkt, die soziale Abgrenzung zwischen dem Parterre und der Loge bestehen zu lassen, Einigkeit zwischen Rat und Regierung.

7. Die öffentliche Wahrnehmung des Theaters Die öffentliche Perzeption des Theaters prägten besonders die Urteile einzelner Akteure. Zu diesen gehörten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die aufgeklärten Kritiker, die sich vor allem an Lessings Hamburgischen Dramaturgie 252 orientierten. Ihnen lag in erster Linie an der Vervollkommnung des Theaters, was sie durch eine exakte Analyse einzelner Stücke, deren Dekoration und Kostüme sowie die verschiedenen Schauspielerinnen und Schauspieler zu erreichen versuchten.253 Gelehrte Kritiker bezeichneten sich selbst als „Kenner“, die sich durch ihre wohl begründeten und „objektiven“ Urteile auszeichneten. Sie befanden sich im Parterre und gaben ihre Rückmeldung zur Qualität des Schauspiels beispielsweise in Form eines Applauses sofort während der Vorstellung oder in einer anschließend veröffentlichten Theaterkritik. Zudem spielten die sogenannten „Liebhaber“

250 Ebd., S. 32 – 35. 251 Ebd., S. 47. 252 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe, Bd. 6: Werke 1767 – 1769, hrsg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 181 – 694. 253 Krebs: Die frühe Theaterkritik, S. 463 – 465.

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bei der Bewertung eines Stücks noch eine gewisse Rolle, doch aufgeklärte Kritiker stuften deren Urteilskraft im Vergleich zu den Kennern als geringer ein.254 Neben den Zuschauern, deren Urteile unterschiedliche Gewichtungen hatten, traten auch die Stadträte von Stralsund und Reval sowie die schwedische oder russische Regierung als meinungsbildende Akteure auf. Das Urteil des Rates konnte die öffentliche Anerkennung einer Schauspielgesellschaft oder eines Stückes ebenso beeinflussen wie die der Regierung. Die Obrigkeit verschaffte ihren Vorstellungen sogar gegen den Willen des Publikums Geltung, wie das bis 1799 durchgesetzte Aufführungsverbot von Schillers „Räubern“ in Stralsund und die Zensurmaßnahmen in Reval belegen (vgl. Kap.  IV.5.2). Die Theaterkritik umfasste zudem nicht nur ästhetische oder fachliche Bewertungen der unterschiedlichen Akteure, sondern auch die Beurteilung der Räumlichkeiten. Aspekte wie die Sicherheit und der Komfort der Zuschauer/innen entschieden ebenfalls darüber, wie Publikum und Behörden das Theater wahrnahmen. Im Folgenden wird die öffentliche Darstellung des Stralsunder Schauspielhauses sowie der Revaler Bühne rekonstruiert, um Rückschlüsse auf die Qualität der Stücke, die Darstellerinnen und Darsteller und nicht zuletzt das Theatergebäude zu ziehen. Sahen Kenner das Theater als moralisch vertretbaren und insgesamt positiven Zeitvertreib? Wie weit waren die Bühnen Stralsunds und Revals vom „Gipfel der Vollkommenheit“255 entfernt? Boten die Theatergebäude einen angemessenen Rahmen für die Aufführungen?

7.1 Die Beurteilung des Theaters und der Schauspielgesellschaften Bei der Beantwortung der Frage, ob die Kenner sowohl das Theater als auch die in Stralsund gastierenden Schauspielgesellschaften und deren Vorstellungen insgesamt positiv beurteilten, bietet das Pommersche Krämerdütchen einen ersten Anhaltspunkt. Der detaillierten Analyse der Maskenbälle zufolge,256 stufte ein anonymer Autor das gesellige Tanzvergnügen nicht als moralisch verwerflich ein, sofern es der Erholung diene und zusätzlich einen gesellschaftlichen Mehrwert generiere. Das Schauspiel gehöre, so der Verfasser weiter, zusammen mit der Maskerade (und dem Konzert) zu den sozial akzeptierten „Winterergötzungen“257 und zeichne sich durch seine erholsame Wirkung auf die Zuschauer sowie seinen ständezusammenführenden Charakter aus. Besonders im Vergleich zu vornehmen Abendessen, Kartenspielen und Weinschenken sei das Schauspielhaus ein erbaulicher Zeitvertreib:

254 „Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines Stückes, das richtige Spiele eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller anderen schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer.“ Lessing: Werke 1767 – 1769, Ankündigung der Dramaturgie. 255 Ebd. 256 Vgl. Kap. V. 257 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 31, 03. 08. 1775, S. 483.

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Wir geben ein Soupee, wir spielen ein Partie Lombre, wir gehn ins Weinhaus; und ohne daß unsere Seele bey dem allen ein Quentlein gewinnt, verthun wir in ein paar Stunden, wofür wir mit Weib und Kind acht Tage lang in die Comödie gehn könnten.258

In anderen regionalen Zeitschriften wie dem Pommerschen Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks 259 galt das Theater ebenso als ein legitimer „Zeitvertreib des traurigen Winters“.260 Die Begründung, warum es als solcher gezählt wurde, glich der Argumentation des Krämerdütchens. Das Theater nehme die Aufgabe einer Institution wahr, die „auf [die] Bildung der Sitten oder doch des Geschmacks wenigstens von Einflus seyn kann“.261 Es sei „dabei immer eine Art [des] Tauschhandels von Zeit und Geld gegen Vergnügung involvirt“.262 Ähnlich beurteilten die Zeitgenossen die Rolle des Theaters in Reval. Wie oben bereits dargestellt, beinhaltete eine Rechtfertigungsstrategie für die Etablierung eines Liebhabertheaters, dass es an den langen Winterabenden angenehm unterhalte. „Die Freuden des Sommers sind vorüber, die Luft wird rauh, der Abend lang, der Winter ist nah“,263 begann eine der Verteidigungsschriften des Amateurtheaters, um anschließend herauszustellen, dass sowohl das Theaterspielen als auch der Besuch von Vorstellungen sinnvolle Beschäftigungen für die kalte Jahreszeit seien. Indes bot die Schaubühne schon vor dem Liebhabertheater eine willkommene und weitgehend akzeptierte Abwechslung. Ein anonymer Autor erinnerte sich 1782, dass er in Reval kaum einen Winter erlebt habe, an dem es keine Theateraufführungen gegeben hätte.264 Alles in allem entsprach die Legitimation des Theaters auf pommerschem und estländischem Gebiet damit den allgemeinen aufklärerischen Vorstellungen der Zeit.265 Der Theaterbesuch gehörte zu den sozial akzeptierten Winteraktivitäten, die für viele Aufklärer zu befürworten waren. Diese Ansicht demonstriert Zedlers Universal-­Lexicon Mitte des 18. Jahrhunderts, das die Hauptfunktion des Schauspiels folgendermaßen definiert: Um aber auf das wichtigste eines Schauspiels zu kommen, so soll es die philosophische Tugend und die guten Sitten befördern, das heißt soviel, es sollen in demselben solche Vorstellungen geschehen, die den Zuschauern, so zu reden, in lebendigen Exempeln zeigen, aus 258 Ebd., S. 485 – 486. 259 Die Zeitschrift wurde zwar in Stettin herausgegeben und gehörte damit zum preußischen Teil Pommerns, aber aus der Liste der Subskribenten ist ersichtlich, dass auch viele Greifswalder und Stralsunder Bürger das Pommersche Archiv bezogen. Vgl. Pommersches Archiv, Bd. 1, Nr. 2, (1783), unpag. 260 Anonym: Bemerkungen über die Wäsersche Schauspieler Gesellschaft, bei ihrem Aufenthalt in Stettin, im Sommer 1784, in: Pommersches Archiv, Bd. 2, Nr. 1 (1784), S. 140 – 158, hier S. 140. 261 Ebd., S. 141. 262 Ebd. 263 RWN, Nr. 37, 15. 09. 1785. 264 RWN, Nr. 13, 28. 03. 1782. 265 Vgl. North: Genuss und Glück des Lebens, S. 171 – 194.

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Das Theater

was vor Ursachen tugendhaffte Leute ihre Handlungen anstellen, und durch dieselben ihre Glückseligkeit finden; […].266

Beim Betreten des Theaters werde der Zuschauer demnach „in eine Schule geführet, daraus er sich die besten Lehren holen, und die schönsten Regeln machen“ könne.267 Aufgeklärte Denker beschrieben die Funktion des Theaters, die Sitten des Publikums zu schulen, vielerorts in ähnlicher Form,268 bis Friedrich Schiller es präzise und prägnant als eine „moralische Anstalt“ bezeichnete.269 Tatsächlich galt es aber, eine angemessene Gewichtung zwischen Erziehung und Unterhaltung vorzunehmen. Eine Vorstellung musste vordergründig unterhaltend sein, da sonst das Publikum ausblieb. Sobald sich aber die Zuschauer im Theater eingefunden hatten, begann der „Krieg gegen das Publikum“: „Die Zuschauer, die zunächst erzogen werden sollen, befinden sich noch in einem Rohzustand, sie sind unerzogen, pöbelhaft, unkultiviert, ungebildet und im Grunde vollkommen bildungsunwillig.“270 In der Theaterpraxis mussten die Schauspielgesellschaften, die unter ständiger Beobachtung der Kritiker standen, das Ideal des vergnüglichen und gleichermaßen lehrreichen Zeitvertreibs bestmöglich umsetzen, wenn sie nicht als unsittlich gelten wollten. Nicht zufällig begrüßte der Stralsunder Pfarrer Johann Christian Müller die Anwesenheit der „Schönemannsche[n] Bande“271 in Stralsund. In seinen Augen lieferte sie geeignete Darstellungen, die über die noch weit verbreiteten Harlekinaden hinausgingen. Eine kurze Abhandlung zur Stralsunder Theatergeschichte aus dem Jahre 1782 lobte die Schönemannsche Truppe ebenfalls:

266 ‚Schau–Spiel‘, in: Grosses vollständiges Universal-­Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Bd. 34, Halle/Leipzig 1742, Sp. 1034 – 1042, hier Sp. 1040. 267 Ebd. 268 Bspw. bezeichnete Johann Christoph Gottsched das Theater als „weltliche Kanzel“ und Gotthold Ephraim Lessing nannte es „Schule der moralischen Welt“. Vgl. Walter Uka: Theater, in: Werner Faulstich (Hrsg.): Grundwissen Medien, München 5. Aufl. 2004, S. 358 – 384, hier S. 373. 269 Schiller: Sämtliche Werke, Bd. 5, S. 818 – 831. Bei der überarbeiteten Veröffentlichung dieses Vortrags im Jahre 1802 wählte er dann auch den Titel: „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“. 270 Georg-­Michael Schulz: Der Krieg gegen das Publikum. Die Rolle des Publikums in den Konzepten der Theatermacher des 18. Jahrhunderts, in: Fischer-­Lichte/Schönert (Hrsg.): Inszenierung und Wahrnehmung, S. 483 – 502, hier S. 486. Zum Publikum vgl.: Hermann Korte und Hans-­Joachim Jakob (Hrsg.): „Das Theater glich einem Irrenhause.“ Das Publikum im Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg 2012. 271 Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle & Neben-­Umstände. Erster Teil Kindheit und Studienjahre (1720 – 1746), hrsg. von Karin Löffler und Nadine Sobirai, Leipzig 2007, S. 245.

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Bis 1749 hatte die Bühne Stralsunds das Loos fast aller deutschen Theater damaliger Zeit. Sie ward von Kunigern, Reibehand und Consorten 272 nur betreten. In gedachtem Jahre [1749] fand Schönemann sich aus Mecklenburg ein. Dies war das erste wahre und regelmäßige Schauspiel in diesen Gegenden.273

Für die von Kennern empfundene Qualität der Schauspielgesellschaften, die nach der Gründung eines festen Theaters in Stralsund gastierten, liegen drei zeitgenössische Kritiken vor. Das Pommersche Krämerdütchen bewertete die Ambergsche Gesellschaft 274 und das Pommersche Archiv beurteilte sowohl die Wäsersche 275 als auch die Tillysche Truppe.276 Die beiden letztgenannten Gesellschaften prägten mit ihrem Spiel das Theaterleben in Stralsund und Reval. Über die Revaler Schauspieltruppen aus der Zeit vor der Etablierung des Liebhabertheaters existieren nur vereinzelte Kommentare.277 Für das Ende des

272 Mit „Kunigern, Reibehand und Consorten“ spielte der Autor auf die Prinzipale und Schauspieler Johann Kunige und Karl Friedrich Reibehand an. Sie galten den aufgeklärten Theaterkritikern als Personifikationen des schlechten Schauspiels. Vgl. bspw. folgende zeitgenössische Aussagen: „Reibehand, ein Schneider, entzog sich unberufenerweise einem der Gesellschaft nützlichem Handwerke, um das Komödienhandwerk zu kultiviren.“ Zit. aus: Johann Friedrich Schütze: Hamburgische Theater-­Geschichte, Hamburg 1794, S. 83. Zudem: „Kunigen war der Sohn eines Leipziger Stadtsoldaten, in seiner Jugend als Taschenspieler, Equilibrist [Gleichgewichtskünstler], starker Mann und Zahnarzt berühmt.“ Zit. aus: ebd., S. 86. 273 Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, in: Litteratur- und Theater-­Zeitung, 15 (1782), S. 225 – 233, hier S. 225. 274 Die Ambergsche Gesellschaft machte in Stralsund in den Jahren 1775 und 1776 halt. Die Theaterkritik nimmt Bezug auf ihre Vorstellungen während des ersten Besuchs. Vgl.: Pommersches Krämerdütchen, Nr. 34, 24. 08. 1775, S. 529 – 539. 275 Die Wäsersche Gesellschaft befand sich 1769 und 1773 in Stralsund. Sie gründete sich 1764 in Reval, als sich Johann Christian Wäser und seine Ehefrau Maria Barbara mit den verbliebenen Personen der Mendischen Gesellschaft zusammenschlossen. Später gingen sie gemeinsam nach Schlesien (Breslau/Wrocław), wo sie ab 1781 das alleinige Theaterprivileg besaßen. Die hier verwendete Theaterkritik bezieht sich auf den Aufenthalt der Gesellschaft im Jahre 1784 in Stettin. Vgl.: Anonym: Bemerkungen über die Wäsersche Schauspieler Gesellschaft, S. 140 – 158. 276 Diese Gesellschaft bestand aus Jean Tilly, der 1781 die Truppe von Johann Friedrich Stöffler übernommen hatte, und seiner Ehefrau Louise Caroline. Tillys Gesellschaft gastierte 1781 bis 1786 und 1789 bis 1791 in Stralsund. Damit prägte sie das Stralsunder Schauspiel von allen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts am meisten. Louise Caroline ging in den 1790er-­Jahren ohne ihren Gatten erfolglos nach St. Petersburg, von wo aus sie für die Spielzeit 1794/95 in Reval gastierte und dort beliebt war. Aufgrund des Ablebens ihres Mannes im Jahre 1795 musste sie aber zur Übernahme seiner Gesellschaft nach Brauschweig zurück. Die vorliegende Kritik bezieht sich auf ihr Spiel in Greifswald im Jahre 1785. Vgl. Anonym: Über die Tyllische Schauspielergesellschaft zu Greifswald, in: Pommersches Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks 3/4 (1785), S. 327 – 340. 277 Diese sind ausführlich bei Rosen zitiert. Rosen: Rückblicke, S. 68 – 72.

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18. Jahrhunderts informiert dann Petri über die Wandergesellschaften.278 Nach der Eröffnung eines eigenständigen Theatergebäudes (1809) veröffentlichten die Ruthenia oder die St. Petersburgische Monatsschrift 279 umfangreiche Kritiken über die Revaler Aufführungen. Insgesamt variierte die Qualität der Vorstellungen erheblich. In jeder Gesellschaft gab es einige Schauspielerinnen oder Schauspieler, deren Leistung die Theaterkritiker vernichtend beurteilten. In der Einzelbewertung des zur Wäserschen Schauspieltruppe gehörenden Herrn Demmer hieß es beispielsweise, dass dieser ständig die falschen Worte wähle: „Statt hangen, prangen, und was beinahe wol unglaublich scheint, statt Gnädige Frau, der Mitschauspielerin ins Gesicht, Gnädiger Herr.“280 Bei derartigen Fehlern konnte selbst ein bewegendes und belehrendes Trauerspiel zur Posse werden und den erwünschten Lerneffekt des Autors zunichtemachen. Der Sohn des Prinzipals Tilly erfuhr ebenso eine negative Bewertung, denn das „zärtliche, süßschwärmende liegt ganz ausser seiner Sfäre“.281 Zudem spreche er fast alle Monologe zu den Zuschauern, wodurch diese „aus der Illusion gerissen“ würden.282 Der Kritiker des Krämerdütchens warnte Herrn Amberg vor einer unangemessen komischen Spielweise, die „auf deutschen Bühnen so häufig Mode“ sei.283 Bei der stehenden Bühne in Reval beklagte sich Petri insbesondere über Herrn Christel, denn dieser habe nervige Arme, „die er im Affekt entweder gerade ausstreckt, und mit geballter Faust in eine zitternde Bewegung setzt, etwa wie ein Toller, der einen Kerker zerreissen will; oder mit denen er an seine Brust und Schenkel schlägt, dass das ganze Parterre ertönt.“284 Petri fasste eine derartige Interpretation der Rolle als „unnatürliches Spiel“ auf, die den Zuschauer zwinge, mehr an den Schauspieler als an die dargestellte Figur zu denken.285 Nicht zuletzt konnten mangelnde Kostüme oder unzureichende Requisiten die Illusion zerstören. Ein Kritiker des Revaler Theaters monierte beispielsweise 1810 das unzureichende Bühnenbild bei Karl Winklers „Bianca von Toredo“. Im fünften Akt stürmte der Graf von Provence auf eine „unüberwindliche“ Mauer zu, die gerade noch einen Meter hoch war.286 Während die Kenner Textnachlässigkeiten, mangelndes Einfühlungsvermögen, unangemessene Rolleninterpretationen und unrealistische Bühnenbilder scharf kritisierten, lobten sie Authentizität, die man ihrer Meinung nach durch Talent und fleißiges Üben

278 Petri: Briefe über Reval, S. 83 – 84 und ders., Ueber den neuesten Zustand, Sp. 1086. 279 Die Ruthenia erschien zwischen 1805 und 1811 ein Mal pro Monat. Manche Jahrgänge führen einen anderen Namen, wie St. Petersburgische Monatsschrift zur Unterhaltung und Belehrung oder Ruthenia, oder Deutsche Monatsschrift in Russland. Für diese Arbeit wurde sich auf die systematische Durchsicht der Jahrgänge 1809 und 1810 beschränkt. 280 Anonym: Bemerkungen, S. 147. 281 Anonym: Über die Tyllische Schauspielergesellschaft, S. 328. 282 Ebd., S. 329. 283 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 34, 24. 08. 1775, S. 534. 284 Petri: Briefe über Reval, S. 83 – 84. 285 Ebd., S. 84. 286 Ruthenia, Mai-­Heft 1810, S. 58.

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erreichte.287 Den Schauspieler Dörr, der der Tillyischen Gesellschaft angehörte, beurteilten sie z. B. als sehr guten Vertreter seines Fachs: Gebildeter Geschmak, richtige Deklamazion, wahres Minenspiel, natürliche Akzion, die er auch bei den komischen Rollen nicht surchargiert [überstrapaziert], ämsiges Rollenstudium lassen ihn auf den Namen eines guten Schauspieler Anspruch machen.288

In seltenen Fällen ragten einzelne Personen ganz besonders hervor, wie es 1782 für Franziska Edmunde Scholtz (geb. Tilly) überliefert ist. Nachdem sie die Julia in „Romeo und Julia“ gespielt hatte, rief sie das Publikum am Ende des Stückes heraus, „um ihr seinen wärmsten Beyfall“ zu schenken.289 Auch ward schon verschiedenemal applaudiert, sobald sie nur aufs Theater trat. Diese brave Schauspielerin wandte den Geschmack des Publikums, der seit einiger Zeit sich für das Lustspiel decidirt, ganz wieder zur Tragödie.290

Inhaltlich verglichen die Kenner die Stücke oft mit der Textvorlage. So beurteilte der Kritiker die Interpretation des Karl Moors bei der Aufführung der „Räuber“ in Greifswald am 4. August 1785 folgendermaßen: „Das Gräsliche und Abscheuliche dieses Ungeheuers wurde nicht halb ausgedrükt. Es schadet aber nicht, daß etwas davon verwischt wurde; das Mißgeschöpf des Dichters empöret zu sehr.“291 Es kam zudem vor, dass manche Kenner das Theater enttäuscht verließen, wenn zentrale Textstellen nicht ausreichend Geltung erhielten. Als 1809 im neuen Revaler Theatergebäude die „Räuber“ gegeben wurde, sahen die Zuschauer „ein Feuerspektakel im Moorischen Schloß, vor der Ergreifung Franz von Moor, von den Räubern“. Der „gebildete Theil des Publikums“ ärgerte sich nun darüber, „daß ihm durch diese unrecht angebrachte – nichts sagende Charlatanerie der treffliche Dialog verloren ging.“292 Einige Kenner bezogen zusätzlich die Reaktionen des Publikums mit in ihre Bewertung ein. Die Wäsersche Gesellschaft inszenierte in Stralsund die Tragödie „Lanassa“ von Karl Martin Plümicke, die „der größte Theil der Zuschauer […] äusserst misvergnügt vierließ“.293 287 „Ausdruck, Empfindsamkeit, Feuer der Leidenschaften, Munterkeit, Adel der Seele, Zärtlichkeit, Stimme, Wahrheit der Aktion, Recitation, Deklamation, das Natürliche, das Costüme sind die Gegenstände ihrer [der schauspielerischen] Bildung, […].“ Reichard: Versuch über das Parterre, S. 58. 288 Anonym: Über die Tyllische Schauspielergesellschaft, S. 328. 289 StrZ, Nr. 6, 12. 01. 1782. 290 Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, in: Litteratur- und Theater-­Zeitung, 15 (1782), S. 225 – 233, hier S. 232. 291 Ebd., S. 339. 292 Ruthenia, August-­Heft 1809, S. 301 – 302. 293 Anonym: Bemerkungen, S. 156.

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Das Theater

Das Revaler Publikum erlebte gleichsam herbe Enttäuschungen: Als 1810 „Die Postkutsche zu Bocksdorf“ gezeigt werden sollte, änderte man aufgrund der Krankheit einer Darstellerin das Programm und präsentierte stattdessen Kotzebues „Intermezzo, oder der Landjunker zum erstenmale in der Residenz“. Da die Zuschauer dieses Lustspiel bereits kannten und sich auf etwas Neues gefreut hatten, forderten viele das Eintrittsgeld zurück „und sahen das Theater mit dem Rücken an“.294

7.2 Die Beurteilung des Theatergebäudes Stralsund besaß gegenüber anderen pommerschen Städten und Reval den großen Vorteil, dass man dort über ein eigenes Theatergebäude verfügte. Sobald eine Wandergesellschaft ihre Spielerlaubnis erhalten hatte, konnte sie ein dafür speziell vorgesehenes Schauspielhaus nutzen. Nicht zufällig beherbergte die Hansestadt daher regelmäßig professionelle Gesellschaften, wodurch sie zum regionalen Theaterzentrum avancierte. Ein zeitgenössischer Kritiker beurteilte Stralsunds Stellung pointiert, indem er meinte, dass – Greifswald ausgenommen – keine einzige schwedisch-­pommersche Stadt wisse, was ein Theater sei.295 Kenner aus Stettin 296 und Greifswald berichteten, dass das Publikum dieser Städte ein solches Gebäude schmerzlich vermisste: „[W]er aus der Komödie kommt, meint: wir müsten ein anderes Haus haben, […aber] unser Schauspielhaus – bleibt ungebaut“, beklagte sich ein Kritiker 1784.297 Ein Liebhaber des Greifswalder Schauspiels meinte, dass „das hiesige Theater im Schillingschen Hause für grosse Stücke, die Pracht und Theaterfracas [Theateratmosphäre] erfordern, ziemlich bornirt [eingeschränkt]“ sei.298 Die eifrigen Bemühungen der Liebhabergesellschaft in Reval, ein eigenes Theatergebäude zu errichten, demonstrieren sehr eindrücklich, wie unzureichend die Große Gildenstube als dauerhafter Spielort war.299 294 Ruthenia, Mai-­Heft 1810, S. 54. 295 Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, S. 232 – 233. 296 Für den nicht umgesetzten Plan eines Theatergebäudes in Stettin Ende des 18. Jahrhunderts vgl.: Erhard Roß: Friedrich Gillys unbekannter Entwurf für ein Theater in Stettin (1789), in: Zeitschrift für Osteuropaforschung 38/3 (1989), S. 391 – 401; Ders.: Friedrich Gillys Zeichnungen für ein Theater in Stettin aus dem Jahre 1789, in: Baltische Studien NF 78 (1992), S. 43 – 54. 297 Anonym: Bemerkungen über die Wäsersche Schauspieler Gesellschaft, S. 141 – 142. 298 Anonym: Über die Tyllische Schauspielergesellschaft, S. 327. Der Kritiker informiert an gleicher Stelle weiter über das Greifswalder Theater: „Zwar hat es die hiesige Kaufmannschaft schon einmal darauf angelegt, in ihrem Kompagniegebäude, wo die herrlichste Lage wäre, ein grosses Theater zu errichten: die Anstalt ist aber, ich weis nicht, aus ökonomischen Gründen, oder aus Kälte gegen Thaliens harmlose Unterhaltungen, unterblieben, und wird es noch vielleicht noch lange [sich]. Es ist zwar eins da von der Akademie, schon vor vielen Jahren erbaut worden, worauf auch die Studenten, und kleine herumziehende Gesellschaften von Zeit zu Zeit Vorstellungen gegeben haben, aber es hat nur 20 Fuß Tiefe und 12 Fuß Breite.“ 299 Zur Nutzung des Saals der Großen Gilde als Ort für Theatervorstellungen s.: Ivar Leimus: Gildituba teatrisaaliks [Die Gildenstube als Theatersaal], in: Ders. u. a. (Hrsg.): Tallinna Suurgild ja gildimaja [Die Große Gilde in Tallinn und das Gildenhaus], Tallinn 2011, S. 177 – 184, engl.

Die öffentliche Wahrnehmung des Theaters

217

Das Theatergebäude in Stralsund konnte aber nur entstehen, weil die Johannisloge Zur Eintracht die dazu benötigten Anfangsinvestitionen und die Instandhaltungskosten mit der Unterstützung einzelner Mitglieder aufbrachte. Bereits der Umbau des früheren Wohnhauses zu einem Theater erforderte finanzielle Anstrengungen. Abgesehen von diesen enormen Investitionen am Anfang des Unternehmens (s. Kap. IV.4.1) galt es, das Schauspielhaus stets den Bestimmungen des Stadtrates oder der Regierung anzupassen. Im Mai 1782 erfolgten beispielsweise Ausbesserungsarbeiten im Inneren des Theaters, da nach Meinung des Stadtkommandanten Pollett die Sicherheit der Zuschauer gefährdet gewesen sei. Das besagt zumindest ein Protokoll, das von der Begutachtung des Schauspielhauses durch einen Stadtvertreter, zwei Maurermeister und den Eigentümer Lukas Friedrich Stegemann stammt.300 Anhand dieser Quelle lässt sich anschaulich nachvollziehen, dass die bloße Existenz eines Theatergebäudes nicht automatisch einen adäquaten Spielraum für Wandergesellschaften garantierte. In dem Inspektionsprotokoll konstatierte Stegemann, dass sich sein Theater baulich in einem guten Zustand befinde. Die beiden Maurermeister unterstützen als Sachverständige grundsätzlich die Meinung des Eigentümers. Nur der Kaminschornstein und die Brüstungen der Galerie bedurften geringfügiger Ausbesserungen. Zusätzlich stellten die Anwesenden fest, dass die Flügel der Eingangstür nach außen schwingen sollten und ein zusätzlicher Ausgang über den „Kellerlücken“ geschaffen werden könnte. Vier Monate nach der Begutachtung des Hauses erfuhr Stegemann, dass der Rat die vorgeschlagenen Ausbesserungen wünschte. Aber der Kaufmann meinte, er könne „an dem Komoedienhause keine Reparationes ohne Vorwissen mehrerer Mitglieder der Freymaurer-­ Loge vornehmen“.301 Beim nächsten offiziellen Termin im November 1782 informierte der Eigentümer des Theaters die Ratsvertreter, „wie er denen im Komoedienhause nötig gewesenen kleinen Reperationen theils abgeholfen habe, theils solche machen zu lassen im Begriffe“ sei.302 Allerdings koste der Umbau der Haustür zu viel, weshalb die Freimaurerloge die Ausgaben nicht aufbringen könne. Diese Aussage Stegemanns ist besonders interessant, weil die Johannisloge Zur Eintracht bereits seit Jahren keinerlei Aktivität aufgewiesen hatte. Dennoch wurde sie weiterhin von dem Eigentümer des Theaters als Entscheidungsinstanz angeführt und vom Rat als solche akzeptiert. Damit scheinen die Freimaurer in den 1780er-­Jahren immer noch in den Theaterbetrieb involviert gewesen zu sein. Zudem demonstrieren die Absprachen zwischen Rat, Stegemann und Loge, wie gering der finanzielle Spielraum für Ausbesserungsarbeiten bemessen war. Dementsprechend unkomfortabel war das Theater für das Publikum – abgesehen von einigen Logenplätzen (s. Kap.  IV.6). Sofern überhaupt eine Bestuhlung vorhanden war, Zusammenfassung S. 470 – 471. Die Gildenstube eignete sich laut eines Zeitzeugen ebenso wenig als Veranstaltungsort für moderne Bälle. Vgl. Kap. V.3.2.2. 300 StASt, Rep. 58, Nr. 319. 301 Ebd. Protokoll vom 26. 09. 1782 302 Ebd. Protokoll vom 13. 11. 1782.

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Das Theater

bestand diese aus einfachen, eng zusammengerückten Holzbänken ohne Rückenlehne, auf denen der Besucher durchaus die Knie des hinteren Sitznachbarn im Rücken verspüren konnte. Die Temperatur im Theater ließ sich nicht regulieren. Bei zu frostiger Winterskälte mussten die Vorstellungen ausfallen und an heißen Sommertagen herrschte drückende Hitze. Für Beleuchtung sorgten rußende Tranlampen oder stinkende Talglichter, an denen sich die Besucherinnen und Besucher ihre Kleider verderben konnten, weil die Lichtquellen mitunter anfingen zu tropfen.303 An diesen Ausführungen zeigt sich, dass Stralsund im Gegensatz zu vielen anderen Städten zwar relativ früh über ein Theatergebäude verfügte. Allerdings präsentierte es sich in einem Zustand, der verriet, dass nur wenig Geld zu dessen Unterhalt zur Verfügung stand. Reval erhielt erst 1809 ein eigenes Theatergebäude. Doch dafür engagierten die Finanziers einen erfahrenen Architekten und verfügten zudem über verhältnismäßig große finanzielle Mittel für die Umsetzung der Pläne (s. Kap. IV.8.2). Darum erstaunt es nicht, wenn ein Zeitgenosse das Äußere als ein „großes und schönes Wohngebäude im modernen Styl“ beschrieb. Im Inneren sei es, „geräumig, schön und geschmackvoll“ dekoriert und sogar größer und schöner als das Rigaer Theater.304 Dieser Vergleich beutete ein besonderes Lob, weil Riga bereits seit 1782 über einen angesehenen und vielgelobten Theaterbau verfügte, den der Kulturmäzen Otto Hermann Baron Vietinghoff finanziert hatte. Der reisende August Friedrich Wilhelm von Kerten berichtete über das Rigaer Theater 1783 euphorisch, dass es alles vereinte, „was nur Geschmak und gute Auswahl“ erforderte. „Die Garderobe ist fürstlich, die Decorationen anpassend, alles ist prachtvoll und reich“, pries er die Bühne weiter.305 Reval stand Riga mit Blick auf das Theatergebäude nun in nichts mehr nach.

8. Die Finanzierung des Theaterbetriebs Das Stralsunder Theater entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Ort des lokalen und regionalen geselligen Vergnügens. Hier konnten Männer und Frauen unterschiedlicher sozialer und geographischer Herkunft Schauspiele sehen oder Maskenbälle besuchen.306 In Reval gingen (wohlhabende) Bürger und Adlige zwar ebenso regelmäßig zu Schauspielen oder Bällen. Ihre Veranstaltungen fanden aber an verschiedenen Orten statt, denn es existierte kein öffentliches Gebäude für einen derart vielfältigen Kulturkonsum. Obwohl es bereits im 18. Jahrhundert Bestrebungen gab, ein Theatergebäude zu errichten, wurde dieses Vorhaben erst im Jahre 1809 realisiert. Dafür beherbergte Reval anders als Stralsund bereits in den 1790er-­Jahren ein festes Schauspielensemble. 303 Struck: Die ältesten Seiten, S. 34 – 35. 304 Ruthenia, Mai-­Heft, 1809, S. 75. 305 August Friedrich Wilhelm von Kerten: Auszug aus dem Tagebuch eines Russen auf seiner Reise nach Riga, o. O. 1783, S. 138. 306 Im Theater fanden mitunter auch Lotterieziehungen statt. Vgl. dafür die Ausführungen zum Glücksspiel (Kap. III).

Die Finanzierung des Theaterbetriebs

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Vor dem Hintergrund dieser offensichtlich unterschiedlichen Entwicklung fragt der folgende Abschnitt nach der Finanzierbarkeit des Theaterbetriebs: Warum gelang es Stralsund mehr als vier Jahrzehnte vor Reval ein Theater zu eröffnen? Konnte der Unterhalt eines Theaters in einer Stadt von mäßiger Größe tatsächlich kommerziell erfolgreich sein? Weshalb fanden professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler in Reval bereits im 18. Jahrhundert vorrübergehend eine Heimat, während diese Entwicklung in Stralsund trotz fester Spielstätte noch etliche Dekaden dauern sollte?

8.1 Das Theatergebäude in Stralsund Für einige Zeitgenossen stellte ein Theatergebäude tatsächlich eine Option dar, Geld zu erwirtschaften. Die Stralsunder Freimaurerloge Zur Eintracht gründete das Stralsunder Theater als Unternehmen, das Profit für die Finanzierung des Waisenhauses abwerfen sollte. Ein Blick auf die benötigten Investitionen veranschaulicht allerdings eindrucksvoll, wie optimistisch die Gewinne kalkuliert worden waren. Der Kaufpreis des Silmerschen Hauses betrug 1.800 Reichstaler, wozu sich weitere 7.000 Reichstaler für notwendig Umbauten addierten.307 In Relation zum Vermögen und zu den Einnahmen der Loge, die sich aus den freiwilligen Stiftungsabgaben und den obligatorischen Beitragsgeldern abschätzen lassen, verursachten diese Investitionen eine enorme finanzielle Bürde. Die zehn Stifter der Eintracht hatten jeweils einen freiwilligen Obolus von 50 Reichstalern entrichtet. Dazu kamen für gewöhnlich monatliche Beiträge von 16 Schillingen (jährlich vier Reichstaler) pro Bruder, Gebühren für den Aufstieg im Gradesystem (1. Grad 25, 2. Grad 10 und 3. Grad 15 Reichstaler) sowie Strafzahlungen bei ungebührlichem Verhalten.308 Es überrascht daher wenig, wenn die Eintracht ihre Investitionen nicht aus eigener Kraft stemmen konnte. Die benötigten Geldmittel konnten die Freimaurer nur aufbringen, weil Logenmeister Charisius für den Kauf des Hauses bürgte (s. Kap.  IV .3) und Bruder David Heinrich Westphal die Umbaukosten übernahm. Letzterer forderte das geliehene Geld jedoch schnell zurück, sodass man gezwungen war, nennenswerte Überschüsse zu erzielen. Die Vermietung des Hauses an Prinzipal Leppert und die Ausrichtung von (Masken-)Bällen brachte eine gewisse Entspannung der monetären Situation. Doch Leppert diskreditierte

307 Den immer noch besten Überblick über die Anfänge der Eintracht in Stralsund bietet Rudolf von Haselberg, der als Sekretär und Archivar der Johannisloge Gustav Adolf zu den drei Strahlen Zugang zu den alten und heute teilweise verlorenen Aktenbeständen hatte. Vgl. Rudolf von Haselberg: Ueber die ersten Anfänge der Freimaurerei in Neu-­Vor-­Pommern (Schwedisch-­ Pommern) und besonders Stralsund, in: Bausteine gesammelt von Brüdern des Logen-­Bundes Royal York zur Freundschaft zu Berlin 2 (1882), S. 8 – 27, hier S. 12. Das einschlägige Archivmaterial wurde im GStPK teilweise gesichtet, wodurch der Haselbergschen Darstellung relevante Details hinzugefügt werden können. Vgl. GStPK, Rep. 5.1.3, Nr. 10121. 308 Haselberg: Ueber die Anfänge, S. 12.

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Das Theater

sich bereits 1767 durch einen Skandal mit seiner Frau und verließ daraufhin Stralsund.309 Die Maskenbälle spülten außerdem nur wenig Einnahmen in die Logenkasse, weil die Eintracht als Gastgeberin für eine gute Bewirtung und Unterbringung der Gäste zu sorgen hatte. Die Eintrittspreise erwirtschafteten daher selbst bei vollem Haus nur einen verhältnismäßig geringen Profit.310 Spätestens als 1769 erneut Reparaturen am Komödienhaus anstanden und der Zimmermeister Hellwig knapp 1.900 Reichstaler und der Maurermeister Büttner etwas mehr als 1.300 Reichstaler für diese verlangten, geriet das Theaterunternehmen in ernsthafte Geldsorgen und die Eröffnung des Waisenhauses rückte in immer weitere Ferne.311 Zusätzlich zu der ökonomischen Misere schwelte ein logeninterner Konflikt, der den Beitritt der Eintracht zur „Strikten Observanz“, einem stark hierarchisierten Hochgradesystem, betraf.312 Zu allem Überfluss unterminierte der Lotterieskandal Anfang der 1770er-­Jahre nicht nur die Vertrauenswürdigkeit der Johannisloge, sondern entzog ihr zudem jeglichen finanziellen Handlungsspielraum. Von nun an trat die Eintracht nicht mehr öffentlich in Erscheinung und stellte ihre offizielle Arbeit vermutlich vollständig ein.313 Daraufhin übernahm der Kaufmann Lukas Friedrich Stegemann – ein Gründungsmitglied der Loge – den Unterhalt des Theaters. Durch die Weiterführung des gewöhnlichen Betriebes, wozu die Vermietung des Hauses an Prinzipale zählte, und durch Einsparungen bei der Instandhaltung des Gebäudes, versuchte er die Schulden der Eintracht abzutragen.314 Inwiefern ihm das gelang, ist aus den Quellen nicht zu entnehmen. Da sich die Loge aber anschließend nicht mehr öffentlich engagierte und sich 1797 eine neue Johannisloge gründete (Gustav Adolf zu den drei Strahlen), dürfte die Eintracht wohl nicht mehr weiter existiert haben.315

309 Ebd. S. 16. Haselberg nennt Leppert nicht beim Namen, aber es kann sich aufgrund der Zeitangabe nur um Leppert handeln. Für seinen weiteren Lebensweg vgl.: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 38. 310 Haselberg: Ueber die Anfänge, S. 15. 311 Vgl. die Rechnungen vom 5.3. und vom 6. 3. 1769 in GStPK, Rep. 5.1.3, Nr. 10121. 312 Zur Strikten Observanz in Schwedisch-­Pommern vgl.: Önnerfors: 240 Jahre schwedische Freimaurerei in Deutschland S. 166 – 173. Allgemein zur Strikten Observanz s.: René Le Forestier: Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 18. und 19. Jahrhundert. Erstes Buch: Die Strikte Observanz, Leimen 1987. 313 Eine Ausnahme stellt die Erwähnung der Eintracht bei den Umbauarbeiten des Theaters in den 1780er–Jahren dar. Vgl. dazu Kap. III.3.4.2. 314 Haselberg: Ueber die Anfänge, S. 18 und Struck: Die ältesten Zeiten, S. 31; Heinrich Wilhelm Lorenz: Aus vergilbten Blättern einer verschollenen Loge, Bayreuth 1975 (vierseitiger maschinengeschriebener Aufsatz in der Freimaurerbibliothek Bayreuth). 315 Heiko Vollquardsen: Die Geschichte der Johannisloge „Gustav zu den drei Strahlen“ in Stralsund von der Gründung 1797 bis zur Grundsteinlegung des Logenhauses 1847, Bayreuth o. J. (fünfseitiger maschinengeschriebener Aufsatz in der Freimaurerbibliothek Bayreuth).

Die Finanzierung des Theaterbetriebs

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8.2 Das Theatergebäude in Reval Die Schwierigkeiten der Freimaurer bei der Instandsetzung und Unterhaltung des Theatergebäudes demonstrieren, welch hohen finanziellen Aufwand ein solches Unternehmen tatsächlich bedeutete. Die Revaler Liebhabergesellschaft hätte das benötigte Geld dagegen durchaus akquirieren können, sah sich aber mit Vorbehalten innerhalb der Stadt konfrontiert, die sicherlich im Zusammenhang mit der teilweise verbreiteten Abneigung gegen das Amateurtheater standen.316 Obwohl die geplante Errichtung des Theaters 1791 scheiterte, ist die Vision dieser Unternehmung interessant, weil sich daran das Bedürfnis nach einem Ort mit sozialen Freiräumen illustrieren lässt. Ursprünglich hatte sich die Liebhabergesellschaft vorgenommen, ihre Bühne im Großen Gildenhaus umzubauen, was nur verhältnismäßig geringe Kosten verursacht hätte. Der Umbau wurde nötig, da der vorhandene Saal bei voller Besetzung „bey der Anwesenheit des Adels in der Stadt, sowohl Zuschauer als Schauspieler genirte.“317 Die Gilde genehmigte das Vorhaben, doch die Liebhabergesellschaft musste „wegen unüberwindlicher, in der Sache selbst liegender, Hindernisse, diesen ganzen Plan aufgeben“.318 Nun blieb nur noch die Errichtung eines neuen Schauspielhauses, wofür man hohe Investitionen benötigte. Schon bald ergab sich eine Finanzierungsmöglichkeit: Der Gouverneur Estlands, Johann Heinrich von Wrangell, bekleidete gleichzeitig das Amt des Vorsitzenden des „Kaiserlichen Kollegiums der Allgemeinen Armenfürsorge“ und bot der Liebhabergesellschaft einen Kredit über 8.000 Rubel aus der Kasse des Kollegiums an. Die Rückzahlung der Schuld sollte über mehrere Jahre aus den zukünftig üppigen Einnahmen der Vorstellungen erfolgen. Zudem enthielt der Plan des Theatergebäudes nicht nur einen Schauspielsaal, sondern beinhaltete gleichzeitig Räumlichkeiten für gesellschaftliche Zusammenkünfte wie Klubs, Hochzeiten oder Bälle.319 Die daraus resultierenden Mieteinkünfte sollten zusätzlich helfen, den Kredit abzutragen. Für die Liebhabergesellschaft ergaben sich aus diesem Angebot allerdings zwei Probleme. Erstens verstand sie sich primär als wohltätiges Unternehmen, das außerdem Freude und Vergnügen beim Publikum erzeugen wollte. Mit der Aufnahme eines substanziellen Kredits würden sie jedoch über Jahre hinweg kein Geld mehr für die Armen einspielen, sondern lediglich eine Investition refinanzieren. Doch dieser Punkt schien deshalb nicht so schwer zu wiegen, weil man sich das Geld von der Armenkasse lieh. Die Rückzahlungen einschließlich der anfallenden Zinsen hätten damit für einen guten Zweck zur Verfügung gestanden. Zweitens wollte die Liebhabergesellschaft gar nicht Eigentümer des Theaters 316 Zu den Vorbehalten gegenüber der Liebhabergesellschaft und ihrem Theaterengagement s. Kap. IV.4.4. 317 Arvelius: Fortsetzung und Beschluss, S. 85. 318 Schreiben der Liebhabergesellschaft an den Stadtrat vom Februar 1791: TLA, Rep. 230.1.B. O.21, pag. 3r. 319 Arvelius, Fortsetzung und Beschluss, S. 86.

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Das Theater

werden. Vielmehr sollte es in den Besitz des Adels und der Stadt Reval übergehen, während sich die Liebhaber selbst nur als Administratoren sahen. Falls sich ihre Gesellschaft auflösen würde, konnte das Theater weiterhin zum Wohle der Bedürftigen bespielt werden, „so daß es als eine immerwährende wohlthätige Stiftung“ erhalten bliebe.320 Letztlich verhinderte weder die Klärung der Besitzrechte noch die Finanzierung den Theaterneubau, sondern grundlegende Differenzen bei der Wahl eines Ortes. Für die Liebhabergesellschaft stand fest, dass es keinen geeigneteren Platz für das Gebäude als ein Grundstück am Markt in Reval gab und dass die Vorderseite des Theaters dem Rathaus direkt gegenüberstehen sollte.321 Warum dieser ambitionierte Plan scheiterte, muss allerdings offenbleiben. Ein zeitgenössischer Kommentar von Arvelius verrät lediglich, dass die Wahl des Ortes der „Stein des Anstoßes“ war.322 Möglicherweise formierte sich die oben bereits diskutierte Theateropposition geschlossen gegen ein Schauspielhaus an derart prominenter Stelle oder die Besitzer der entsprechenden Grundstücke wollten ihre Häuser nicht verkaufen. Doch obwohl die Details des gescheiterten Theaterbaus nicht exakt rekonstruiert werden können, bleibt festzuhalten, dass das Projekt nicht aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen fehlschlug. Reval erhielt letztlich 1809 sein erstes Theatergebäude. Entscheidend für den Erfolg des Projektes war, dass es nun für professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler unter der Leitung eines talentierten Tenorsängers und tüchtigen Direktors namens Benedikt Lebrecht Zeibig errichtet werden sollte. Zudem versteifte man sich nicht auf den Gedanken, das Gebäude unbedingt am Markt, dem Rathaus gegenüber zu errichten. Nachdem sich Zeibig 1804 in Reval eingefunden hatte, vereinigten sich mehrere angesehene Persönlichkeiten zu seiner finanziellen Unterstützung. Kurz darauf übernahmen sie gemeinschaftlich die gesamte Verantwortung der Theaterfinanzierung, woraufhin Zeibig als Regisseur und Sänger sowie das gesamte Ensemble eine feste Gage erhielten. Im Jahre 1807 wurde aus der informellen Unterstützergruppe ein Aktienunternehmen, das neben der Sicherung der Finanzen und der Gestaltung des Repertoires auch die Planung eines Theatergebäudes verantwortete.323 Die Leitung des sogenannten Actien-­Clubs oblag einem elfköpfigen Komitee, das sich aus Personen des estländischen Adels und der wohlhabenden Kaufmannschaft Revals rekrutierte.324 Finanziell abgesichert galt es nun, einen fähigen Architekten zu engagieren. Das Vorhaben glückte mit der Unterstützung des erfahrenen, in Riga und Mitau hervorragend vernetzten Johann Christoph Meyrer. Er hatte unter dem Rigaer Theatermäzen Vietinghoff gespielt und leitete ab Mitte der 1790er den dortigen Theaterverein, der der Revaler 320 TLA, Rep. 230.1.B. O.21, fol. 4r. 321 Ebd. 322 Arvelius: Fortsetzung und Beschluss, S. 86. 323 Zu den Aktivitäten und Bekanntmachungen des Aktienklubs von 1807 bis 1812 vgl. TLA , Rep. 230.1.B. O.24. 324 Rosen: Rückblicke, S. 150 – 151, 154.

Die Finanzierung des Theaterbetriebs

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Aktiengesellschaft organisatorisch ähnelte.325 Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Meyrer als Theaterdirektor in Mitau fungiert und pflegte daher enge Beziehungen zu dem Architekten und Baumeister Gottfried Henning, der den dortigen Bau des Schauspielhauses zwischen 1800 und 1802 geleitete hatte.326 Henning akzeptierte das von Meyrer vermittelte Angebot der Aktiengesellschaft, die Planung und Durchführung des Revaler Theaterbaus für einen Lohn von 1.000 Rubel plus eines Reisegeldes von 200 Rubeln zu übernehmen.327 Den imposanten Saal des Theaters entwarf der talentierte Stadtarchitekt Revals, Johann Carl Ludwig Engel, der ein Zeitgenosse Karl Friedrich Schinkels war und ebenfalls an der Berliner Bauakademie studiert hatte. Obwohl Engel aus Kostengründen nicht alle seine Ideen umsetzen konnte, nahm ein Kritiker das Innere des Theaters als „geräumig, schön und geschmackvoll“ dekoriert wahr und empfand es als größer und schöner als in Riga.328 Die Kosten für das Theatergebäude in der Breitenstraße (heute Lai 1) beliefen sich auf fast 100.000 Rubel Banco, was selbst für eine Gruppe wohlhabender Personen eine enorme Investitionssumme darstellte.329 Am 1. Februar 1809 öffnete das Haus unter der Dirketion von Johann Ludwig Büchner aus Hamburg mit Kotzebues Vorspiel „Die beyden Zauberer“ und Ifflands Schauspiel „Alte und neue Zeit“.330

8.3 Die Finanzierung der Darstellerinnen und Darsteller Die bisherigen Ausführungen demonstrieren insbesondere die unternehmerischen Risiken des Inhabers eines Theatergebäudes sowie die (finanziellen) Schwierigkeiten bei dessen Planung und Durchführung. Diese Perspektive beachtet allerdings nur eine Seite der Finanzierung des Theaterbetriebes. Auf der anderen Seite lebte das Schauspielhaus von den Aktivitäten auf der Bühne, organisiert von Prinzipalen. Unter ihrer Führung gastierten in 325 Dagmar Reimers: Geschichte des Rigaer deutschen Theaters von 1782 – 1822, Posen 1942, S. 21 – 22, 26 – 30. 326 Bosse: Die Etablierung des deutschen Theaters, S. 94 – 95; Rosen, Rückblicke, S. 151. Hallas-­ Murula äußert die Vermutung, dass Henning kein „richtiger“ Architekt gewesen sei, weil man über ihn zu wenig Angaben in einschlägigen Lexika findet. Vgl. Karin Hallas-­Murula: Das Gebäude des Revaler Theaters (1809) und die deutsche Theaterarchitektur der Kotzebue-­ Zeit, in: Klaus Gerlach, Harry Liivrand und Kristel Pappel (Hrsg): August von Kotzebue im estnisch-­deutschen Dialog (= Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800, Bd. 22), Hannover 2016, S. 47 – 59, hier S. 49. 327 TLA, Rep. 230.1.B. O.21, pag. 15r. 328 Zitiert aus: Ruthenia, Mai-­Heft, S. 75; Hallas-­Murula: Das Gebäude des Revaler Theaters, S. 51 – 54. 329 Offensichtlich hatte die Aktiengesellschaft aufgrund der riesigen Investitionssumme nicht mal mehr genügend Geld, um die ausstehende Miete bei der Großen Gilde zu bezahlen. Vgl. Rosen, Rückblicke, S. 152. 330 Vgl. zur Eröffnung des Theaters: Kristel Pappel und Heidi Heimaa: Kotzebue als Förderer der professionellen Bühne in Reval, in: Gerlach/Liivrand/Pappel (Hrsg), August von Kotzebue, S. 25 – 45, hier S. 34 – 36.

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Das Theater

Stralsund während des gesamten Untersuchungszeitraums und in Reval zumindest bis zur Gründung der Liebhaberbühne Wandergesellschaften, die als eigenständige Unternehmen arbeiteten. Der Prinzipal verantwortete das Repertoire, die Qualität seiner Truppe und natürlich auch die Geldangelegenheiten. Zu den Ausgaben gehörten beispielsweise die Gagen der Schauspieler/innen, die Mieten für die Spielorte, die Ausstattung des Bühnenbildes und, nicht zu vergessen, die Abgaben an die Armenkasse. Auf der Einnahmenseite machten die Eintrittsgelder den mit Abstand größten Posten aus. Mit dem Liebhabertheater in Reval setzte eine von Stralsund zu unterscheidende Entwicklung der Bühne ein. Da die Liebhabergesellschaft aus wohlhabenden Personen bestand und zudem ausschließlich in oder in unmittelbarer Nähe von Reval auftrat, stellte die Finanzierung ihres Spielbetriebs kein Problem dar; sie konnten sogar nennenswerte Beträge für die Armenfürsorge spenden (s. Kap.  IV.4.5). Nachdem die Gesellschaft ihre Aktivität eingestellt hatte, vereinigte sich eine Gruppe gut situierter Personen zur Finanzierung einer stehenden Bühne. Deshalb brauchte sich die Revaler Schauspielgesellschaft zumindest kurzzeitig nicht um ihre Einnahmen und Ausgaben kümmern. Jedoch blieb eine gesicherte Finanzierung der Schauspielerinnen und Schauspieler eher die Ausnahme. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, wie sich die finanzielle Situation der Wandergesellschaften sowie der stehenden Bühne in Stralsund und Reval darstellte. 8.3.1 Die Wandergesellschaften Die „Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters“ der bis 1782 in Stralsund spielenden Schauspielgesellschaften bietet einen ersten Einblick in die Geldprobleme der Prinzipale.331 Demzufolge kamen die Ambergsche und die Ilgenersche Gesellschaft mit Schulden nach Stralsund und mussten sich nach der Spielzeit in der Hansestadt auflösen. Prinzipal Joseph Preinfalck entwendete nach einer erfolgreichen Saison die Kasse und verließ seine Truppe mit beträchtlichen Rückständen. Der Verfasser der Theatergeschichte resümierte, dass etliche Gesellschaften in Stralsund Insolvenz angemeldet hatten: Die Truppen waren entweder zu zahlreich, oder gaben zu starke Gagen, oder kamen mit Schulden und im Sommer an, oder blieben zu lange, oder richteten sich nicht nach dem Geschmack des Publikums.332

Für die 1790er-­Jahre lässt sich der Bankrott eines Prinzipals zumindest teilweise rekonstruieren. Johann Ferdinand Kübler bespielte die Stralsunder Bühne von 1795 bis 1797. Aus Greifswald, Schwerin, Doberan, Wismar und Rostock hatte er hohe Geldforderungen mitgebracht, weshalb seine Einnahmen aus den Eintrittsgeldern in Stralsund an seine Gläubiger gepfändet werden sollten. Ein Kammerdiener begleitet ihn stets und führte über 331 Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, S. 225 – 233. 332 Ebd., S. 232.

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sämtliche Transaktionen Küblers Buch. Um wirklich alle Eintrittsgelder der Gesellschaft erfassen zu können, veröffentlichte die städtische Finanzverwaltung in der Stralsundischen Zeitung eine unmissverständliche Aufforderung: Es wird hiedurch öffentlich bekannt gemacht, daß bey den Vorstellungen der Küblerschen Gesellschaft keinen andre[n] Billette, als diejenigen, welche im Schauspielhause bey dem Kassentische baar an den hiezu von der Kammer bestellten Aufseher bezahlt werden, um eingelassen zu werden, gelten, und alle andere[n] Billette, die etwan von dem Directeur im Hause, oder auch von andern Schauspielern oder sonst auf irgend eine Art und Weise erhandelt zu werden pflegen, zurück gewiesen werden sollen.333

Aufgrund der rigorosen Überwachung der Einnahmen sind Aufwand und Erträge von insgesamt elf Vorstellungen des Jahres 1795 erhalten,334 die darüber hinaus als unparteiisch gelten können, weil sie weder vom Gläubiger noch vom Schuldner stammen. Aus der Auflistung ergibt sich, dass Kübler zwischen dem 17. Juni und dem 2. Juli Bruttoeinnahmen von 770 Reichstalern und 35,5 Schillingen generierte. Was seine Einkünfte wert waren, lässt sich aus dem Verhältnis zu den laufenden Kosten ermessen. Die wöchentlichen Gagen für die beiden Schauspielerinnen und die 18 Schauspieler beliefen sich insgesamt auf 94 Reichstaler, sodass ein Viertel der Einnahmen an seine Truppe ging. Ein weiterer kostenintensiver Faktor stellte die Ausgestaltung der Stücke dar. Eine teure Erstproduktion wie „Die Zauberflöte“ kostete ohne Berücksichtigung der Gagen nicht weniger als 46 Reichstaler und 28 Schillinge. Dabei summierten sich die einmaligen Ausgaben für Requisiten und Kostüme auf nicht einmal neun Reichstaler. Das Gros der Aufwendungen entfiel auf wiederkehrende Kosten, von denen besonders die elf Reichstaler für das Orchester deutlich zu Buche schlugen. Somit hatte Kübler nach Abzug aller Kosten, nachdem er unter anderem vier Mal erfolgreich „Die Zauberflöte“335 gespielt hatte, etwas mehr als 66 Reichstaler eingenommen, was jedoch nicht für die Forderungen aller Gläubiger reichte. Diese auf bloßen Zahlen basierende Episode der Küblerschen Gesellschaft zeigt, wie schwierig sich der wirtschaftliche Betrieb einer Schauspieltruppe gestalteten konnte; die Prinzipale mussten permanent auf die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens achten. Vor dem Hintergrund wirkt die Anfang September 1795 von Kübler geschaltete, in ihrem Ton durchaus unübliche Anzeige hilflos und entmutigt: Als Schauspiel-­Director habe ich es mir nie in den Sinn kommen lassen, diesen wirklich mühsamen Posten, um Reichthümer zu sammeln, zu übernehmen. Nein! ich habe mir Ver-

333 StrZ, Nr. 72, 18. 06. 1795. 334 Die folgenden Daten stammen aus: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 67 – 69. 335 Im August desselben Jahres kam er nochmals für zwei Wochen nach Stralsund und warb am 13. 08. 1795 in der Stralsundischen Zeitung erneut explizit mit „Der Zauberflöte“, wovon er sich „einen zahlreichen Zuspruch“ versprach.

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gnügen und Ehre daraus gemacht, als Führer eine Gesellschaft durch Vorstellung guter Moral und Sitten, meinen Nebenmenschen nützlich zu werden – und immer bin ich zufrieden und belohnt genug, wenn ich nur als ein ehrlicher Mann einhergehen, und mir und meiner Gesellschaft den nothwendigen Unterhalte verschaffen kann. […] Ich bin […] überzeugt, daß Einem verehrungswürdigem Publikum Moral und Sitten nie gleichgültig sind, […]. Bey meiner jetzigen Abreise von Stralsund lasse ich meinen unterthänisten Dank, für die mir bewiesene Liebe und Gewogenheit, zurück, und bitte – damit ich mit frohem Muthe, vielleicht binnen kurzer Zeit, wieder zurück kehren kann – nicht zu vergessen den mit Ergebenheit sich empfehlenden Kübler.336

Der verschuldete Kübler kehrte tatsächlich im Januar 1796 nach Stralsund zurück und ergriff beim dortigen Stadtrat im März das letzte Mal die Initiative. Er ersuchte die Obrigkeit um eine mehrere Jahre andauernde Schauspielerlaubnis für Stralsund und bezog dabei auch andere umliegende Städte mit ins Kalkül. Die Erfahrung hat mich belehret, und das Beyspiel aller in Stralsund bisher gewesener Directeurs hat es bestätigt, daß Stralsund so wenig als Rostock eine Gesellschaft zu ernähren im Stande sey, wohingegen beyde Orte vereinigt mit Güstro und Dobberan gewiß hinreichen werden, eine kleine Gesellschaft von 16 Personen, als so stark meine Gesellschaft künftig sein wird, zu erhalten, zumahl wenn Sparsamkeit dabey beobachtet wird.337

Der Stralsunder Rat verwehrte Kübler allerdings eine langjährige Konzession. Der Prinzipal sah sich daraufhin zur Begleichung seiner Schulden gezwungen, sämtliche Mobilien seiner Wandergesellschaft zu verkaufen. Am 23. Marz schloss Kübler mit dem Stralsunder Kaufmann Emanuel Friedrich Klünder einen Vertrag, der vorsah, dass Klünder für 2.250 Reichstaler alle Kostüme, Dekorationen, Bücher und Musikalien erhielt. Gleichzeitig durfte Kübler zwar weiterhin als Schauspieler agieren, verlor dafür allerdings jegliche Befugnisse eines Direktors. Er unterstand nun dem Kaufmann beziehungsweise dem „Aufseher“ Friedrich Zacharias Fritz, der die Einnahmen entgegennahm und die Ausgaben überwachte.338 Dem Kaufvertrag fügte man ein Inventar hinzu, das den mobilen Besitz Küblers genau auflistete. Sofern man ihn als einen repräsentativen Direktor einer Wandergesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts ansieht, veranschaulicht das Inventar eindrucksvoll, wie viele Kostüme und Requisiten die Leitung eines Theaterbetriebs verlangte. Zunächst führt die Liste die „Theater-­Garderobe“ auf: 1. 2 blaue, 3 rothe, 2 grüne, 5 gelbe und 1 blau Tuchen Militaire-­Uniform, 2. 1 schwedische National-­Uniform blau mit Gold, 336 StZ, Nr. 104, 01. 09. 1795. 337 Zit. aus: Struck: Die ältesten Seiten, S. 72. 338 Für den Kaufvertrag mit dem Inventar der Theatersachen s.: Stralsunder Stadtarchiv, Rep. 3, Nr. 2560.

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3. 1 grün tuchendes Kleid mit gestickter weisser Weste. […] 33. das Schwarze Kleid für die Königin der Nacht 34. Papagenos Kleid und ihres dazu […] 64. 20 Perüken 65. 1 Paar altteutsche Stiefeln 66. Verschiedene Kleinigkeiten zum Ballett oder sonsten gebraucht 67. 2 Paar lange Beinkleider von dunckelviolett Tamis.“339 Die Aufzählung begann mit unterschiedlichen Uniformen und endete mit kleineren Requisiten. Die Nummern 33 und 34 führten spezielle Kostüme für die „Zauberflöte“ auf. Kübler besaß aber nicht nur Kostüme für diese Oper. Weiterhin werden „Decorationen zur Zauberflöte gehörig“ genannt, die 39 unterschiedliche Prospekte oder Kulissen umfassten. Darüber hinaus folgten 95 „Decorationes und was sonst zum vollsändigen Theater gehört“. Dies konnte von einem „Saal Prospect mit 6 Coulissen“, einem Schloss mit Tür oder einem Thorn bis zu einem Schiff mit Mastbaum, einem Altar oder einem hölzernen Bein alles sein. Die Kosten für Schauspieler/innen, Kostüme, Dekoration, Saalmiete, Licht usw. deckte vor allem der Erlös aus den Eintrittskarten, die Haupteinnahmequelle der Gesellschaften, sofern sich keine wohlhabenden Theaterliebhaber als Finanziers fanden.340 Somit stellten die zahlenden Gäste die entscheidenden Geldgeberinnen des Theaters. Konkret bezahlte das Publikum für Küblers elf Vorstellungen knapp 771 Reichstaler, wovon mehr als zwei Drittel auf die vier Vorstellungen der „Zauberflöte“ zurückzuführen sind. Dieses Verhältnis belegt, welch großes Zuschauerinteresse aufwendige Inszenierungen berühmter Opern entfalteten. Aus der starken Nachfrage nach Opern resultierte auch der Erfolg der Tillyschen Gesellschaft, die nach der vorläufigen Einstellung des Liebhabertheaters als erste in Reval gastierte. Da eine wenig musikalische, aus Laien zusammengesetzte Gesellschaft jahrelang das zahlende Publikum unterhalten hatte, wurden die Aufführungen von Mozarts „Zauberflöte“ und „Don Giovanni“ sowie Dittersdorfs „Das rote Käppchen“ und „Doktor und Apotheker“ beim Publikum als „Sensation“ und „Neuheit“ gefeiert.341 Zwar ergab sich aus 339 StASt, Rep. 3, Nr. 2560. 340 Wenngleich es in Stralsund nur kurzzeitig der Fall war, halfen Einzelne oder Gruppen oftmals beim Unterhalt des Theaterbetriebs. Heinrich Bosse erklärt die Finanzierung des Theaters am Beispiel von Riga und kommt zu folgendem Schluss: „Das also sind die vier Schritte, die der bürgerliche Theaterfreund zurückzulegen lernt: vom individuellen Mäzenat über das Abonnement und den Bilanzausgleich ad hoc zur ständigen Subventionierung.“ Bosse: Über die soziale Einbettung des Theaters, S. 113. 341 Journal für Theater und andere schöne Künste im Jahre 1797. Entnommen aus: Rosen: Rückblicke, S. 131. Einen hervorragenden Überblick über das Revaler Theaterleben mit dem Fokus auf Opern zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts bietet: Kristel Pappel: Muusikateater Tallinnas XVIII sajandi lõpus ja XIX sajandi esimesel poolel. Mozartist Wagnerini [Das Musiktheater in Tallinn am Ende des 18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des

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der Inszenierung dieser Stücke ein gewisser Aufwand, aber da die Liebhabergesellschaft ihre Dekoration zu Verfügung stellte und die Tillyische Truppe wohl zusätzlich über den üblichen Fundus verfügte, dürften die Einnahmen aufgrund der ansehnlichen Zuschauerzahlen auskömmlich gewesen sein. Blieb das Publikum jedoch den Vorstellungen fern, lief der Prinzipal Gefahr, sich zu verschulden und damit möglicherweise das ganze Unternehmen zu ruinieren. Es konnte also nur im Interesse des Prinzipals und seiner Gesellschaft liegen, Vorstellungen zu inszenieren, die großen Anklang beim zahlenden Publikum fanden. Unter die Kategorie „zahlendes Publikum“ fielen nicht nur die Gäste des Parterres, die der Schauspieltruppe mit ihrer Reaktion eine sofortige Rückmeldung gaben oder später ihre Theaterkritik schriftlich formulierten (s. Kap. IV.7). Die Zuschauer, die dem Treiben auf der Bühne von der Galerie aus folgten, lieferten einer Gesellschaft ebenso willkommene Einnahmen. Immerhin betrug das Verhältnis der Preise von Parterre und Galerie bei 2:1 bzw. 2,67:1.342 Mit anderen Worten konnten nur zwei bis drei Galeriegäste den finanziellen Verlust beim Fernbleiben eines Parterrebesuchers wettmachen. Das berücksichtigte beispielsweise der 1768 in Stralsund gastierende Prinzipal Berger: Berger hatte damals nur fünf oder sechs Opern, mit denen er sich den ganzen Sommer erhielt. Hinterher tischte er bisweilen ein Extemporale [eine Stehgreifeinlage] für die Gallerie auf, welches der feinere Theil seines Publikums denn so hingehn ließ, weil im Ganzen es mit dem Mann zufrieden war.343

Erfolgreiche Gesellschaften standen also vor der Herausforderung, dem heterogenen Geschmack des Publikums, zu dem eben nicht nur das Parterre oder die Loge gehörte, gerecht zu werden. Erschwerend kam hinzu, dass sich die Schauspielgesellschaften gleichzeitig verpflichteten, die von Stadtrat und Regierung offiziell gesetzten Grenzen einzuhalten.344 Doch nicht nur unterschiedliche Geschmäcker und Normen mussten bedient werden. Schauspielgesellschaften taten weiterhin gut daran, auf die Zahlungsfähigkeit des Publikums einzugehen. Die Eintrittspreise blieben im Verlauf des 18. Jahrhunderts weitgehend stabil und betrugen in Stralsund 24 Schillinge für die Loge, 16 Schillinge für das Parterre und 8 Schillinge für die Galerie. In Reval, wo bis 1809 nur die Säle der Gilden als Bühnen fungierten, unterschied man lange nur zwischen zwei Preisen: für die teurere Kategorie wurde ein Rubel fällig und für die preiswertere Alternative 50 Kopeken. Anfang des 19. Jahrhunderts kam noch eine Kategorie hinzu, die 1 Rubel und 25 Kopeken kostete. Hier waren

19. Jahrhunderts. Von Mozart bis Wagner] (= Eesti Muusikaloo Toimetised, 2), Tallinn 1996, für eine deutsche Zusammenfassung s.: S. 79 – 84. 342 Vgl. dafür die Ausführungen in Kap. IV.6. 343 Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, S. 227. 344 Vgl. hierzu oben die Ausführungen zu Schillers „Räuber“.

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die Plätze in den ersten beiden Reihen vor der Bühne des Saals platziert.345 Zusätzlich zu diesen regulären Preisen existierten besondere Angebote, die das Nachfrageverhalten des Publikums beeinflussen konnten. Dazu gehörten zum einen das Abonnement und zum anderen der sogenannte „Pränumerationspreis“. In der Stralsundischen Zeitung erschien 1775 eine kurze Annonce mit dem Hinweis auf ein Abonnement für die Loge sowie das Parterre.346 Die Anzeigen konnten aber auch umfangreicher sein und sogar zwei oder mehr Seiten einnehmen. Prinzipal Peter Florenz Ilgener informierte 1777 weitaus detaillierter über seine bevorstehenden Gastauftritte. Er führte in seiner Annonce zwölf Stücke mit den zugehörigen Autoren auf, die für einen Platz im Parterre zu einem Entgelt von zwei Reichstalern abonniert werden konnten. Das entsprach einem Vorstellungspreis von acht statt der üblichen 16 Schillinge pro Stück. Zusätzlich knüpfte er sein Kommen, das er zwei Monate nach dem Schalten der Anzeige plante, an die Bedingung, mindestens 300 Abonnements verkauft zu haben. Man könne auch nicht bloß, wie er explizit schrieb, kein halbes Abonnement erhalten, sondern müsse schon das ganze erwerben.347 Auch für Reval lässt sich unter der Direktion von Madam Tilly das Abonnement-­System nachweisen. Doch hier zielte es nicht auf das breite Publikum, sondern richtete sich ausschließlich an den wohlhabenden Teil der Gesellschaft; es waren nur Abonnements für die Logen zu erhalten. Interessenten sollten sich „Dienstag und Donnerstag Nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr“ einfinden, um „die Logen in Augenschein zu nehmen, und die näheren Bedingungen zu verabreden.“348 Der Verkaufsmechanismus verrät bereits, dass es sich hierbei nur um ausgewählte Personen handelte, mit denen man individuell über die Logenvergabe verhandelte. Als Beispiel für die zweite Rabattmöglichkeit dient das Angebot von Anton Berger aus dem Jahre 1778, bei dem es hieß, dass man sich eine Woche lang für 18 der geplanten 36 Vorstellungen eine sogenannte „Pränumeration“, also eine Art Vorzugspreis auf selbstgewählte Stücke, sichern konnte.349 Offenbar interpretierten einige Theaterliebhaber das Angebot fehlerhaft, da Berger am 18. April 1778 Folgendes richtigstellen musste:

345 Vgl. die Theaterzettel des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in TLA, Rep. 230. 1.B. O.26. In der Revalischen Wöchentlichen Zeitung veröffentlichten die Schauspielgesellschaften nur sehr selten die Preise für das Stück. Hier eines der wenigen Ausnahmen: „Morgen, als den 21sten dieses, werden die sich hier aufhaltenden Italiener auf dem Theater in der kleinen Gildenstube eine dreystimmige Opera Buffa; betitelt. Die belohnte Freundschaft: aufzuführen die Ehre haben. […] Für den ersten Platz zahlet man 1 Rub., für den 2ten 50 Kop.“ RWN, Nr. 8, 20. 02. 1783. 346 StZ, Nr. 87, 22. 07. 1775. 347 StZ, Nr. 72, 17. 06. 1777. 348 RWN, Nr. 41, 08. 10. 1795. 349 StZ, Nr. 41, 04. 04. 1778.

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Es wird, ich weiß nicht, von wem, ausgesprengt, daß künftig, jedesmal für den Pränumerationspreis, Billets zu haben wären. Ich muß das Gegentheil versichern, weil ich nicht willens bin, einen Preis einzuführen, der meinen Nachkommen schädlich seyn könnte […].350

Während die Zuschauer versuchten, so günstig wie möglich an Karten zu gelangen, mussten die wirtschaftlich denkenden Prinzipale darauf achten, möglichst hohe Einnahmen zu erzielen bzw. diese bereits vor den Auftritten absehen zu können. Zu einer Zeit, in der das Stralsunder Theater keine Subventionen erhielt, sondern sogar zur finanziellen Unterstützung für Bedürftige abgeschröpft werden sollte, mussten kommerziell erfolgreiche Prinzipale stets ihre Einnahmen und Ausgaben kalkulieren und bei Fehlentwicklungen entsprechend reagieren. Das Leben der Prinzipale barg trotz der präsentierten Maßnahmen erhebliche monetäre Risiken. Das Pommersche Krämerdütchen schlug deshalb eine konkrete Lösung für die gesicherte Finanzierung des Schauspielhauses vor. Der anonyme Autor kleidete seine Idee in eine rhetorische Frage: […] was machte es aus, wenn der adeliche Einwohner, der Kaufmann, der wohlhabende Bürger sich die Wintermonate hindurch zu einem mäßigen Abbonnement determinirte; wenn der Officier, der Königliche und Bürgerliche Beamte sich monatlich von seinem Gehalt eine Kleinigkeit fürs Theater abziehn liesse?351

Diese Art der Subvention gehörte jedoch zu den optimistischen Ideen eines Aufklärers und fand in Stralsund, anders als in Reval, keinen Widerhall. Tatsächlich kann man jedoch aus den Quellen einen ernstgemeinten Finanzierungsversuch für eine stehende Bühne in Stralsund nachweisen. In einem Brief aus dem Juni 1780, den das Theater-­Journal für Deutschland abdruckte, hieß es, dass der wohlhabende Unternehmer Herr Timme ein stehendes Theater vor Ort aufbauen wolle. Die Landesregierung habe ihm bereits das erforderliche Privileg zugesprochen und nun müsse er nur noch das Ensemble engagieren.352 Aus der später veröffentlichten „Stralsundischen Theatergeschichte“ erfährt man indes vom Scheitern des Unternehmens: Sein Plan war gut; allein ihn durchzusetzen, dazu hatte der Mann weder Geist, noch Muth und Geduld genug. Er verlangte Früchte vor der Zeit, fing an zu knickern, gab Halbköpfen mehr Gehör, als Männern von Einsicht; und so konnte es dann nicht fehlen, daß sein Unternehmen scheiterte.353

350 StZ, Nr. 47, 18. 04. 1778. 351 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 31, 03. 08. 1775 S. 485. 352 Anonym: Auszüge aus Briefen, in: Theater-­Journal für Deutschland 17 (1781), S. 101 – 110, hier S. 109 – 110. 353 Anonym: Kurze Geschichte des Stralsundischen Theaters, S. 230 – 231.

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Demnach hatte Herr Timme keine Erfahrung bei der Organisation eines Theaters und konnte sich darüber hinaus nicht auf gute Berater verlassen. Interessant bleibt aber, dass er scheinbar die Meinung vertrat, aus dem Unternehmen trotz geringer Investitionen hohe Gewinne schöpfen zu können. Erst als sich der erwartete Überschuss nach einem Winter nicht einstellte, beendete er das Projekt.354 Um nicht auf einem Schuldenberg sitzen zu bleiben, mussten die Prinzipale das Angebot der Nachfrage anpassen. Mitunter schalteten sie sogar Anzeigen, in denen sie die Zuschauerzahl direkt an spätere Engagements koppelten. Joseph Preinfalk annoncierte 1778 beispielsweise einen Kommentar zusätzlich zur Ankündigung eines Stückes: „Eine hinlängliche Unterstützung wird für uns ein Wink seyn, ob wir künftigen Winter, mit einer Gesellschaft, zu Schauspielen und Opern eingerichtet, wiederkommen können.“355 Doch diese Aussage könnte auch anders gedeutet werden: Möglicherweise wollte der Prinzipal einen gewissen Druck auf das Publikum ausüben. Denn nur, wenn es sich bereit erklärte, an diesem Abend zu zahlen, würde die Gesellschaft im nächsten Jahr wiederkommen und für Abwechslung sorgen. Das Publikum wusste einerseits um die eigene starke Verhandlungsposition bei der Gestaltung des Theaters. Besonders das Parterre forderte explizit die Darbietung von bestimmten Stücken und konnte den Vorstellungen bei Nichterfüllung oder mangelhafter Ausführung fernbleiben. Andererseits hingen die Zuschauer ebenso von den Schauspielgesellschaften ab. Nur wenn sie Stralsund bereisten, gab es überhaupt die Möglichkeit, die „Sittenschule“ zu besuchen und sich die Zeit zu verkürzen. Daher ermahnte der Herausgeber des Krämerdütchens das Publikum, einzelne Schauspieler bei ungenügenden Leistungen aufzumuntern.356 Viele Schauspielgesellschaften befanden sich unentwegt in einer schwierigen finanziellen Lage. Das verstand wohl auch das Publikum, worauf eine 1792 veröffentlichte Anzeige des zu dieser Zeit bereits bekannten Johann Tilly hindeutet. Da er ein Jahr zuvor versprochen hatte, zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder nach Stralsund zu reisen, den Termin aber nicht einhalten konnte, schrieb er am 26. Januar einen Brief aus Braunschweig, den die Stralsundische Zeitung drei Wochen später veröffentlichte: Ich erhielt plötzlich und unerwartet in Lübeck einen Ruf mit meiner Gesellschaft hieher zu kommen und während den Messen zu spielen; in der Hoffnung so viel zu gewinnen um mein Theater zu verbessern zu können, weigerte ich mich nicht diesem Rufe zu folgen.357

Tilly konnte zwar sein Versprechen nicht wahrmachen, stellte jedoch eine Qualitätssteigerung seiner Gesellschaft in Aussicht, die letztlich ebenfalls dem Stralsunder Publikum 354 355 356 357

Vgl. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 50 – 51. StZ, Nr. 93, 06. 08. 1778. Pommersches Krämerdütchen, Nr. 34, 24. 08. 1775, S. 529 – 539, hier S. 539. StZ, Nr. 20, 16. 02. 1792.

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zugutekommen würde. Trotz solcher finanziellen Überraschungen demonstrieren die Ausführungen zum Theater als Unternehmen, dass Wandergesellschaften zumeist wenig profitabel wirtschaften konnten. 8.3.2 Die stehende Bühne Zwischen 1795 und 1798 war in Reval eine Schauspieltruppe fest engagiert. Die Finanzierung des Schauspielbetriebs gestaltete sich nach der Auflösung der Liebhabergesellschaft und einer kurzen Übergangsphase gänzlich anders als die von regulären Wandergesellschaften. Nachdem das Liebhabertheater in den Spielzeiten 1793/94 und 1794/95 nur wenige Vorstellungen gegeben und Auflösungserscheinungen gezeigt hatte, begeisterte die Prinzipalin Tilly das Revaler Publikum mit Opernvorstellungen wie der „Zauberflöte“, „Don Giovanni“, „Das rote Käppchen“ und „Doktor und Apotheker“.358 Daraufhin organisierte der Gouverneur Estlands, Johann Heinrich von Wrangell, zusammen mit anderen angesehenen Persönlichkeiten eine Aktiengesellschaft.359 Die Investoren zeichneten 1797 insgesamt zwischen 60 und 75 Aktien, die jeweils 200 Rubel kosteten,360 sodass das monetäre Fundament der neuen Bühne ca. 12.000 bis 15.000 Rubel betrug.361 Damit verwirklichte sich in Reval, wovon in Stralsund nur vereinzelte Optimisten im Krämerdütchen träumten: Bey einem zahlreichen Adel, einer beträchtlichen Garnison, einer Menge landesherrlicher Officianten, einer ziemlichen Unzahl Handelshäuser, Profeßionisten [Gewerbetreibende] und Künstler, die im Grunde so unvermögend nicht sind, als sie sich aus Gewohnheit stellen, könnte unsere Stadt ein ganz feines Theater unterhalten […].362

Die wohlhabende und theateraffine Bevölkerung Revals bzw. des gesamten Gouvernements Estland hatte sich zur Finanzierung eines professionellen Schauspielensembles zusammengeschlossen. Wenn man fragt, warum sich ein Teil der gesellschaftlichen Elite dem Theaterunternehmen zuwandte, ergeben sich zwei zusammenhängende Beweggründe. Zum einen gaben die Theaterfreunde ihr Geld „aus Hass gegen die Langeweile“, damit sie sich und anderen „eine Reihe vergnügter Stunden“ bereiten konnten.363 Zum anderen stellte das Zeichnen einer Theateraktie eine Investition dar, von der sie hofften, „das ganze Capital

358 Rosen: Rückblicke, S. 131. 359 Petri: Ueber den neuesten Zustand, Sp. 1085. 360 Diese Summe nennt das Journal für Theater und andere schöne Künste im Jahre 1797. Entnommen aus: Rosen: Rückblicke, S. 133. 361 Beide Zahlen gehen auf Petri zurück. Obwohl die sich die Angaben unterscheiden, kann wohl ein fünfstelliger Betrag veranschlagt werden, wie die nachfolgenden Ausgaben zeigen werden. Petri: Ueber den neuesten Zustand, Sp. 1085 und ders., Brief über Reval, S. 81. 362 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 31, 03. 08. 1775, S. 484. 363 Petri: Briefe über Reval, S. 81 – 82.

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mit doppelten Zinsen wieder in ihre Hände zu bekommen.“364 Die Nachfrage nach Unterhaltung stand also in enger Verbindung mit der Erwirtschaftung einer Rendite. Wenn das Produkt – Unterhaltung in Form einer Theatervorstellung – eine ausreichend große Nachfrage generierte, würden die Einnahmen aus den Eintrittsgeldern die laufenden Kosten übertreffen und einen Überschluss für die Aktionäre produzieren. Die Anteilseigner agierten somit nicht zuletzt als Kulturunternehmer, die sich den vorhandenen Unterhaltungsbedarf zu Nutze machten. Der Wohltätigkeitsgedanke, der die Liebhabergesellschaft sowie den Stadtrat bei der Konzessionierung der Wandergesellschaften ausgezeichnete hatte, trat bei dieser Kalkulation in den Hintergrund. Zwar musste bei jeder Vorstellung eine pauschale Summe an den Stadtrat gezahlt werden, aber das verbuchten die Unternehmer als Teil der laufenden Kosten und sahen es nicht mehr als zentralen Zweck der Bühne. Die Kalkulation der Anteilseigner ging jedoch nicht auf und das Projekt der stehenden Bühne in Reval misslang. Das Scheitern resultierte aus verschiedenen externen und internen Gegebenheiten. Zu Letzteren gehörten die hohen Kosten für Dekorationen, Garderobe und insbesondere die beträchtlichen Gagen der Schauspielerinnen und Schauspieler.365 In einem mit dem Theater nicht in Verbindung stehenden Rechtsstreit aus dem Jahre 1798 bezifferte der Theaterdirektor Stollmers seine jährliche Gage auf 1.664 Rubel. Davon stand ihm zwar nur ein Bruchteil zur freien Verfügung, weil er die Gagen eines Teils der Gesellschaft zu begleichen hatte; er verpflichtete sich beispielsweise, zwei beliebten Schauspielerinnen und einem herausragenden Schauspieler 32 Rubel pro Spielwoche zu zahlen. Dennoch verdeutlicht die jährliche Zahlung von über 1.600 Rubeln die substanzielle Höhe der Gagen.366 Darüber hinaus musste das Bühnenpersonal über das ganze Jahr bezahlt werden, obwohl das Theater nur in der Spielzeit, die etwa von Oktober bis zur Fastenzeit dauerte, Einnahmen akquirierte, weil im Sommer „die Landlust die Theaterlust verdrängte“.367 Zudem warb die Bühne gute Sänger und Schauspieler von anderen Gesellschaften ab, wodurch neben den Personalkosten zusätzlich Reisekosten entstanden. Das Unternehmen hätte diese internen Umstände beeinflussen können, vermochte aber nicht, den externen Einflüssen entgegenzuwirken. Zu Beginn der Theatersaison 1796 verstarb die russische Kaiserin Katharina  II. Petri berichtet, dass der Gouverneur Wrangell, noch bevor er dazu den Befehl aus St. Petersburg erhielt, eine einjährige Trauer ausrief, die jegliche Formen des öffentlichen Amüsements, worunter selbstverständlich Theateraufführungen fielen, anordnete. Ein entsprechender Befehl sei allerdings, so Petri weiter, nie bei den Verantwortlichen eingegangen, weshalb Reval neben St. Petersburg die einzige Stadt im Russischen Reich gewesen sei, die derart lange trauerte.368 Tatsächlich öffnete die Reva 364 365 366 367 368

Ebd., S. 82. Petri: Ueber den neuesten Zustand, Sp. 1085. TLA, Rep. 230. 1.B. O.20, pag. 10 r. und 12 v. Petri: Briefe über Reval, S. 82. Ebd., S. 82 – 83.

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ler Bühne aber wieder am 12. April 1797 mit Kotzebues „Die Indianer in England“.369 Die Dauer dieser Trauerzeit korrespondiert mit der in Riga, wo die Zwangspause vier Monate währte.370 Damit kann der vorauseilende Gehorsam Wrangells nicht als Hauptursache des Scheiterns gewertet werden. Warum sollte er einem Unternehmen unnötig resolut entgegentreten, an dem er als Aktionär selbst ein Interesse hatte? Trotzdem stellte der Ertragsausfall einer fast kompletten Spielzeit eine empfindliche Schwächung des Unternehmens dar. Nach der offiziellen Trauerzeit verhinderten die neuen Zensurbestimmungen unter Kaiser Paul I. die reguläre Fortsetzung des Theaterbetriebs. Da der Oberpolizeimeister die eben erwähnte Aufführung der „Indianer von England“ nicht offiziell genehmigt hatte, untersagte er die folgenden Stücke gänzlich. Als das Theater am 18. April wieder spielte, war das dargebotene Stück bis zur Unkenntlichkeit zensiert und hinterließ wohl keinen positiven Eindruck beim Publikum.371 Die stehende Bühne, die der Theaterdirektor Stollmers 1797 für 7.000 Rubel übernommen hatte, hielt sich noch bis 1798 und löste sich anschließend auf. Immerhin aber konnten die Aktionäre den finanziellen Schaden für sich aufgrund des Verkaufs an Stollmers in Grenzen halten.

9. Zwischenfazit Mit dem Besuch des Theaters kamen Männer und Frauen unterschiedlicher Stände in den Genuss von Freiräumen, die es in dieser Gestalt nicht vor dem Untersuchungszeitraum gab. Eine bedeutende Voraussetzung für diese Entwicklung bildete die wachsende Akzeptanz für theatralische Vorstellungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts. Sie galten immer weniger als jugendgefährdender, sozial subversiver und plumper Müßiggang, sondern als lehrreicher, unterhaltsamer und regenerierender Zeitvertreib nach getaner Arbeit. Allerdings konnte das aktive Schauspielen als „Freizeitbeschäftigung“ besonders für Adlige und Frauen immer noch starke Ressentiments hervorrufen, wie das Beispiel des Revaler Liebhabertheaters zeigte. Insgesamt stieg jedoch das Ansehen von Theateraufführungen, sodass ein sehr heterogenes Publikum mehr Vorstellungen nachfragte. Die gestiegene Akzeptanz für das Schauspiel ermöglichte die voranschreitende Kommerzialisierung des Theaterbetriebs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Welches wirtschaftliche Potenzial einige Zeitgenossen regelmäßigen Aufführungen zuschrieben, demonstrierte zum einen die Einrichtung eines festen Theatergebäudes der Johannisloge Zur Eintracht in Stralsund. Zum anderen gründete sich ein gegen Bezahlung öffentlich auftretendes Liebhabertheater in Reval, das vornehmlich aus Personen alter Ratsfamilien sowie (adligen) Beamten und Offizieren bestand. Diese Unternehmungen unterschieden sich zwar organisatorisch voneinander, zielten jedoch beide hauptsächlich darauf 369 Rosen: Rückblicke, S. 134. 370 Reimers: Geschichte, S. 29 371 Diese Ausführungen folgen einem Bericht aus dem Journal für Theater und andere schöne Künste aus dem Jahr 1797. Entnommen aus: Rosen: Rückblicke, S. 135.

Zwischenfazit

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ab, einen möglichst großen Profit zu generieren. Allerdings rechneten weder die Freimaurer noch die Liebhaberschauspieler/innen mit einer Rendite für sich. Ihnen ging es vielmehr um die Unterstützung wohltätiger Projekte, was den Vorstellungen zusätzliche Legitimität verschaffte. Doch schon am Ende des 18. Jahrhunderts investierten Revaler Aktionäre in ein festes Ensemble, um dem Publikum Vergnügen zu bereiten und vor allem Geld zu verdienen. Die Wohltätigkeit spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Leitung eines Theaters entsprach in vielen Aspekten der Führung eines Unternehmens. Wenn das Publikum das dargebotene Geschehen auf der Bühne goutierte, ließen sich die notwendigen Investitionen in den Spielort, das Ensemble, die Kostüme und Requisiten amortisieren oder sogar Gewinne erwirtschaften. Dafür musste die Leitung regelmäßig neue Stücke in einer angemessenen Qualität an einem möglichst geeigneten Schauspielort präsentieren. Die Hauptlast des unternehmerischen Risikos trug zumeist ein Prinzipal. Wenn er nicht die erwarteten Einnahmen einspielen konnte, verschuldete er sich und geriet in die Abhängigkeit der Gläubiger. Gleichzeitig hatte das Publikum ein Interesse an guter Unterhaltung, weshalb sich betuchte Theaterliebhaber zunächst an einem stehenden Ensemble und später sogar an einem neuen Schauspielhaus finanziell beteiligten. Folglich bestand zwischen Theaterunternehmern und Publikum eine beidseitige Abhängigkeit. Die Gesetzgeber beschränkten den Mechanismus von Angebot und Nachfrage mit unterschiedlichen Maßnahmen. Gegen Freikarten oder Geld für die Stadtkasse erlaubte der Stadtrat traditionell die Gastauftritte von Schauspielgesellschaften, sofern diese nicht als ordnungsgefährdend eingestuft wurden. Zudem kam im Laufe des 18. Jahrhunderts die schwedische bzw. russische Regierung als Instanz hinzu, sodass sich die Situation der Schauspieltruppen in den untersuchten borderlands komplexer gestaltete. Während sich in Stralsund die Mitsprache der schwedischen Regierung letztlich positiv auf die Erlaubnis von Schillers Trauerspiel „Die Räuber“ auswirkte, verhinderte die Zensur unter Paul I. einen prosperierenden Theaterbetrieb. Des Weiteren achtete die Obrigkeit darauf, dass die üblichen Forderungen des Publikums nach bestimmten Stücken nicht in gewalttätige Auseinandersetzungen umschlugen. Die in Stralsund stationierten schwedischen Offiziere zeigten erste Anzeichen von Krawallbereitschaft. Allerdings verhinderte die gute Kooperation zwischen Stadtrat und schwedischer Regierung tatsächliche Ausschreitungen. Entsprechend dem kommerziellen Interesse richtete sich das Repertoire, von den genannten Beschränkungen abgesehen, weitestgehend nach den Wünschen des Publikums. Lustspiele erfreuten sich während des ganzen Untersuchungszeitraums anhaltender Beliebtheit, während Trauerspiele zum Ende des 18. Jahrhunderts eine immer geringere Stellung im Repertoire einnahmen. Dafür kamen kosten- und probenintensive Opern in Mode und das Publikum verlangte nach Mozart, Dittersdorf und anderen Komponisten. Die Revaler Liebhabergesellschaft vermochte diese Wünsche in den 1790er-­Jahren nicht mehr zu bedienen und musste der erfahrenen Prinzipalin Tilly weichen. In Stralsund versuchte der Prinzipal Kübler u. a. mit dem Ertrag der „Zauberflöte“ seine Schulden zu begleichen und lockte an mehreren Abenden ein zahlendes Publikum ins Theater. Zudem erwarb er

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in den folgenden Jahren überdurchschnittlich viel Opernmusik, da diese den Zuspruch der zahlenden Gäste versprach. Den Geschmack des Publikums prägten vor allem Kenner und Liebhaber im Parterre oder Kritiken in Zeitschriften. Allerdings erfüllten sich ihre Erwartungen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht, da ein heterogenes Theaterpublikum mit vielfältigen Geschmäckern über das Gespielte entschied. Die zahlenden Zuschauer/innen, die sich sowohl in der Loge und dem Parterre als auch in der Galerie befanden, verlangten mehrheitlich nach leicht verständlichen, unterhaltsamen und pompös inszenierten Vorstellungen. Zum Publikum gehörten Männer und Frauen aus verschiedenen Ständen und Einkommensverhältnissen. Denn den Zutritt zu einer Vorstellung sicherte nicht primär der gesellschaftliche Status, sondern die Zahlung eines variablen Eintrittspreises. Dieser mag für den armen Teil der Bevölkerung selbst in der günstigen Kategorie noch zu hoch gewesen sein. Doch sobald man einen relativ geringen Betrag entbehren konnte, sah man im Theater dasselbe Stück wie alle anderen.

V. Bälle und Maskeraden Bälle und Maskeraden sind eine institutionalisierte Form des Festes. Allgemein stellen Feste ähnlich wie Spiele einen bewussten, zeitlich und räumlich begrenzten Ausbruch aus der alltäglichen Routine dar; sie schaffen eine andere Ordnung, in der das Individuum ein Stück seiner Autonomie verliert und zu einem Teil der Festgemeinschaft wird. Das „normale“ Leben ruht, während eine rituelle, mitunter rauschhafte Geselligkeit profanen oder religiösen Anlässen Ausdruck verleiht. Damit wird einerseits das menschliche Bedürfnis nach Unterhaltung bedient und andererseits die Festgemeinschaft nach innen und außen gestärkt.1 Ungeachtet der allgemeinen kohäsiven und unterhaltenden Wirkung des Festes spiegelt es in der Frühen Neuzeit häufig die sozialen Verhältnisse des Alltags wider. Hocharistokratie, niederer Adel, Geistlichkeit, Patriziat, Handwerker und Bauern begingen besondere Anlässe wie Hochzeiten oder Geburtstage unterschiedlich und demonstrierten mit der Art und dem Ort der Feier nach außen Stärke und Zusammenhalt. Das exemplifiziert die prächtige Feier eines barocken Fürsten wahrscheinlich am eingängigsten, der damit seinen eigenen Herrschaftsanspruch und den seines Geschlechts untermauerte. Exquisites Theater, aufwendige Spiele und glänzende Feuerwerke gehörten dabei genauso zum Fest wie köstliches Essen, mundende Getränke und natürlich Bälle und Maskeraden.2 Das barocke Fest veranschaulicht aber nicht nur seine repräsentative, machtpolitische Funktion, sondern auch die konzeptionelle, personelle und räumliche Nähe der unterschiedlichen Möglichkeiten der Festgestaltung. Theater, Spiel, Illumination, Essen, Trinken und Tanzen stellen oftmals einen wichtigen Teil der gesamten Feier dar, die eine begrenzte Festgesellschaft im oder nahe beim Schloss beging. Der Ball konnte allerdings ebenfalls als eigenständiges Fest bestehen. Seine Funktion lag darin, das Tanzen innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen zu akkommodieren. Dabei perpetuierte die Institution Ball einerseits das etablierte Sozialgefüge und fungierte andererseits als ein Ort, wo die Teilnehmer/innen neue gesellschaftliche Verhältnisse erprobten, festigten und kontrollierten. Diese Funktion erhielt im 18. Jahrhundert eine herausragende Stellung, da sich im „Zeitalter der Aufklärung“ grundlegende kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Veränderungen bemerkbar machten.3

1 Für eine kulturhistorische Interpretation des Fests s.: Uwe Schultz (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988. Für den Zusammenhang von Fest und Spiel s.: Manfred Zollinger: Fest-­Spiel-­Zeit. Spielkultur in Zeiten festlicher Anlässe vom 16. – 19. Jahrhundert, in: Homo Ludens. Der Spielende Mensch 5 (1995), S. 231 – 263; Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1990. 2 Wolfgang Braunfels: Der Glanz der 28 Tage. Kaiserhochzeiten in Dresden 1719 und München 1722, in: Uwe Schulz (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 211 – 221. 3 Zum Wandel während des 18. Jahrhunderts vgl. die Einleitung. Zur Funktion der Bälle s.: Monika Fink: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahr-

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Bälle und Maskeraden

Die Bedeutung des Tanzes bei einem Ball lässt sich schon aus der Etymologie des Wortes herleiten. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts tauchte das französische „bal“ erstmals im Sinne einer Tanzgemeinschaft auf und leitet sich vom spätlateinischen „ballare“ und altfranzösischen „baller“ (beides tanzen) ab. In die deutsche Sprache hielt der „Ball“ erst im 17. Jahrhundert Einzug und stellte als eine Art des Tanzfestes einen gängigen Ausdruck in den Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts dar.4 Das Tanzen und die damit verbundene Musik waren somit zwar unabdingbare Bestandteile eines Balls, konstituierten ihn aber nicht allein. Vielmehr regulierte häufig ein kompliziertes Geflecht aus Ball- und Tanzordnungen sowie Konventionen und Erwartungen das Geschehen. So erklärt sich, warum es bei französischen Hofbällen mehr Zuschauer als Tänzer gab 5 oder warum Männer und Frauen bei Patriziertänzen getrennt saßen.6 Eine zumindest partielle Lockerung der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze brachten Maskeraden oder Redouten mit sich, weil Masken oder Verkleidungen zumindest eine gespielte Anonymität sicherten.7 Für maskierte Bälle gab es in verschiedenen europäischen Sprachen unterschiedliche Ausdrücke, die man nicht trennscharf benutzte. In Frankreich konnten maskierte Bälle als „Bal masqué“, „Bal costumé“ oder „Redoute“ bezeichnet werden, in Italien als „mascherata“, „ballo in maschera“ oder „ridotto“ und in England als „masked ball“, „masquerade“ oder „masque“.8 Konstituierend für derartige Festveranstaltungen blieb allerdings immer der Gebrauch einer Maske als tatsächliche oder symbolisierte Kostümierung. Als „Redoute“ bezeichnete man oft eine bestimmte Form des Maskenballs italienischer Herkunft, die insbesondere in der Fastnachtszeit stattfand.9 Möglicherweise vermittelt von Adligen, die sich auf ihrer Kavalierstour während der Karnevalszeit u. a. in Venedig aufhielten, etablierte sich diese Fastnachtslustbarkeit zunächst an den adligen Höfen. Doch im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Redoute ebenfalls in bürgerlichen Kreisen zu einer prominenten Festveranstaltung, bei der man maskiert tanzte, spielte und „sündigte“.10 Bevor der Begriff „Redoute“ im deutschsprachigen Raum – Österreich ausgenommen – im 19. Jahrhundert bereits als veraltet galt, schlug sich dessen Beliebtheit auch in der Architektur nieder. Es



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hundert, Innsbruck/Wien 1996; Walter Salmen: Tanz im 17. und 18. Jahrhundert (= Musik der Neuzeit, Bd. 4), Leipzig 1988. Fink: Der Ball, S. 13 – 15. Ebd., S. 96. Salmen: Tanz, S. 148 – 149. Claudia Schnitzer: Höfische Maskeraden. Funktion und Ausstattung von Verkleidungsdivertissements an deutschen Höfen der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999, S. 7 – 49, 254 – 256. Fink: Der Ball, S. 127. Redoute, in: Grosses vollständiges Universal-­Lexicon Aller Wissenschafften und Künste Bd. 30 (1741), Sp. 1645: „Redoute, Ridotto, heißt zu Venedig, und sonst an allen Orten, wo ein Carneval oder Fastnachts-­Lust gehalten wird, derjenige Platz, allwo man vermasquiret zusammen kommet, um zu tantzen, zu spielen und andere Lustbarkeiten zu treiben.“ „Redoute heißt eigentlich der Platz, worinn man während Carnevals=Zeit masquirt zusammen kommt, um zu tanzen, zu spielen und zu sündigen.“ Friedrich Carl von Moser: Teutsches-­ Hofrecht, Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1761, S. 580.

Festlichkeiten vor dem 18. Jahrhundert

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entstand beispielsweise in München (1718) und Linz (1773) ein höfischer sowie in Graz (1774) ein „ständischer Redoutensaal“.11 Im folgenden Kapitel soll aufgezeigt werden, welche neuen Formen des Balls und der Maskerade in Stralsund und Reval während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts existierten und welche Möglichkeiten sich damit für das soziale Miteinander ergaben. Zunächst bildete jedoch der sich wandelnde Charakter der Festkultur vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert auf der Grundlage der Fachliteratur den Ausgangspunkt, um zu zeigen, dass Tanzveranstaltungen und Feste kein neues Phänomen darstellten (Kap. 1). Anschließend widmet sich das Kapitel der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz von ständeübergreifenden (Masken-)Bällen im Zeitalter der Aufklärung (Kap. 2.2 und 2.3), was keineswegs im Widerspruch mit einer intakten Ständegesellschaft stand, was z. B. die offizielle Huldigungszeremonie und die darauffolgenden Feierlichkeiten in Stralsund exemplifizieren (Kap. 2.1). In den untersuchten Städten entwickelten sich vermehrt institutionalisierte Ballorte, obwohl auch private Tanzgelegenheiten bestehen blieben (Kap. 3.3.2). Dazu gehörten das Stralsunder Theater, in dem Tanzveranstaltungen beinah ebenso regelmäßig stattfanden wie Schauspielvorstellungen (Kap. 3.1) sowie die Revaler (bürgerlichen) Klubs (Kap. 3.2) und Picknicks (Kap. 3.3.1). Vor allem Maskenbälle boten ihren Gästen eine sozial inklusive Atmosphäre (Kap. 4), obwohl es bei diesen sowohl festgeschriebene (Kap. 5.1) als auch gewohnheitsmäßige (Kap. 5.2) Normen gab. Damit unterschieden sich diese zumeist im Winter gehaltenen Bälle nur wenig von den sommerlichen Tanzveranstaltungen, wie sie z. B. für den Kurort Kenz bei Stralsund anschaulich rekonstruierbar sind (Kap. 6). Trotz oder gerade wegen der vielfältigen Gesetze kam es bei Bällen des Öfteren zu Störfällen, die die Organisatoren jedoch zumeist eigenständig ahndeten (Kap. 7).

1. Festlichkeiten vor dem 18. Jahrhundert Bälle und Maskeraden hatten bereits zu Beginn des Untersuchungszeitraums eine lange Tradition, obwohl derartige Festlichkeiten nicht mit diesen Begriffen bezeichnet wurden. Schon im Mittelalter gab es zu verschiedenen familiären, beruflichen, religiösen und volkstümlichen Anlässen, die nicht streng abgegrenzt voneinander zu verstehen sind, ausgelassene Tänze und Verkleidungsmöglichkeiten, die nicht selten in Verbindung mit ausgiebigen Tafelfreuden einhergingen. Das gesellige Treiben in den Hansestädten Stralsund und Reval glich einander grundsätzlich, da sich dort eine ähnliche Sozialstruktur mit entsprechenden Institutionen und Korporationen herausgebildet hatte. Verallgemeinernd lässt sich sogar festhalten, dass die urbanen Korporationen im Ostseeraum einen weitgehend einheitlichen Festkalender und -charakter aufwiesen.12

11 Salmen: Tanz, S. 20. 12 Anu Mänd: Urban Carnival. Festive Culture in the Hanseatic Cities of the Eastern Baltic, 1350 – 1550 (= Medieval Texts and Cultures in Northern Europe, Bd. 8), Turnhout 2005, S. 53.

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Das Festjahr in den Zünften organisierte man beispielsweise nach religiösen und volkstümlichen Bräuchen, von denen besonders Weihnachten und Karneval sowie in geringerer Ausprägung das Vogelschießen und das Maigrafenfest hervortraten. Aber auch nach dem Abschluss einer Meister- oder Gesellenprüfung folgten gewohnheitsmäßig die sogenannten „Kösten“, sorglose Schmausereien und Umtrünke.13 An Karneval war es besonders beliebt, sich als Tier oder Teufel zu verkleiden oder das gegensätzliche Geschlecht einzunehmen. Die Geistlichkeiten hatte grundsätzlich mit diesen Kostümierungen – den Teufel eingeschlossen – keine Probleme. Mitunter vermieteten Kirchgemeinden sogar Teufelsverkleidungen für profane Festlichkeiten.14 Musik dufte ebenfalls nicht fehlen, weshalb Korporationen oftmals für ihre Feierlichkeiten einige Spielleute engagierten, die für die nötige Tanzmusik sorgten.15 Trotz aller Ausgelassenheit versuchten sowohl die Obrigkeit als auch die ständischen Korporationen, das exzessive Vergnügen zu reglementieren. Dafür sprechen beispielsweise Stralsunder Hochzeitsordnungen, von denen der Stadtrat die erste bereits 1310 erließ. Darin setzte man fest, dass nicht mehr als 120 Bürger zum Hochzeitsessen kommen und höchstens sechs Musiker aufspielen durften.16 In Reval sollten sich um 1500 höchstens 200 Personen (120 Männer und 80 Frauen) in der Großen Gildenhalle zu einer Hochzeitsgesellschaft einfinden.17 Zudem existierten festgeschriebenen Verhaltensregeln, deren Inhalt eine friedfertige und sichere Stimmung garantieren sollte. Dazu gehörte das Verbot, Bierpokale zu zerschlagen, andere Gäste zu beschimpfen oder gar körperlich zu attackieren.18 Teilweise untersagte die Obrigkeit zudem das Verkleiden an Karneval, wie es beispielsweise 1340 in Göttingen, 1358 in Hamburg, 1400 in Augsburg und 1403 in Köln der Fall war.19 Dennoch blieben Feste immer ein Ort, an dem sich Spannungen innerhalb der Gemeinschaft gewaltsam entladen konnten. So kam es in Greifswald und Stralsund 1516 zu Auseinandersetzungen, bei denen 20 Menschen erschlagen wurden.20 Alles in allem stellten

13 Herbert Ewe: Das alte Stralsund. Kulturgeschichte einer Ostseestadt, Weimar 1994, S. 36. 14 Ebd., S. 114. 15 Zum geselligen Leben und Feiern in der Großen Gilde in Reval s.: Anu Mänd: Seltsielu ja pidustused [Das gesellschaftliche Leben und Feiern], in: Ivar Leimus u. a. (Hrsg.): Tallinna Suurgild ja gildimaja [Die Große Gilde in Tallinn und das Gildenhaus], Tallinn 2011, S. 55 – 80, engl. Zusammenfassung, S. 453 – 457. 16 Ewe: Das alte Stralsund, S. 130. 17 Mänd: Seltsielu ja pidustused, S. 80 u. S. 457; Mänd stützt sich hier vor allem auf eine Luxusverordnung bei Hochzeiten, abgedruckt in: Eduard Pabst: Beträge zur Sittengeschichte Revals, in: Archiv für die Geschichte Liv-, Est- und Curlands, 1 (1842), S. 195 – 235, hier S. 200 – 229. 18 Mänd: Seltsielu ja pidustused, S. 79 u. S. 456. 19 Mänd: Urban Carnival, S. 114 – 115. 20 Fritz Adler: Die Bekämpfung des volkstümlichen Brauchtums in Stralsund in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Monatsblätter der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde 49/9 (1935), S. 165 – 169, hier S. 167.

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mittelalterliche Verordnungen jedoch nicht die Festlichkeit an sich in Frage. Vielmehr ging es um die Sicherheit der Bevölkerung oder standesgemäße Begrenzung der Ausgaben.21 Erst unter dem Einfluss des Humanismus’ und der Reformation gerieten einige Feste wie der Karneval grundsätzlich in die Kritik. Hemmungslose Veranstaltungen, bei denen im schlimmsten Fall die Unversehrtheit der Teilnehmenden in Gefahr war, stellten für reformierte Theologen und Bürger ein Übel dar, das es mit Predigten und Verordnungen zu bekämpfen galt. Der Revaler Stadtrat erließ daher 1526 ein Verkleidungsverbot an Karneval. Beim traditionellen Fastnachtstreiben in Stralsund Mitte des 16. Jahrhunderts untersagte die Obrigkeit ebenfalls jegliche „Mummereien“ und andere „Tarnspiele“ und drohte bei Zuwiderhandlungen sogar mit dem Ausschluss von den Sakramenten. Gleichenorts reglementierte der Stadtrat 1570 das Tanzen auf Hochzeiten so, dass man „sich dabei züchtig, schamhaft und in den Gebärden ohne Ärger zu betragen und man sich aller unziemlichen Verrenkungen, im Lauf und schnellen Herumwälzten zu mäßigen habe“.22 Ob die angeführten Ordnungen tatsächlich zur Anwendung kamen, lässt sich nicht pauschal festlegen. Allerdings demonstrieren derartige Gesetze, dass die sich bereits im Mittelalter bestehende soziale Differenzierung zwischen beispielsweise Ratsfamilien, mittleren Kaufleuten und Handwerkern in der Frühen Neuzeit weiter verfestigte, da gewisse gemeinschaftsstiftende Feste wie der Karneval verschwanden oder obrigkeitlich geächtet waren. Gleichzeitig differenzierten etwa Hochzeitsordnungen immer mehr zwischen den bürgerlichen Ständen. Ganz allgemein griff die „Gute Polizey“ in der Frühen Neuzeit regulierend in das gemeinschaftliche Leben ein, wobei ständische Unterschiede manifestiert und perpetuiert wurden.23 Obwohl der Übergang zwischen der mittelalterlichen und der (früh-)neuzeitlichen Festkultur nicht so abrupt einsetzte, wie es die rigiden Verordnungen des 16. Jahrhunderts suggerieren und einige Feste wie das Vogelschießen in Stralsund 24 noch lange weiter existierten, wandelte sich das gesellige Miteinander doch in seiner Ausprägung. Das hing sicherlich auch mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusammen, die sich aufgrund der Krisen und Kriege bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts insgesamt verschlech-

21 Ebd., S. 115. 22 Zitiert aus: Ewe: Das alte Stralsund, S. 132. 23 „Gute Polizey“ war ein zeitgenössisches Synonym für eine geregelte Ordnung des Gemeinwesens. Vgl. dafür ausführlich: Andrea Iseli: Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009. 24 Das Vogelschießen existierte in Stralsund noch bis ins 20. Jahrhundert. Mitte des 18. Jahrhunderts bemerkte der spätere Pfarrer Johann Christian Müller in seinem Tagebuch bezüglich dieser „Lust“ nüchtern: „Wir [Müller mit seiner Familie] sahen am Dienstage und Mittwochen die Zurüstungen, den Ausmarsch, und die Menge hinausreisesender Menschen von unsern Saal zu, denn unser Hauß lag dazu am bequemsten in der Stadt.“ Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle & Neben-­Umstände. Erster Teil: Kindheit und Studienjahre (1720 – 1746), hrsg. von Katri Löffler und Nadine Sobirai, Leipzig 2007, S. 311.

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terten.25 Bürgerliche Feste zu dieser Zeit gestalteten sich in den untersuchten Städten häufig streng hierarchisch und verliefen nicht selten entlang der Grenze der städtischen Bürgergrade und Korporationen.

2. Die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz ständeübergreifender Feste Mit der Reformation wandelte sich die Festkultur, indem beispielsweise der Karneval in seiner alten Ausprägung verschwand oder Heiligentage abgeschafft, Festzeiten verkürzt und strenger reglementiert wurden. Somit kann man von einer ersten „Rationalisierung der Festkultur“ während der Reformationszeit sprechen.26 Natürlich bedeutet das nicht, dass die Religion an Bedeutung einbüßte; vielmehr konzentrierten sich religiöse Feste immer stärker auf das liturgische Geschehen im Kirchenraum. Zudem verloren nicht primär religiöse Feierlichkeiten innerhalb der Korporationen nur wenig von ihrer Anziehungskraft und Notwendigkeit, da sie oftmals wichtige administrative Funktionen hatten.27 Damit blieben viele Feste bestehen und stellten weiterhin einen vom Alltag klar unterscheidbaren Raum dar, der seine ganz eigene Ordnung aufwies. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich insbesondere beim gebildeten und wohlhabenden Bürgertum aber ebenfalls bei Teilen des Adels ein Ideal der Geselligkeit, das auf Nüchternheit beruhte und sich sowohl von den immer noch bestehenden rauschhaften Formen des Zusammenseins in Wirtshäusern oder Zunftstuben als auch von den verschwenderischen Festen der Adelshöfe abgrenzte. Bei diesem Prozess entstanden Institutionen der aufgeklärten Geselligkeit wie Salons, Sozietäten, Klubs oder Logen.28 Allerdings dienten diese keineswegs nur der nüchternen Analyse gelehrter Themen oder praktischer Probleme, sondern beinhalteten ebenfalls Elemente des Vergnügens und der Zerstreuung; in manchen Ausprägungen zielten gesellige Zusammenkünfte sogar primär auf das Spielen, Musik hören, Tanzen und Unterhalten ab. Bälle und Maskeraden stellen dabei einen typischen Ausdruck der Geselligkeit dar. Hier konnten ständische Unterschiede mit gewissen Einschränkungen nivellierte und damit die bestehende gesellschaftliche Hierarchie zumindest kurzzeitig aufgehoben werden, obgleich bestimmte Ball- und Tanzordnungen diese Feste in geordneten Bahnen hielten.

25 Ivar Leimus: Pidu ja pillerkaar [Feier und Festlichkeit], in: Ders. u. a. (Hrsg.): Tallinna Suurgild ja Gildimaja [Die Große Gilde in Tallinn und das Gildenhaus], S. 147 – 154, engl. Zusammenfassung S. 465 – 467; Fritze: Die Bekämpfung, S. 168; Mänd: Urban Carneval, S. 269 – 280. 26 Klaus Fitschen: Die Transformation der christlichen Festkultur. Von der Aufklärung zur Konfessionalisierung im 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 18: Das Fest: Jenseits des Alltags (2003), S. 307 – 337, hier S. 307. 27 Mänd: Urban Carnival, S. 276. 28 Friedrich Vollhardt: Geselligkeit, in: Werner Schneiders (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung, München 1995, S. 152 – 154. Barbara Stollberg-­Rilinger: Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert, Stuttgart 2. Aufl. 2011, S. 122.

Die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz ständeübergreifender Feste

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Nichtsdestotrotz blieben besonders traditionelle Feierlichkeiten im 18. Jahrhundert weiterhin streng hierarchisch organisiert. Als Beleg dafür dienen die royalen Feste, die zu Geburtstagen, Krönungen oder Huldigungen vollzogen wurden. Gleichzeitig entwickelten sich inklusivere Bälle in Stralsund und Reval insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu denen all diejenigen kommen durften, die sich angemessen kleideten und das nötige Eintrittsgeld bezahlten.

2.1 Hierarchische Krönungsfeiern Krönungs- und Huldigungsfeiern demonstrierten, manifestierten und perpetuierten nicht nur eine politische Ordnung; sie wiesen zudem eine untrennbare Verbindung zur sozialen, rechtlichen, wirtschaftlichen und religiösen Ordnungsvorstellung auf.29 Diese Herrschaftsrituale blieben im 18. Jahrhundert ein bedeutungsvoller symbolischer Akt, deren Verlauf einem detaillierten Protokoll folgte. Ein solches Ritual ereignete sich im November 1773 in Stralsund, als die Geistlichkeit, die schwedische Regierung und die Landstände dem schwedischen König Gustav III. die Treue schworen. Eine zeitgenössisch gedruckte „Nachricht von den Feierlichkeiten der Landeshuldigung“ berichtet ausgiebig von den Feierlichkeiten.30 Neben dieser nach der Huldigung veröffentlichten Beschreibung informierte außerdem die Stralsundische Zeitung mit nur einem oder zwei Tagen Verzögerung über das festliche Ereignis.31 Beide Quellen unterschieden sich inhaltlich nur geringfügig. Da sich die vermittelten Informationen nicht widersprechen und sich sogar teilweise ergänzen, kann ein anschauliches Bild der Huldigung gezeichnet werden. Zu bedenken gilt bei den Berichten allerdings, dass es sich um deskriptive, normative Zeitzeugnisse handelt, die lediglich darstellen, wie der Festakt sein sollte und nicht, ob er sich tatsächlich derart ereignete.32 Jedoch geht es in den anschließenden Ausführungen bloß um die Rekonstruktion des obrigkeitlichen Ideals einer solchen Zeremonie, womit es das tief verwurzelte ständische Selbstverständnis sowie die Präsenz des schwedischen Mutterlands zu illustrieren gilt. Gleichzeitig gab es während einer solchen Feier weniger stark regulierte Begegnungen unterschiedlichen Akteure, die sich nach dem offiziellen Zeremoniell anschlossen; davon zeugen insbesondere die vielen Theaterstücke und (Masken-)Bälle. Diese Elemente der Huldigungsfeierlichkeiten folgten zum einen der allgemeinen Mode der Zeit und machten zum anderen diese Art der Festkultur populärer. In Stralsund begann der 10. November 1773 um 6 Uhr morgens mit dem Geläut aller Glocken. Nachdem diese um 7 Uhr erneut ertönten, fanden sich die Mitglieder der schwe 29 Barbara Stollberg-­Rilinger: Rituale, Frankfurt a. M./New York 2013, S. 86 – 87. 30 AUBGr, 520/Ob 524 4°, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten der Landeshuldigung welche am 10ten November 1773 zu Stralsund vollzogen worden, Stralsund o. J. 31 StZ, Nr. 135, 11.11.; Nr. 135, 13.11.; Nr. 136, 16. 11. 1773. 32 Stollberg-­Rilinger: Rituale, S. 177 – 179; Ulrike Staudinger: Bilder vom idealen Reich: Die Huldigungen, in: Möseneder (Hrsg.): Feste in Regensburg, S. 47 – 56.

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dischen Regierung und die Landräte im Palais des Generalgouverneurs Friedrich Carl Sinclair ein. Letzterer hatte die Genehmigung, den König bei der Huldigungsfeier zu vertreten. Dass der Monarch nicht persönlich erschien, war für die Zeitgenossen nichts Ungewöhnliches. In Regensburg vertrat beispielsweise der Prinzipalkommissar den Kaiser beim Immerwährenden Reichstag sowie bei anderen besonderen Anlässen wie Einzügen, Huldigungen oder Begräbnissen.33 In einigen Nebengebäuden sammelten sich die Deputierten der Landstände (Ritterschaft und Städte) sowie der Geistlichkeit. Zwei Grenadierkompagnien standen vor dem sich in der Badenstraße befindlichen Palais des Generalgouverneurs, während andere Mannschaftssoldaten die Straße bis zum Westportal der Nikolaikirche säumten.34 Kurz nach 8 Uhr begaben sich die Kleriker, angeführt vom Generalsuperintendenten Laurentius Stenzler, zum Generalgouverneur und schworen einen vom Sekretär Müller verlesenen Eid, der mit einem „Handschlag der Treue“35 besiegelt wurde. Anschließend schritten die Geistlichen zur Nikolaikirche und besetzten das für sie im Chor hinter dem Altar bestimmte Gestühl. Vor dem Altar befand sich eine mit rotem Tuch ausgelegte dreistufige Erhöhung, auf der ein Lehnsessel stand, worüber ein mit rotem Samt und mit Hermelin verbrämter Baldachin befestigt war. Links davon hatte man das Gestühl für den Generalgouverneur, die schwedische Regierung, die Landräte und die Ritterschaft bestimmt; rechts befand sich der Platz für die Stadtdeputierten. Der übrige Teil der Kirche wies keine Bestuhlung auf und war für 1.500 Gäste beiderlei Geschlechts reserviert, die am Vortag eine der kostenlosen Eintrittskarten erhalten hatten.36 An dieser Beschreibung lassen sich gleich mehrere für die Zeit typische Aspekte verdeutlichen. Das erste offizielle Aufeinandertreffen fand im Regierungspalais zwischen dem Vertreter des Monarchen und dem Leiter der schwedisch-­pommerschen Kirche statt. Das Huldigungsritual selbst sollte sich in der Ratskirche Stralsunds ereignen. Hier zeigt sich die starke Verbindung zwischen Religion und weltlicher Herrschaft.37 Das Gotteshaus selbst gliederte die teilnehmenden Personen deutlich: im Chorraum die Geistlichkeit, vor dem prächtigen Altar die weltlichen Vertreter in bestimmter Anordnung und das Volk als Zuschauer und Zeuge des anstehenden Rituals. Der feierliche Einzug begann um 9:30 Uhr, wobei man penibel auf die Reihenfolge, die Titel und die Sitzposition geachtete. Wie exakt diese Details kommuniziert werden mussten, veranschaulicht eine am Folgetag veröffentlichte Berichtigung in der Stralsundischen Zeitung. Ursprünglich hatte das Blatt verlautet, der Generalgouverneur wäre Träger des prestigeträchtigen Königlichen Seraphinenordens. Tatsächlich erhielt Sinclair diese Aus 33 Karl Möseneder: „Das Heraustreten des Festlichen kann nur geschehen durch Kunst“, in: Ders. (Hrsg.): Feste in Regensburg, S. 11 – 24, hier S. 12. 34 AUBGr, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten, S. 4 – 5. 35 StZ, Nr. 135, 11. 11. 1773. 36 AUBGr, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten, S. 5 – 7. 37 Staudinger: Bilder vom idealen Reich. Die Huldigungen, in: Möseneder (Hrsg.): Feste in Regensburg, S. 49.

Die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz ständeübergreifender Feste

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zeichnung erst ein Jahr später, weshalb die Stralsundische Zeitung ihn nun richtig betitelte.38 Zudem musste betont werden, dass sich die Landräte auf einen „nahe am Altar dazu eingerichteten und mit rothem Tuch bekleideten Stuhl setzten“39 und nicht auf einen „mit rothem Tuch umhangenen und ausgezierten Raths-­Stuhl“.40 Sie befanden sich also bei der Zeremonie an prominenter und geschmückter Stelle auf dem Ratsgestühl, welches aber dem Rat vorbehalten war und während der Huldigungsfeier nur als festliche Sitzgelegenheit diente. Diese Darstellung der Macht betrachteten die Festteilnehmer als selbstverständlich, machten sie doch damit den Anwesenden deutlich, wie sich ihr Stand und Amt zu den anderen Protagonisten verhielt. Dabei achtete jeder darauf, dass die Gerechtigkeitsformel „suum cuique“ entsprochen wurde; jedem das, was ihm gebührte.41 Als die Landstände das Gotteshaus betraten, erklang der erste Teil einer Kantate, die der Musikdirektor und Organist der Nikolaikirche Escherich komponiert und der Sekretär Thomas geschriebenen hatte. Das Publikum kannte den Text bereits, da man ihn schon mehrere Tage vorher gegen einen geringen Obolus verkauft hatte. Somit konnte jeder mitsingen.42 Nachdem der Generalsuperintendent Stenzler seine Predigt gehalten hatte, folgte der zweite Teil der Kantate. Währenddessen erhoben sich der Generalgouverneur Sinclair, die Vertreter der schwedischen Regierung und die Landräte von ihren Plätzen und positionierten sich ordnungsgemäß um bzw. auf dem erhöhten Lehnsessel. Sinclair nahm auf dem Sessel Platz, neben ihn stellte sich Kanzler von Horn auf einen Schemel, während die Regierungsräte vor ihren eine Stufe tiefer standen. Seitlich auf der gleichen Stufe positionierten sich einige Herolde. Hinter Sinclair versammelten sich sämtliche Offiziere, bevor sich die Vertreter der Ritterschaft aus ihren Stühlen erhoben und sich vor den erhöht platzierten, nun wieder stehenden Generalgouverneur stellten, der sodann eine Lobrede auf Gustav III. hielt und die Treue der Anwesenden beschwor. Darauf antwortete der Erblandmarschall Graf Malte Friedrich von Putbus als Vertreter der Ritterschaften und der Städte, indem er den Willen bestätigte, dem schwedischen König gegenüber loyal zu sein. Nun verlas der Kanzler der Ritterschaft den Huldigungs- und Lehnseid, den die Ritter mit erhobenen Fingern nachsprachen. Nachdem sich Sinclair erneut gesetzt hatte, verlieh ein Vertreter der königlichen Regierung den Mitgliedern der Ritterschaft mit knappen Worten ihre Lehen. Zur Bestätigung der Vergabe rief der Sekretär Müller die Vertreter der 38 Die Richtigstellung achtete auf Diskretion und vermied es zu schreiben, dass Sinclair gar nicht Träger des Seraphinenordens war. Stattdessen formulierten sie: „Se. Hochgräfl. Excellenz, der Herr Reichsrath, General-­Gouverneur, Ritter und Commandeur der Königl. Orden, Herr Graf Friedrich Carl Sinklaire […]“ StZ, Nr. 135, 13. 11. 1773. 39 Ebd. 40 StZ, Nr. 135, 11. 11. 1773. 41 Möseneder: Das Heraustreten, S. 15. 42 Den Verkauf der Musiktexte bewarb Escherich bereits eine Woche vor der Huldigung, da „es vielleicht am Huldigungs-­Tage manchen nicht gefällig seyn mögte, beym Eingange in der St. Nicolaikirche aufgehalten zu werden“. Die Musikbögen konnten bereits vorher für zwei Schillinge bei Escherich erworben werden. StZ, Nr. 131, 04. 11. 1773.

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Adelsgeschlechter einzeln „nach dem Alphabet“43 vor, wo sie den Hut des Generalgouverneurs berühren sollten. Anschließend traten die Deputierten der Städte zum Schwur des Eides hervor, wobei erst die Vertreter der Magistrate und danach die der Bürgerschaft an der Reihe waren.44 Es genügt an dieser Stelle einige Punkte dieser Zeremonie herauszugreifen und kurz einzuordnen, da eine genaue Analyse einer eigenen Untersuchung bedürfte. Die eigens komponierte Musik konnte genau auf die Bedeutung des Anlasses angepasst werden. Das gemeinsame Singen half den Anwesenden, sich zu Beginn als Teil der Festgemeinschaft zu fühlen. Während das Publikum die ganze Zeit stand, saß der Vertreter des Königs die meiste Zeit an hervorgehobener Stelle. Diese Position präsentierte monarchischen Herrschaftsanspruch; Gustav  III. wurde als Landesoberhaupt im wahrsten Sinne des Wortes eingesetzt.45 Mit ihren Reden und Treueeiden manifestierten die Anwesenden öffentlich die bestehende Ordnung, die darüber hinaus mit einem performativen Akt, dem Berühren des herrschaftlichen Hutes bestätigt wurde. Nachdem der formale Akt beendet war, riefen die Herolde: „Es lebe der König Gustaf der Dritte!“ Die Menge stimmte in diese Jubelrufe ein und das „Te Deum laudamus“ erklang in Begleitung von Pauken und Trompeten sowie Geschütz- und Gewehrsalven. Der anschließende Auszug aus der Kirche geschah in der Reihenfolge des Eintritts und führte begleitet vom Jubel der Bevölkerung zum Palais des Generalgouverneurs. Dort gab es ein Festessen für alle fremden Standespersonen, die Vertreter der königlichen Regierung und Kollegien, die Landräte, die Ritterschaft, die Deputierten der Städte, die Chefs der Garnison, die Superintendenten und Kirchenvorsteher. Insgesamt speisten 250 Gäste an neun Tafeln.46 Das gemeinschaftliche Essen und Trinken besitzt seit je her eine außergewöhnliche sozialisierende Macht und stellt bei vielerlei Anlässen einen wichtigen Programmpunkt dar.47 Währenddessen veranstaltete die Schützenkompanie solennes Scheibenschießen, worauf sich ein freudiges Fest für die Stadtbewohner mit Musik und Tänzen bis in die Nacht hinein anschloss.48 Das Festmahl der Standespersonen dauerte bis etwa 18 Uhr. Es folgte ein Theaterbesuch des Generalgouverneurs, der zunächst ein Vorspiel mit dem Titel „Das Fest der Treue“ sah. Das Stück hatte der bereits erwähnte Sekretär Thomas spezielle für diesen Anlass verfasst. Es präsentierte, wie „der Genius von Pommern dem Schutzgeist des Schwedischen Reichs einen Tempel weihte, den die Glückseligkeit zu schützen versprach“ und wie „Nymphen

43 44 45 46

StZ, Nr. 134, 11. 11. 1773.

AUBGr, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten, S. 9 – 15.

Stollberg-­Rilinger: Rituale, S. 106 – 107. Die große Zahl der Teilnehmenden schien wichtig zu sein, da die Stralsundische Zeitung diese später auch noch veröffentlichte. StZ, Nr. 135, 13. 11. 1773. 47 Stollberg-­Rilinger: Rituale, S. 105. 48 Über den Zug der Schützenkompanie informierte die Stralsundische Zeitung später auch noch ausgiebiger: StZ, Nr. 136, 16. 11. 1773.

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und Waldbewohner die Opfer ihrer Treue brachten“.49 Als Hauptstück zeigte die gastierende Wäsersche Gesellschaft „Codrus“ in der Bearbeitung von Johann Friedrich von Cronegk. Codrus, der letzte König Athens, verkörperte dabei die Rolle eines unermüdlichen Patrioten, der sich für sein Vaterland opferte und somit immerwährenden Ruhm erwarb. In Cronegks Bearbeitung erhielt der König zudem einen vorbildlichen Untertanen, der in der eigentlichen Sage nicht auftrat, an die Seite. Die Heldenrolle überstrahlt teilweise sogar Codrus.50 Das Stück verdeutlichte dem Publikum wohl, wie die Kooperation zwischen Schweden und Schwedisch-­Pommern idealerweise funktionieren konnte. Derweil illuminierte man die Stadt bis in die tiefe Nacht hinein, besonders das Palais des Generalgouverneurs. Dort schmückten Blumengehänge die Fassade und am obersten Balkon leuchtete ein großes „G“. Vor dem Palais des Grafen von Putbus verteilte man einen gebratenen Ochsen sowie reichlich Wein unter dem Volke. Der Magistrat hatte für das leibliche Wohl der Armen gesorgt, indem jeder und jede im Waisen-, Zucht- und Armenhaus eine reichliche Mahlzeit erhielt. Diese Freigiebigkeit gegenüber dem Volk ist als weiteres typisches Charakteristikum eines herrschaftlichen Festes zu sehen. So gehörte das Ausschenken von Wein, die Schlachtung eines Ochsen und allgemein die demonstrative Großzügigkeit gegenüber der Bevölkerung zu den Krönungsfeiern des Kaisers in Frankfurt.51 Vor dem Stralsunder Rathaus stand ein den gesamten Schaugiebel einnehmendes Gerüst, auf dem 3.000 Lampen drei Triumphbögen anstrahlten. Die beiden äußeren erhielten jeweils einen Obelisken und in der Mittel erhob sich eine toskanische Säule, die die Buchstaben „G. R.“ bekrönten.52 Zwar weilte König Gustav nicht persönlich in Stralsund, aber sein Name glänzte prachtvoll an zentraler Stelle. Auf den ersten Festtag folgten noch vier weitere, die vor allem unterschiedliche (Masken-)Bälle dominierten. Aber zunächst sollte ein erneuerter Theaterabend für ein gemeinschaftliches Gefühl unter den Ständen sorgen. Der Sekretär Thomas hatte nämlich noch ein Vorspiel – diesmal für die Landstände – geschrieben: Die Comedie entschied […] den Wettstreit zwischen den verschiedenen Nahrungsarten dahin, daß eine jede zum Wohlstande des Ganzen das Ihrige beytrage, und also auch jede Ruhm und Belohnung verdiene.53

49 AUBGr, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten, S. 17. 50 Wolfgang Ranke: Theatermoral. Moralische Argumentation und dramatische Kommunikation in der Tragödie der Aufklärung, Würzburg 2009, S. 358. 51 Ralph-­Rainer Wuthenow: Die Kaiserkrönung von 1763 zu Frankfurt am Main. Goethes Jugenderinnerungen und der Abschied vom Alten Reich, in: Uwe Schultz (Hrsg.): Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, S. 232 – 243, hier S. 240 – 242. 52 AUBGr, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten, S. 17 – 19. 53 Ebd., S. 19.

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Der zweite Tag endete mit einem „prächtigen Ball“ im Palais des Generalgouverneurs. Dazu kamen die Herren der königlichen Regierung, der Garnison, der Kollegien sowie alle vornehmen Fremde und Beamte; auch der Stralsunder Magistrat war eingeladen. Die Gesellschaft zählte 600 Männer und Frauen, die von 22 bis 8 Uhr tanzten. Dazu erklang nicht nur im großen Saal Musik, denn es spielten auch in drei anderen Zimmern Musikanten. Des Weiteren gab es ein Spielzimmer zur „Zeitverkürzung“. Um das leibliche Wohl sorgten sich 24 Marschälle, die am rechten Arm mit einem „G“ gekennzeichnet waren. Morgens um drei gab es zunächst für die Damen und anschließend auch für die Herren ein opulentes Bankett.54 Am dritten Abend spielte im Theater wieder eine Komödie, an die sich eine Redoute anschloss. Sofern jemand keine passende Maske besaß, konnte die Person eine von Herrn Wäser, dem Prinzipal der Schauspielgesellschaft, erhalten.55 Das Fest, an dem mehrere hundert verkleidete Gäste teilnahmen, dauerte wieder bis in die Morgenstunden. Der vierte Tag gestaltete sich ruhiger, da Sinclair lediglich zu einem großen Souper lud. Wer stattdessen lieber zu einer Redoute wollte oder nicht beim Generalgouverneur eingeladen war, hatte dazu ab 20 Uhr erneut auf dem Komödienhause Gelegenheit.56 Die Huldigungsfeierlichkeiten beschloss man am 16. November mit einen „Ball in Domino“ im Palais des Generalgouverneurs.57 Die Beschreibung und Einordnung der Huldigungsfeierlichkeiten demonstriert, wie stabil die ständische Hierarchie vor allem bei den offiziellen Ritualen blieb. Das Protokoll erlaubte keine Abweichungen bei der auf Tradition basierenden Zeremonie, die durch ihren gemeinschaftsstiftenden Charakter ebenso in die Zukunft wies. Es ließen sich noch andere offizielle Feierlichkeiten in Stralsund während des 18. Jahrhunderts beschreiben, bei denen ebenso die ständisch-­hierarchische Ordnung zum Ausdruck käme. Auffallend bei diesen ist jedoch, dass dabei keine großartigen Maskenbälle stattfanden. Beispielsweise gab es bei dem standesgemäßen, umjubelten Besuch des schwedischen Königs Friedrich im Jahre 1731 zwar zwei gewöhnliche Bälle. Für diese stand natürlich noch kein Saal im Theater zur Verfügung, da der erst 1766 öffnete, doch man wählte auch nicht einen anderen großen Festraum. Stattdessen beschränkte man sich auf die Privathäuser des Oberkommandanten sowie des Generalmajors, wo schon aufgrund der Größe lediglich der König mit den „allerhöchsten Personen“ verkehren konnte.58 Eine ähnliche Entwicklung zeichnete sich auch in Reval ab, wo das Einholen oder Huldigungen ebenso die traditionelle, ständische Hierarchie zum Ausdruck brachten und die

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Ebd., S. 19 – 21. StZ, Nr. 134, 11. 11. 1773. StZ, Nr. 135, 13. 11. 1773. AUBGr, Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten, S. 21. AUBGr, Anonym: Das über die beglückte Ankunfft Seines Allergnädigsten Königs Des Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fursten und Herrn, Hern. Friedrichs, […], Stralsund 1731, S. 8 – 9.

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gesellschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegelten.59 Doch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ergaben sich hier ebenfalls gewisse Freiräume. Beispielsweise feierte Fürst und Generalfeldzeugmeister Grigori Grigorjewitsch Orlow seinen Namenstag im Jahre 1773 mit einem prächtigen „Ball en Masque“. Orlow stand in der Gunst der Kaiserin weit oben, weil er sich an dem Putsch gegen Peter III. beteiligt hatte und zeitweise der Geliebte Katharinas II. war. Zudem galt er als Kriegsheld und konnte sich einen großartigen Maskenball leisten.60 Zu diesem erschienen sämtliche adlige Familien vom Lande, die sich im Januar in der Stadt aufhielten und „auch sehr viele von der Bürgerschaft dieser Stadt“. Insgesamt fanden sich mehr als 300 Gäste ein.61 Mit der Veranstaltung von Maskenbällen folgte man in Stralsund und Reval einem allgemeinen Trend, bei dem die gespielte Anonymität der Gäste einen verhältnismäßig informellen, ständeübergreifenden Kontakt ermöglichte. Offenbar erfreuten sich derartige Bälle einer so großen Beliebtheit, dass man sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch ohne den Anlass eines royalen Festes regelmäßig abhielt. Allerdings muss hier einschränkend bemerkt werden, dass nach dem tödlichen Attentat auf Gustav  III., das auf einem Stockholmer Maskenball 1792 begangen wurde, im ganzen Schwedischen Reich keine derartigen Festveranstaltungen mehr gestattet waren.62

2.2 Der Beginn öffentlicher Maskenbälle Die Ausführungen zum Theater im 18. Jahrhundert in Reval und Stralsund (Kap.  IV.2) zeigen, dass das Schauspiel stetig an gesellschaftlicher Akzeptanz gewann und damit eine wichtige Voraussetzung zur Gründung und Förderung der öffentlichen Schaubühne bildete. Einen ähnlichen Prozess scheinen öffentliche (Masken-)Bälle ebenfalls vollzogen zu haben. Denn während die Autoritäten, wie oben gezeigt, Maskierungen und Tänze im 16. Jahrhundert verboten, sehr restriktiv reglementierten oder dagegen von der Kanzel predigten, bildeten sich 200 Jahre später Institutionen heraus, die derartige Vergnügen regelmäßig anboten und auf breite Nachfrage stießen. Es ist schwierig zu bestimmen, wann sich Maskenbälle zu einer sozial akzeptierten Abendbeschäftigung wandelten. Einerseits fanden Tanzveranstaltungen in Korporationen in den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach der Reformation weiterhin statt. Andererseits entwickelte sich der gesellschaftliche Zuspruch langsam und lässt sich nicht auf ein bestimmtes Datum reduzieren. Dennoch verdichten sich in Stralsund zu Beginn der 1760er-­Jahre die Hinweise auf einen merklich veränderten öffentlichen Umgang mit Bällen. Während sich 59 Beispielsweise ist der Besuch der jungen Kaiserin Katharina II. in Reval 1764 sowohl in den Quellen als auch in der Literatur anschaulich dokumentiert. Vgl. bspw. Heinz von zur Mühlen: Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Gestalten und Generationen eines Ratsgeschlechts, Köln/Wien 1985, S. 285 – 292. 60 Vincent Cronin: Katharina die Große. Biographie, München 1996, S. 175 – 192. 61 RWN, Nr. 5, 28. 01. 1773. 62 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 37.

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in den ersten beiden Jahrgängen der Stralsundischen Zeitung keine Hinweise auf öffentliche Bälle oder Maskeraden finden lassen, kündigte eine Anzeige im Februar 1762 gleich mehrere maskierte Tanzveranstaltungen im Rathauskeller an: Es wird bekannt gemacht, daß bis Ostern auf dem hiesigen Rathause alle Donnerstag abends um 8 Uhr Ball gehalten und damit am künftigen Donnerstag als[o] am 18. dieses [Monats] der Anfang gemacht werden soll. Liebhaber, Adlichen und Bürgerlichen Standes können sich dabey mit und ohne Masquen beliebigst ein finden und das Billet zum Entree a 1 Rthl. für jedesmal auf dem Rathskeller abholen lassen.63

Dass es sich hierbei um die erste öffentliche Maskenballsaison in Stralsund handeln könnte, bestätigt eine Aussage in der Autobiographie des Pfarrers Müller. Darin berichtet er, dass „man hir [in Stralsund] angefangen, auf die Fasten Zeit 1762 Masquirten Ball“64 anzukündigen und stellt weiterhin fest: „Diese Art der Belustigung hatte so wol gefallen, daß sie in den folgenden Jahren in der Zeit vor der Fasten immer wiederhohlet worden.“65 Des Weiteren fällt ein von Georg David Matthieu gemaltes Portrait, das den Regierungsrat Adolf Friedrich von Olthof als Türken verkleidet zeigt, genau in diesen Zeitraum.66 Möglicherweise deutet Olthofs Erscheinung auf die wachsende Beliebtheit der bei einigen Maskenbällen benötigten Kostümierungen hin. Gleichzeitig könnte der Kunstmäzen und Kulturliebhaber diesen Bällen zu einer größeren Popularität verholfen haben. Für Reval ergibt sich ein ganz ähnliches Bild, obwohl sich die Einführung des Maskenballs dort weniger präzise festlegen lässt. Die Revalischen Wöchentlichen Nachrichten erschienen ab 1772 und man könnte vermuten, dass man dort von Anfang an zumindest im Winter regelmäßig Bälle aller Art bewarb. Doch anders als in Stralsund inserierten die Schauspielgesellschaften kaum etwas in der Zeitung, weshalb sich nur selten Anzeigen für derartige Tanzveranstaltungen finden lassen.67 Ein erster Hinweise auf einen Maskenball erschien vor der Fastenzeit des Jahres 1777, als Herr Schwabe bekannt machte, dass Interessenten bei ihm „Masquen für eine billige Miehte“ erhalten könnten.68 Es muss also

63 ANW, Nr. 14, 16. 02. 1762. 64 Zit. aus: Gustav Buchholz: Neuvorpommersches Leben im 18. Jahrhundert nach dem Tagebuch des Stralsunder Predigers Joh. Chr. Müller (1720 – 1772), Greifswald 1910, S. 145. 65 Zit. aus: ebd. 66 Richard Marsson: Aus der Schwedenzeit von Stralsund: v. Olthof und Giese (= Veröffentlichungen der Stadtbibliothek des Archivs zu Stralsund, Bd. 2), Stralsund 1928, S. 45. 67 Zwischen 1772 und 1784 wurde das Theater nur 16 Mal erwähnt und zwischen 1785 und 1794 finden sich zum Theater 29 Einträge. Für Näheres zu diesen Einträgen s.: Laurence P. A. Kitching: Zur Rezeptionsgeschichte des Revaler Deutschen Theaters in der Reval(i)schen Wöchentlichen Nachrichten, 1772 – 1852, in: Ders. (Hrsg.): Die Geschichte des deutschsprachigen Theaters im Ausland: Von Afrika bis Wisconsin – Anfang und Entwicklungen, Frankfurt a. M. 2000, S. 87 – 96. 68 RWN, Nr. 6, 06. 02. 1777.

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Anlässe gegeben haben, zu denen man verkleidet erscheinen sollte und die es wert waren, sich dafür eine Maske zu auszuleihen. Ob Schwabes Annonce tatsächlich ein Hinweis auf einen öffentlichen Maskenball liefert, ist nicht eindeutig klären. Jedoch bewarb der Besitzer des Lokals Stadt Hamburg direkt unter dieser Anzeige einen zwei Mal wöchentlich stattfindenden „Club“, für den ein „immerwährendes Billett“ einen Rubel kostete. Möglicherweise organisierte der Besitzer für den Klub bereits 1777 Maskenbälle, obwohl erst für das Jahr 1781 eine entsprechende Anzeige nachweisbar ist: Heute, den 8ten Febr., wird bey Herrn Witt in der Stadt Hamburg auf dem großen Saal ball en Masque gehalten, wozu die Billets ebendaselbst zu haben sind. Für den Eintritt und Souper zahlt die Person 1 Rubel und hat sich die beste Bewirthung zu versprechen. Der Anfang ist um 6 Uhr.69

Zwar blieb dies die einzige Werbung für einen Maskenball, die die Stadt Hamburg in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten publizierte, aber einem anonymen Briefeschreiber zufolge gab es Ende 1781 eine große Vielfalt an Tanzveranstaltungen, zu denen auch „Maskeradenbälle“ gehörten. Bälle giebt es hier unter allerhand Titeln. Es giebt Piqueniquesbälle, Clubbenbälle, Maskeradenbälle, Namenstagsbälle, Verlogungsbälle, Hochzeitbälle und beynahe möchte ich auch sagen, Beerdigungsbälle.70

Wo und von wem diese Bälle gegeben wurden und ob sie öffentlich oder privat waren, muss offenbleiben. Doch mit der Gründung der Bürgerlichen Klubbe sowie der anderen geselligen Vereinigungen erhielt Reval einige zumindest teilweise öffentlich zugängliche Ballorte.

2.3 Die Diskussion um (Masken-)Bälle Die in Stralsund stattfindenden Maskenbälle vereinten Verhaltensweisen, die sich mit bürgerlichen Tugenden wie Fleiß und Mäßigung nur schwer vereinen ließen.71 Daher mussten aufgeklärte Bürger, die dem Tanzvergnügen nicht fernbleiben wollten, eine vernünftige Rechtfertigung für ihr Verhalten finden. In der lokalen moralischen Wochenschrift Pom-

69 RWN, Nr. 6, 08. 02. 1781. 70 RWN, Nr. 13, 28. 03. 1782. 71 Zu der Herausbildung und Wirkung des bürgerlichen Tugendkanons vgl. Hans-­Werner Hahn und Dieter Hein (Hrsg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf, Vermittlung, Rezeption, Köln/ Weimar/Wien 2005; Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680 – 1815), Göttingen 1996.

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mersches Krämerdütchen 72 bediente sich der anonyme Herausgeber einer zeitgenössisch weit verbreiteten Argumentation.73 Wer viel und tüchtig arbeite, müsse sich erholen, um leistungsfähig zu bleiben. Doch gerade in den Wintermonaten werde sich die Fragen gestellt: „[W]as soll man anfangen? [W]omit soll man die Zeit vertreiben?“74 Die Antwort lautete, dass „Leute von noch so verschiedenem Stande, noch so verschiedenem Alter, noch so verschriener Denkungsart“75 zu Schauspielen, Maskeraden oder Konzerten gehen könnten. Das besondere bei diesen „Winterergötzungen“ sei, dass sie nicht nur Vergnügen, sondern auch Erholungen stiften würden. Den zusätzlichen Nutzen führte der Verfasser in Form eines Wunsches aus: Könnten wir (wie oft wir durch die ehrwürdigen Beyspiele dazu ermuntert!) […] unserer Denkungsart endlich einmal den Schwung geben, zu begreifen, daß bey öffentlichen Ergötzlichkeiten nicht auf bürgerlichen Unterschied gerechnet werden, daß ein jeder mit gleichem Rechte daran Theil nehmen darf, der nur den Anstand, die Ruhe der Versammlung, ihren Zweck, ihr Vergnügen nicht beleidigt; vielleicht gelangten wir mit der Zeit dahin, auch ein kleines Vauxhall 76 bey uns zu errichten, […].77

In der nächsten Ausgabe des Krämerdütchens widersprach der „bereitwillige […] Leser Emanuel Althagen“78 in Briefform den Ausführungen des Verfassers. Moralische Wochenschriften enthielten oftmals Leserbriefe, die die Herausgeber der Zeitschrift meist selbst verfasst hatten. Damit täuschten sie dem Publikum eine authentisch geführte Diskussion vor, womit die vermittelten Informationen mehr Glaubwürdigkeit suggerierten.79 Zwar konnte es sich genauso gut um echte Zuschriften handeln, aber da der Name „Althagen“ 72 Diese moralische Wochenschrift wurde anonym publiziert, doch lässt sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Rektor der Greifswalder Stadtschule, Theophilus Coelestinus Piper, als Redakteur ausmachen. Dazu s.: Ernst Zunker: Das Pommersche Krämerdütchen, in: Baltische Studien 50 NF (1964), S. 47 – 52. 73 Die Ökonom Johann Heinrich Gottlob Justi (1717 – 1771) argumentierte beispielsweise, dass es zum Staatsziel werden müsse, den Untertanen Abwechslung von Arbeit und Mühseligkeit anzubieten. Damit werde die Lust auf Arbeit erneut geweckt und zudem noch Unordnung vermieden. Vgl. dazu: Tanzer: Spectacle müssen seyn, S. 34. 74 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 31, 03. 08. 1775, S. 481 – 489, hier S. 482. 75 Ebd., S. 483. 76 Vauxhall war ein Ort bei London, wo aufgrund der schönen natürlichen Verhältnisse ein Garten eröffnet wurde. Dort fanden Abendgesellschaften mit Illuminationen, Feuerwerken und dergleichen statt. Wegen der starken Nachfrage ahmten große Städte wie Paris, Wien und Berlin diese Einrichtung nach. Vgl. Vauxhall, in: Johann Georg Krünitz’s ökonomisch-­ technologische Encyklopädie, Bd. 203, Berlin 1850, S. 354 – 355. Für eine präzise Beschreibung des Londoner „pleasure gardens“ s.: Jerry White: London in the 18th Century. A Great and Monstrous Thing, London 2013, S. 322 – 324. 77 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 31, 03. 08. 1775, S. 488 – 489. 78 Ebd., Nr. 32, 10. 08. 1775, S. 497 – 501, hier S. 501. 79 Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700 – 1830), Göttingen 2002, S. 83.

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den Inhalt des Schreibens pointiert zusammenfasste, wird es sich wohl um einen fingierten Leserbrief handeln. Trotzdem behält dieser seinen Quellenwert, weil dessen Inhalt der zeitgenössischen Mentalität entsprechen musste, wenn der Leser das Schreiben für plausibel halten sollte. Maskeraden erachtete der Verfasser weder für vergnüglich noch für moralisch vertretbar. Wenn man das Bedürfnis habe zu tanzen, solle man es auf Hochzeiten tun oder „unter sich“ zusammenkommen. „Aber so vor jedermanns Angesichte“80 sei es keine Freude. Außerdem könnten dort junge Frauen verführt werden, weshalb Maskenbälle für sie keinen sicheren Raum böten. Damit brachte der Autor zum einen die Angst der Ballgäste zum Ausdruck, sich in der Öffentlichkeit zu blamieren; zum anderen kritisierte er in ähnlicher Form wie Freiherr von Knigge die Rolle der Frauen bei derartigen Tanzveranstaltungen.81 Doch während sich bei Knigge besonders die im Rausch des Tanzes befindlichen Damen unvorteilhaft präsentierten, spielten sie im Krämerdütchen die Rolle der Verführten. Als direkte Reaktion auf den Leserbrief entgegnete der Herausgeber auf das erste Argument, dass jeder dort tanzen solle, wo es ihm am besten gefiele. Danach hieß es weiter, „daß, wer verführt seyn will, es überall werden kann“82. Damit wies der aufgeklärte Verfasser die Vorbehalte gegen Maskenbälle zurück, weshalb derartige Tanzveranstaltungen auf der Grundlage seiner Argumentation als erholsames Vergnügen mit standesübergreifender Wirkung gelten konnten.

3. Die Institutionalisierung neuer Ballorte Mit der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz von (Masken-)Bällen entwickelten sich Organisationsformen, die die regelmäßige Veranstaltung dieser Tänze ermöglichten. Mit der Etablierung des Stralsunder Theaters (Kap. 3.1) und der Gründung der geselligen Vereine, wie der Bürgerlichen Klubbe in Reval (Kap. 3.2), ergab sich für diejenigen, die es sich leisten konnten, die wiederkehrende Möglichkeit zu gut organisierten (semi-)öffentlichen Bällen zu gehen. Doch natürlich trafen sich exklusive Tanzgesellschaften weiterhin in Privathäusern oder -schlössern und in anderen dafür vorgesehenen Räumlichkeiten (Kap. 3.3).

3.1 Das Stralsunder Theater als Ballsaal Kapitel IV.3 beschrieb die Motivation der Johannisloge Zur Eintracht, als Kulturunternehmerin tätig zu werden und ein Theater in Stralsund zu eröffnen. Demzufolge resultierte dieses Unternehmen vor allem aus dem Wunsch, Geld für ein dringend benötigtes Waisenhaus zu akquirieren. Da das Schauspiel ein gesellschaftlich weitgehend akzeptiertes Vergnügen darstellte und noch kein dafür vorgesehener Ort existierte, lag es für die Eintracht 80 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 32, 10. 08. 1775, S. 500. 81 Zu der Kritik des Freiherrs von Knigge s. Kap. V.5.1. 82 Pommersches Krämerdütchen, Nr. 32, 10. 08. 1775, S. 501 – 505.

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nahe, mit dem Unterhalt eines Theatergebäudes Geld zu erzielen. Gleichzeitig handelte es sich bei diesem Gebäude um einen Konzert- und nicht zuletzt einen Ballsaal, womit die Loge das erste „Redouten-­Haus“ Stralsunds gründete. Wie selbstverständlich man die Nutzung des Theaters für Tanzveranstaltungen von Anfang an einkalkulierte, belegt die feierliche Eröffnung des Hauses am 31. Januar 1766. Der Prinzipal Leppert organisierte für diesen Tag nämlich eine Redoute und präsentierte erst drei Tage später das erste Schauspiel.83 Seitdem fanden regelmäßig (Masken-)Bälle in Stralsund statt, die die Stralsundische Zeitung oftmals bewarb. Eine Anzeige aus dem Jahre 1768 kündigte beispielsweise einen Maskenball im „Redouten-­Hause“ an.84 Der Veranstaltungsort befand sich in der Mönchstraße, wo auch das Theater der Freimaurer lag, weshalb sich die Annonce wohl auf dieses bezog. Dass es sich bei dem „Redouten-­Hause“ und dem neu errichteten Komödienhause um dasselbe Gebäude handelte, bestätigen darüber hinaus dessen bauliche Voraussetzungen. Der für die Umbauarbeiten des alten Sellmerschen Hauses verantwortliche Westphal hatte direkt die Nutzung als Ball- und Schauspielhaus vorgesehen. Da er im Parterre keine Sitzbänke am Boden befestigen ließ, konnte die Bestuhlung bei Maskenbällen schnell beiseitegeschafft werden. Zudem ermöglichte es eine spezielle Schraubkonstruktion, dass das Parterre auf die Ebene der sonst erhöhten Bühne fixiert werden konnte, wodurch sich der Tanzplatz entsprechend vergrößerte.85 Die Unterscheidung zwischen dem Theater als Ballhaus einerseits und dem Schauspielhaus andererseits dient hauptsächlich der besseren Analyse beider Festlichkeiten. Tatsächlich verknüpften die Organisatoren Tanzveranstaltungen und dramatische Vorstellungen örtlich und personell engmaschig miteinander. Beispielsweise konnte es vorkommen, dass ein Schauspiel zusammen mit einem Maskenball in einer Anzeige erschien, wie dieses Beispiel von 1776 veranschaulicht: Morgen […] wird die Ambergsche Gesellschaft, an dem hohen Geburtsfeste Sr. Königl. Majestäte, unsers Allergnädigsten Königs, vorstellen: Das Prolog: Der Sieg der Grazien; in Musik gesetzt von dem Hrn. Balletmeister Reymann. Und danächst: Die Jagd. Der Anfang ist präcise um 4 Uhr. Abends ist ein Ball en Maske im Comödienhause. Der Anfang aber um 10 Uhr.86

Zu Ehren König Gustavs III. sollte also am 24. Januar zunächst Theater gespielt werden und später an gleicher Stelle ein Maskenball stattfinden. Dabei sind die Parallelen zwischen der Gestaltung dieses Abends und der Huldigungsfeier, die lediglich etwas mehr als zwei Jahre vorher stattgefunden hatte, unübersehbar. 1773 hatte es am zweiten Festtag zunächst ein Schauspiel gegeben, an das ein Ball im Palais des Generalgouverneurs anschloss. Der dritte Tag verlief sogar nahezu identisch zu der eben zitierten Anzeige, da 83 StASt Rep. 18, 1164. 84 StZ, Nr. 4, 12. 01. 1768. 85 Vgl. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 34. 86 StZ, Nr. 10, 23. 01. 1776.

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eine Schauspielgesellschaft sowohl die Komödie als auch den darauffolgenden Maskenball im Theater veranstaltete. Allgemein ist festzuhalten, dass Wandergesellschaften seit der Gründung des Theaters in Stralsund oft Schauspiele und Tanzveranstaltungen hintereinander organisierten. So führten die zusammenarbeitenden Prinzipale Hostowsky und Fendler am 28. Februar 1788 zu Ehren des Geburtstages des Generalgouverneurs Fürst von Hessenstein eine Komödie auf und hießen anschließend die Gäste zu einer Redoute willkommen. Die Verquickung zwischen Theater und Fest stellt keine Besonderheit Stralsunds dar, weil Festlichkeiten in der damaligen Theaterpraxis eine prominente Stelle einnahmen. In dem 1717 eröffneten Ballhaus von Bad Pyrmont fanden ebenfalls regelmäßig Komödien statt. Und in Innsbruck befahl Kaiserin Maria Theresia den Bau eines Redoutensaals, der gleich an das Theatergebäude angrenzte.87 Sogar Johann Wolfgang von Goethe sah die Veranstaltung von Maskenbällen und anderen Festlichkeiten in seiner Funktion als Weimarer Theaterdirektor als selbstverständlich an.88 Einen weiteren Hinweis für einen direkten Zusammenhang zwischen Theater und Festlichkeit liefern die erwähnten Prinzipale Hostowsky und Fendler. Sie sorgten für eine der aufwendigsten Redouten des Untersuchungszeitraums, die nicht mit der schwedischen Monarchie in direkter Verbindung standen. Wenn man der Stralsundischen Zeitung vom 18. März 1783 Glauben schenken möchte, veranstalteten die beiden eine „grosse Redoute“, bei der ein „Aufzug“ geplant war. Konkreter versprachen sie den „triumphirende[n] Einzug des Don Quixotte von Mancha in Mantua“89 und beschrieben ihn sehr ausführlich. Demnach sahen die Gäste einen karnevalesken Einzug von Musikern, Rittern und anderen fiktiven Figuren aus den berühmten Romanen von Cervantes. In der nächsten Ausgabe der Zeitung erschien eine bemerkenswerte zweite Anzeige, die erneut diese große Redoute bewarb. Jetzt wurde aber die beworbene Parade viel detaillierter beschrieben. Statt der zuvor genannten neun Paradenelemente führten die Prinzipale nun 19 Aufzugsgruppen auf. Bei der Lektüre dieser veränderten Annonce entsteht der Eindruck, dass die Attraktion des Festes verkleidete Schauspielerinnen und Schauspieler „in Spanischer Kleidung“ oder in „abgeschmackter Bauern-­Kleidung“ verkörperten. Die Veranstalter inserierten sogar eine vier bis fünf Mal so umfangreiche Anzeige als bei anderen derartige Ankündigungen. Ballliebhaber/innen konnten die Eintrittskarten zu dem Maskenball, wie die Stralsundische Zeitung weiter informierte, vorher beim Weinhändler Bromberg kaufen oder direkt im Theater am Veranstaltungsabend, dessen Beginn man mit 21 Uhr einplante, erwerben. Eine Karte für den „Tanz-­Saal“, also das Parterre mit der Bühne, kostete 16 Schillinge.90 87 Fink: Der Ball, S. 31 – 32. 88 Patrik Primavesi: Das andere Fest. Theater und Öffentlichkeit, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 31. 89 StZ, Nr. 33, 18. 03. 1788. 90 Es ist sehr kompliziert, die geprägten Münzen und deren Werte darzustellen. Grundsätzlich galt: 1 Reichstaler pomm. Kurant = 48 Schillinge (ßl.). Vgl. dafür grundlegend Richard Marsson: Stralsund als königlich schwedische Münzstätte. 1715 – 1815, in: Zeitschrift für Numismatik, 40 (1930), S. 87 – 166 und 229 – 276. Ein Huhn kostete zwischen 1765 und 1770 sechs bis sieben

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Für acht Schillinge erhielt man einen Logenplatz und noch vier Schillinge musste man für die Galerie aufwenden. Des Weiteren warb die Anzeige mit einem neuen Menuett, welches auf einem erst kürzlich „erbaueten Orchestre“ aufgeführt werden sollte. Schließlich erinnerte der Gastgeber noch direkt an den wohltätigen Hintergrund des Balls, indem er auf ihre „mildtätige Hülfsleistung“ für die Bedürftigen verwies.91 Es blieb nicht bei einem Maskenball und die Stralsundische Zeitung diente weiterhin als ein wichtiges Informationsmedium, obgleich die Veranstalter sich meist auf eine kurze Notiz beschränkten: Heute wird zur gewöhnl. Zeit, Abends um 9 Uhr, Redoute en Masque gehalten. Die Billets werden in dem Redouten Hause und bey dem Hrn. Bromberg ausgegeben, zu 16 ßl. auf dem Tanzsaal, in denen Logen 8 ßl. und auf der Gallerie 4 ßl.92

Es fällt schwer zu beurteilen, wie viele Besucher/innen das Stralsunder Theater bei Bällen willkommen hieß. Oftmals wird die Zahl der Gäste bei herrschaftlichen Anlässen genannt, wobei diese Angaben aufgrund des obrigkeitlichen Interesses, eine Feier besonders großartig und pompös erscheinen zu lassen, kritisch zu hinterfragen sind. Tatsächlich weisen vereinzelte Quellen darauf hin, dass es auch schlecht besuchte Redouten gab. Beispielsweise notierte der Schauspieler der Wäserschen Gesellschaft nach einer Redoute am 4. November 1773 in sein Tagebuch: Es kamen gar sehr wenige Masken. Man warte also bis um 12 Uhr, und da niemand weiter kam, so war die Redoute aus, alles lief nach Haus, ein Ende hatte der Schmaus, […].93

Die Redoute scheiterte, obwohl der in Stralsund durchaus erfolgreiche Prinzipal Wäser bei der Veranstaltungsplanung nichts geändert hatte. Wie üblich hatte er eine Annonce in der Stralsundische Zeitung geschaltet, in der er zunächst eine „Comödie“ bewarb, nach der ab 22 Uhr die Tanzveranstaltung beginnen sollte.94 Der Grund für den mangelnden Zuspruch ist nicht eindeutig zu klären, obwohl einige plausible Möglichkeiten rekonstruierbar sind. Zunächst einmal gehörten die dramatische

91 92 93 94

Schillinge, eine Gans 18 – 20 Schillinge (Marsson, Stralsund, S. 150); kurze Drucke kosteten ungefähr zwischen vier und zehn Schillinge, bspw. kostete „Der Frosch- und Mäuse-­Krieg. Ein scherzhaftes Heldengedicht“ von Th. C. Piper acht Schillinge (StZ, Nr. 48, 22. 04. 1775); umfangreichere Bücher waren teurer wie z. B. Rellstabs „Ausflucht nach der Insel Rügen“, das für 32 Schillinge zu haben war (StZ, Nr. 66, 03. 06. 1797). Eine Auflistung von weiteren zeitgenössischen Preisen und Gehältern befindet sich im Anhang. ANW, Nr. 4, 12. 01. 1768. Ebd., Nr. 12, 09. 02. 1768. Zitiert aus: Otto Altenburg: Aus der Geschichte des Theaters in Pommern während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Baltische Studien 33 NF (1930), S. 199 – 216, hier S. 207. StZ, Nr. 130, 02. 11. 1773.

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Aufführung und die Redoute zusammen, weshalb eine geringe Zuschauerzahl beim Bühnenstück direkte Auswirkungen auf die Redoute nach sich zog. Als „Comödie“ führte die Gesellschaft Christian Martinis „Rhynsolt und Sapphira“ auf, eines der ersten deutschsprachigen bürgerlichen Trauerspiele, das sich an George Lillos „The London Merchant“ (1731) orientierte. Es gehörte für mehr als zwanzig Jahre nach seiner Veröffentlichung im Jahre 1755 in das Repertoire vieler Schauspieltruppen wie der von Konrad Ernst Ackermann.95 Die Wäsersche Truppe führte es ebenso regelmäßig auf, wobei sie dies im Jahre 1770, einem Leipziger Rezensenten nach, schlecht machte: „Rhynsolt und Sapphira ist elend, sehr elend, höchst elend. Was läßt sich weiter davon sagen?“96 Möglicherweise urteilte das Stralsunder Publikum über das Stück genauso. Da Wäser bereits zuvor in Stralsund gastiert hatte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass man dieses Bühnenwerk bereits kannte und lieber fernblieb. Wie üblich bot die Truppe aber nicht nur ein Trauerspiel dar, sondern zeigte auch ein Ballett; dabei handelte sich um „Der Maschinist“.97 Das Ballett hatte der Prinzipal den Stralsundern bereits mehrere Mal vorgeführt. Das bedeutet, es spielte ein schlecht dargestelltes Trauerspiel gefolgt von einem bereits bekannten Ballett. Diese Kombination schaffte es sicherlich nicht, viele Zuschauer in das Theater zu locken. Doch möglicherweise hing das mangelnde Interesse des Publikums aber gar nicht nur mit Wäsers Truppe zusammen. Nur eine Woche nach der diskutierten Redoute sollte die Huldigungswoche für Gustav  III. stattfinden (vgl. Kap. V.2.1). Daher wusste die Bevölkerung, dass es bald vielfältige Möglichkeiten zum Feiern gab, und zog es vor, ihre Kraft und Muße für die Festzeit aufzusparen. Was auch immer die Erklärung für den misslungenen Ball gewesen sein mag, stellte kein grundsätzliches Problem in Stralsund dar. Zwar mussten Bälle manchmal im Voraus abgesagt werden,98 aber die Nachfrage muss insgesamt ertragreich gewesen sein. Denn die Prinzipale veranstalteten regelmäßig in relativ kurzen Intervallen etwaige Tanzgelegenheiten. Falls keine Schauspieltruppe in Stralsund gastierte, wie es im Winter 1791/92 vorkam, bedeutete das kein Aus von regelmäßigen Tanzveranstaltungen. In der Brauerkompagnie lud man nämlich ein Mal pro Monat zu einer „öffentlichen Redoute“, die 16 Schillinge Eintritt kostete.99 Neben Stralsund fanden in derselben Ballsaison ebenfalls in Greifswald 100 und den kleineren Orten Grimmen 101 und Barth 102 öffentliche Bälle statt. Für andere Jahre 95 Zum Leben und Wirken von Martini sowie zum Inhalt und der Rezeption von „Rhynsolt und Sapphira“ s.: Richard Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, Berlin 1963, S. 236 – 275. 96 Zit. aus: Ebd., S. 272. 97 Altenburg: Aus der Geschichte, S. 207. 98 Für eine öffentliche Absage s. z. B.: StZ, Nr. 6, 14. 01. 1777. 99 Vgl. die Anzeigen in: StZ, Nr. 137, 17. 11. 1791.; Nr. 145, 06. 12. 1791; Nr. 5, 12. 01. 1792 und Nr. 7, 17. 01. 1792. 100 StZ, Nr. 7, 17. 01. 1792. 101 Ebd., Nr. 2, 05. 01. 1792. 102 Ebd., Nr. 135, 12. 11. 1791.

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lassen sich ebenso Veranstaltungen in Loitz und Bergen nachweisen.103 Darüber hinaus entwickelten sich sogar in den Sommermonaten regelmäßige öffentliche Gesellschaftstänze. Beispielhaft für diese Tendenz ist der ca. 25 Kilometer westlich von Stralsund gelegene Kurort Kenz, wo man Gäste im „Roten Haus“ im Juli und August zu Bällen für ein Entgelt von 24 Schillingen willkommen hieß (s. Kap. V.6).

3.2 Bürgerliche Klubs als Ausrichter von Bällen 3.2.1 Die Entwicklung der Mitgliederzahl der Bürgerlichen Klubbe (Erholung) Die Bürgerliche Klubbe konstituierte sich im Jahr 1781 und war damit die erste Vereinigung in Reval, die vornehmlich auf den geselligen Umgang unter den Mitgliedern und somit die Erholung nach der Arbeit abzielte. Dementsprechend benannte sich die Bürgerliche Klubbe im Jahre 1797 in Erholung um, damit sie Kaiser Paul I. nicht als politisch subversiver Klub einstufte und auflösen ließ. Zu dieser Zeit beschränkte sich die Mitgliedschaft zudem nicht mehr nur auf die bürgerlichen Stände, da Adlige oder Offiziere ebenso eintreten durften.104 Folglich stieg die Mitgliederzahl von 50 Personen im Jahre 1781 um das Fünffache zweieinhalb Dekaden später.

Diagramm 2: Mitgliederzahl der Bürgerlichen Klubbe (Erholung), 1781 – 1804.

103 Ebd., Nr. 5, 11. 01. 1785. 104 Genauere Ausführungen zur Entwicklung des Klubwesens in Reval befinden sich in Kap. III 2.3. – 2.5. Weiterhin grundlegend: Indrek Jürjo: Die Klubs in Reval im Zeitalter der Aufklärung, in: Norbert Angermann und Wilhelm Lenz (Hrsg.): Reval. Handel und Wandel vom 13. bis zum 20. Jahrhundert, Lüneburg 1997, S. 339 – 362.

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Beachtlich an der Entwicklung der Klubgröße ist nicht unbedingt die absolute Mitgliederzahl von 250 Personen. Die Revaler Societät auf dem Dom hatte 200 Personen als maximale Obergrenze bereits im Jahre 1791 festgeschrieben und laut dem zeitgenössischen Kommentator Petri zählte der Klub der Schwarzhäupter sogar 300 bis 400 Mitglieder.105 „Die Gesellschaft der Musse“ in Riga, der größten Stadt Est- und Livlands, bestand am Ende des 18. Jahrhunderts aus 400 Mitgliedern, obwohl viele Aufnahmeanträge noch gar nicht bearbeitet waren.106 Die bedeutendste Gesellschaft Hamburgs, die 1789 gegründete Harmonie, wuchs von 200 Mitgliedern im Jahre 1791 auf mehr als 500 Personen eine knappe Dekade später.107 Viel erstaunlicher erscheint das Wachstum der Klubbe, weil er trotz der Konkurrenz durch die beiden anderen großen Gesellschaften und trotz der moderaten Größe der Stadt erfolgte. Solch eine intensive Nachfrage erklärt sich nur, wenn man die Entwicklung der Klubbe als attraktiv für die Mitglieder begreift. Doch was machte die Anziehungskraft dieses geselligen Vereins aus? 3.2.2 Der Bau eines angemessenen Ballsaals Nach der Gründung der Klubbe bestand eine ihrer wichtigsten Aufgaben aus der Einrichtung eines ausreichend großen und angemessen möblierten Vereinshauses. Die Suche nach einem geeigneten Gebäude und die Auswahl des Mobiliars verweisen auf die Bedeutung, die die Mitglieder der Gestaltung ihres gemeinsamen Aufenthaltsortes zusprachen. Zudem lässt sich jede bauliche Veränderung des Vereinshauses sowie jede größere Anschaffung als eine Reaktion auf die Anforderungen und Bedürfnisse der Mitglieder an ihr Klubumfeld interpretieren. Über das erste Quartier der Klubbe weiß man lediglich, dass es drei Zimmer hatte und die Miete einschließlich Heizung, Küche und Keller jährlich 130 Rubel betrug. Der größte Raum reichte, um zwei Dutzend Personen gleichzeitig zu verköstigen und entsprach folglich nicht den Anforderungen einer Gesellschaft mit bis zu 50 Herren; für opulente Ballvergnügungen genügte der Platz sicherlich genauso wenig.108 Bereits ein halbes Jahr später berieten die Mitglieder über die Vergrößerung des Vereinshauses und entschieden, das sogenannte „Kniepersche Haus“ zu mieten. Damit einher ging eine deutliche Mieterhöhung, da sie für das Haus nun 250 Rubel ohne Heizung zahlten,109 was fast 60 Prozent der Mitgliedsbeiträge des Jahres 1782 entsprach. Zusätzliche Kosten verursachte die Notwen-

105 Petri: Briefe über Reval, S. 90. 106 Robert Büngner: Die Gesellschaft der Musse in Riga 1787 – 1887, Riga 1886, S. 10. 107 Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 2. Aufl. 1990, S. 570 – 571. 108 Revaler Beobachter, Nr. 168, 08. 09. 1889. Das letzte gemeinsame Vereinsessen im alten Quartier nahmen 23 Personen ein. Vgl. dazu: TLA, Rep. 1441.1.1, S. 11. 109 Ebd., S. 4 – 5.

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digkeit, das größere Vereinshaus adäquat zu möblieren. Zur ersten Bestellung gehörten ein Spieltisch, vier Dutzend Stühle und einige Bücherschränke.110 Die Klubbe verfügte nun über einen größeren Saal, der sich für Bälle, Konzerte oder gut besuchte Versammlungen besser eignete. Um den Ansprüchen an einen prächtigen Saal zu genügen, musste dieser gewisse bauliche Erwartungen erfüllen sowie eine einladende Einrichtung haben. Etwaige Mängel nahmen Gäste nämlich kritisch zur Kenntnis. Bei einem Ball im Schwarzhäupterhaus, wo sich der gesellige Verein Abendgesellschaft (ab 1792 Einigkeit) eingemietet hatte, merkte ein Zeitgenosse beispielsweise über den Saal an, dass es darin zu wenig Schmuck gebe. Schon das Vorhaus empfand er als lang, groß und unpraktisch, weil der Boden dort im Winter sehr glatt werde. Es bestehe die Möglichkeit, fuhr er fort, diesen Bereich mit nur geringen Kosten in Zimmer umzuwandeln, wodurch das Etablissement deutlich an Bequemlichkeit gewinnen könnte. Im Saal störten ihn zudem die Pfeiler, die nach dem „heutigen Geschmack keine Zierde“ waren und das Tanzen erschwerten. Allgemein erinnerte ihn der Raum an die „Zeit des Hanseatischen Bundes“, da der Messingkronleuchter und die „alten Kaiser und Czaare, Könige und Königinnen“ nicht der Mode entsprachen und wenig einladend wirkten.111 Zwar liegt eine derartige Beschreibung für den Ballsaal der Bürgerlichen Klubbe nicht vor, aber es ist nicht davon auszugehen, dass ihre Räumlichkeiten sofort einwandfrei der neusten Mode entsprachen und somit stets der Verschönerung bedurften. Der Ballsaal erhielt beispielweise 1789 vier Spiegel im Wert von 300 Rubel.112 Das größte Problem blieb jedoch der Platzmangel. Trotz des größeren Vereinsgebäudes monierte August von Kotzebue, der dem Klub selbst seit dem Dezember 1783 angehörte,113 dass zu wenig Platz im großen Saal zur Verfügung stand. Man konnte es sich im Jahre 1786 noch nicht einmal erlauben, Damen zu den wöchentlich stattfindenden Konzerten einzuladen, da es sonst so beengt „wie in Frankfurt bey einer Kaiserkrönung“ geworden wäre.114 Daher hatte der Vorsteher Franz Ulrich Albaum möglicherweise die Repräsentativität und Gastfreundlichkeit seines Klubs im Sinn, als er der Kommission im Februar 1787 seine grundsätzlichen Umbaupläne für das Vereinshaus vorstellte.115 Die Kommission befür-

110 Ebd., S. 9. 111 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, über Ehstlands Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, in: August von Kotzebue (Hrsg.): Für Geist und Herz, Bd. 1 (1786), S. 114 – 124, hier S. 120 – 121. 112 TLA, Rep. 1441.1.1., S. 189. 113 Kotzebue gehörte am 30. Dezember 1783 zu den insgesamt fünf neu aufgenommenen Klubmitgliedern, vgl. TLA, Rep. 1441.1.1., S. 73. Bereits einen Monat zuvor wurde der erst kürzlich in Reval eingetroffene Kotzebue Ehrenbruder der Schwarzhäupter, vgl. Henning von Wistinghausen: Die Kotzebue-­Zeit in Reval im Spiegel des Romans „Dorothee und ihr Dichter“ von Theophile von Bodisco, in: Otto-­Heinrich Elias u. a. (Hrsg.): Aufklärung in den baltischen Provinzen Rußlands (= Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte, Bd. 15), Köln/Weimar/Wien 1996, S. 255 – 304, hier S. 267. 114 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, S. 119. 115 TLA, Rep. 1441.1.1., S. 152.

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wortete diese jedenfalls und selbst der Hauseigentümer zeigte sich gegenüber einer baulichen Veränderung seines Objekts aufgeschlossen. Nun musste sich noch eine Mehrheit bei der nächsten Vollversammlung finden, was Albaum mit einer Doppelstrategie gelang. Einerseits präsentierte er die Baumaßnahmen als günstig und unkompliziert; keiner solle zusätzliches Geld dazugeben müssen und der Hauseigentümer habe die Pläne bereits gutgeheißen. Andererseits bewarb der Vorsteher die Vorteile für die „Bequemlichkeit und [das] Vergnügen“.116 Nachdem die Vollversammlung die Baumaßnahmen genehmigt hatte, übernahm eine separate Kommission die konkrete Planung und Umsetzung des Vorhabens. Zwei Monate später stellte diese ihr Konzept der Vollversammlung vor, dessen zentraler Punkt die Errichtung eines großen Saals vorsah. Die kalkulierten Gesamtkosten betrugen 2.000 Rubel, die der Klub mit einer internen Aktienausgabe finanzierte.117 Die Arbeiten sollten nach einem halben Jahr abgeschlossen sein, sodass am 17. September, dem Stiftungstage, ein prächtiger Ball möglich sein sollte. Zwar verschob sich der Termin und eine große Stiftungsfeier musste entfallen; trotzdem endeten die groben Bauarbeiten nur sechs Wochen später und opulente Tanzvergnügen oder große Konzerte erhielten nun einen angemessenen Rahmen.118 Allerdings wuchs die Gesellschaft immer weiter an, weshalb bald wieder zu wenig Platz bei Bällen vorhanden war. Im Jahre 1790 musste man eine Regelung zur Verköstigung der Gäste finden, weil der Speisesaal dafür nicht mehr genügte. Daher beschloss die Klubbe, dass jeder Gast bzw. jedes Paar beim Einlass ein Los ziehen sollte, das darüber entschied, ob man am ersten oder zweiten festlichen Mahl teilnehmen durfte.119 Zudem verhängte die Kommission des Öfteren Strafen gegen Mitglieder, die unerlaubt Ballgäste einführten. Letztlich entschied das Los auch darüber, wer von den Mitgliedern überhaupt Gäste mitbringen durfte.120 Womöglich wollte man so versuchen, vor allem regelmäßigen Mitgliedern ausreichend Platz für einen angenehmen Abend einzuräumen. Der ansteigende Platzbedarf nötigte den Klub in den folgenden Jahren zu größeren Investitionen für die Räumlichkeiten. Die Renovierung des Ballsaals im Jahre 1802 kostete 500 Rubel. Doch bereits die ersten räumlichen Veränderungen der Bürgerlichen Klubbe spiegeln das Ziel der Gesellschaft wider, für ihre Mitglieder einen Ort der Geselligkeit und Erholung zu kreieren. Dafür musste das Vereinsgebäude zunächst einmal groß genug sein. Dann konnte man dafür sorgen, dass neben den notwendigen Möbeln und Spielmöglichkeiten ein repräsentativer Saal für Bälle, Konzerte und ähnliche Anlässe zur Verfügung stand.

116 117 118 119 120

Ebd., S. 155. Ebd., S. 158. Ebd., S. 166. Ebd., S. 202. Ebd., S. 206.

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3.2.3 Regelmäßige Maskeraden und Bälle in der Bürgerlichen Klubbe Da die ersten Klubräume nicht ausreichend Platz für Bälle boten, organisierte man zunächst weder Bälle und Konzerte noch andere Vergnügungen. Doch am 14. April 1782 zeigte der erste Vorsteher, Prof. Carpov an, „daß, […] viele Mitglieder den Wunsch geäußert [hatten], auch zuweilen Bälle in der bürgerl. Clubbe halten zu dürfen“.121 Gegen dieses Anliegen sei, so Carpov weiter, nichts einzuwenden und es müssten nun etwaige Bestimmungen bezüglich dieser Festlichkeiten festgelegt werden, damit sie das erhoffte Vergnügen würden. Zudem dürfe die „Clubbe nicht das allgemeine Ballhaus der Stadt werden“. Anschließend erfolgte eine Diskussion über die nötigen Reglementierungen, die unten noch eingehender behandelt werden. Hier genügt es festzuhalten, dass die Bälle zum einen erst im nächsten Herbst anfingen. Obwohl es die Klubprotokolle nicht explizit anführen, hielt man die aktuellen Räumlichkeiten noch für ungeeignet und erst das nächste, größere Vereinsgebäude genügte der Veranstaltung von Bällen. Zum anderen sollte die Ballsaison am 1. September beginnen und bis Ostern andauern, wobei man sich auf eine Veranstaltung im Monat einigte.122 Ausgenommen davon blieb die Fastenzeit, sodass man sich dem traditionellen Festkalender des Jahres anschloss. Als ersten Termin bestimmte die Gesellschaft den 17. September 1782, da es sich dabei um das einjährige Jubiläum der Klubbe handelte. Über den Ball selbst berichtet das Protokollbuch, dass „mehr als hundert Personen gegenwärtig“ waren und „die in jedem Gesichte herrschende frohe Miene […] die allgemeine Zufriedenheit der Anwesenden“123 verkündete. Bis zur Fastenzeit 1783 fanden vier weitere Bälle statt, die sich dem Beschluss gemäß gleichmäßig zwischen Oktober 1782 und Januar 1783 verteilten. Eine reguläre Ballsaison verlief bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nach diesem Rhythmus. Den Auftakt machte stets der Stiftungstag, sofern nicht verschiedene besondere Umstände den 17. September verhinderten. Beispielsweise feierte die Gesellschaft den Eröffnungsball im Jahre 1787 erst am 5. November, weil die Umbauarbeiten des Saals nicht früher abgeschlossen waren.124 Auch 1801 musste die Tanzveranstaltung zum Gründungsjubiläum durch ein Festessen ersetzt werden, weil die Trauerzeit für Kaiser Paul I. der überschwänglichen Vergnüglichkeit Einhalt gebot.125 Abgesehen vom 17. September gab es keinen festen Balltag. Die Mitglieder hatten lediglich beschlossen, dass es nur einen Ball im Monat geben durfte. Die Organisatoren achteten des Weiteren darauf, dass es nicht zu Überschneidungen mit klubinternen Veranstaltungen wie Konzerten kam. Für gewöhnlich gab es immer montags Konzertabende, weshalb 121 Ebd., S. 21. 122 Petri berichtet, dass auch bei der Gesellschaft der Schwarzhäupter alle vier Wochen ein Ball stattfand. Es scheint, als sei dieser Rhythmus für die unterschiedlichen Klubs praktikabel gewesen. Vgl. Petri: Briefe über Reval, S. 92. 123 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 32. 124 Ebd., S. 163 und 166. 125 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 100.

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dieser Termin als Balltag ausfiel. Dennoch eröffneten diese geringen Einschränkungen bei der Vereinbarung eines konkreten Termins weitreichende Gestaltungsspielräume. Nachdem sich die Kommission auf ein Datum geeinigt hatte, zeigten sie das nächste Tanzvergnügen für gewöhnlich eine Woche im Voraus an.126 Wer an einem Ball teilnehmen wollte, musste sein Kommen dem Ökonomen des Klubs spätestens drei Tage vorher schriftlich kundtun.127 So ließ sich zum einen die Zubereitung der Speisen planen und zum anderen die gesamte Teilnehmerzahl abschätzen. Letzteres war insofern wichtig, als Bälle teure Vergnügen auf Kosten der Klubkasse darstellten, da man daraus Musiker, Licht und Heizung bezahlte. Vor 1799 mussten reguläre Ballgäste gar nichts für die Teilnahme an einem Ball entrichten, während man danach 50 Kopeken (ab 1810 einen Rubel) von ihnen verlangte.128 Darüber hinaus lebte eine solche Veranstaltung davon, dass eine bestimmte Personenzahl erreicht wurde, da sonst Langeweile drohte. Die Bälle, für die sich zu wenige Mitglieder eingeschrieben hatten, sagte man konsequent ab. Derart verfuhr man im Dezember 1787, als sich einen Tag vor der Veranstaltung nur 27 Personen angemeldet hatten.129 In einem anderen Fall schlug die Kommission der Gesellschaft für den Oktober 1790 einen besonderen Ball als Reaktion auf den im August unterzeichneten Frieden von Värälä 130 vor. Doch da sich dafür nur 80 Personen subskribiert hatten, setzte man lieber einen regulären Ball an.131 Daraus lässt sich schließen, dass eine Teilnehmerzahl von 80 Personen für einen regulären Ball ausreichte, während dieselbe Zahl die höheren Kosten für eine spezielle Tanzveranstaltung nicht gerechtfertigt hätte. Die Klubbe sagte in den ersten zwei Dekaden ihres Bestehens den Protokollbüchern zufolge aber nur etwa zehn Prozent der angesetzten Bälle ab. Das spricht für die starke und anhaltende Nachfrage, die die Kommission mit einem Angebot von zumeist vier bis sechs Bällen jährlich befriedigte. Niemand stellte einen Antrag, der darauf abzielte, die Frequenz der Bälle zu erhöhen. Dagegen traten die Mitglieder an die Verantwortlichen mit anderen Wünschen heran, die auf eine alternative Festgestaltung hinausliefen. Am 20. April 1800 fand beispielsweise ein Ball als „Sommer-­Vergnügung“ statt, sodass sich die eigentliche Festsaison verlängerte.132 126 127 128 129 130

TLA, Rep. 1441.1.1, S. 40.

Ebd., S. 29.

TLA, Rep. 1441.1.2, S. 64 und 154.

Ebd., S. 146. Der Frieden von Värälä beendete den Schwedisch-­Russischen-­Krieg (1788 – 1790). Darin schaffte es Russland trotz einiger vorlorener Seeschlachten, den status quo ante mit Schweden zu vereinbaren. Schweden verpasste es damit, sich die 1721 an Russland verlorenen Gebiete zurückzuerobern. Für die schwedische Perspektive vgl. Ralph Tuchtenhagen: Kleine Geschichte Schwedens, München 2008, S. 77; für die russische Perspektive vgl. Christoph Schmidt: Russische Geschichte 1557 – 1917, 2. Aufl. 2009, S. 57. 131 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 212. 132 TLA, Rep. 1441.1.2, S. 86.

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3.3 Andere Tanzveranstaltungen 3.3.1 Picknicks Für die allgemeine Beliebtheit von Bällen spricht die regelmäßige Organisation der sogenannten Picknicks, wie sie sowohl in Stralsund aus auch in Reval nachzuweisen sind. Dabei handelte es sich nicht um ausgiebige Tafelfreuden im Freien, sondern um intimere Tanzveranstaltungen. Diese Annahme stützt sich zum einen auf das Journal des Luxus und der Moden, in dem man 1792 für Berlin konstatierte, dass man bei einem Picknick eher untereinander sei und sich größtenteils alltäglicher Tänze bediene. Dagegen befinde man sich bei Bällen oftmals in riesigen Gesellschaften, in denen man auf die Etikette achte.133 Zum anderen bewarb die Stralsundische Zeitung Picknicks speziell für die Garnison und die „Noblesse in der Stadt und auf dem Lande“, die ab Mitte Januar 1777 bis zur Fastenzeit jeden Mittwoch angesetzt waren. Sie fanden nicht im großen Theatersaal statt, sondern in der Brauerkompagnie.134 Die exklusive Form des Balls, zur der ein elegantes Mahl sowie Möglichkeiten des Spiels gehörten, planten mitunter auch Prinzipale, wie etwa Herr Tilly, der im Januar 1780 mehrere Picknicks anbot. Die Kaufmannschaft selbst organisierte im selben Jahr im Gebäude der Brauerkompagnie zudem ein Picknick für ihren Stand.135 Wie ein solches Picknick tatsächlich verlief, lässt sich mit den herangezogenen Quellen nur schwer rekonstruieren. Am besten eignet sich die Ordnung der Knudsgilde, die man im November 1790 verabschiedete, obwohl diese lediglich die Norm und nicht die Praxis wiedergibt. Demnach durften nur die Zunftbrüder, der hohe Adel, Offiziere und Gelehrte an den Picknicks teilnehmen; die Handwerker schlossen damit die Kaufleute aus.136 Billetts konnten nur die Zunftbrüder erhalten oder verteilen. Die Eintrittspreise bevorzugten das schöne Geschlecht. Während ein Herr alleine 75 Kopeken bezahlen musste, reichten bei einer Dame 25 Kopeken aus. Ehepaare, bei denen der Mann der Gilde angehörte, entrichteten zusammen 50 Kopeken. Die Musik spielte bis höchstens 4 Uhr morgens, falls die Gesellschaft nicht wünschte, länger zu tanzen. Hasardspiele galt es genauso zu vermeiden wie Zänkereien und Streitigkeiten.137 3.3.2 Privat veranstaltete Tänze Abgesehen von opulenten förmlichen Bällen und intimeren Picknicks fanden unzählige private Tanzveranstaltungen statt. Diese zeichneten sich idealtypisch dadurch aus, dass man sie nicht öffentlich bewarb, keinen festgelegten Eintritt verlangte und die Gäste in 133 134 135 136 137

Journal des Luxus und der Moden, März 1792, S. 112. StZ, Nr. 5, 11. 01. 1777. StZ, Nr. 10, 22. 01. 1780. Die Kaufleute schlossen ihrerseits die Handwerker aus. Vgl. dazu: Kap. III.2.5. TLA, Rep. 190.1.61, S. 42 – 43.

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einem sozialen Verhältnis zueinander standen. Private Tänze beschränkten sich nicht auf eine bestimmte soziale Gruppe, auf die Stadt oder das Land und auch nicht auf offizielle Anlässe. Aufgrund ihrer relativ losen und spontanen Organisation existieren kaum offizielle Quellen über derartige Zusammenkünfte. Dafür finden sich in zeitgenössischen Beschreibungen oder Egodokumenten Ausführungen über deren Ablauf. Ein anschauliches Beispiel stellt das Tagebuch des Stralsunder Geistlichen Johann Christan Müller dar, der zahlreiche Gelegenheiten der Zeitverkürzung dokumentierte. Insbesondere zu seiner Hofmeisterzeit erlebte er einige private Tänze, von denen einer 1746 auf dem Land in Wendisch Baggendorf bei Grimmen stattfand. Im Sommer 1746 herrschte ein reges Kommen und Gehen bei der verwitweten Regierungsrätin Anna Maria von Engelbrecht auf ihrem Gut in Wendisch Baggendorf. Neben dem Personal, dem Hauslehrer Müller und seinem Schüler Friedrich von Engelbrecht, dem späteren Kanzler der schwedisch-­pommerschen Regierung, erschienen unterschiedliche Gäste. Unter diesen befanden sich Fähnrich Silberschild, ein schwedischer Edelmann, Obristin Schwanlodt mit ihrer Tochter, Fräulein Loosen, der Hofrat von Corsvant mit seiner Gemahlin und weitere „Fremde“. Zusammen genossen sie den Sommer: Hir war ein tägliches Wolleben. Man tranck, man speisete, man schertzte, spatzirte, spielte die Carte, sunge, tantzte, schliefe nur so lange, daß man geschickt seyn möchte in vorhergehenden wieder fort zu fahren.138

In dieser glückseligen Atmosphäre veranstaltete die Regierungsrätin Engelbrecht einen Tanz. Dafür ließ sie Musikanten aus Stralsund rufen, die schon zur Mittagszeit anfingen zu spielen und das spätere Vergnügen ankündigten. Als einzige weitere formelle Vorbereitung loste man die „Haupt Personen“ aus, die an diesem Abend ein Brautpaar repräsentierten. Als solches eröffneten sie den Privatball mit einem Tanz. Der Hauslehrer Müller ließ sich entschuldigen und las lieber in seinen Büchern, obwohl ein männlicher Tänzer fehlte und sogar die Hausherrin um seine Anwesenheit bitten ließ. Da Müller nicht überredet werden konnte, fehlen genauere Beschreibungen des Abends. Wir wissen jedoch, dass bis in die frühen Morgenstunden gefeiert und der anschließende Vormittag zum Schlafen genutzt wurde. Nachmittags um 3 Uhr begann der Privatball von neuem. Doch diesmal konnte sich Müller nicht entziehen, weil ihn die Hausherrin persönlich zum Kommen aufgefordert hatte. Absichtlich erschien er ohne Hut und Handschuhe und glaubte, er müsse daher nicht Tanzen. Allerdings hielt man diese Accessoires für ihn bereit, sodass er um seine soziale Pflicht nicht herumkam. Zunächst tanzte er mit der Hofrätin Corsvanten. Kaum hatte er sie zu ihrem Platz zurückgeleitet, forderte ihn Fräulein Schwanlodt auf. An sie reihten sich 138 Johann Christian Müller: Meines Lebens Vorfälle & Neben-­Umstände, Zweiter Teil: Hofmeister in Pommern (1746 – 1755), hrsg. von Katrin Löffler und Nadine Sobirai, Leipzig 2013, S. 75.

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die übrigen Fräuleins. Müller bemerkt, er habe nur zwei Mal Zeit für eine Erfrischung im Vorzimmer gefunden, obwohl die Veranstaltung bis 4 Uhr Morgen anhielt. „Die Dames waren nicht zu ermüden“, kommentierte er deren Kondition.139 Müllers Ausführungen verraten viel über die ungeschriebenen Gesetze des Balls. Zum einen musste der Mann mit Hut und Handschuhen tanzen. Zum anderen konnten die Frauen den Hofmeister zum Tanz auffordern, der wiederum keine Möglichkeit hatte, sich dem zu verweigern. Zwar stand er der Vergnügung skeptisch gegenüber, aber er kannte seine sozialen Pflichten gegenüber den adligen Damen. Derartige private Feste veranstaltete man natürlich auch in Estland oder anderswo in Europa. Johann Christoph Petri berichtet ebenfalls über das häusliche Leben in Reval, dass es viele Geburtstags- und Namenstage gebe, bei denen die Familie mit einigen Freunden zusammenkomme.140

4. Die soziale Interaktion bei Maskenbällen Nachdem bisher insbesondere die neuen Ballorte im Fokus der Analyse standen, gilt es nun das Miteinander der Gäste zu untersuchen. Einen anschaulichen Eindruck davon, wie es bei einer Stralsunder Redoute in den 1780er-­Jahren aussah, vermittelt die Erinnerung eines anonymen alten Mannes. Der betagte Augenzeuge berichtete 1832 einem Zeitungsredakteur der Sundine, dem Unterhaltungsblatt für Neu-­Vorpommern und Rügen von den einstigen Tanzvergnügen. Die auf diesem Gespräch aufbauende Schilderung des Journalisten vermittelt einen so lebendigen Eindruck, dass sie es verdient, ausgiebig zitiert zu werden: [Der] Referent [der Zeitzeuge des Maskenballs] entsinnet sich noch mit Vergnügen, in frühester Jugend in der Maske eines Amorino [Amor] einer glänzenden Redoute in unserm Schauspielhause beigewohnt zu haben, – die nach Veränderung der Landeshoheit, dort neuerdings entrirten [eingeführten] maskirten Bälle haben niemals rechen Schwung gehabt […]. Auf dem Maskenballe jener alten guten Zeit […] bildete das in die Höhe geschrobene Parterre, mit dem Theater vereiniget, einen, dem Bedürfnisse der derzeitigen eleganten, und viel froheren, Welt vollkommen genügenden, einig mit hübschen, sinnvollen Character-­Masken – nicht mit Brillen, Domino’s 141 und einem Heere ganz unverlarvter Zuschauer – angefüllten Tanzsaal, zu dem der Eingang durch die Flügelthüre der Frontloge des ersten Ranges führte. Das Orchester befand sich hinter der Scene, an Stelle der Theater-­Casse stand das Büffet, im gegenwärtigen Garderobe-­Zimmer war die Restauration, und in und neben dem Lokale, was jetzt die Conditorei einnimmt, das Gedränge eben so lebhaft, als heutigen Tages bei den

139 Ebd., S. 76. 140 Petri: Briefe über Reval, S. 69. 141 „Als Domino zum Maskenball gehen“ bedeutete, mit einem langen meist schwarzseidenen Mantel mit Kapuze zu erscheinen. Vgl. ‚Domino‘, in: Deutsches Fremdwörterbuch, Bd. 4, Berlin 1999, S. 549 – 850.

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besuchtesten Vorstellungen. Denn dort befand sich die, ausschließlich nur bei Maskeraden, zur Beförderung des allgemeinen Vergnügens, öffentlich geduldete, Farobank, wodurch den Armen unserer Stadt eine sehr ansehnliche Revenue zugewandt wurde. […] Vier Polizei-­ Agenten in feierlichem Amts-­Ornate standen, theils vor, theils in dem Zimmer, postirt, in dem eine Menge von Spielern, auch zahlreiche Damen, – jedoch nur en Masque, sich den Launen des abwechselnden Glücks unerkannt überließen.142

Es handelt sich um einen Bericht aus zweiter Hand mit einem langen Abstand zwischen dem Erlebten und dem Geschilderten. Zudem schwelgt der Zeitzeuge bzw. der Journalist unübersehbar in Erinnerungen an „jene gute alte Zeit“. Aber zusammen mit anderen Quellen lassen sich diese subjektiven Eindrücke im Kern verifizieren. Besonders interessieren zunächst einmal die Ausführungen zu den Masken, die bei einer Redoute als ein unerlässliches Accessoire dienten. Die Obrigkeit habe, so die Aussage, nur bei den Redouten Glücksspiele ausschließlich „en Masque“ erlaubt, ohne aber das gesellige Treiben unbeaufsichtigt zu lassen. Darüber hinaus trugen die Gäste im Tanzsaal „hübsche und sinnvolle Charakter-­Masken“ wie etwa eine Amormaske. Das Verkleidungsgebot bei Redouten und Maskenbällen kannten die Stralsunder bereits von vorherigen Veranstaltungen. Zur feierlichen Eröffnung des neuen Komödienhauses im Jahre 1766 gab der erste an dieser Stätte wirkende Prinzipal Johann Martin Leppert beispielsweise eine zweiseitige „Nachricht“ heraus, die eine normierende Wirkung ausübte. Der Veranstalter plante, seine Gäste, „mit allem Vergnügen zu unterhalten“, hielt es aber für angemessen, dem „publico“ einige Verhaltensweisen zu erklären. Der Prinzipal untermauerte seine Autorität in dieser Angelegenheit, indem er herausstellte, dass ihm „die Einrichtung der Masqueraden oder Redouten von vielen Königlichen Höfen bekannt [sei], so wie auch die Pariser Redouten“143. Als oberste Regel für eine vergnügliche Veranstaltung nannte er, dass „keine Masque disjoustiret“ werden dürfe. Lepperts direkte Aufforderung, die Maske stets aufzubehalten, blieb in den folgenden Jahren aktuell; andere Veranstalter von Redouten oder Maskeraden wiesen ebenso auf das richtige Tragen der Masken hin. Im Januar 1773 erschien beispielsweise eine Annonce zur Bewerbung einer Redoute, bei der man „zur Verhütung aller Unordnung […] nur allein anständige Masken“144 auf der Tanzfläche wünschte. Unmaskiert durften sich Gäste demnach lediglich in der Loge zeigen. Bei einem Ball in der Brauerkompagnie, wo es keine Loge gab, forderte eine Annonce die nicht vermummten Besucher/innen auf, sich nur dort aufzuhalten, wo sie die Tanzenden nicht störten.145 Weiterhin galt ab dem Jahre 1784 eine Ordnung für „Redouten, Picknicks und Bälle“, die ein eindeutiges Maskengebot formulierte: 142 Sundine. Unterhaltungsblatt für Neu-­Vorpommern und Rügen, Jg. 6, Nr. 44, 01. 11. 1832, S. 352. 143 StASt, Rep. 18, 1164. 144 StZ, Nr. 4, 09. 01. 1773. 145 StZ, Nr. 145, 06. 12. 1791.

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Niemand von den Täntzern oder Täntzerinnen dürfen im Tantz Saale von Anfang der Redoute bis zum Ende, die Masken abnehmen. Im Tantz Saale dürfen keine Zuschauer ohne Masken sich aufhalten 146.

Die Ordnung wurde 1791 verschärft, da es nun hieß, dass alle Personen mit Masken, „deren Anblick fürchterlichst [ist], oder Schrecken und Eckel verursacht“,147 abgewiesen werden sollten. Nicht verkleidete Personen hatten sich in den Logen oder dort aufzuhalten, wo sie die Tanzenden nicht behinderten. Diese Regelung zur Maskierung stellte keinesfalls eine Besonderheit dar, sondern konnte ebenso bei höfischen oder anderen städtischen Maskenbällen angetroffen werden.148 Die Maskierungspflicht galt laut der Aussage des Zeugen nicht nur auf der Tanzfläche, sondern auch während des im Nebenraum stattfindenden Glücksspiels. Aufgrund der negativen Konnotation der Hasardspiele, von denen viele Zeitgenossen das Pharao-­Spiel 149 als eines der gefährlichsten ansahen, erlaubte die Obrigkeit diese nicht offiziell, duldete sie jedoch unter besonderen Bedingungen. Dazu gehörte zum einen, dass die „Armen der Stadt“ von den Einnahmen der Bank profitierten. Zum anderen mussten die Spieler/ innen ihre Anonymität wahren, was sicherlich auch in ihrem Interesse lag. Mit der Maskenpflicht beim Glücksspiel übernahmen die Stralsunder einen Teil der Tradition, die auf das venezianische Ridotto zurückging; dort sollte man grundsätzlich mit Maske spielen.150 Doch warum forderten die Veranstalter so rigoros zur Maskierung auf? Für die Beantwortung dieser Frage muss man zunächst verstehen, welche Bedeutung das Verkleiden bei Maskenbällen allgemein hatte. Aus dem Wort „Verkleidung“ geht bereits hervor, dass es sich dabei um eine Art der Kleidung handelt, die von einer bestimmten Norm abweicht. Sogenannte „Kleiderordnungen“ definierten teilweise noch im 18. Jahrhundert minutiös, was als „angemessene Kleidung“ galt.151 Während die angemessene Kleidung Aspekte wie Stand, Geschlecht oder Alter berücksichtigte, kommunizierte eine Verkleidung ein bewusstes Abweichen von der Norm. Maskenbälle ermöglichten den Teilnehmenden somit, die sonst eingenommene gesellschaftliche Rolle durch die Annahme einer neuen Identität für einen begrenzten Zeitraum abzulegen. Der oder die Verkleidete war somit zumindest freier in seinen/ihren öffentlichen Verhaltensweisen, ohne aber die Kontrolle über die eigene Erscheinung vollends zu verlieren.152

146 147 148 149 150 151

Zitiert aus: Struck: Die ältesten Zeiten, S. 51. Zitiert aus: StASt: Rep. 18, Nr. 80. Schnitzler: Höfische Maskeraden, S. 254 – 256; Fink, Der Ball, S. 46 – 48. Für Erläuterungen zum Pharao-­Spiel s. das Glossar. Zollinger: Geschichte des Glücksspiels, S. 74. Für nähere Informationen zu Kleiderordnungen vgl.: Liselotte Constanze Eisenbart: Kleiderordnungen der deutschen Städte zwischen 1350 und 1700. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des deutschen Bürgertums, Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1962. 152 Vgl. hierzu ausführlich: Schnitzer: Höfische Maskeraden, S. 7 – 49.

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In Stralsund und Reval behielt die traditionelle Ständestruktur weitgehend ihre Gültigkeit, weshalb Maskenbälle eine ideale Möglichkeit boten, soziale und kulturelle Unterschiede bedingt zu nivellieren. Egal ob es sich bei den Gästen um Militär- oder Adelspersonen, Bürger/innen oder „Fremde“ handelte, die dank der Maskierung hergestellte (gespielte) Anonymität ermöglichte es den Vertreter/innen verschiedener Stände, Geschlechter und Kulturen kontrolliert miteinander in Kontakt zu treten. Trotz der Maskierung und den damit einhergehenden Freiheiten lässt sich eine gewisse Exklusivität der Veranstaltung nicht leugnen. Die Maskenbälle der Bürgerlichen Klubbe entsprachen schon deshalb nur einem halböffentlichen Freiraum, weil lediglich den Mitgliedern der Zugang garantiert offenstand. Fremde Männer durften höchstens nach der regulären Begrenzung der Klubstatuten eingeführt werden.153 Das bedeutete, dass man zu einer Veranstaltung nicht mehr als fünf Fremden den Einlass gewährte.154 Weiterhin gehörte zu den ursprünglichen Ballbestimmungen der Klubbe, dass jedes Mitglied höchstens eine Frau mitbringen durfte. Diese musste zudem ein „honnette[s] Frauenzimmer“ sein und sollte nicht aus dem Adels- oder Militärstande stammen, wobei man das Kriterium des Standes bei späteren Bällen wohl nicht mehr anlegte.155 Die Maskenbälle im Stralsunder Theater waren ebenfalls nur bedingt öffentlich. Um an einer solchen festlichen Tanzveranstaltung teilnehmen zu dürfen, musste man zuerst eine angemessene, oftmals kostenintensive Verkleidung besitzen. Zwar ließen sich Masken und Kostüme auch mieten, aber selbst das war nicht für alle erschwinglich. Zusätzlich hatten Ballgäste einen nicht unerheblichen Eintritt zu bezahlen. In der oben zitierten Anzeige (Kap. V.3.1) von 1768 lag der Preis pro Person bei 16 Schillingen für den Tanzsaal, acht Schillingen für die Loge und immerhin noch vier Schillingen für die Galerie.156 Ein Dienstmädchen verdiente 1768 jährlich etwa 12 Reichstaler 157 (48 Schillinge pro Monat) und ein Kutscher 1775 etwa 15 Reichstaler 158 (60 Schillinge pro Monat).159 Damit konnten die niedrigeren Stände wohl höchstens Galerieplätze finanzieren. Andererseits blieben die Eintrittspreise für gut situierte Bürger/innen, Beamte und Offiziere durchaus bezahlbar. Ein Pfarrer erhielt Mitte des 18. Jahrhunderts jährlich ca. 100 bis 400, ein Hauptmann

153 Die hier aufgelisteten ursprünglichen Regularen stammen aus dem Jahre 1782. Vgl. TLA , Rep. 1441.1.1, S. 21. 154 Die Klubstatuten ließen an einem Tag nicht mehr als fünf Fremde zum Besuch zu. Revaler Beobachter, Nr. 171. 155 Die Bürgerliche Klubbe öffnete sich 1787 gegenüber „adliche[n], aber nur in Civil- oder Militair Diensten stehende, oder gestanden habende, Personen“. TLA, Rep. 1441.1.1, S. 147. 156 ANW, Nr. 12, 09. 02. 1768. 157 Dazu erhielten Dienstmädchen noch Kost und Logis. 158 Ebenfalls mit Kost und Logis. 159 Für die Zahlen vgl.: Daniel A. Rabuzzi: At Home in the Market: Stralsund Merchants and their Families, 1740 – 1830, Diss. phil. Baltimore 1996, S. 434; weitere Angaben zu den Gehältern und Preisen befinden sich im Anhang.

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immerhin ca. 250, ein Mitglied des Stadtrates ca. 400 bis 1.200 und ein Regierungsrat 800 Reichstaler.160 Die eben angesprochenen Eintrittspreise stabilisierten sich in den nächsten Jahrzehnten auf diesem Niveau und es kam nur vereinzelt und kurzzeitig vor, dass sie sich änderten. Beispielsweise kostete 1773 der Eintritt zu einem Maskenball sowohl für die Loge als auch für den Tanzsaal 16 Schillinge; die Kosten für das Logenbillett hatten sich damit im Vergleich zu 1768 verdoppelt.161 Preisschwankungen blieben allerdings die Ausnahme und der Zugang zum Parterre, zur Loge und zur Galerie kostete 16, acht, vier Schillinge, womit sich ein Preisverhältnis von 4:2:1 ergibt. Die Loge, die bei Schauspielen sonst immer die teuerste Option darstellte,162 kostete nur die Hälfte einer Karte für das Parterre, wo die rigiden Maskierungsvorschriften galten. Aus diesem Preisverhältnis lässt sich schließen, dass die Gäste eines Maskenballs bereitwillig mehr Geld für ein kontrolliertes stände- und kulturübergreifendes Tanzvergnügen ausgeben wollten als für einen Logenplatz, der die sonst herrschende Ständeordnung garantierte. Sofern man aber in Reval an einem Maskenball der Bürgerlichen Klubbe teilnehmen durfte oder in Stralsund den Eintritt für das Parterre bezahlt hatte, glich der eigene Status beim Tragen einer Maske dem der anderen Ballgäste. Prinzipal Leppert informierte in seiner „Nachricht“ das Publikum diesbezüglich eindeutig. Aufgrund der Verkleidung sollte „keine[r] Masque vor der andern ein […] Vorzug“ gewährt werden, „denn wer seine Entrée bezahlt, und eine Masque vor dem Gesicht hat, will nothwendig unerkannt seyn“.163 Falls man sich nicht daran hielt und „ein Cavalier eine Dame [unmaskiert] zum Tanzen aufführet“, konnte „der Tanz versagt werden“. In der Stralsundischen Zeitung findet man ebenfalls explizite Begründungen für die Maskierungspflicht im Tanzsaal.164 Damit entschied bei einem Maskenball in der Stadt am Strelasund nicht primär der Stand über die Partizipation, sondern die finanzielle Potenz, die über den Eintritt und das Kostüm zum Ausdruck kam. Ähnlich verhielt es sich bei der Revaler Bürgerlichen Klubbe, wo man die 160 Diese Lohnangaben gelten für den Zeitraum von einem Jahr. Der Hauptmann erhielt auch noch Kost und Logis sowie einige Naturalien. Vgl. Ebd., S. 435 – 436. 161 StZ, Nr. 4, 09. 01. 1773. 162 Das Verhältnis der Preise von Loge, Parterre und Galerie betrug für Schauspiele 3:2:1 und entsprach damit weitgehend der regional üblichen Abstufung. In Greifswald war das Verhältnis von Loge zur Parterre und Galerie bspw. 4:2:1 (16, acht und vier Schillinge). Vgl. Borchardt: Zur Geschichte des Schauspiels, S. 423. In Stettin ergab sich laut eines Theaterzettels von 1772 ein Verhältnis von 6:3:1 (12, 6 und 2 Groschen). Vgl. StASt, Rep. 18, 1164. Man veranschlagte in Rostock 1788 eine Preisbeziehung von 4:2:1 (32, 16 und acht Schillinge). Vgl. Wilhelm Schacht: Zur Geschichte des Rostocker Theaters (1756 – 1791), Rostock 1908, S. 40. 163 StASt, Rep. 18, Nr. 1164. 164 „Donnerstag, als den 4. März, sol auf hiesigen Rathause, in dem gewöhnlichen Saal, zum letzten mahl, ein Ball gehalten werden, wozu die Liebhaber Adlichen und Bürgerlichen Standes ergebenst eingeladen werden; jedoch mit Masquen, und nicht ohne dieselben, sich einzustellen. Zu[r] Beobachtung der Gleichheit wird gebeten, daß die Masquen beym Tanzen und im Saal niemals abgenommen werden.“ StZ, Nr. 18, 02. 03. 1762.

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Gäste aufgrund ihrer Mitgliedschaft oder ihrem Verhältnis zu einem Gesellschaftsmitglied einließ. Da sich die Mitglieder des Klubs nicht nur aus einem Stand rekrutierten, pausierte die traditionelle Ständestruktur und es ergaben sich Freiräume in der sozialen Interaktion. Mitunter schränkten die Veranstalter der Maskenbälle das Gleichheitsideal ein, indem sie gesonderte Festlegungen trafen. In Greifswald, der zweitgrößten Stadt Schwedisch-­ Pommerns, bewarb man im Januar 1792 – also noch vor dem Mord Gustavs III. bei einem Maskenball – einen „Bürgerball“,165 zu dem die Gäste mit oder ohne Maske erscheinen durften. Zumindest dem Namen nach richtete sich dieser Ball nur an die Bürger der Stadt, denen man zudem das Tragen einer Verkleidung freigestellte.166 Die Revaler Knudsgilde bewarb 1786 zwei aufeinanderfolgende „große Maskeraden“, bei denen die Teilnehmenden ebenfalls mit oder ohne Maske erscheinen durften.167 Die Bürgerliche Klubbe überließ bei einem „Ball en Masque“ im Dezember 1788 ihren Gästen ebenfalls die Entscheidung über das Aufsetzen der Masken. Damit ergab sich für die Anwesenden nur bedingt die Möglichkeit, die mit Gleichheit assoziierte Anonymität vorzuspielen, zumal es sich bei Bürgerbällen um eine sozial relativ homogene Abendgesellschaft handelte. Wieso das Verbergen des Gesichts manchmal optional blieb, lässt sich für den zuletzt genannten Fall der Klubbe genauer rekonstruieren. Für gewöhnlich hatten Maskenbälle dort bis 1788 nur zur Fastnacht stattgefunden. Da jedoch 30 Mitglieder an den Vorstand mit der Bitte herantraten, den Dezemberball als Verkleidungsdivertissement zu veranstalten, entschied dieser salomonisch, dass man verkleidet oder in „seiner gewöhnlichen Kleidung“ kommen dürfe.168 Einerseits bestand demnach eine recht große Nachfrage nach den populären Maskenbällen. Andererseits fühlten sich einige Kommissionsmitglieder bei dem Gedanken an eine derartige Tanzveranstaltung unwohl, da verkleidete und damit „anonyme“ Gäste immer ein erhöhtes Risiko für „Unordnung“ darstellten, die es zu vermeiden galt. Wie anderen Veranstaltern von (Masken-)Bällen lag der Klubbe viel daran, Ordnung und Sittlichkeit bei ihren Festveranstaltungen zu wahren. Davon zeugen neben der Reglementierung durch spezielle Ball- und Tanzordnungen (Kap. V.5.1) auch offizielle Beschreibung eines Balls im Protokollbuch: Die Zeit floß unter den regsten Empfindungen unschuldiger Freuden unbemerkt dahin, indeßen verzog sich die Gesellschaft doch auch zeitig nach und nach, so daß bald nach 2 Uhr alles geschlossen war.169

165 Auch in Reval verlautbarte ein gewisser Herr Stolzenwald, dass bei ihm ein „Bürgerlicher Ball“ stattfinden sollte. RWN, Nr. 13, 30. 03. 1786. 166 StZ, Nr. 7, 17. 01. 1792. 167 RWN, Nr. 8, 23. 02. 1786. 168 TLA, Rep. 1441.1.1, S. 192. 169 Ebd., S. 32.

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5. Die eigene Ordnung der (Masken-)Bälle Bälle waren (und sind) eine Form des Festes und unterschieden sich daher vom Alltag. Insbesondere beim Tragen von Masken ergaben sich besondere Freiheiten, obwohl es sich lediglich um eine gespielte Anonymität im Tanzsaal handelte. Wie Claudia Schnitzer für die höfischen Maskeraden der Frühen Neuzeit überzeugend herausgearbeitet hat, gab es eine klare Trennung von Karneval und Maskenball. Während es bei vorfastnächtlichen Feierlichkeiten der Bevölkerung zu Ausschweifungen und Obszönitäten kam, die zeitgenössische Aufklärer vehement kritisierten,170 stellte ein Ball, ob mit oder ohne Verkleidung, ein offizielles gesellschaftliches Ereignis dar, bei dem die sonst geltende Etikette nur etwas gelockert wurde.171 Mit oder ohne den Schutz der Maske herrschte bei Bällen neben der festgeschriebenen Etikette eine Vielzahl von inoffiziellen Benimmregeln, die je nach Ort und Tanzgesellschaft differierten. Zwar lässt sich in den verwendeten Quellen nicht immer zwischen der offiziellen und inoffiziellen Norm unterschieden, doch im Folgenden sollen beide analytisch voneinander getrennt behandelt werden. Diese Unterscheidung ermöglicht nämlich einen Eindruck davon, wie unbeholfen sich Neulinge innerhalb der Festgemeinschaft fühlen mussten. Denn einerseits schrieben die offiziellen Normen bereits die Unterschiede zum Alltag fest. Andererseits konnten Gäste selbst bei eingängiger Kenntnis des gedruckten Regelwerks so manchen Fauxpas begehen. Zunächst dienen besonders die Ball- und Tanzordnungen zur Rekonstruktion der offiziellen Verhaltensregulierung (Kap. 5.1). Anschließend werden die inoffiziellen Regeln anhand von zeitgenössischen Kommentaren nachgezeichnet (Kap. 5.2).

5.1 Die festgeschriebene Etikette Ball- und Tanzordnungen dienten als schriftlich fixierte Verhaltensnormen, an die sich die Gäste eines (Masken-)Balls halten mussten. Während Ballordnungen für gewöhnlich in vielen Teilen Europas ähnliche allgemeinverbindliche Regeln kodifizierten, konnten Tanzordnungen von einer Veranstaltung zur nächsten variieren. Letztere schlugen die Organisatoren oftmals im Eingangsbereich an, damit die Gäste wussten, wie die Tanzabfolge an einem konkreten Abend sein würde.172 In Stralsund und Reval enthielten jedoch viele Ballordnungen eine verbindliche Abfolge von Tänzen, weshalb man beide hier nicht trennscharf voneinander untersuchen kann. In den untersuchten Städten fand wohl jede öffentliche Tanzveranstaltung mit einer geltenden Ballordnung statt. Ob es sich um die Bälle im Stralsunder Theater oder um welche der Revaler Klubs handelte, für die meisten lassen sich derartige Reglements nachweisen. 170 Vgl. bspw. die Reisebeschreibung von Johann Caspar Goethe, dem Vater Johann Wolfgang Goethes: Erwin Koeppen (Hrsg.): Goethes Vater reist in Italien, Mainz/Berlin 1972, S. 27 – 31. 171 Schnitzer: Höfische Maskeraden, hier besonders S. 48; Tanzer: Spectacle müssen seyn, S. 108 – 113. 172 Fink: Der Ball, S. 46 und 52.

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Die hier als Quellen genutzten Ordnungen zeugen davon, wie penibel durchorganisiert ein gelungener (Masken-)Ball verlaufen sollte. Das begann schon mit der Frage, wer überhaupt an einem Ball teilnehmen durfte. Falls es sich um den Tanzabend eines Klubs handelte, durfte zunächst einmal jedes ordentliche Mitglied unentgeltlich an dem Ball partizipieren, was jedoch nicht das Essen und Trinken einschloss; für das leibliche Wohl entfielen gesonderte Kosten. Darüber hinaus durfte jedes Mitglied ein 173 oder zwei 174 Damen mitbringen, wobei man Kammer- oder Dienstmädchen nicht dazu zählte. Sofern man zwei Frauen einführte, handelte es sich wohl zumeist um die Gattin sowie eine Tochter. Mitunter erlaubten Klubs, dass man seine ganze Familie auf den Ball mitnahm, so lange sich nicht mehr als ein Kind unter zehn Jahren unter den Personen befand.175 Darüber hinaus konnten die Vorsteher der Klubs noch zwischen zehn und 20 Billetts für „Fremde“ verteilen.176 Zwar brauchten ordentliche Mitglieder für sich und ihre Begleitungen im Regelfall nichts zu bezahlen, aber sie mussten den Bedienten am Eingang ihre Eintrittskarten vorzeigen. Ein Billett empfingen sie, indem sie sich z. B. bei dem Revaler Klub Einigkeit ab einer Woche vor dem Ereignis entweder zwischen 9 und 12 Uhr oder zwischen 14 und 16 Uhr an einen der Vorsteher wandten.177 Wer zu einem regulären Ball im Stralsunder Theater gehen wollte, benötigte natürlich ebenfalls eine Eintrittskarte, musste diese aber vorher käuflich erwerben. Verkaufsstellen und Preise machte die Stralsundische Zeitung rechtzeitig bekannt. Beim Einlass kontrollierten die Organisatoren die Billetts, wozu eine eindeutige Identifikation der Gäste gehörte. Bei verkleideten oder maskierten Personen ergab sich das Problem, dass sich diese nicht immer eindeutig erkennen ließen. Daher sollten sie jede Art der Maskierung auf Verlangen der Vorsteher oder anderer Aufsichtspersonen zur Feststellung der Identität abnehmen. Sofern es sich um einen rechtmäßigen Gast handelte, verpflichteten sich die Eingeweihten, die maskierte Person nicht gegenüber anderen zu enttarnen.178 Darüber hinaus achtete man darauf, dass die Masken weder Furcht und Schrecken noch Ekel verursachten.179 Wie allgemein üblich kontrollierte man Ballgäste zudem auf Waffen, deren Besitzer im Falle eines Streits das Wohl der Gäste gefährdeten.180 Oftmals widmeten die Ballordnungen dem Verhalten zu Tische einige Paragraphen. Die darin festgehaltenen Maßnahmen regelten die Erhaltung der gesitteten Ordnung 173 UBT , Est. A-11214 16844, Gesetze der Societät auf dem Dom in Reval; welche den 17ten November 1788 gestiftet, und den 23sten Januar 1789 eröffnet worden, Reval 1791, S. 14. 174 UBT, Est. A-9009, Gesetze des am ersten September 1792 gestifteten Clubbs der Einigkeit in Reval, Reval o. J., S. 10. 175 Verfassung und Gesetze der Gesellschaft der Ressource, Stralsund 1798, S. 20. Eine ähnliche Regelung galt auch in der Revaler Societät auf dem Dom: UBT, Gesetze der Societät, S. 35. 176 UBT, Gesetze der Einigkeit, S. 25; UBT, Societät, S. 35. 177 Ebd., S. 10. 178 Ebd., S. 11. 179 Z. B. die Stralsunder Ballordnung von 1791, vgl. StASt, Rep. 18, Nr. 80. 180 Fink: Der Ball, S. 47, für Stralsund z. B. Rep. 18, 1164; auch in der Stralsundische Zeitung steht mitunter explizit, dass man keine „scharfe[n] Gewehre oder Sporen“ mitbringen durfte. StZ, Nr. 145, 06. 01. 1791.

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und galten unabhängig vom Stand. Es wurden u. a. die Sitzordnung beim Speisen oder die Bezahlung der Getränke bestimmt. Wie bereits oben bei der Beschreibung der Bürgerlichen Klubbe aufgezeigt,181 erforderte allein der Platzmangel festgeschriebene Vorkehrungen für das Festmahl. Bei der Societät gab es zwei Termine für das Soupieren und die Gäste mussten ein entsprechendes Billett für den ersten oder zweiten Turnus vorweisen können. Rechtzeitiges Tauschen der Billetts erlaubten die Vorsteher, aber wer zu seinem Mahl zu spät erschien, musste damit leben, dass die anderen Personen schon aßen, da man auf niemanden wartete. Wer zu einem falschen Zeitpunkt dinierte, zahlte eine Strafe von fünf Rubeln.182 Bei der Einigkeit benötigte man lediglich einen Speisetermin, der jedoch ebenfalls genau feststand. Für diesen durfte sich niemand bei einem Rubel Bußgeld einen Platz vorab reservieren, da andernfalls Unordnung entstanden wäre.183 Beide Klubs verlangten von ihren Gästen, die Getränke bar an die Bedienten zu zahlen. Zu einer angenehmen Atmosphäre gehörte neben einer reichhaltigen Verköstigung weiterhin, dass die Herren nicht überall in der Gesellschaft rauchten. Der Konsum von Tabak galt als typisch männliche Praxis, die in Klubs wie selbstverständlich praktiziert wurde, obwohl sich Frauen an dem Geruch störten.184 Das veranschaulicht exemplarisch die Abhandlung eines „Mädchens“ im Journal des Luxus und der Moden zum Tabakkonsum der Herren. Die ersten Worte deuten sofort auf das Problem des Tabakqualms hin: „Eilig, Lottchen, entkleide sie mich, und vor allen Dingen hänge sie meinen Muff und die abgelegte Kleidung an die frische Luft, damit der Tabaksgeruch heraus ziehe!“185 Doch nicht nur der Gestank des Rauches in der eigenen Kleidung erzeugte Unbehagen, sondern auch der Mief der Männer. Wie nur aus Schonung für sie [die Männer] wir [die Frauen] unsere Wange dem Kuß des Gatten, des Bruders oder des Geliebten nicht entziehen, wenn sie aus ihren Klubs oder sonstigen Sammelplätzen, wo dem Rauchgott sinkender Weihrauch dampft, heim kommen.186

Da man Bälle sowohl für Männer als auch für Frauen veranstaltete, legten die meisten Ordnungen einen Kompromiss fest. Die Herren durften weder im Ball- noch im Speisesaal rauchen, dafür aber in einem eigens dafür vorgesehenen Nebenzimmer. Damit verschonten sie die Frauen zumindest mit dem direkten Tabakqualm und konnten selbst „ihrem“ Vergnügen frönen.187 181 182 183 184

Vgl. Der Bau eines angemessenen Ballsaals, Kap. V.3.3.2.

UBT, Societät, S. 43. UBT, Einigkeit, S. 16 – 17.

Zum Tabakkonsum der Frauen vgl. Georg Böse: Im blauen Dunst. Eine Kulturgeschichte des Rauchens, Stuttgart 1957, S. 89 – 105. 185 Anonym: Aufruf zur Beförderung einiger noch fehlender Erfindungen für die Männer, in: Journal des Luxus und der Moden, Jg. 14, Februar 1799, S. 58 – 72, hier S. 58. 186 Ebd., S. 61. 187 Bspw. UBT, Einigkeit, S. 9.

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Es verwunderte nicht, dass die Organisatoren bei einer derart peniblen Festlegung der Tischordnung und des Rauchens die Tanzordnungen mindestens genauso reglementierten. Doch bevor diese behandelt werden, sollte man sich die Charakteristik der wichtigsten zeitgenössischen Tänze vergegenwärtigen. Im Mittelpunkt standen bei den meisten Bällen im deutschsprachen Raum Menuette, Polonaisen (polnische Tänze) und Kontratänze (Anglaisen und Quadrillen), während sich „deutsche“ Tänze erst peu à peu verbreiteten. Das Menuett kam in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf und bezeichnete einen offenen Gruppenpaartanz, bei dem ein Paar solo tanzte oder sich mehrere Paare aufgereiht gegenüberstanden. Der Mann eröffnete den Tanz mit einer Verbeugung (Referenz) gegenüber der Dame, woran sich im Idealfall eine Choreographie bestehend aus genau kodifizierten zierlichen Schritten und galanten Referenzen und anderen Figuren anschloss. Am französischen Hofe begann man im Jahre 1708 das erste Mal einen Ball mit einem Menuett, das in der Folgezeit die vorher dominierende Branle ablöste.188 Das Menuett erfreute sich schnell nicht nur am französischen, sondern ebenfalls am englischen, preußischen oder russischen Hofe großer Beliebtheit. Bei den royalen „birthday balls“ in Kensington oder Whitehall blieb es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts der Eröffnungstanz; in Berlin und St. Petersburg dominierte der Tanz das Parkett bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.189 Ursprünglich kostete das Erlernen eines Menuetts viel Zeit, Mühe und Geld, sodass es als Ausdruck eines elitären höfischen Lebensstils galt. Es bildete einen wesentlichen Teil des meist jahrelangen Tanzunterrichts, wobei jeder bedeutende Tanzmeister neue Figuren erfinden wollte. Wer das Menuett formvollendet und mit scheinbar ungezwungener Leichtigkeit darbot, erwarb sich unter den Zuschauern eine gute Reputation.190 Doch das Eindringen alter Volkstänze wie der Polonaise in die höfische Gesellschaft beeinflusste das komplizierte Regelwerk des Menuetts und es entwickelten sich einfachere, massentauglichere Ausprägungen. Diese riefen zwar unter traditionsbewussten Liebhabern und Tanzmeistern Kritik hervor, aber ermöglichten eine breitere Rezeption. Dementsprechend spielte man es ebenso bei öffentlichen Redouten wie in Stralsund als Eröffnungstanz.191 Die genaue Herkunft der Polonaise und deren Anfänge sind zwar umstritten, fest steht jedoch, dass es sich bei der weit verbreiteten Ballform des 18. Jahrhunderts um einen erhabenen und feierlichen Schreittanz für beliebig viele Paare handelt. Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert setzte eine erste Blüte des Tanzes ein, als internationale Komponisten vermehrt an Polonaisen arbeiteten und der Tanz an europäischen Höfen Einzug hielt.192 Dort konnte sie als Eröffnungstanz fungieren, wie es bei der Hochzeitsfeier des sächsischen Kurprinzen und späteren polnischen Königs mit der Tochter des Kaisers im 188 189 190 191

Fink: Der Ball, S. 97 – 98. Ebd., S. 105 – 106 und 118 – 119. Salmen: Tanz, S. 182. Gabriele Klein: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim/Berlin 1992, S. 101 – 102; Fink: Der Ball, S. 137 – 139. 192 Vgl. weiterführend: Karol Hlawiczka: Grundriss einer Geschichte der Polonaise bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, in: Svensk tidskrift for mitsikforskning 50 (1968), S. 51 – 124.

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Jahre 1719 der Fall war. Hierbei verbildlichten die Tanzenden ihren Stand, denn je weiter vorne man schritt, desto höher stieg das gesellschaftliche Ansehen.193 Bei (halb-)öffentlichen Bällen griff man neben Menuetten auch auf Polonaisen zurück, wobei man den Standesgedanken weniger prononcierte.194 Bei der Anglaise handelte es sich um einen Sammelbegriff für Kontratänze (country dances) englischer Herkunft, der zu den Gruppenpaartänzen gehört. Dabei bewegten sich die Tanzpaare in einfacheren Schrittfolgen als beim Menuett zunächst in gegenüberliegenden Kolonnen. An einem bestimmten Punkt führten sie dann paarweise bestimmte Figuren aus, wobei sie sich mit einem anderen Paar verbanden und mit denen die Tanzpartner wechselten. Zumeist befanden sich bei öffentlichen Bällen Gruppen von vier, sechs oder zwölf Personen auf dem Parkett. Besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Anglaise zu einem populären Gesellschaftstanz in Frankreich und Deutschland.195 Der relativ ungezwungene Bewegungsablauf sowie der „demokratische“ Aufbau kamen besonders der Sturm-­und-­Drang-­Generation entgegen, sodass der ursprüngliche Adelstanz eine breite Rezeption erfuhr.196 Die Quadrille stellte ebenfalls einen Kontratanz dar, der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus den englischen country dances entwickelte und ein Säkulum später zum beliebtesten französischen Gesellschafstanz avancierte. Wie bei der Anglaise bedeutete die Quadrille für gewöhnlich einen Gruppenauftritt einer von vier bis zwölf oder auch mehr Personen. Aufgrund der allgemeinen Beliebtheit des Tanzes bildeten sich viele unterschiedliche Typen heraus, zu denen die „deutsche Quadrille“, wie sie z. B. in Stralsund getanzt wurde, gehörte.197 „Deutsche Tänze“ setzten sich bei der Gesellschaftselite sukzessive in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts oder sogar später durch. Lange galten sie als neue, wilde und ungestüme Paartänze, deren rasche bis rauschhafte Drehungen man den Volkstänzen zurechnete. Laut dem Grammatisch-­kritischen Wörterbuch von Johann Christoph Adelung verstand man am Anfang des 19. Jahrhunderts den „Walzer“ als einen bekannten „Deutschen Tanz“.198 Damit repräsentierte der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter vielen

193 Zu dieser Hochzeit vgl. Braunfels: Der Glanz der 28 Tage. 194 Salmen: Tanz, S. 190. 195 Otto Schneider (Hrsg.): Tanz-­Lexikon. Der Gesellschafts-, Volks- und Kunsttanz von den Anfängen bis zur Gegenwart, Mainz u. a., 1985, S. 103. 196 Reingard Witzmann: Zum Phänomen des Wiener Walzers von der Aufklärung zum Biedermeier, S. 17. 197 Schneider: Tanz Lexikon, S. 419; Fink: Der Ball, S. 139; zu den vielen unterschiedlichen Quadrillenformen vgl. bspw. Rudolf Voß: Der Tanz und seine Geschichte. Eine kulturhistorisch-­ choreographische Studie, Berlin 1869, S. 360 – 367. 198 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-­kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Leipzig 2. Aufl. 1801, Sp. 1805.

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Bezeichnungen bekannte Walzer 199 den wohl populärsten und umstrittensten Vertreter der „Deutschen Tänze“. In der Literatur um 1800 kristallisierte sich das Walzermotiv als eine der Metaphern für den gesellschaftlichen Wandel sowie für zweisamen Taumel und Ekstase heraus. Das lag zum einen an der Ausführung und den Bewegungsabläufen des Walzers und zum anderen an den Reaktionen der unterschiedlichen Stände. Der Walzer revolutionierte die Tanzbewegungen, weil ein vom Mann geführtes, sich umeinander wirbelndes Tanzpaar selbstständig kreisförmig im Saal bewegte. Die Höfe standen dem Tanz skeptisch gegenüber, da sie die traditionell hierarchisch geordnete Gesellschaft, die besonders das Menuett zum Ausdruck brachte, gefährdet sahen. Die Tanzmeister fürchteten zudem um ihre Einnahmequellen, da man den Walzer viel einfacher erlernte als beispielsweise das Menuett. Andere Kommentatoren sorgten sich wiederum um die Gesundheit der tanzenden Frauen, da die wilden und „sündigen“ Bewegungen sie besonders „erhitzten“.200 Für die Tanzenden stellte der Walzer dagegen das Ablegen des sozialen Korsetts und eine Hinwendung zur Natürlichkeit dar.201 Wenn man sich nun fragt, welche Tänze in den untersuchten Städten en vogue waren, ergibt sich zunächst aufgrund einer Stralsunder Tanzordnung von 1791 das folgende Bild: Der Abend begann mit Menuetten (eine Stunde), worauf sich englische Kontratänze (eine Stunde), Menuette (30 Minuten) und französische Quadrillen (max. eine Stunde) anschlossen. In der zweiten Ballhälfte spielte das Orchester wieder Menuette (30 Minuten), dann deutsche Quadrillen (max. eine Stunde) und Menuette (30 Minuten). Den Abschluss bildeten Walzer und „Schleifer“ für nicht länger als eine Stunde.202 Ähnlich präzise legte die Revaler Einigkeit die Tanzabfolge in ihren Statuten fest, wobei einige Unterschiede zu Stralsund erkennbar sind. Man startete mit Polonaisen (zwei Stunden) gefolgt von eineinhalb Stunden Anglaisen; erst danach kamen Menuette für 30 Minuten und Quadrillen für eine weitere Stunde.203 Den Abend komplettierten Polonaisen, Anglaisen und erneut Polonaisen für jeweils eine weitere Stunde. Bei der Societät auf dem Dom fingen die Gäste mit den Polonaisen an, gingen dann zu den Anglaisen über, bevor sie mit Menuetten den ersten Zyklus beschlossen. Danach folgten weitere Reihen dieser Art, wobei die Anglaisen bei ausreichender Nachfrage von Quadrillen verdrängt werden konnten.204 199 Für die vielfältigen Synonyme aus dem 18. Jahrhundert für den „Wiener Walzer“ vgl. Witzmann: Zum Phänomen des Wiener Walzers, S. 22; zur Etymologie des „Walzers“ vgl. bspw. Gabriele Busch–Salmen: „… wie Sphären um einander herumrollen“ – Dreher, Schleifer, Deutsche und Walzer auf den Tanzböden und in der Literatur vor 1800, in: Thomas Nußbaumer und Franz Gratl (Hrsg.): Zur Frühgeschichte des Walzers, Innsbruck 2014, S. 33 – 52, hier S. 36. 200 Klein: FrauenKörperTanz, S. 104 – 105; Monika Fink: „Verrufen – verfemt – verehrt“. Zur sozialen Stellung des Walzers aus der Sicht des Tanzmeisters, in: Thomas Nußbaumer und Franz Gratl (Hrsg.): Zur Frühgeschichte des Walzers, Innsbruck 2014, S. 117 – 149, hier S. 118; Busch-­Salmen: Dreher, Schleifer, Deutsche und Walzer, S. 40. 201 Busch-­Salmen: Dreher, Schleifer, Deutsche und Walzer, S. 33. 202 StASt., Rep. 18, Nr. 80. 203 UBT, Einigkeit, S. 11. 204 UBT, Societät, S. 45.

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Die Stralsunder Tanzordnung erlaubte den Walzer, als dessen Akzeptanz noch zwischen Ablehnung und Begeisterung schwankte und besonders im Norden des Reiches als noch nicht so verbreitet galt. So berichtet beispielsweise die in Danzig aufgewachsene Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, dass in ihrer Heimatstadt zu Beginn der 1780er-­Jahre niemand weder an Walzer noch Dreher, noch Galopade dachte. Diese Tänze gehören dem südlichen Deutschland an, und hatten bis zu dem eisigen Gestade der Ostsee und Weichsel noch nicht den Weg gefunden.205

In Stralsund hatte der Walzer zumindest Anfang der 1790er-­Jahre Einzug gehalten, obwohl die genaue Ausprägung dieses Tanzes nicht belegbar ist. Führte man ihn tatsächlich derart ekstatisch und unzüchtig aus, wie es die Kritiker für andere Städte monierten? Obwohl die vorliegenden Quellen diese Frage nicht beantworten, erstaunt die bloße Nennung dieses Tanzes doch. Denn in der Literatur vor 1800, wozu sicherlich der Erfolg von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774) beitrug, hatte sich der Walzer bereits zu einem emotional aufgeladenen Reizwort entwickelt. Nichtsdestotrotz erlaubten dieselben Personen diesen Tanz, die gleichzeitig die Aufführung von Schillers „Räubern“ untersagten.206 Auffällig bei den Bällen in Reval ist das Fehlen von „deutschen“ Tänzen. Sie schienen sich in Reval noch nicht durchgesetzt zu haben, zumal man den ersten Walzer am Hofe in St. Petersburg erst im Jahre 1798 tanzte.207 Darüber hinaus bevorzugte man in Reval die Polonaise und räumte dem Menuett viel weniger Zeit ein als in Stralsund, wo es der dominierende Tanz war. Dabei entsteht der Anschein, als hätte man in Reval das Menuett ungern getanzt; diesen Eindruck verstärken zudem zeitgenössische Kommentatoren (s. Kap. V.5.2). Der für die Zeit typische Musikzyklus trat jedoch in beiden Städten auf, wonach das Orchester immer erst ein Menuett oder eine Polonaise spielte und sich erst danach ein Kontratanz anschloss. Menuette und Polonaisen beschränkten die Zahl der Tanzenden nicht, sofern sich eine gleichmäßige Anzahl von Männern und Frauen einfand, der Ballsaal groß genug war und das Können der Teilnehmenden ausreichte. Dagegen begrenzten die Kontratänze die Zahl der Tänzer rigide. Folglich begann ein Ball stets mit einem inklusiven Tanz, der möglichst keine fähige Person ausschließen sollte, bevor der Kreis der Teilnehmenden exklusiver wurde. Wie sehr man sich bemühte, trotzdem keinen Gast bei den Kontratänzen zu benachteiligen, belegt die komplizierte Methode der Tanzplatzvergabe. Sowohl bei der Einigkeit als auch bei der Societät auf dem Dom verfuhr man mit der Tanzplatzvergabe bei der Anglaise sehr ähnlich. Bereits zu Beginn des Balls musste sich der Gast entscheiden, ob er eine Anglaise (oder Quadrille) tanzen und welche Rolle er dabei einnehmen wollte (Vortänzer oder regulärer Tänzer). Sobald die Organisatoren diese Infor 205 Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder, Bd. 1, Braunschweig 1839, S. 243. 206 Zum Walzer sowie zum Ball in Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ vgl. Busch-­Salmen: Dreher, Schleifer, Deutsche und Walzer, S. 48 – 49. 207 Fink: Der Ball, S. 119.

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mationen vermerkt hatten, folgten die Polonaisen, bis die Anglaisen an der Reihe waren. Dann ertönte eine Trompete das erste Mal und alle, die eine Anglaise wünschten, sollten an den verantwortlichen Vorsteher herantreten. Nun entschied das Los darüber, welche der gemeldeten Personen als Vortänzer agieren durften. Ihre Aufgabe bestand dem Namen entsprechend darin, die Figuren vorzutanzen, sodass sie die Schritte kennen und korrekt im Takt ausführen mussten. Darüber hinaus achten sie auf die Einhaltung der Tanzordnung sowie des Tanzarrangements und übernahmen damit eine verantwortungsvolle und exponierte Stellung.208 Natürlich benötigten auch die Polonaisen einen Vortänzer, dessen Bestimmung die Ordnungen in Reval aber nicht weiter festlegten.209 An die zufällige Bestimmung der Vortänzer schloss sich die Ermittlung der Reihenfolge für die unterschiedlichen Anglaisen, die man in einer Stunde zu tanzen schaffte. Um die Tänze nicht zu verwechseln, hatten die Lose bei jedem Durchgang eine andere Farbe. Jeder dafür eingeschriebene Gast trat, nachdem ihn der Vorsteher aufgerufen hatte, an die Urnen heran, zog aus jeder ein Los und verkündete seine Nummern. Sobald das Prozedere vollendet war, erklang wieder ein Trompetensignal und alle mussten sich entsprechend ihres Loses an der im Ballsaal markierten Stelle positionieren, wo sie bei einem Rubel Strafe während der Dauer des Tanzes bleiben mussten. Zur Kontrolle musste man seine Nummer gut erkennbar an der Kleidung anbringen. Wer bewusst eine falsche Position einnahm, das Los nicht ordnungsgemäß trug oder in eine andere Kolonne hineintanzte, bezahlte eine Strafgebühr von bis zu fünf Rubeln. Die gleiche Geldbuße musste man in Kauf nehmen, wer die Nummer mit jemand anderem tauschte. Dagegen kostete es nur einen Rubel, wenn man vergaß, sein Los sofort nach dem Tanz zurückzugeben.210 Aus heutiger Perspektive muten diese peniblen Festlegungen derart absurd an, dass man sofort nach deren tatsächlicher Anwendung fragt. Inwieweit glichen sich Verhaltensnorm und Praxis? Die Quellen erlauben zwar keine Prüfung jedes einzelnen Gesetzes, aber die Sicht einiger außenstehender Zeitgenossen verweisen auf eine rigorose Umsetzung der Regelungen. Dabei kritisierten sowohl der Publizist Petri als auch ein anonymer Kommentator in Für Geist und Herz die sklavische Umsetzung der Gesetze als Beschränkung des Vergnügens. Mit Verweis auf die obligate Verlosung des Tanzplatzes „muss das freie gesellige Vergnügen natürlich gar sehr gestört werden“,211 konstatierte Petri. Der unbekannte Kommentator störte sich nicht am Losenverfahren, sondern an der rigiden Einhaltung der Zeitvorgaben für die Tänze. Viele Ballgäste mochten, seiner Ansicht nach, das Menuett nicht, das jedoch die bestimmte Zeit über spielen musste. Davon würde selbst dann nicht „eine Sekunde abgebrochen, […] wenn die jungen Herren den Vorstehern einen Fußfall

208 209 210 211

Zu den Vortänzern vgl. Fink: Der Ball, S. 51. Vgl. Petri: Briefe über Reval, S. 93. UBT, Einigkeit, S. 12 – 14; UBT, Societät, S. 45 – 47. Petri: Briefe über Reval, S. 95.

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thäten.“212 Er habe zudem beobachtet, wie die „Matodors des Balles“, eine Anglaise organisiert und geprobt sowie die Musik bestellt hatten. Weil jedoch die Zeit für diesen Tanz abgelaufen war, konnte sie ihn nicht mehr ausführen. „Da hängen sie die Köpfe, murren und maulen, und müssen sichs doch gefallen lassen.“213 Die bisherigen Ausführungen offenbaren, dass die Zeitgenossen die Normen besonders bei Tänzen sehr deutlich kommunizierten und umsetzten. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine zufällige Erscheinung, sondern um das Bemühen, die Ordnung beizubehalten. Jedes ungeregelte Tanzvergnügen barg eine Vielzahl von Konfliktmöglichkeiten: Welcher Tanz sollte für welche Dauer gespielt werden? Wer durfte Tanzen und wer musste pausieren? Darüber hinaus stellte das Tanzen bereits als bloße Bewegungsform eine potenzielle Gefahrenquelle dar, die es zu einzudämmen galt. Die mahnenden Worte des Freiherrn von Knigge exemplifizieren diese Ansicht sehr anschaulich: Ich habe bemerkt, daß man (dies ist besonders bei Damen der Fall) sich beim Tanze oft von einer nicht vorteilhaften Seite zeigt. Wenn das Blut in Wallung kömmt, so ist die Vernunft nicht mehr Meister der Sinnlichkeit; verschiedene Arten von Temperamentsfehlern werden dann offenbar. Man sei also auf seiner Hut! Der Tanz versetzt uns in eine Art von Rausch, in welchem die Gemüter die Verstellung vergessen.214

Die erregende und berauschende Wirkung des Tanzes musste in geordnete Bahnen gelenkt werden; daher beschrieben Ordnungen derart präzise die Tanzabfolgen und -regeln. Die minutiöse Planung legt zudem eine andere Schlussfolgerung nahe: Jeder regelmäßig teilnehmende Ballgast kannte vielleicht nicht den exakten, aber dennoch den groben Verlauf der gespielten Musik im Vorhinein. Mit diesem Wissen konnten sich Frauen und Männer auf einen Ball vorbereiten. Ohne die Schrittfolge passend zum Takt intensiv geübt zu haben, setzte man sich der Gefahr einer Blamage aus. Dass das richtige Erlernen von Tänzen als wichtige Kompetenz angesehen wurde, zeigt die Beschäftigung von Tanzmeistern. Stralsund stellte in den 1780er-­Jahren beispielsweise einen solchen sogar fest an.215 Oftmals erhielten Tanzlehrer jedoch keine langfristige feste Anstellung, weshalb sie sowohl in der Stralsundischen Zeitung als auch in den Revalischen Wöchentlichen Nachrichten regelmäßig ihre Expertise anboten und anpriesen. Erstere veröffentlichte 1784 die Anzeige eines „nicht ganz unbekannt[en]“ Schauspieltänzers, der den Lesern Tanzunterricht

212 Anonym: Die Briefe des Ungenannten, über Ehstland Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, Zweyter Brief, in: August von Kotzebue (Hrsg.): Für Geist und Herz, Bd. 1 (1786), S. 114 – 124, hier S. 123. 213 Ebd., S. 123. 214 Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Teil 2, Kap. 12, Abs. 6, Hannover 192, zit. nach: Reclams Universal-­Bibliothek, Bd. 421, 3. Aufl., Leipzig 1980, S. 231. 215 Im Jahre 1787 war ein Mitglied der Tillyschen Schauspielgesellschaft für ein Jahresgehalt von 50 Reichstalern als Tanzmeister angestellt. Vgl. Struck: Die ältesten Zeiten, S. 57.

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anbot.216 Mitunter betonten sie auch ihr Herkommen wie etwa ein Tanzmeister, der bereits in Berlin gearbeitet hatte.217 In Reval zeigte ein Lehrer sogar sein umfassendes Repertoire für den Unterricht an. Er offerierte Interessierten [ein] Menuet la Rein, zwey neue Englische Menuetten, einen Deutschen Tanz von 50 Touren für 2 Personen, einen Deutschen von 30 Touren für 3 Personen, ein Englisches Solo, Kosakisch mit theatralischen Schritten, Polnisch, einen Schwerzertanz, ganz neue Englische und Quadrillen u. s. w.218

So wie das Erlernen der richtig getakteten Schritte nicht dem Zufall überlassen wurde, folgten die abendlichen Tänze klaren Regeln. Abweichende Tanzwünsche des Publikums durften an einem Abend nur nach einer eindeutig definierten Prozedur erfüllt werden. Zunächst musste der Wunsch bei einer der Aufsichtsperson abgegeben werden, die sich dann mit den anderen Aufsehern abstimmte, ob nicht ein anderes Gesuch vorher eingetroffen war. Erst dann informierten sie den Musikdirektor über das erbetene Stück, worauf ein Trompeter mit seinem Instrument gut hörbar signalisierte, dass nun ein neuer Tanz beginnen würde. Danach wurde „der Tantz von demjenigen, der solchen angegeben aufgeführet, oder die Figur davon den übrigen Täntzern gezeigt“.219 Damit ergab sich aus dem Wunsch einer unbekannten oder neuen Musik eine günstige Gelegenheit für jedermann, im Laufe eines Abends im Mittelpunkt zu stehen, sein Können zu präsentieren und seine Reputation zu stärken. Angenommen es begehrte niemand ein vom Programm abweichendes Stück, summieren sich die für Stralsund einzeln angegebenen Tanzlängen auf eine Dauer von sechseinhalb Stunden. Wenn man eine durchaus übliche Anfangszeit von 20 oder 21 Uhr voraussetzt und die Ordnung regelgerecht umgesetzt wurde, dann währte ein Ball bis zum nächsten Morgen um 2:30 bzw. 3:30 Uhr. Zwar ist nicht überliefert, dass man die benannte maximale Spieldauer tatsächlich ausschöpfte, aber ein Paragraph der Ballordnung gibt Anlass, eine lange Festdauer zu vermuten: Wenn die Schleifer oder teutsche Tänze als[o] die letzten der obenbenannten Gattungen geendiget sind, soll die Musikanten in voriger Ordnung mit Menuett Spielen wieder anfangen.220

Außerdem heißt es in einer Beschreibung eines Maskenballs im Jahre 1769 zu Ehren des damaligen Kronprinzen und späteren Gustav  III. von Schweden, dass dieser „mit voll-

216 StZ, Nr. 37, 24. 03. 1784. 217 StZ, Nr. 12, 27. 01. 1785. 218 RWN, Nr. 4, 24. 01. 1788. 219 Struck: Die ältesten Zeiten, S. 57. 220 Ebd.

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kommener Ordnung und Vergnügen bis zum Anbruch des folgenden Morgens“221 dauerte. Bei der Landeshuldigung Gustavs, die über mehrere Tage im November 1773 in Stralsund stattfand, währte der Ball sogar „bis den folgenden Morgen um acht Uhr ohne die geringste Unterbrechung“.222 In Reval feierte man bis in die Nacht hinein, sofern sich die Organisatoren und Gäste an die offiziellen Ordnungen hielten. Die Einigkeit setzte das Ende eines Balls auf 2 Uhr morgens fest. Die Klubbe gab das Ende ihrer ersten großen Tanzveranstaltung mit derselben Zeit an, sodass diese womöglich als offiziell angemessene Zeit galt. Allerdings veranstalteten die Revaler auch Tänze, die bis 5 Uhr morgens liefen, wie etwa den zur Geburtstagsfeier des Fürsten Orlow.223

5.2 Die inoffizielle Etikette Mit einer Mischung aus Amüsement, Erstaunen und Unverständnis beschrieb Johann Christoph Petri seine Erfahrungen im Klub der Schwarzhäupter,224 den die Mitglieder der Kaufmannsgemeinschaft 1782 als tägliche Abendgesellschaft (1792 in Einigkeit umbenannt) in Reval gegründet hatten.225 Über die Bälle desselben Klubs berichtete ein anonymer Autor in mehreren Briefen über „Ehstlands Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche“, die dieser in Kotzebues Für Geist und Herz veröffentlichte. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Verfasser ebenfalls um Petri handelt, da sich manche Beobachtungen sehr ähneln. Jedoch widersprechen sich die Ausführungen auch in einigen zentralen Punkten, weshalb er wohl eher nicht als Urheber agierte. Kotzebue selbst käme als Verfasser der Briefe ebenso in Frage, obwohl er die Autorenschaft vehement bestritt. Doch man könnte diese Beteuerung genauso wie die Unterschrift mit dem Kürzel „B.“ als Verschleierungstaktik interpretieren.226 Die Autorenfrage ist in diesem Fall jedoch gar nicht entscheidend, denn selbst wenn es sich um den gleichen Verfasser handeln sollte, verdienen beide Quellen Beachtung. Zum einen setzten beide Texte andere Schwerpunkte, wodurch sie sich gut ergänzen; zum anderen ließ es sich Kotzebue nicht nehmen, die Stellen, mit denen er nicht d’accord ging, in 221 StZ., Nr. 10, 03. 02. 1769. 222 AUBGr, Anonym, Nachricht von den Feierlichkeiten der Landeshuldigung welchem am 10ten November 1773 zu Stralsund vollzogen worden, Stralsund o. J., S. 20. 223 RWN, Nr. 5, 28. 01. 1773. 224 Petri: Briefe über Reval, S. 92 – 96. 225 TLA, Rep. 87.1.651, fol. 2 ver. 226 Kotzebue betonte nach der Veröffentlichung des zweiten Briefes bspw.: „Dem Publicum wiederhole ich hier nochmals, daß ich auf keine Weise Theil an diesen Briefen nehme, […].“ August von Kotzebue: Nachschrift des Herausgebers, in: Ders.: Für Geist und Herz, Bd. 1 (1786), S. 125. Für Kotzebues Autorenschaft dieser Briefe sprach sich die Forschung schon im 19. Jahrhundert aus, s.: Theodor Kirchhofer: Eine Revaler belletristische Zeitschrift des vorigen Jahrhunderts, in: Baltische Monatsschrift, 27 (1880), S. 641 – 662, hier S. 649.

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einer Fußnote zu kommentieren. Daher ermöglichen Petris Bericht zusammen mit den anonymen Briefen einen vielschichtigen Einblick in die sozialen Konventionen der Revaler Ballgesellschaft. Zunächst einmal wunderte sich Petri über das Verhalten der Herren, die ihre Tanzbegleitung nicht von zu Hause abholten, sondern sie lediglich vor der Tür des Schwarzhäupterhauses in Empfang nahmen. Von dort aus geleiteten die Herren ihre Begleitung in den Ballsaal, wo Stühle an den Wänden aufgereiht standen. Auf diesen nahmen die Damen nach einer Verbeugung des Mannes Platz und warteten dort, bis sie jemand zum Tanz aufforderte. Die Herren gingen derweil im Saal herum, um andere Personen zu begrüßen.227 Obschon Petri das Verhältnis der Geschlechter untereinander als distanziert beschrieb, äußerte er sich zum allgemeinen sozialen Klima innerhalb des Klubs positiv: „Der Vornehmere und Reiche, besonders der Land-­adel, lässt sich zu den andern Ständen so herab, als ich es noch nirgends bemerkte“.228 Diese Ansicht bestätigte Kotzebue, der meinte, die meisten könnten „das Verdienst vom Kleide, [und] den Werth der Seele vom Gepräge des Titels“229 unterscheiden. Der anonyme Briefeschreiber beobachtete eine ganz ähnliche Tendenz: Adlige Damen hielten es nicht für notwendig, einen Tanzpartner vom gleichen Stande zu haben, sondern achteten vielmehr auf dessen Können. Ihre Devise lautete: „Auf einem Ball ist derjenige, der am besten tanzt, immer der willkommenste.“230 Die Standeshierarchie zeigte sich nach diesen Eindrücken bei den Schwarzhäuptern nicht besonders ausgeprägt. Jedoch bemerkte der anonyme Kommentator, dass vornehme Personen stets nach dem gewöhnlichen Ballbeginn eintrafen. Man konnte oftmals nicht pünktlich beginnen und wartete, bis genügend Gäste eingetroffen waren.231 Ob es sich beim Beginn eines Balls um puren Pragmatismus handelte, weil eine bestimmte Besucherzahl zum Eröffnungstanz anwesend sein musste, oder ob es ein ungeschriebenes Gesetz gab, dass angesehene Personen später eintreffen durften, ist nicht eindeutig zu klären. Allerdings nahm der anonyme Zeitzeuge die verspäteten Gäste als angesehenen Personenkreis wahr, sodass vermutlich ein Zusammenhang zwischen dem Ankunftstermin und dem Status der Gäste existierte. Des Weiteren machte der anonyme Kommentator an einer Stelle darauf aufmerksam, dass es vereinzelt adlige Damen gebe, die Bürger und Kaufleute als „Hinkepinks“ (Hinkebeine) bezeichneten. Zwar widersprach Kotzebue dieser Behauptung, griff dabei allerdings im Gegenzug die spottende Dame und Teile des Adels allgemein an:

227 228 229 230

Petri: Brief aus Reval, S. 92 – 93. Ebd., S. 90. Anonym: Briefe eines Ungenannten, Zweiter Brief, S. 117. Anonym: Briefe eines Ungenannten, Dritter Brief, in: August von Kotzebue (Hrsg.): Für Geist und Herz, Bd. 2 (1786), S. 167 – 175, hier, S. 174. 231 Ebd., S. 167.

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[E]s ist nicht möglich, daß ein Frauenzimmer, welches den Adel zu verdienen doch nie selbst im Stande ist, so lächerlich albern denken könne, daß sie sogar einen Spottnamen für einen ehrwürdigen Stand erfindet, ohne dessen Fließ und Arbeit […] mancher hochadliche Müssiggänger verhungern müßte.232

Hier zeigt sich eindrucksvoll, dass auf ständeübergreifenden Bällen status- und verhaltensbezogene Vorurteile kursieren konnten. Dennoch fällt die Betonung der ständischen Schranken in beiden Quellen nicht so stark aus wie die Unterscheidung von stereotypen Geschlechterkategorien. Besonders kritisch gingen die Autoren dabei mit den Damen ins Gericht. Die Liste der Beanstandungen begann mit der Feststellung, dass keine Dame ein Menuett tanzen könne und die Polonaisen nicht getanzt, sondern gelaufen würden.233 Daran schloss zwar die Einschränkung an, das schöne Geschlecht würde dafür die Anglaisen und Quadrillen „recht artig“ ausführen. Doch dabei würden sie zu wenig auf ihre Gesundheit achten, wenn sie sich „noch warm vom Tanz“ an das Fenster setzten. Katastrophal sei das Verhalten der Frauen, die nach der Bewegung etwas tranken: „Sie wissen nicht, […] daß ein englischer Tanz und ein Glas Limonade, dem zärtlichen Ehemann oft ein sieches Weib zuführen“.234 Dieses Verhalten sei aber nicht nur „Selbstmord“, es gefährde zudem die Gesundheit der Säuglinge, die durch „verdorbene Säfte“ vergiftet würden.235 Diese Art der Kritik exemplifiziert die zeitgenössische Anschauung, dass die Frauen bei wilden Tänzen wie insbesondere dem Walzer, aber auch bei Kontratänzen durch das Erhitzen der Körper ihre Gesundheit unbedacht aufs Spiel setzten. Das Argument paarte sich oftmals mit dem Vorwurf eines sündigen oder lüsternen Verhaltens. Frauen trugen ähnlich lautende Kritikpunkte sogar selbst vor, wie die Wortmeldung der deutsch-­schweizerischen Schriftstellerin Marianne Ehrmann im Jahre 1790 belegt: Giebt es wohl einen scheußlichren unvortheilhaftren Anblik, als den eines vom Tanz erhizten, von Sinnlichkeit glühenden weiblichen Gesichts? Die Augen ragen aus ihm hervor, sie bekommen violette Ringe, oder glänzen grell und fürchterlich, ein Schweißtropfen jagt den anderen über die verzerrten in Unordnung gebrachten Gesichtszüge hinab. Der weibliche zur Sanftmuth geschaffene Blik bekömmt etwas wildes, lüsternes, sinnliches, der Stimme fehlts am Athem, dem Ton an süsser Harmonie, den Gliedern an Kräften.236

232 Ebd., S. 175. 233 Zwar erhob Kotzebue gegenüber dem Schreiber des Briefes Widerspruch. Aber dieser wirkt eher halbherzig, wenn er meint, dass einige Damen das Menuett bereits erlernt hätten. Ebd., S. 167. 234 Ebd., S. 168. 235 Ebd., S. 168 – 169. 236 Amaliens Erholungsstunden, Teutschlands Töchtern geweiht, Stuttgart 1790, zitiert aus: Busch-­ Salmen: Dreher, Schleifer, Deutsche und Walzer, S. 40.

Die eigene Ordnung der (Masken-)Bälle

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Obwohl sich für Reval solche Aussagen nicht belegen lassen, erklärt diese negative Beschreibung einer zügellos tanzenden Frau, warum das schöne Geschlecht ein sehr passives und konservatives Tanzverhalten darbot. Es machte dagegen keinen grundsätzlich schlechten Eindruck, wenn ein Mann beim Tanzen schwitzte. In seiner Hauslehrerzeit musste der Stralsunder Johann Christian Müller beispielsweise einmal bis in die Morgenstunden tanzen und sah danach entsprechend schweißgebadet aus. Seine Mitmenschen reagierten darauf jedoch nicht und er selbst ging damit pragmatisch um: Ich war durch Unterhembden Brust Tuch, Oberhemde, Camisohl bis auf den Rock durch genetzet. Ich beorderte meinen Diener mir einen Caffe zu machen, die anderen Herren aber baten sich aus mit mir zu trincken. Ich stieg also herauf mich trocken anzuziehen, und darauf truncken wir zusammen bei einer Pfeiffe Toback den Caffe.237

Doch zurück nach Reval und dem anonymen Autor. Dieser ereiferte sich abgesehen von dem unvernünftigen Trinkverhalten weiter über die Mode der Frauen, die noch immer dem „Dämon der Schnürleiber“ erlegen seien: Zu einer Zeit, wo ganz Europa anfängt, die geschmacklosen Zierden, der verflossenen, eisernenn Jahrhunderte zu verbannen; […] zu einer Zeit, wo der einfach griechische Geschmack, in der Baukunst, in der Möblirung und in der Kleidung, allenthalben wieder in seine Rechte tritt; schnürt mach sich in umserm lieben Reval noch bis zum ersticken.238

Anschließend erörterte er, warum sich eine Frau „natürlich“ kleiden sollte. Im Kern ging es ihm um die Gesundheit der Frauen und ihrer noch zu gebärenden Kinder. Hier deutet sich anschaulich an, wie der weibliche Körper dem Zeitgeist entsprechend modelliert wurde. Schnürleiber, Korsetts, Mieder, Reifröcke und dergleichen entzogen dem Frauenkörper die Bewegungsfreiheit und nahm ihm damit seine natürliche Schönheit und Reproduktionskraft.239 Petri störte sich dagegen weder an der Kleidermode der Frauen noch an deren Trinkverhalten. Vielmehr monierte er, dass sich die am Rande des Saals sitzenden Damen nicht mit Männern unterhalten könnten: „Ja und Nein ist alle Antwort, die er auf seine Fragen erhalten kann“.240 Offenbar hatten die Frauen einen gewissen Verhaltenskodex verinnerlicht, den der anonyme Autor aussprach:

237 238 239 240

Müller: Meines Lebens Vorfälle, Zweiter Teil, S. 76. Anonym: Briefe eines Ungenannten, Dritter Brief, S. 169. Klein: FrauenKörperTanz, S. 84 – 94. Petri: Briefe über Reval, S. 93.

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Bälle und Maskeraden

Sie dürfen nicht zeigen, was sie fühlen, nicht sagen, was sie denken, nicht sehen noch hören, was um sie herum vorgeht. Was den letzteren Punkt betrift; so sind unsere Damen so ziemlich geübt darinn.241

Für eine Konversation musste der Mann schon eine Frau zum Tanzen – möglichst zu einer Polonaise – auffordern. Das Tanzen rechtfertigte zum einen den geschlechterübergreifenden Kontakt zu „fremden“ und/oder sozial unterschiedlichen Personen. Polonaisen eigneten sich zum anderen hervorragend für ein Gespräch, weil sie „mehr einem Umgange, als einem Tanze“ ähnelten. [D]enn indem der Vortänzer seine Dame, bald an der rechten, bald an der linken Hand, durch den Saal nach allen Richtungen, bald längst den Wänden, bald um die Pfeiler, herumführt, folgen ihm alle Paare, mit jedem Sprichworte zu reden, wie die Gänse, ohne taktmässige, aber hörbare, Bewegung der Füsse, nach.242

Vor dem Hintergrund der bestehenden Etikette war diese wenig filigrane Art des Tanzens sicherlich weniger Unvermögen als eher eine akzeptierte Kommunikationsmöglichkeit zwischen Männern und Frauen. Womöglich gestaltete sich eine Unterhaltung bei einem Menuett sehr viel schwieriger, weil diese zu viel Konzentration und Mühe gekostet hätte. Darüber hinaus forderte die Polonaise die Teilnehmenden körperlich nicht besonders, weshalb sie, der Logik der Zeit folgend, das Wohl der Damen und deren Kinder in geringerem Maße gefährdete. Diese Interpretationsansätze stimmen mit der folgenden Aussage eines außenstehenden Zeitzeugen überein, der überrascht feststellte: „Der größte Theil des Publicums – ich mögte beynah sagen alle Anwesenden – sind Feinde der Menuet“.243 Die Tanzenden durften sich bei der Polonaise unterhalten, mussten jedoch stets die Contenance bewahren. Den Eindruck erweckt zumindest Petris Bemerkung über seine Bekannten, die sich durchweg bemühten, „ihre natürliche lustige Laune zu verbergen, und eine recht ernsthafte Miene anzunehmen.“244 Bei dem anonymen Kommentator stand hierbei erneut besonders das weibliche Geschlecht im Fokus: „Ein Frauenzimmer kann innerlich brennen, muß aber, in öffentlichen Gesellschaften, äusserlich so kalt scheinen, als der Schnee auf dem Laksberge.“245 Petri beobachtete allerdings nicht ausschließlich bei Frauen kritikwürde Eigenschaften. Männer fielen ihm insbesondere aufgrund ihrer ungestümen, teilweise aggressiven Art negativ auf. Bei den Kontratänzen würden sich Studenten und Offiziere „hinzudrängen“, wodurch sie wohl die weniger rabiaten Herren von ihren Tanzpositionen verdrängten. Es 241 242 243 244 245

Anonym: Briefe eines Ungenannten, Dritter Brief, S. 173. Petri: Briefe über Reval, S. 93. Anonym: Briefe eines Ungenannten, Zweiter Brief, S. 122. Petri: Briefe über Reval, S. 94. Anonym: Briefe eines Ungenannten, Dritter Brief, S. 173.

Sommerbälle

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konnte zudem vorkommen, dass der Streit um einen Tanzplatz zwischen Offizieren und Kaufmannsdienern in „thätige Händel“ umschlug.246 In diesem Fall reichte eine unverbindliche Verhaltensnorm nicht aus, um einen reibungslosen Verlauf zu garantieren und der oben beschriebene umständlich anmutende Modus musste festgeschrieben werden.

6. Sommerbälle Die Bälle, die im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurden, fanden entweder im Winter oder in den angrenzenden Jahreszeiten statt, wenn sich der Landadel in der Stadt befand. Im Sommer hingegen zog es den Adel und das Bürgertum aufs Land, wo dann unterschiedliche Vergnügungen, zu denen ebenfalls Tanzveranstaltungen gehörten, die Zeit verkürzten. Natürlich bedeutete das nicht, dass es in der Stadt keinerlei Bälle gegeben hätte. Sofern sich ein Anlass bot, fanden dort auch in den Sommermonaten prächtige Feste statt. Am 14. Juni 1775 lud der Vizegouverneur und Ritter von Sievers zu einem prächtigen Mittagstisch anlässlich des Geburtstags der Kaiserin Katharina. Es kamen sowohl „alle Standespersonen“ als auch sämtliche Magistratsmitglieder Revals. Für den Abend organisierte Sievers außerdem einen Ball, währenddessen man die Stadt glanzvoll illuminierte.247 Doch Mitte Juni hatte bereits die Zeit der „Sommervergnügen“ begonnen, wozu für den Adel und das wohlhabende Bürgertum längere Aufenthalte auf dem Land zählten. Als Petri in seinen Briefen über Reval die häusliche Geselligkeit des betuchten balten-­deutschen Personenkreis beschrieb, bemerkte er, dass sich der Kulturkonsum der kurzen Sommer von den langen Wintern unterschied. „Wer keine nahe Sommerwohnung oder keinen Garten hat, zieht wenigstens einige Wochen aufs Land, und miethet sich bei einem Bauern ein.“248 Dort würden die Männer das Gros der Zeit verspielen und die Frauen meistens schlafen, wenn sie nicht Spazierfahrten unternähmen. Reisen und Ausfahrten aufs Land galten im Sommer als derart selbstverständlich, dass die Klubs und Vereine von Mai bis August nur im Ausnahmefall Versammlungen anberaumten. Der Beginn des Sommers änderte den sonst geltenden Tagesablauf und die Mitglieder der Erholung beantragten nur sehr selten, dass ein Ball noch nach Ostern gegeben werden sollte. Eine der ersten Ausnahmen bildete das Jahr 1800, als man den Vorstand bat, „noch vor Eintritt der Sommer-­Vergnügungen“ zu einem Tanz zu laden, der dann Ende April stattfand.249 Dass die Erholung gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen nachösterlichen Ball verlangte, ergab sich aus dem allgemeinen Bedürfnis der Mitglieder, auch im Sommer an geselligen, von ihrem Klub organisierten Vergnügen teilzunehmen. So entschied die Gesellschaft im März 1799, bis zum Eintritt des Sommers jeden Donnertag gemeinsam 246 247 248 249

Petri: Briefe über Reval, S. 95.

RWN, Nr. 25, 22. 06. 1775.

Petri: Brief über Reval, S. 76.

TLA, Rep. 1441.1.2., S. 86.

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zu speisen.250 Ab 1815 ersuchte die Kommission ihren Wirt, in den Sommermonaten einen regelmäßigen Mittagstisch anzubieten. Als er entgegnete, dass sich dieses Geschäft für ihn nicht lohnen würde, sicherten ihm die Vertreter der Gesellschaft gesonderte Zuschüsse und Vergünstigungen zu.251 Zwei Jahre später entwickelte sich der Wunsch, einen Garten zu mieten, den der Ökonom jeden Abend ab sechs Uhr bewirtschaften sollte. Damit hatte die Erholung die Voraussetzung für sommerliche Geselligkeit im Freien geschaffen, was die Mitglieder trotz der teilweise mangelnden Zahlungsmoral der dafür zusätzlichen anfallenden Beiträge gut annahmen.252 Obwohl es im Sommer tendenziell andere Beschäftigungen als im Winter gab, die sich zudem oftmals außerhalb der Stadtmauern ereigneten, blieben regelmäßig organisierte Bälle eine Beschäftigungsmöglichkeit. Diese etablierten sich jedoch nur dort, wo sich genug zahlungskräftige Personen versammelt hatten und geeignete Bauten zur Verfügung standen. In Schwedisch-­Pommern trafen diese Voraussetzungen lediglich auf wenige Orte wie den Kurort Kenz zu, dessen Entwicklung im Folgenden beschrieben werden soll. Denn das kleine westlich von Stralsund und unweit von Barth gelegene Kenz exemplifiziert die Kommerzialisierung des Vergnügens und der Geselligkeit außerhalb der Städte, wovon aber nicht zuletzt die urbane Bevölkerung profitierte. Kenz entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einem der zentralen Treffpunkte der bürgerlichen Elite und des Adels in der warmen Jahreszeit, was zunächst einmal nicht an dem Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung lag. Vielmehr lockte die in mehreren Schriften nachgewiesene und propagierte heilende Wirkung des Brunnenwassers Gäste von nah und fern an. Bereits im Spätmittelalter hatten Wallfahrer in Kenz die Marienstatue „Maria Pomerana“ aufgesucht, da sie angeblich mit Wunderkraft vermochte, Blinde und Gelähmte zu heilen. Die Gegenwart der Maria brachte man mit einer nahen als genesungsfördernd geltenden Quelle in Verbindung. Nach der Reformation verlor die Statue an Bedeutung und auch das Heilwasser geriet in Vergessenheit, bis man es als Gesundbrunnen am Ende des 17. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen (wieder-)entdeckte. Die therapeutische Wirkung des Wassers sollte Gäste ins Dorf ziehen, das unter kriegerischen Auseinandersetzungen stark gelitten hatte. Diese Strategie erschien durchaus erfolgsversprechend, da der zeitgenössische Gesundheitsdiskurs die Reputation von Brunnenkuren beförderte.253

250 251 252 253

Ebd., S. 66. Ebd., S. 200. Ebd., S. 1v; Die Paginierung des zweiten Protokollbuchs beginnt am 1. 4. 1817 von neuem. Im 16. Jahrhundert erlebte die noch im Mittelalter florierende Badekultur allgemein einen Niedergang, was an der zeitgenössischen Furcht vor der schädlichen Wirkung des Wassers lag. Erst im 18. Jahrhundert wurde das Baden langsam rehabilitiert, sodass traditionsreiche Kurorte wie Bad Pyrmont und Bath zu prosperieren begannen. Vgl. Raingard Eßer und Thomas Fuchs: Einleitung: Bäder und Kuren in der Aufklärung – Medizinaldiskurs und Freizeitvergnügen, S. 9 – 14. Die Furcht vor Wasser verdeutlicht im 18. Jahrhundert noch die Körperhygiene der Eliten. Vgl. Manuel Frey: Der reinliche Bürger. Entstehung und Verbreitung bürger-

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Nachdem eine kleine Gruppe aus Pastoren und Medizinern die Wirksamkeit des Wassers nachgewiesen und damit den Nutzen des Besuchs legitimiert hatte, musste eine entsprechende Infrastruktur geschaffen werden. Dazu gehörten neben einem Brunnenhäuschen Übernachtungsmöglichkeiten für die Kurgäste sowie regelmäßig stattfindende Gottesdienste. Nun konnten die Anwohner den Kurbetrieb aufnehmen, der nach dem Großen Nordischen Krieg sogar derart florierte, dass der Generalgouverneur 1722 ein Reglement für den Kenzer Gesundbrunnen erließ. Darin ging es insbesondere um das tägliche Angebot eines Gottesdienstes sowie um die Ordnung während der Sonn- und Feiertage, was das Karten- und Kegelspiel und andere „unziemliche […] Lustbarkeiten“ ausschloss. Grundsätzlich befürwortete man aber Bewegung, wozu das Tanzen zählte. Dieser Aktivität durften die Gäste jedoch nicht im Brunnenhaus, sondern nur in Privathäusern oder im Freien nachgehen. Daraus lässt sich schließen, dass die schwedische Regierung nichts gegen Bälle einwandte, so lange man diese nicht an Sonn- und Feiertagen abhielt. Da aber kein öffentlicher Ballort zur Verfügung stand, fanden derartige Vergnügungen wohl nur selten statt. Mit der Errichtung eines Kurhauses (das sogenannte „rote Haus“) im Jahre 1747 ergab sich für die Gäste die Gelegenheit, vielfältigen Vergnügungen nachzugehen. Das Gebäude bot einen Saal, der bei Tanzveranstaltungen genügend Platz aufwies. Zudem befanden sich in einigen Räumen Spieltische und im Garten konnte man kegeln.254 Es ist sehr wahrscheinlich, dass man ab diesem Zeitpunkt in den Sommermonaten – die Kursaison ging von Mitte Mai bis Ende September – Bälle veranstaltete. Sofern die Kurgäste tatsächlich an den Abendvergnügungen teilnahmen, lässt sich der Personenkreis der Ballgänger/innen anschaulich durch ein gedrucktes Verzeichnis der Kurgäste bis 1759 rekonstruieren.255 Die Dekade von 1750 bis 1759 soll exemplarisch für die Anfangszeit des Kurhauses betrachtet werden. Den Gesundbrunnen von Kenz besuchten in diesem Zeitraum 272 Personen. Von ihren weilten viele jedoch mehr als nur ein Mal auf Kur. Einige Gäste wie der Stralsunder Altermann Stieveleben und der Baron Wachtmeister kamen in dieser Dekade jedes Jahr. Somit betrug die durchschnittliche Besucherzahl nicht knapp 30 Personen, wie das arithmetische Mittel vermuten ließe, sondern über 50 Personen. Zwar ist nicht bei jedem Eintrag das Geschlecht des Gastes nachvollziehbar, aber für die eindeutig verzeichneten Personen ergibt sich ein Frauen-­Männer-­Verhältnis von 1 zu 3. Wenig überraschend kamen die meisten Gäste aus Schwedisch-­Pommern (besonders Stralsund und Barth), aber aus den mecklenburgischen Herzogtümern oder dem preußischen Teil Pommerns fanden sich ebenso Gäste ein. Dabei handelte es sich größtenteils um Militärs, Verwaltungsbeamte oder Kaufleute; vereinzelt zählten zudem Pastoren oder licher Tugenden in Deutschland, 1760 – 1860 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd.119), Göttingen 1997, S. 64 – 80. 254 Norbert Buske: Kenz als mittelalterlicher Wallfahrtsort und späterer Gesundbrunnen, in: Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 11 (1977/78), S. 7 – 32, hier S. 21. 255 AUBGr, 520/Ve 348, Verzeichniß der samtlichen Brunnen-­Gaste welche seit 50 und mehreren Jahren den Gesundbrunnen zu Kenz in Schwedisch Pommern besuchet, Stralsund 1760. Die folgenden statistischen Aussagen beziehen sich auf die Auswertung dieser Quelle.

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Studenten dazu. Die Frauen waren meist Gattinnen oder Verwandte der männlichen Gäste, wobei nicht jede Frau zwangsläufig ihren Mann begleitete. In diesem illustren Kreis ließen sich sicherlich kleinere Tanzveranstaltungen durchführen, wobei man allerdings bedenken muss, dass sich der Siebenjährige Krieg nachteilig auf das Brunnengeschäft auswirkte. Schweden schloss sich 1757 der antipreußischen Koalition an und griff von Schwedisch-­Pommern den preußischen Teil Vorpommerns an.256 In dieser unsicheren Lage verzichteten sicherlich viele Auswärtige auf einen Besuch des Gesundbrunnens. Es dauerte bis in die 1780er-­Jahre, bis Kenz seine Attraktivität für Gäste insbesondere außerhalb Schwedisch-­Pommerns wieder erhöhte hatte. Zur Steigerung der Reputation führte die Regierung extra notwendige Instandsetzungsmaßnahmen an den Gebäuden und Verschönerungen der Umgebung durch.257 Je mehr Menschen nach Kenz kamen und je mehr sich die Infrastruktur professionalisierte, desto größer wurde der Bedarf nach genau festgeschriebenen Regeln. Immerhin mussten ganz unterschiedliche Personen aus verschiedenen Regionen miteinander auskommen. Daher erließ die schwedische Regierung 1786 eine neue und umfangreiche „Kenzer Brunnen-­Ordnung“. Sie regelte den Unterhalt der Gebäude, legte die Rechte und Pflichten von Angestellten, Gästen sowie „Fremden“ fest und bestimmte die Preise für angebotene Leistungen. Aus der Ordnung geht eindeutig hervor, dass ein reibungsfreier Kurbetrieb nur mit einer genauen Aufgabenverteilung funktionierte. Auf der einen Seite nahmen „respective Brunnengäste“ und „anständige Personen“258 eine herausragende Stellung ein. Ihnen sollte ein sicherer, unterhaltsamer und gesundheitsfördernder Aufenthalt garantiert werden. Auf der anderen Seite sorgten unzählige Brunnenverantwortliche mit unterschiedlichen Kompetenzen für den reibungslosen Betrieb. Dabei handelte es sich neben dem Direktor um Ärzte und Geistliche, aber auch um Musikanten, Bauern oder Feldwärter. Die Veranstaltung von Bällen verantwortete der sogenannte „Tracteur“.259 Er mietete das „rote Haus“ während der Sommersaison und bewirtschaftete es unter Beachtung der allgemeingültigen Regeln für seinen eigenen Profit. Das Kurhaus sollte dem „Vergnügen und [der] Bequemlichkeit der Brunnengäste“ dienen und musste daher „in tüchtigem und reichlichem Stand gesetzet seyn“.260 Es durften sich bevorzugt Kurgäste bei öffentlichen Bällen einfinden, was jedoch den Besuch von anderen Standespersonen nicht ausschloss. Außen vor blieben allerdings Personen von „geringem Stande“, wozu Bauern, Bediente 256 Vgl. dafür: Oldach: Schwedens Beteiligung am Siebenjährigen Krieg. 257 Vgl. dafür die Neue Kenzer Brunnen-­Ordnung, vom 26. April 1786, in: Johann Carl Dähnert (Hrsg.): Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-­ Urkunden Gesetze, Privilegien, Verträge Constitutionen und Nachrichten, Bd. 6, Stralsund 1788, S. 905 – 924, hier, S. 906. 258 Ebd. 259 Ein „Tracteur“ verköstigte Menschen, die in keinem Haushalt oder keiner Korporation aßen. Im Unterschied zu Wirten öffneten sie nur zu bestimmten Zeiten und offerierten eine begrenzte Auswahl an Speisen. Vgl. Tanzer: Sepectacle müssen seyn, S. 195. 260 Dähnert: Sammlungen, Bd. 6, S. 911.

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und das übrige Funktionspersonal zählten. Die gewöhnliche Ruhezeit, zu der auch keine Musik mehr spielen durfte, begann um 22 Uhr, wobei Bälle von dieser Regelung ausgespart blieben.261 Als erster Pächter des Kurhauses, der der neuen Ordnung unterstand, engagierte sich der Stralsunder Gastwirt Kampe. Er veröffentlichte vor der Sommersaison 1786 die Neue Lese-­Zeitung zur Bildung des Gemüths, des Genies, des Verstandes und des Witzes der schönen und geistreichen Damen.262 Die kurze Werbelektüre wandte sich mit antiken Geschichten direkt an das weibliche Publikum und wollte es von einem Aufenthalt in Kenz überzeugen. Es drängt sich die Vermutung auf, dass Kampe die Damen besonders adressierte, weil diese vorher mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit eine Kur machten. Eine zu große Überzahl von Männern auf Bällen minderte das Vergnügen der Gesellschaft und damit die Einnahmen des Unternehmers. Auf der letzten Seite fasste Kampe die Vorzüge des Gesundbrunnens prägnant zusammen. Kenz befand sich in einer geographisch günstigen Lage, die ein regionales sowie überregionales Publikum ansprach. Stralsund liege nur drei Meilen entfernt und die Strecke nach Barth, das ebenso mit einem Seehafen aufwartete, würde sogar weniger als eine Meile betragen. Barth könne man von Stockholm, Göteborg und Königsberg aus, günstigen Wind vorausgesetzt, in vier Tagen erreichen, während es von Riga zehn und von St. Petersburg 15 Tage dauere. Darüber hinaus offerierte Kampe Kost und Logis für „allerley Character und Gattung der Personen“. Für die Unterhaltung der Gäste warb er mit folgender Auflistung: Auch ist daselbst befindlich eine Badestube, Tanz, Musik, Lustbarkeiten Assembleen, Redouten, Bälle, Concerte, Spiel, allerley köstliches Getränke, und Bequemlichkeit für Kranke, Pferde, Kutschen etc.263

Die Sommermonate bis zur Übergabe Vorpommerns an Preußen zeichneten sich in den folgenden Jahren tatsächlich durch einen steten Gästestrom und regelmäßig stattfindende Feste aus. Zwar machte sich um die Wende des Jahrhunderts die wachsende Konkurrenz durch die Seebäder (z. B. Heiligendamm) bemerkbar und auch der Einmarsch der französischen Truppen wirkte sich wohl negativ aus. Doch in den 1780er- und 1790er-­Jahren präsentierte sich Kenz insgesamt prächtig. Beispielsweise reiste Generalgouverneur von Hessenstein im Juli 1787 durch den Ort. Bevor er am nächsten Morgen weiterzog, veranstaltete man ihm zur Ehre eine Illumination. Im August 1795 verbrachte zudem der Romantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder eine Weile beim Gesundbrunnen.264 Die Pächter inserierten regelmäßig die Veranstaltung von Bällen in der Stralsundischen Zeitung und wollten so Gäste aus dem Umland anlocken. Der bereits genannte Gastwirt 261 Ebd., S. 920 – 921. 262 Neue Lese-­Zeitung, Stralsund, den 27. 03. 1786, diese Schrift findet sich in der StZ als Beilage. 263 Ebd. 264 Buske: Kenz las mittelalterlicher Wallfahrtsort, S. 23.

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Kampe lud zu einem „große[n] Ball“, der am 14. Juli 1786 um sechs Uhr beginnen sollte. Die Billetts konnte man am Eingang für zwölf Schillinge erwerben; Essen und Trinken musste man sich noch zusätzlich kaufen.265 Andere Pächter veröffentlichten ebenfalls diesbezügliche Annoncen: Herr Knull bewarb 1791 Bälle, die um fünf Uhr anfingen und deren Billetts 24 Schillinge kosteten. Dafür beinhaltete der Preise bereits die Unkosten für Speisen und Erfrischungen.266 Kenz wurde somit zu einem beliebten Ballort und veranschaulicht die voranschreitende Kommerzialisierung des Vergnügens und der Geselligkeit auch während der Sommermonate am Ende des 18. Jahrhunderts.

7. Störfälle bei (Masken-)Bällen Wie die bisherigen Ausführungen darlegen, konnten sich Winter- oder Sommerbälle zu einer institutionalisierten Form der stände- und geschlechterübergreifenden Geselligkeit entwickeln. Dabei wichen die Gäste trotz der Tanz- und Ballordnungen nicht selten von der festgesetzten Verhaltensnorm ab. Die Verantwortlichen mussten dann mit diesen Störfällen umgehen. Die nachfolgenden Beispiele illustrieren einerseits, welche Verstöße vorkamen, und andererseits, welche Strafen man dafür vorsah. Im Mai 1800 beschwerte sich die Einigkeit im Revaler Stadtrat über das unanständige Verhalten einiger Offiziere aus dem Regiment von de la Cerda. Demnach sei Kapitän Slatkin sehr alkoholisiert gewesen und habe dabei „heftig mit den Füßen getrampelt, laut geschrien, und wie ein Hund gebellt“.267 Sich an die Regularien haltend drohte der Vorsteher ihm mit dem Verweis aus der Gesellschaft, worauf der Major Krasawin meinte, dass der Vorsteher hinausgeschmissen gehöre. Slatkin reagierte mit den russischen Schimpfwörtern „Nemezi Canaille, Protosti, Smertz“268 auf diese Drohung. Zu allem Überfluss zog sich der als Gast eingeführte Lieutenant Schwetzin zudem seine Stiefel an, als noch viele Gäste anwesend waren. Scheinbar hatten die Mitglieder der Einigkeit nun keine Möglichkeit mehr, dem Treiben sofort Einhalt zu gebieten. Sie konnten aber im Nachhinein Strafen für die Unruhestifter aussprechen, sodass sie Slatkin letztlich aus der Gesellschaft ausschlossen und Krasawin und Schwetzin nie mehr Zutritt zu den Räumlichkeiten der Einigkeit erhielten. Der Vorstand und die vernünftigen Mitglieder der Einigkeit wandten die bestehenden Klubstatuten damit konsequent an, denn alle beschriebenen Verhalten waren ausdrück 265 266 267 268

StZ, Nr. 83. 13. 07. 1786. StZ, Nr. 82, 12. 07. 1791 und Nr. 95, 11. 08. 1791. TLA, Rep. 230. 11. 1119, fol. 5 r–5 v. Ebd., fol. 5 r; „Nemezi Canaille“ (Nemeckij Kanal’ja) heißt wahrscheinlich „deutsche Kanaille“, wobei man unter einer Kanaille einen Schurken oder üblen Kerl versteht. „Protosti“ (wahrscheinlich Nominativ Plural von protost‘ ) bedeutet „Frechheiten“ oder „Anmaßungen“. „Smertz“ (smert‘) ist der „Tod“. Sofern mit „Protosti“ das Wort prosto gemeint wäre, würde sich eine gängige Verdammungsformel ergeben, die in etwa lautet: „Der deutschen Canaille einfach nur den Tod!“ Ich danke Tatsiana Astrouskaya und Dr. Tilman Plath für die freundliche Übersetzungshilfe.

Störfälle bei (Masken-)Bällen

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lich verboten. Gleich drei Paragraphen (§§ 35 – 37) befassten sich mit dem angemessenen Verhalten der Mitglieder untereinander, die im Kern festlegten, dass man andere weder necken, aufziehen, lächerliche machen, reizen oder beschimpfen sollte, noch „die Ehre und [den] gute[n] Ruf der ganzen Gesellschaft“ kränken durfte. Slatkin und Krasawin verurteilte man wahrscheinlich aufgrund dieser Gesetze und auch Schwetzin hätte man wegen Neckerei oder Beleidigung belangen können. Allerdings verstieß er außerdem gegen das explizite Stiefelverbot (§ 17 b) und konnte somit auf der Grundlage dieses Paragraphen verurteilt werden.269 Das Schreiben der Einigkeit endet mit der Begründung, warum sie den Stadtrat überhaupt über die Vorkommnisse informierten. Man wollte demonstrieren, wie man in ihrer Gesellschaft für „Ordnung und gute Sitten“270 eintrat. Eine zusätzlich Dimension erhielt der Zwischenfall dadurch, dass gerade de la Cerda zuvor Untersuchungen zum Zweck der Klubs in Reval angestellt hatte. Er sollte im Namen des Kaisers dafür sorgen, dass sich keine subversiven politischen Ideen ausbreiteten und Sittlichkeit und Ordnung herrschten. Die Einigkeit implizierte nun, dass der kaiserliche Ordnungshüter nicht einmal sein eigenes Regiment unter Kontrolle hatte. Derartig exzessive Verstöße blieben die Ausnahme. Viel häufiger verstießen die Teilnehmer von Klubbällen gegen die maximale Zahl der einzuführenden Gäste oder besorgten für sie keine ordnungsgemäßen Eintrittskarten. Die Bürgerliche Klubbe gestattete genauso wie die anderen Revaler Klubs nur einer bestimmten Zahl von Fremden die Teilnahme an einem Ball und definierte ein genaues Prozedere für den Erwerb von zusätzlichen Billetts. Sofern ein Mitglied zu viele Personen einführte oder für diese keine entsprechende Eintrittskarte besorgte, sollte es eine Strafe von 10 Rubeln pro illegalen Gast zahlen. Zum Stiftungsball am 17. September 1788 brachten fünf Mitglieder jeweils eine unangekündigte Person mit und mussten daher jeweils 10 Rubel Strafe zahlen.271 Es kam des Weiteren vor, dass ein Mitglied gleich mehrere Personen illegal zu einem Ball einlud. Der Kaufhändler Johann Friedrich Jürgens führte 1789 gleich fünf seiner Freunde unbefugt ein und zahlte dafür eine Strafe in Höhe von 50 Rubeln.272 Da die Klubs des Öfteren dieses Verhalten bestraften, führten die Mitglieder ihre Bekannten wohl regelmäßig ein. Sie hofften dann, nicht erwischt zu werden, oder nahmen die Strafe bewusst in Kauf. Jedenfalls wollten sie sich und ihren Bekannten das Vergnügen nicht von einer Gesetzesnorm beschränken lassen. Nicht in allen Fällen verhängte die Kommission die gesetzlich vorgeschriebene Strafe. Eine Ausnahme machten sie, sofern sich der Übeltäter der Verantwortung freiwillig stellte und reuig zeigte. Mit dieser Taktik entging der Präsident des Gouvernementmagistrats, August von Kotzebue, einer Strafe wegen Beleidigung. Er ließ nämlich einen gewissen Herrn von Reuter in seinem Namen die Erklärung verlesen, dass er zwar beim letzten Ball 269 270 271 272

UBT, Einigkeit, S. 12, 26 – 28.

Ebd., S. 6 rück.

TLA, Rep. 1441.1.1., S. 187.

Ebd., S. 198.

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Bälle und Maskeraden

Schimpfwörter gegenüber einem anderen Mitglied ausgesprochen habe. Aber als „ein Mann von Ehre“ habe er dem Beleidigten bereits „Genugthuung gegeben“ und nun wolle er sich noch beim Klub für sein unziemliches Verhalten entschuldigen. Die Kommission akzeptierte daraufhin Kotzebues Erklärung und rehabilitierte ihn, ohne eine Strafe zu verhängen.273 Ganz allgemein sorgten der Vorstand und die Mitglieder der Klubs sowohl für Ordnung bei ihren Veranstaltungen als auch bei beim alltäglichen Vereinsbetrieb. Es gibt daher – die Herrschaft des russischen Kaisers Paul I. ausgenommen – nur wenige Beispiele dafür, dass etwaige Vergehen an externen Gerichten verhandelt wurden.274 Petri berichtet von einem sonst nicht weiter nachzuvollziehenden Fall, in dem der Herr von Kotzebue, wegen seiner Behauptung auf der Clubbe, dass auf dem Gebiet des Herrn B. ein Mädchen verhungert wäre, von dem vorigen Gouverneur zur Verantwortung gezogen [wurde]; und hätte sich nicht der letztere gegen jenen höchst unklug benommen, so hätte die Sachen übel ausfallen können.275

Doch die Mitglieder mussten sich nur selten wegen ihrer Meinungen oder Verhaltensweisen innerhalb der Klubräume in der Öffentlichkeit rechtfertigen. Daher stellten die geselligen Vereine zwar einen durch geschriebene und habituelle Normen geordneten Raum dar, der sich jedoch weitgehend von der Außenwelt abschottete und daher gewisse Freiheiten zuließ.

8. Zwischenfazit (Masken-)Bälle entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer institutionalisierten Form des Vergnügens für wohlhabende Bürger, Offiziere, Regierungsbeamte und Vertreter des Landadels. Als neue Ballorte dienten in Reval vor allem die Klubhäuser der neu gegründeten Geselligkeitsvereine, während in Stralsund das Theatergebäude häufig genutzt wurde. Natürlich bestanden bereits im Mittelalter vielfältige Ballmöglichkeiten, die auch nach der Reformation, als sich die Festkultur rationalisierte, nicht aufhörten. Allerdings blieben die nachreformatorischen Tanzveranstaltungen bis zum Untersuchungszeitraum oftmals auf die Personen bestimmter Stände begrenzt, da ständische Korporationen – z. B. die Zünfte – derartige Feste organisierten. In der Aufklärung bestanden traditionelle korporative Tanzveranstaltungen weiterhin. Die Ständestruktur behielt bei öffentlichen Ritualen ebenfalls ihre Gültigkeit, wie die Huldigung des schwedischen Königs Gustav  III . im Jahre 1773 eindrücklich demonstriert. Bei dieser Gelegenheit konnte das schwedische Mutterland seine sonst nur sehr eingeschränkte Macht in Schwedisch-­Pommern symbolisch entfalten. Der offizielle Festakt, dessen Höhepunkt eine aufwendige Zeremonie in der Nikolaikirche war, ermöglichte 273 Ebd., S. 236. 274 Eine weitere prominente Ausnahme stellt sicherlich der Fall Tiesenhausen dar. Vgl. Kap. III. 2.8. 275 Petri: Briefe über Reval, S. 27.

Zwischenfazit

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vielfältige rituelle Interaktionen zwischen der lokalen und regionalen Elite, Vertretern der schwedischen Monarchie sowie der restlichen Stralsunder Bevölkerung. Dabei huldigten die Anwesenden dem formalen Landesoberhaupt. Während der Huldigungsakt keinerlei persönliche Freiheiten erlaubte, ergaben sich bei den anschließenden Theatervorstellungen und (Masken-)Bällen Freiräume für den ständeübergreifenden sozialen Kontakt. Von diesen Freiräumen machte ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung Gebrauch, denn gemessen an der offiziellen Zahl der Teilnehmenden erfreuten sich die Veranstaltungen in der Öffentlichkeit großer Beliebtheit. Die Voraussetzung der neuartigen Festkultur stellte zum einen die wachsende gesellschaftliche Akzeptanz von (Masken-)Bällen in der Mitte des 18. Jahrhunderts dar. Zum anderen ergab sich mit der Eröffnung des Theaters (1766), das ebenfalls einen geräumigen Ballsaal beherbergte, die Möglichkeit, regelmäßig große Bälle abzuhalten. Die Institutionalisierung und Kommerzialisierung des Stralsunder Theaters als Ballort verstärke sich nach den Huldigungsfeierlichkeiten. Als Organisatoren traten Prinzipale auf, deren vornehmliches Interesse in einer soliden Finanzierung ihrer Wandergesellschaft lag. Neben den Vorstellungen ihres dramatischen Repertoires versuchten sie daher gleichzeitig, attraktive Angebote für eine große und zahlungskräftige Ballgemeinschaft zu liefern. Da der Ständegedanke bei den geselligen Zusammenkünften eine untergeordnete Rolle spielte, begegneten sich in dem neuen Freiraum regelmäßig Beamte der schwedischen Regierung oder der Stadt, Kaufleute, Offiziere oder adlige Gutsbesitzer. In Reval, das bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts kein festes Theater beheimatete, taten sich Klubs als (semi-)öffentliche Gastgeber von ständeübergreifenden Bällen hervor. Die Mitglieder der Bürgerlichen Klubbe investierten nach ihrer Konstituierung im Jahre 1781 viel Geld in den Umbau des Vereinshauses, sodass ein großer Ballsaal entstand. Zwar strebten sie nicht danach, allen Revaler Bürgern eine Örtlichkeit für Tänze zu bieten, da sie z. B. den Handwerkerstand ausschlossen und nur in begrenztem Maße „fremden“ Personen, d. h. Nicht-­Mitgliedern, Einlass gewährten. Dennoch boten sie einem relativ breiten und heterogenen Bevölkerungsteil festliche Ballabende, wovon die steigende Mitgliederzahl zeugt: Gehörten 1781 nur 50 Personen der Gesellschaft an, stieg die Zahl kontinuierlich auf 250 im Jahre 1804. Darüber hinaus boten die Societät auf dem Dom und die Einigkeit ähnliche Tanzveranstaltungen, weshalb ein reger Kontakt zwischen Beamten der russischen Regierung, städtischen Beamten, Kaufleuten, Gelehrten oder Adligen vom Land möglich war. (Masken-)Bälle erlebten im Untersuchungszeitraum einen derartigen Zuspruch, dass es sich finanziell sogar lohnte, diese an ausgewählten Orten im Sommer durchzuführen. Der Kurort Kenz in Schwedisch-­Pommern bot dafür hervorragende Voraussetzungen, da der Gesundbrunnen einerseits illustre Patienten von nah und fern anzog. Anderseits verlangten die zahlenden Gäste neben den medizinischen Behandlungen ein unterhaltsames Programm, bei dem Bälle nicht fehlen durften. Im Unterschied zu traditionellen Bällen, die auch weiterhin Bestand hatten, behandelten die Organisatoren alle regulären Gäste gleich. Sobald ein Gast seinen Eintritt in Kenz oder Stralsund bezahlt hatte, durfte jeder die gleichen Rechte beanspruchen. In Reval soll-

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Bälle und Maskeraden

ten die Mitglieder eines Klubs sowie die regulär eingeführten Gäste ebenfalls die gleichen Tafel- und Tanzfreuden genießen. Obwohl Feste qua Definition schon eine Abgrenzung zum alltäglichen Leben bedeuten, erlaubte das Tragen einer Maske, die zumindest die Illusion von Anonymität symbolisierte, viele Freiheiten, die von den sonst geltenden Normen abwichen. Wer sich maskiert zeigte, wollte unerkannt scheinen, damit die außerhalb des Tanzplatzes geltenden Normen und Gesetze kurzzeitig aussetzten. Mit anderen Worten ermöglichte insbesondere das Tragen von Masken und Verkleidungen soziale Interaktionen in den untersuchten borderlands. Doch selbst in dieser ungezwungen anmutenden Atmosphäre herrschten verpflichtende Verhaltensregeln, die auf Gesetzen oder Konventionen beruhten. Wie am Beispiel der Revaler Klubbälle aufgezeigt wurde, schränkten vor allem die ungeschriebenen Normen das Vergnügen der Gäste ein, wovon besonders die Frauen betroffen waren. Sie sollten nicht wild tanzen, da es sündiges Verhalten offenbarte und zudem die eigene Gesundheit sowie die ihrer Kinder gefährdete; sie sollten sich „natürlich“ kleiden und gleichzeitig den Konventionen der Mode anpassen. Frauen durften nicht mit Fremden sprechen und mussten trotzdem unterhaltsam sein. Derartige mitunter divergierende Ansichten, die das „schöne Geschlecht“ zum Diskussionsgegenstand degradierten, wirkten sich nachteilig auf ihr zwangloses Vergnügen aus. Für die potenziell konfliktgeladenen Momente der Bälle, zu denen die Verköstigung der Gäste, der Tabakkonsum der Männer und das Arrangement der Tänze zählten, entwarfen die Veranstalter detaillierte Ball- und Tanzordnungen. Durch das Verlosen des Tanzplatzes, das präzise geregelte Verfahren der Billettvergabe und der Speiseaufnahme beförderten sie eine möglichst hierarchiefreie Atmosphäre, in der lediglich das Vergnügen der zahlenden Gäste oder Klubmitglieder im Mittelpunkt stand. Für die reibungslose Umsetzung der Gesetze garantierten die verantwortlichen Aufseher, die zudem Unterstützung von anderen Gästen erhielten. Denn es lag im eigenen Interesse der Besucher/innen, dass die Tanzveranstaltung regelkonform verlief, da die Obrigkeit ihren Freiraum sonst reguliert hätte. Im Ergebnis herrschte eine ähnliche soziale Kontrolle wie außerhalb des Ballsaals, nur dass die normative Grundlage ein anderes Verhalten zuließ und damit einen Freiraum darstellte. Mit der rigorosen Einhaltung der Gesetze schränkten die Veranstalter automatisch das Vergnügen einiger Ballgänger/innen ein. Wenn es die Ordnung besagte, endete ein Menuett erst nach genau einer Stunde oder die Anglaise spielte präzise 30 Minuten, ob die Gäste das goutierten oder nicht. Es galt für die Organisatoren stets, den Erhalt der „guten Ordnung“ zu gewährleisten, wenn man weitgehend autonom von obrigkeitlichen Bestimmungen bleiben wollte. Falls einzelne Personen den Verlauf der Abendveranstaltung störten, befähigten die Gesetze die Vorsteher und die Kommission allgemeingültige Strafen zu verhängen, denen sich die Delinquenten nur schwer entziehen konnten.

VI. Fazit Die vorliegende Untersuchung zeigt, wie eine komplizierte Wechselwirkung von Angebot und Nachfrage die Entstehung neuer Freiräume in den Städten Stralsund und Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ermöglichte. Dabei ist in Anlehnung an Martina Löw unter einem Freiraum eine selbstbestimmte Anordnung von Menschen oder Gütern zu verstehen. Sofern sich ein ähnliches Ensemble aus Menschen und Gütern regelmäßig an einem Ort positioniert oder positioniert wird, wird es auf eine bestimmte Weise wahrgenommen, was wiederum das Verhalten der versammelten Akteure beeinflusst. Das Zusammenspiel aus Wahrnehmen und Handeln lässt Routinen entstehen, sodass sich die Freiräume institutionalisieren können. Stralsund und Reval exemplifizieren borderlands (Grenzräume) im Ostseeraum, weil sie in der Peripherie großer Reiche lagen. Borderlands entstehen dort, wo sich beispielsweise politische, soziale oder kulturelle Grenzen überlappen, wodurch sich vielfältige Möglichkeiten der Interaktion ergeben. Während die Bevölkerung Stralsunds (Schwedisch-­Pommerns) an der südlichen Grenze des Schwedischen Reiches und der nördlichen Peripherie des Heiligen Römischen Reiches lebte, befanden sich die Einwohner Revals (Estlands) am westlichen Ende des Russischen Reiches. Dementsprechend wirkten in beiden Städten Akteure des Zentrums, zu denen u. a. Verwaltungsbeamte und Offiziere gehörten. Gleichzeitig sicherten sich Stralsund und Reval lange Zeit weitreichende Autonomierechte, weshalb die lokalen und regionalen Eliten das gesellschaftliche Leben entscheidend prägten. Folglich konnten die Vertreter unterschiedlicher sozialer oder geographischer Herkunft und Interessen miteinander in Kontakt treten und die neuen Freiräume gemeinsam gestalten. Im Untersuchungszeitraum galten öffentliche Vergnügungen und Geselligkeit immer weniger als hedonistischer Müßiggang oder sozialsubversive Praktiken, sondern entwickelten sich zu akzeptierten Zielen der „Freizeitgestaltung“. Auf eine parallel verlaufende Tendenz verwies die historische Forschung bei materiellen Konsumgütern. Demnach kam es zu einer „Entmoralisierung“ von vorher suspekten Waren wie Luxusgegenständen, sodass diese von interessierten Konsumenten ohne Beschädigung ihres Ansehens erworben werden konnten.1 Das Wort „Freizeit“ existierte zwar im zeitgenössischen Sprachgebrauch noch nicht in seiner heutigen Bedeutung, die eine klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit bzw. Arbeits- und Wohnort voraussetzt, aber das Phänomen „Freizeit“ gab es bereits. Diese Zeit diente der sozial anerkannten Rekreation durch Vergnügen und Geselligkeit. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm der wohlhabende Teil der Bevölkerung öffentlich an Zahlen- und Klassenlotterien, Kartenspielen, Theatervorstellungen, Bällen

1 Vgl. dazu bspw.: Dominik Schrage: Wertsachen, Luxusgüter, Spielsachen (Konsum und der Nutzen der unnützen Sachen): Einleitung, in: Frauke Berndt und Daniel Fulda (Hrsg.): Die Sachen der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale, Hamburg 2012, S. 577 – 583. Darüber hinaus sind auch die Aufsätze dieser Sektion empfehlenswert.

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Fazit

und Maskeraden teil, ohne das soziale Prestige zu gefährden. Im Gegenteil, die Mitgliedschaft in einem geselligen Verein, in dem vernunftgeleitete Unterhaltungen stattfanden, oder der Besuch und die Kritik eines Schauspiels erhöhten das gesellschaftliche Ansehen sogar. Lotterien beförderten – zumindest in begrenztem Maße – das Allgemeinwohl und ließen die Spielenden in einem positiven Licht erscheinen. Es verwundert daher nicht, dass der Bedarf nach diesen Unterhaltungsmöglichkeiten deutlich stieg. Um die wachsende Nachfrage adäquat zu decken, musste das Angebot vergrößert und verbessert werden, was mit einer stetigen Professionalisierung und Kommerzialisierung erreicht wurde. Mit entsprechenden Theatern, Klubs oder Lotterieunternehmen erhielten die untersuchten Freiräume dann einen institutionellen Rahmen. Wenn man nun fragt, welche öffentlichen neuen Freiräume sich konkret um Glücksund Schauspiele sowie (Masken-)Bälle herausbildeten (erste Leitfrage), fällt die Antwort für Stralsund und Reval differenziert aus. In beiden Städten gab es um 1750 Klassenlotterien, die wegen der hohen Lospreise nur wenigen eine Teilnahme ermöglichten. Obwohl insbesondere in Reval Anstrengungen erkennbar waren, die Lospreise für einen größeren Käuferkreis erschwinglich zu gestalten, kostete das Billett einer Klassenlotterie immer noch verhältnismäßig viel Geld. Damit schlossen die Veranstalter den ärmeren Teil der Bevölkerung aus. Hingegen bot sich für finanzkräftige Personen die Chance, selbstbestimmt an einem Spiel teilzunehmen, bei dem nicht die gesellschaftliche Stellung über das Resultat entschied. Aufgrund der Klassenlotterie positionierten sich demnach verschiedene gesellschaftliche Gruppen in diesem institutionalisierten Freiraum, der in seiner Entscheidungslogik von der traditionellen Ständehierarchie grundlegend differierte. Während die Freiräume der Klassenlotterien für einen Großteil der Bevölkerung unzugänglich blieben, senkte die Zahlenlotterie (Lotto di Genova) die Zugangsbeschränkung aufgrund der niedrigen Mindesthöhe der Wetten deutlich. Nun konnten selbst einfache Handwerker oder Soldaten mitwirken, sofern die Obrigkeit dieses Glücksspiel akzeptierte. Im Russischen Reich untersagte Katharina  II. 1771 sämtlich Lotterieformate, sodass sich keine Zahlenlotterie in Reval etablierte und selbst die Klassenlotterien nicht weitergeführt werden durften. Der schwedische König billigte jedoch die Einrichtung eines Lotto di Genova, weshalb zwischen 1770 und 1805 alle, die wenigstens etwas Geld aufbringen konnten, in den Genuss des Freiraums kamen. Hier durfte jeder ‚Glücksritter‘ seine eigene Strategie verfolgen und auf einen nennenswerten Gewinn hoffen. Sicherlich verführte diese im Alltag sonst verwehrte Chance insbesondere arme Personen dazu sich zu verschulden, wodurch sie sich entweder endgültig ruinierten oder sich Geld auf illegalem Wege beschafften. Aufgrund des Drucks der Landstände, die vordergründig auf die sozialen Konsequenzen der Zahlenlotterie verwiesen, sah sich der schwedische König 1805 gezwungen, das Patent für dieses Glücksspielformat auslaufen zu lassen. Karten- und Würfelspiele in Wirtshäusern verbot die Obrigkeit zwar nicht generell, reglementierte diese im Verlauf des 18. Jahrhunderts allerdings verstärkt, wie das Beispiel der Stralsunder Glücksspielordnungen und deren Implementierung illustriert. Die geselligen Spiele in Wirtshäusern, bei denen die Teilnehmer Geld setzten und das Glück über den

Fazit

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Ausgang entschied, zählten zu den Hasardspielen, die es zu verhindern galt. Die obrigkeitliche Fürsorge begrenzte damit besonders die Freiräume der unteren Stände, die sich gerne in Schänken vergnügten und unterhielten. Dagegen konstituierten sich gesellige Vereine als Ort, an dem u. a. Spiele geduldet wurden. Revaler Klubs wie die Bürgerliche Klubbe (Erholung) oder Einigkeit offerierten ihren Mitgliedern, die sich aus der gesellschaftlichen Elite rekrutierten, Kartenspiele und Billard außerhalb der regulären Kontrollmechanismen. Abgesehen von den durch Mehrheitsentscheid selbst auferlegten Normen durften die zugangsberechtigten Herren zu ihrem Vergnügen frei miteinander verkehren. Dabei beließen sie es natürlich nicht bei Spielen. Die Klubmitglieder kommunizierten miteinander, lasen Zeitungen und Zeitschriften, lauschten Konzerten und organisierten (Masken-) Bälle, ohne dass sonst geltende ständische Normen und Konventionen in dem Freiraum offiziell zum Tragen kamen. In Stralsund konnte die gesellschaftliche Elite im Theater (Masken-)Bälle feiern, Konzerte hören und gelegentlich Glücksspiele betreiben. Doch hauptsächlich sorgte diese Institution für die Inszenierung von dramatischen Stücken und Opern, zu denen jeder Zugang erlangte, der einen Obolus entrichtete. Der Eintritt staffelte sich in drei Kategorien: Galerie, Parterre und Loge. Die günstigen Galerieplätze waren für einen Großteil der Bevölkerung zumindest gelegentlich erschwinglich. Eine Karte für das Parterre kostete schon das Doppelte, während ein Logengast am meisten ausgeben musste. Die Differenzierung der Preise wirkte sich ebenfalls auf die räumliche Verortung der Zuschauer/innen im Theater aus. Dennoch erhielten alle Zutritt zu demselben Stück, sodass ein Querschnitt der lokalen Bevölkerung einen eng begrenzten Ort als Freiraum nutzte. Für die Mehrheit war das Theater ein interaktiver und kommunikativer Ort, an dem alle das dargebotene Schauspiel kommentierten oder ignorierten, wie sie wollten. Erst im Laufe des Untersuchungszeitraums versuchten einige Theaterkritiker zusammen mit den Kennern des Parterrepublikums, die Deutungshoheit über das akzeptierte Verhalten zu erlangen. Insgesamt blieb das Stralsunder Theater allerdings, wie so viele andere Schauspielhäuser und die Revaler Bühne, ein sozial heterogener Ort, der vielfältige Freiräume bereithielt. Die Beantwortung der zweiten Leitfrage, in welchem Maße sich die Teilnehmer/innen bei den untersuchten geselligen Vergnügungen frei und selbstbestimmt entfalten konnten, klang in den Ausführungen zu den neuen Freiräumen in Stralsund und Reval bereits an. Das Verhalten der Schauspiel- und Ballgäste sowie der Glücksspieler/innen durfte nicht ‚frei‘ im Sinne von ‚willkürlich‘ sein. Zwar ruhten einige gesellschaftliche Normen und Konventionen, wodurch man sich anders als sonst üblich benehmen konnte. Jedoch musste man sich gleichzeitig an eine Reihe unterschiedlicher offizieller und inoffizieller Normen halten. Besonders eindrücklich traten die Beschränkungen bei den Bällen der Revaler Klubs zutage. Umfangreiche Statuten zum allgemeinen Miteinander und vor allem zum Ablauf bei Bällen setzten dem individuellen Vergnügen detailliert festgesetzte Grenzen. Wer an einem Ball teilnehmen wollte, musste zunächst ein gültiges Billett erhalten. Nach dem Einlass durfte keiner einfach speisen oder rauchen, wie es ihm beliebte. Zudem dauerte jeder Tanz nur eine bestimmte Zeit und bedurfte einer geregelten Ausführung. Über die

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Fazit

Einhaltung der Statuten wachten Vertreter der Kommission und sprachen bei etwaigen Überschreitungen exakt definierte Strafen aus. Vom Alltag abweichende Normen galten nicht nur bei Revaler Klubbällen, da die Verantwortlichen des Stralsunder Theaters ebenfalls das Verhalten bei den Maskeraden und anderen Tanzgelegenheiten reglementierten. Dabei hemmten die Gesetze nicht unbedingt das Ausleben des Freiraums, weil die Maskenpflicht beispielsweise einen unkomplizierten Kontakt zwischen Herren und Damen, den unterschiedlichen Ständen oder sonst untersagtes Glücksspiel ermöglichte. Dennoch genossen maskierte Personen lediglich eine gespielte Anonymität, die ihnen größere Freiheiten als im Alltag erlaubte, ohne sie aber völlig der sozialen Kontrolle zu entziehen. Des Weiteren hinderte die inoffizielle Etikette insbesondere Frauen, diesen Freiraum aktiv zu gestalten. Sie mussten sich natürlich kleiden und durften nicht wild tanzen, um ihre eigene Gesundheit und das Kindeswohl nicht zu gefährden. Trotzdem sollten sie beim Tanzen gut aussehen und sich angemessen unterhalten können. Die gültigen Verhaltensweisen – ob offizielle oder inoffizielle Etikette – bedeuteten eine Beschränkung des Freiraums für jeden einzelnen Ballgast, sicherten jedoch gleichzeitig die Ordnung innerhalb der ständeübergreifenden, männlich dominierten Elite. Dabei wurden Störfälle entweder innerhalb des Klubs geahndet oder sogar an die obrigkeitlichen Behörden weitergereicht, wovon das Verhalten der russischen Offiziere bei der Einigkeit zeugte. Bei Theatervorstellungen konnten sich die Zuschauer/innen einerseits vergnügen und sogar das Repertoire aktiv mitbestimmen, während sie die geltende Ordnung nicht unterminieren durften. Trotzdem kletterten einzelne Personen aus dem Parterre in die Logenränge oder forderten ein zuvor obrigkeitlich verbotenes Stück krawallartig. Zwar kam es in Stralsund nicht zu Unruhen, die nach Schillers Werk „Die Räuber“ befürchtet wurden. Doch eine Ansammlung von Menschen, unter denen sich im Parterre viele junge, potenziell aufrührerische Offiziere befanden, musste die Obrigkeit mit gesetzlichen Bestimmungen und Aufsichtspersonen unter Kontrolle halten. Lotterieunternehmen schränkten die Entfaltungsmöglichkeiten der Bevölkerung ebenfalls ein. Klassenlotterien hielten den Kreis der Spielenden grundsätzlich klein, da lediglich diejenigen Lose erwerben konnten, die über gewisse finanzielle Mittel verfügten. Zahlenlotterien erforderten zwar weitaus geringere Mindesteinsätze, doch der Veranstalter behielt sich vor, bestimmte Zahlen nachträglich zu streichen oder besonders gewinnbringende Tipps (z. B. die „Quine“) gar nicht erst zuzulassen. In der Praxis sorgten derartige Spielregeln dafür, dass es nicht zu einer unkontrollierten Vermögensverteilung kam, obwohl Klassen- und Zahlenlotterien theoretisch eine sonst nicht bekannte Chancengleichheit versprachen, da wirklich alle Teilnehmenden gewinnen konnten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Klubs, Theater oder Lotterieunternehmen auf der einen Seite einen vom sozialen Alltag zu unterscheidenden und neue Möglichkeiten zur Interaktion bietenden Freiraum eröffneten. Auf der anderen Seite folgten die Zugangsbeschränkungen und Verhaltensweisen präzisen Normen oder Gepflogenheiten. Die Kommerzialisierung und Institutionalisierung der vorgestellten Freiräume verlief von Fall zu Fall unterschiedlich (s. die dritte Leitfrage), obwohl zwei Faktoren immer wieder

Fazit

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vorzufinden waren. Zum einen bestand eine Nachfrage nach öffentlichen Vergnügungen und Gelegenheiten der sozialen Interaktion; zum anderen legitimierte ein wohltätiger oder nützlicher Zweck die entstehenden Institutionen. Wandergesellschaften mussten traditionell einen Obolus für die Bedürftigen der Stadt entrichten, was jedoch nicht ihrem primären Ziel entsprach. Für sie ging es eher ums finanzielle Überleben und gesellschaftliche Akzeptanz. Die Theatergründungen von Stralsund und Reval beriefen sich dagegen ausdrücklich auf den Benefizcharakter der Unternehmungen. So eröffnete das Stralsunder Theater 1766 explizit mit dem Ziel, ein dringend benötigtes Waisenhaus zu finanzieren. Die Revaler Liebhabergesellschaft machte es sich ab 1784 ebenfalls zur Aufgabe, z. B. zum Wohle der estnischen Landbevölkerung aufzutreten. Beide Projekte ergaben sich aus der vorhandenen Nachfrage nach Schauspielen – einem Vergnügen, für das das Publikum bereitwillig zahlte. Im alltäglichen Theaterleben spiegelte sich die Kommerzialisierung des Theaterbetriebs in der Entwicklung des Repertoires wider. Die mit Abstand bedeutendste Einnahmequelle der in Stralsund auftretenden Wandergesellschaften stellten zahlende Zuschauer/innen dar. Als Pächter des Theatergebäudes verantwortete ein Prinzipal, d. h. der Direktor einer Schauspieltruppe, den Erfolg seines Unternehmens, wozu natürlich der finanzielle Ertrag gehörte. Das Unternehmen reüssierte nur, wenn der Prinzipal möglichst viele Zuschauer/ innen in die Vorstellungen lockte, da sich in Stralsund keine dauerhaften Investoren oder betuchten Liebhaber fanden. Folglich richtete sich das Repertoire, abgesehen von einigen Beschränkungen der Obrigkeit, bestmöglich nach den Wünschen des Publikums. Die Schauspielgesellschaften führten dementsprechend zumeist massenwirksame Stücke auf, zu denen während des gesamten Untersuchungszeitraums Komödien gehörten. Trauerspiele, die in den 1760er- und 1770er-­Jahren noch regelmäßig auf dem Spielplan standen, verloren vor allem gegenüber Operetten und Opern an Bedeutung. Aus wirtschaftlicher Perspektive ergab sich für die Prinzipale nun das Problem, dass Opern aufgrund des notwendigen Orchesters sehr teuer zu produzieren waren. Selbst große Publikumserfolge wie Mozarts „Zauberflöte“ sicherten keinen ertragreichen Theaterbetrieb. Zu den am häufigsten gespielten Autoren der Stralsunder Bühne zählten die internationalen Dramatiker Beaumarchais, Shakespeare und Voltaire. Lessings und Schillers Werke erhielten ebenfalls noch viel Zulauf, konnten jedoch nicht mit den massenwirksamen Stücken von Babo, Gotter, Schröder, Ziegler und vor allem Iffland und Kotzebue mithalten. Von den Komponisten traten hauptsächlich Ebers, Dalayrac, Dittersdorf und Mozart in Erscheinung. Das Repertoire in Reval folgte dem eben skizzierten Trend, nur dass das Liebhabertheater wegen seiner Monopolstellung und der beschränkten darstellerischen Mittel der Mitglieder nicht unmittelbar auf das Publikum reagieren musste und konnte. Zwar lag es nahe, die Publikumsmagneten aus der Feder Kotzebues, der der Gesellschaft als aktives Mitglied für einige Zeit angehörte, aufzuführen. Allerdings befriedigten sie die Nachfrage nach Opern nicht, zumal die Gesellschaft aufgrund unterschiedlicher Umstände selbst den Bedarf nach Schauspielen am Anfang der 1790er-­Jahre nur noch sporadisch bediente. Daher empfing das Revaler Publikum die Prinzipalin Tilly, die vor allem Opern und Ope-

302

Fazit

retten darbot, erwartungsvoll. Anders als in St. Petersburg fand Tilly in Reval Anklang und veranlasste einige Interessierte, Pläne für eine stehende Bühne auszuarbeiten. Ihnen ging es dabei vordergründig um den finanziellen Profit des Unternehmens und die Sicherung des Unterhaltungsangebots. Zwar scheiterte das Projekt nur kurze Zeit nach seiner Umsetzung, doch es exemplifiziert, wie deutlich Investoren das kommerzielle Potenzial einer Vergnügungsinstitution wahrnahmen. Bei der Lotterie gründete die Kommerzialisierung dieses Glücksspiels ebenfalls auf Nachfrage und Wohltätigkeit. Lotterien versprachen den Spielern hohe Geldsummen und Unterhaltung gegen Zahlung eines – gemessen am möglichen Gewinn – kleinen Einsatzes. Je nachdem, wie der Veranstalter das Lotterieformat gestaltete, erzeugte es eine ansehnliche Nachfrage. Die über das Glücksspiel bestimmende Obrigkeit rechtfertigte dessen Durchführung oder Genehmigung mit der Unterstützung gemeinnütziger oder wohltätiger Projekte. In Reval erhielten das Zuchthaus und die Olafs- bzw. Nikolaikirche monetäre Zuwendungen, während das Geld in Stralsund an das Waisenhaus oder infrastrukturelle Maßnahmen gehen sollte. Da die Stralsunder Ratsherren es als unabdingbar erachteten, dass die erzielten Einnahmen ausschließlich an die Obrigkeit flossen, verweigerten sie bei der Klassenlotterie von 1769/70 und der Zahlenlotterie ihre praktische Unterstützung. Diese Lotterien betrieb die Obrigkeit – in den genannten Fällen die schwedische Regierung – nämlich nicht eigenständig, sondern verpachte lediglich die Erlaubnis an einen Unternehmer, der die überschüssigen Einnahmen für seinen eigenen Profit erwirtschaftete. Der Unternehmer hatte nun einen Anreiz, möglichst viele Menschen zu diesem teilweise immer noch moralisch bedenklichen Glücksspiel zu reizen. Die russische Kaiserin Katharina  II. verbot, wie bereits erwähnt, jegliche Lotterieformen aus demselben Grund 1771. Daher wurde das institutionelle Lotteriespiel nur bedingt institutionalisiert, wenngleich in beiden untersuchten Städten klare Ansätze dieser Tendenz auszumachen sind. Die Einrichtung der geselligen Klubs zielte primär darauf ab, seinen Mitgliedern vergnügliche und gesellige Stunden zu gewähren. Dazu gehörten ein Klubgebäude mit einem repräsentativen Ballsaal und vielfältigen anderen Zimmern sowie Veranstaltungen, die die Räumlichkeiten mit Leben füllten. Die Untersuchung betonte besonders den Aufwand für Bälle, Karten- und Billardspiele, doch auch Zeitungen, Zeitschriften oder Konzertabende kosteten viel Geld. Folglich musste sich die Bürgerliche Klubbe, deren langfristige Haupteinnahmequelle die Mitgliedsbeiträge sicherten, immer mehr Herren aufnehmen. Da die maximale Mitgliederzahl bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts stets erreicht wurde, bestand ein ausreichend hoher Zuspruch innerhalb der Bevölkerung. Der wohltätige Aspekt dieser Institution kam dadurch zum Ausdruck, dass man bei jeder Vollversammlung eine Kollekte für die Stadtarmen kreisen ließ und auf Nachfrage des Generalgouverneurs für ein russisches Waisenhaus spendete. Schließlich bleibt noch die Frage zu beantworten, wie sich die borderlands-­Lage Stralsunds und Revals auf die Ausbildung der neuen Freiräume auswirkte (s. die vierte Leitfrage). Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Interaktion der Akteure, die unterschiedliche kulturelle und soziale Hintergründe aufwiesen, die Institutionalisierung von Orten

Fazit

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des Vergnügens und der Geselligkeit beförderte. Die Stralsunder Johannisloge Zur Eintracht erhielt ihre Konstitution direkt aus Stockholm. Aus der Hauptstadt des Schwedischen Reiches kam zudem die Inspiration zur Gründung eines Waisenhauses in Stralsund. Wie bereits dargelegt, errichtete die Eintracht das Theatergebäude, um das nötige Geld zu erwirtschaften. Zwar scheiterten die Logenbrüder an der Gründung des Waisenhauses, doch das Theater entwickelte sich zu einem wichtigen sozialen Treffpunkt. An Schauspielabenden begegneten sich hier Kaufleute, Offiziere, Verwaltungsbeamte, Landadlige oder einfache Handwerker. Sogar der Generalgouverneur und Vertreter des schwedischen Königshauses wie Königin Luise Ulrike gaben sich die Ehre. Weiterhin bot sich das Theater als Festort für Krönungsfeierlichkeiten an, die wiederum als Vorbild auf städtische Bälle herangezogen wurden. Des Weiteren machte sich die Verbindung zum Heiligen Römischen Reich bemerkbar, da die dort aktuellen Lotterieformate in Stralsund (Schwedisch-­Pommern) Einzug hielten. Die schwedische Regierung bzw. der schwedische König persönlich beförderten diese Entwicklung, obwohl die Landstände teilweise gegen diese Maßnahmen vorgingen. Der Einfluss der schwedischen Regierung wirkte sich ebenfalls auf die Schauspielerlaubnis der Wandergesellschaften aus. So kam das Stralsunder Publikum in den Genuss von Bühnenstücken, die ihm sonst verwehrt geblieben wären. In Reval beeinflusste die Zugehörigkeit zum Russischen Reich die neuen Freiräume dahingehend, dass viele Verwaltungsbeamte oder Offiziere als zahlende Mitglieder den Klubs beitraten. Wahrscheinlich hätte Reval ohne ihren Zuspruch nicht so viele gesellige Vereine unterhalten können. Ganz allgemein lässt sich darüber hinaus konstatieren, dass das gesellige Aufblühen der Stadt mit der Statthalterschaftszeit, d. h. dem Zentralisierungsversuch der Kaiserin, zusammenfiel. Die traditionelle Ständeordnung konnte zwar nicht aufgehoben, wohl aber etwas gelockert werden. Daher reüssierten Initiativen wie das Liebhabertheater, das von dem umstrittenen Staatsbediensteten August von Kotzebue entscheidend geprägt wurde. Sicherlich verhinderte die Zugehörigkeit zum Russischen Reich einige Unterhaltungsmöglichkeiten, wovon das Lotterieverbot zeugt. Doch insgesamt beförderte der mittelbare Einfluss aus St. Petersburg das Vergnügen und die Geselligkeit in Reval. In der vorliegenden Studie stand der Ostseeraum in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Fokus. Da die bisherige Freizeitforschung ihr Augenmerk auf spätere Epochen und/oder auf die (west-)europäischen Zentren richtete, bietet das hier bearbeitete, bisher wenig bekannte Quellenmaterial ein solides Fundament für eine systematische Analyse der neuen Freiräume in Stralsund und Reval. Die Untersuchung anderer Ostseestädte oder des ländlichen Raums könnte das entwickelte Bild weiter schärfen und die europäischen und globalen Verflechtungen des beschriebenen Prozesses noch deutlicher herausarbeiten.

VII. Anhang 1. Abkürzungsverzeichnis […]

Auslassung oder Ergänzung bei Zitaten durch den Verfasser Auszug der Neuesten Weltbegebenheiten (ab 1772 Stralsundische Zeitung) Alte Universitätsbibliothek Greifswald Aufl. Auflage Bd./Bde. Band BK Baltica Kogu („Baltische Sammlung“ der Universitätsbibliothek Tallinn) bspw. beispielsweise ca. circa ders. derselbe DGEJ Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts d. h. das heißt dies. dieselbe[n] Diss. Dissertation ebd. ebenda EdNz Enzyklopädie der Neuzeit EAA Eesti Ajalooarhiiv (Estnisches Historisches Archiv) fol. Folioblatt, Doppelseite GStPK Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Hrsg. Herausgeber hrsg. von herausgegeben von Kap. Kapitel LaGr Landesarchiv Greifswald NF Neue Folge Nr. Nummer o. J. ohne Jahresangabe o. O. ohne Ortsangabe r recto (auf der vorderen Seite eines Blatts) Rep. Repositorium (Aufbewahrungsort im Archiv) RWN Reval(i)sche Wöchentliche Nachrichten S. Seite s. siehe Sp. Spalte StASt Stadtarchiv Stralsund StAWi Stadtarchiv Wismar StZ Stralsundische Zeitung (bis 1771 Auszug der Neuesten Weltbegebenheiten) ßl. Schilling (Währungseinheit); 1 Reichstaler pomm. Kurant = 48 ßl. ANW AUBGr

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Anhang

TLA UBT

Tallinna Linnaarhiiv (Stadtarchiv Tallinn) Universitätsbibliothek Tartu usw. und so weiter v verso (auf der gewendeten Seite eins Blatts) vgl. vergleiche zit. aus zitiert aus z. B. zum Beispiel z. T. zum Teil

2. Verzeichnis der Karten, Diagramme und Tabellen Karte 1 (S. 44): Schwedische Besitzungen (ohne Wismar) im südlichen Ostseeraum nach 1720 Karte 2 (S. 51): Estland nach 1722 Diagramm 1 (S. 115): Anteil der verkauften Lose der Revaler Kirchenlotterien in Prozent Diagramm 2 (S. 258): Mitgliederzahl der Bürgerlichen Klubbe (Erholung), 1781 – 1804 Tabelle 1 (S. 77): Statistische Wahrscheinlichkeit auf Gewinne bei der Zahlenlotterie

3. Ortsnamenkonkordanz Im Text werden die zeitgenössisch in den Quellen gebräuchlichen Ortsnamen verwendet, die zumeist der deutschen Variante entsprechen. Aufgrund späterer politischer Veränderungen werden einige dieser Orte heute anders bezeichnet. Deutsch

Estnisch

Arensburg

Kuressaare

Baltischport

Paldiski

Borkholm

Porkuni

Danzig

Polnisch

Lettisch

Baltijski Port Gdańsk

Dorpat

Tartu

Hapsal

Haapsalu

Kiekel

Kiikla

Kolberg

Kołobrzeg

Königsberg Lais

Kaliningrad Laiuse

Libau

Liepāja

Mitau

Jelgava

Narwa

Russisch

Narva

307

Glossar Pernau

Pärnu

Oberpahlen

Põltsamaa

Ösel

Saaremaa

Reval

Tallinn

Riga

Rīga

Stettin

Szczecin

Stolp

Słupsk

Weißenstein

Paide

Wesenberg

Rakvere

Wollin

Wolin

4. Glossar 1 A la Guerre A la Guerre ist eine Form des Billardspiels, bei der mindestens drei Personen (Billard) mitmachen müssen, wenngleich auch mehr als zehn teilnehmen können. Am Anfang hinterlegt jeder Spieler einen bestimmten Einsatz. Zudem entscheiden die Spieler gemeinschaftlich, wie hoch der Preis für einen eingelochten Ball ist. Anschließend zieht jeder, ohne hinzusehen einen nummerierten Ball aus einem Beutel. Derjenige mit der niedrigsten Zahl beginnt das Spiel. Es folgen die anderen entsprechend der Höhe der Nummer auf ihrer Billardkugel. Grundsätzlich spielt jeder gegen jeden. Das Ziel jedes Spielers muss es sein, den Ball, der am nächsten an seinem eigenen liegt, einzulochen. Gelingt dies, so erhält der erfolgreiche Spieler den vorher vereinbarten Betrag; zusätzlich bekommt jeder andere Teilnehmer zwei Striche. Der geschlagene Spieler darf seinen Ball wieder aus der Hand ins Spiel bringen, so lange er noch nicht acht Striche hat. Wer acht Striche erreicht, ist „tot“. Wer als letzter „überlebt“, kriegt die anfangs getätigten Einsätze.



L’Hombre

L’Hombre (auch Lomber) steht für das span. Wort für Mann und wurde bereits im 15. Jahrhundert in Spanien erfunden. Es breitete sich über den französischen Hof Ludwigs XIV. in Europa aus und erfreute sich besonders in Adelskreisen großer Beliebtheit. Anders als z. B. Pharao ist es ein hochkomplexes Spiel, das mehr als 273 Millionen Spielergebnisse ermöglicht. Gewöhnlich wird es von zwei bis vier Personen gespielt, wobei die Variante zu dritt am gebräuchlichsten war. Grundsätzlich spielt ein Spieler gegen die anderen beiden und wettet dabei, wie viele Karten er zu gewinnen glaubt.

Partie (Billard)

Eine Partie „blanche“ oder „simple“ ist ein Billardspiel, bei dem zwei Personen gegeneinander spielen, wenngleich auch zwei Personen pro Team antreten dürfen. Ziel ist es, als erstes Team zwölf Punkte zu erreichen.

1 Für das Glossar wurde das folgende Werk als Quelle herangezogen: Christian Gottfried Flittner: Neuester Spielalmanach für Karten-, Schach-, Brett-, Billard-, Kegel- und Ball-­Spieler; zum Selbstunterrichte nach den gründlichsten Regeln und Gesetz, Berlin 2. Aufl. 1820.

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Anhang Pharao

Pharao (Pharaon, Faro, Pharo) erhielt seinen Namen daher, dass einer der Könige auf den Spielkarten als Pharao dargestellt war. Die Grundregeln sind verhältnismäßig leicht, sobald sich eine Person bereit erklärt, als Bankier zu fungieren, gegen den bis zu vier Spieler antreten. Der Bankier setzt einen Mindesteinsatz und gibt jedem Spieler ein livret (Buch), d. h. heißt die 13 Karten einer Farbenreihe von zwei bis As. Die Spieler können selbstbestimmt auf die Karten aus ihrem livret setzen. Sind die Einsätze gemacht, dreht der Bankier seine Karten (ein Packen französischer Spielkarten, d. h. 52 Karten) um. Dabei gewinnt entweder der Bankier oder der Spieler, wobei der erstere einen leichten rechnerischen Vorteil hat. Gewinnt der Spieler gegen den Bankier, kann jener seinen Gewinn riskieren, indem er paroli spielt. Sofern er wieder siegt, erhält der den dreifachen Einsatz. Anschließend besteht wieder die Möglichkeit zum Paroli und der Spieler kann das Vielfache seines Einsatzes erhalten.

Piquet

Piquet wird wie Skat mit 32 Karten gespielt. Es galt als anspruchsvolles Spiel, bei denen zwei Spieler gegeneinander antreten. Jeder erhält zwölf Karten und anschließend die Gelegenheit, die schlechtesten Karten wegzulegen und neue vom Ziehstapel, der aus acht Karten besteht, zu nehmen. Grundsätzlich sticht eine höhere Karte (z. B. das As) eine niedrigere (z. B. eine sieben). Zum Schluss gewinnt derjenige mit den meisten Punkten oder Stichen.

Whist

Whist wird mit 52 französischen Karten von vier Personen gespielt. Dabei handelt es sich um ein relativ einfaches Stichspiel, von dem jedoch vielfältige Varianten bestehen. Jeweils zwei Spieler werden am Anfang zu zwei Teams gelost. Alle Karten werden verteilt; jeder Spieler erhält also 13 Karten. Die letzte geteilte Karte ist Trumpf und wird den Spielern angezeigt. Nun müssen die Teams nach bestimmten Regeln möglichst viele Stiche erhalten, ohne dabei auf irgendeine Weise miteinander zu kommunizieren.

5. Preis- und Gehaltslisten Grundsätzliches für Stralsund (Schwedisch-­Pommern) Grundsätzliches für Reval (Estland)

1 Reichstaler = 48 Schillinge 1 Rubel = 100 Kopeken

Reval (Jahresgehälter in Rubel)2 Rats- und Gerichtsmitglieder ab 1787 Bürgerhaupt Hetling 800 Bürgermeister 180 Mündlicher Richter 120 Beisitzer im mündlichen Gericht 60 Polizeiamt ab 1787 Stadtvogt 450 Polizeivorsteher 250 2 Bei den genannten Gehältern sind keine Naturalbezüge, Akzidenzien usw. enthalten. Die Angaben folgen: Elias: Reval in der Reformpolitik, S. 209 – 210.

Preis- und Gehaltslisten

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Stadtteilvorsteher 250 Wachtmeister 60 Professoren und Lehrer 1787 Rektor des Gymnasiums 359 Professoren des Gymnasiums 257 Lehrer (Collega) des Gymnasiums 135 – 150 Städtische Beamte 1787 Hausschließer des Rathauses 190 Stadtphysikus 213 Stadtmusikus 71 Stadtbaumeister 50 Hebamme 20 Stadtmaurermeister 20 Jahresgehalt des Bediensteten Maddis in der Bürgerlichen Klubbe (in Rubel)3 1792 – 1794 60 1794 – 1800 72 1800 – 1804 96

Preise für Essen und Trinken in der Bürgerlichen Klubbe (in Kopeken)4 Bier (1787) Kaffee (in den 1780er-­Jahren) Glas Punsch (1798) Abendmahlzeit (1791) Mittagsmahlzeit (1791)

5 12 – 15 15 35 40

Stralsund (Jahresgehälter in der 2. Hälfte des 18. Jhs. in Reichstaler)5 Generalgouverneur 6.000 Ratsherr 400 – 1.200 Regierungsrat 800 Pastor 100 – 400 Handwerker (kein Meister) 55 Typischer Tagelöhner 22 Holzvogt 18 Kutscher 15 Dienstjunge 13 Dienstmädchen 12 3 Die Angaben folgen den Protokollbüchern des Klubs: TLA, Rep. 1441.1.1 und TLA, Rep. 1441.1.2. 4 Ebd. 5 Bei den genannten Gehältern sind ebenfalls keine Naturalbezüge oder dergleichen beinhaltet. Die Angaben folgen: Rabuzzi: At Home in the Market, S. 434 – 436.

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Anhang

Preise für Dinge des (alltäglichen) Gebrauchs in Stralsund (1770/71)6 Teetasse Bierglas Porzellanteller Bratpfanne Paar Pantoffeln Männerhemd Hose (blau) Stuhl Bett mit Bettkleidern Bettstelle mit Gardine Eichensarg

2 ßl. 3 ßl. 5 ßl. 12 ßl. 12 ßl. 16 ßl. 32 ßl. 1 (Reichstaler) Rtlr. 5 Rtlr. 8 Rtlr. 10 Rtlr.

6. Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Ungedruckte Quellen StASt – Stadtarchiv Stralsund Rep. 3 Das Gerichtswesen der Stadt Stralsund Rep. 13 Stralsund in den Landständen Rep. 14 Gesundheits- und Sozialwesen der Stadt Stralsund Rep. 18 Polizeiwesen Rep. 28 Kirchen Rep. 29 Der Oberbürgermeister/Hauptverwaltung Rep. 33 Quartierkammer und Steuerverwaltung Rep. 58 Rat der Stadt – Nachgeordnete Einrichtungen TLA – Tallinna Linnaarhiiv (Stadtarchiv Tallinn) Rep. 87 Tallinna Mustpeade Vennaskond (Die Bruderschaft der Schwarzhäupter zu Reval) Rep. 190 Gildi kassa (Gildenkasse) Rep. 230 Tallinna Magistraat (Der Revaler Magistrat) Rep. 1441 Tallinna Kodanikkude klubi (Der Revaler Bürgerklub)



6 Bei diesen Preisen handelt es sich um die Selbstdeklaration des finanziellen Verlusts der Stralsunder Bürger nach der Explosion des Koepckenturms am 12. Dezember 1770. Es ist anzunehmen, dass die Geschädigten ihr Eigentum eher etwas höher schätzen. StaSt, Rep. 33, Nr. 651. Die Angaben wurden dem Autor freundlicherweise von Dr. Robert Oldach zur Verfügung gestellt.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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StAWi – Stadtarchiv Wismar Prozessakten des Tribunals Ratsakten LaGr – Landesarchiv Greifswald Rep. 10 Schwedische Regierung in Stralsund Rep. 10a Schwedischer Generalgouverneur EAA – Eesti Ajalooarhiiv (Estnisches Historisches Archiv) Rep. 30 Eestimaa kubermanguvalitsuse (Gouvernementsregierung Estland) GStPK – Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Rep. 5.1.3 Freimaurerbestände

6.2 Gedruckte Quellen Zeitungen und Zeitschriften 7 Allgemeiner Litterarischer Anzeiger, 1801. Auszug der Neuesten Weltbegebenheiten/Stralsundische Zeitung, 1760 – 1805. Für Geist und Herz, 1786 – 1787. Journal des Luxus und der Moden, 1792, 1799. Litteratur- und Theater-­Zeitung, 1782 – 1783. Livländische Lese-­Bibliothek, 1796. Pommersches Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks, 1784 – 1785. Pommersches Krämerdütchen, 1775. Revaler Beobachter, 1889. Reval(i)sche Wöchentliche Nachrichten, 1772 – 1805. Ruthenia, oder Deutsche Monatsschrift in Russland, 1809 – 1810. Sundine. Unterhaltungsblatt für Neu-­Vorpommern und Rügen, 1832. Theater-­Journal für Deutschland, 1779, 1781. Theaterkalender auf das Jahr, 1775. Sonstige gedruckte Quellen Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-­kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, 4 Bde., Leipzig 2. Aufl. 1793 – 1801. Anonym: Die Briefe des Ungenannten, über Ehstlands Gewohnheiten, Sitten und Gebräuche, in: August von Kotzebue (Hrsg.): Für Geist und Herz, Bd. 1 (1786), S. 100 – 114 und S. 114 – 124; Bd. 2 (1786), S. 167 – 175 und S. 175 – 178. 7 Die Jahreszahlen hinter den aufgeführten Titeln beziehen sich auf die eingesehenen und verwendeten Jahrgänge.

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Anhang

Anonym: Über die Tyllische Schauspielergesellschaft zu Greifswald, in: Pommersches Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks 3/4 (1785), S. 327 – 340. Anonym: Bemerkungen über die Wäsersche Schauspieler Gesellschaft, bei ihrem Aufenthalt in Stettin, im Sommer 1784, in: Pommersches Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks 2, Nr. 1 (1784), S. 140 – 158. Anonym: Nicht ohne zureichenden Grund, oder Warum lieber in die Komödie, als in die Kirche?, in: Pommersches Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks 2 (1784), S. 96 – 112. Anonym: Auszüge aus Briefen, in: Theater-­Journal für Deutschland 17 (1781), S. 101 – 110. Anonym: Schlözer, Lotto und Pütter, o. O. 1780. Anonym: Handlungen betreffend das von dem Regierungsrath von Olthof und des sel. Cammerrath Giesen Erben revidenten ergriffene Remedium Revisionis, Stettin 1780 [in AUBGr]. Anonym: Der fürsichtige und glückliche Lotto-­Spieler, Frankfurt/Leipzig 1775. Anonym: Nachricht von den Feierlichkeiten der Landeshuldigung welche am 10ten November 1773 zu Stralsund vollzogen worden, Stralsund o. J. [in AUBGr]. Anonym: Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien, Stralsund 1768 [in AUBGr]. Anonym: Betrachtungen durch die zu Stralsund im April 1768 herausgekommenen Anmerkungen über die Zahlen-­Lotterien veranlasset, Stralsund o. J. [in AUBGr]. Anonym: Ueber die Betrachtung, durch die im April 1768 zu Stralsund herausgekommene Anmerkungen über die Zahlenlotterien veranlasset, Stralsund o. J. [in AUBGr]. Anonym: Das über die beglückte Ankunfft Seines Allergnädigsten Königs Des Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fursten und Herrn, Hern. Friedrichs, […], Stralsund 1731 [in AUBGr]. Arvelius, Friedrich Gustav: Skizze einer Geschichte der Revalschen Liebhaber-­Theaters von seiner Entstehung, seinem Fortgange, und seinem gegenwärtigen Zustande, in: Livländische Lese-­Bibliothek 1 (1796), S. 55 – 72. Arvelius, Friedrich Gustav: Fortsetzung und Beschluß des im 1sten Quartal-­Stück abgebrochenen Aufsatzes: Geschichte des Revalschen Liebhabertheaters, in: Livländische Lese-­Bibliothek, 4 (1796), S. 73 – 102. Biederstedt, Diedrich Hermann: Nachrichten von dem Leben und den Schriften neuvorpomerisch-­rügenscher [sic] Gelehrten seit dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bis zum Jahre 1822, Greifswald 1824. Casanova, Giacomo: Geschichte meines Lebens, hg. von Günter Albrecht, Bd. 10, Leipzig/Weimar 1987. Dähnert, Johann Carl (fortgesetzt von Gustaf von Klinckowström, Hrsg.): Sammlung gemeiner und besonderer Pommerscher und Rügischer Landes-­Urkunden, Gesetze, Privilegien, Verträge, Constitutionen und Nachrichten, Bd. 3, Stralsund 1799.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Personenregister A Ackermann, Konrad Ernst ​156, 257 Adelung, Johann Christoph ​276 Adolf Friedrich (König von Schweden) ​82, 84, 87, 90 Albaum, Franz Ulrich ​187, 260 – 261 Anna (Kaiserin von Russland) ​130 Anna Amalia (Herzogin von Sachsen-WeimarEisenach) ​167 Arvelius, Friedrich Gustav; Gymnasialprofessor, Schriftsteller ​168 – 173, 178 – 180, 185 – 187, 221 – 222 Arvelius, Martin Heinrich; Jurist, Schriftsteller ​ 169, 185

Christina (Königin von Schweden) ​45 Clayhills, Thomas ​105 Contius, Heinrich Andreas ​113 Cronegk, Johann Friedrich von ​194, 247 Cronhielm, Graf Johann ​118

B Babo, Marius Franz von ​192, 301 Bahrdt, Karl Friedrich ​184 Balk, Daniel Georg ​52 Barzanti; Prinzipal ​188, 196 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de ​192, 301 Bellman, Carl Michael ​85 Berger, Anton ​204, 228 – 229 Bertuch, Friedrich Justin ​32 – 33, 40, 174 Blix, Jonas ​148 – 149 Bluhm, Hermann ​105 – 107 Bogislaw XIV. (Herzog von Pommern) ​42 Boissy, Louis de ​181 Bouillon, Jean ​105 – 106, 109 Bretzner, Christoph Friedrich ​181, 187 Brömel, Wilhelm Heinrich ​181 Browne, Georg von ​148, 167, 180 Brühl, Alois Friedrich von ​181 Büchner, Johann Ludwig ​223

E Ebers, Carl Friedrich ​193, 301 Eggers, Hans Jacob ​104 – 106, 109 – 111 Ehrmann, Marianne ​284 Ekhof, Conrad ​156, 159, 174 Elisabeth (Kaiserin von Russland) ​101 Engel, Johann Carl Ludwig; Architekt ​223 Engel, Johann Jacob; Schriftsteller ​181 Engelbrecht, Anna Maria von ​265 Escherich, Johann Christoph ​189, 196, 245 Essen, Friederike Julie von; Ehefrau von Kotzebue ​168, 200 Essen, Otto von; Kapitänleutnant, Sohn von Reinhold ​148 – 149 Essen, Reinhold Wilhelm von; Oberkommandant von Reval, Vater von Friederike und Otto ​168

C Carlblohm, Margaretha Charlotte ​170 Casanova, Giacomo ​74, 101 – 102 Castro Lacerda, Graf Jacob de ​9, 137 Cederström, Bror ​202 Cervantes Saavedra, Miguel de ​255 Charisius, Christian Ehrenfried ​161, 163 – 165, 219 Christian IV. (König von Dänemark) ​38

D Dalayrac, Nicolas-Marie ​193, 301 Damain, Isaac ​72 Dehn, Eberhard ​140, 182 Dinnies, Johann Albert ​163 Ditters von Dittersdorf, Carl  193, 227, 235, 301 Döbbelin, Carl Theophilus ​196 Döbbelin, Karl Konrad Kasimir ​202

F Fendler; Prinzipal ​255 Fielding, Henry ​164 Forselius, Bengt ​50 Frese, Adrian Heinrich ​104 – 112 Friebe, Wilhelm Christian ​52 Friedrich Franz I. (Herzog von Mecklenburg) ​ 90 Friedrich II. („der Größe“, König von Preußen) ​49, 102 Friedrich II. (König von Dänemark) ​49, 102

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Personenregister

Friedrich Wilhelm („Großer“ Kurfürst von Brandenburg) ​43 Fritz, Friedrich Zacharias ​226 G Galland; Kaufmann ​82, 84 – 87 Gebauer, Martin Heinrich ​148 Gellern, Johann ​105 – 106, 109 Gernet, Johann Christian ​113 Gernet, Wilhelm Hinrich; Ratsverwandter ​ 104, 106, 109 – 110, 113 Giese, Joachim Ulrich ​86 – 88, 90, 161 – 163 Gilly; Prinzipal ​195 Glehn, Christian von ​170, 178, 185 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig ​163 Goethe, Johann Wolfgang von ​11, 167, 174, 247, 255, 272, 278 Goldoni, Carlo ​192 Gotter, Friedrich Wilhelm ​192, 301 Gottsched, Johann Christoph ​155, 159 – 160, 212 Großmann, Gustav Friedrich ​181 Guden, Philipp Peter ​124, 128 – 131 Guglielmi, Alessandro ​193 Gustav II. Adolf (König von Schweden) ​42, 49 Gustav III. (König von Schweden) ​46, 84, 86, 243, 245 – 246, 249, 254, 257, 271, 281, 294 Gustav IV. (König von Schweden) ​30 – 31, 46 H Haecks, Johann Hermann ​105, 107 Hartknoch, Johann Friedrich ​51 – 52, 201 Heinrich XI. Reuß (Graf von Plauen) ​82 Helwig, Jacob ​161 Henning, Gottfried ​223 Herder, Johann Gottfried ​52 Herling, Sven ​105, 110 Hessenstein, Reichsfürst Friedrich Wilhelm von ​202, 255, 291 Hill, Hinrich ​9, 117, 121 – 126, 129, 151 Hilverding, Johann Peter ​41, 190 Hindeberg, Nathanael Ernst ​190 Hippius, Johann Friedrich ​109 Höpken, Baron Arvid Niclas von ​83, 161 Hörschelmann, Ernst August Wilhelm ​32, 196 Hostowsky; Prinzipal ​255 Hupel, August Wilhelm ​48, 52, 180

I Iffland, August Wilhelm ​116, 169, 181, 192, 194, 197 – 198, 204, 223, 301 Iwan III. („der Große“, Zar von Russland) ​62 Iwan IV. („der Schreckliche“, Zar von Russland) ​48 J Jannau, Heinrich Johann von ​171, 179 Juchnewitz; Kaufmann ​92 – 94, 97 – 98, 100 Jünger, Johann Friedrich ​181 Jürgens, Johann Friedrich ​293 Justi, Johann Heinrich Gottlob von ​124, 252 K Kampe; Gastwirt ​291 – 292 Kant, Immanuel ​11, 15, 52 Karl XII. (König von Schweden) ​43 Karl XIII. (König von Schweden) ​100, 162 Katharina II. (Kaiserin von Russland) ​31, 52 – 53, 61, 66, 74, 101 – 102, 112, 136, 147, 151, 181, 184, 201, 233, 249, 286, 298, 302 Keller, Gotthard ​49 Kellmann, Carl Hermann ​90 Kerten, August Friedrich Wilhelm von ​218 Klopstock, Friedrich Gottlieb ​163 Klugen, Jacob Georg von ​169 Klünder, Emanuel Friedrich ​192 – 193, 226 Knigge, Freiherr Adolf von ​184, 253, 280 Koch, Peter ​173 König, Eva ​76 – 77 Kotzebue, August Friedrich Ferdinand von ​32, 35, 133, 135, 139, 148 – 149, 167 – 175, 177 – 178, 180 – 187, 192, 194, 196 – 201, 216, 223, 234, 260, 282 – 284, 293 – 294, 301, 303 Kotzebue, Friederike von (geb. von Essen) ​168, 200 Krull, Reinhold Friedrich ​105 Kübler, Johann Ferdinand ​192 – 194, 196 – 197, 224 – 227, 235 L Lado, Balthasar Hinrich ​106 Lambsdorff, Major Jakob von ​148 – 149 Langell, Andreas von ​147, 186 Langlois, Charles ​162 Leisewitz, Johann Anton ​181 Leppert; Prinzipal ​194, 219 – 220, 254, 267, 270

Personenregister

Lessing, Gotthold Ephraim ​15, 76 – 77, 155, 169 – 170, 181, 189, 192, 209, 212, 301 Lessing, Karl Gotthelf ​116, 189 Lichtenhagen, Wilhelm ​127 Liewen (Lieven), Graf Hans Henrik von ​91, 118 Lillo, Gerorge ​257 Lohmann, Ewert ​107 Lubinus, Eilhard ​41 Luise Ulrike (Königin von Schweden) ​ 188 – 189, 303 M Maria Theresia (Habsburger Erzherzogin und Königin) ​255 Martini, Christian ​257 Matthieu, Georg David ​250 Melon, Jean-François ​124 Merkel, Garlieb ​54 Meyendorff, Baron Gottlieb von ​170 – 171 Meyerfeldt, Graf Johann August von ​162 Meyrer, Johann Christoph ​222 – 223 Moier, Philipp Christian ​172 – 173 Monsigny, Pierre-Alexandre ​195 Moos, Heinrich ​160 Mozart, Wolfgang Amadeus ​193 – 194, 227, 235, 301 Mühlen, Cornelius von zur; Ältester der Größen Gilde ​110 Mühlen, Eberhard zur ​107 Mühlen, Kaspar von zur; Landrichter ​185 Müller, Johann Christian; Pfarrer in Stralsund ​ 35, 159 – 160, 212, 241, 250, 265 – 266, 285 Müller, Wenzel; Komponist ​193 N Neuber, Friederike Caroline (Neuberin) ​156, 159 – 160 Nottbeck, Justus Johann ​138, 148 – 149, 171 O Oldecop, Julius Heinrich ​160 Olthof(f ), Adolf Friedrich von; Regierungsrat und Kunstmäzen ​86 – 88, 164, 250 Olthoff, Christian Ehrenfried Charisius von; Regierungsbeamter und Theaterliebhaber ​ 161 – 163 Oom, Adolph; Bügermeister ​107

345

Oom, Johann Friedrich; Protokollist ​148 Orlow, Grigori Grigorjewitsch ​249, 282 P Pahp, Jürgen ​110 Paul I. (Kaiser von Russland) ​31, 52, 61, 134 – 136, 138, 200 – 201, 234 – 235, 258, 262, 294 Pestalozzi, Johann Heinrich ​11 Peter I. (Kaiser von Russland) ​31, 50 – 51, 130 Peter III. (Kaiser von Russland) ​249 Petri, Johann Christoph ​9, 33, 35, 134, 137, 140, 147 – 148, 171 – 172, 177, 186, 196 – 198, 201, 205, 214, 232 – 233, 259, 262, 266, 279, 282 – 283, 285 – 287, 294 Philipp Julius (Herzog von Pommern-Wolgast) ​ 55 Piccinni, Niccolò ​193 Plettenberg, Wolter von ​48 Plümicke, Karl Martin ​215 Pollett, Johan Franz von ​127, 217 Pope, Alexander ​163 – 164 Poullain de Saint-Foix, Germain François ​162 Preinfalck, Joseph ​224 Putbus, Graf Malte Friedrich von ​87, 89, 245, 247 R Reichard, Heinrich August Ottokar ​203 – 204, 208, 215 Reichenbach, Johann David von ​87, 91 Reuterholm, Gustav Adolf ​46 Reutlinger, Johann Jakob ​148 – 149 Rist, Johann ​160 Rosen, Baron Friedrich Gustav von ​168, 170 – 171, 186 Rousseau, Jean-Jacque ​11 Ruuth, Graf Erik ​201 – 202, 207 S Sarti, Giuseppe ​194 Schiller, Friedrich ​11, 155, 192, 195, 198, 201, 203, 207, 210, 212, 228, 235, 278, 300 – 301 Schilling, Fabian Wilhelm von ​170 Schink, Johann Friedrich ​181 Schinkel, Karl Friedrich ​223 Schlözer, August Ludwig von ​80 Scholtz, Franziska Edmunde ​195, 215

346

Personenregister

Schönemann, Johann Friedrich ​159 – 160, 212 – 213 Schopenhauer, Johanna ​278 Schröder, Friedrich Ludwig ​181, 192, 194 – 195, 197, 301 Schuch, Franz (der Ältere) ​156 Schüler, Carl Julius Christian ​35, 68 – 69 Schulmann, Carl Gustav ​105 Scolari; Prinzipal ​190 – 191 Sellmer, Nicolas Gottfried ​165 Shakespeare, William ​192, 195, 301 Sievers, Joachim Christian von; General und Vizegouverneur von Estland ​287 Sievers, Jacob Johann von; Staatsmann und Kurator des kaiserlichen Findelhauses ​147 Sigismund III. Wasa (Zygmunt III Waza; König von Polen) ​49 Silfwerharnisk, Gustav von ​148 – 149 Sinclaire, Friedrich Carl ​207 Skytte, Johan ​49 Spalding, Johann Joachim ​163 Spens, Graf Gabriel ​118 Stegemann, Lukas Friedrich ​100, 217, 220 Stenzler, Laurentius ​244 – 245 Stollmers, eigentlich: Johann Nikolaus Smets von Ehrenstein ​197, 233 – 234 Straelborn, Barthold ​107 Struck, Hieronymus Johann ​32 Suhden, Johann Nicolas von ​110 Sverdsjöe, Johann ​170 T Thomas, Daniel Heinrich ​100, 196, 245 – 247 Thomson, James ​164 Tiesenhausen, Baron Magnus von ​147 – 150, 152, 294

Tilly, „Madam“ Louise Caroline; Ehefrau von Johann ​185 – 186, 229, 232, 235, 301 – 302 Tilly, Johann (Jean); Ehemann von Louise Caroline ​41, 188, 195, 198 – 199, 201, 213 – 215, 231 – 232, 235, 264 Toerring, Joseph August von ​195 V Vaucher, Willem ​72 Vegesack, Baron Friedrich von ​82 – 87, 91 Vietinghoff, Otto Hermann von ​180, 218, 222 Voltaire (François-Marie Arouet) ​162, 192, 301 W Wackenroder, Wilhelm Heinrich ​291 Wäser, Johann Christian ​191 – 192, 196, 213, 248, 256 – 257 Wehren, Wilhelm Hinrich von ​107 Weiße, Christian Felix ​195 Westphal, Carl Herman ​96 – 97 Westphal, David Heinrich ​165, 219, 254 Wigandt, Jacob ​160 Winkler, Karl ​214 Wistinghausen, Christian; Ratsverwandter und Kämmerer ​104, 106 – 107, 109 Wistinghausen, Margarethe; Liebhaberschauspielerin in Reval ​170, 177 Witt, Benedict Georg ​134, 251 Wrangell, Johann Heinrich von ​221, 232 – 234 Z Zeibig, Benedikt Lebrecht ​222 Ziegler, Friedrich Wilhelm ​192, 301 Zschokke, Johann Heinrich Daniel ​194