Das Ende: Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe [2 ed.] 9783787333233, 9783787331888

Das weltweit dramatische Artensterben, die Wirkungslosigkeit des Pariser Klimaabkommens und nicht zuletzt der Rollback i

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Das Ende: Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe [2 ed.]
 9783787333233, 9783787331888

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Das Ende

Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe Gregory Fuller

Meiner

Gregory Fuller

Das Ende Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3188-8 ISBN eBook: 978-3-7873-3323-3

2., überarbeitete und erweiterte Auflage © Felix Meiner Verlag Hamburg 2017. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werk­druck­­papier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt Editorische Notiz zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorspiel zum Finale. Signifying nothing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Maîtres et possesseurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Totentanz ohne Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III. Untergang und Ungehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 IV. Heitere Hoffnungslosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Nachspiel zum Finale: Zur Aktualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Editorische Notiz zur zweiten Auflage Von mehreren Seiten bin ich gebeten worden, dafür Sorge zu tragen, dass dieses 1993 erschienene Buch wieder aufgelegt wird : Es sei, sagt man mir, nach wie vor aktuell. Der Felix Meiner Verlag hat sich dankenswerter Weise bereit erklärt, fast 25 Jahre nach dem ersten Erscheinen diese zweite Auflage herauszubringen. Jedes sachorientierte Buch veraltet jedoch nach 25 Jahren. Den ursprüng­lichen Text daher ohne Änderungen wieder abzudrucken : das schien mir nicht sinnvoll. Der Verlag und ich waren uns deswegen einig, aus der Erstauflage von 1993 nun eine erweiterte und aktualisierte zweite Auflage zu machen. Da Das Ende ein literarischer Essay in der Mon­taigne-Tradition ist und in einem Fluss geschrieben wurde, den man nicht unterbrechen sollte, haben der Verlag und ich entschieden, den Textkorpus von 1993 unberührt zu lassen und ohne den geringsten Eingriff (­außer der Rechtschreibangleichung) hier wieder abzudrucken. Das betrifft alle Kapitel vom »Vorspiel zum Finale« bis einschließ­lich »Untergang und Ungehorsam« (S. 11 – 72). Mit den Jahren wurde ich immer unzufriedener mit dem Abschluss meines Essays. Im Angesicht der ökologischen Katastrophe wurden die Leserinnen und Leser mit wenig Positivem in die unwirt­liche Welt der sich abzeichnenden Zerstörung entlassen. Ich habe mich daher bemüht, dem Buch nun eine neue, positivere Perspektive zu schenken. Das neue Kapitel »Heitere Hoffnungs­ losigkeit« führt, so hoffe ich sehr, aus der tragischen Akzeptanz der vorangegangenen Kapitel hinaus, denn man lebt sein kurzes Leben nur einmal. Juan Carlos Onettis La vida breve (Das kurze Leben) lässt grüßen. Im darauf folgenden Kapitel »Nachspiel zum Finale : Zur Aktu­ alität« aktualisiere ich veraltete Stellen in der Erstauflage. Ich frage dabei, welche ökologischen Verbesserungen es seit 1993 gibt, welche Verschlechterungen und ob das von mir so genannte Super-Paradigma noch Gültigkeit besitzt.   |  7

Zur Wissenschaft­lichkeit : Da Das Ende in seiner ursprüng­ lichen Gestalt als ein rein literarischer Essay konzipiert wurde, waren der Ammann Verlag und ich damals der Meinung, dass ein wissenschaft­licher Apparat unnötig sei. Um dem berechtigten wissenschaft­lichen Anspruch der »Blauen Reihe« des Felix Meiner Verlags jedoch zu genügen, habe ich mich bemüht, unter der Rubrik »Literatur« die Anmerkungen der Erstauflage so weit zu rekonstruieren, wie das nach all diesen Jahren mög­lich ist. So gut wie alle Zitatquellen, ein paar Bücher sowie die ökologischen Faktenbelege vermochte ich leider nicht mehr aufzufinden. Bei den beiden neuen Kapiteln dieser zweiten Auflage hingegen, »Heitere Hoffnungs­ losigkeit« und »Nachspiel zum Finale : Zur Aktualität«, konnte ich die üb­lichen wissenschaft­lichen Verweise anführen.

8  |  Editorische Notiz 

Das Ende Von der heiteren Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe (1993)

Dem Lehrer Michel de Mon­taigne, Bürgermeister

Vorspiel zum Finale Signifying nothing Fragte man Biologen, was den Sinn des Lebens ausmacht, lautete ihre Antwort : Leben zu reproduzieren. Ein beinahe mechanischer Sinn, ein Minimalsinn. Ein sch­lichter Sinn, der in evolu­ tionär normalen Zeiten genügen mag. Wir aber, am Ende dieses Jahrtausends, leben in perversen Zeiten. Die expansive Spezies Mensch hat die Erde längst über­ bevölkert. Die Über-Reproduktion sichert das Überleben nicht, sondern zerstört es. Längst haben wir die Erde in eine durchchemi­ sierte Plantage verwandelt. Alle anderen Spezies haben wir zurückgedrängt. In atemberaubendem Tempo vernichten wir die Artenvielfalt, was im Endeffekt alle gewachsenen, natür­­lichen Kreisläufe unterbindet und zum Aussterben aller Spezies führen wird. Wenn also evolutionäre Prinzipien sich umkehren und die Dominanz einer Spezies zum raschen Ableben aller führt, drängt sich die Hinterfragung des Sinns überhaupt auf. Das Versagen des evolutionären Sinnprinzips, Reproduktion und Ernährung zum Zweck des Überlebens, fordert das metaphysische Wesen, das wir auch sind, heraus. Der Umstand, dass sogar der bio­logische Minimalsinn fragwürdig geworden ist, veranlasst mich, darüber nachzudenken, ob es denn statt dessen einen metaphysischen oder theologischen Maximalsinn gibt und ob uns dieser irgendwie von Nutzen sein kann. Vielleicht wird uns die Einsicht in unsere Fehler helfen, den Sinn neu zu definieren und damit die ökologisch sich abzeichnende Katastrophe angemessen zu begreifen. Mit philosophischen Plattitüden darf man sich dabei nicht abspeisen lassen. Sie geben Erklärungen nur vor : die Faulheit des Geistes, die Dummheit der Spezies Mensch, die ewige Indolenz der gesetzten Leute, die Unaufgeklärtheit der Massen, die Zungenschwere angesichts des irdischen Unrechts, die Naivität der Gläubigen, die Engstirnigkeit der Kleinbürger, der Opportunismus der Aufsteiger, die Machtverliebtheit der Politiker, die zerstörerische Funktionsmanie der Technokraten.   |  11

Man lasse die feine, edle, so distanzierte Aufgeklärtheit beiseite, die, stets kopfschüttelnd, zu einem scheinbar wohlbegründeten Pessimismus gelangt, schopenhauergleich und selbstgerecht. Aus der Plattitüde der Dummheit der Spezies lässt sich nur die fruchtlose philosophische Plattitüde selbst gewinnen. Die Aufklärungsphilosophie, welche sich der milden Verteufelung unserer Gattung hingab, schlägt um in seichten Pessimismus. Um diesen soll es hier nicht gehen. Man nehme weder die Pose des späten Aufklärers noch die des Misanthropen ein. Der Mensch, heißt es, sei ein Bösewicht und ein Langweiler dazu, wenn es um das Gute geht, sei Ratte und Skorpion in einem, ein Folterknecht dem Mitmenschen. Keine Spezies verfahre so mörderisch mit der eigenen Art wie der Mensch. Homo homini lupus. Wie Recht hatte Hobbes. Kurz : Machen wir uns nicht die Haltung des Verbitterten zu eigen, dem nichts einfällt außer : der Mensch, das Untier. Schlüpfen wir ebenso wenig in die elegante Rolle des Blasierten. Man hat vieles gesehen, man ist weit gereist, man hat Abenteuer erlebt, man hat geliebt, man war verheiratet, man kennt das Leben zur Genüge. Und zu welchem Behuf ? Alles schon dagewesen, man ist postmodern, alles bekannt, alles sinnlos, l’ennui lässt grüßen. Man gähnt, man greift langsam und mit schlaffer Hand zum nächsten Espresso. Weder die Pose des selbstgerechten, enttäuschten Aufklärers noch die Pose des Verbitterten, noch die Pose des Blasierten nützen dem Menschen, der unter dem Damokles-Schwert lebt. Posen perpetuieren nur ihr eigenes Vorurteil. Posen, Projektionen und Vorurteile, die nur Trauer gebären, nützen niemandem. Sie lähmen jeden. Geht man in der Geistesgeschichte ein wenig zurück, entsinnt man sich vieler Sinnantworten. Da wäre zu Beginn der Neuzeit Leibniz. Seine gött­liche Ordnung nannte er prästabiliert; eine sinnreiche, gottgewollte Universalordnung, in der jede Monade ihren wohldurchdachten, rechtmäßigen Platz beanspruchen durfte. Am Ende der Neuzeit setzt unser Zeitgenosse Cioran die kartesische Hypothese des genius malignus als obersten und alleinigen Gott ein. »Das Leben – dieser Kitsch der Materie.« Brutaler und zynischer lässt sich der Gegensatz zum Leibniz’schen Sinnschema nicht ausdrücken. Leibniz konstruiert am Beginn einer Entwicklung 12  |  Vorspiel zum Finale 

ein Sinnmaximum, Cioran würgt an ihrem Ende ein Sinndefizit aus sich heraus. Leibniz schuf auf paradigmatische Weise einen vollkommenen, stimmigen Sinn, Cioran verspottete ihn. Leibniz und Cioran bilden die beiden Extreme im Spektrum der Sinnantworten. Leibniz impliziert, alles besitze Sinn, Cioran schreibt, nichts sei sinnvoll. Dazwischen liegen unend­lich viele mög­liche Antworten, von denen ich nur einige wenige aufgreife. Man kann den theosophischen Spuren von Leibniz folgen und dessen Ordnungskonstrukt überhöhen : eine Reaktion auf die Haltlosigkeit, die uns umherschleudert, eine Reaktion auf die soziale Zerstäubung der Menschen, eine Reaktion auf die ökologische Zerstörung, die offenbar geworden ist. Man remystifiziert. Man erschafft Sinn, indem man uralten Wein in neue Schläuche gießt. Man entdeckt die Wahrheit im Altväter­lichen, Autoritären, Sicheren. Im Osten lässt man sich vom Islam refanatisieren. Im Westen kapi­ tuliert man vor dem Christentum. Man wird ein unausrottbar fröh­licher Christ mit rotglühenden Wangen, kurzen Haaren und sch­lichten Kleidern als Ausdruck eines sch­lichten Gemüts – und alles wird sauber. Der wiedergeborene Christ als Werbeträger für eine saubere Zukunft mit einem Christus, der sich nur in blütenweißes, chemisch vollgereinigtes Leinen kleidet. Die Sauberkeit, der Besen gegen den Schmutz der Skepsis. Wie Nietzsche schreibt : Man wurde wieder ein Kind. Aber wer würde die Kinder um ihre Ahnungslosigkeit nicht beneiden ? Wem das Uralte gar zu dumm-reaktionär, zu dogmatisch oder zu ausgehöhlt ist von den unzähligen Verbrechen, die die Weltreligionen im Namen Gottes begangen haben, der sucht in der Ferne. Die Naturwissenschaften werden umgekehrt. Ihr manifestes Versagen stiftet den Verstand dazu an, das Heil in der Umkehrung der Durchtechnisierung zu suchen. Man schließt sich der modischen New-Age-Mystik an und übersieht dabei die Unwiederbring­lichkeit mystischer Erfahrung. Längst ist sie uns abhanden gekommen. Zeitgenössische Sehnsuchtssprünge in den Mutterkuchen zurück beweisen ledig­lich ihre Künst­lichkeit. Man ergibt sich, scheinbar kritisch auswählend, in Wahrheit voller Gefühlsnebel, dem hoffnungsfrohen Potpourri aus natura naturans, Böhme, Psi-Kräften, Naturheilverfahren, Tierliebe, Zen leicht gemacht, vagen kosmi­ schen Kreisläufen, Gaia-Gesängen, Wiedergeburt, Naturkost, Woll­ Signifying nothing  |  13

socken und Ledersandalen, Akupunktur, Hexengebräu, weißer Magie. Und stets sind die Inder oder Indianer dabei, bevorzugt die Hopi. Schamanen aller Couleurs, lasst uns Fruchtbarkeitstänze wagen ! In unseren Wahlmög­lichkeiten sind wir wunderbar frei. Da der Sinn zur absoluten Disposition steht, kann man die New-Age-­ Mystik ebenso gut verschmähen. Die Mystik hat den Nachteil, allzu mystisch zu sein und gleich den Weltreligionen vom Glauben oder Nichtglauben abzuhängen. Aber die Vernunft ! Die gute alte, europäische Vernunft, um wieviel klarer ist sie, folgerichtiger, kritischer und, dank Kant, selbstkritischer als die ideologiegesättigten Religionen. Wie der letzte Spätaufklärer Habermas erstrebt man um der ökologischen und mensch­­lichen Rettung willen einen vernünfti­gen, kompetenten Dialog inmitten unvernünftiger Geschehnisse. Der Vernunftmensch weiß, dass von den drei Ideen Kants, Gott, Freiheit und Unsterb­lichkeit, die Gottesidee und die Idee der seelischen Unsterb­lichkeit jenseits des mensch­­lichen Erfahrungs­bereichs liegen. Allein die Freiheit ist der Erfahrung zugäng­lich. Um sie zu konkretisieren, wird stets das letzte große Sinnreservoir, die Geschichte, angebohrt. Mit der hohl gewordenen Fortschrittstheo­rie des 18. Jahrhunderts setzt man sich kritisch auseinander. Man verweist voller Abscheu auf Auschwitz, man verweist auf den Gulag, man diskutiert die chemiedurchtränkte Welt und die beispiellosen Völkermorde an Urvölkern. Man versucht, diese düsteren mensch­­ lichen Taten mit dem Begriff einer irgendwie gearteten, vernünftigen Freiheit in Einklang zu bringen. Als Resultat entsteht die Kakophonie eines Voltaire in seinem Essai sur les moeurs et l’esprit des nations. Die Geschichte sei »un ramas de crimes«, ein Haufen von Verbrechen. Und doch : »Enfin les hommes s’éclairent un peu«, wie Voltaire schreibt, als überstrahle die kurze Sekunde eines mehr oder weniger anständigen Parlamentarismus die Jahrtausende der Finsternis. Die Geschichte erweist sich als ein weites Feld, als ein gefähr­ liches Pflaster. Man werfe die großen Sinnentwürfe über Bord. Man suche einen näherliegenden Sinn. Man drücke den Sinn in einfachen Ist-Prädikationen aus : Sinn ist … die Selbstentfaltung des Lebens; das Glück (wessen ?); die innere Ruhe; die Ataraxie; die 14  |  Vorspiel zum Finale 

Verantwortung, das Leben zu fördern, das Leben hervorzubringen; das Leben der anderen, das Leben der Angehörigen, das eigene Leben zu erhalten; Ziele zu erreichen; Sozialstatus zu gewinnen, ein Haus zu besitzen; viel zu reisen; viel Geld zusammenzuraffen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Je diesseitiger sie wird, desto erbärm­licher. Die Auflistung beginnt seicht-philosophisch und endet bei den Ellbogenstößen des Opportunisten. Dieser hat immerhin den gewinnbringenden Schluss aus dem universalen Sinnmangel gezogen. Rette ich nichts und erreiche ich nicht alles, dann gelingt mir wenigstens etwas. Dieses Etwas macht in bescheidenem Rahmen tatsäch­lich Sinn. Rein subjektiv bestimmt, wird es nur aberwitzig bei der Gegenüberstellung mit einer ernstzunehmenden Moral. Um sie bemüht man sich jedoch nicht. Man hat sich ihrer entledigt. Man hat etwas anderes gewählt. Die Krux des Sinns liegt in seiner Beliebigkeit. Der evolutionäre Minimalsinn – die Reproduktion zur Erhaltung des Lebens – hat seine Gültigkeit verloren. Unsere Versuche, Sinn neu zu definieren, scheinen gescheitert. Eine objektive, intersubjektive Sinnantwort erweist sich als unmög­lich, weil sie als metaphysische Sinnsetzung unsere kleine Erfahrung bei weitem transzendiert. Die vielfältigen metaphysischen Sinnschöpfungen und die armselige Sinnschenkung des Opportunisten haben eines gemeinsam : Sie sind vollkommen beliebig. Umgekehrt lässt sich nicht folgern, das Universum sei sinnlos. Wenn die Sinnwahl beliebig ist, bedeutet das ledig­lich die Subjektivität der Sinnsetzung. Und das wiederum impliziert, dass Sinn, auf das Universum übertragen, nichts anderes ist als Projektion eines subjektiven Sinns in ein vermeint­lich Objektives. Das Universum ist weder sinnvoll noch sinnlos. Aus der mikrokosmischen Sinnsetzung geht die makrokosmische nicht hervor. Umgekehrt entsteht aus der makrokosmischen Sinnneutralität nicht die mikro­ kosmische. Von der Neutralität des Kosmos und des Lebens ausgehend, lässt sich das Wehgeschrei der Bitternis nicht erheben. Das Geschrei gründet in der Enttäuschung, nicht in der durchaus akzep­tablen Universalneutralität. Die Sinnsuche könnte Anlass zum Nihilismus geben, denn sie setzt fälsch­licherweise voraus, es müsse ein Gesamtsinn existieren. Doch nichts ist a priori notwendig. Der Nihilismus folgt aus der Signifying nothing  |  15

selbstgesetzten Prämisse. Die akzeptierte Neutralität des Universums und des Lebens jedoch erwartet nichts und bekommt nichts : Full of sound and fury, signifying nothing. Die akzeptierte Neutralität wird nicht gewertet. Das Universum ist und ist nur. Diese seine einfachste Bestimmung drückt, im Gegensatz zur Annahme Hegels, nicht seine leerste, sondern seine reichste Bestimmung aus. Denn durch die Neutralität des Seins erübrigt sich jede Metaphysik, jede Religion, erübrigen sich Projektionen, enttäuschte Hoffnung und Verbitterung. Der Dezisionismus aller Sinnsetzungen hat diese entlarvt. Sie sind beliebig, frei wählbar, unbegründet. Im Prinzip Akzeptanz hingegen nehme ich das Seiende an, ohne zu werten und ohne etwas zu erwarten, ja, ohne zu hoffen. Das Seiende verweist auf nichts, kennt keine Symbole oder Naturchiffren, die wir doch selbst geschaffen haben. Warum sollte das Wertneutrale wertend verweisen ? Aus der Neutralität des Seins folgen nicht notwendigerweise Ent­ täuschung, Verbitterung, Nihilismus, Hoffnungslosigkeit, Absurdität. Aus der Unglaubwürdigkeit aller universalen Ordnungsschemata folgt kein Absturz in die Bodenlosigkeit. Es folgt überhaupt nichts. Die projizierten Sinndefizite haben im universalen Kontext des Organischen und Anorganischen keine Berechtigung. The idiocy is in the beholder. Wer projiziert, erntet giftige Früchte. Les fleurs du mal sind – wir. Kant hat bewiesen, dass die drei großen Ideen – Gott, Freiheit und Unsterb­lichkeit – eines Beweises ermangeln, da sie unseren Erfahrungshorizont überschreiten. Gott, Freiheit und Unsterb­lichkeit können auch als Ausdruck von Sinnantworten gelesen werden. Sie stehen stellvertretend für alle anderen Sinnantworten : für die Reli­gionen, für die neuen Mystizismen, für die historisch bedingte Freiheit, für die Vernunft. Die kleine Kröte der Alltagserfahrung bläht sich auf zur Idee  – und zerplatzt. Natür­lich liegt es in der psychisch-metaphysischen Konstitution des Menschen zu hoffen und zu erwarten, dynamische Wesen, die wir Sapientes nun einmal sind. Doch über den universalen Sinn des Lebens, über ein objektiv existentes, extraterrestrisches Schöpferungetüm und dessen sinnvolle Ordnung kann nichts ausgesagt werden. Die Sinnneutralität steht nackt da. Der bio­logische Minimalsinn hat sich selbst entwertet. Die Beliebigkeit der kleinen mensch­­lichen 16  |  Vorspiel zum Finale 

Sinnantworten, Geschenke an das Selbst, und des metaphysischen Maximalsinns hat sich entlarvt. Die helfende Sinnschenkung, von uns enträtselt, auf dass wir die ökologisch sich abzeichnende Katastrophe besser begreifen und ihr vielleicht entgegenwirken können, bleibt aus. Keine Orientierung, kein Halt, keine Antwort, keine Hilfe im Angesicht der ökologischen Endzeit. Ein wirk­lich aufgeklärter Weg aus dem selbstgeschaffenen Dilemma rückt nirgends in Sichtweite. Das Universum ist, wie es ist, und der Homo sapiens tritt kurz auf und dann wieder ab, and then is heard no more. Den Menschen trieb es dazu, seine kleine Sinngravur in das Weltgeschehen einzuritzen. Er brachte jedoch nichts zustande als eine vergiftete Furche.

Signifying nothing  |  17

I Maîtres et possesseurs Es ist zu spät. Die Verheißung der Technik ist, wie Hans Jonas betont, in Bedrohung umgeschlagen. Dieser Umstand allein genügt jedoch nicht, den Kassandraruf zu rechtfertigen. Die Existenz ledig­lich einer Bedrohung gestattet Hoffnung, gestattet ein Entkommen. Demgegenüber kündigt sich ein furioses Finale von apokalyptischen Ausmaßen an, ja, die Apokalypse selbst. Radikaler Klimawandel, Ozonloch, Desertifikation und weltweite Entwaldung, Oberflächengewässer- und Grundwasserverseuchung, schleichende Nahrungsmittelvergiftung und Erbschädigung, Folgen der Kernspaltung und Genmanipulation nähern sich stetig einer Grenz­ markierung, auf der steht : Tod der Mitwelt, Unbewohnbarkeit unseres blauen Planeten. Es braucht nicht einmal den befürchteten synergetischen Effekt aller vernichteten Natursysteme, allein das bio­logische Umschlagen der Weltmeere würde schon genügen, ­damit man sagt (falls noch die Zeit bleibt) : Es ist zu spät. Nichts anderes betreiben wir näm­lich als die systematische Zerstörung der Bio- und Atmosphäre, nichts anderes als die Verwandlung der Welt in Wüste. Das Tempo dabei ist atemberaubend. Tausend Mal schneller als die natür­liche Auslese der Evolution wird die Artenvielfalt heute liquidiert. Hundert Mal schneller als jemals zuvor ändert sich das Weltklima. Am Ende der Beschleunigung steht jedoch nicht die Entdeckung der Langsamkeit, sondern das ­ ­Umschlagen aller Ökosysteme; nichts anderes als unser aller Tod. Warum ist es zu spät ? Mon­taigne schrieb, vierzig Jahre bevor Descartes sich anschickte, Mensch und Natur mathematisch zu erobern : »Die Anmaßung ist unsere natür­liche und angeborene Krankheit. Aus dem Hochmut, eben dieser Einbildung, macht der Mensch sich Gott gleich, legt sich gött­liche Eigenschaften zu, sondert sich selbst ab und trennt sich vom Haufen der anderen Geschöpfe, teilt den Tie  |  19

ren, seinen Brüdern und Genossen, ihr Stück zu und misst ihnen so viel Vermögen und Kräfte bei, wie ihn gut dünkt.« An diesem Zitat wird Mon­taignes Modernität und seine bemerkenswerte Einsicht in die mensch­­lichen Schwächen deut­lich. Ich zweifle jedoch, ob man für eine Gesamterklärung des zeitgenössischen Zerstörungsphänomens auf den kritischen Bürger Mon­­taigne zurückgreifen sollte. Einer anthropologisch-psychologischen Erklärung mag man zustimmen, allein, sie befriedigt nicht. Wie kommt es denn, dass wir Homines sapientes uns mit Hilfe der kartesischen Absolution in wahre »maîtres et possesseurs de la nature«, in gnadenlose Herren und Besitzer der Natur, verwandelt haben ? Ich halte es für müßig, die Lorenz’sche Aggressionsdebatte wieder aufzunehmen. Und wäre der Mensch ein Scheusal, es erklärte nicht, ob und wieso unsere Spezies den kollektiven Exitus selbst betreibt. Auch die etwa von Koestler und Löbsack vertretene Theo­rie, der zufolge das im Pleistozän explosionsartig entstandene Großhirn die Schuld trage, kann nicht befriedigen. Die disparate Verbindung zwischen Großhirn und Stammhirn soll nicht geleugnet werden. In Wirk­lichkeit hat das Großhirn die Kontrolle über die Entwicklung der Spezies längst verloren. Doch die Großhirntheo­rie fällt in sich zusammen, da sie nicht zu erklären vermag, warum Jahrzehntausende lang, bis zum Neo­lithi­kum, die Menschheitsentwicklung im Einklang mit der Natur verlief. Erst in den neolithischen Stadtgesellschaften beginnt die destruktive Geschichte der Menschheit. Im Paläolithikum lebte der Mensch in Harmonie mit der Natur. Anklänge an das verlorene Paradies, an Rousseaus stets spielende Karaiben, an Cythère möge man bei Seite schieben. Über die Sozialformen der Paläolithiker ist nichts bekannt. Nüchtern betrachtet ging der Mensch in der protoneolithischen Zeit (9000 – 7000 v. u. Z.) von der aneignenden Wirtschaftsweise der Jäger und Sammler zu einer neuen Wirtschaftsform über, in der Nahrungsmittel nicht mehr erbeutet, sondern produziert wurden. Die dreistufige Entwicklung vom Jäger zum Hirten zum Ackerbauern zog sich über Jahrtausende hin und interessiert hier nur im Hinblick darauf, dass sich mit der von Gordon Childe so genannten neolithischen Revolution das Verhältnis vom Menschen zur Natur und vom Mensch zum Menschen radikal verwandelte. Einst gab die Natur, 20  |  Kapitel I 

und der Mensch nahm. Im Neo­lithi­kum macht sich der Mensch unabhängig von den Geschenken der Natur. Nun bestimmte er, was er wollte. Nun genügten die einfachen Gaben der Natur nicht mehr. Nun musste die Natur mehr hergeben, als sie zu verschenken bereit war. In den späten neolithischen Stadt- und Staatgesellschaften entstand ein ständiges Mehrprodukt. Menschen entdeckten, dass andere Menschen als Mittel zum Zweck wirtschaft­licher Mehrung zu gebrauchen waren. Mensch und Natur bewiesen mit dem großen wirtschaft­lichen Erfolg der patriarchalischen Gesellschaften zumindest das eine : Sie ließen sich gut ausbeuten. Alles ließ sich gut ausbeuten : Männer, Frauen (insbesondere), Sklaven, Kriegsgefangene, Flüsse, Seen, Felder, Wälder. Buchstäb­ lich auf das Konto der vielgeliebten, hochstilisierten Antike geht unter anderem die verheerende Entwaldung des gesamten Mittelmeerraums. Bei den Griechen wird die Welt zum Logos : moralisch neutralisiert, entgöttert, nackt, nur sich selbst bedeutend. Die Außenwelt wird, wie Gehlen schreibt, freigelegt für das rationale Erkennenwollen. Der einst symbolträchtigen, bedeutungsschweren Mitwelt der mirakulösen Flüsse und bedroh­lichen Bäume wird versagt, was ihr einst zukam : die Ehrfurcht. Die Erinnerung an eine Mitwelt, in die sich der Mensch eingebettet fühlt als Teil eines natür­lichen Ganzen, verblasst. Trotz brutaler Kriege, trotz Seuchen, trotz Pestilenz : die Bevölkerungszahl wuchs stetig. Energietechnische, agrartechnische und verkehrstechnische Erfindungen ermög­lichten dem fleißigen Menschen eine immer effizientere Unterwerfung der Natur. Das 12. und 13. Jahrhundert schufen Wasser- und Windmühlen, Räderpflug und Kummetgeschirr, Feuerwaffen, Heckruder und Kompass. Die Abholzung der europäischen Urwälder machte langsam, aber unaufhaltsam Fortschritte. Es geschah, planlos und ungewollt; die Dinge entwickelten sich eben so. Das biblische Gebot an den Menschen, sich die Erde untertan zu machen, bedurfte keiner Rechtfertigung. Erst mit Descartes und Bacon erhielt die Unterwerfung der Natur ein Programm. Descartes’ Selbstkonstitution des Menschen als res cogitans bedeutet, dass sich der Mensch von seiner Leib­lichkeit trennt. Res Maîtres et possesseurs  |  21

extensa wird von der res cogitans geschieden. In der sechsten Medi­ tation heißt es, der Mensch sei als denkendes Wesen von seinem Körper verschieden. Die Selbstentfremdung, die sich darin ausdrückt, ist offenbar. Sie hat jedoch auch Vorteile. Denn nun liegt das Nichtdenkende nackt da, darf benützt und nach Belieben verbraucht werden. Mit Descartes entstand die Subjektivitätsphilosophie, mit der die neuzeit­liche Anthropozentrik anhebt. So äußerte sich Descartes kritisch etwa zu Mon­taignes Vorstellungen über Tiere. In einem Brief vom 23. November 1646 heißt es, er, Descartes, glaube nicht an die Denkfähigkeit der Tiere, »weil ich an der behaupteten absoluten Herrschaft der Menschen über alle anderen Tiere festhalte«. Descartes’ deduktive Subjektivitätsphilosophie wird durch die Induktion des Zeitgenossen Francis Bacon ergänzt. Noch klarer ausgedrückt als bei Descartes ist das Programm dieses »philosophischen Wegweisers der Industriegesellschaft«, wie ihn Klaus Michael Meyer-Abich nennt. Kunst und Wissenschaft dienen nur dazu, die Körperwelt zu unterwerfen. Die Wissenschaft soll den Menschen wieder in die Souveränität und in die Macht einsetzen, die er zu Anfang der Schöpfung besaß. Der Mensch allein, der zunächst nur theoretisch konstituierte Mensch, bestimmte zunehmend die Zwecke aller Dinge – und seine eigenen. Die Selbstbehauptung wächst umgekehrt proportional zu dem etwa von Blumenberg untersuchten Telosschwund der Neuzeit. Galilei schuf mit der klassischen Mechanik das Vorbild der modernen Naturwissenschaft. Die in ihren Gesetzen scheinbar verständ­liche Materie verkam zum Experimentierobjekt. Je klarer, verständ­licher, gesetzmäßiger, desto leichter vor den Karren der Herrschaft zu spannen. Die galileische Revolution hatte zum Ziel, die Erscheinungen auf ihre messbaren Antriebe zurückzuführen. Goldene Zeiten kündigten sich an. Während Newton, Descartes und Leibniz noch auf Gott zurückgreifen mussten, um die gut und immer besser funktionierende Welt zu erklären, schuf die metaphysikfeind­liche Aufklärung einen neuen Gott. Sie trennte den Verstand von der Vernunft und erhob Letztere zur ideologischen Rechtfertigung unserer Spezies. Der Vernunftglaube schenkte Lebens­sinn, den Sinn auch, an den Fortschritt zu glauben. 22  |  Kapitel I 

Nichts ist natür­licher für ein metaphysisches Wesen, das der Mensch auch ist, als sich mit der Vernunftgabe zu beschenken und sich auf diese Weise über alle Wesen und Dinge zu erheben. Und so sei die Vernunftfiktion nicht abgewertet; sie ist unabdingbar. Aber eine Vernunft hat es nie gegeben. Es gab und gibt nur den Verstand : nackt, dynamisch, gierig, voll von appetitus imperatoris und bestrebt, sich die Rechtfertigung seiner selbst und seines Handelns zu schenken. Großzügig, wie der Verstand in nomine veritatis sui schon immer mit sich umgegangen war. Die Vernunft ist die große geile Hure des Verstandes im Gewand der reinen Jungfrau. Der wirtschaft­liche Erfolg gab der Ratio Recht. Rationales und immer systematischeres Handeln ersetzte allmäh­lich, wie Horkheimer betont, die natür­liche Selektion. Die rationalisierte Produktion erreichte, scheinbar, in der Industriellen Revolution ihren Höhepunkt. Rationalisierung und Planung schufen bis dahin ungeahnte Produktionsmög­lichkeiten, nicht nur in den Fabriken Europas und Amerikas, sondern auch in Form der großen Flurbereinigung des 19. Jahrhunderts. Die Naturbeherrschung geht Hand in Hand mit der Naturentfremdung. Gehlen zufolge drückt sich Realität heute als Fakten­ außen­welt aus, von der wir unsere subjektiven Vorstellungen mühe­ los getrennt halten. Die von uns abgeschirmte natür­liche Mitwelt nehmen wir kaum noch wahr. Eine entsinn­lichte, scheinbar gut funk­tionierende Welt umgibt uns. Ohne uns dessen bewusst zu sein, hassen wir Spätkultur-Menschen, scheint mir, die Natur aus tiefster Seele, und wir glauben aufrichtig, dass wir sie lieben. Seinen Sklaven liebt man jedoch nicht. Man herrscht über ihn und fürchtet sein Aufbegehren. Seien wir ehr­lich : Unsere Herrschaft ist nicht einmal wohlwollend. Herr und Knecht – ein Verhältnis auf Leben und Tod. Friedrich von Hayek schrieb, unsere Zivilisation sei uns einfach passiert. Trifft dies zu, dann wäre es sinnlos, die Naturwissenschaft zu verteufeln. Weder Descartes noch Bacon sind Bösewichter. Sie stellen wichtige Etappen in einer chaotischen, ungeplanten Entwicklung dar, die unglaub­lich dynamisch ist. Die Entdeckungen des 12. und 13. Jahrhunderts machten Europas Herrschaft über den Rest der Welt mög­lich, insbesondere das Schießpulver, der Kompass und das Heckruder. Mit Galilei begann die eigent­liche QuanMaîtres et possesseurs  |  23

tifizierbarkeit der Welt, unterstützt durch Bacon’sche und kartesische Rechtfertigungsprogramme. Und nun befinden wir uns in der Überlebenskrise. Ein amerikanischer Sozialforscher setzt das Ende der Welt auf den 13. Juni des Jahres 2116 an. Schreitet der Bevölkerungszuwachs wie bisher voran, wird es an jenem denkwürdigen 13. Juni nur noch Stehplätze geben. Auch wenn man diese Vorhersage wohlwollend als weit übertrieben annimmt, denn sicher­lich werden bis dahin Gegenfaktoren wirksam werden, bleibt die Tendenz der Aussage richtig. Sagen wir, die Geschichte des Homo sapiens habe vor 100.000 Jahren eingesetzt. In 98 Prozent dieser Zeit oder in 98.000 Jahren wuchs die mensch­­liche Erdbevölkerung ledig­lich auf 250 Millionen an. Als Christus lebte, gab es nur 250 Millionen Menschen. Um 1500 fand die erste Verdoppelung statt. Die nächste Verdoppelung benötigte nur 300 Jahre; kurz vor Napoleons Kaiserkrönung gab es 1 Milliarde Menschen. Heute ist, wie Hoimar von Ditfurth alarmiert feststellt, die Zeitspanne der Bevölkerungsverdoppelung auf ungefähr 35 Jahre geschrumpft; eine abnehmende Zahl. Bis zum Jahr 2025 könnte es zur erneuten Verdoppelung auf 10,6 Milliarden Menschen kommen. 90 Prozent des zukünftigen Bevölkerungswachstums wird auf die ärmeren Länder entfallen. Bis zum Jahre 2040 müsste die landwirtschaft­liche Produktion auf das Doppelte gesteigert werden, damit dieser Zuwachs verkraftet werden kann. Das wiederum ist unmög­lich, denn wir haben das Maximum der landwirtschaft­lichen Intensivierung bereits überschritten. Hungerkatastrophen unvorstellbaren Ausmaßes kündigen sich an. In letzter Instanz mag das ungebremste Wachstum der Erdbevölkerung sich bedroh­licher auswirken als jede andere Einzelbedrohung, denn die Bevölkerungszahl hängt eng mit anderen Problemen zusammen : anwachsender Müllberg, Zersiedelung der Landschaft, Verstädterung, Verbrauch des Bodens und des Wassers, steigender Energieverbrauch, rapide Zunahme von CO 2 (Kohlen­ dioxid) in der Atmosphäre durch Verbrennung fossiler und nichtfossiler Stoffe, Entwaldung der Welt. Die Wälder, insbesondere die tropischen Regenwälder, bilden ein Kohlenstoffreservoir in der Luft und im Strahlungssystem der Erde. Die tropischen Regenwälder bedecken nur sieben Prozent der 24  |  Kapitel I 

Landfläche, enthalten aber rund die Hälfte der organischen Stoffe (Biomasse) aller Kontinente. Als Klimapuffer, als Regenproduzenten, als Bewahrer vor weiterer Bodenerosion sind die Wälder unersetz­lich. Über 40 Prozent der Regenwälder, die die Erde 1950 noch bedeckten, sind inzwischen verschwunden. In jeder Sekunde wird ein fußballplatzgroßes Waldstück gerodet, jähr­lich eine Fläche von über 200.000 km2. In vergleichbarem Maß verschwinden die heimischen europäischen Wälder durch eine Kombination zahlloser nicht-natür­ licher oder in dieser Konzentration nicht mehr natür­licher Luftbestandteile : Schwefeldioxid, Stickoxide, Ozon, Photooxidantien von Schwermetallen (Blei), von Autoabgasen produzierte Kohlenwasserstoffe, Terpene, Benzole, Methan, Äthylene, chlorierte Kohlenwasserstoffe. Forschungsergebnisse der Universität Bayreuth machten 1990 die Stickoxide und das Ammonium, das bei der Zersetzung organischer Materie in Kläranlagen und in Mastanstalten entsteht, für das Baumsterben hauptverantwort­lich. Man schätzt, dass Europa bis in wenigen Jahren entwaldet sein wird. Die entwaldeten Mittelmeerländer mit ihren völlig erodierten Küstengebieten weisen uns auf die schöne neue Welt hin, in der wir bald leben werden. Die Tendenz der Entwaldung bleibt seit dem Altertum unaufhaltsam. Gegen die brasilianischen Goldgräber, gegen die Großgrundbesitzer und gegen die verarmten Siedler helfen in einem Frontstaat wie Brasilien keine Gesetze. Nimmt man den hypothetischen Fall an, einer gesetz­lichen Handhabe wäre durchschlagender Erfolg beschieden, es hülfe nichts, da die Stickoxid- und Schwermetallemissionen bereits weltweite Ausbreitung erfahren haben. Auch bislang gesunde Wälder wie etwa die kalifornischen Redwood-Gebiete zeigen seit Kurzem erste Erkrankungserscheinungen. Wer kränkelt, ist bereits tot. Nur eine radikale Sofortmaßnahme, die global alle Abgasemissionen beendet, könnte die Weltwälder retten. Nirgends sind derartig kompromisslose Sofortprogramme in Sicht; sie zu fordern, wird als utopisch gebrandmarkt. Obwohl die Regenwälder nur 7 Prozent der Landfläche bedecken, leben in ihnen zwischen 50 und 80 Prozent der Spezies unseres Planeten. Mit der Vernichtung der Wälder sterben – auch in Europa – Tier- und Pflanzenarten schneller, als der Computer zu Maîtres et possesseurs  |  25

zählen vermag. Man nimmt an, dass in jedem Jahrhundert wenigstens eine Tier- oder Pflanzenart ausstarb. Vergehen und Geborenwerden gehören zur Evolution und können in diesem Maß als natür­lich gelten. Um 1900 starb bereits eine Art pro Jahr aus, heute eine Art pro Tag, um das Jahr 2000 wird dies auf eine Art pro Stunde beschleunigt werden. Dieser sich in aller Stille, aber in aller Eile vollziehende Massentod lässt sich nicht einmal mit dem großen Faunenschnitt vor 65 Millionen Jahren vergleichen, als die Saurier verschwanden. Im Verhältnis zu heute starben die Saurier über die Jahrtausende langsam aus, und die Kleintier- und Pflanzenwelt vermochte zu überleben und den Platz der Großtiere einzunehmen. Heute jedoch verschwinden Wälder wie Seen, Moose wie Bäume, Falter wie Kondore. Nichts wird verschont. Flüsse lassen sich zur Not reinigen. Das Massensterben aber bedeutet Unwiederbring­ lichkeit der Arten. Was in Jahrmillionen gewachsen war, wird in wenigen Jahrzehnten liquidiert, garottiert, ausradiert. Alle bisheri­ gen evolutionären Sprünge werden durch diese objektive Katastrophe, die in vollem Gang ist, in den Schatten gestellt. Während ich diese Zeilen niederschreibe, beginnt ein neues Kapitel in der Evolution. Und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen. Die bio­logische Vielfalt ist eine der elementarsten Voraussetzungen für die Lebenstüchtigkeit. In einem gesunden Mischwald haben Schädlinge eine geringe Ausbreitungschance. In der Welt als Plantage kann man ohne Schädlingsbekämpfungsmittel nicht auskommen. Die Vielfalt ist das Rohmaterial des irdischen Reichtums. Werden die fragilen, fein ausbalancierten Ökosysteme zerstört, gibt es kein Reservoir, auf das der Mensch zurückgreifen kann, um neue Pharmazeutika, um natür­liche Düngerarten zu entdecken. Es gibt nur noch uns. Neu ist nicht nur das unglaub­liche Tempo. Zum ersten Mal führt eine einzige Spezies den Tod fast aller anderen herbei; ohne böse Absicht, frei­lich. Es geschieht eben so. Der technologisch hochgerüstete Mensch hat jeden Respekt vor der Mitwelt verloren, weil er keinen natür­lichen Bezug mehr zu ihr hat. Dieses Faktum ist unbestreitbar und impliziert, dass wir mit einer gewissen Zwangsläufigkeit vernichten müssen, da wir nichts anderes kennen, nichts anderes können. Der beispiellose Vernichtungsfeldzug gegen die Arten wird sich, und wie soll es anders sein, gegen die Mörder kehren. 26  |  Kapitel I 

Der Mensch, stupor mundi, Verwandler der Welt, inszeniert auch die Klimaänderung. Vor der Industriellen Revolution vermochte der Mensch nur regional auf die natür­lichen Regelmechanismen Einfluss zu nehmen. Der zeitgenössische Klimawandel als anthropogenes Phänomen weist, bei allen Unsicherheiten der Klimaforscher, auf die globale kartesische Macht hin. Bei der Verbrennung von Holz und fossilen Brennstoffen wie Öl, Kohle, Benzin und Gas fällt CO2 an. Es sammelt sich rasch in der Atmosphäre. An sich ein harmloses, geruchloses Gas, das sogar für die Photosynthese notwendig ist, das in Unmengen aber auf gravierende Weise in das Klimasystem eingreift. In den letzten einhundert Jahren gab es eine etwa zehnprozentige CO2-Zunahme in der Atmosphäre, Tendenz steigend. Bis zum Jahr 1900 war der atmosphärische CO2-Gehalt auf 280–290 ppm (parts per million) angestiegen. Heute erreichen wir dank Rodung, Verbrennung und gestiegenem Energieverbrauch 350 ppm. Geschätzt wird ein weiterer Anstieg auf 500–700 ppm bis zum Jahr 2050, mehr als zuvor in Millionen von Jahren. CO 2 trägt mit 50 Prozent zum Treibhauseffekt bei, Methan mit 19 Prozent, die Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) mit 17 Prozent, Ozon (O3) mit 8 Prozent in der Troposphäre sowie Distick­ oxide und Wasserdampf. Diese Gase und das Kohlendioxid wirken in der Atmosphäre wie die Glasscheiben eines Treibhauses : Sie lassen das Sonnen­licht einfallen, verhindern jedoch zur gleichen Zeit, dass die von der Erdoberfläche zurückgestrahlte Wärme ins All entweichen kann. Indem sie Infrarotstrahlung stärker aufnehmen als reflektieren, wächst die angesammelte Erwärmung, die zum Treibhauseffekt führt. Gegenüber den vorindustriellen Daten ist die Temperatur bereits um 0,7 °C gestiegen. Inwieweit wir mit den warmen, oft orkan­ reichen Wintern in Europa und den relativen Sommerdürren schon Auswirkungen des Effekts spüren, ist noch unklar. Eines aber gilt der Fachwelt als gesichert : Bei der gegenwärtigen Weltdurchschnittstemperatur von rund 15 °C wäre ein zu befürchtender Temperaturanstieg um 5 °C eine Katastrophe ohnegleichen. Die Dürren im amerikanischen mittleren Westen und die Standard­ überschwemmungen in Bangladesch wären nichts im Vergleich zu dem Wandel, der sich unübersehbar ankündigt. Die Klimamodelle, Maîtres et possesseurs  |  27

mit denen Klimaforscher arbeiten, sind noch so rudimentär, dass genaue Vorhersagen unmög­lich sind. Allein die Andeutung der Gefahr müsste genügen, Sofortprogramme in die Tat umzusetzen. Die Industrieländer, in denen 25 Prozent der Weltbevölkerung leben, verbrauchen doppelt so viel Energie wie die armen Länder und müssten umgehend Energiereduktionen um mehr als die Hälfte in Kauf nehmen. Die armen Länder dürften ihren Energieverbrauch nicht erhöhen. Aber nichts ist obszöner, als von den Armen Verzicht zu fordern. Im Grund müssten die reichen Länder ihren Energieverbrauch sofort beenden; eine utopische Forderung. Ebenso utopisch die Forderung, sofort global mit einer Wiederaufforstung zu beginnen, damit CO2 in großen Mengen absorbiert werden kann. Genau das Gegenteil geschieht. Selbst bei Sofortmaßnahmen dauerte es aufgrund der Trägheit des Systems – Atmosphäre, Ozeane, Spurengasverweilzeiten – Jahrzehnte, bis diese Maßnahmen sich gegen die klimarelevanten Spurengase auswirken. Einzig die kümmer­liche Verringerung der FCKW bis zum Jahr 2000 gilt als sicher – ebenso wie umgekehrt der weltweite Anstieg von CO2. Ein weltweiter Klimawechsel ungeahnten Ausmaßes ist unvermeidbar. Ob die Klimarevolution zum Umschlagen ökologischer Systeme und damit zum Weltentod führt, hängt auch von anderen Faktoren ab. Mit dem Treibhauseffekt gekoppelt bleibt die Zerstörung der vor UV-Strahlung schützenden Ozonschicht durch FCKW. Die wissenschaft­liche Unsicherheit bei der Feststellung der Ozonlochverursacher ist noch groß. Als gesichert gilt : Manche FCKW haben eine Verweildauer von hundert Jahren und sind noch nicht einmal in der Atmosphäre angekommen. Jedes aus einem FCKW freigesetzte Chloratom vermag bis zu 100.000 Ozonmoleküle aufzulösen. Die Auswirkungen, die sich daraus bis zum Jahr 2100 ergeben, sind nicht mehr auszumalen. Nach Sofortmaßnahmen muss nicht mehr gerufen werden. Es ist zu spät. Die UV-Strahlung bewirkt Hautkrebs, Katarakte, ein geschwächtes Immunsystem bei Tieren und Menschen. Unbekannt bleibt, wie die UV-Strahlung das DNS -System schädigt. Doch die noch unverstandene Schädigung unserer DNS durch UV-Strahlung ist wie die Spitze des Eisbergs im Vergleich zu der chemischen Revolution auf der Erde. Die Gefahr, die von der chemischen Industrie ausgeht, birgt ein geringes Risiko für die Beschäftigten. Die Gefahr liegt in dem Ri28  |  Kapitel I 

siko für potentielle Opfer dritten Grades. Zu den Opfern dritten Grades zählen wir alle. Die amerikanische Environmental Protection Agency schätzt die Zahl chemischer Stoffe weltweit auf über 48.000. Andere Schätzungen liegen zwischen 50.000 und 70.000. Nehmen wir einmal wohlwollend an, es gebe ledig­lich 48.000 chemische Stoffe. Jetzt, da ich diese Zeilen niederschreibe, staune ich darüber, dass so gut wie nichts über die giftigen Auswirkungen von 47.000 dieser Stoffe bekannt ist. Weniger als 1.000 Stoffe wurden einer Prüfung auf ihre akuten Auswirkungen hin unterzogen, davon nur ungefähr 500 auf ihre krebserregenden oder erbschädigenden Effekte. Wir sitzen also alle auf einem riesigen Pulverfass, dessen Explosionsgefahr kaum eingeschätzt zu werden vermag. Von einer planvollen, wirk­lich wirksamen Neutralisierung der Bedrohung kann ohnehin nicht die Rede sein. Beim gegenwärtigen Wissensstand der Chemiker (der Begriff ehrt den Stand) sind weder die Wirkungen jedes einzelnen Stoffes noch ihre Wechselwirkungen, noch die daraus resultierenden Auswirkungen auf unseren Orga­ nismus auch nur im Ansatz erforscht. So gut wie nichts ist erforscht, nichts ist begriffen, alles ist mög­lich. Die Kontrolleure des Geschehens – die Gesetzgeber und Verwalter – manifestieren ihre Hilflosigkeit. Wir sitzen, buchstäb­lich, auf einem Pulverfass. Allein in der Bundesrepublik Deutschland wurden zwischen 35.000 und 60.000 Erddeponien zu potentiell gefähr­lichen Orten erklärt. An die Anwohner, denen zum Schluss nur noch die Flucht bleiben wird, denkt man en passant. Hier geht es um noch Wichtigeres. Das Grundwasser ist gefährdet, unser vielleicht wertvollstes Reservoir. Den Oberflächengewässern und dem Grundwasser drohen aber noch ganz andere Gefahren als jene, die von Giftdeponien ausgehen. Über den Grad der Verschmutzung der Weltozeane sei hier ausdrück­lich nichts vermerkt, da über die langfristigen Auswirkungen unserer bedenkenlosen Gifteinleitungen in die Meere nichts bekannt ist. Wann schlägt ein Ozean um ? Sterben die Wale, Delphine und Fische vorher oder gleichzeitig ? Es kommt auf einen Versuch an. Die Autoren des Berichts Global 2000 (1980) an den ehemaligen Präsidenten Carter zeigen, dass vom Trinkwasser tendenziell eine Katastrophengefahr ausgeht. Tausende und Abertausende chemi­ Maîtres et possesseurs  |  29

scher Stoffe tummeln sich in den Flüssen, in den Bächen, zunehmend auch in den einst reinen Quellen. Vollkommen unbekannt ist die erbschädigende oder krebserregende Wirkung. Ledig­lich bei den Schwermetallen wurde die Ahnung zur Gewissheit. Im Augenblick der Niederschrift dieser Zeilen beginnt auch das europäische Grundwasser von Chlorkohlenwasserstoffen, die aus verschiedenen industriellen Prozessen stammen, erste Verseuchungserscheinungen zu zeigen. Fast alle Chlorkohlenwasserstoffe gelten als krebserregend, erbschädigend und lebertoxisch. Das verwundert nicht weiter, denn ungefähr 85 Prozent des Wasserverbrauchs der Bundesrepublik entfallen auf die Industrie. »Save water – bathe with a friend« – ein Relikt aus naiv-humanistischer Zeit. Von überallher fließt, tröpfelt und läuft es in die Gewässer, regnet es giftig in den Boden. Das beginnt bei den Rindermast­anstal­ten und der Landwirtschaft. Zum Beispiel : Der Stickstoffdüngemittelverbrauch der USA wuchs zwischen 1949 und 1968 um 648  Prozent – während der landwirtschaft­liche Ertrag im selben Zeitraum um nur 45 Prozent anstieg. Offensicht­lich war der Großteil der Stickstoffmenge, wie Barry Commoner kritisiert, nicht von den Pflanzen aufgenommen worden. Er muss an einer anderen Stelle im Ökosystem verblieben sein. Die andere Stelle – zum Beispiel der Mensch. Über den Boden gelangt das Gift in die Pflanzen, die wir essen. Nitrat in Kunstdüngern wird von bestimmten Darmbakterien in Nitrit verwandelt, das sich töd­lich auswirkt, da es sich im Körper mit Hämoglobin verbindet. Das Hämoglobin wandelt es in Methämoglobin um und verhindert damit den Sauerstofftransport im Blut. Soll man auch die Schädlingsbekämpfungsmittel erwähnen ? Sie verlieren in einem relativen Monokultursystem rasch ihre Wirksamkeit, da die Schädlinge resistent werden. Folg­lich müssen immer größere Mengen dieser Gifte, deren Mensch- und Umweltverträg­ lichkeit kaum erforscht wurde, eingesetzt werden, sollen die Ernteerträge nicht zurückgehen. Manch einer glaubt, mit dem Verbot des DDT als dem gefähr­lichsten synthetischen Insektizid sei die Gefahr vorüber. Wie gut unser Gesetzgeber für uns sorgt. Die Folge des Irrtums liegt, wie stets, beim Opfer. Wäre die Gefahr gebannt, warum taucht dann DDT Jahrzehnte später in zunehmendem und alarmierendem Maß etwa – und nicht nur dort – in der Muttermilch 30  |  Kapitel I 

auf ? Außerdem reimportieren wir in den Kaffeebohnen, Früchten, Teeblättern usw. alle bei uns längst verbotenen Gifte dieser Welt aus den armen Herstellungsländern. Man vergesse nicht die Detergentien. Mit dem neuen, phosphat­ freien Waschpulver wurde Bauernfängerei betrieben. Das in den Pulvern nach wie vor verwendete Benzol verwandelt sich im Abwasser zum giftigen Phenol. Die Fische gehen an den neuen, bio­ logisch abbaubaren Waschmitteln eher zugrunde als an den alten, Schaumberge verursachenden. Wird man nicht müde, kann man sich auf Einzelstoffe konzentrieren. Blei, Nickel, Kadmium, Quecksilber sickern trotz gesetz­ licher Auflagen in den Boden. Quecksilber beispielsweise wird gebraucht, um Chlor herzustellen. Seit 1946 hat der Quecksilberverbrauch für die Chlorproduktion um mehrere Tausend Prozent zugenommen. Über den Synergismus von hochgiftigen Schwer­ metallen mit dem hochgiftigen Quecksilber ist wenig bekannt, ebenso wie über deren Zusammenwirken mit organischen Verbindungen. Die Vernichtung erdgebundener Bakterien bleibt dabei die geringste Gefahr. Wer weiß schon, welche Horror-Mutationen zurzeit entstehen ? Dabei lasse man die Schwefeldioxide, die pausenlos auf Boden und Gewässer hinunterregnen, nicht außer Acht. Das geminderte Pflanzenwachstum nimmt man noch hin. Niemand weiß darüber Bescheid, welchen qualitativen Wachstumsveränderungen die Mikroorganismen im Boden unterliegen. Wir spielen Vabanque und hoffen auf den großen Gewinn. Eine potentiell verseuchte Welt. Seveso ist überall, Bhopal ist überall. Die chemischen Stoffe müssen die Arbeit aber nicht allein leisten. Die Kunststoff- und Kunstfaserindustrie verzeichnete in den Nachkriegsjahren, wie man weiß, eine schwindelerregende Zunahme. In den USA stieg die Herstellung der Kunststoffe seit 1945 um 1960 Prozent, die der Kunstfaser um 5980 Prozent. Erst dem Spätkultur-Menschen gelang es, Nylon und ähn­liche synthetische Polymere zu erfinden. Sie alle sind bio­logisch unzerstörbar und würden uns noch in Jahrtausenden begleiten, lebte unsere Spezies noch so lange. Über die eigent­lichen Kunststoffe sei kein Wort verloren. Jede Wanderung, jeder Strandspaziergang konfrontiert jenen, der mit der Natur Frieden schließen möchte, mit den unaufhör­lich wachMaîtres et possesseurs  |  31

senden Müllbergen der zivilisierten Menschheit. Auf dass die Welt eine Plastikmüllhalde werde. Bevor die Natur an den Abfallhaufen jedoch erstickt, müssten vielleicht Jahrtausende vergehen. Erleichtert kann man immerhin einstweilen die Kunststoffe und Kunstfasern als Probleme dritten Grades übergehen. An einer hingeworfenen Plastiklandschaft ist noch keiner gestorben, es sei denn, seine Seele nähme Schaden. Ich wende mich daher dem freischwebenden Todesengel zu, von dem unmittelbarer Kollektivtod droht. Der in den vierziger Jahren eingeleitete Komplex der Kernspaltung birgt, soweit ich das sehe, eine mindestens vierfach-töd­liche Gefahr in sich. So ausgiebig wurden Rüstungswahn und Atom­ ener­gie in den letzten Jahren diskutiert, dass ich nur kurz darauf eingehen will. Man muss die Sprache verrenken, um die erste Gefahr angemessen zu bezeichnen. Sie ist ohne Zweifel stets extrem akut – und sei sie es nur durch den Bedienungsfehler eines schläfrigen Force-defrappe-Offiziers. Anfang der neunziger Jahre verfügten die Supermächte über eine Atomsprengkraft von 12.000 Megatonnen, was etwa einer Million Hiroshima-Bomben oder ungefähr drei Tonnen TNT für jeden Erdbewohner entspricht. Auch nur 120 Megatonnen genügten, um den Planeten zu entvölkern. Nicht erwähnt ist dabei die wachsende Schar von Duodez-Despoten, die in den kommenden Jahrzehnten über die Bombe verfügen werden. Ihnen macht der Tod von Hunderten von Millionen Nachbarn, die nicht dem gleichen Propheten folgen, nichts aus. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, scheint umgekehrt proportional zur Einsicht der USA und Russlands zu wachsen. Selbst wenn bei einem unvorstellbaren Krieg Teile der Weltbevölkerung überlebten, ein Weiterleben wäre dies nicht. Unmengen von Stickoxiden würden in die Stratosphäre gepumpt, was den Ozongehalt – den Ultraviolettfilter der Welt – redu­zieren würde. Die Folge : Zunahme der Hautkrebserkrankungen und der augentrübenden Katarakte mit anschließender Erblindung von Mensch und Tier. Dies wäre, wie Hoimar von Ditfurth allerdings auf der Grundlage älterer Hypothesen schreibt, nichts im Verhältnis zum eventuell sofort einsetzenden atomaren Winter. Die Staub- und Rußpartikel einer brennenden, explodierenden Welt würden maximal 10 Prozent, minimal 1 Prozent des bisher einstrahlenden Sonnen­lichts auf die Erde durchlassen. Welt32  |  Kapitel I 

weite Gefriertemperaturen im Sommer, arktische Kälte im Winter erstickten jedes Leben. Selbst wenn die Annahmen über einen nuklearen Winter völlig falsch sind, wie neuere Expertisen ergeben haben, ein nuklearer Herbst wäre katastrophal genug. Landwirtschaft wäre ohnehin nicht mehr mög­lich. Die Felder wären auf jeden Fall verseucht, das Trinkwasser vollkommen ungenießbar, und bei den weltweiten Flächenbränden würde alles brennen, auch die Wälder. Dank Tschernobyl brauche ich die zweite atomare Gefahr, die akute Gefahr, kaum zu streifen. Nur so viel : Charles Perrow hat in seiner Studie über Hochrisikosysteme 1984 überzeugend nachgewiesen : Die Tendenz zu unvorhergesehenen Interaktionen muss als Eigenschaft insbesondere eines eng gekoppelten Systems gewertet werden. Weder der Operateur noch die Bauteile tragen Schuld. Die Schuld liegt im System selbst. Je komplexer das System, desto störanfälliger. Je enger die Koppelung der Elemente, desto stör­ anfälliger, da die Interaktion direkter ist als bei voneinander unabhängigen Systemen. Die formelhaft, ja beschwörend wiederholte Entschuldigung, der gerade eingetretene Unfall gehe auf »mensch­­ liches Versagen« zurück, belügt das unwissende Publikum. Bei Flugzeugunfällen kommt dem aufmerksamen Laien dieses stereotyp wiederholte Gebet allzu bekannt vor; nur dass bei Flugzeugen das Gefahrenpotential nicht so immens hoch ist wie bei Atomkraftwerken. Wie sinnlos, vor dem nächsten GAU zu warnen. Frankreich besitzt über dreißig mangelhaft gesicherte Atomkraftwerke (wie Anfang 1990 eine interne Untersuchung der französischen Elektrizitätswerke selbstkritisch feststellte); und bei uns herrscht meist Westwind. Als langfristig gefähr­lich – die dritte atomare Bedrohung – muss wohl die mutagene und krebserregende Zunahme von Radioaktivität, von Strontium-90 und Jod-131 eingeschätzt werden. Seit 1953 taucht Strontium-90 im Fallout mit Kalzium auf, wobei Kalzium von den Pflanzen auf dem Boden aufgesogen wird und so in die Nahrungskette gelangt. Es lagert sich in den tierischen und mensch­­ lichen Knochen ab. Zusammen mit Jod-131 reichert es sich an und vergiftet uns seit den ersten Atomwaffentests der Nachkriegsjahre. Wer kann absehen, welche langfristige Zeitbombe bereits fleißig am Ticken ist ? Sellafields krebsgeschädigte Kinder gehören in dieMaîtres et possesseurs  |  33

sen weltweit langfristigen, für die unmittelbar Geschädigten allerdings kurzfristigen Todeskomplex. Genügt nicht ein krebskrankes Kind, um die funktionsbesessene Erwachsenenhärte zu erweichen ? Offensicht­lich nicht. Windscale wird in Sellafield umbenannt, das Problem wird begriff­lich gelöst. Die vierte atomare Gefahr, die ungelöste und unlösbare Endlagerung, nenne ich extrem langfristig. Der gebräuch­liche Begriff »Entsorgung« entblößt den technokratischen Newspeak in all seiner Perversion. Bekannt­lich geschieht genau das Gegenteil. Eine Entsorgung gilt als unmög­lich. Der atomare Müll ist unser kostbarer, unser je eigener, unser ganz alleiniger Besitz. Hüten wir es gut, dieses beschämende Souvenir der Jahre 1950–2000. Die jahrzehntausendelange Hypothek, die wir der gemutmaßten Nachwelt hinterlassen, kennt nun jeder Grundschüler. Auch ins All kann man den strahlenden Abfall nicht gut torpedieren. Ein einziges Challenger-Unglück, und der Planet wäre, Hokuspokus, unbewohnbar. Schon allein die »Entsorgungs«-Lüge macht unsere technologische Kurzsichtigkeit auf tragikomische Weise deut­lich. Allmäh­lich frage ich mich, ob die Aufzählung nicht genügt. ­Warum noch weitermachen ? Und doch fahre ich fort. Nicht, dass mir etwas an Vollständigkeit liegt, denn das Chaospotential des Homo sapiens scheint unerschöpf­lich, aber man will es wissen, um sich dem letzten Angriff stellen zu können. Den Stimmen, die vor der Gentechnik warnen, von Chargaff über Rifkin bis zu Beck und Jonas, sei eine weitere hinzugefügt. Chargaff meint, die Gentechnik berge unter allen Entdeckungen die größte Gefahr. Rifkin zufolge beginnen wir mit der Gentechnik eine zweite, eine synthetische Genesis. Auf dass wir werden wie Gott; allein das Machbare ist verbind­lich. Mit unglaub­licher Geschwindigkeit entschwindet das Bewusstsein von der Schutzwürdigkeit des Menschen und der Natur. Nicht der Organismus gilt mehr als Arbeitseinheit, sondern das prinzipiell veränderbare Genom. Je größer die Verfügungsgewalt des Menschen über Mensch und Ding ist, desto tiefer müsste die Verantwortungsmoral verankert sein, wie Jonas betont. In der Gentechnik geschieht das Gegenteil. Seit Descartes das Wunschbild eines mechanistischen Universums entwarf, wurde der Boden für die gentechnische Revolution vorbereitet. Sie legitimiert sich nach Maßgabe der Machbarkeit. Die 34  |  Kapitel I 

Würde des Menschen zeigt sich in seiner unverwechselbaren Einheit als Person, der Selbstwert der Natur in der Ausprägung und im ökologischen Zusammenspiel aller Arten. All dies soll überholt sein durch unsere zunehmende Beherrschung der DNS ? Längst der Geschichte angehörig ist die Konferenz von Pacific Grove im Jahr 1975, als Genetiker sich Selbstbeschränkungen unterwarfen. Die Selbstbeschränkungen sind dahin. Man vergegenwärtige sich das Tempo. Bis 1980 galt in den USA : Lebewesen sind nicht patentierfähig. 1980 hieß es, Bakterien könne man grundsätz­lich patentieren. 1985 verkündete das amerikanische Patentamt, Pflanzen seien patentierfähig. Im April 1987 erfolgte der letzte Schritt : Keinem gentechnisch erzeugten Gegenstand, und sei er noch so groß – der Mensch zum Beispiel –, darf der Patentschutz verweigert werden. Im selben Monat, am 24. April 1987, schritt man zur Tat : Die wahrschein­lich harmlosen Eis-Minus-Bakterien, die Pflanzen vor Frost schützen, wurden auf kalifornische Erdbeerfelder versprüht. Es geht nicht um Eis-Minus-Bakterien. Es geht zunächst einmal um die moralische Frage, um die Genetik als Inbegriff der beliebigen Verfügbarkeit. Jeder beliebige Baustein soll – als genetisches Idealziel – in jedes beliebige Lebewesen eingebaut werden können. Dass dies Gott sei Dank nicht oder noch nicht mög­lich ist, wie ein Genetiker lachend erwidern würde, ändert nichts an der Zielsetzung. Wer sich Ziele setzt, trachtet danach, sie annähernd zu erreichen. Doch an einer Welt ohne Moral sterben nur wenige. Wir sind wunderbar anpassungsfähig. Lassen wir die moralische Katastrophe beiseite und konzentrieren wir uns auf die reale. Man kann sich streiten, ob die Gefahr der Gentechnik von mög­lichen Unfällen ausgeht, bei denen vernichtende Bakterien unachtsam freigesetzt werden, oder vom »Erfolg« dieser Technik. Perrow meint, die Gentechnik unterscheide sich vom uns bis dato bekannten Katastrophenpotential aller Systeme, da nun Interaktio­ nen zwischen Systemen ausgelöst würden, die zuvor überhaupt nicht verknüpft waren. Sobald eine derartige Verknüpfung zustande kommt, lässt sie sich von den Operateuren nicht mehr unter Kontrolle halten. Hier haben wir Ökosystem-Unfälle zu erwarten, im Bereich der engen Koppelung zwischen natür­lichen und künst­ Maîtres et possesseurs  |  35

lichen Systemen. Was wissen wir über diese Koppelung  ? So gut wie nichts, genau wie bei den mindestens 48.000 chemischen Substanzen, die wir freigesetzt haben. Nehmen wir jedoch wohlwollend an (und die Leserin oder der Leser muss zunehmend Wohlwollen aufbringen), ein genetischer Ökosystem-Unfall katastrophalen Ausmaßes ereigne sich nie. Nun offenbart sich der Erfolg der genetischen Pflanzenzüchtung. Ökologisch optimierte Kulturpflanzen werden weltweit angebaut. Kein Schädling und kein Wetter kann ihnen etwas anhaben, Insektizide und Herbizide werden überflüssig, welch ein Segen. Bisher galt jedoch : Je besser uns die Technik in die Lage versetzt hat, die Natur auszubeuten, desto höher sind die ökologischen Kosten, die wir zu bezahlen haben. Diese Kosten liegen versteckt in der Störung und Zerstörung der lebenserhaltenden Ökosysteme. Und so auch hier. Abgesehen vom intensiveren Anbau mit entsprechender Boden­ermüdung, geschieht in einer gentechnisch bereinigten Landwirtschaft noch etwas ganz anderes. In makaberem Verbund mit der aktiv betriebenen Ausrottung der Tierarten und der Pflanzenarten in Wald und Flur verschwinden in der Neuen Landwirtschaft die evolutionären Optionen. Der Natur wird keine Zeit gelassen, sich für die neuen Pflanzen zu entscheiden. Die alten Pflanzen werden abgeschafft. Ohne im Geringsten an die natür­ liche Langsamkeit der Evolution auch nur einen Gedanken zu verschwenden, wird die Fehlerfreund­lichkeit der Natur außer Kraft gesetzt. Was die chemische Industrie nicht erreicht hat, das gelingt der Gentechnik. Ganze Sektoren der Welternährung werden an einem Chromo­somensatz hängen. Mit ihm leben wir, ohne ihn ­gehen wir zugrunde. Mit der Gentechnik erreichen wir den Höhepunkt unserer Ver­ achtung gegenüber allen natür­lichen Wesen, ja, gegenüber der Na­ tür­lichkeit überhaupt. Wir entscheiden, was nütz­lich und überflüssig ist. Aber – wer ist »wir«  ? Wer kann sich gottgleich anmaßen, die rücksichtslose Verfügungsgewalt zu erobern ? Bei der Genetik geht es im Grund um Herrschaft, und genetische Herrschaft bedeutet ungeahnte Macht. Genetische Kriege und Eugenik-Bürgerkriege scheinen vorprogrammiert, falls uns die Zeit noch bleibt. Die genetische Zukunft ist sch­lichtweg unbekannt. Alles ist mög­lich. Wo wie jetzt schon große wirtschaft­liche Kräfte wirken, wird auch alles 36  |  Kapitel I 

unternommen werden, was wirtschaft­lichen Erfolg verspricht. Es ist naiv anzunehmen, natür­liche moralische Hemmnisse könnten regulierend in den dynamischen Prozess eingreifen. Im Umfeld dieser gigantischen synthetischen Revolution nehmen sich natür­ liche Einwände deplatziert aus. Die genetische Dynamik muss ausgelebt werden. Sie kann nicht mehr aufgehalten werden. Jetzt heißt es : Jeder für sich  ! Wer am schnellsten klont, hat gewonnen. Ausleben der Dynamik heißt aber auch aus-leben. Wehe den Siegern ! Damit komme ich jedoch zu übergreifenden Merkmalen, die alle Weltverwandlungen der letzten hundert Jahre kennzeichnen. Scheinbar haben Descartes und Bacon den Sieg davongetragen. Ihr ganzes theoretisches Streben zielte auf Herrschaft ab. Unsere moderne technologische Leistungsfähigkeit ermög­lichte uns, die Theo­rie in die Praxis umzusetzen. Die Absicht war gut, frei­lich  : Herrschaft um eines besseren Überlebens willen. Im Endergebnis und allen gutwilligen Beteuerungen zum Trotz herrscht eine einzige Spezies über Flora und Fauna. Von einem Zusammenleben mit unseren Werkzeugen, wie sie Ivan Il­lich fordert, kann nicht die Rede sein. Dank der Chemie und der Kernspaltung existiert erstmals in unserem Zeitalter eine Art Omnipotenz. Sie schlägt in Knechtschaft um, wenn Apparate und Produkte ein Eigenleben gewinnen und uns durch ihre Unverzichtbarkeit beherrschen. Auf eine andere und relevantere Weise schlägt Herrschaft in Knechtschaft um, wo ihre Ausübung Vernichtung nach sich zieht. Auf die Dauer gesehen ist unsere Herrschaft für die Natur – und für uns – töd­lich. Diese Herrschaft wird weltweit ausgeübt. Es gibt keine Refugien mehr. Ein Druck auf den Knopf in Indien, und DDT sammelt sich auf undurchsichtige Weise im Fettgewebe antarktischer Pinguine. »Wir sind die Zeit mit der kleinstmög­lichen Ursache und der größtmög­lichen Zerstörung«, schreibt Ulrich Beck in Gegengifte. Durch unsere globale chemische, technologische, atomare und nun auch bald gentechnische Herrschaft schufen wir einzigartige Voraussetzungen, das Leben auszulöschen. Beck führt vier Unterschiede in der Gefahrenverwaltung an, die sich von jener zur Zeit der Frühindustrialisierung unterscheiden : Die Gefahren sind überhaupt nicht mehr eingrenzbar, weder räum­lich noch zeit­lich, noch sozial; die etablierten Regeln von Kausalität und Schuld verMaîtres et possesseurs  |  37

sagen; die Gefahren können immer nur minimalisiert, nie aber ausgeschlossen werden; wir leben in einer Risikowelt, die von einer fehlenden vorsorgenden Nachsorge geprägt wird. Mit anderen Worten : Wir haben eine Herrschaft errichtet, die nur punktuell, nicht aber global beherrschbar ist, obwohl ihre Auswirkungen zu jeder gegebenen Sekunde den Globus umspannen. Unsere Herrschaft gebietet über Land und Gewässer und dringt in alle Poren des Lebendigen ein, aber mit welchen Interaktionen und mit welchen Auswirkungen das geschieht, entzieht sich unserer begrenzten Kenntnis. Wir sind unfähig, die selbstgeschaffene Komplexität (das zweite Merkmal unseres Dilemmas) zu verwalten. Mit der nachmechanistischen Physik ist das einfache Ursache-Wirkungs-Schema als Gesamtparadigma aufgehoben worden und in ein multidimen­ sional funktionierendes, dynamisches Ganzes überführt worden. Die Nebenwirkungen bleiben unbekannt. Was im Einzelnen als durchschaubar und kontrollierbar erscheint, wird im Ganzen zu einem Vabanquespiel töd­licher Interdependenzen. Nichts mehr ist durchschaubar, nichts mehr kalkulierbar. Die Risiken der Moderne sind, wie Beck schreibt, nicht mehr sinn­lich erfahrbar, sie sind zugleich ortsspezifisch und bei universellem Auftreten unspezifisch. Schon 1974 hat Wolf Häfele auf das kategorial Neue der Risiko­ produktion im 20. Jahrhundert hingewiesen. Man könne die Gefahren nicht mehr im Labor untersuchen und langsam, mittels trial and error, zu einem sichtbaren Ergebnis gelangen. Leider gebe es nur einen Test – den Ernstfall. Typisch dafür ist die Atomwirtschaft. Probelauf und Ernstfall fallen zusammen. Aufgrund der Komplexität des Hochrisikosystems und der Hochrisikostoffe bleibt nur der Weg, die Produktion auszuprobieren – und zu hoffen, dass nichts Schlimmes passiert. Dieses verantwortungslose Vorgehen gilt allerdings für unsere gesamte Lebenseinstellung; das Labor wirkt auf Operateur und Nichtoperateur zurück. Und wenn wir die Artenvielfalt zerstören, wenn wir die Regenwälder roden um kurzfristiger wirtschaft­licher Ziele willen ? Macht nichts, mal sehen, was danach geschieht. Und wenn wir unsere heimischen Wälder zerstören ? Man soll uns, bitte sehr, das Autofahren nicht verderben, bewiesen ist sowieso nicht alles. Das immerhin trifft zu : Bei 47 000 Stoffen steht der Beweis noch aus. 38  |  Kapitel I 

Die Herrschaft, moralisch schon immer verwerf­lich, gründete bei Descartes und Bacon anfäng­lich in der Idee, Natur zum Wohle aller zu beherrschen. Dies macht die schreck­liche Ambivalenz der Naturwissenschaft aus. Je komplexer aber, desto unbeherrschbarer. Scheinbar sinnvolle, nütz­liche Herrschaft wird aufgehoben durch die Unbeherrschbarkeit der Komplexität. Non incipit vita nova, um Bloch kritisch zu paraphrasieren, sed incipit apocalypsis. Dass die Prozesse immer komplexer und darum immer unbeherrschbarer werden, ist zwangsläufig. Einmal begonnen, entwickeln die Prozesse eine Eigendynamik, die ausgelebt werden muss (das dritte Merkmal). Die Elektrizität musste sich fortentwickeln, auf dass wir ihre tausendfältigen Mög­lichkeiten ausloten. Die chemische Industrie muss immer neue, immer künst­lichere Stoffe produzieren. Die Atomwirtschaft musste sich im Leben verankern, auf dass ihr Werbeslogan einer »fried­lichen Nutzung des Atoms« zur Farce wurde. Auch die Gentechnik wird in den kommenden Jahrzehnten all ihre Potenzen ausprobieren müssen – bis zum Klonen von Menschen, bis zu Mensch-Tier-Kreuzungen. Dank unserer technologischen Herrschaft, die allein aufgrund des Prinzips Machbarkeit, durch extremen und bedenkenlosen Pragmatismus errichtet werden konnte, werden wir es schaffen, sowohl Träume als auch Schreckensvisionen der Philosophen in die Tat umzusetzen. Wir sind unsagbar erfinderisch. Allein Machbarkeit setzt die Grenzen. In der Verwegenheit der Ahnungslosen sieht Jürgen Dahl den Sachverhalt ganz nüchtern : »Hundert Jahre Industriezivilisation haben gezeigt, dass es immer so schlimm kommt, wie die Furchtsamen von Anfang an vermutet haben, und meistens noch etwas schlimmer, weil selbst der Furchtsame nicht über so viel Phantasie verfügt wie all die Wissenschaftler und Techniker und Kaufleute und Politiker, denen immerzu etwas Neues einfällt.« Machen wir uns nichts vor. Wir leben seit 1945 in einer neuen Epoche, deren Eigendynamik, je mehr sie sich beschleunigt, unaufhaltsam ist. Günther Anders bezeichnet unsere bestandlose Zeit, die sich jeden Augenblick selbst vernichten kann, als »das letzte Stück Geschichte«. Ich empfinde es als traurig und ironisch zugleich, dass der geistig-kreative Höhepunkt des Verstandes just mit der evolu­ tionären Sekunde der permanent drohenden Selbstvernichtung zusammenfällt. Sie setzt spätestens 1945 mit Hiroshima ein und wurde Maîtres et possesseurs  |  39

von den Gaskammern der Werwölfe präfiguriert. Es besteht ein tiefer innerer, antihumanistischer Zusammenhang zwischen Zyklon B und der Kernspaltung. Der Verstand muss seine objektiven Mög­lichkeiten praktisch ausleben, seine Eigendynamik gestattet ihm nichts anderes. Wie bemerkt, ausleben heißt auch aus-leben. Insofern lebt der Mensch kein ganz unnatür­liches Leben, sondern folgt dem bio­logischen Gesetz, an dessen Ende der Tod wartet. Banal ausgedrückt ist das Leben Sein-zum-Tode, konkreter : Der Verstand will ans Ende kommen. Dieses Ende ist nicht das Para­ dies und nicht das summum bonum, sondern das Aus-leben einer voll ausgeschöpften Verstandesdynamik. Das natür­liche kollektive Aus-leben nennt man auch Gattungstod. Die Nebeneffekte oder die unkalkulierbaren, hochrisikoreichen Haupteffekte unserer Schöpfungen haben begonnen, die segensreichen Haupteffekte zu über­ holen. Der neue Haupteffekt beschleunigt sich zur Todes­dynamik. Die Verstandeskinder Großtechnologie und Naturwissenschaft haben uns in diese unvorhergesehene Falle getrieben. Das Überleben einer einzigen Spezies darf sich nicht auf die Vernichtung fast aller anderen gründen. Sogar die Saurier waren toleranter – weil sie weniger Herrschaft innehatten als wir Homines. Beruht das Überleben einer einzigen Gattung doch auf der Ausrottung aller wichtigen ökologischen Mitsysteme und auch der meisten unwichtigen (eine reine Wertungsfrage), tritt ein Ungleichgewicht im fein abgestimmten Zusammenwirken aller auf. Es verschiebt sich immer mehr zu Ungunsten der neuen Hauptspezies, obwohl sie ihr Überleben ganz besonders gut gesichert zu haben meint. Das Gegenteil ist der Fall. Auf Dauer vernichtet sich die herrschende Gattung selber, gerade wegen ihrer unausgewogenen Dominanz. Naiv die Politiker, die da verkünden : Es ist drei Minuten vor Zwölf ! Die Mittagsglocke hat längst geschlagen. Ich rekapituliere : Die Kriegs-Atomindustrie brachte uns, auf einen Knopfdruck hin, der weltweiten Vernichtung nahe. Trotz dankenswerter Détente bei den USA und Russland wird diese Gefahr in Zukunft nicht gemindert werden. Immer mehr Duodez-Despoten werden sich die Bombe zu verschaffen wissen. Noch wurde das Waffenarsenal der USA und Russland nicht hinreichend entrümpelt, noch hantieren Großbritannien und Frankreich aus Statusgründen mit dem Todesspielzeug. Die Gefahr wächst eher, als dass 40  |  Kapitel I 

sie abnimmt. Gering ist die technische Kompetenz jener, die neuer­ dings über die Bombe verfügen. Über die bio­logisch-chemische Kriegsführung schweigt man am besten, aber auch diese Gefahr wird wachsen. Die Friedens-Atomindustrie bescherte uns die drohende welt- oder europa- oder landesweite GAU-Mög­lichkeit, der Nachwelt die ungelöste Endlagerung. Über Strontium-90 und Jod-131 und Radioaktivität schweige ich, da über die damit zusammenhängende schleichende Erbschädigung zu wenig bekannt ist. Ein wenig mehr wissen wir über die schleichende Nahrungsmittelvergiftung, die Vergiftung von Flora und Fauna. Nur ein Beispiel : Täg­lich nimmt der Mensch Westeuropas 20 – 30 Millionstel Gramm Kadmium weitgehend durch die Nahrung auf –, und Kadmium ist nur eines der vielen Gifte. Wann schlägt dies global durch, sei es als wahnwitzige Krebsrate, sei es als Schreckensszenario aus Margaret Atwoods Roman The Handmaid’s Tale, in dem fast alle Menschen steril geworden sind ? Und die Gifte werden ununterbrochen produziert. Während ein Gift in die Schlagzeilen kommt, drängen zehn weitere auf den Markt. Die Lösung lautete : Stopp der chemischen Industrie, weltweit; eine Radikalmaßnahme, deren Unmög­lichkeit auf der Hand liegt. Und was wissen wir über den weltweiten Klimawandel ? Man ahnt nur, was die zunehmende Aufheizung des Planeten nach sich ziehen wird. Ein jeder male sich eine eigene Katastrophe aus, es beginne ein freier Wettbewerb der Phantasien. Noch fatalere Wirkung könnte die Artenvernichtung zeitigen. Meine Phantasie versagt vor einer Welt, in der das Artenungleichgewicht mangels Biomasse überhaupt nicht mehr rückgängig zu machen ist. Das Arten- und Waldsterben ist ein irreversibler Prozess, der in den Abgrund führt. Über die Anmaßung der gentechnischen Perversion mag ich nichts mehr hinzufügen. Wir torpedieren uns ins Aus der Evolution. Je artenreicher ein System, desto flexibler kann es auf Störungen antworten, desto stabiler bleibt das jeweilige Ökosystem. Wir aber erzeugen mit zunehmender Beschleunigung Instabilität. Alles geschieht einfach so. In immer schnelleren Rhythmen lebt sich die Eigendynamik unserer Spezies aus. Die Tendenz der Menschheitsentwicklung ist absolut unleugbar. Man muss nur den Mut und die Ehr­lichkeit aufbringen und die von Günther Anders beklagte »Apokalypseblindheit« abstreifen, um sehend zu werden. Maîtres et possesseurs  |  41

Die Bevölkerung wuchs stetig und unaufhör­lich. Sie wird bald den Kulminationspunkt erreicht haben. Von Jahrtausend zu Jahrtausend, ganz allmäh­lich, dann immer schneller von Jahrhundert zu Jahrhundert wurde entwaldet. Seit der Antike starben immer mehr Tierarten aus, von Jahrhundert zu Jahrhundert zu Jahrzehnt immer mehr Pflanzenarten. Heute wird nicht mehr gestorben, es wird sozusagen planmäßig ausgerottet. Immer mehr chemische Stoffe und Kunststoffe wurden produziert. Die potentiell töd­liche Schar, die keinen Platz hat im bio­logischen Kreislauf, ist völlig unübersehbar geworden. Immer gefähr­licher, immer größer wurde das Wirkungspotential der Hochrisikosysteme. Das gefähr­lichste Risikosystem des Jahres 1840 war die Eisenbahn  – gemessen an den heutigen Systemen ein minimales Risiko und dazu noch exakt eingrenzbar. In der kurzen Zeit, die uns noch verbleibt, werden die Systeme noch größer und noch gefähr­licher werden. Unsere Herrschaft verdichtet sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, alles wird immer schneller und immer komplexer und immer gefähr­licher. Diese Tendenz unserer Evolution nenne ich in Anlehnung an Thomas S. Kuhn Super-Paradigma. Ich fasse den Begriff des Paradigmas weiter als Kuhn und füge »super« hinzu. Bei Kuhn umschließt ein Paradigma alle Voraussetzungen, innerhalb derer die gerade akzeptierte Wissenschaft in einem gegebenen sozialen und politischen Umfeld wirkt. Wenn die Widersprüche und Falsifikationen dieses Paradigmas überhand nehmen, gerät das herrschende Paradigma aus dem Gleichgewicht. Dann ist der Zeitpunkt für eine von Kuhn so genannte »wissenschaft­liche Revolution« gekommen. Das alte, problematische Paradigma wird aufgegeben. Nach einer Periode der Orien­ tierungslosigkeit etabliert sich ein neues Paradigma, eine neue Sicht der Dinge. Wir sind heute an dem Scheitelpunkt angelangt, an dem nicht nur das technologisch-naturwissenschaft­liche Paradigma problematisch geworden ist. Die Glaubwürdigkeitskrise zieht immer weitere Kreise, mit jeder neuen Kleinkatastrophe vertieft sie sich. Das Super-Paradigma unserer evolutionären Tendenz wird von Jahr zu Jahr fragwürdiger. Im Mesolithikum scheint es den ersten Super-Paradigmenwechsel der Evolution gegeben zu haben : Der Mensch nahm nicht mehr 42  |  Kapitel I 

von der Natur, er holte sich auf immer systematischere Weise, was er haben wollte. Der Mensch vollzog den grundlegenden Wechsel von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise. Im Paläolithikum lebte der Mensch in kooperativer, herrschaftsfreier Eintracht mit der Mitwelt. Das soll nicht idealisiert werden, denn die Lebensbedingungen waren an Härte kaum zu überbieten. Sie wären für uns Spätkultur-Menschen unerträg­lich und können auch nicht als wünschenswert bezeichnet werden. Im Gegensatz zur Spätkultur jedoch schufen die Neanderthaler und Cromagnons Bedingungen, unter denen alle folgenden Generationen über­leben konnten; nicht weil unsere Vorfahren klüger oder weiser oder huma­nistischer waren als wir. Man muss das nüchtern sehen. Unsere Vorfahren waren aufgrund ihres geringen, ja fast nicht existenten Produktionsniveaus nicht in der Lage, mehr Herrschaft über die Natur auszuüben. Die Komplexität fand sich in ihren Köpfen und vielleicht in ihren Sozialbeziehungen, nicht aber im technologischen Bereich. Unsere Vorfahren waren auf völlig natür­liche Weise in den bio­logischen Kreislauf eingebettet. Im Neo­lithi­kum übernahm der Mensch zusehends die Initiative und verwandelte die Mitwelt in Umwelt. Warum dies geschah, darüber werde ich mir den Kopf nicht zerbrechen. Das mögen Wissenschaftler tun, die sich, im Treibsand versinkend, noch heftig streiten, welche Kon­sistenz der Sand habe. Wollen wir überleben, muss der Kritiker nichts Geringeres fordern als den endgültigen Super-Paradigmenwechsel. Die gesamte Tendenz der Evolution seit dem Neo­lithi­kum muss umgekehrt werden. Nicht morgen muss sie umgekehrt werden, denn dann ist es zu spät, sondern heute. Ein Ding der Unmög­lichkeit. Es ist bereits zu spät. Wir leben heute am Kreuzungspunkt, am Schnittpunkt der mit den folgenden Begriffen vielleicht nur unzureichend bezeichneten Realprozesse : fehlgeleitete Herrschaft, die vom bio­logischen Kreislauf abstrahiert und glaubt, sich ausnehmen zu können; Eigendynamik, die ausgelebt werden will aufgrund unseres extremen, ja krankhaften Pragmatismus; autodestruktive Komplexität, die im Widerspruch zur Herrschaft zum Wohle aller steht, weil die Komplexität die Folge eines Zuviels an Herrschaft ist. Herrschaft, Eigendynamik und Komplexität charakterisieren in ihrer technologischen Form unser Super-Paradigma der schleichenden ökoloMaîtres et possesseurs  |  43

gischen Katastrophe. Wir erreichen den Kulminationspunkt, bevor wir überhaupt die Zeit finden, den Super-Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die ökologischen Ansätze dazu werden aus Zeitmangel nur Ansätze bleiben. Das hochindustrialisierte 20. Jahrhundert ist der Abfall der Weltgeschichte. Kein Jahrhundert gebärdete sich schöpferischer und zugleich zerstörerischer. Wie wir mit der Mitwelt umgehen, so auch mit den Mitmenschen; es hat alles seine Logik. Nicht zu zählen die Archipel Gulags, die Auschwitztoten, die kambodschanischen Killing Fields. Bei aller nachhaltigen Entrüstung, die nicht enden darf, diese Tötungen passen zu uns. Ergeben wir uns den Cheeseburgers, dem gezüchteten und chemisch aufgepäppelten Lachs, dem künst­lichen Cocktail. Ergeben wir uns der Tiefkühlkost, dem Video und dem neuesten PC. Halten wir all dies für echt, für wahre Erfahrung aus erster Hand. Der Gebrauchsabfall, mit dem wir tagtäg­lich umgehen und der die Welt langsam vergiftet und zuschüttet, gehört zu uns. Das Leben als Plas­ tikverpackung, das Leben, das wir verdient haben. Kapitulieren wir vor dem Urwaldroder, den beruhigenden Wahrschein­lichkeitsrechnungen der Chemiker und der Atom­ope­ rateure und der Gentechniker. Sie sind die letzten Ausgeburten des Todesparadigmas und werden uns noch im Untergehen mathematisch beschwichtigen. Um kurzfristiger ökonomischer Ziele willen werden die Regierenden stets die Forderung nach Umstülpung des Super-Paradigmas belächeln und zur Not Kompromisse eingehen, die das Ende nur herauszögern. Mit den Argumenten, Arbeitsplätze seien in Gefahr und auch der Wohlstand sei nicht mehr gesichert, lässt sich noch immer jeder Gegner in Schach halten. Volkswirtschaft­liche Rechnungen wird man uns präsentieren, die uns beweisen, weshalb der Super-Paradigmenwechsel nicht herbeigeführt werden darf. Und die Politiker und die Experten haben recht : Der sofortige Wandel ist tatsäch­lich nicht machbar. Es führt kein Weg zurück ins Paläolithikum, wird man uns schmunzelnd vorhalten, und die Kritiker wird man als Utopisten entlarven, so schön das Höhlenleben auch gewesen sein mag. Auch da muss man den allzu schlauen Politikern und den klugen Experten recht geben. Schon allein die Überbevölkerung, schon allein der irreversible Artentod hat uns dummerweise den Rückweg abgeschnitten. 44  |  Kapitel I 

Unser Dilemma liegt in der Ausweglosigkeit. Ziehen wir daher den Schluss, den einzigen mög­lichen aus der Unvermeidbarkeit des Endes mit Furore. Heulen und jaulen wir mit den schiefmäuligen Wölfen. Es ist zu spät.

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II Totentanz ohne Trauer Dass alles unrettbar verloren sei, dass wir den evolutionären Endpunkt erreicht hätten, will näher ausgeführt werden. Niemand lässt sich leichtfertig davon überzeugen; alle wissen es besser. Untergangspropheten hat man schon öfter und lächelnd angehört, wohl wissend, dass es immer anders kommt. Der Unterschied zwischen den subjektiven Ergüssen der Propheten alten Schlages und den Warnungen, die sich auf objektive und evolutionäre Tendenzen gründen, wird vernachlässigt. Die Grenze zwischen dem Geschrei der Fanatisierten und der stillen Nüchternheit – diese Grenze zieht man nicht, aus verständ­licher Angst verschließt man die Augen. Und so wird es anders kommen als jene glauben, die meinen, es werde anders kommen. Ich versuche erneut und von einer etwas anderen Perspektive aus eine Risikokalkulation durchzuführen. Mathematisch lassen sich die Risiken, die wir eingegangen sind, als Summe aller Gefahren überhaupt nicht berechnen. Auch Einzelbereiche entziehen sich der Mathematisierung. Man kann das Artensterben zwar mathematisch erfassen (ungefähr so und so viele Arten sterben pro Monat), nicht aber das evolutionäre Risiko, das sich für uns daraus ergibt. Ich nähere mich dem Problem auf andere Weise und stelle das Begriffspaar »Irreversibilität  – Reversibilität« in den Vordergrund. Schließ­lich geht es um die Grundfrage, ob man das gegenwärtige und töd­liche Super-Paradigma rückgängig machen kann. Streng irreversibel nenne ich Tatsachen oder Problembereiche, die heute schon absolut unabänder­lich sind. Für streng irreversibel halte ich die technologische Komplexität, die das Resultat schein­ effizienter technologisch-naturwissenschaft­licher Herrschaft ist. Die unkalkulierbare Interaktion von in sich unkalkulierbaren Hochrisikosystemen und Hochrisikostoffen wächst. Herrschaft erweist sich als von Jahr zu Jahr ohnmächtiger, obwohl sie sich um immer präzisere Kontrolle bemüht.   |  47

Mit der zunehmenden Vergiftung der Welt und der allmäh­ lichen Weltentwaldung wohnen wir einem katastrophalen Artentod von Tier und Pflanze bei. In der gesamten Evolution gab es nichts Vergleichbares. Mit dem Artensterben verschwinden die evolutionären Optionen. Langfristig gesehen schränken wir bio­logische Heilmög­lichkeiten ein, aber noch schlimmer : Wir kippen die ökologische Balance, die in Jahrmillionen gewachsen war. Wir sind bereits absolut dominant und leben jetzt schon in Disharmonie, im Dominanzungleichgewicht mit der Mitwelt, die wir zur Umwelt degradieren. Die mensch­­liche Dominanz wurde unwiderruf­lich und rücksichtslos auf Kosten aller anderen Arten durchgesetzt. Wir sind heute in das letzte Gefecht mit den Arten ver­wickelt. Selbstverständ­lich werden wir auch das letzte Scharmützel siegreich bestehen, da wir bereits alle Entscheidungsschlachten gewonnen haben. Ohne die auf natür­liche Weise sich einpendelnden evolutionären Balancen, die die evolutionären Zukunfts­ optionen ermög­lichen, muss es langfristig zum Ende der mensch­­ lichen Evolution kommen. Jeder kleine Fehler, den wir begehen, wird sich katastrophal auswirken, da die Natur selber nicht mehr korrigierend einzugreifen vermag. Von Fehler zu Fehler werden die Katastrophen, je nach Risikopotential, gefähr­licher ausfallen, bis die Verseuchungen vom verbliebenen Gesamtorganismus der Erde nicht mehr neutralisiert werden können. Der Artenreichtum hingegen stärkt jedes Ökosystem. Mit dem Verschwinden fast aller Arten entsteht eine Welt, die extrem labil und immer noch labiler wird. Als streng irreversibel bezeichne ich auch die CO2-Zunahme in der Atmosphäre. Mit dem steigenden Energieverbrauch der Welt wird CO2, das bei der Verbrennung entsteht, mit Sicherheit zunehmen. Es ist ausgeschlossen, die Welt sofort auf regenerierbare Energiequellen umzustellen. Da CO2 zu 50 Prozent am Treibhauseffekt beteiligt ist, werden wir auf jeden Fall eine beträcht­liche Aufheizung des Planeten in den nächsten einhundert Jahren erleben. Die Frage bleibt nur : Werden wir und der Planet den radikalen Klimawechsel ertragen können ? Nicht rückgängig zu machen bleibt die atomare Endlagerung, die sogenannte Entsorgung. Ein Wunder müsste geschehen, ließe sich in ferner Zukunft tatsäch­lich entsorgen. Auch hier bleibt als 48  |  Kapitel II 

realistische Frage einzig : Wird der wachsende Atommüllberg zu einem töd­lichen radioaktiven Zwischenfall führen ? Als absolut irreversibel kann man mit einiger Vorsicht die Ozonschicht-Verminderung bezeichnen. Trotz aller FCKW-Verbote bis zum Jahr 2000 – die Chinesen werden ihre Kühlschränke weiterproduzieren, und die Verweildauer mancher FCKW beträgt bis zu einhundert Jahren, wobei es Jahrzehnte dauert, bis manche FCKW in der Stratosphäre ankommen. Der mit höchstem Risiko behaftete Prozess der Ozonschichtverminderung ist streng irreversibel, allein die Ausmaße bleiben unkalkulierbar. Im Grunde irreversibel – aber nicht streng irreversibel – nenne ich Prozesse oder Problembereiche, die sich noch nicht in einem Endstadium befinden und deren Folgen noch unkalkulierbarer erscheinen. Unser gesamtes Super-Paradigma seit dem Mesolithikum halte ich für im Grunde irreversibel. Das Ende ist absehbar, aber noch nicht erreicht. Falls Super-Paradigmenwechsel sich überhaupt vollziehen lassen, dann auf eher langsame und schwierige Weise. Dazu steht uns die Zeit nicht mehr zur Verfügung. Darüber hinaus wäre ein Super-Paradigmenwechsel vom demokratischen Konsens aller Menschen abhängig, denn alle müssten auch im Alltag den Wechsel vollziehen. Der west­liche Lebensstandard müsste aufgegeben, unser Leben müsste fast paläolithisch werden – was ich für nicht realisierbar halte. Dies hängt eng mit einem weiteren Problem zusammen, dessen grundsätz­liche Irreversibilität außer Frage steht. Ich spreche von der gegenwärtigen Überbevölkerung von 5,3 Milliarden Menschen und der unaufhaltsamen Zunahme im nächsten Jahrhundert. Ein Super-Paradigmenwechsel mit entsprechendem Produktionsrückgang könnte diese Milliarden jetzt schon nicht ernähren. Nur ein Wunder könnte uns den Super-Paradigmenwechsel trotz Über­bevölkerung – sie müsste sich sofort drastisch reduzieren – bescheren. Auf Wunder sollte man sich nicht verlassen. Die im Neo­lithi­kum einsetzende Tendenz der Bevölkerungszunahme mit Schneeballeffekt kann nicht geleugnet werden, und es gibt keinen Grund, gerade wegen unseres relativ hohen medizinischen Niveaus, weltweit auf eine Umkehrung der Tendenz zu hoffen. Das Jahr 2116 steht noch an. Führt man sich die gesamte Tendenz des mensch­­lichen SuperParadigmas vor Augen, können Entwaldung und Desertifikation Totentanz ohne Trauer  |  49

als ebenso grundsätz­lich gelten – sei es durch Rodung, sei es durch Versalzung oder Übersäuerung des Bodens. Heute beschleunigen wir diesen Prozess, der Tausende von Jahren alt ist. Wir wahren Kontinuität. In einer übervölkerten Welt ohne Wälder lässt es sich nicht leben. Die Arten sind dahin, die Lungen der Welt atmen nicht mehr, die notwendige CO 2-Bindung findet nicht statt, der Treibhauseffekt verstärkt sich. Wir vernichten, genau genommen, nicht die Biosphäre, sondern wir unterbrechen ökologische Kreisläufe, so dass die natür­liche Regeneration nicht mehr mög­lich ist. Mit diesen sich häufenden Unterbrechungen, deren Tendenz im Grunde irreversibel ist, wird der point of no return erreicht. Die großen Prozesse sind unumkehrbar geworden. Zuerst die Ostsee, dann die Nordsee. Und danach ? Hinter dieser tendenziell noch nicht abgeschlossenen Todes­ dynamik steckt die im Grunde irreversible Produktionsmaschinerie der chemischen Industrie. Ob sich der landwirtschaft­lich durchchemisierte Boden noch zu erholen vermag, bleibt dahingestellt. Das Grundwasser Europas, das wissen wir, beginnt mit toxischen Chlorkohlenwasserstoffen verunreinigt zu werden. Bei wenigstens 48.000 chemischen Stoffen muss irgendwann eine Grundwasserverseuchung eintreten. Theoretisch reversibel nenne ich Gefahren, die sich erst abzeichnen oder deren Auswirkungen Naturkreisläufe nicht für immer durchbrechen oder die aufgrund bisheriger Erfahrungen auf Re­ generationsfähigkeit hoffen lassen. Flüsse wurden bisher mehr oder weniger gereinigt, Detergentien lassen sich theoretisch entschärfen oder abschaffen. Insektizide und Herbizide lassen sich theo­retisch weltweit entgiften oder zum Teil verbieten, wie bei uns DDT. Welche langfristigen Folgen die bisherige Saturierung der Welt mit diesen hochgiftigen Stoffen nach sich ziehen wird, bleibt Mutmaßung. Theoretisch reversibel nenne ich die atomare und chemische Kriegsgefahr ebenso wie die stets drohende GAU-Mög­lichkeit. Begrenzte Atomkriege, die nicht die gesamte Menschheit auslöschen, sind denkbar. Lokale GAUs, die eine weltweite Verseuchung nicht zur Folge haben, sind seit Tschernobyl denkbar. Außerdem ließen sich Atomkraftwerke und Atomarsenale mit einem Minimum an Einsicht und ohne größere wirtschaft­liche Einbußen abschaffen. 50  |  Kapitel II 

Die Genetik steht ganz am Anfang. Ihr Unfallpotential ist im Augenblick größer als ihr Erfolgspotential, mit dem sie als Neue Landwirtschaft die evolutionären Optionen zum Verschwinden bringen könnte. Allerdings : Wenn die Forschung einmal begonnen hat, erzwingt ihre Eigendynamik das wissenschaft­liche Fortschreiten. Die Genetik kann als nur theoretisch reversibel gelten. Für alle praktischen Begriffe, in aller Nüchternheit gesehen, bleibt sie bereits heute im Grunde irreversibel. Streng genommen trifft das auch bei der atomaren und biochemischen Kriegsgefahr zu, da wir die bombengierigen Duodez-Despoten noch gar nicht erwähnt haben. Der Irak liefert dafür ein eindrucksvolles Beispiel. Als völlig unkalkulierbar gefähr­lich und vielleicht reversibel bezeichne ich Prozesse, auf deren langfristige Gefähr­lichkeit man nur fragend hinweisen kann, deren Gefahrenpotential sich unserer Kenntnis jedoch vollkommen entzieht. Der Grad der Verschmutzung der Oberflächengewässer lässt sich nicht annähernd kalkulieren, erst recht nicht der Zeitpunkt, wann ein Weltmeer mit Katastrophenfolge bio­logisch umkippt. Was wissen wir schon von der phylogenetischen Wirkung erbschädigender und krebserregender Schwermetalle, was wissen wir von Quecksilber, von Jod-131, Strontium-90, der Radioaktivität überhaupt ? Wann erreicht die Anreicherung in unseren Körpern Dosen, die planetarisch in den Massentod führen ? Ich stelle Fragen. Bei manchen Prozessen lassen sich nur aberwitzige Fragen stellen. Wir aber wollen Antworten und Lösungen. Wie aber, wenn es keine Lösung gäbe ? Genau genommen genügt bereits das plötz­ liche und irreversible Massensterben der tierischen und pflanz­ lichen Arten, um uns langfristig – in einigen hundert Jahren – das Ende unserer zerstörerischen Spezies zu bescheren. Wir haben die ökologische Balance scheinbar zu unseren Gunsten, langfristig jedoch bereits zu unseren Ungunsten gekippt. Ich erspare mir die nochmalige Aufzählung der Risiken. Streng genommen kann man ohnehin nicht mehr von Risiken sprechen. Bei der zunehmenden, sich beschleunigenden Durchbrechung der Naturkreisläufe sind wir dank der Irreversibilität vieler Prozesse bereits am tendenziellen Ende angelangt. Im Grunde genügt es zu sagen : Wir Menschen haben uns an den Rand des Weltenbrands gebracht; allein die Wahrschein­lichkeitsrechnung sagt uns, dass wir irgendwann, Totentanz ohne Trauer  |  51

irgendwo den letzten Schritt auch noch tun werden. Es gibt kein Risiko mehr. Wir haben ausgesorgt. Risiken bestehen nur noch in Teilbereichen oder für die nächste Zeit. Sogar die Zeit selbst wird zum Risiko, denn das Ende unserer Spezies kann als absehbar gelten. Man weiß nur nicht, wann es soweit sein wird. Zyniker schlössen Wetten ab, wäre ihnen nicht klar, dass niemand da sein wird, den Gewinn einzukassieren. Die ökologische Lage ist nicht ernst. Sie ist verzweifelt. Man wehrt sich gegen die Verzweiflung. »Alles übertrieben !« lautet der erste Einwand, der erhoben wird. Darauf antworte ich : Im Gegenteil, ich habe untertrieben. Ich habe versucht, auf der Ir­ rever­sibilitätsskala Abstufungen vorzunehmen. »Die Menschheit hat sich immer nur Probleme gestellt, die sie zu lösen vermochte !« wirft man als nächsten Einwand ein. Das ist sch­lichtweg falsch. Die atomare Endlagerung gilt als unlösbar; ebenso wissen wir nicht, was wir tun, wenn wir in diesem aberwitzigen Tempo das Artensterben verursachen. Auch für die Ozonschichtreduktion oder gar deren Zerstörung gibt es keine Lösung mehr. Die CO2-Zunahme wird sich nicht ändern lassen. Man kann nur hoffen, dass der Treibhauseffekt ledig­lich relativ lokale Katastrophen – wie etwa die Austrocknung des amerikanischen mittleren Westens – zur Folge haben wird. Der Gesprächspartner greift den Begriff der Hoffnung gierig auf. »Ich bin ein Mensch, und solange ich lebe, werde ich hoffen«, oder etwas banaler : »Wo Leben ist, ist Hoffnung.« Ein gewichtiges, das vielleicht gewichtigste Gegenargument. Ich schätze das Argument hoch, da es den Kern des Menschseins berührt. Um das Hoffnungsargument gebührend zu würdigen, gehe ich nochmals zurück zu unserem Super-Paradigma und bemühe mich, die mensch­­liche Evolution aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Streng evolutionstheoretisch gedacht, waren einzelne Spezies in der Lage zu überleben, weil sie fähiger als andere waren und sind, sich geschickt anzupassen und sich ökologische Nischen zu er­ obern. Das zog eine natür­liche Auslese nach sich. Der Affe verliert, der Mensch gewinnt. Heute scheint es so, als ob sich die Auslese umkehrt, als ob sich das natür­liche Prinzip gegen die dominante Spezies kehrt. Die Evolution scheint sich selbst zu widersprechen. Unsere Dominanz sichert uns nicht das bessere Überleben, sondern wir betreiben unseren eigenen Untergang. Der Stärkste führt den 52  |  Kapitel II 

eigenen Tod herbei, weil er die Schwachen, ohne deren Arbeit er nicht leben kann und ohne die er den Herrenstatus nicht beanspruchen darf, tötet. Das alte Herr-Knecht-Gleichnis : Wenn der Herr den Knecht negiert, negiert er sich selbst als Herr. Bei dieser einzigartigen Umkehrung des evolutionären Prinzips kommt es auf die Schlussfolgerungen an, die daraus gezogen werden. Man kann wie Rousseau, Schopenhauer, Cioran und neuerdings Ulrich Horstmann die Verbrechen unseres Super-Paradigmas verdammen. Man kann die mensch­­liche Geschichte pauschal als Zerfallsgeschichte interpretieren, als Verrücktheit, als Barbarei. Man kann den Menschen zum Untier erklären. Man kann dieser verabscheuungswürdigen Bestie Anständigkeit und Humanität absprechen und ihr mit Leichtigkeit nachweisen, wie gravierend sie sich vergangen hat. Man kann das Gute sehen wollen, sich aber kopfschüttelnd vom manifesten Gegenteil belehren lassen. Kurz gesagt, man kann Hoffnungen, Wünsche, moralische Gebote in die eigene Spezies hineinprojizieren und sich an der selbstgesetzten Prämisse reiben. Bestenfalls verbleibt milde Resignation, schlimms­ tenfalls Nihilismus oder Menschenhass. Oder aber man kann den sinnlosen Projektionen entsagen und als Anti-Projektionist urteilen. Das setzt absolute Nüchternheit und Ehr­lichkeit voraus. Ich nehme das evolutionäre Ergebnis, wie es sich zeigt. Ich sage mir, dass das Überhandnehmen unseres Verstandes, unseres Großhirns natür­lich ist. Unsere kraniale Kapazität mit der sich daraus ergebenden Künst­lichkeit ist eine notwendige, unausweich­liche Folge der komplexen Evolution. Dass unser Großhirn vor vielen hunderttausend Jahren Bedeutung gewann, gehört zur natür­lichen Entwicklung höherer Lebewesen. Dass wir im Neo­ lithi­kum unsere aneignende bio­logische Basis allmäh­lich verlassen haben, bis zur ausgeklügelten Produktion von Plastik und allen nütz­lichen Giften dieser Welt, das weist auf die Eigendynamik einer Entwicklung hin, die ich Aus-leben genannt habe. Der Verstand will all seine Mög­lichkeiten ausprobieren. Das ist so und sollte nicht gewertet werden. Wir sind weder gut noch schlecht, noch schön, noch häss­lich. Wie die Natur. Wir sind ganz einfach. Was sich auslebt, stirbt eines Tages. Der Naivität der Rettungsversuche ist die Natür­lichkeit unserer Selbstvernichtung entgegenzusetzen. Und die Natür­lichkeit in jeg­licher Form sollte akzeptiert Totentanz ohne Trauer  |  53

werden. Es gibt keinen geheimen Grund, keinen gött­lich verur­ sachten Fahrplan, keine Bosheit und keine universelle Güte. Wir besitzen keine Schutzengel. Ein verborgener Sinn unserer Entropie bleibt unentdeckbar. Unser Schicksal kümmert niemanden. Wen stört es, wenn unsere Gattung ausstirbt ? Wir sind allein. Dem Argument der Unabwendbarkeit unseres Endes ließe sich entgegnen, dass die Überwindung der Daseinsschranken und die Verbesserung des mensch­­lichen Loses ebenso natür­lich ist, folg­ lich die Zerstörungstendenz von einem höheren Verstandeswesen überwunden werden sollte. Man erinnert sich an Kants naive, aufgeklärte Interpretation der mensch­­lichen Geschichte als eines »beständigen Fortschreitens zum Besseren«. Dagegen steht, dass der Verstand existiert und die Vernunft eine Rechtfertigungsfiktion darstellt. Der Verstand allein reicht nie und nimmer aus, den notwendigen Großverzicht in die Wege zu leiten. Einzig der sofortige Super-Paradigmenwechsel könnte das Überleben der Spezies, vielleicht, garantieren. Der Planet müsste umorganisiert, der Egoismus müsste unterdrückt und alle Partikularinteressen zum Schweigen gebracht werden. Bei einem vernünftigen Wesen wäre dies mög­lich. Wir aber wurden geboren als denkende und fühlende Wesen, die ihre Selbstsucht nur ausnahmsweise hinter das globale Allgemeininteresse zurückzustellen vermögen. Gandhi war ein solcher Mensch, und Christus und Buddha und Martin Luther King. Aber wie viele Gandhis leben heute, haben jemals gelebt ? Der aller Einsicht zum Trotz zu fordernde Super-Paradigmenwechsel widerspricht unserer geistig einfachen, pragmatischen, selbstsüchtigen, hochemotionalen Natur. Den Vollzug des Super-Paradigmenwechsels halte ich, wie gesagt, für unmög­lich. Es scheint daher natür­ licher, reformierend unterzugehen, anstatt die gesamte eigene Zivi­ lisierungstendenz umzukehren. Da ein Ausweg verborgen bleibt, müssen wir allzu Spätgeborenen einen Lernprozess in Gang setzen. Wir müssen lernen, unser Ende zu akzeptieren. Ein scheinbar pessimistisches Treiben. Der gesamte bisherige Pessimismus in der Philosophie war dezisionistisch. Man hätte sich genauso gut für Gott als summum bonum oder für das ewige Leiden als summum malum entscheiden können. Und das hat man auch, wenn ich an Augustinus oder Eduard von Hartmann denke. Heute aber ist eine neue, objektive, empirisch 54  |  Kapitel II 

leider nachweisbare Qualität entstanden, der man sich weder durch Flucht noch durch Unehr­lichkeit entziehen kann. Man bleibe hier, Weglaufen ist sinnlos. Die geflügelte Zeit bringt uns den selbstzugefügten planetarischen Tod. Hoffnungslosigkeit entsteht nicht dezisionistisch, nicht aus freier Wahl, nicht aus der Ausnahmesituation eines depressiven Subjekts oder eines Menschenhassers wie Cioran. Ich hasse nicht. Ich stelle nur fest. Die Neue Hoffnungslosigkeit ist eine Reaktion, eine Antwort auf das Unabwendbare. Die Neue Hoffnungslosigkeit begründet sich objektiv durch unseren gesamten kulturellen Werdegang. Im Vergleich dazu manifestieren alle bisherigen Philosopheme der Negation ihre triviale Natur. Denn ihren Folgerungen kann man ausweichen; man vermag sie mit Leichtigkeit zu relativieren und in ihrem Allgemeinanspruch sogar zu belächeln. Was für dich gilt, gilt nicht für mich. Unter anderen objektiven Umständen besäße die Neue Hoffnungslosigkeit keine Berechtigung. Nur wenn das Super-Paradigma umgekehrt würde, dürfte Hoffnung wieder aufkeimen. Die Neue Hoffnungslosigkeit ergibt sich weder aus Misanthropie noch aus Enttäuschung. Ich bin nicht enttäuscht. Die Neue Hoffnungslosigkeit entsteht aus dem Bedauern, aus der Zuneigung zu einem Geschlecht, dessen töd­licher Fehler sich als Hybris des Verstandes ausdrückt. Ich fordere nichts als absolute Ehr­lichkeit und ein wenig Mut. Man nehme Abstand von der Apokalypseblindheit. Man verschließe sich nicht den Fakten. Man streife die Haut der Angst ab. Danach geht es von alleine. Bei kontrollierbaren Gefahren wie dem Rauchen oder dem schnellen Autofahren neigen Menschen dazu, der Gefahr mutig zu begegnen. Aber der Mensch fühlt sich hilflos vor den unbestimmten Gefahren, den hereinbrechenden Natur­ gewalten. Wer würde dafür kein Verständnis haben ? Verständnis sei also zugestanden. Sagen wir : Wirk­licher Mut wird nicht gefordert. Um die Schwellenangst zu überwinden, denke man einen Moment lang an Mon­taigne und dessen Wahrhaftigkeit. Sie gilt es zunächst anzustreben. Es kommt nur darauf an, schreibt Mon­taigne, mit sich im Reinen zu sein. Mon­taigne akzeptiert sich, wie er ist, auch wenn es, wie er betont, unend­lich viele bessere Menschen geben mag als ihn selbst. Man lerne sich und die Welt so anzunehmen, wie sie sich nun einmal entwickelt hat. Die Entwicklung mag schlecht sein, aber gab es eine Alternative ? Nein. Die Weichen Totentanz ohne Trauer  |  55

wurden vor langer Zeit gestellt, nicht auf einmal, sondern nach und nach über Jahrtausende hin. Niemand hat etwas bemerkt, niemand wurde überrascht. Nur wir Spätkultur-Menschen, wir sind aufgewacht in dem Moment, da wir das Resultat sehen, den Untergang unserer Spezies, unser aller Tod. Verdrängen wir ihn nicht, diesen kollektiven, unabänder­lichen Exitus. Um das Abstraktum zu konkretisieren, denke man an den eigenen unausweich­lichen Tod. »Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, der hat das Dienern verlernt.« So heißt es in Mon­taignes berühmtem Aufsatz Philosophieren heißt sterben lernen. Seien wir bereit. »Wer die Menschen das Sterben lehrte, der lehrte sie das Leben«, fährt Mon­taigne fort. In dem Maß, in dem man nicht mehr so stark an den Gütern des Lebens hängt, betrachtet man den Tod mit weniger Entsetzen. Der Tod, schreibt Mon­taigne, stelle die Bedingung der Schöpfung dar. Der Tod ist Teil unserer selbst. Man fliehe nicht vor sich, man fliehe nicht vor den Fakten des evolutionären Endes. Ihr habt nun alle euer Spiel gespielt. Der eigene und der kollektive Tod tragen die Maske der Unnatür­lichkeit. Reißen wir dem furchterregenden Monstrum die Maske ab und entdecken wir ohne Schrecken, aber mit Gelassenheit, was sich dahinter verbirgt. Kein Grauen, kein Zähneklappern, kein Knochen-Xylophon. Nichts versteckt sich dahinter als vollkommene Natür­lichkeit. Mit Ruhe in der Seele nehme man sie wahr. Erst dann kann man leben. Jedes Individuum muss von neuem lernen, den Tod zu akzeptieren, damit es Frieden finde vor dem Abgang. Beim Gattungstod verhält es sich nicht anders, nur dass der Lernprozess ein kollektiver ist. Wir haben die Verhältnisse zum Tanzen gebracht, und nun ist ausgetanzt. Wir haben evolutionär gesiegt und müssen die Lorbeeren weiterreichen an Verdientere. Wir haben gelebt und geliebt. Es naht die Stunde des Abschieds. Lernen wir – zu akzeptieren. Der west­liche Mensch kämpft immerzu, agiert, nimmt nichts hin. Descartes und Bacon sind die Säulenheiligen der Ungeduldigen, Mon­taigne zählt zu den Besiegten. Doch wer hat in Wirk­lichkeit gewonnen ? Schadenfreude kommt bei mir nicht auf. Man lerne, Distanz zu gewinnen. Die Stoiker nannten sie Ataraxie, ein Schweben über den Dingen, ein weltloses Wehen der Vernunft über den Aktionen. Darin drückte sich ihr welt56  |  Kapitel II 

fremdes Ideal aus, das Ideal aller weltfremden Philosophen, näm­lich sich ganz von der Welt zu trennen auf dem Wege zum Geist. Die moderne Akzeptanz schwebt nicht über den Dingen, sondern in den Dingen. Die Akzeptanz, zum Prinzip erhoben, entsteht nicht aus Willkür oder Weltflucht. Sie entsteht ledig­lich als Schlussfolgerung aus der gegenwärtigen und keiner anderen Situation. Sie ist das Brevier des Jüngsten Gerichts. Mit dem Begriff der Akzeptanz verbindet sich keine Moralphilosophie. Sie ist nichts anderes als eine Endzeitkrücke in gottloser Zeit. Die Janusköpfigkeit von Naturwissenschaft und Technologie brachte uns Segen und Verdruss. Nun beginnt sich der Verdruss durchzusetzen. Da ein retour à la nature sich als unmög­lich erweist, müssen wir lernen, das Unabänder­liche hinzunehmen. Einen mittleren Weg, einen Schleichpfad vorbei am Ozonloch, am Treibhauseffekt, an der Artenliquidation gibt es nicht. Kein noch so fernes pazifisches Fluchtatoll verspricht Rettung. Ein leicht gebremstes Voranschreiten wird das Ende, wenn wir Glück haben, um ein bis zwei Jahrhunderte hinauszögern. Ökologisch sich verhalten heißt den Gattungstod verzögern. Das Annehmen des Unabänder­lichen sollte unsere psychische Grundgestimmtheit bilden. Es macht das Dasein erträg­licher und schenkt uns Ruhe für all die kleinen Kämpfe, die dem großen Abschlussstreit vorangehen. Das Prinzip Akzeptanz sei eine Art Ataraxie der Postmoderne. Sie sei eine aktive, lebendige Stille, eine wache Ferne von den Dingen um der Seelenruhe willen. Wach soll sie sein, denn sie schließt nicht die Bereitschaft ein, Diktaturen, Unmenschen, hominide Juntabestien, opportunistische konservative Regierungen, Atomkraft, Lebensmittelvergiftung, Ozonsterben, Amazonasrodung und Artensterben zu akzeptieren. Gewiss, das Ende bleibt absehbar. Aber jeder Kampf lohnt, damit das Rest­dasein im Kleinen erleichtert, damit der nächsten Generation, immerhin, das Überleben ermög­licht wird. Ein kleines Geschenk an die Kinder und vielleicht noch an die Kindeskinder. Ein Geschenk an die Selbstachtung. Der Philosoph als Ökologe sei der sanfte Geronimo des Geistes. Hier geht es um die gesamtplanetarische Tendenz. Wer nach Sinn fragt, soll lernen, den Kleinen Sinn, den Sinn im verbliebenen Alltag zu suchen und zu finden. Der Große Sinn war in jeTotentanz ohne Trauer  |  57

dem Fall nur unsere subjektive Projektion. Wir sehnen uns so sehr nach Sinn. Nun, am Ende angelangt, halte ich Rückschau und bin nicht einmal bestürzt. Ich habe gelernt, dass das Wirk­liche nicht vernünftig, sondern in gewisser Weise idiotisch war – und ist. All unser Streben – und nun das ! Eine Spezies voller Sehnsucht und Verlangen und Wünsche und Drängen und Taten, und nun die Bodenlosigkeit. »Alles umsonst !« schreit der verzweifelte Gesprächspartner. Ich versuche, ihn zu beruhigen. Nichts war umsonst. Man denkt ledig­lich, alles sei vergeb­lich, weil man es vom buchstäb­lich schmutzigen Ende her betrachtet. Das Gegenteil trifft zu. Gelungen war der große Entwurf des Verstandeswesens; es strickte sich eine ihm gemäße Welt, eine Welt, die ihm nun seine eigene Ohnmacht beizubringen beginnt. Die Zeit des Adieus bricht an. Gelassen, ruhig, ein wenig müde, so möchte zum letzten Tanz, dem Totentanz aufgespielt werden. Wer den Totentanz als Abschiedsfeier akzeptiert hat, trauert nicht. Wer die evolutionäre Unumkehrbarkeit hingenommen hat, steht den Konsequenzen gefasst gegenüber : zuerst die Hybris, dann der Fall. Das Prinzip Akzeptanz : das ist die Ruhe des T’ai-Chi-Meisters bei der Soloform. Das Prinzip kann subjektiv erfahren werden als erträg­liche Leichtigkeit des Seins. Aus der Akzeptanz gewinnen wir eine ungekannte Leichtigkeit. Wir erfahren eine neue Dimension des Lebens. Wenn schon nicht die Fröh­lichkeit, dann wenigstens eine Abgeklärtheit, die ich Heiterkeit nenne. Kundera zeigt, wie man heiter pessimistisch sein kann. Wer in reifer, überlegter Entscheidung die Akzeptanz gewählt hat, der erfährt das Dasein als Leichtigkeit. Der lacht wie Tomas, der Gegenpol zur tonnenschweren Teresa. Tomas lacht, Teresa weint. Warum weinen, wenn man lachen kann ? Während Descartes Mon­taigne faktisch besiegte, überwindet Mon­taigne Descartes durch die innere Einstellung. An der objektiven Zukunft ändert das nichts. Denn die letzten Mohikaner sind wir. Gerade aus der klarsichtigen Hinnahme des Unabänder­lichen entsteht die schöne, freie und leichte Heiterkeit. Akzeptieren wir, dass das Leben uns leihweise geschenkt wurde. Wir treten auf und dann wieder ab. Als Spezies agieren wir in einem großen Schauspiel, das ohne Applaus endet. Der Abend im Theater geht nun zu Ende. Lachen wir mit, spielen wir mit und verbringen wir angenehme letzte Minuten, bevor der Vorhang fällt. 58  |  Kapitel II 

Ich rechte nicht mit dem Großhirn, ich hadere nicht mit unserer Gedankenlosigkeit und Grausamkeit, ich verwünsche unser Schicksal nicht. Ich überlasse mich der Ruhe der Resignation. Gewiss ein Übel, und unter anderen Umständen, zu anderen Zeiten, unangebracht wie etwa vor zweihundert Jahren, als einzig und allein dem Kritiker Rousseau das Ende in Form einer steten Verfallsgeschichte dämmerte. Zu anderen Zeiten könnte nichts dümmer sein als diese gefürchtete, noch unbequeme Ruhe. Die Situation hat sich jedoch in wenigen Jahren grundlegend gewandelt. Gewiss ein Übel, aber noch immer besser als die Unruhe eines Herzens, das noch glauben möchte. Wer das große Schauspiel von der Vogelwarte aus betrachtet, lebt in relativer innerer Harmonie. Wer das evolutionäre Ende mit Grazie hinnimmt, hört die sich steigernde Schlusskakophonie angstfrei. Um sich von der nagenden Angst zu befreien, lasse man alle Hoffnung fahren. Die Hoffnung bleibt der Hauptantrieb, etwas zu unternehmen. Man will dies, man will jenes, man hofft, es werde besser. Ernst Bloch hat die Hoffnung als anthropologische Grundkonstante eines drängenden, wünschenden, umgestaltenden Wesens erkannt und zum Prinzip seines Denkens erhoben. Diese Grundbefind­lichkeit soll nicht geleugnet werden. Es gibt sie und es wird sie weiterhin geben. Sogar im Sterben hofft der Mensch unsinnigerweise, das Leben gehe in einem Jenseits, an dem er aus Angst festhält, weiter. Je größer die Angst, desto heftiger und bizarrer das Festkrallen an der Hoffnung. Mit dem evolutionären Ende ist uns jedoch eine neue Situation erwachsen. Aufgrund der miss­lichen Lage, in der wir stecken, beginnt sich Hoffnung in Hoffnungslosigkeit zu verwandeln. Natür­ lich bleibt die Hoffnung ein unausrottbarer Motivationsfaktor. Ich wünsche ihr viel Glück, allein, der Glaube fehlt mir. Wer hofft, verzehrt sich, der Kampf wird ein verzweifelter. Die Gegenkräfte sind stärker. Hoffnungslosigkeit schenkt uns Ruhe. Ich leugne es nicht : Die Akzeptanz entpuppt sich als Mantel des Selbstschutzes. In seinem Traktat über die Hoffnung hat Josef Pieper zwei Formen der Hoffnungslosigkeit ausfindig gemacht. Zum einen die Vermessenheit, die praesumptio. Sie trifft auf unsere Situation nicht zu, da wir uns bemühen, die Bescheidenheit wieder zu erlernen. Zum anderen nennt Pieper die Verzweiflung, die desperatio. Auch sie Totentanz ohne Trauer  |  59

ist auf unsere Ausnahmesituation nicht anzuwenden. Verzweiflung entsteht aus dem letzten Schimmer eines Hoffnungs­lichts. Erkennt man diesen Schimmer als Illusion, tritt eine abgeklärte Akzeptanz an seine Stelle, die ich heitere Hoffnungslosigkeit nenne. Die großen Schlachten sind geschlagen. Alle, alle führten sie zu Pyrrhussiegen. Nun naht die Zeit, wo wir der Hoffnung entsagen, damit unsere Seelen Frieden finden. Die Endzeit bricht an. Viele dachten, sie wäre bereits zwischen 1939 und 1945 angebrochen, denn Schreck­licheres hatte es noch nie gegeben. Es ist kein Zufall, dass jene Jahre nach der Wannseekonferenz das Stigma eines krankhaften Begriffs tragen : Endlösung. Er weist auch voraus auf ein Endstadium, in das, ohne dass sie es geahnt hätten, die Massenmörder selbst bereits getreten waren. Dass diese unsagbaren Verbrechen am Menschen und die unsagbaren Völkermorde an Naturvölkern gerade im letzten und vor allem in diesem Jahrhundert begangen wurden, weist auch im sozialen Feld auf das Apokalypsestadium hin, das wir erreicht haben. Das Fürchter­lichste, das man über den Holocaust sagen kann, lautet : Er war ledig­lich ein Vorspiel. Die Partitur für den letzten Akt ist so gut wie komponiert. Gegen die Akzeptanz stehen die Hoffnung und die Verantwortungsethik. In seiner Arbeit Das Prinzip Verantwortung hat Hans Jonas eine neue Ethik gefordert, die unserer erweiterten Macht kom­ mensurabel sein soll. In der Antike waren die zeugenden Kräfte der Natur noch weitgehend unvermindert. Die mensch­­lichen Eingriffe in sie blieben oberfläch­lich. Die Natur war das Bleibende, wechselnd waren allein die mensch­­lichen Werke. Heute aber, fährt Jonas fort, kann man sich der grenzenlosen Verletzbarkeit der Natur nicht mehr verschließen, denn unsere Macht hat sich ins Unend­liche gesteigert. Die gesamte Biosphäre, schreibt Jonas, wurde zu unserem Treugut, weshalb die Ethik sich nun auf sie erstrecken müsse. Bisher stand die Verantwortung nicht im Zentrum der Ethik, betont Jonas. Verantwortung ist eine Funktion von Macht und Wissen, und beide waren früher so beschränkt, dass Verantwortung keine Rolle spielte  – bis heute. Jonas erhebt daher die Forderung nach einer völlig neuen Ausrichtung der Ethik als Verantwortungsethik, die er mit einem ersten Imperativ verknüpft : »dass eine Menschheit sei«. Ich bejahe die Verantwortungsethik von ganzem Herzen, doch sie versagt dort, wo sie in der Wirk­lichkeit eingelöst werden müsste. 60  |  Kapitel II 

Die Verantwortungsethik setzt einen minimalen Respekt vor der Natur voraus, denn wo sonst soll die Verantwortung verankert sein ? Unser gesamtes Super-Paradigma seit dem Neo­lithi­kum zeichnet sich gerade durch mangelnden Respekt vor der Natur aus. Noch nie, seit dem Paläolithikum, noch nie war er bestimmend, außer in den heute fast ganz verschwundenen ökologischen Nischen der übrig-gebliebenen Urvölker. Im Gegenteil : Mit jeder Erfindung, die uns die Arbeit erleichtert, mit jeder Maschine, mit jeder giftigen Chemikalie und mit jedem Kunststoff haben wir uns immer weiter von der Natur und den natür­lich gegebenen Kreisläufen entfremdet. Man kann nichts respektieren, geschweige denn die Verantwortung für etwas übernehmen, dem man völlig entfremdet wurde. Von der Natur ist der Spätkultur-Mensch Lichtjahre entfernt. Eine Verantwortungsethik erweist sich als vollkommen ohnmächtig gegenüber der Eigendynamik der Forschung – typisch dafür die unaufhaltsame Genetik –, gegenüber der Unumkehrbarkeit technologischer Prozesse und gegenüber freigesetzten Giften. Jonas kritisiert die Krux der traditionellen Ethik wegen der Kluft zwischen Sein und Sollen, die durch ein fiat überbrückt werden soll. Die Kritik trifft den Urheber. Dem Sollen der Verantwortungsethik ergeht es wie allen berechtigten ethischen Forderungen. Die Wirk­lichkeit richtet sich nicht danach. Ansätze zu einer Verantwortungs­ethik sind nirgends auszumachen. Oder hält jemand unsere bescheidenen ökologischen Notprogramme für ernsthafte Ansätze ? Nicht einmal die wundervollen Wale vermögen wir zu beschützen. »Schützt die Nordsee«, prangt auf deutschen Briefmarken – aber etwa die Nordseekonferenz von 1990 beweist schlagend, dass von einem Verantwortungsansatz keine Rede sein kann. Die Konferenz war ein Fiasko. Deutschland wird weiterhin Nitrate in die Nordsee leiten und Großbritannien alle Gifte dieser Welt, die sich in die Meere einleiten oder dort verklappen lassen. Auch der Umweltgipfel von 1992 in Rio de Janeiro endete mit einer Enttäuschung. Die antiökologische Haltung der USA sabotierte jeden Ansatz zu einer ernstzunehmenden Umkehr. Wir sind nicht einmal in der Lage, den Menschen auch nur annähernd verantwortungsvoll zu behüten. Unser Super-Paradigma basiert geradezu auf Verantwortungslosigkeit. Sie als unser Leitstern (ohne dass wir uns dessen bewusst gewesen wären) macht Totentanz ohne Trauer  |  61

unseren Überfall auf die Natur erst mög­lich. Je größer die Verfügungsgewalt ist, desto tiefer müsste die Verantwortungsethik verankert sein. Doch das war niemals der Fall. Denn unsere immense Macht gründet in der Sorglosigkeit, in der Hemmungslosigkeit. Jedes Hochrisikosystem, und jähr­lich kommen neue hinzu, bleibt ein Ausdruck unserer globalen Verfügungsgewalt, deren Charakter grundsätz­lich verantwortungslos ist. Es ist naiv, inmitten des wildesten Getümmels die Friedenspfeife rauchen zu wollen, naiv, in die schwärzeste Nacht hineinzuschreien, es möge augenblick­lich Tag werden. Außer der Hoffnung und der Verantwortungsethik steht noch anderes gegen die Bereitschaft, das evolutionäre Ende zu akzeptieren. Alle sterb­lichen Wesen werden von Angst beherrscht. Hinter angstgeleiteten Entscheidungen steckt immer die Existenzangst. Angst überwindet man durch Wahrhaftigkeit, die einen über die Schwelle trägt. Auf der anderen Seite der Schwelle steht man Auge in Auge dem Ausmaß unserer Zerstörung gegenüber. Dieses entsetz­liche Ausmaß gilt es auszuhalten auf dem Weg zu einer neuen inneren Freiheit. Wer das Unabwendbare in freiwilliger und einsichtiger Entscheidung hingenommen und verinner­licht hat, eröffnet sich neue Dimensionen der Selbstbestimmung. Man rea­ giert nicht länger blind, ängst­lich, kurzsichtig, sondern gelassen und den Umständen entsprechend ohne die Fremdbestimmung, die die Ängst­lichen als Über-Ich-Schutz benötigen. Wer sich selbst entscheidet, stärkt das Ich. Wer heiter die Akzeptanz wählt, begibt sich in ein neues, in das letzte Reich der Freiheit, befreit sich von der Trauer. Wer selbstgewählte Heiterkeit an den Tag legt, braucht nachts nicht zu weinen. Unser persön­liches Leben bleibt untrennbar vom Leben der Gattung Mensch, zugleich aber ist es durch die Unverwechselbarkeit der Individualität davon getrennt. Während die Spezies in diesem massen- und naturmordenden Jahrhundert ihre moralische Korruption längst bewiesen hat, vermögen Individuen durchaus den Weg einer moralischen Läuterung einzuschlagen. Wer die heitere Akzeptanz findet, beweist innere Freiheit, Freiheit zur Distanz von den ökologischen und humanitären Verbrechen der Allgemeinheit. Frustrationen werden abgebaut : Frustrationen über die Gewordenheit. Sie können leicht in Aggressionen umschlagen. Wer die 62  |  Kapitel II 

Evolution als gewordene, praktisch schon gewesene hinnimmt, ist nicht mehr enttäuscht darüber, dass es auch anders und besser hätte kommen können. Wie sinnlos, sich von Hypothesen frustrieren zu lassen.

Totentanz ohne Trauer  |  63

III Untergang und Ungehorsam Das Ende aller Dinge. Das Ende eines kühnen Entwurfs, einer faustischen Gattung, einer grandiosen Schöpferspezies. Ein Geschlecht, das Mozarts Così fan tutte, Shakespeares King Lear und Caravaggios Londoner Emmausmahl hervorzubringen befähigt war, endet wie ein Haufen Lemminge. Uns bleibt nur das reine Zusehen, die erzwungene Akzeptanz. Ganz gleich, was wir tun, es eilt nicht mehr. In Ruhe gehe man daran, den Mörder zu ermitteln. Die Tat ist schon geschehen, wir befinden uns in der Ermittlungsphase. Bald wird der Fall für immer und ewig abgeschlossen werden. Sogleich dringt frei­lich ins Bewusstsein, wie überflüssig die Suche nach dem Schuldigen ist. Niemand trägt Schuld. Das Super-Paradigma gedieh auf der Grundlage von Expansion, Produktion, Respektlosigkeit, Ausbeutung. All dies müsste umgekehrt werden – sanfte Aneignung anstatt Produktion, Minuswachstum anstatt Expansion, Respekt und Liebe allem Lebendigen und Toten gegenüber anstatt Respektlosigkeit und Ausbeutung. Die Unmög­lichkeit des grundlegenden Zusammenlebens mit der Mitwelt zwingt uns in die Haltung der Akzeptanz. Das Super-Paradigma unterliegt dem von Günther Anders so genannten Harmlosigkeitsgesetz : Je größer der Effekt, desto kleiner die für dessen Verursachung erforder­liche Bosheit. Alles geschieht einfach so. Und doch krankt der Gedanke der Harmlosigkeit an irgendetwas. Anders benennt die Diskrepanz zwischen Herstellung und Vorstellung als Krankheitsursache. Die Technik führt uns dazu, dass wir uns die Auswirkungen dessen, was wir herstellen, nicht mehr vorstellen können. Damit erreichen wir das Ende der Verantwortung. Etwas verantwort­lich tun, fährt Anders fort, heißt aber zur Tat stehen. Die Unmög­lichkeit einer Verantwortungsethik manövriert uns noch weiter in die immer enger werdende Ecke der Akzeptanz. Auch der Staat hat versagt. Ulrich Beck weist das Versagen des Versicherungsstaats anhand von drei Kriterien nach. Erstens   |  65

sind die Schäden global. Viele sind irreparabel. Gleichgültig, welche Anstrengungen auf nationaler oder gar internationaler Ebene unternommen werden, die schlimmsten Schäden sind nicht mehr gutzumachen. Zweitens droht uns zu jeder Zeit Vernichtung, was eine Nachsorge ausschließt. Es gibt kein Nachher und darum auch keine Nachsorge. Dem Auftrag, Leben zu beschützen und zu fördern, ist der Staat nicht nachgekommen. Drittens hat der »Unfall« längst seine raum-zeit­lichen Begrenzungen und damit seinen Sinn verloren. Der Unfall wird zum »Ereignis« mit Anfang, aber ohne Ende, wie Tschernobyl beweist. Immerhin gibt es keine Eliten, die sich ausnehmen können. Ironischerweise erfüllt der Versicherungsstaat seinen demokratischen Auftrag erst dann ganz, wenn alle ­Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen dem Exitus zustreben. Immer mehr in die Ecke gedrängt, möchte man etwas tun. Ich deute die alte Kantische Frage um. Da wir alles tun können und leider schon alles Vernichtende getan haben : Was dürfen wir, in einem moralischen Sinn, tun ? Wenn man einmal in aller Klarsichtigkeit das evolutionäre Ende akzeptiert hat, ist für alles weitere Handeln eine Basis geschaffen. Mon­taignes wache Beobachtungsgabe war eine aktive Trägheit, die sich der Vereinnahmung widersetzt. Nun sind wir frei. In den engen äußeren Grenzen gefangen, können wir mit unseren Seelen tun, was wir wollen. Wir sind frei und brauchen nicht zu definieren, was wir tun. Streiten wir uns doch jetzt nicht mehr um Begriffe. Je genauer die Denker bemüht waren, die Begriffe zu definieren und ihnen präzise Geltungsbereiche zuzuordnen, desto weniger hatten diese mit der Wirk­lichkeit zu tun. Schweben wir also undefiniert, leicht, ohne Koordinaten, ohne Kalkulationsvorgaben, ohne einen Gesamtsinn zu erwarten. Ich habe akzeptiert, dass es keine Hoffnung und keine Zukunft und keinen Sinn gibt. Ich schwebe. Doch das Schweben, so wurde die heitere Hoffnungslosigkeit verstanden, war ein Schweben in den Dingen, nicht über den Dingen. Die Distanz war nicht absolut. Akzeptanz bedeutet nicht Versöhnung. Eine ernsthafte Versöhnung mit der Mitwelt ist ohnehin ausgeschlossen. Wie soll man sich denn, ohne diese Grundlage, mit den Mitmenschen einigen ? Man darf sich nicht in eine noch schlechtere, verlogenere Gewordenheit als die gegenwärtige mit ihrer erniedrigten, ausgepowerten Natur begeben. Dem Quietismus soll das Wort nicht geredet werden, das 66  |  Kapitel III 

da hieße : Ruhe ist die erste Bürgerpf­licht, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Die von mir gemeinte Akzeptanz bezieht sich allein auf unsere Psyche und schenkt uns die Grundlage, von der aus wir operieren können. Im Angesicht der ökologischen Katastrophe können wir tun, was wir wollen. Keine Tat ändert irgendetwas. Es handelt sich nur noch um moralische Entscheidungen. Längst tanzen wir kurz vor dem Ausbruch auf dem Vulkan. Entschließen wir uns zur Aktivität, verdient es den Respekt aller. Die Aktivität vor dem Ausbruch des Vulkans ist der letzte, kleine, private Sinnsprung, bevor die Lava zu fließen beginnt. Man suche den Sinn in sich selbst, in der Tat, die vor der Selbstachtung Bestand hat. Über Jahrtausende hin beruhte das Handeln der Spezies Mensch, wie Schopenhauer festgestellt hat, auf dem Egoismus. Um diesen zu überwinden, suchte er nach einem Handlungskriterium von mora­ lischem Wert, näm­lich der Abwesenheit aller egoistischen Moti­ vation. Schopenhauer fand das Kriterium im Mitleid. Es über­w in­ det den Egoismus, weil man am Leiden des anderen teilnimmt. Sobald das Mitleid rege wird, liegt mir das Wohl und Wehe des anderen unmittelbar am Herzen, ganz wie das meinige. Damit entfällt für Schopenhauer der Unterschied zwischen dem anderen und mir. Mitleid garantiert das Wohl aller. Das Unrecht besteht in der Verletzung des andern. Dehnen wir Schopenhauers Mitleidethik auf die Natur aus, hätten wir die Brücke geschlagen zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Natur. Wir hätten. Denn ich frage mich, ob eine Mitleidethik weit genug geht. Wiedergutmachen kann sie ja ohnehin nicht mehr. Die Würfel sind bereits gefallen. Außerdem scheint mir Drewermanns Einwand stichhaltig : Auch das Mitleid ist eine Haltung, die vom Menschen ausgeht und der Natur in einem wohlwollenden Sinn Unrecht tut. Da es Schopenhauer zufolge schlecht sei zu töten, müsse die Natur »ungütig« erscheinen, denn sie tötet unablässig, was sie hervorbringt. Die Mitleidethik, schreibt Drewermann, muss angesichts des ständigen Sterbens in der Natur zwangsläufig in grenzenloser Trauer verharren und in einen metaphysischen Pessimismus münden. Wir dürfen unsere Gefühle nicht in die Natur projizieren. Es kann nicht um weltferne Metaphysik gehen. Auch will ich weder Untergang und Ungehorsam  |  67

Trauer noch Pessimismus predigen. Es geht um Wege des inneren Überlebens, um moralische Freiheit, um die letzte Würde. Es geht um die Bewahrung eines Restfunkens von Anstand im Angesicht der Verwüstung unserer Welt. Man hat sich auch bemüht, das Wohl aller in der Staatslehre zu verankern. Wenn der Souverän, so heißt es bei Hobbes, den Untertan nicht länger zu beschützen vermag, erlischt das Gehorsamsgebot. Ohne Schutz kein Gehorsam. Die Verpf­lichtung, um der Sicherheit willen stillzuhalten, wird aufgehoben, wenn Leib und Leben des Untertans in Gefahr geraten. Locke griff einhundert Jahre später, im Jahr 1690, diesen Gedanken nochmals auf. Da die Legislative über der Exekutive steht, darf diese jederzeit vom Volk aufgelöst werden, wenn die Exekutive Macht und Vertrauen missbraucht. Locke nennt diesen Missbrauch »breach of trust«; er tritt dann ein, wenn Freiheit und Besitz der Individuen bedroht sind. Siebzig Jahre später, 1762, fasst Rousseau den Sachverhalt noch radikaler. Die Exekutive ist bei ihm nichts anderes als der Diener des Volkes, den das Volk zu jeder Zeit nach Belieben absetzen kann. Henry David Thoreau greift die Idee des Revolutionsrechts in seinem berühmten Aufsatz On the Duty of Civil Disobedience von 1849 auf. Im Gegensatz zu Hobbes und Locke handelt es sich bei Thoreau nicht um Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit. Thoreaus oberste Entscheidungsinstanz bleibt das Gewissen des Individuums. Man ist zuerst Mensch und erst dann Staatsbürger. Niemals soll man sein Gewissen der Legislative überlassen. Das Gewissen gehört allein dem Individuum, das Thoreau zur Person, zur moralischen Instanz, erhebt. Der Staat gründet im Mehrheitsrecht, und das Mehrheitsrecht drückt nichts anderes aus als das Recht der Stärkeren. Der Staat wappnet sich nicht mit Ehr­lichkeit, sondern mit überlegener Macht. Wenn nun dieser Staat einem Menschen Unrecht antut und dem Individuum befiehlt, ihn dabei zu unterstützen, dann verlangt Thoreau, dass man das Gesetz brechen soll. Auf keinen Fall soll man eine Regierung fördern, die Unrecht treibt. Ansonsten gibt man sich als Person auf. Ziviler Ungehorsam, das ist die Forderung Thoreaus im Falle des genannten Unrechts­ zustandes. Von Thoreau beeinflusst, führte Gandhi diesen Gedanken fort. Er forderte den Menschen zu einem unbeirrbaren Sich-an-die68  |  Kapitel III 

Wahrheit-Halten auf, zu Satyagraha. Welches Recht haben wir und der Staat, auch nur die kleinsten Lebewesen zu töten ? Wir sind nur Himsa-Wesen, Gewalt-Wesen. Um von Himsa frei zu werden, müssen wir zur Identifikation mit allem, das da lebt, gelangen. Das ist nur mög­lich mittels einer Selbstläuterung, die völlig leidenschaftslos zu sein hat. Man muss sich erheben über die gegenläufigen Strömungen von Liebe und Hass, von Zuneigung und Ablehnung. Satyagraha, betont Gandhi, ist mehr als ziviler Ungehorsam. Ein Satyagrahi gehorcht den Gesetzen und ist nur deshalb in der Lage zu beurteilen, ob Gesetze schlecht und ungerecht sind. Daraus erwächst ihm die Berechtigung, gewissen Gesetzen unter genau bestimmten Umständen zivilen Ungehorsam zu leisten. Die Gehorsamsaufkündigung darf jedoch nie gewaltsam geschehen. Das Mittel bildet Ahimsa, Nicht-Gewalt. Denn nur sie offenbart in ihrer Anwendung Wohlwollen allem Leben gegenüber. Gandhi qualifiziert Ahimsa sogar als »reine Liebe«, als »Zustand der Vollkommenheit«. Es liegt mir fern, Gandhis Idealismus zu kritisieren und für Thoreau Partei zu ergreifen oder Thoreaus Theo­rie zu beanstanden und mich auf die Seite von Hobbes zu schlagen. Details spielen keine Rolle mehr. Distanziert, wenn auch nicht geläutert, fasse ich ledig­ lich zusammen. Stützt man sich auf Hobbes und Locke, wird klar, dass keine Regierung der Welt es verstanden hat, das Überlebensrecht unserer und anderer Spezies sicherzustellen. Kurzfristige wirtschaft­liche Ziele kamen immer vor langfristigen Überlebenschancen. Der Eigentumstheoretiker in Locke wird dem Überlebenstheoretiker in ihm vorgezogen. Locke wird gegen sich selbst ausgespielt. Die herrschenden Mächte und Regierungen haben ihre Pf­licht der Lebenserhaltung verletzt. Sie haben sich selbst, nicht ihre Bürger, am Leben erhalten. Damit haben sie ihr Recht auf Gehorsam verwirkt. Alle modernen Staaten haben es verstanden, die Menschheit an den Rand der Vernichtung zu führen. Streiten wir uns nicht über die Gründe. Sie liegen sehr viel tiefer als in der kurzsichtigen Tagespolitik. Die Wende pro reo natura halte ich für ausgeschlossen. Es handelt sich nicht mehr darum, Regierungen zu stürzen, um gewaltsam und mit todbringender Aktion in letzter Sekunde das Ruder Untergang und Ungehorsam  |  69

herumzureißen. Die nackte Gewalt möge für immer integraler Bestandteil unseres bisherigen, auslaufenden Super-Paradigmas bleiben. Ein drittes, endgültiges, fried­liches Super-Paradigma lässt sich nicht darauf aufbauen. Das Überleben vieler würde man mit dem Tod einiger rechtfertigen und sich so ins allzu bekannte Kielwasser aller Unrechtsrechtfertigungen begeben. Um den Wechsel geht es doch nicht mehr. Es geht nur noch darum, sich als Individuum der allgemeinen Korrumpierbarkeit zu entziehen. Es handelt sich nur noch um die Läuterung des Selbst. Angesichts des Sinnmangels und angesichts einer fehlenden Hoffnungsperspektive manifestieren alle moralisch-ökologischen Aktionen gleich welcher Art die letzte verbliebene Stärke der mensch­­lichen Gattung. Sie nimmt darum heldenhafte Züge an. Die scheiternde Heldin, der scheiternde Held erscheint groß im Sterben, Hemingway gleich. Greenpeace und Robin Wood : die wahren Heiligen der letzten Tage. Es gibt einen Unterschied zwischen Akzeptanz und Akzeptanz. Die Kleinbürger akzeptieren aus Angst oder Gedankenlosigkeit, sie akzeptieren aus Resignation oder aus dem Gefühl der sozialen Unterlegenheit. Die heitere Hoffnungslosigkeit macht man sich hingegen aus begründeter Einsicht zu eigen. Wer die heitere Hoffnungslosigkeit verinner­licht, erreicht einen Zustand ruhiger Wachheit. Dieser treibt in den zivilen Ungehorsam. Natür­lich bleibt jeder Akt des Ungehorsams, jede Ahimsa-­Aktion dezisionistisch und darum unbegründet. Jeder Akt könnte auch nicht stattfinden. Eine objektive Begründung gibt es nicht. Und doch möchte man in dieser merkwürdigen Schwerelosigkeit, in diesem Zwischenstadium, in dieser undefinierbaren Hilflosigkeit nicht verharren. Sie ergibt sich, weil auf einmal alle Begründungen entfallen sind. Wahrheiten haben sich in Luft aufgelöst. Der Schwebezustand infiziert die Seele. Auch der distanzierte Betrachter spürt den Untergang der Natur auf schmerz­liche Weise. Jeder sterbende Baum, jede mit Plastiktüten und alten Autoreifen zugeschüttete Landschaft, jedes autobahndurchfurchte Tal schreit immer dieselbe Botschaft : Das habt ihr mir angetan. Man ist auf der einen Seite Gefangener einer mangelnden objektiven Moral und einer allgemeinen Zukunftslosigkeit. Sie verheißen nichts Gutes. Sie lähmen. Auf der anderen Seite möchte man etwas 70  |  Kapitel III 

tun, etwas unternehmen, um wenigstens den eigenen Kindern das Überleben zu ermög­lichen. Diese Lage des distanzierten Zeitgenos­ sen zeichnet sich durch Ambiguität aus. Man will, und man will nicht. Man ist den Dingen unend­lich fern und möchte doch insgeheim jede kranke Tanne retten. Welchen Ausweg gibt es aus dem schreck­lichen Dilemma der Ambiguität ? Es gibt zwei Wege. Sie sind nicht objektiv, sondern nur subjektiv begehbar. Denn der Super-Paradigmenwechsel hat sich als objektiv unmög­lich erwiesen. Der Wandlungs- und Handlungsspielraum wird damit dem Subjekt zugeordnet. Das Subjekt wird zur Entscheidungsinstanz, denn die Staaten haben versagt. Der erste Ausweg : Man kann im Schwebezustand verharren und die Distanz zu einem Absolutum erhöhen. Und wenn unsere Welt zugrunde geht ? Ich habe es ja gesagt, was kümmert mich das tris­te Resultat. Man kann, mit anderen Worten, pharaonengleichen Status beanspruchen und sich in einem selbstgeschaffenen Ent­ rückungszustand vor den evolutionären Verbrechen verkriechen. Aus dieser Position spricht jedoch nicht die in den Dingen schwebende Distanz. Im Grunde spricht nur die Hilflosigkeit daraus. Man vergisst dabei, dass man nicht Pharao, sondern ein ganz gewöhn­ licher Sterb­licher ist, ein postmodernes Würstchen. Der zweite Ausweg : Allen Signalen zum Trotz, den spezieseige­ nen Untergang vor Augen kann man sich im unend­lich Kleinen für ein Weiterleben dieser Spezies auf Zeit einsetzen. Im familiä­ ren Bereich gilt es, an die eigenen Kinder zu denken, denen man ein gutes Leben wünscht. Auch sie werden Kinder haben, denen es nicht schlechter gehen soll als ihren Eltern. Man kann auch an sich selbst denken. Zu Lebzeiten brauchen wir den Großen Exitus nicht zu befürchten. Das Ende lässt noch auf sich warten. Wir haben, ganz individuell, ausgesorgt. Aber haben wir vor uns selbst ausgesorgt ? Wie stehen wir vor uns da, wenn wir bekennen müssen : Ich habe nichts getan ? Auge in Auge mit dem absolut sicheren Untergang verbleibt dem ehr­lichen Individuum nur die Wahl der Würde. Man akzeptiere den Untergang, doch man bestehe vor sich selbst, indem man alles tut, um Natur und Mensch zu retten. Es gibt nicht mehr viel zu erledigen. Die großen Dinge sind getan. Die Rettung eines kleinen Feuchtbiotops, die Abwehr einer geplanten Autobahn, das Pflanzen eines Baumes – diese Untergang und Ungehorsam  |  71

Bescheidenheit wird von uns nicht verlangt, sie ergibt sich zwangsläufig, wenn man sich und die Natur achtet. Illusionen gebe man sich nicht hin. Die Situation, in der man agiert, bleibt grundlegend absurd. Camus kommt zu neuen Ehren, Sartres Rationalismus hat ausgespielt. Einen eigent­lichen Ausweg gibt es nicht. Das letzte verbliebene Quäntchen Moral fordert vom Subjekt nicht ein Sollen, sondern erlaubt dem Menschen, sich selbst ein wenig zu wählen. Vielleicht muss man die Nüchternheit im Angesicht des Un­ab­ änder­lichen noch radikaler fassen. Es geht gar nicht mehr um die Natur, es geht ledig­lich um die nackte Selbstachtung. Jonas hat sich um sie bemüht und ein Minimalprogramm aufgestellt : dass eine Menschheit sei. Er ist meiner Meinung nach gescheitert, weil auch dieses Minimum von uns nicht mehr eingelöst werden kann. Wir befinden uns in der unglück­lichen Situation, sogar dieses Minimalprogramm reduzieren zu müssen. Wir brauchen eine weltumspannende Moral. Mit den Weltreli­ gionen schien sie in Reichweite gerückt. Was aus den Weltreligionen geworden ist, weiß man hinläng­lich. Allein die vielen völkermordenden Exzesse etwa des Katholizismus oder des Islam genügen, um der Religion jede Glaubwürdigkeit abzusprechen. Eine philosophisch begründete Kritik erübrigt sich. Das Ideal einer intersubjektiven Moral entschwindet auf Nimmerwiedersehen. Es gibt kein Recht mehr. Das Subjekt wird ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Allein die individuelle, absurde Restmoral der Selbstachtung erlaubt uns, aus der erstarrten Un­ tätigkeit auszubrechen und zu handeln. Diese armselige Restmoral kann man auch Heldenmoral nennen, da sie widersinnig Minimalakte vollbringt. Ebenso wäre der Begriff der Idiotenmoral angebracht. Der in heiterer Gelassenheit handelnde Idiot wird zum Sinnbild einer – kurzlebigen – Zukunft. Sind nur noch Idioten fähig, heitere Hoffnungslosigkeit zu verinner­lichen und auszutragen ? Die Menschheit hat als Spezies vor allen anderen Spezies versagt. Wir haben uns in unserer todbringenden Dominanz so weit gebracht, dass aufrechten Individuen nur noch eins bleibt. Ohne Illusionen zapfe man das letzte Kraftreservoir an, das Reservoir der Selbstachtung. Bald wird auch dieses Rinnsal versiegen. Es ist bereits aller Tage Abend. 72  |  Kapitel III 

IV Heitere Hoffnungslosigkeit (2017) Die relative Strenge der Akzeptanz genügt nicht. Sie genügt nicht, um im Natur vernichtenden Anthropozän psychisch zu überleben. Sie genügt nicht, um das rest­liche und einzige Leben, das man besitzt, auszufüllen und mit rein subjektivem Sinn zu bereichern, in Ermangelung eines objektiven Sinns. Sie genügt außerdem nicht, um auf der einen Seite die Hoffnungslosigkeit zu spüren, diese aber auf der anderen Seite mit gefühlter Heiterkeit erträg­lich zu gestalten. Vielmehr muss man die Akzeptanz in der Mon­taigne-Nachfolge1 als nackte Basis der Heiterkeit, als Basis­ akzep­tanz des eigenen Todes, des Speziesuntergangs, der Vergäng­ lichkeit schlechthin interpretieren. Wenn man in einer grundlegend absurden Situation handelt, wird, wie im letzten Kapitel dargelegt, der Wandlungs- und Handlungsspielraum allein dem Subjekt zugewiesen. Wir sind wunderbar frei. Das Subjekt wird ganz auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird zur privaten Entscheidungsinstanz. Daher nannte ich unser Handeln dezisionistisch. Das bedeutet : Eine philosophische Theo­riebegründung des Subjekts erweist sich vermut­lich als unmög­lich. Das Zurückgeworfensein auf das Subjekt entsteht als Ergebnis der bisherigen Überlegungen. Wegen dieses prinzipiellen Dezisionismus und der Wandelbarkeit dessen, was wir unter »Subjekt« verstehen, frage ich mich, ob Subjekttheo­ rien überhaupt ohne eine Begründung auskommen müssen, denkt man etwa an Fichtes Subjektphilosophie des Ich und Nicht-Ich : eine leere Begriffsspielerei ?2 Auch vermag es der Mensch nicht, in jeder Situation hoch mora­ lisch zu handeln. Stets bis zum letzten Atemzug das Reservoir der Selbstachtung anzuzapfen  – das ist eine harte Forderung, eine kompromisslos-normative Ethik im Kleinen; ein Ding der Unmög­ lichkeit. Wir müssen unser Handeln, sofern es keinem Lebewesen und nicht der Natur schadet, nicht rechtfertigen. In der absurden   |  73

Situation der ökologischen Endzeit sollten wir nicht als kleine, kritische Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger herumirren, angeb­lich wissend, wo der Finger auf die wunde Stelle zu legen sei. Wir sind frei, unser rest­liches Leben zu genießen, frei von Rechtfertigungszwängen. Das hier anvisierte Ziel liegt darin, wahre Heiterkeit innerhalb des Gesamtrahmens der Hoffnungslosigkeit zu fühlen. Der absurden Situation zum Trotz wende man sich der größtmög­lichen Lebensbejahung zu, was ich unten erläutere. Im Endeffekt erfüllt nur diese Bejahung das angesprochene Schweben in den Dingen. Nur die Lebensbejahung erweitert ins Positive das Spektrum des Rest-Mög­lichen im eigenen Leben. Im Rahmen der freien, dezisionistischen Subjektivität begründet sie sich selbst. In der Folge werde ich einige wenige, für mich wichtige Mög­ lichkeiten skizzieren, wie man im bedauer­lichen und destruktiven Anthropozän psychisch überlebt. Sicher­lich gibt es viele weitere Mög­lichkeiten, zum Beispiel im Engagement für Tier- oder Menschenrechte oder in ehrenamt­lichen Tätigkeiten oder in einer sinnvollen (allzu begrenzten) ökologischen Politik. Diese Begrenztheit muss man akzeptieren und mit großer Kraft aushalten, ansonsten kann die Aktivität in die Verzweiflung führen, wenn man sich auf der Mikroebene ökologisch engagiert. Gerade die Verzweiflung möchte ich in diesem Kapitel umgehen. In diesem Kapitel möchte ich nicht auf ökologisches Handeln eingehen, sondern darüber hinausführen. Das letzte Kapitel endete spartanisch. Nun geht es sozusagen epikureisch weiter, denn der Genuss gehört zum Leben dazu. In der ökologischen Endzeit müssen das Privatleben und der subjektive Genuss der Dinge zu ihrem Recht kommen, weil sich eine objektive und realistische Lösung nirgends abzeichnet. Wir werden reformierend untergehen, schrieb ich. Um diese verzweifelten und immer verzweifelter werdenden Reformen soll es in diesem Kapitel nicht gehen. Nun ziehe ich die äußerste Konsequenz aus der Schlussfolgerung : Es ist zu spät. Man suche den Sinn im naheliegenden Alltag. Man genieße, was da ist, um ein sch­lichtes Glück zu erfahren : Liebe und Familie, Freundschaft, gute Nachbarschaft und ein fried­liches Mitein­ ander, den Mitmenschen helfen, wo immer mög­lich, falls mög­lich Erfüllung im Beruf, soziales Engagement, falls das einem liegt. 74  |  Kapitel IV 

Darüber gibt es wenig zu sagen, so selbstverständ­lich sind diese Dinge. Und doch kann es das Größte, Bedeutungsvollste sein, wenn man liebt, wenn man gesund und munter ist, wenn man eine gute verwandtschaft­liche und freundschaft­liche Einbettung genießt anstatt allein auf der Welt dahin zu vegetieren. Für andere tätig und mitmensch­­lich zu existieren bleibt eine Lebensrechtfertigung, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Natür­lich kann man ohne die Erfüllung der Grundbedürfnisse nicht zufriedenstellend leben. Das mag sich trivial anhören und das ist es auch, oberfläch­lich gesehen. Erst wenn man das private Umfeld unter der Perspektive des Hier und Jetzt betrachtet, gewinnt das Triviale an Tiefe. Hegel hat für die Unmittelbarkeit (allerdings unter der Entfaltungsperspektive des sich entäußernden, sich wissenden Geistes), vom Jetzt und dem Diesen nichts übrig. Die Unmittelbarkeit sei das Leerste, Einfachste.3 Versteht man jedoch die unmittelbare mensch­­liche Umgebung in ihrem Wert für den Menschen mit dem großen Glückspotential, das sie beherbergt, vermag das Jetzt und das Hier eines geliebten Menschen zum Größten, Bedeutungsvollsten, zum Erfüllenden zu werden. Ich achte die unmittelbare Beziehung der Menschen zueinander hoch. Für selbstverständ­lich darf man sie nicht halten. Auch banal ist sie genau genommen nicht, denn besitzt man das unmittelbar Gute nicht, etwa in Form einer herbeigesehnten Partnerschaft, oder hat man die Liebe seiner Kinder nicht oder stirbt eine geliebte Person, bläht sich das scheinbar Selbstverständ­liche, das als normal Empfundene auf zum größten Unglück. Nichts im mensch­­lichen Umfeld darf als selbstverständ­ lich gelten. Alles kann sich in der Zeit eines Liedschlags verändern. ­Sch­licht aber wahr : Nil homini certum est, wie die Römer sagten, dem Menschen ist nichts sicher. Man zolle höchsten Respekt dem Goethe’­ schen »Verweile doch«. Ironischerweise empfehle ich, dasjenige, was wir rapide zerstören, unbedingt zu genießen : die Restnatur. Sie gilt es als Freude zu erleben, denn von der Natur kommen wir her und in sie gehen wir ein. Die Natur, die wir tief empfinden können, kann sogar bis zur Ergriffenheit erlebt werden. Subjektiv und rein gefühlsmäßig vermögen wir den Wald, das Meer, die Felder und die Berge und die Täler über die Heiterkeit weit hinaus zu empfinden. Sogar als »schön« Heitere Hoffnungslosigkeit  |  75

können wir die Natur genießen, der heute ungebräuch­lichen Formel des »Naturschönen« folgend. Voltaires ironischen Schlusssatz des Candide – »doch wir müssen unser Gärtchen bebauen«4 – kann man heute wört­lich nehmen. Freuen wir uns über unseren Garten, unseren Pflanzenbalkon, über jedes grüne Gewächs, das noch ohne genetische Veränderungen und ohne Pestizide treibt. Natür­lich wirft der Schönheitsbegriff in der Ästhetik immense Probleme auf. In diesem finalen Kontext jedoch muss uns das theo­ retische Problem nicht tangieren, denn es geht um heiteres Naturempfinden als Glücksauslöser in düsteren Zeiten. Es geht in diesem Kapitel und real um ein heiteres Naturempfinden, rein um die Subjektivität, die selbst vermut­lich nicht begründbar ist, um die subjektive Naturempfindung. Letzten Endes geht es um meine ganz eigene Empfindung der Naturschönheit. Warum erlebe ich Monument Valley, die Wüste im Death Valley in seiner lebensfeind­lichen Kargheit, den verschneiten deutschen Winterwald als schön ? Ich weiß es nicht und eine Begründung ist mir vollkommen gleichgültig. Warum lieben die Deutschen ihren Wald so sehr ? Es gibt dafür historische Gründe in der Romantik. Aber es genügt völlig, den Herbstwald in all seiner Schönheit sch­lichtweg mit allen Sinnen zu genießen. Je weniger Restnatur es gibt, desto teurer sei sie uns. Wobei man sich keinen Illusionen hingebe : Unser Verhältnis zur Natur, auch im Paläolithikum, war immer vom Kampf um das Überleben geprägt. Ein antagonistisches Verhältnis, dessen Endergebnis uns nun präsentiert wird : der metallen singende Sensenschnitt des Speziestodes. Die Natur war und ist jedoch unsere Lebensgrundlage. Sie ist der Hort unseres Überlebens, unser Kronjuwel, unsere uns zutiefst entfremdete Heimat. Sie wurde uns anvertraut und wir haben ihr Vertrauen schmäh­lich missbraucht. Und so bleibt uns das reine Zusehen, ja die Sehnsucht nach dem unwiederbring­lich Verlorenen. Genießen wir den Rest mit allen Fasern, mit all unseren Sinnen und auf jede Weise, näm­lich psychisch und ästhetisch. Abstrahiert man von der irdischen Natur auf den Kosmos, gewinnt man ein besonderes Naturerlebnis. In der Kritik der Urteilskraft hat Kant bei der ästhetischen »Lust« zwischen Schönheit (Natur- und Kunstschönheit) und Erhabenem unterschieden. Im Schönen, schreibt der Königsberger Philosoph, wird das Wohlge76  |  Kapitel IV 

fallen mit der Vorstellung der Qualität, beim Erhabenen mit der Quantität verbunden. Beim Schönen wird »directe ein Gefühl der Beförderung des Lebens« bei sich geführt, beim Erhabenen sei die Lust »indirecte«, »näm­lich so, daß sie durch das Gefühl einer augenblick­lichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stärkern Ergießung derselben erzeugt wird, mithin als Rührung kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft zu sein scheint.« Das Erhabene erweitert unsere Erkenntnis der Natur nicht, »aber doch unsern Begriff von der Natur …« Wenn man also etwas erhaben nennt, erkennt man dadurch nichts Zweckmäßiges an der Natur, »sondern nur in dem mög­lichen Gebrauche ihrer Anschauungen …«5 Modern : Beim Erhabenen der Natur arbeitet unsere Vorstellungskraft, wenn wir etwas als erhaben auffassen. Wir knüpfen synaptische Verbindungen, hervorgehend aus unserer visuellen Wahrnehmung. Und doch ist die Erhabenheit nicht rein subjektiver Natur. Es gibt ein Realitätskorrelat : »Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß ist.« Oder umgekehrt : »Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.«6 Dabei arbeitet, das erkannte Kant, unser Neokortex fleißig mit : »Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft.«7 Auch die Gefühle sind an diesem Prozess beteiligt, was Kant die »Gemütsstimmung« nennt, modern : die Emotionszentren des Gehirns Insula und Amygdala. Ganz auf der Höhe seiner Zeit, spricht Kant dabei das Universum an. Er schreibt, dass die Milchstraße und die »unermeß­liche Menge solcher Milchstraßensysteme … keine Grenzen erwarten«8 lassen. Der Begriff »erhaben« klingt für unsere Ohren allerdings altmodisch und deplatziert. Ich möchte trotzdem dafür plädieren, ihn wenigstens auf das Universum anzuwenden. Kants Unterscheidung zwischen der qualitativen Ausrichtung des Schönen und der quantitativen beim Erhabenen scheint mir sinnvoll. Zu unserer Freude stehen jedem Menschen die überwältigenden Farbfotos des HubbleWeltraumteleskops zur Verfügung. Ich denke etwa an Fotos vom Gebiet im Sternbild Adler (auch Adlernebel genannt) mit den hoch aufragenden Säulen aus kaltem Wasserstoffgas und Staub, die von der heißen UV-Strahlung neu entstandener Sterne beleuchtet werden; oder der filigrane Krebsnebel, der Überrest einer Supernova; Heitere Hoffnungslosigkeit  |  77

oder etwa die inzwischen vertraute Nachbargalaxie Andromeda in ca. 2,5 Millionen Lichtjahren Entfernung von der Milchstraße; ganz zu schweigen vom Hubble Deep Field mit Tausenden von Galaxien, der tiefste Blick ins All. Wie Kant differenzierte : Natür­lich trägt der Blick ins Universum im Erhabenheitskontext nicht zur Erkenntnis bei. Den Erkenntnisgewinn gesteht man gerne den Kosmologen zu. Aber die Betrachtung des Kosmos erfreut uns sch­lichtweg. Dabei empfinden wir das All nicht als furchterregend. Das hat mit etwas anderem zu tun. Aristoteles begründet in der Metaphysik den Anfang des Philosophierens im Staunen, im Staunen über die Welt.9 Auf das erhabene Universum angewandt, möchte ich vom neuen Staunen sprechen, erst seit kurzem mög­lich, ein Staunen, das uns zutiefst erfreuen kann. Im neuen Staunen finden wir einen emotio­ nalen Zugang zum an sich völlig neutralen Universum. Im neuen Staunen über die Erhabenheit des Universums setzen wir das All in Bezug zu uns selbst, ja wir genießen die für uns unermess­liche Weite. Zum Staunen über die erhabene Quantität kommt ein Weiteres hinzu. Betrachtet man real den Sternenhimmel oder vermittelt anhand von Weltraumfotos, könnte man das Universum sogar »schön« nennen. Doch seit dem Beginn des Modernismus ab 1900 wird das »Schöne« nicht mehr mit dem Kunstprodukt identisch gesetzt, oft nicht einmal in Bezug gebracht. »Das Kunstschöne« und das Erhabene sind so gut wie ganz aus der Ästhetikdiskussion verschwunden. Doch Kant hat uns ein winziges Hintertürchen offen gelassen. Wenn Erhabenheit auf schiere Quantität basiert und man im Universalkontext darüber staunt, gehört zum Schönen die Qualität. Was diese sei, vermag ich allerdings nicht auszumachen, weswegen das Schöne auf außerordent­lich wackligen Beinchen steht. Aber sind wir in diesem Essay gezwungen, alle Begriffe präzise zu definieren; ansonsten kein Genuss, keine Freude ? Wir sind es nicht. Man kann ganz ohne Begriff der Sache und ganz ohne theoretische Begründung etwa die Hubble-Weltraumteleskopfotos und andere Weltraumfotos als schön empfinden. Wie käme ich dazu, dagegen Einwände zu erheben ? Mithin wäre die Schönheit des Universums mit der Erhabenheit verknüpft : schöne Erhabenheit oder erhabene Schönheit, Koppelung von Qualität und Quantität  – wie wir es instinktiv auch vornehmen, wenn wir herausragende »Naturwun78  |  Kapitel IV 

der« wie etwa den Grand Canyon, Bryce Canyon, Monument Valley oder die kalifornischen Sequoias betrachten. Die Restnatur leuchtet uns glänzend entgegen, wenn auch immer matter werdend. Kants präzise Unterscheidungen paraphrasierend, kann man auf das Universum bezogen die ästhetische Frage folgender­maßen beantworten : Die Empfindung der Schönheit des Kosmos ist extrem subjektiv, also subjektiv mög­lich, wo sie uns Freude und Genuss schenkt. Zwingend notwendig kann man das Attribut der Schönheit beim Kosmos hingegen nicht nennen. Die Erhabenheit dieses Universums kann man objektiv unbestreitbar nennen, also zwingend. Die Universaldimensionen kennen wir gesichert, und wir stehen staunend davor. Das Universum als erhaben zu erfahren und es erhaben zu nennen basiert auf dem objektiven Kriterium der schieren Quantität. Der Begriff, so altmodisch er uns heute erscheinen mag, kann als objektiv begründet und daher als adäquat bezeichnet werden. Wundert euch, und es wird euch erfreuen. Die Betrachtung des Kosmos erfreut uns nicht nur, schenkt uns nicht nur ein neues Erlebnis von »Schönheit«. Der Kosmos erweitert unseren Horizont ins Unermess­liche, lehrt uns unsere Bedeutungslosigkeit und bringt uns eine neue Art von freudig-kind­lichem Staunen bei. Man kehre zurück auf die Erde. Seit der jungpaläolithischen Höhlenmalerei und ihren mobilen Figurinen in der Kunst, seit der ersten, uns durch Notation überlieferten Musik im Gregorianischen Gesang, seit dem Gilgamesch-Epos in der Literatur, seit Eisensteins Filmen hat sich die Menschheit ganz spezieseigene Ausprägungen geschaffen. Die Künste offenbaren höchste Schöpferkraft. Sie zeugen außerdem von tiefstem Genusspotential  – dem ästhetischen Genuss  – und sie besitzen ein immenses Trostpotential. Ihnen wohnt wahrhafte Größe inne. Es lohnt sich, das ästhetische Erleben genauer zu untersuchen. In der ökologischen Endzeit erwarte man allerdings nicht zu viel von den Künsten. Lösungen bieten sie nicht an. Auch Wunder hat die Kunst nicht parat, schon gleich nicht, wenn man diese mystifiziert. Dabei gehören Kunst-Mystifizierungen keineswegs zur älteren Kritik. So schreibt Christoph Menke 2013 von der »Kraft« der Kunst. Der Zusammenhang der Kunst sei Kraftübertragung, »die Kraft der Begeisterung, der Entrückung auf den Künstler, Heitere Hoffnungslosigkeit  |  79

­ uschauer und Kritiker …«10 Noch ephemerer schreibt Hans Ulrich Z Gumbrecht von der »Epiphanie« der Kunst, mit der er das Oszillieren zwischen Bedeutungs- und Präsenzeffekten im Kunstwerk meint.11 Ein verschleiernder Begriff, denn Epiphanie heißt eigent­ lich »Erscheinen eines Gottes«. Um Gött­liches aber soll es in der Ästhetik nicht gehen. Im Gefolge des Bildungsromans seit dem 18. Jahrhundert erwar­ tet der amerikanische Großkritiker Harold Bloom vom Roman Erstaun­liches. Durch intensives und ständiges Lesen käme man in die Lage, sich nicht nur zu bereichern, sondern ein autonomes Selbst zu begründen. Die großen Romane des 19. und 20. Jahrhunderts machten die Rezipienten politisch und moralisch klüger, man werde verständnisvoller, stärker und weiser. Auch befreie das Lesen von Allgemeinplätzen. In der literarischen Begegnung mit Romanfiguren könne man sogar sein eigenes Verhalten ändern.12 Richard Rorty greift diese Thesen von Bloom auf und vertieft sie. Die Blüte des Romans im 19. und 20. Jahrhundert »hat die Landkarte der west­lichen Geisteswelt verändert …«. Die Lektüre von Romanen erhöhe unsere Toleranz für Menschen, die wir auf den ersten Blick abstoßend finden, und die großen Romane reduzierten Selbstbezogenheit. Konkret schreibt Rorty über Proust und Henry James : Ihre Romane hätten dazu beigetragen, uns zu den Menschen zu machen, die wir sind. Ihre Romane seien »heilig«.13 Es ist unbestreitbar, dass all das, was Bloom und Rorty vom Roman behaupten, zutreffen kann. Allein, beide Kritiker erheben den Roman zu einem Bildungsmedium par excellence. Sie verabsolutieren die Romanfunktion, normieren den klassischen Roman als Wahrheitsmedium und schrammen hart an der ästhetischen Eigenart vorbei. Prousts und James’ Romane mögen großartig sein; sie jedoch als Normen hinzustellen, widerspricht der ästhetischen Freiheit vom Produzenten und Rezipienten. Kein Schriftsteller darf heiliggesprochen werden. Jede Heiligsprechung katapultiert die Künstler, Schriftsteller und Komponisten zu weit nach oben, in einen entrückten ästhetischen Olymp, entzieht sie der irdischen Kritik und lässt den gewöhn­lichen Menschen hier unten in falscher Ehrfurcht erzittern. Wer im Olymp sitzt, erstarrt zur güldenen Norm für alle Lebenden, was den Tod der künstlerischen Krea­tivi­ tät bedeutet. 80  |  Kapitel IV 

Auch der Idealist Schiller stellte zu hohe Ansprüche an die Kunst. Die »schöne Kunst« soll den Menschen veredeln. Durch die Schönheit soll der Mensch von der »Rohigkeit« und der »Erschlaffung« zurückgeführt werden. Obwohl der Mensch die »Anlage zur Gottheit« in sich trage, sei der Weg in den Sinnen begründet. Im Kunstschaffen jedoch erhöht er sich : »Wo … der Formtrieb die Herrschaft führt, und das reine Objekt in uns handelt, da ist die höchste Erweiterung des Seyns, … da hat sich der Mensch zur Ideen-Einheit erhoben …«.14 Schillers erhoffte Verwandlung des Menschen durch die Dichtung hebt den Künstler empor in eine exaltierte Position. Rortys späteste Künstlerheiligungen gehören zu einem Typus : dem des gött­lich inspirierten Künstlers, Musikers und Schriftstellers. Bestimmte Künstler, Schriftsteller oder Komponisten sollen durch ihre erstaun­lichen Werke neue Menschen kreieren. Je höher die Künstler emporgehoben werden, desto herkulanischer werden ihre Arbeiten sein, desto erhabener ihre Werke, desto heroischer ihr jeder Kritik enthobenes Tun. Kein Zufall, dass übertriebene Erwartungen an Künstler, Dichter und Musiker sie in gött­liche Nähe rücken. Damit sind wir wieder im Gefilde ästhetischer Normen angekommen. Die entrückende Erwartungshaltung an Kunst und Künstler steht jedem autonomen ästhetischen Genuss diametral entgegen. Die Kunst zu definieren bedeutet in meinen Augen sich in des Teufels Küche zu begeben. Daher wage ich nur eine Umschreibung, eine Annäherung. Kunst unterscheidet sich von Alltagsgegenständen (es sei denn, diese sind in den Kunstkontext eingebunden wie etwa Duchamps Urinoir oder Warhols Brillo-Boxen) durch ihren Verweisungscharakter. Alltagsgegenstände wie Schreibtischlampen verweisen auf nichts und sind nur sie selbst, existieren also selbstbezüg­lich. Kunst hingegen weist über sich hinaus auf eine oder viele Bedeutungen. Man könnte auch sagen, Kunst besitzt eine symbolische Tiefenstruktur durch das über sich Hinausweisende, ein Aufscheinen von tieferen Bedeutungen als jene, die wir Rezipienten in der Regel selbst hervorzubringen vermögen. Von der Ästhetik zu sprechen heißt von Qualität zu sprechen. Auf keinen Fall ist die Kunst mit irgendeinem anderen, meist antiquierten Begriff wie »dem Schönen« oder »dem Wahren« identisch. Kunst Heitere Hoffnungslosigkeit  |  81

kann »schön« sein, was immer wir subjektiv darunter verstehen, sie kann uns etwas vermitteln, das manche Rezipienten als »wahr« verstehen. Aber sie muss sich in keine enge Schiene einfügen. Man darf das, was man wahrnimmt und für ästhetisch wertvoll erachtet, nur nicht verabsolutieren. Ganz bewusst sehe ich von anmaßenden Empfehlungen ab, die nach normativer Ästhetik übel riechen. Lesen Sie Proust nicht, wenn er Ihnen zu beschwer­lich erscheint. Hören Sie Brahms nicht, wenn Ihnen die Spätromantik allzu blumig und betörend vorkommt. Vertiefen Sie sich nicht in die Kunst vor dem 20. Jahrhundert, wenn Sie von Ihnen als verstaubt wahrgenommen wird. Auf keinen Fall gilt es, einen bürger­lichen Bildungskanon abzuarbeiten. Auch als Rezipient von Kunst spiele man, Schiller folgend. Ich greife seine Spieltheo­rie von Kunst auf, die er, in moderne Termini gefasst, für die Produktionsästhetik konzipiert hat. Es heißt bei Schiller in seiner Ästhetischen Erziehung : »… der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«15 Diesen Spielbegriff möchte ich gerne auch auf die Rezeptions- und Partizipationsästhetik anwenden, um das Genüss­liche und Heitere beim Kunsterleben zu betonen. Wenn man die Künste sehend, hörend oder lesend erlebt, nimmt man mit den Sinnen wahr und spielt zugleich mit den Bedeutungen. Dies sei überhaupt ein Herangehen an die Kunst, das ich nur befürworten kann : freudig, spielerisch, niemals erzwungen, was jedes Spiel im Keim abtötet. Damit erlebt man einmal wieder eines der Paradoxa des Ästhetischen. Trotz Bedeutungen, trotz ästhetischsymbolischer Tiefe haben wir es mit einem Gegenstand zu tun, der leicht, spielerisch und freudig angegangen sein möchte. Das schwer greifbare Spiel der Bedeutungen beim Kunstprodukt impliziert, dass nur ein spielerisches, freies Rezipieren der ästhetischen Eigenart gerecht wird. Erst recht haben sich nach dem großen kulturellen Bruch um 1910 die tradierten Herangehens­ weisen an Kunstprodukte verflüchtigt. Kunstprodukte und ins­ besondere jene nach 1900, sie lassen sich nicht festnageln. Ihr Verweisungscharakter bleibt unbestimmt, im Fluss; selbst das Wort »Entschlüsseln« ist zu festgefügt, zu simplifiziert, zu eindimensio­nal für vieldimensionale Werke. Semiotisch gesehen trifft Ecos Begriff des offenen Kunstwerks absolut zu.16 82  |  Kapitel IV 

Umso mehr ein Grund, das bemühte »Erschließen«, das verkrampfte »Entschlüsseln« sein zu lassen und sich dem Genuss hinzugeben. Alle Vorschriften entfallen. Sie wären ohnehin Totgeburten. Man genieße, was gefällt. Die Spannbreite des ästhetischen Erlebens ist immens. Sie reicht etwa vom humorvollen Goutieren von Thomas Bernhards einzigartiger Sprache in seinen amüsanthasserfüllten Romanen bis zur höchsten kontemplativen Ruhe, zum Beispiel vor Vermeers berühmter Küchenmagd im Amster­damer Rijksmuseum. Bei der sch­lichten Tätigkeit des Einschenkens strahlt die Magd eine derartige Konzentration aus, dass die Schlicht­heit der ewigen Ruhe aufscheint. Aus der fast hörbaren Stille erwächst eine Versenkungsmög­lichkeit, die alle flüchtigen Augenblicke zunichtemacht zugunsten des Erlebens tiefer, gefühlter Ruhe. Andere Kunstprodukte thematisieren Bewegung, was ebenso gleichwertige Gültigkeit beanspruchen darf. Degas’ und Géricaults Pferderennen oder Monets flirrende Landschaften oder Fluxus-Kunst oder überhaupt die Musik verkörpern Bewegung. Oder die Bewegung wird angehalten wie in Caravaggios Londoner Emmausmahl : der Augenblick, wo die Jünger überrascht erkennen, dass der Wieder­ auferstandene vor ihnen sitzt. Oder Rembrandts tiefe Blicke, die – vollkommen ruhig – zugleich bewegt in die Unend­lichkeit der Subjektivität führen, den Betrachter entführen. Caravaggio und Rembrandt halten die Zeit an, während Goyas aufklärerische Anklagen die unmensch­­lichen Bizarrerien seiner Zeit schildern, eine Zeit in töd­licher Bewegung. Rembrandt und Goya berühren zutiefst, aber auf vollkommen andere Weise. Insbesondere die deutsche Romantik suchte und fand ihre Glücksgefühle im Trostpotential der Künste. Dass die Künste in schlechten Zeiten unend­lichen Trost zu spenden vermögen, drückte Franz von Schober in seinem Gedicht An die Musik, von Schubert unvergleich­lich vertont (op. 88, Nr. 4), höchst romantisch aber treffend aus. »Du holde Kunst, in wieviel grauen Stunden, Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, Hast du mein Herz zu warmer Lieb entzunden, Hast mich in eine beßre Welt entrückt !

Heitere Hoffnungslosigkeit  |  83

Oft hat ein Seufzer, deiner Harf’ entflossen, Ein süßer, heiliger Akkord von dir Den Himmel beßer Zeiten mir erschlossen, Du holde Kunst, ich danke dir dafür !«17

Schober mag das ästhetische Erleben allzu empfindsam ausgedrückt haben, im Prinzip aber trifft er den Nagel auf den Kopf. In modernen Termini : Durch den ästhetischen Genuss erlebt man, frei­lich nicht immer, eine Zustandsveränderung. Sie kann als vertieftes Erleben über den banalen Alltag hinaus beschrieben werden. Indem wir mit den Sinnen erfahren und tiefere Bedeutung erleben, kann der ästhetische Genuss trösten und den Menschen über sich selbst und die Zeit erheben. In besonders intensiven ästhetischen Erlebnissen kann der heitere Genuss sogar in Beglückung umschlagen. Man erlebt dabei, einmal wieder, ein ästhetisches Paradoxon : Je intensiver man die Hingabe an den ästhetischen Gegenstand betreibt, desto leichter fühlt man sich, desto glück­licher wird man. Auch halte ich es für überaus tröst­lich zu wissen, dass es vieles mehr gibt als unsere kleinen, zeit­lich sehr beschränkten Existenzen. Dass wir – nicht alles sind. Dass die mensch­­liche Fantasie unseren kleinen Alltag überflügelt, wenn sie Kunstprodukte erschafft und im Rezipieren neu und für sich wieder und immer wieder erschafft : ars longa, vita breva,18 die Kunst ist lang, das Leben kurz. Kunst weist in die Unend­lichkeit hinaus. Ganz konkret tut sie dies auch : Vor meiner Geburt genossen Menschen Shakespeares Stücke und nach meinem Tod werden andere Menschen seine Tragödien und Komödien genießen. Man kann sagen, dass die Künste den Menschen pränatal und post mortem einbetten. Der Kunstcharakter erlaubt, Bedeutung ad infinitum in sich zu tragen und für jeden Rezipienten aufs Neue hervorzubringen. Im ästhetischen Erleben kann man gefühlt und gedank­lich der stillen Ewigkeit ein wenig näher kommen. Das bedeutet primär, dass man den Verweisungscharakter der Kunst wört­lich nimmt, als prinzipiell ins Unend­ liche über unser kleines Leben hinausweisend. Man betritt dabei einen Nietzsche-Raum der Freiheit, den unend­lichen Raum des freien Geistes. Dieser hat den ästhetischen Genuss in sein Leben integriert zu seiner ewigen Freude, gleichgültig gegen alle Normen. Im ästhetischen Genuss betritt man einen freien, spielenden Raum 84  |  Kapitel IV 

ohne Grenzen. Man ist selbst die Grenze – was man wahrnehmen und ästhetisch genießen möchte und was nicht. Alle Vorschriften und alle Zwänge, nach denen wir uns im Alltag, unsere Entfaltung einengend, zu richten haben, entfallen. Im frühen 21. Jahrhundert leben wir in einer ästhetisch begnadeten Zeit. Durch farbige Reproduktionen, durch Filmkunstwerke, durch Museen, Ausstellungen, allerlei kulturellen Ereignissen, durch Bibliotheken und wohlfeilen Taschenbüchern und E-Books, die sich jeder leisten kann, durch Konzerte und subventionierte Opernhäuser und Theater, durch Meister-Choreografien – durch all das und vieles mehr leben wir, wenn wir es annehmen möchten, in einem ästhetischen Schlaraffenland. Von der jungpaläolithischen Höhlenmalerei und ihrer mobilen Kunst bis zur zeitgenössischen Installation stehen uns alle ästhetischen Welten offen, von der Aborigine-Kunst bis zu neuen medialen Kunstformen. Man muss nur offen sein, zugreifen und in Muße den neuen Welten erlauben, zur eigenen Bereicherung beizutragen. In der Menschheitsgeschichte gab es noch keine Zeit wie diese, wo einem willigen Menschen jede Kunstform auf einem Silbertablett angeboten wird. Als Nebenprodukt verlangsamt die ästhetisch genossene Ruhe das Leben und versetzt, als Hauptprodukt, die Rezipienten in einen Zustand der Heiterkeit. Man spürt mehr Weite, als man selbst je darstellen könnte. Im ästhetischen Genuss erlebt man eine Erfüllung, die die Augenblickskultur im Globalisierungszeitalter niemals aufzubringen in der Lage ist. Kunst unterhält und erfreut den Menschen, besitzt Bedeutung und erfüllt die Rezipienten im Genießen. Und viel mehr : Der gefühlte Blick auf die weite Welt des ästhetischen Genusses kann ein wenig über die ökologisch sich abzeichnende Katastrophe hinweg trösten, weil er paradoxerweise uns unsere eigene Bedeutungslosigkeit vor Augen führt, wie bei Shakespeare das ewige, sinnlose Streben. Diese Bedeutungslosigkeit unseres Selbst gilt es zu akzeptieren. Die Künste generieren auch auf eine andere Weise Heiterkeit. Kunstwerke sind die besten Produkte einer ansonsten kriegeri­ schen, Natur zerstörenden Spezies, ihre erfüllenden, schönsten, wertvollsten Kreationen. Durch ihr einfaches Sein trösten Kunstprodukte, indem sie nachweisen, wie viel Gutes unsere Spezies seit der jungpaläolithischen Kunst erschaffen konnte, seit dem Heitere Hoffnungslosigkeit  |  85

Gilgamesch-Epos, seit der Ilias und der Odyssee, seit dem Gregorianischen Gesang. Mit der Kunst schuf unsere gefähr­liche Spezies ihre besten Schöpfungen. Die funktionalen Produkte der Industriellen Revolution, der zeitgenössischen Technologie und der allgegenwärtigen medialen Welt hingegen sind Gebrauchsgegenstände oder Kommunikationsmittel oder Zerstörungswerkzeuge. Ein tieferes Erleben gestatten sie nicht. Sie sind, und sind nur, surrende, kalte Geschöpfe der Oberfläche. Die Tiefe der Kunst hingegen weist über den Homo faber hinaus in eine andere Dimension, die dem Menschen ebenfalls eigen ist. Mit Hilfe der Künste flattert man nicht länger ziellos im luftigsten Äther umher, kopflos getrieben von der berechtigten ökologischen Furcht. Man eröffnet sich stattdessen, wie es im zitierten Schubert-Lied heißt, eine bessere Welt.

86  |  Kapitel IV 

Nachspiel zum Finale : Zur Aktualität (2017) Von der melodiösen Poesie zurück in die Welt der kühlen Nüchternheit. Eine letzte Prüfung : War der Kassandraruf Anfang der 1990er Jahre gerechtfertigt oder zeichnet sich ein Silberstreif ab am Horizont der Zerstörung ? Ich wäre der letzte, der die ökologische Katastrophe herbeiwünschte. Nichts wäre mir lieber, als mich im Unrecht zu befinden. Nichts wäre mir lieber, als wenn das vorschnell ausgerufene Super-Paradigma sich in Wohlgefallen auflöste, nach ein paar kochend heißen Sommern und ein paar warmen Wintern, gesprenkelt mit schneereichen, subpolaren Schneestürmen; und charmanten Schneemännern zur Gaudi der Kinder. Auf dass der Spuk bald beendet wäre. Vier Fragen stellen sich mir bei dieser letzten Prüfung : – Wo gibt es gegenüber den frühen 1990er Jahren ökologische Verbesserungen und neue, positive Tendenzen ? – Wo gibt es einen ungefähren Problemgleichstand und was bedeutet das für die Umwelt ? – Wo sind (neue) Verschlechterungen aufgetaucht ? Und schließ­lich  : – Kann das Super-Paradigma der vorangegangenen Kapitel modifiziert werden und darf es überhaupt noch Gültigkeit beanspruchen ? Zur ersten Frage : Wo gibt es gegenüber den frühen 1990er Jahren ökologische Verbesserungen und neue, positive Tendenzen ? Die Schrumpfung des Ozonlochs fällt zuerst auf. Das MontrealProtokoll von 1987, das alle Staaten verpf­lichtete, auf Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) als Mittel bei den Haarsprays und als Kühlmittel bei den Kühlschränken zu verzichten, wurde tatsäch­ lich umgesetzt. Das Ozonloch schrumpfte und könnte bis 2050 intakt sein.1 Es war ein Fehler von mir, die FCKW-Zunahme als streng irreversibel zu bezeichnen. Sie war reversibel und zeigt auf   |  87

beeindruckende Weise, wie internationale Abkommen funktionieren können. Zwei Einschränkungen : Das Montreal-Protokoll kann man als kleine Vorübung für die CO 2-Reduktion interpretieren, denn in den Bädern stehen nach wie vorher Sprays und die Kühlschränke werden nach wie vor gekühlt; die Lebensweisen der Verbraucher mussten sich nicht ändern, wie es bei der radikalen CO 2-Emissionsreduktion allerdings nötig wäre. Die zweite Einschränkung : Die Kühlschränke werden nun mit einem anderen Stoff gekühlt, den FKW, die der Ozonschicht nicht schaden, aber als Treibhausgase zum Treibhauseffekt beitragen. Man stopfte das eine Loch mit dem anderen. Meine Verteufelung der Gentechnik war zu einseitig. Tatsäch­ lich gelten die langfristigen gentechnischen Auswirkungen weiterhin als unbekannt; ihr Gefahrenpotenzial lässt sich langfristig nicht einschätzen. Aber die Genetik könnte in der Medizin viel Gutes bewirken und etwa individuell zugeschnittene Behandlungen ermög­ lichen. Auch leistet etwa die Paläogenetik in der Paläoanthropologie Großartiges, wo es um die Entwicklung des mensch­­lichen Stammbaums geht. Wir wissen nun definitiv, dass wir aus Afrika stammen und dass wir 2-3 % Neanderthalgene in uns haben. Noch ein Schritt in Richtung Bescheidenheit, denn einzigartig sind wir somit nicht. Jetzt wissen wir, wie viele Tausend Gene wir mit den anderen Säugetieren teilen, von den Mäusen bis zu den Primaten. Ich freute mich schon, dem Waldsterben Adieu zu sagen und Entwarnung geben zu können. Der Wald habe sich, hieß es, weitgehend erholt, die Gefahr sei vorüber. Oberfläch­lich betrachtet traf dies zu. Dann begann ich, die offiziellen deutschen Wald­ zustandsberichte zu lesen. Der bundesdeutsche Waldzustands­ bericht von 2015 verzeichnet seit Beginn der Erhebungen 1984 ein starkes Ansteigen der Kronenver­lichtung mit den Schadstufen 2 bis 4 auf einer Gesamtskala von 1 bis 4 (Kronenver­lichtungen entstehen durch Umweltschäden, je l­ichter, desto kränker der Baum). Der Anteil der deut­lichen Kronenver­lichtungen aller Baumarten von 2015 lag bei 24 %. Auf die Warnstufe entfallen 43 %.2 In einem besonders waldreichen Bundesland, Baden-Württemberg, kommt der Waldzustands­bericht 2016 zu einem ganz ähn­lichen Ergebnis : »Der Waldzustand in Baden-Württemberg bleibt auch im Jahr 2016 auf einem erhöhten Schadniveau«.3 37 % der Wälder Baden88  |  Nachspiel zum Finale 

Württem­bergs sind im Jahr 2016 deut­lich geschädigt (Schadstufe 2 bis 4), ungeschädigt 30 % (Schadstufe 1) und schwach geschädigt 33 % (Schadstufe 2), und zwar nach wie vor durch hohe Schadstoff­ einträge, vor allem Schwefeldioxid (SO 2) und andere, den Boden versauernde Stoffe.4 Es besteht eine »großflächige Versauerung der Waldböden«.5 Auch tragen die ansteigenden Temperaturen und Witterungsextreme zum schlechten Zustand der heimischen Wälder bei.6 Die Esche in Baden-Württemberg weist zu 95 % Schäden auf. Die Eschen werden alle bald sterben.7 »Le Waldsterben«, wie es in Frankreich heißt – nach wie vor aktuell. Noch düsterer sieht es bei der Rodung der Urwälder aus. Die Abholzungen und Brandrodungen werden munter fortgesetzt; das Verschwinden der Urwälder gilt als unumkehrbar. Alle zwei Sekunden wird die Waldfläche von der Größe eines Fußballfeldes vernichtet,8 näm­lich 34,6 Fußballfelder pro Minute.9 Seit 1993 hat sich das Tempo also erhöht. Der tatsäch­liche Urwaldverlust dürfte sogar noch höher sein, da die FAO (die Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen) auch industrielle Monokulturen wie Palmölplantagen als »Wald« zählt.10 Im Jahr 2016 stammten 8 % der weltweiten CO2-Emissionen von den Brandrodungen Indonesiens, um gewinnträchtige Palmölplantagen anzulegen. – Aber ich war gerade dabei, einen positiven Blick auf das ökologische Geschehen zu richten und rutsche ab in die gesteigerte Vernichtung. Sehr positiv sind die vielen Umweltschutzbewegungen und -orga­nisationen zu werten.11 Ihr Druck von unten gehört zur inzwischen großen internationalen Umweltbewegung, die viele lokale Siege davontrug wie etwa die Blockadia-Bewegung. Auch sorgte dieser Druck von unten für viele Verbesserungen im Kleinen, für mehr Nachhaltigkeit (Deutschland im Jahr 2000 : 6 % erneuerbare Energien; 2013 : 24 %12) und für ergebnisträchtige Weltklimagipfel wie Paris 2015 und Marrakesch 2016. Bei allen anderen Klimakonferenzen haben die Staaten versagt, insbesondere bei Kopenhagen 2009. Es blieb 2009 bei nichtbindenden Absichtserklärungen. Die UNO -Weltklimakonferenz von 2015 in Paris gilt als Erfolg. Industrie- und Schwellenländer vereinbarten erstmals, dass alle Länder gemeinsam den Klimawandel verhindern möchten. Fast 190 Staaten haben ihre Klimaschutzpläne vorgelegt. Das langfris­ Zur Aktualität  |  89

tige Ziel : Die Erderwärmung auf 2 °C bis 2050 zu begrenzen, in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts die Treibhausemissionen zu begrenzen, damit die weitere Erderwärmung auf 0 °C fällt, also keine Erwärmung mehr stattfindet.13 Bis 2020 sollen die Emissio­ nen von Treibhausgasen um mindestens 40 % gegenüber 1990 gesenkt werden.14 Bis zum Jahr 2040 soll 60 % der weltweiten Energie aus erneuerbaren Energien stammen.15 100 Milliarden Dollar pro Jahr sollen die reichen Länder ab 2020 für die Schwellenländer bereitstellen, wovon nur 3 % bisher an die UNO überwiesen wurden (Stand Ende 2016). Die Klimakonferenz in Marrakesch von 2016 besaß die Aufgabe, das Pariser Abkommen (das 2016 frühzeitig in Kraft trat) umzusetzen und fortzuführen. 45 Länder aus Afrika, Asien, der Karibik und der Südsee schlossen sich zum Climate Vulnerable Forum (CVF) zusammen, um der Weltgemeinschaft das Versprechen auf Verzicht von Kohle, Öl und Erdgas abzuringen, was diese 45 Staaten selbst in die Wege leiten würden. Deutschland hat in Marrakesch seinen Beitrag zur Klimaanstrengung um 50 Millionen Euro aufgestockt. Ab 2020 werden von Deutschland vier Milliarden Euro im Jahr zur Verfügung gestellt.16 Vier Länder – Deutschland, die USA, Mexiko und Kanada – legten als erste Länder einen langfristigen Klimaschutzplan vor.17 Es scheint, als ob Paris 2015 und Marrakesch 2016 endgültig die Weichen zur Nachhaltigkeit gestellt haben. Und in der Tat sind viele Beschlüsse und Zusammenschlüsse wie das CVF beeindruckend : Das ökologische Katastrophenpotenzial scheint end­lich in den Köpfen der Regierungen und in ihrem Handeln angekommen zu sein. Man freue sich. Doch der Schein im Leben, er bleibt oft Schein ohne Sein. Nach Berechnungen einiger Experten führen die Beschlüsse von Paris zu einem Durchschnittstemperaturanstieg von 2,7 °C. Doch schon bei einem Temperaturanstieg von 2 °C werden die Korallenriffe nicht überleben, das sommer­liche Meereis der Arktis wird komplett verschwinden. Die Ozeanversauerung wird durch das ansteigende CO2 weiterhin zunehmen.18 Andere wissenschaft­ liche Schätzungen gehen von einem weltweiten Temperaturanstieg bis 2100 von 4 °C aus oder mehr : eine Katastrophe. Da ich realistischer Weise von der zweiten Schätzung ausgehe, näm­lich dass die 90  |  Nachspiel zum Finale 

Beschlüsse von Paris nur teilweise und zu spät umgesetzt werden, wird eher die zweite Temperatureinschätzung zutreffen, zumal beide Berechnungen Rückkopplungen mit anderen Systemen noch gar nicht mit einbeziehen. Dazu unten mehr. Das Abkommen verdeckt, dass das klare Bekenntnis zum sofortigen Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen fehlt. Juristisch besagt das Bekenntnis wenig. Denn jeder Staat darf seine Emissionsziele freiwillig festlegen.19 Außerdem gehen die Selbstverpf­lichtungen von völlig unterschied­lichen Grundlagen aus. Die Vorgabe, Emissionen zu neutralisieren, kann dazu einladen, Aufforstungen mithilfe von Emissionszertifikaten an deren Stelle zu setzen. Eine »Mogelpackung«, wie Felix Ekardt in der Legal Tribune Online kritisiert.20 »Klare Bekenntnisse zu Energieeffizienz und zu 100 % erneuerbaren Energien sucht man in dem Paris-Abkommen vergebens.«21 Der WWF stellt fest : In Sachen Anpassungsfinanzierung gab es in Marrakesch »keine bedeutenden Fortschritte«.22 Die 100 Milliarden Dollar, die die reichen Länder für die Schwellenländer ab 2020 pro Jahr bereitstellen möchten, werden viel zu wenig sein – falls diese Summe jedes Jahr überhaupt zu Stande kommt. Die Hauptabteilung der wirtschaft­lichen und sozialen Angelegenheiten im UNO -Sekretariat (DESA) errechnete, dass man für die nächsten 40 Jahre 1,9 Billionen Dollar pro Jahr bräuchte, um Nachhaltigkeit zu erreichen.23 Der Chefökonom des Potsdam Instituts für Klimaforschung, Ottmar Edenhofer, hält die Pläne der vier Staaten, die einen Klimaschutzplan vorlegten, für »völlig unzureichend«, weil sie keine realistische Perspektive für den Kohleausstieg aufweisen.24 Und was unternehmen die Regierungen bis 2020, um die CO2-Emissionen zu reduzieren ?25 Man kann nur mutmaßen. Die Kritiker kommen übereinstimmend zum gleichen Ergebnis : zu wenig »müssen«, zu viel »sollen«; unklare Grundlagen für die Aktionen; zu langsam anlaufende, zaghafte Reformen; zu geringe finanzielle Mittel. Es hapert nicht an Lippenbekenntnissen, sondern an absolut verbind­licher Umsetzung. Man kann immer mehr nachhaltige Produkte kaufen, was sehr positiv ist. Uneingeschränkt positiv werte ich auch das ökologische Engagement vieler Menschen und Organisationen, und sehr eingeschränkt die Klimakonferenzen von Paris und Marrakesch. Zur Aktualität  |  91

Damit beende ich die Positiva seit 1993 die, insgesamt gesehen, bis auf die Ozonlochreduktion nur mit größten Einschränkungen und gehöriger Naivität als positiv bezeichnet werden können. Von der Waldfront ist so gut wie nichts Positives zu berichten. Zur zweiten Frage : Wo gibt es einen ungefähren Problemgleichstand und was bedeutet das für die Umwelt ? Die Frage lässt sich schnell beantworten. Soweit ich sehe, blieb nur die atomare Bedrohung auf einem relativen Gleichstand. Die atomare Endlagerung ist nach wie vor ungelöst und wird vermut­ lich für immer ungelöst bleiben. Das Plutonium-Isotop 249 besitzt eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren. Nach 100.000 Jahren besteht noch 6 % des heute existierenden Plutoniums.26 Mit zunehmender Anzahl von Atomkraftwerken steigt sogar die Gefahr von GAUs. Auf Tschernobyl folgt Fukushima, und dieser GAU wird nicht der letzte sein. Im atomaren Komplex erwähnte ich die Gefahr von DuodezDespoten, die sich mit ihren atomaren Spielzeugen einen Platz auf der Weltbühne erobern. Hinzu gekommen ist seit 1993 ein militan­ tes, atomar aufgerüstetes Nordkorea. Hinzu gekommen sind islamistische Terroristen, denen nichts lieber wäre, als eine »schmutzige« Bombe mitten in Manhattan zu zünden, gelänge es ihnen nur. Für die Umwelt bedeutet der relative Gleichstand eine unveränderte Gefahrenlage. Aus dem Gleichstand entsteht allzu leicht eine Verschlechterung, womit ich bereits bei der dritten Frage bin : Wo sind (neue) Verschlechterungen aufgetaucht ? Ich beginne mit dem zentralen ökologischen Problem, den Treib­ hausgasemissionen mit dem daraus resultierenden Treibhauseffekt, der wiederum zum weltweiten Temperaturanstieg führt. Was sich mir 1993 als ein gravierendes Problem unter anderen darstellte, muss heute als das gravierendste Kernproblem verstanden werden, als Stirb oder Werde und keineswegs als »ein Umweltproblem unter vielen«.27 Das bedeutendste Klimagas, Kohlendioxid (CO2), trägt jetzt mit ca. 65 % zum Treibhauseffekt bei.28 Von 1990 bis 1999 stiegen die CO2Emissionen um ca. 1,1 % pro Jahr, von 2000 bis 2006 um ca. 3,3 % bis auf 5,9 % im Jahr 2010.29 Tendenz steigend. In vorindus­trieller 92  |  Nachspiel zum Finale 

Zeit lag die Kohlendioxid-Konzentration bei ca. 280 ppm (parts per million), im Jahr 2015 lag der Jahresmittelwert bei 400 ppm.30 Das Jahr 2016 übertraf alle Rekorde. Nicht der Mittelwert lag bei 400 ppm, sondern jeder Monat im Jahr, und Mai/Juni bei ca. 405 ppm. Tendenz steigend. Der amerikanische International Energy Outlook schätzt, dass der Weltenergieverbrauch von 2012 bis 2040 sich um 48 % erhöhen wird, mit entsprechender CO2-Emissionszunahme.31 Oder : 32,3 Milliarden metrische Tonnen in 2012 bis auf 35,6 Milliarden metrische Tonnen in 2020, bis hin zu 43,2 Milliarden metrischen Tonnen in 2040.32 Tendenz steigend. Die weltgrößten CO2Emittenten (Stand Ende 2013) sind in dieser Reihenfolge China, das 2007 die USA als größten Emittenten überholte (8977 Millionen Tonnen), die USA (5120 Millionen Tonnen), Indien (1869 Millionen Tonnen).33 Inzwischen trägt Indonesien wegen der Brandrodungen von Urwäldern für Palmölplantagen zu 8 % der weltweiten CO2Emissionen bei (Stand Ende 2016). Der UNO-Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) schätzt, dass Inves­ titionen von mehreren 100 Milliarden Dollar pro Jahr bis 2030 nötig sein werden, um den CO2-Ausstoß auf 430 bis 530 ppm im Jahr 2100 zu drücken.34 Eine konservative Schätzung. Die anvisierten 100 Milliarden Dollar pro Jahr ab 2020 werden nicht ausreichen. Man bräuchte, wie bereits erwähnt, ca. 1,9 Billionen Dollar pro Jahr. Methan trägt zwar nur mit ca. 17 % zum Treibhauseffekt bei, ist aber als Emittent ca. 25 Mal so effektiv, in einem negativen Sinn, wie Kohlendioxid. Auch Lachgas und atmosphärischer Wasserdampf tragen zum Treibhauseffekt bei, wobei Lachgas 298 Mal stärker wirkt als Kohlendioxid.35 Bei Methan kommt der Hauptteil aus der Landwirtschaft und aus Deponien.36 Sollte jedoch der sibirische Permafrost aufgrund des weltweiten Temperaturanstiegs auftauen, würden gigantische Methanmengen freigesetzt, was zum weiteren Anstieg des Treibhauseffekts führen würde, und zwar massiv. In diesem Fall bräuchte ich nicht weiterzuschreiben, da allein damit die Existenz der Menschheit besiegelt wäre. Das Auftauen des sibi­ rischen Permafrost könnte 30 bis 60 Milliarden Tonnen Methan bis 2040 freisetzen.37 Es wird immer heißer. Ein paar Fakten : Die Jahre 1983 bis 2015 waren in der nörd­lichen Hemisphäre die wärmste 30-Jahresperiode der letzten 1400 Jahre.38 Die »wärmste je gemessene Fünfjahres­ Zur Aktualität  |  93

periode war von 2011 bis 2015.«, und 2016 wurde das wärmste Jahr seit Aufzeichnungsbeginn.39 Das Umweltbundesamt schätzt bis Ende des 21. Jahrhunderts eine Temperaturzunahme von 0,9 °C bis 5,4 °C im Vergleich zu vorindustriellen Bedingungen. »Nur unter der Voraussetzung eines Emissionsszenarios mit sehr ambi­ tionierter Klimaschutzpolitik ließe sich der mittlere Temperatur­ anstieg gegen­über der vorindustriellen Zeit auf 0,9 bis 2,3 °C begrenzen.«40 Die meisten Forscher gehen inzwischen ab 2050 von einem Weltklimaanstieg von ca. 4 °C bis 2100 aus, »wahrschein­lich ein Katastrophenszenario«, wie Naomi Klein schreibt, weil das et­ liche Rückkopplungen nach sich ziehen würde.41 Auch bedeutet ein Temperaturanstieg von insgesamt 4 °C in trockenen Teilen des Planeten eine Aufheizung um 10 °C.42 Eine undenkbar heiße Hölle, und doch ein reales Szenario. Das einzig ernsthaft ambitionierte Nachhaltigkeitsprogramm der Welt legte China vor, da die Umweltzerstörung im Reich der Mitte sich als besonders unerträg­lich gestaltet. Auch Kinder von Parteikadern wollen in den Städten atmen. Erst im Laufe der letzten Jahre wurden in China Hunderte besonders schmutziger Kohlekraftwerke abgeschaltet, der Bau 30 neuer Meiler wurde abgebrochen. Ein weitgreifendes Erneuerbare-Energie-Programm wurde in Angriff genommen, allerdings auch mithilfe neuer Atomkraftwerke. Deswegen sank der chinesische CO2-Ausstoß seit 2014. Mehr als 3,5 Millionen Chinesen arbeiten in der Industrie für erneuerbare Energien, fast zehnmal so viele wie in Deutschland.43 Ob das lobenswerte chinesische Programm allerdings ausreichen wird, die planetare Aufheizung auch nur um einen Grad zu senken, darf bezweifelt werden, weil nur weltweit konzertierte Aktionen einen Wandel herbeiführen könnten. Bleiben wir bei der Globalisierung. Sie rückte Anfang der 1990er Jahre überhaupt nicht in mein Blickfeld. Nun spielt sie auch in der Ökologiedebatte eine Rolle, denn Globalisierung bedeutet weltweit gestiegene, ja forcierte Produktion und somit das massive Ansteigen von Treibhausgasen und noch mehr Abfallprodukte. Es lässt sich nachweisen, dass mit der globalisierten Weltwirtschaft sich Wirtschaftswachstum und CO 2-Emissionen teilweise asymmetrisch verhalten. Die Emissionen wachsen proportional mit dem Wirtschaftswachstum, fallen aber weniger als die wirtschaft­liche 94  |  Nachspiel zum Finale 

Abschwächung in Krisenzeiten.44 Mit anderen Worten : Eine globalisierte Weltwirtschaft erreicht einen hohen Produktionsstand, der dafür sorgt, dass selbst in Wirtschaftskrisen ein hohes Niveau an CO 2 emittiert wird. Die Globalisierung ermög­lichte es allerdings Hunderten von Millionen Menschen, aus der Armutsfalle zu entkommen (andere wiederum, wie zum Beispiel die Arbeiter des amerikanischen Rust Belt, rutschten ab in die relative Armut). Lebten 1970 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Armut, sind es aktuell (Stand 2016) nur noch angeb­lich rund 10 %.45 Von den Menschen, die kürz­lich der Armut entfliehen konnten, Verzicht zu fordern, ist obszön. Man muss jedoch einen weltweiten Wandel fordern, der Reiche wie Arme mit einbezieht. Man setzt den Beginn der Globalisierung mit dem amerikanisch-kanadischen Freihandelsabkommen an, der weltweit größten bilateralen Handelsbeziehung, im Unterzeichnungsjahr 1988. Die Wasserscheide der Globalisierung lag um 2000, als die Wachstumsrate von ca. 1% der 1990er Jahre sprunghaft auf 3,4 % pro Jahr stieg.46 Abgesehen von der brutalen Ausbeutung der Arbeitskräfte in ärmeren Ländern trug der Produktionssprung erheb­lich zur Umweltbelastung bei. Kein Zufall, dass die Kapitalismuskritiker ihre Kritik immer vehementer äußerten. Weston sieht das fundamentale Problem in »the globalised capitalist economic system of production, with its imperatives for growth and expansion, for consuming land, water, and all parts of the biosphere beyond the capacity for regeneration …«47 Nicht nur, dass das kapitalistische System in seiner neuen globalisierten Form die Mitwelt durch Ressourcenausbeutung, verstärkte CO2-Emissionen und Umweltverschmutzung zerstört. Sondern die Zerstörungen werden bewusst, zumindest aber gleichgültig gegenüber der Biosphäre forciert. Allein im Jahr 2013 hat die Öl- und Gasindustrie knapp 400.000 Dollar pro Tag in die amerikanische Lobbyarbeit gesteckt, eine Zunahme um 87 % gegenüber 2008.48 Eine auf Expansion angelegte Wirtschaftsweise, die sich nur ihren Aktionären und nicht der Mitwelt verpf­lichtet sieht, steht in krassem Widerspruch zu den ökologischen Notwendigkeiten von heute. Regierungen, denen das Wohl der Industrie mehr am Herzen liegt als langfristig das Wohl der Menschheit, müssen geradezu versagen. Kein Wunder, dass man 20 Jahre lang nur von »fruitless international negotiations«49 hörte. Sie sind beabsichtigt Zur Aktualität  |  95

gewesen. Das kurzzeitige Wohl der Industrie ging vor. Folgerichtig kam es zu einem gewaltigen Vertrauensverlust in die Politik, was wiederum Wasser auf den Mühlen der reaktionären Populisten war und ist. Im Gefolge der Finanzkrise von 2007 bis 2009 kam es außerdem »zu einem gravierenden Vertrauensverlust nicht nur in die Kreditinstitute, sondern auch in die Großkonzerne …«50 Ich sehe keine Lösung für das zweischneidige Globalisierungsproblem. Es führte Hunderte von Millionen Menschen aus dem Armutsloch, beutete sie jedoch aus und potenzierte die Umweltzerstörung. Man müsste das komplette und sofortige Ende der Globalisierung fordern, eine Forderung, die die Grenze zur Naivi­ tät überschreitet. Denn die Globalisierung gehört zu uns, kann als Kulminationspunkt der Naturausbeutung und -zerstörung gelten; unser vernichtender Kapitalismus. Wobei die sozialistisch sich nennenden Staaten ebenso bedenkenlos umweltzerstörend produzierten. Solange wir im Kapitalismus kein System finden, der die Verantwortungsvollsten belohnt und nicht die Gierigsten, kann es kein Maß geben. Die Verflechtungen des Systems und unser Energie- und Ressourcenhunger institutionalisieren geradezu die mensch­­liche Gier und somit die Zerstörung der Natur. Ich versuchte, diese dynamische Systeminstitutionalisierung als SuperParadigma zu beschreiben. Auch die gute, alte, altmodische und somit überholte Weltrevolution, die in ihren nationalen Ausprägungen stets in eine mehr oder minder brutale Diktatur mündete, wird es nicht richten. Ich sehe keine Lösung. Naiv, wie ich schrieb, in die dunkelste Nacht hinaus zu schreien, es möge Tag werden. Ist doch die Nacht schwärzer denn je geworden. Ich erwähnte 1993 beiläufig die Mög­lichkeit des Ausbleibens des Golfstroms aufgrund arktischer Veränderungen. Diese Mög­ lichkeit besteht nach wie vor. Ja, sie wird immer wahrschein­licher, je mehr die großen Eisschilde der Arktis schrumpfen. Die Arktis erwärmt sich doppelt so schnell wie im »worst-case scenario« des Weltklimaratberichts von 2007 befürchtet.51 »Seit Beginn der Satellitenmessungen 1979 hat die Fläche des Meereis-Minimums um durchschnitt­lich 13 % pro Jahrzehnt abgenommen.«52 Im Sommer 2040 könnte die Arktis Meereis-frei sein.53 Der Herbst 2016, meinen Wissenschaftler, könnte im Rhythmus des arktischen »Atems« einen Wendepunkt darstellen. Mitte September endet die arktische 96  |  Nachspiel zum Finale 

Sommereisschmelze, dann wächst die Eisfläche wieder. Doch im Herbst 2016 kam der Eiszuwachs im Oktober ein paar Tage zum Erliegen. Mitte November gar kehrte er sich um, ein absolutes Novum. Im Herbst 2016 war die arktische Luft bis zu 20 °C wärmer als normal.54 Die Welterwärmung wirkt sich in der Arktis stärker aus als auf dem rest­lichen Planeten (mit Ausnahme der Antarktis), da die weiße Eisfläche viel mehr Sonnen­licht reflektiert als das Dunkelblau des Meeres. Außerdem bildet sich in der Stratosphäre (in ca. 15 bis 50 km Höhe) während der langen Polarnacht ein gigantischer Luftwirbel (polar vortex), der das Weltwetter beeinflusst, indem er auf die Winde in der Troposphäre (Null bis ca. 15 km Höhe) einwirkt, wo sich das Wetter bildet. Wenn der polar vortex wegen Unregelmäßigkeiten bei der Herbst-Meereisbildung schwächelt, ändert sich das Weltwetter in Richtung Extreme, zum Beispiel im März 2014, als sich riesige Schneeberge in Boston türmten, als sich Frost am Golf von Mexiko bildete und eisige Stürme durch den amerikanischen Mittleren Westen fegten.55 Ein kleiner Vorgeschmack auf die extremen Wetterbedingungen, die uns erwarten. Die Aufheizung des Planeten bedroht auch die Antarktis. Die Schmelze in der west­lichen Antarktis  – ein Gebiet so groß wie Frankreich – scheint unaufhaltsam. Das bedeutet wahrschein­lich den beginnenden Zerfall des westantarktischen Eises, was zum Meeresspiegelanstieg von drei bis fünf Metern führen dürfte.56 Der Verlust des Grönlandeisschilds allein könnte, ohne die Antarktis mit einzubeziehen, den Meeresspiegel um bis zu sieben Meter ansteigen lassen, berichtet der Weltklimarat 2014.57 Eine Kinderrechnung : 5 m Antarktis plus 7 m Arktis = 12 Meter Meeresspiegelanstieg jenseits des Jahres 2100, da die Aufheizung Jahrhunderte nachwirken wird, wie der Weltklimarat unverblümt feststellt.58 Sollte jedoch der Eisschild der Antarktis komplett abschmelzen, stiege der Meeresspiegel um 60 Meter. Unwillkür­lich denkt man an den Film Waterworld (1995), der das Überleben eines kleinen Rests der Menschheit schildert, nachdem die Polkappen geschmolzen sind. 60 Meter – jenseits der Vorstellungskraft. Noch ist es nicht so weit. Die Vorboten des Schmelzungsprozesses bilden die weltweiten Gletscher, von denen viele in den letzten zehn Jahren so schnell schrumpften wie in hundert Jahren Zur Aktualität  |  97

zuvor. Der Rückzug der Gletscher weltweit lässt sich unmittelbar vor Ort messen. Die Gletscher : die indiskreten Leuchtfeuer der mensch­­lichen Verbrechen an der Natur, des Menschen Offenbarungseid seiner Gleichgültigkeit. Die Bedrohung der Weltmeere wächst ebenso wie die der Eisschilde und der Gletscher. Ich berichtete 1993 über die Verschmutzung der Weltmeere mit Plastikabfällen. Seit den frühen 1990er Jahren hat sich die Meeresverschmutzung potenziert : von Plas­tik­ abfallteppichen über Tausende von Quadratkilometern (der »Great Pacific Garbage Patch«, inzwischen so groß wie Zentraleuropa) bis zu Nanoplastikpartikeln, die in die Tiefe der Meere sinken, wo sie von den kleinen bis zu den großen Fischen gefressen werden. Am Ende der Nahrungskette stehen wir. Überhaupt sind alle Weltmeere vom Plastikabfall betroffen, nicht nur der Pazifik. Seit den frühen 1990er Jahren wuchsen außerdem die Nitrat- und Quecksilbermengen, die in die Weltmeere eingeleitet werden. Das giftige Schwer­ metall Quecksilber reichert sich bekannt­lich im mensch­­lichen Körper an.59 Auch die Aufheizung der Meere sowie ihre Versauerung rückten 1993 noch nicht in mein Blickfeld. Laut Weltklimarat haben sich die oberen 75 Meter der Meere um 0,11 °C pro Dekade von 1971 bis 2010 aufgeheizt.60 Bardi hält die Erwärmungsszenarien des Weltklimarats für »zahm und unrealistisch«.61 Unberücksichtigt seien die atmosphärischen Rückkopplungen. Die Meeresabsorption von CO 2  – ca. 30 % der anthropogenen Emissionen – führte und führt zur Meeresversauerung.62 Bei fortgesetzten CO2-Emissionen, heißt es beim Weltklimaratbericht von 2014, wird die ozeanische Versauerung sich jahrhundertelang fortsetzen.63 Ein Großteil des anthropogenen Klimawandels durch CO2 sei »irreversible on a multi-century to millenial time scale«, denn die Oberflächentemperaturen würden sogar Jahrhunderte nach einem völligen Stopp der CO 2-Emissionen konstant bleiben, was für die Atmosphäre wie auch für die Meere gilt.64 Was implizieren das Auftauen der Polkappen, die Aufheizung, Versauerung und Verschmutzung der Weltmeere ? Nichts anderes, als dass wir uns auch in diesem Bereich, wo Rückkopplungen mit anderen vernichteten Bereichen mög­lich sind, rapide auf tipping points (Kipppunkte) zubewegen. Kipppunkte sind absolut irrever98  |  Nachspiel zum Finale 

sibel. Allein die Gefahr, in ihre Nähe zu kommen, müsste sofort alle internationalen Anstrengungen auf den Plan rufen. Auf der anderen Seite : Es ist zu spät. Auch für viele Tierarten ist es bereits zu spät. Die Schätzungen über die Anzahl der Tier- und Pflanzenarten gehen weit auseinander. Es könnten 13 bis 14 Millionen sein. Im Jahr 1993 folgte ich den damaligen Annahmen, dass ca. eine Tierart pro Tag ausstirbt, mit der Prognose auf eine Art pro Stunde oder 24 Arten pro Tag im Jahr 2000. Nun aber, 2017, sterben bis zu 150 Arten pro Tag65 (oder 54.750 pro Jahr); nach einer anderen Schätzung ca. 58.000 Arten pro Jahr :66 eine drastische Zunahme gegenüber 1993. Es könnten laut Spiegel online »nur« 11.000 sein; ein ironisches Nur.67 Der Living Planet Index des WWF schätzt, dass sich die Population der an Land lebenden Arten zwischen 1970 und 2012 um insgesamt 38 % verkleinert hat, der im Süßwasser lebenden Arten im selben Zeitraum um 81 % und der im Meer lebenden Arten im selben Zeitraum um insgesamt 36 %.68 Bei 3 °C Temperaturanstieg des Planeten könnten 21 % bis 52 % der irdischen Spezies aussterben.69 Nicht nur die Aufheizung des Planeten trägt daran schuld. Verschiedene Faktoren führen ebenfalls dazu : die Verschlechterung und der Verlust von Lebensräumen durch den Menschen, die Übernutzung von Arten (zum Beispiel durch Fischfang), klassische Umweltverschmutzung, invasive Arten und Krankheiten.70 Jede Art, die ausstirbt, bedeutet, dass für diese Art der Kipppunkt bereits vorher erreicht wurde. Die Biodiversität verringert sich zusehends. Und plötz­lich, im Dezember 2016, stehen, horribile dictu, die Giraffen auf der Liste bedrohter Tierarten. Die sehr positiv einzuschätzende Nachhaltigkeitsrevolution kommt zu langsam voran gegenüber den vielen Verschlechterungen seit Anfang der 1990er Jahre. Ich erwähnte damals die vielen, vielen Gifte, die uns umgeben und in uns eindringen. Ein paar Beispiele 25 Jahre später. Jähr­lich werden 200 Millionen Tonnen Gülle auf deutschen Äckern versprüht. Ein Drittel der Nutzfläche ist mit Nitrat verschmutzt, was das Grundwasser verunreinigt. In den Jahren 2012 und 2014 wurde der in Europa zulässige Nitratwert an 28 % der deutschen Messstellen überschritten. Da Deutschland seit 25 Jahren gegen die EU-Richtlinien verstößt, hat die EU 2016 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.71 Zur Aktualität  |  99

Der Gifte kein Ende. Die Stiftung Warentest hat 2015 festgestellt, dass 25 exemplarisch ausgewählte Kosmetika, die auf Mineralöl basieren, alle mit kritischen Substanzen belastet sind, näm­lich Cremes, Lippenpflegeprodukte und Vaseline. Vaseline ist 15.000 Mal so stark belastet wie die untersuchten Lebensmittelprodukte.72 Die aromatischen Kohlenwasserstoffe aus Erdöl (MOAH) stehen im Verdacht, krebserregend und erbgutverändernd zu wirken. Sollte man noch die herkömm­lichen Deodorants erwähnen, die noch immer mit Aluminiumverbindungen gesättigt sind, was Alzheimer fördern soll ? Sollte man noch Bisphenol A aus Plastikprodukten aufzählen, das im Verdacht steht, Leber und Niere anzugreifen ? Und die Weichmacher aus der Gruppe der Phthalate ? Sie machen PVC elastisch, lagern sich im mensch­­lichen Fettgewebe an und können Leber und Niere schädigen. In unserer Risikogesellschaft gibt es individuelle, lokale und allgemeine Umweltrisiken. Oder, wie es der Weltklimarat 2014 vorsichtig ausdrückt : »Rising rates and magnitudes of warming and other changes in the climate system, accompanied by ocean acidification, increase the risk of severe, pervasive, and in some cases irreversible detrimental impacts.«73 Zwei kleine Beispiele, Deutschland und die USA. Ich erwähnte oben die deutsche Nitratsünde. Aber auch auf anderen Gebieten sündigt der angeb­liche Musterknabe, bei der – viel zu langsam – voranschreitenden Energiewende nach Fukushima. Kohle wird nach wie vor in Deutschland gefördert, was man der SPD zu verdanken hat, die glaubt, sie vertrete noch die Klientel der Kohlekumpels. Einem der Autoindustrie gegenüber freund­ lich eingestellten und unfähigen Verkehrsminister hat man es zu verdanken, dass es der VW-Autoindustrie ermög­licht wurde, seit Jahren die Dieselabgaswerte mit Hilfe eines wohlkalkulierten Betrugs zu überschreiten. Ein unsichtbarer Landwirtschaftsminister sorgt für hohe Nitratwerte. Oder die USA : Abgesehen von Fracking (dazu weiter unten mehr) und nach wie vor hohen und jähr­lich steigenden CO2-Emissionen verkehrt ein ignoranter und inkompetenter Klimawandelleugner-Präsident seit Anfang 2017 die wenigen Umweltfortschritte seines Vorgängers in ihr Gegenteil. Und weltweit : In den Schwellenländern findet zurzeit eine gigantische Aufholjagd statt. Konservative Schätzungen gehen für die 100  |  Nachspiel zum Finale 

kommenden 50 Jahre von einer Verdreifachung des Energie- und Rohstoffverbrauchs weltweit aus,74 mit dem entsprechenden CO2Ausstoß der Asiaten, die 60 % der Weltbevölkerung ausmachen. Streben die Asiaten das amerikanische Modell an, wie Randers bemerkt, werden die natür­lichen Systeme zusammenbrechen.75 Oder wie McKibben den planetarischen Ressourcenzustand ausdrückt : »Noch bevor uns das Öl ausgeht, geht uns der Planet aus.«76 Carlos Joly prognostiziert, dass wir nur noch 40 Jahre bis zur Katastrophe haben, in den Worten von Randers, »weil sich die Konzentration der Treibhausgase auf ein Niveau zubewegt, das unumkehrbaren Schaden in großem Ausmaß auslösen wird. Um unterhalb dieses Niveaus zu bleiben, müsste die Welt ihre Emissionen bis 2052 um mindestens die Hälfte reduzieren. Ich erwarte nicht, dass das geschieht. Die menschengemachten Treibhausgase werden den Kipppunkt erreichen.«77 Die Klimakatastrophe, so Randers weiterhin, sei im Lauf des 21. Jahrhunderts unvermeidbar.78 Allerdings kranken die Prognosen an den Imponderabilien der Wirk­lichkeit. Wie lässt sich der Klimapakt in Zeiten der geistig engen Re-Nationalisierung vieler Länder (etwa die Türkei, Russland, die Philippinen, Ungarn, Polen; auch der Brexit gehört in diesen Komplex) durchsetzen ? Denn die Rechtspopulisten interessieren sich nicht für das globale Wohl, sondern für ihre eigene kleine Nation. Sie sind Isolationalisten, ideologisierte Territorialisten, die ihr Heil und ihren Machterhalt in der nationalen Abschottung suchen. Globale Umweltziele interessieren dabei nicht. Weiterhin wirken unerwartete Finanz- und Wirtschaftskrisen, stehen überhöhte Staatsverschuldungen dem teuren Mitweltumbau entgegen. Eine weitere Unwägbarkeit : die allerdings fast berechenbare Industriefreund­lichkeit der Regierungen, ihr eigent­liches Versagen. Opportunistische Politiker werden auch in Zukunft überwiegend kurzfristig im Interesse ihrer großzügigen Spender agieren, der Industrie, und kurzsichtig im Angesicht der nächsten Wiederwahl, obwohl gerade heute langfristiges und tiefgreifendes Umweltagieren nötig wäre. Hinzu kommt noch ein grundlegendes Problem : Wir denken und fühlen noch im Staatenkontext, was sich bisweilen versteckt, bisweilen unverblümt egoistisch äußert. Meilenweit sind wir von der humanen Utopie entfernt, die uns Schiller lehrt und die Beethoven in der 9. Symphonie vertonte, näm­lich dass Zur Aktualität  |  101

alle Menschen Schwestern und Brüder werden mögen. Die Partikularinteressen und die Partikulargefühle überwiegen nach wie vor. Kurzum, die mächtigen Imponderabilien und das politische Grundproblem wirken nicht gegen die Katastrophenprognosen, nicht gegen die prognostizierten Tendenzen der Umweltzerstörung, sondern sie beschleunigen die Tendenzen sogar noch. Die Zerstörungen der letzten Jahrzehnte erreichen immer rasanter den Kipppunkt, den tipping point ganzer ökologischer Systeme. Der WWF-Bericht von 2016 formuliert das in selten gelesener Eindeutigkeit, näm­lich »dass wir bei vier Teilsystemen den Grenzbereich des sicheren Handlungsspielraumes bereits überschritten haben«.79 Es sind die Bereiche Klimawandel, Unversehrtheit der Biosphäre, biogeochemische Kreisläufe und Landnutzungswandel. Auch beim Süßwasserverbrauch haben wir laut WWF die Schwellenwerte überschritten.80 Im Jahr 2012 »nahm die Menschheit in einem Jahr Ressourcen und Ökosystemleistungen in Anspruch, die einer Bio-Kapazität von 1,6 Erden entsprechen«.81 Man nennt diese Überbeanspruchung »overshoot« und er sei »bereits offensicht­ lich : Fischbestände kollabieren, Lebensräume und Artenbestände schrumpfen und Kohlenstoff reichert sich in der Atmosphäre an«.82 Wann genau etwa die Rückkopplung des Treibhauseffekts mit der Versauerung und Verschmutzung der Weltmeere zum ozeanischen Kipppunkt führt, weiß man nicht. Wir tun alles dafür, dass der tipping point mit Riesenschritten erreicht wird. Interpretiert man die gravierenden Aussagen des WWF streng, sind die Vorboten des großen Schmelzens, die Gletscher, bereits am Kipppunkt angekommen. Selbst ein sofortiger weltweiter CO2-Emissionsstopp – ein Ding der Unmög­lichkeit, da die CO2-Emissionen mindestens 120 Jahre in der Atmosphäre verbleiben – käme viel zu spät. Zuerst verabschieden sich die Gletscher. Der Verschlechterungen kein Ende. Wir kommen nun an im Bereich der Absurdität, vielleicht sogar der Verrücktheiten. Seit Anfang der 1990er Jahre sind sie neu im ökologischen Sündenregister : Fracking, Emissionshandel und Geo-engineering. Wegen des mensch­­lichen Energiehungers soll Fracking die letzten Reserven an Öl und Erdgas aus der Erde buchstäb­lich herauspressen. Dazu werden Wasser (90 %), Stützmittel (zum Beispiel Sand 9,5 %) und Chemikalien in die Gesteinsformationen gepresst, 102  |  Nachspiel zum Finale 

um die Ressourcen nach oben zu drücken. Die Chemikalien verseuchen das Grundwasser, die Bohrungen erhöhen die Erdbebengefahr und die Instabilität an der Erdoberfläche, außerdem entsteht Methan, in den ersten zehn bis fünfzehn Jahren seiner Freisetzung mit 86 Mal höheren Emissionswerten als Kohlendioxid.83 Präsident George W. Bush nahm mit dem Halliburton-Schlupfloch das Fracking weitgehend von den Vorschriften des Drinking Water Act aus.84 Fracking vergiftet nicht nur das Trinkwasser, die Chemikalien reichern das Trinkwasser auch mit brennbarem Gas an; und aus den Wasserhähnen in den häus­lichen amerikanischen Küchen schlagen Stichflammen. Trinkwasser : aber nicht zum Trinken. Der Handel mit Verschmutzungsrechten wurde in den 1990er Jahren von der Clinton-Administration vorgeschlagen. Wenn Fabriken etwa in den reichen Ländern Kohlendioxid ausstoßen, können diese Unternehmen Emissionszertifikate für Projekte in Schwellenländern erhalten, die sie unterstützen, um so den weltweiten CO2-Ausstoß zu verringern. Auf diese Weise »kompensieren« die Verschmutzer ihre Emissionen. Oder die Verschmutzer erwirtschaften selbst lukrative Emissionszertifikate, wenn sie ihre eigenen CO2-Emissionen verringern. Der Handel von Emissionszertifikaten wurde 2005 in Europa eingeführt trotz anfäng­lichem Widerstand der damaligen Bundesregierung. Von 2005 bis 2010 wurden Zertifikate im Wert von fast 500 Milliarden Dollar gehandelt.85 Der Zertifikathandel hat mehrere Haken. Von 40 bis 50 Euro pro Zertifikat fiel der Preis in den letzten Jahren auf nur acht Euro.86 Das System zieht außerdem Betrüger an wie Insekten das Licht. Ein paar Beispiele : Im Nigerdelta operierende Ölgesellschaften fackelten bei der Bohrung entweichendes Erdgas ab. Für dieses Abfackeln erhielten sie Emissionszertifikate, obwohl das Abfackeln tüchtig CO 2 emittiert. Oder Kühlmittelfabriken in Indien und China stoßen das hochpotente Treibhausgas HFC-23 (Fluoroform) aus. Ein relativ billiger Mechanismus unterbindet das, schon gibt es Emissionszertifikate im Wert von -zig Millionen. Andere Hersteller zocken das System ab, indem sie mehr Treibhausgase ausstoßen, als sie müssten, um dann Geld für deren Verminderung zu erhalten.87 »Die Aussicht, echtes Geld auf der Grundlage von Hochrechnungen zu erhalten, wie viel von einer unsichtbaren Substanz nicht in die Atmosphäre gelangt, übt auf Betrüger eine geradezu magnetische Zur Aktualität  |  103

Wirkung aus«.88 Außerdem nimmt der Zertifikathandel in Schwellenländern den Kleinbauern, Bauern und Indigenen die Freiheit, in Frieden zu leben und sich in den Wäldern zu versorgen. Lokale Lebensformen werden durch den Emissionshandel im besten Fall verändert.89 Mit dem schwunghaften Emissionszertifikathandel wird die Welt noch tiefgehender monetarisiert als bisher. Die Natur wird vollkommen verding­licht. Sie wird zum Objekt des ökologischen Handels, zur absoluten Ware. Abgesehen vom Betrug im engeren Sinn beim Zertifikathandel geschieht auch ein umfäng­licher Betrug an der Umwelt : Als könnte die eine Verschmutzung durch einen Freifahrschein auf der anderen Seite des Globus ausgeg­lichen, neutralisiert werden. Das System ist vor allem für die reichen Länder geschaffen, die sich entlasten und sich freikaufen können. Mit den Zertifikaten tritt man vollkommen auf der Stelle, die Umweltbilanz verbessert sich weltweit nicht. Die übelsten, reichsten Verschmutzer glauben, sie könnten sich innerhalb dieses Systems von der ökologischen Verantwortung freikaufen. Vielleicht glauben sie das wirk­lich, vielleicht auch nicht. Es spielt keine Rolle. Die dritte Absurdität toppt als Abstrusität die beiden anderen Absurditäten. Geo-engineering, zum Glück noch eine Zukunftsfantasie von Wissenschaftlern, soll die Sonneneinstrahlung auf der Erde abdunkeln, damit die Temperatur nicht weiter ansteigt. Wie Naomi Klein kritisierte : »Solar Radiation Management« behandele nur ein Symptom. Sobald man die Stoffe in die Stratosphäre bringt, darf man nie wieder damit aufhören.90 Hörte man auf, erlitte die Erde einen Hitzeschock.91 Außerdem könnte die Erde anders reagieren, als in den Computermodellen vorhergesagt.92 Geo-engineering würde die Landwirtschaft sehr beeinträchtigen, zum Beispiel 60 % bis 100 % der Pflanzenaktivität in der Sahelzone.93 Geo-engineering würde den Planeten »zweifelsfrei … zu einem Monster machen, wie wir es in der Menschheitsgeschichte noch nicht erlebt haben«.94 Wie kann man nur auf eine hoch gefähr­liche Idee wie Geo-­ engineering kommen ? Auch wenn die Idee, wie man hoffen kann, nie verwirk­licht wird : Sie manifestiert den Verzweiflungsgrad, den die sich anbahnende ökologische Katastrophe erreicht hat. Was für ein schein-wissenschaft­licher, überheb­licher Terminus : Solar Radiation Management. Als stellte Geo-engineering die Lösung 104  |  Nachspiel zum Finale 

parat, als wäre ein »Management« auf diese Weise ernsthaft mög­ lich. Mit Geo-engineering steigern sich die realen und mög­lichen Verschlechterungen am ökologischen Fußabdruck der Menschheit zum Crescendo. Mit Vehemenz und mit Paukenschlägen setzt die Kakophonie ein. Damit gelange ich zur vierten und letzten Frage : Kann das Super-Paradigma der vorangegangenen Kapitel modifiziert werden und darf es überhaupt noch Gültigkeit beanspruchen ? Sicher­lich würde ich heute den Klimawandel ins Zentrum der Überlegungen stellen. Von der desaströsen Aufheizung des Planeten gehen gefähr­lichste Folgen wie das Abschmelzen der Polareisschilde aus, ebenso wie gefähr­lichste Rückkopplungen, etwa das Kippen der Weltmeere. Das bedeutet eine notwendige Perspektiv­ änderung in der Theo­rie unseres zerstörerischen Super-Paradigmas. Allenthalben hört man vom Klimawandel und darin liegt unser Kernproblem. Zugleich verengt der Klimawandel den Blick für andere, ebenfalls gravierende anthropogene Phänomene : die (Ur-) Waldabholzung, der Artentod, die Verschmutzung der Weltmeere, die Chemisierung der Welt, die Verschmutzung und Verseuchung des Grundwassers. Sie alle wirken auf den vollkommen überlas­ teten Planeten ein und tun das ihrige, ihn in den raschen Kollaps zu treiben, nicht nur der weltvernichtende Treibhauseffekt. Die permanente, nun kapitalistisch-globalisierte Expansion beschleunigt die Planetenvernichtung um ein Vielfaches sogar gegenüber den frühen 1990er Jahren. In diesem Sinn bestätigt sich das SuperParadigma, das inzwischen an Fahrt aufgenommen hat. Als ich für die beiden Schlusskapitel dieser zweiten Auflage recherchierte, erschrak ich über das Tempo, mit dem der Planet zu Grunde gerichtet wird. Anfang der 1990er Jahre hatte ich in meiner damaligen Naivität, ohne eine Prognose abgeben zu wollen, an einen prozessualen Zeitraum von vielen Jahrhunderten für die Endkatastrophe gedacht. Nun wurde mir klar, das Zerstörungstempo hat sich potenziert. In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden wir uns bereits, viel früher als ich jemals vermutet hätte, am Anfang der Endphase befinden. Unsere Kinder und unsere Kindeskinder werden es ausbaden. Man müsste also entgegen den frühen 1990er Jahren von einem nun beschleunigten SuperParadigma sprechen. Am Paradigma ändert sich jetzt die PerspekZur Aktualität  |  105

tive, näm­lich das zentrale Problem des Treibhauseffekts, die neuen und sich verschlechternden Negativa, das beschleunigte Tempo der Zerstörung. Dass man vermut­lich die Ozonschicht gerettet hat oder dass man Begriffe wie »postmodern« nicht mehr benutzt, dass neue wie »Rückkopplung« und »Kipppunkt« hinzukommen, ändert nichts an der prinzipiellen Ausrichtung des zerstörerischen SuperParadigmas. Heute würde ich eher von »Kipppunkten« sprechen als von »Kulmination«. Allerdings geht es dabei nicht einfach um einen modischen Begriff, sondern um tragische Realitäten. Die näher rückenden Kipppunkte können sehr wohl in schneller Folge zum Kulminationspunkt der Zerstörung führen. Es wäre die größte Aufgabe der Menschheit gewesen, den Planeten für die Nachwelt zu erhalten, die Verwandlung des expansiven Super-Paradigmas in Nachhaltigkeit, in ein neues, zweites, ökologisches Paradigma. Mit der Unfähigkeit der Menschheit, das Gesamtsystem zu verwandeln, scheint die Welt aus allen Fugen zu springen, wie es in Hamlet, Prince of Denmark, bekannt­lich heißt : »The world is out of joint …«95 Doch tatsäch­lich bleibt sie, figurativ gesprochen, in den Fugen, gehört doch das Ausleben der mensch­­ lichen Negativ-Mög­lichkeiten zu uns. Sie sind integraler und eigendynamischer Bestandteil des Super-Paradigmas in technologischer Zeit. Zurückgehend vor der Globalisierung kann man das Super-Para­ digma insofern modifizieren, als man es noch genauer präzisieren kann. Mit der Phase der ursprüng­lichen Kapitalakkumulation seit der Renaissance geht es um nichts anderes als den Kapitalismus. Vollends in der Industriellen Revolution, dann nochmals in den 1950er Jahren und schließ­lich in der hyperdynamischen Globali­ sierung ab ungefähr 2000 nahm das Super-Paradigma jeweils gewaltig an Fahrt auf und erweist sich als nichts anderes als die Durchkapitalisierung der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Restnatur, als hemmungsloses System zur Ausbeutung von Ressourcen und Menschen. Mit der Globalisierung schließ­lich erreicht die beschleunigte Durchkapitalisierung Weltmaßstab, ebenso wie die Umweltvernichtung Weltniveau erreicht. Diese beschleunigte Expansion ungefähr seit dem Jahr 2000 setzt die Gedankenlosigkeit gegenüber der Natur fort. Sie passt lückenlos in das Super-Para­ digma seit dem Neo­lithi­kum. 106  |  Nachspiel zum Finale 

Das Super-Paradigma : Ein Verwandlungskünstler par excellence, und doch mit einigen Konstanten. Expansion, hemmungslose und gedankenlose Ressourcenausbeutung als Herrschaft über die Natur, Eigendynamik, die ausgelebt werden will, und mensch­­liche Selbsterhebung über sich zeichnen das komplexe System aus, das dem Menschen eigen ist. Hinzu kommt seit der Industriellen Revolution die Beschleunigung, von Beschleunigungstheoretikern wie etwa Paul Virilio oder Hartmut Rosa auf den Begriff gebracht.96 Das System, ein rasender Roland mit einem Riesenschneeball­effekt, die wirbelnde Inkarnation der mensch­­lichen Hybris. In der letzten und super-beschleunigten Ausprägung des globalisierten Kapi­talismus fand und findet der gierige Anteil des Menschen sein kon­­genia­les Medium. Nun beginnt der Knecht Natur mit rasch geführten Schlägen, die Herrschaft über den Herrn zurückzugewinnen. Wie dieser Rückführungsprozess in die Naturherrschaft im Lokalen geschah und geschieht, davon berichtet Jared Diamond in seinem zweiten Meisterwerk Kollaps.97 Der Mensch in der Rolle des Tragikomödianten betrat zu­ver­ sicht­lich grinsend die Weltbühne der immer brüchigeren Bretter und hampelt nun hilflos herum, schlecht begleitet vom Finale der Kakophonie-Symphonie. Eine Spezies, mit Ausnahme humanistischer Werte, demokratischer Institutionen und ästhetischer Schöpfungen, prädestiniert für die Bedeutungslosigkeit. Sie gilt es zu ­a k­zeptieren. »Eine der treffenden Wortverbindungen, die es gibt : die Welt ist mit dem Menschen geschlagen«.98 Gäbe es unsere Art nicht mehr, was wäre daran schlimm ? Ein Aufatmen bei der rest­lichen Tierwelt wäre uns sicher. Da der Mensch sich gegenüber der Mitwelt als unwürdig erwiesen hat, wäre unser Verschwinden durchaus ein tröst­licher Gedanke : der befreite Planet, das berechtigte Fallen des letzten Vorhangs der Menschheit. Zu allem Übel auch noch das Ende aller Utopien, diese neue Ära, in die wir zitternd hineinstolpern. Man fragt sich, welche der zeitgenössischen Dystopien das Rennen machen wird. Beim Anstieg des Meeresspiegels um 60 Meter oder mehr der Film Waterworld von 1995 ? In dieser Wasserwelt geht es um den vollkommen überfluteten Planeten, dessen einzige Utopie für die wenigen Überlebenden eine ferne Insel sein soll. Oder Cormac McCarthys Dystopie Zur Aktualität  |  107

Die Straße ? Vater und Sohn kämpfen sich in einer ökologisch vernichteten Welt durch, stets umlauert von den letzten Überlebenden, den Kannibalen.99 Man starre jedoch nicht wie der Hase auf die züngelnde Giftschlange. Freuen wir uns an den Freuden, die wir noch genießen können. Lernen wir, wie in der eigenen Todesstunde, nun in der phylogenetischen Endzeit loszulassen. Vielleicht sind wir für das große Ganze nicht geschaffen, sondern für das Kleine, für das Dorf, für die nahe Umgebung, für die Langsamkeit und die kleinen Freuden des Lebens. Offensicht­lich überforderten wir uns maßlos mit der Globalisierung. Die neue finale Ära, sie hat schon begonnen. Längst entschwunden die Welt von gestern mit ihrem Adagio-Tempo. Zum Tanz auf dem brodelnden Vulkan wird bereits con fuoco aufgespielt.

108  |  Nachspiel zum Finale 

Literaturangaben Editorische Notiz zur zweiten Auflage

Onetti, Juan Carlos, Das kurze Leben, Frankfurt/M. 1978 (La vida breve, Buenos Aires 1950). Vorspiel zum Finale : Signifying nothing

Shakespeare, William, Macbeth, 5. Akt, 5. Szene : »Life’s but a walking shadow, a poor player / That struts and frets his hour upon the stage, / And then is heard no more; it is a tale/Told by an idiot, full of sound and fury, / Signifying nothing.« – »Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild; / Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht / Sein Stündchen auf der Bühn’ und dann nicht mehr / Vernommen wird; ein Märchen ist’s, erzählt / Von einem Dummkopf, voller Klang und Wildheit / Das nichts bedeutet.« Übersetzung August Wilhelm Schlegel, Dorothea und Ludwig Tieck et al. Hobbes, Thomas, Leviathan (1651), New York 1914, 1965, Part I. Of Man, Chapter 13, S. 64. Leibniz, Georg Wilhelm, Die Theodizee, Hamburg 1879, 1925, 21968, Vorrede, S. 4 ff. Cioran, E.M., Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1987. Habermas, Jürgen, Theo­r ie und Praxis, Frankfurt/M. 1963, 1971, S. 332 sowie ders., Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968, 1971, S. 234. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Theo­r ie-Werkausgabe Band IV, Wiesbaden 1956/Frankfurt/M. 1968, Transzendentale Dialektik, S. 341 ff. (B 399 ff.). Voltaire, François Marie Arouet de, Essai sur les moeurs et l’esprit des nations, Œuvres de Voltaire 15, Paris 1829. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes (1807), Hamburg 61952, S. 77 ff., Bewusstsein. »The idiocy is in the beholder« : Anspielung auf »The beauty is in (the eye of) the beholder«, wofür es mehrere Quellen gibt. »Les fleurs du mal« : Anspielung auf Charles Baudelaires gleichnamigen Gedichtband Die Blumen des Bösen (Paris 1857).   |  109

I. Maîtres et possesseurs

Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1979, 71987. Mon­taigne, Michel de, Essais, Zürich 1953, 71991, Zweites Buch, »Apologie des Raimund Sebundus« und »Über den Dünkel«. Descartes, René, Discours de la Méthode/Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaft­lichen Forschung, Hamburg 1960, 1969, Sixième Partie, S. 100 : »Herren und Eigentümer der Natur«. Löbsack, Theo, Die letzten Jahre der Menschheit. Vom Anfang und Ende des Homo sapiens, München 1983; Koestler, Arthur, Der Mensch – Irrläufer der Evolution, Frankfurt/M. 1989. Childe, Vere Gordon, The Dawn of European Civilization, London 21961. Descartes, René, Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Meditatio VI / Sechste Meditation, Hamburg 1959, S. 128 ff. Meyer-Abich, Klaus-Michael, Aufstand der Natur : Von der Umwelt zur Mitwelt, München 1990. Bacon, Francis, Instauratio magna, Second Part : Novum Organon (1620), London 1858. Blumenberg, Hans, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frank­ furt/M. 1966, 1974, S. 247. Horkheimer, Max, Kritik der instrumentellen Vernunft, Frank­f urt/M.  1974. Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Ansagen, Bonn 1956. Barney, Gerald O. (Hg.), The global 2000 report to the President of the U.S., prepared by the Council of Environmental Quality and the ­Department of State, New York 1980. Perrow, Charles, Normale Katastrophen. Die unvermeid­lichen Risiken der Großtechnik, Frankfurt/M. 1988. Chargaff, Erwin, Kritik der Zukunft, Stuttgart 41990. Rifkin, Jeremy, Genesis zwei. Biotechnik – Schöpfung nach Maß, Reinbek 1986. Beck, Ulrich, Gegengifte. Die organisierte Unverantwort­lichkeit, Frank­ furt/M. 1989. Dahl, Jürgen, Die Verwegenheit der Ahnungslosen. Über Genetik, Chemie und andere schwarze Löcher des Fortschritts, Stuttgart 1989. 110  |  Literaturangaben 

Atwood, Margaret, The Handmaid’s Tale, London 1986 (Deutsch : Die Geschichte der Dienerin, Stuttgart 1990). Kuhn, Thomas S., Die kopernikanische Revolution, Braunschweig/Wies­ baden 1980 und ders., Was sind wissenschaft­liche Revolutionen ? Zehnte Werner-Heisenberg-Vorlesung, München 1981. II. Totentanz ohne Trauer

Rousseau, Jean-Jacques, Schriften zur Kulturkritik. Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755) (Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes) (Deuxième discours), Hamburg 1955, 21971, S. 62 ff. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung (1819), Stuttgart 1990. Cioran, E. M., op. cit. Horstmann, Ulrich, Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Wien 1983, 1985, 21988. Augustinus, Bekenntnisse, (Confessiones), Frankfurt/M. 1955. Hartmann, Eduard von, Philosophie des Unbewussten (1869), Leipzig 1904, Erster Teil, S. 332; Zweiter Teil, S. 376, S. 386 f. Mon­taigne, Michel de, op. cit., Erstes Buch, »Philosophieren heißt sterben lernen«, S. 121 ff. Kundera, Milan, Die unerträg­liche Leichtigkeit des Seins, Stuttgart 1988. Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, drei Bände, Frankfurt/M. 1959, 1967. Pieper, Josef, Über die Hoffnung, München 1959. Jonas, Hans, op. cit. III. Untergang und Ungehorsam

Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, München 71987. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 61989. Schopenhauer, Arthur, op. cit. Hobbes, Thomas, op. cit. Locke, John, The Second Treatise of Government (1690), Indianapolis/ New York 1952, S. 112 ff. Rousseau, Jean-Jacques, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (Du contrat social ou principes du droit politique) (1762), hrsg. v. Hans Brockard, Stuttgart 1991. Literaturangaben  |  111

Thoreau, Henry David, On the Duty of Civil Disobedience (1849), Oxford 1990. Gandhi, Mohandas Karamcand, The Moral and Political Writings of ­Mahatma Gandhi, 2, Truth and Non-violence, hrsg. v. Iyer, Raghavan, Oxford 1986; ders., 3, Non-violent Resistance and Social Transformation. hrsg. v. Iyer, Raghavan, Oxford 1987.

112  |  Literaturangaben 

Nachweise IV. Heitere Hoffnungslosigkeit

  Mon­taigne, Michel de, op. cit., etwa in »Philosophieren heißt sterben lernen«, Erstes Buch, S. 121 ff. 2  Fichte, Johann Gottlieb, Die Bestimmung des Menschen (1800), Hamburg 1962, vor allem das zweite Buch, S. 35 ff., insbes. S. 70 f. 3  Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, op. cit., S. 77 ff. 4  Voltaire, François Marie Arouet de, Candidus (Candide), Zürich 1956, S. 276. 5  Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, Theo­r ie-Werkausgabe Band X, Wiesbaden 1957/Frankfurt/M. 1968, S. 329 ff. (B 75 f.), mehrfache Zitate, Hervorhebung im Original. 6  Kant, op. cit., S. 333 (B81). Hervorhebungen im Original, zwei Zitate. 7  Kant, op. cit., S. 336 (B85). Hervorhebung im Original. 8  Kant, op. cit., S. 343 (B95/96). Hervorhebung im Original. 9  Aristoteles, Metaphysik, Stuttgart 1970, I. Buch (A), 2. Die Merkmale der Weisheit, S. 21 (982b). 10  Menke, Christoph, Die Kraft der Kunst, Frankfurt/M. 22013, S. 12. 11  Gumbrecht, Hans Ulrich, »Epiphanien«, in  : Küpper, Joachim / Menke, Christoph (Hgg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frank­ furt/M. 2003, S. 205. 12  Bloom, Harold, Die Kunst der Lektüre. Wie und warum wir lesen sollten, München 2000. 13  Rorty, Richard, »Der Roman als Mittel zur Erlösung der Selbstbezogenheit«, in : Küpper/Menke (Hgg.), op. cit., S. 56 ff. 14  Schiller, Friedrich, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795/1801), Klaus L. Berghahn (Hg.), Stuttgart 2000, 2005, S. 38 ff. 15  Schiller, op. cit., S. 62/63. Hervorhebung im Original. 16  Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk (1962, 1967), Frankfurt/M. 1973, S. 8 ff., S. 11 ff., S. 27 ff., insbes. S. 29. 17  Schober, Franz von, »An die Musik«, zu finden im Internet bei : Die deutsche Gedichtebibliothek; Vertonung Franz Schubert, op. 88, Nr. 4. 1

  |  113

  Horaz, Ars poetica, in : Aristotle. Horace. Longinus – Classical Literary Criticism, Harmondsworth/Middlesex 1965, S. 90. 18

Nachspiel zum Finale : Zur Aktualität

  DIE ZEIT, Nr. 29 vom 07. 07. 2016, Geht doch ! Das Ozonloch schrumpft. Dieser Erfolg der globalen Politik könnte auch beim Kampf gegen den Klimawandel helfen. 2  Waldzustandsbericht – Forstwirtschaft in Deutschland 2015, »Waldzustand«. 3  Waldzustandsbericht Baden-Württemberg 2016, 3 Ergebnisse der Kronenzustandserhebung, »Der Waldzustand in Baden-Württemberg«. 4  Ibid., »Schadstufen«. 5  Ibid., »Bodenversauerung«. 6  Ibid., »8 Zusammenfassung und Diskussion«. 7  Ibid., »Die Esche«, und Stuttgarter Zeitung, Nr. 291 vom 15. 12. 2016. 8  Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V., Bericht 2016. www.dgvn.de/themenschwerpunkte/waelder-abholzung/vier-probleme-durch-abholzung 9  Rettet den Regenwald e.V., 11. 01. 2011. www.regenwald.org/news/ 3286/regenwaldrodung-mehr-als-ein-halbes-fussballfeld 10  Ibid. 11  Klein, Naomi, Die Entscheidung Kapitalismus vs. Klima, Frank­ furt/M. 22015, S. 355 ff., S. 407 ff. (This Changes Everything. Capitalism vs. Climate, New York 2014). 12  Ibid., S. 123. 13  ZEIT Online, Klimagipfel 2015  – Ein neuer Weltklimavertrag. www.zeit.de/thema/klimagipfel-2015 14  Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ sicherheit, Klimaschutz. www.bmub.bund.de/themen/klima-energie 15  International Energy Agency (IEA), World Energy Outlook 2016, Executive Summary, »Fossil fuels and the risks from the low-carbon transition«, S. 5. 16  Spiegel Online Wissenschaft, 45 Länder wollen komplett auf Kohle, Öl und Gas verzichten. www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimakonferenz-in-marrakesch 17  ZEIT Online, Klimakonferenz : UN-Gipfel in Marrakesch. www. zeit.de/thema/klimakonferenz 1

114  |  Nachweise 

  Spiegel Online, Klimagipfel-Vertrag : Freut euch  – aber nicht zu früh. www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kommentar-zum-klimagipfel-freut-euch-aber-nicht-zu-früh 19  Ekardt, Felix, Legal Tribune Online, Ergebnisse der Pariser Klimakonferenz. Ohne Anspruch und Konzept, 14. 12. 2015. www.lto.de/recht/ hintergruende/h/pariser-abkommen-klima-schutz-vertrag 20  Ibid. 21  Ibid. 22  WWF, UN-Klimakonferenz COP 22 in Marrakesch, Stand 23.11.2016. www.wwf.de/themen-projekte/klima-energie/cop22-klimakonferenzin-marrakesch 23  Siehe dazu Klein, op. cit., S. 139. 24  Der Tagesspiegel vom 19. 11. 2016, Weltklimagipfel COP 22 in Marrakesch. Wüstenstrom statt Kohlestreit. www.tagesspiegel.de/politik/ weltklimagipfel-cop22-in-marrakesch-wuestenstrom-statt-kohlestreit 25  BUND, Proklamation von Marrakesch ruft nach engagierter Fortset­ zung des Klimaschutz-Prozesses, vom 18. 11. 2016. www.presseportal.de/ pm/7666/3487796 26  Bardi, Ugo, Der geplünderte Planet. Die Zukunft des Menschen in Zeiten schwindender Ressourcen, Bonn-München 2013, S. 243. 27  Maxeiner, Dirk / Miersch, Michael, Alles grün und gut ? Eine Bilanz ökologischen Denkens, München 22014, S. 107. 28  Umweltbundesamt, Kohlendioxid-Emissionen, 25. 04. 2016. www. umweltbundesamt.de/daten/klimawandel/treibhausgas-emissionenin-deutschland 29  Weston, Del, The Political Economy of Global Warming. The terminal crisis, London/New York 2014, 2015, S. 24. 30  Umweltbundesamt, Atmosphärische Treibhausgas-Konzentratio­ nen, 21. 06. 2016. www.umweltbundesamt.de/atmosphaerische-treib­ hausgas-konzentrationen 31  U.S. Energy Information Administration, International Energy Outlook 2016, Executive Summary, S. 1. 32  Ibid., Chapter 9 »Energy-related CO emissions«. 2 33  DIE ZEIT, Nr. 48 vom 26. 11. 2015, Heiße Luft. Vor dem Pariser Gipfel machen viele Regierungen große Klimaversprechen – mithilfe geschönter Zahlen, S. 35. 34  International Panel on Climate Change (IPCC – Weltklimarat der UNO), Climate Change 2014, Synthesis Report, SPM 4.4. 18

Nachweise  |  115

  Umweltbundesamt, Atmosphärische Treibhausgas-Konzentratio­ nen, op. cit. 36  Randers, Jorgen, 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome, München 2012, S. 66. 37  Weston, op. cit., S. 19. 38  IPCC, op. cit., SPM 1.1. 39  DIE ZEIT, Nr. 47 vom 10. 11. 2016, Jahrhunderte im Schnellvorlauf, S. 43. 40  Umweltbundesamt, Beobachtete und künftig zu erwartende Klimaänderungen, 06. 12. 2016. www.umweltbundesamt.de/daten/klimawandel/beobachtete-kuenftig-zu-erwartende-klimaaenderungen 41  Klein, op. cit., S. 24. 42  Weston, op. cit., S. 21. 43  DIE ZEIT, Nr. 49 vom 24. 11. 2016, Die rot-grüne Supermacht, S. 37. 44  Weston, op. cit., S. 24. 45  DIE ZEIT, Nr. 50 vom 01. 12. 2016, Aufstand gegen den Freihandel, S. 26. 46  Klein, op. cit., S. 104. 47  Weston, op. cit., S. 6. 48  Klein, op. cit., S. 186. 49  Weston, op. cit., S. 6. 50  Europäische Umweltagentur (EUA), Bericht 2013, Späte Lehren aus frühen Warnungen : Wissenschaft, Vorsorge, Innovation, Zusammenfassung, Kopenhagen 2016, S. 6. 51  Klein, op. cit., S. 19. 52  DIE ZEIT, Nr. 51 vom 08. 12. 2016, Da stockt der Atem, S. 37. 53  Ibid., S. 37. 54  Ibid., S. 37. 55  Ibid., S. 38. 56  Klein, op. cit., S. 25. 57  IPCC, op. cit., SPM 2.4. 58  Ibid., SPM 2.4. 59  Bardi, op. cit., S. 247/248. 60  IPCC, op. cit., SPM 1.1. 61  Bardi, op. cit., S. 260. 62  IPCC, op. cit., SPM 1.2. 63  Ibid., SPM 2.4. 64  Ibid., SPM 2.4. 35

116  |  Nachweise 

  Artenschutz.info, Täg­lich sterben bis zu 150 Arten aus. www.artenschutz.info/einfuehrung/artensterben.htm 66  Spiegel Online Wissenschaft, Jedes Jahr verschwinden bis zu 58.000 Arten. www.spiegel.de/wissenschaft/natur/artensterben-jaehr­l ich-ver­ schwinden-58-000-tierarten 67  Ibid. 68  WWF, Living Planet Report 2016, Kurzfassung, S. 9. 69  Weston, op. cit., S. 21. 70  Living Planet Report 2016, op. cit., S. 10. 71  Teleopolis Magazin vom 23. 10. 2016, Zu viel Nitrat im Grundwasser; WDR-Bericht vom 07. 11. 2016, Nitrat zu Grundwasser : EU-Kommission reicht Klage beim Europäischen Gerichtshof ein – Deutschland droht Milliardenstrafe; BR-Bericht vom 10. 05. 2016 (ohne Titel). 72  Stiftung Warentest vom 26. 05. 2015. www.test.de/Mineraloele-inKosmetika-Kritische-Stoffe-in-Cremes-Lippenpflegeprodukten-Vaseline 73  IPCC, op. cit., SPM 2.3. 74  Angrick, Michael, Ressourcenschutz. Bausteine für eine große Trans­formation, Essay, Marburg 2013, S. 66. 75  Randers, op. cit., S. 46. 76  McKibben, Bill, Deep Economy – the Wealth of Communities and the Durable Future, New York 2007, S. 18. 77  Randers, op. cit., S. 40; Bezug auf Carlos Joly S. 40. 78  Ibid., S. 40 79  Living Planet Report 2016, op. cit., S. 22. 80  Ibid., S. 22. 81  Ibid., S. 24. 82  Ibid., S. 24. 83  Klein, op. cit., S. 179 f.; Ian T. Dunlop, »Auf Kosten der Umwelt : Mit Fracking die letzten Reserven erschließen«, in : Bardi, op. cit., S. 261 ff. 84  Klein, op. cit., S. 396. 85  Ibid., S. 266 f. 86  U.S. Energy Information Administration, International Energy Outlook 2016, op. cit., S. 142. 87  Klein, op. cit., S. 266–268. 88  Ibid., S. 268 f. 89  Ibid., S. 271 f. 90  Ibid., S. 316. 65

Nachweise  |  117

  DIE ZEIT, Nr. 45 vom 27.10.2016, Die Reparatur der Erde, S. 15. 92  Ibid., S. 15. 93  Klein, op. cit., S. 329. 94  Ibid., S. 339. 95  Shakespeare, William, Hamlet, Prince of Denmark, 1. Akt, 5. Szene : »The time is out of joint; O cursed spite, / That ever I was born to set it right !« (»Die Zeit ist aus den Fugen : Schmach und Gram, / Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam !« Übersetzung August Wilhelm Schlegel, Dorothea und Ludwig Tieck et al.). 96  Virilio, Paul, Rasender Stillstand. Essay, München 1992 (L’inertie polaire, Paris 1990); Rosa, Hartmut, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005. 97  Diamond, Jared, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt/M. 2005, S. 43 ff., insbes. S. 103 ff. (Collapse. How Societies Choose to Fail or Succeed, New York 2005). Wie geschickt es der west­liche Mensch verstand, sich über den Rest der Welt zu erheben und Ressourcen auszubeuten, kann man in Jared Diamonds erstem Meisterwerk nachlesen : Arm und Reich. Die Schicksale mensch­­licher Gesellschaften, Frankfurt/M. 1998, 2000, 62005 (Guns, Germs, and Steel. The Fate of Human Societies, New York 1997). 98  Bachmann, Dieter, Unter Tieren, Zürich 2010, S. 91. 99  McCarthy, Cormac, Die Straße, Reinbek 2010 (The Road, New York 2006). 91