Das Ende des Holocaust 9783666540424, 9783647540429, 9783525540428

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Das Ende des Holocaust
 9783666540424, 9783647540429, 9783525540428

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Alvin H. Rosenfeld

Das Ende des Holocaust übersetzt von Manford Hanowell

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-54042-9 Umschlagabbildung: © akg-images/Udo Hesse Berlin-Wilmersdorf, Bahnhof Grunewald. Blick auf die Gleise des ehemaligen Deportationsbahnhofes. The End of the Holocaust, by Alvin H. Rosenfeld. Copyright © 2011 by Alvin H. Rosenfeld. German-language rights licensed from the English-language publisher, Indiana University Press. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

Dieses Buch ist für meine Frau, Erna Rosenfeld, und unsere Kinder und Enkel Gavriel und Erika, Julia und Benjamin Dalia und Asher, Natan, Gidon und Adin

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 1 Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Kapitel 2 Die Rhetorik der Viktimisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Kapitel 3 Die Amerikanisierung des Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Kapitel 4 Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Kapitel 5 Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / Die Anne Frank, die wir vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Kapitel 6 Jean Améry: Die Angst des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Kapitel 7 Primo Levi: Der Überlebende als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Kapitel 8 Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Kapitel 9 Das Ende des Holocaust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Epilog Ein „Zweiter Holocaust“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Sach- und Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Inhalt 

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Dank

Viele Freunde, Kollegen, frühere Studenten und Familienmitglieder haben jeweils Teile des Manuskripts gelesen und mir viele wertvolle Erkenntnisse vermittelt. Während sie keinerlei Verantwortung tragen für eventuelle Fehler, die in der Schlussfassung dieses Buches vielleicht noch vorhanden sind, haben sich aber ihre Kommentare und ihre Kritik immer wieder als sehr nützlich erwiesen. Besonders danke ich Edward Alexander, Ilan Avisar, Lisa Braverman, Dov-Ber Kerler, Myron Kolatch, Barbara Krawcowicz, Matthias Lehmann, Vivian Liska, Daniel und Gale Nichols, Cynthia Ozick, Aron Rodrigue, Dalia Rosenfeld, Erna Rosenfeld, Gavriel Rosenfeld, Sidney Rosenfeld, Tammi Rossman-Benjamin, John Schilb, David Semmel, David Singer, Eric Sundquist, Leona Toker, Jeffrey Veidlinger und Elhanan Yakira. Sehr gern möchte ich auch die Unterstützung von Meghan Clark würdigen, die mir mit ihrer Kompetenz und ihrer Fröhlichkeit geholfen hat, das Manuskript dieses Buches für die Veröffentlichung vorzubereiten. Ich danke der Universität von Indiana dafür, dass sie mir das Wintersemester 2009 als Forschungsfreisemester ermöglicht hat, und Andrea Ciccarelli, dem Direktor des Arts and Humanities Institute des Universitäts-College (CAHI), für die Gewährung eines Forschungsstipendiums während des Frühjahrs 2010. Beide Stipendien ermöglichten es mir, in einer wesentlich konzentrierteren Weise zu arbeiten, als mir das sonst möglich gewesen wäre. Dank sage ich auch den folgenden Institutionen für die Erlaubnis, frühere Fassungen eines Teils des in diesem Buch verwendeten Materials nachzudrucken: Dem Jean and Samuel Frankel Center for Judaic Studies der Universität Michigan für die Erlaubnis, eine frühere Fassung von „Die Amerikanisierung des Holocaust“ nachzudrucken, die als The David W. Belin Lecture in American Jewish Affairs erschienen war. Dem United States Holocaust Memorial Museum für die Erlaubnis, Material von „Anne Frank und die Zukunft des Holocaust-Gedenkens“, Joseph and Rebecca Meyerhoff Annual Lecture, nachzudrucken, Material, das als Gelegenheitsbeitrag im Center for Advanced Holocaust Studies des Museums verfügbar ist (Copyright 2005 beim United States Holocaust Memorial Museum). Der Northwestern University Press für die Erlaubnis, Material von „Popularization and Memory: The Case of Anne Frank“, nachzudrucken, erschienen 1991 in Lessons and Legacies: The Meaning of the Holocaust in a Changing World, hg. Peter Hayes. Dem American Jewish Committee für die Erlaubnis, Material aus „The Assault on Holocaust Memory“, American Jewish Year Book (2001), nachzudrucken. Dank 

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Der American Labor Conference on International Affairs, Inc. für die Erlaubnis, Kommentare zu Imre Kertész und Elie Wiesel nachzudrucken, die November/Dezember 2004 bzw. Januar/Februar 2009 in The New Leader erschienen sind. Dem Weekly Standard für die Erlaubnis, Material nachzudrucken, das ursprünglich in „Exploiting Anne Frank“ erschienen ist und zuerst am 23. Juni 2008 veröffentlicht wurde. Zu weiteren Informationen siehe www.weeklystandard.com.

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Einleitung

In diesem Buch geht es um Opfer und Überlebende des Holocaust. Es lässt etwas von dem erkennen, was wir inzwischen über diese Menschen und auch über uns selbst im Verhältnis zu ihnen denken. Darüberhinaus richtet sich mein besonderes Augenmerk auf die sich allmählich verändernde Wahrnehmung des Holocaust in der gegenwärtigen Kultur sowie auf den starken Einfluss, den gewisse kulturelle Zwänge und Wertungen auf unser gefühlsmäßiges Verhältnis zu dieser besonderen Periode der Vergangenheit ausüben. Es ist eine grauenhafte Vergangenheit, dabei aber auch eine unausweichliche. „Unausweichlich“ ist jedoch nicht dasselbe wie „akzeptabel“. Und die Geschichte des Holocaust wird, wie ich zeigen werde, nur dadurch weitgehend akzeptabel, dass der grundlegende Charakter des Erzählens von dem Geschehen eine Wandlung dahingehend erfährt, dass sehr viele Menschen sich mit dem Geschehen identifizieren können. Den Kern dieses Prozesses der Wandlung und der Identifikation bildet das Schicksal der Opfer und der Überlebenden – dazu gehören ihre Erinnerungen, Berichte und ihr zukünftiger Status als nur in der Vorstellung existierende Personen innerhalb einer sich ständig neu herausbildenden Charakteristik der Schilderungen der Nazi-Verbrechen gegen die Juden. Wenn ich von den Opfern und Überlebenden als Personen spreche, die nur in der gedanklichen Vorstellung noch präsent sind, dann ist mir bewusst, dass ich Gefahr laufe, missverstanden zu werden. Offensichtlich waren (und sind) sie wirklich existierende Menschen, die gezwungen wurden, ein ganz reales, entsetzliches Leiden zu erdulden. Um all das geht es hier aber nicht. Es geht hier vielmehr um die Quellen unserer Kenntnis ihres Leidens. Wenn man diese Quellen, besonders in ihren eher gängigen Ausprägungen, betrachtet, dann wird unsere Aufmerksamkeit unausweichlich genauso unmittelbar auf die erzählerische Kraft der Literatur und anderer kultureller Darstellungsformen gelenkt wie auf die dokumentarischen Quellen der meisten historischen Darstellungen. Die Betonung des Erzählerischen – sowohl des Erzählaktes selbst als auch des Erzählten – ist hier durchaus beabsichtigt. Denn nur dadurch, dass wir das Erzählerische angemessen würdigen, können wir die Hoffnung haben zu begreifen, auf welche Weise die Vergangenheit die meisten von uns überhaupt erreicht. So verstanden, umfasst Geschichte daher sowohl das Geschehen selbst als auch seine Darstellung. Und die Geschichte des Geschehens wird, wie Yosef Yerushalmi es ausdrückt, „nicht auf dem Amboss des Historikers, sondern im Schmelztiegel des Romanautors geformt“.1 Die Rolle des 1 Yosef Hayim Yerushalmi, Zakhor: Jewish History and Jewish Memory (Seattle: University of Washington Press, 1982), 98. Einleitung 

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Historikers ist durchaus wichtig für die Aufdeckung der Vergangenheit und wird es auch immer bleiben; dennoch hängt das historische Gedächtnis im weiteren Sinne vielleicht weniger von den Berichten über Geschehnisse ab, die von Historikern verfasst worden sind, als vielmehr von der eigenständigen Gestaltung dieser Geschehnisse etwa durch Autoren, Filmproduzenten, Künstler. So beschreibt Raul Hilberg, der sich als Historiker großes Ansehen dadurch erworben hat, dass er die Bedeutung des souveränen Umgangs mit den wesentlichen historischen Dokumenten betont, die Situation, die ich deutlich machen möchte: „Um den Holocaust darzustellen“, sagte Claude Lanzmann einmal zu mir, „muss man ein Kunstwerk schaffen. … Der Künstler bemächtigt sich der Tatsächlichkeit, indem er eine rasch schwindende Realität durch einen Text ersetzt. Die auf diese Weise geschriebenen Worte nehmen dann den Platz der Vergangenheit ein. Es sind diese Worte – und nicht so sehr die Ereignisse selbst –, die in Erinnerung bleiben werden“.2 Imre Kertész, der ungarisch-jüdische Autor und Nobelpreisträger, der „die Ereignisse“, auf die Hilberg sich bezieht, selbst durchlitten hat, stimmt ihm zu: „Das Konzentrationslager ist nur und ausschließlich als Literatur vorstellbar, niemals als Realität. (Nicht einmal – und dann sogar am allerwenigsten –, wenn wir es selbst unmittelbar durchlebt haben.)“3 Wenn man Yerushalmi, Hilberg und Kertész folgt, dann wird klar, dass jeder, der heute, mehr als 65 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Befreiung der Nazi-Todeslager, über den Holocaust schreibt, sich mit großer Wahrscheinlichkeit recht bald bewusst wird, dass er sowohl über Fragen literarischer und kultureller Natur als auch über solche nachdenkt, die rein historischer Art sind. Es ist nicht so, dass wir all das über die Katastrophe selbst wissen, was wir brauchen und auch wissen wollen. Ganz und gar nicht! Weil uns schmerzhaft bewusst geworden ist, dass die Kenntnis dieser Periode der Vergangenheit uns in Gestalt eines so umfangreichen und verschiedenartigen Materialbestandes übermittelt worden ist, ist es vielmehr notwendig, sowohl über die Art und die Funktion dieser Vermittlungsformen als auch über den Charakter der historischen Information und Interpretation, die sie mitteilen, nachzudenken. Deshalb sind Untersuchungen über die literarische Repräsentation der Vergangenheit in den letzten Jahren als ein wesentlicher Teil der Aufarbeitung des Holocaust stark in den Vordergrund getreten. Aus demselben Grunde fühlen sich viele veranlasst, genau den Ausdruck, der gemeinhin zur Bezeichnung des von den Nazis an den Juden begangenen Völkermordverbrechens verwendet wird, in Anführungszeichen zu setzen – also „Holocaust“ statt Holocaust –, um damit anzudeuten, wie ungeheuer wichtig es ist, das konstruierte „Erzählen“ von dem Geschehen wirklich zu begreifen, wenn man überhaupt die Hoffnung hat, dessen Geschichte und die Erinnerung daran in einer verantwor2 Raul Hilberg, The Politics of Memory: The Journey of a Holocaust Historian (Chicago: Ivan Dee, 1996), 83. 3 Imre Kertész, „Who Owns Auschwitz?“, The Yale Journal of Criticism 14, No. 1 (2001): 268.

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tungsvollen Weise zu bewahren. Den meisten Menschen ist dieses Geschehen außer in der Form seiner anschaulichen Darstellung nämlich einfach nicht zugänglich. Weil die letztgenannte Gruppe inzwischen so zahlreich und auch so unterschiedlich ist, ist es wichtig, dass man sein Augenmerk unter anderem auf folgende Fragen richtet: Wie und durch wen ist die Geschichte des Holocaust übermittelt worden? Wie und von wem wird sie aufgenommen? Innerhalb welcher speziellen kulturellen Kontexte geschieht dies? Inwieweit ist die Auswirkung auf das individuelle und das kollektive Bewusstsein überhaupt messbar? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das kulturelle Gedächtnis? Das sind komplexe Problemkreise, aber sie erfordern unsere Aufmerksamkeit, wenn wir den Stellenwert dieser traumatischen Periode der Vergangenheit sowohl in unserem gegenwärtigen Leben als auch – möglicherweise in veränderter Form – im Leben kommender Generationen überhaupt verstehen sollen. In den folgenden Kapiteln wird es daher mein oberstes Ziel sein, die sich herausbildenden Ausdrucksformen des „Erzählens“ von dem Holocaust-Geschehen nachzuzeichnen und nicht so sehr etwas signifikant Neues zur Geschichte des Geschehens selbst beizutragen. Es gab eine Zeit, und sie liegt nicht weit zurück, in der man allgemein davon ausging, dass das „Erzählen“ von dem Geschehen sich auf drei Hauptgruppen verteilte: die Opfer, ihre Mörder und die große Mehrheit der Menschen, die in der jeweiligen Gesellschaft bei dem immer offenkundiger werdenden Verbrechen zusahen oder eben auch wegsahen. Die meisten wussten (obwohl nicht jeder bereit war, es zuzugeben), dass die Hauptopfer die europäischen Juden waren. Es ist jedoch schon lange bekannt, dass andere Gruppen, unter ihnen eine große Anzahl von Slawen, Sinti und Roma, dann auch Behinderte, Homosexuelle sowie bestimmte politische und religiöse Gruppen, ebenfalls das Ziel von Misshandlungen, Unterjochung, Versklavung und in mehreren Fällen auch Ermordung durch die Nazis waren. Dennoch herrschte weithin die Erkenntnis vor, dass Hitlers besessene Fixierung auf die Juden den grauenhaftesten, allumfassenden Verbrechen des Dritten Reichs zugrundelag und dass die Juden und nur die Juden für die totale Vernichtung vorgesehen waren. Dass der Völkermord nicht vollständig gelang, war nicht so sehr darauf zurückzuführen, dass er in seiner Totalität den mörderischen Plänen etwa nicht entsprochen hätte, sondern eher auf eine Folge von Ereignissen außerhalb der Einflussnahme der Verbrecher. Um das Ausmaß der grauenhaften Untaten darzustellen, ist die Zahl „sechs Millionen“ generell als autoritativ anerkannt worden, mit der der Umstand gekennzeichnet werden sollte, dass die Juden, verfolgt und dahingeschlachtet en masse, die Hauptopfer des Holocaust waren. Was die Täter angeht, so war ihre Identität von Anfang an deutlich: Es waren die deutschen Gefolgsleute Hitlers, die militärischen und auch die zivilen, sowie Mitglieder anderer europäischer Gruppen, die den Nazis dabei halfen, ihre infame „Endlösung der Judenfrage in Europa“ zu verwirklichen. Die Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit machten einer breiten Öffentlichkeit die Namen, Gesichter und Alibi-Versuche einer kleinen Anzahl der Haupttäter zugänglich. Einige der Einleitung 

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schlimmsten Verbrecher, unter ihnen Hitler selbst, entzogen sich der Gerechtigkeit durch Selbstmord, Verschleierung oder durch Flucht ins Ausland. Die meisten der anderen blieben in Deutschland, Österreich oder in ihrer jeweiligen Heimat innerhalb von Europa und zogen es vor, über ihre Mittäterschaft an den Verbrechen des Dritten Reiches Stillschweigen zu bewahren, oder sie versteckten sich in der Unauffälligkeit von im allgemeinen farblosen bürgerlichen Existenzen. Während die meisten Namen und spezifischen Verbrechen der einzelnen Täter in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurden, so blieb ihre kollektive Identität als Nazi-Mörder durchaus im Bewusstsein haften und wurde von Zeit zu Zeit durch bestimmte öffentliche Sensationsenthüllungen sogar deutlicher wahrnehmbar. Beispiele sind die Ergreifung und die Verurteilung Adolf Eichmanns sowie die Jagd auf andere Nazi-Verbrecher und ihre Verurteilung. Was die übrigen Gesellschaftsgruppierungen angeht – heute gemeinhin bekannt als „Zuschauer“ –, so handelte es sich um diejenigen, die wenig dazu beitrugen, die „Endlösung“ entweder voranzutreiben oder sie zu verhindern; sie verhielten sich stattdessen eben als unbeteiligte Zuschauer, was in gewissem Maße dazu führte, dass die „Endlösung“ ungehemmt weitergehen konnte. Diese Menschen bilden eine Kategorie, die weite und sehr unterschiedliche Bevölkerungskreise umfasst; dazu gehören die ganz gewöhnlichen Bürger der meisten von den Nazis besetzten europäischen Länder sowie auch größere europäische Institutionen wie etwa die christlichen Kirchen, das Rote Kreuz, Universitäten, Bereiche in Handel, Gewerbe und Industrie, Teile der Arbeitnehmerschaft, der Justiz, der Verwaltung usw. Wie Raul Hilberg es ausdrückt, waren die Zuschauer diejenigen, die „nicht ‚beteiligt‘ waren, die den Opfern nicht schaden und von den Tätern keinen Schaden erleiden wollten“.4 Zwar profitierten etliche von dem Unglück und dem Verschwinden der Juden, die meisten hatten sich jedoch keiner spezifischen Verbrechen schuldig gemacht. Und während einige ihren jüdischen Nachbarn durch kleine Akte des Anstandes und der Freundlichkeit Hilfe zukommen ließen, so haben die meisten mangels wirklich verdienstvoller Taten für sich keine Ehre eingelegt. Sie waren weder Helden noch Verbrecher, sondern ganz gewöhnliche Menschen, die harte Zeiten durchlebten und zuschauten, wie andere um sie herum noch viel Härteres und Grausameres durchmachten. In moralischer Hinsicht wurde die Passivität der Zuschauer nach und nach als eine Form stillschweigender Komplizenschaft verstanden. Ihre Rolle war jedoch unauffällig und rief bei ihnen keine Gefühle hervor, die denen des Mitleids und des Schreckens vergleichbar gewesen wären, die durch das Los der Opfer hervorgerufen wurden, auch nicht den Gefühlen der Verachtung, der Empörung und des Abscheus angesichts der Verbrechen der Täter. Es gibt aber auch andere, die ebenfalls in den Rahmen dieses Geschehens gehören. Es sind vor allem die, die aktiv gegen die Nazis und ihre Helfershelfer gekämpft 4 Hilberg, Perpetrators Victims Bystanders: The Jewish Catastrophe, 1933–1945 (New York: Harper Collins, 1992) xi.

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haben, dann auch die, die unerschrocken bereit waren, die Juden, denen die Verfolgung als Opfer drohte, zu schützen oder auch zu retten. Dennoch geht man im Großen und Ganzen davon aus, dass die Geschichte des Holocaust die Geschichte der Opfer, der Täter und eben auch der Zuschauer ist. In den Jahren unmittelbar nach der Niederlage Nazi-Deutschlands und auch noch später ist das Erzählen von dem Holocaust im Hinblick auf die genannten drei Gruppen im Kern immer sehr deutlich geblieben. Und zumindest bei der Mehrheit derer, die ernsthaft über dieses Geschehen nachgedacht und geschrieben haben, bestand immer ein hoher Grad an Übereinstimmung in Bezug auf das Wesen der Katastrophe, wenn auch nicht in Bezug auf ein vollkommenes Begreifen der Motive derer, die dafür verantwortlich waren. Die Frage, warum Völkermord in der Mitte des 20. Jahrhunderts Teil der europäischen Geschichte wurde, lässt sich nicht leicht beantworten. Aber dass der Völkermord geschah, wie er geschah, wer ihn beging und wer die Hauptopfer waren – diese Tatsachen waren nie strittig. Zum größten Teil gelten die wesentlichen Züge der oben umrissenen Darstellungsformen unter ernsthaften Forschern, die die Nazi-Ära untersuchen, immer noch. Über die Zeit hin haben sich jedoch in subtiler und auch weniger subtiler Form Verschiebungen sowohl bei der Definition als auch bei dem Stellenwert innerhalb der Hauptkategorien des Erzählens von dem Holocaust-Geschehen ergeben. Aufgrund einer ganzen Anzahl von Variablen haben sich die Konturen und auch die Bedeutung des Begriffes „Holocaust“ nach und nach fast unmerklich gewandelt. Als ein Resultat eines solchen Wandels ist z. B. die Kategorie „Opfer“ allmählich erweitert worden und umfasst nun auch andere Menschen als nur die Juden. Je nach unterschiedlicher Lesart kann in der Kategorie „Täter“ die Rolle der „ganz gewöhnlichen Deutschen“ entweder bagatellisiert oder schlimmer dargestellt werden; in bestimmten extremen Fällen kann sie sogar selbst Juden mit einschließen. Und der Begriff „Zuschauer“, so argumentieren einige, sollte nicht nur die Vielzahl derer, die in den von den Nazis beherrschten europäischen Ländern nur zuschauten, einschließen, sondern darüberhinaus auch die organisierten Eliten der amerikanischen und britischen Juden sowie die polititischen Führungspersönlichkeiten Palästinas vor der jüdischen Staatsgründung. Während also die Hauptakteure in der „Geschichte“ des Holocaust – Opfer, Täter, Zuschauer – dieselben bleiben, haben aber die Kategorien selbst eine neue Dehnbarkeit erfahren, wodurch sie jetzt Einzelpersonen und Typen umfassen können, die sie vorher nicht enthielten. Überdies sind einige derer, die in der Vergangenheit in diesem Drama relativ untergeordnete Rollen gespielt haben – vor allem „Überlebende“ und „Lebensretter“ –, gleichsam neu eingeordnet worden und genießen heute eine wesentlich größere Beachtung. Es gibt auch andere – Typen, die erst kürzlich hervorgetreten sind oder hervorzutreten sich bemühen, aber auch solche, die daran gehindert werden, als Beteiligte an dem wesentlichen Erzählen von dem Geschehen hervorzutreten. Innerhalb Deutschlands werden „Widerstandskämpfer gegen die Tyrannei der faschistischen Herrschaft“ sowie unter anderem auch deutsche Opfer von alliEinleitung 

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ierten Bombenangriffen, von Plünderungen durch sowjetische Soldaten, von Vergewaltigungen, Vertreibungen von einigen besonders in den Vordergrund gestellt. In Polen werden „Märtyrer der polnischen Nation“ besonders geehrt. In Ungarn, Rumänien, der Ukraine und in den baltischen Staaten wird den nationalen Opfern des „doppelten Völkermordes“ ein neuer Stellenwert mit einer neuen Gleichstellung verliehen, indem die „Märtyrer“ des sowjetischen Kommunismus zusammen mit den jüdischen Opfern der Nazi-Tyrannei (in manchen Fällen sogar anstelle dieser Gruppe) geehrt werden. In Frankreich, den Niederlanden und anderen westeuropäischen Ländern streitet man sich über die Rolle von „Kollaborateuren“. In Israel werden „jüdische Helden“ von der gesamten Nation schon lange geehrt, und innerhalb gewisser Kreise lässt sich ein beginnendes Interesse an „jüdischen Rächern“ feststellen. In den Vereinigten Staaten stehen „Überlebende“ und „Befreier“ an vorderster Stelle des öffentlichen Interesses. In großen Teilen der muslimischen Welt wird der Nazi-Holocaust als Völkermord an den Juden entweder völlig geleugnet oder durch radikale Entstellung und sogar Umkehrung in der Weise vereinnahmt und neu dargestellt, dass man die israelischen Juden als „Nazis“ wegen „Völkermordes“ an den palästinensischen Arabern anprangert. Wie all diese typologische brodelnde Unruhe zusammen mit den widerstreitenden Auffassungen und dem generellen Wandel sich schließlich entwirrt, und wie all das mit der Zeit unser gefühlsmäßiges Verhältnis zu dieser Periode der Vergangenheit möglicherweise neu gestalten wird, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Ich will jedoch versuchen, den sich schon länger abzeichnenden Wandel zu beschreiben sowie einige der kulturellen Ursachen und Folgen zu erläutern. Zumindest beabsichtige ich zu zeigen, dass das „Erzählen“ von dem HolocaustGeschehen keineswegs für alle Zeiten eine unveränderliche Form hat, sondern sehr stark im Fluss ist. Mit Sicherheit auf der Ebene der gängigen Massenkultur, aber in gewissem Maße auch innerhalb der akademischen Forschung über dieses Thema ist der Holocaust ein schwer fassbarer Komplex mit widerstreitenden Vorstellungen, Interpretationen, historischen Ansprüchen und Gegenansprüchen. So kritisieren einige Befürworter der Völkermordforschung z. B. die Aufmerksamkeit, die der Holocaust bisher erfahren hat, als zu eng oder zu limitiert und vertreten die Auffassung, es sei an der Zeit, die historische Untersuchung der Nazi-Verbrechen an den Juden in den breiteren Rahmen der vergleichenden Forschung ihrer Disziplin einzubetten. Andere argumentieren dahingehend, dass die Holocaust-Forschung dadurch, dass sie den Juden innerhalb der verschiedenen Opfergruppen den höchsten Stellenwert zuerkennt, diesen Status anderen Opfergruppen verweigere und nur den Juden ein „permanentes Privileg“ gewähre. Einige behaupten sogar, dies seien Kunstgriffe und gehörten zu einem „zionistischen“ Plan, Israel durch ausschließliche Konzentration auf jüdisches Leiden währen der Nazi-Ära zum Nutznießer des allgemeinen Mitgefühls zu machen. In diesen und auch anderen Fällen sind hermeneutische Diskussionen darüber, wie die „Geschichte“ erzählt oder nicht erzählt werden sollte, sogar wessen „Geschichte“ es ist und wer deshalb das Recht hat, sie 16 | Einleitung

zu erzählen, keine geheimen Angelegenheiten, sondern tatsächlich Fragen von beträchtlicher kultureller, politischer und sogar nationaler Bedeutung. Sie sind aufs engste verknüpft mit Fragen der Identität von Personen und Gruppen; der nationalen Verantwortung, der Ehre, des Schamgefühls; der religiösen und moralischen Integrität; und schließlich der fundamentalen politischen Werte. Angesichts all dieser und anderer Punkte erfordert der Holocaust eine bestimmte Art leidenschaftlicher Aufmerksamkeit, die jene übertrifft, die durch die meisten anderen Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts hervorgerufen worden ist. Seine Darstellungsform hat nun eine eigene Sprache geschaffen, die auf allen Ebenen unserer Kultur weit verbreitet ist und in vielfältiger Weise gebraucht und auch missbraucht wird. Während es immer noch vieles gibt, das wir über den Holocaust in seiner Zeit nicht verstehen, so können wir uns der Nachwirkung in unserer Vorstellung oder auch seiner rhetorischen Präsenz nicht entziehen. Ich hoffe, dass ich auf den folgenden Seiten etwas von der Art und Weise verdeutlichen kann, in der diese Präsenz – sichtbar in dem sich immer noch entwickelnden Erzählen von dem Geschehen – vor einem großen und aufnahmebereiten Publikum am Leben erhalten wird. Dieses Publikum wird in einer bestimmten Weise durch das Erzählen verändert, und umgekehrt gilt das Gleiche. Aus bestimmten Gründen, die später deutlich werden, werde ich mich hauptsächlich auf Darstellungen über „Opfer“ und „Überlebende“ konzentrieren, auf die beiden Gruppen, die in den letzten Jahren die größte Aufmerksamkeit erhalten haben; dennoch werde ich auch hinsichtlich der „Täter“, der „Lebensretter“ usw. mehr als bloße Andeutungen machen. Ein Wort über das Wesen meiner engagierten Haltung zu diesen Problemkreisen: Wie ich die Tendenz des Wandels innerhalb einer sich herausbildenden öffentlichen Erinnerung an den Holocaust, insbesondere in der amerikanischen Kultur, einschätze, so erreichen wir möglicherweise einen Punkt des Überdrusses in Bezug auf eine ernsthafte fortdauernde Beschäftigung mit den Nazi-Gewalttaten gegen die Juden. In gewissen Kreisen ist ein solcher Punkt auch tatsächlich schon erreicht. Angesichts von Opfern immer neuer Gewalttaten, von denen täglich in den Medien berichtet wird, und im Hinblick darauf, dass das Mitgefühl irgendwann an seine Grenzen stößt, gibt es Leute, die einfach nichts mehr über die Juden und ihr Leid hören wollen. Es gebe andere Tote, die man begraben müsse, sagen sie, andere Verluste zu beklagen. Genug also über Auschwitz und Treblinka. Anderswo bleibt die Aufmerksamkeit bestehen, aber sie kann seltsame Formen annehmen; so wird der millionenfache Mord zu Programmen populärer Unterhaltung pervertiert, zu Strategien politischer Aktionen; oder er erhält neue theologische und liturgische Ausdrucksformen oder auch gut gemeinte, aber häufig banale Grundlagen für bürgerliche und moralische Erziehung. Wenn einige dieser Tendenzen anhalten, und das wird wahrscheinlich der Fall sein, dann kann man sich eine Zeit vorstellen, in der die Erinnerung an die jüdische Katastrophe unter Hitler auf den Status einer grausigen Horrorshow oder eines modernen Passionsspiels reduziert wird; in der das ungeheure historische und moralische Gewicht der Nazi-Verbrechen auf die vertrauEinleitung 

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ten Kategorien einer Sonntagsschulpredigt oder eines konventionellen filmischen Kassenschlagers zurechtgestutzt wird. Wie ich zeigen werde, sind wir tatsächlich bereits in einer solchen Zeit, wenn man das allmähliche Schwinden des historischen Gedächtnisses und die Vergröberung jedes moralischen Bewusstseins betrachtet, welches doch von der Bewahrung eines klaren Blicks in die Vergangenheit abhängt. Es ist genau diese Erkenntnis, die einen gewissen Skeptizismus in dem Titel dieses Buches deutlich macht: Das Ende des Holocaust. Warum, so werden einige fragen, soll das Weiterleben eines kulturellen Phänomens, dessen Kraft und Reichweite größer als je sind, in Frage gestellt werden? Schließlich werden jedes Jahr neue Bücher und Artikel über den Holocaust publiziert; es kommen neue Filme und Fernsehsendungen heraus; neue Museen und Forschungszentren entstehen; neue Schul-Curricula werden entwickelt und eingeführt; neue Klassen, Konferenzen, öffentliche Gedenkfeiern werden ins Leben gerufen; usw. Das Verzeichnis der Association of Holocaust Organizations von 2010 z. B. beläuft sich auf 272 Seiten und führt weltweit etwa 250 Institutionen und Organisationen auf, die auf die eine oder andere Weise Dienste anbieten, Geldmittel sammeln und Programme bereitstellen, die sich auf den Holocaust beziehen. Angesichts so vieler laufender Aktivitäten deutet alles klar in die entgegengesetzte Richtung – auf mehr und nicht weniger Aufmerksamkeit, die dem Holocaust entgegengebracht wird. Warum spricht man denn dann von seinem „Ende“? Was ich im Sinn habe, wenn ich diesen Ausdruck verwende, wird in den folgenden Kapiteln deutlich. Mein übergreifendes Argument hat mehr zu tun mit dem sich wandelnden Charakter der historischen Wahrnehmung und ihrer Abschwächung als mit der historischen Periodisierung und den genauen End-Zeitpunkten. Es ist z. B. durchaus sinnvoll zu sagen, dass der Zweite Weltkrieg in Europa im Frühjahr 1945 endete; nicht sinnvoll wäre hingegen die Aussage, dass auch der Holocaust zu dieser Zeit endete. Für viele Überlebende ist der Holocaust ja nie zu Ende gegangen und wird auch nie enden, bis dass sie sterben. Zumindest wird die angstvolle Pein als nie endend empfunden. Dabei denke ich z. B. an Primo Levi, dessen Schriften den unveränderlichen Charakter dessen, was er mit Anmut und für ihn kennzeichnendem understatement „den Verstoß“ nennt, schmerzhaft verdeutlichen. Nach seiner Befreiung von Auschwitz kehrte Levi in seine Heimat Italien zurück und musste feststellen, dass die Leiden, die er durchgemacht hatte, in seinem Inneren haften blieben. Er war zwar zu Hause, inmitten seiner Familie und seiner Freunde, aber in seinen Träumen wurde er woanders hin entführt: „Alles hat sich jetzt in Chaos verwandelt; ich bin allein inmitten eines grauen und trüben Nichts. Und jetzt weiß ich, was all das bedeutet, und ich weiß auch, dass ich es schon immer wusste: Ich bin wieder im Lager, und außerhalb des Lagers gibt es nichts Wirkliches“.5 Für Levi und auch für zahllose andere, die in den Nazi-Lagern gefangen gehalten worden waren, kommen die Albträume immer wieder, und 5 Primo Levi, The Reawakening, übers. Stuart Woolf (New York: Collier Books, 1993), 207.

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ein Ende ist nicht in Sicht. Für sie war und bleibt der Holocaust ein andauerndes Trauma, das weit entfernt davon ist, jemals sein „Ende“ zu erreichen. Was geschieht aber mit solchen Leiden, wenn sie ohne den nötigen Ernst behandelt werden, wenn sie für politischen oder wirtschaftlichen Profit instrumentalisiert und zu etwas völlig Gegenteiligem pervertiert werden? Was geschieht mit unserem gefühlsmäßigen Verhältnis zu dieser entsetzlichen Periode der Vergangenheit, wenn sie umprogrammiert wird, um dem populären Geschmack entgegenzukommen, und zu preisgekrönten Unterhaltungsveranstaltungen über ein fast sogar schönes Leben verkommt? Was geschieht, wenn andere Anspruch erheben auf das spezifische Sprechen vom Holocaust, wenn die Leiden der Juden durch andere Leiden relativiert werden und wenn sie zum Gegenstand hässlicher Diskussionen über eine vergleichende Behandlung der Schicksale der Opfer verkommen? Was geschieht mit der öffentlichen Wahrnehmung der Vergangenheit, wenn sich das Interesse daran von der Beschäftigung mit den Nazi-Verbrechen auf juristische Streitereien über Nazi-Gold verschiebt? Oder was geschieht, wenn einige Gefallen daran finden, die historische Basis all dieser Verbrechen völlig zu leugnen, und versuchen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Holocaust nichts anderes ist als ein ausgeklügelter Betrug, der nur „jüdischen“ oder „zionistischen“ Interessen dient? Welches Stadium des historischen Bewusstseins haben wir eigentlich erreicht, wenn, wie man mit Bestürzung erfährt, Kinder von Überlebenden des Holocaust es tatsächlich über sich bringen, Witze wie die folgenden zu machen?: „Warum beging Hitler Selbstmord? Weil er die Gasrechnung bekam. – Was ist der Unterschied zwischen einem Brotlaib und einem Juden? Ein Brotlaib schreit nicht, wenn er in den Ofen geschoben wird“.6 Was angesichts solcher Entwicklungen geschieht, lässt sich ziemlich genau vorhersagen: In dem Maße, wie die Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen trivialisiert und banalisiert wird, wird einer von Katastrophen gekennzeichneten, durch und durch blutbefleckten historischen Periode ihre historische Last genommen, wodurch das Gefühl für die Schmach verloren geht, deren man sich notwendigerweise stets bewusst sein sollte. Gerade der Erfolg des in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Wissens um den Holocaust kann dazu führen, seinen gravierenden Charakter auszuhöhlen und ihn als fast vertraut erscheinen zu lassen. Je erfolgreicher der Holocaust in den generellen kulturellen Trend Eingang findet, umso alltäglicher wird er. Eine weniger belastende Version einer tragischen geschichtlichen Periode beginnt sich abzuzeichnen – sicherlich immer noch angefüllt mit Leiden, jedoch mit einem Leiden, das um viele der gewichtigsten moralischen und intellektuellen Ansprüche entlastet worden und daher leichter zu tragen ist. Indem das Leiden durch wiederholte Beschäftigung damit zunehmend vertrauter wird, nimmt es „normalen“ Charakter an. Und bald wird es sich zu etwas anderem wan6 Shai Oster, „Shoah Business, Humour and the ‚Second Generation‘“, The Jewish Quarterly (Autumn 1998), 13–18. Einleitung 

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deln – zu einem Vorrat von „Lektionen“ über „die Unmenschlichkeit des Menschen dem Menschen gegenüber“, zu einer Metapher für die generelle Viktimisierung, zu einem rhetorischen Element parteistrategischer Politik sowie zu einer filmischen Kulisse familiengerechter Melodramen. Wenn man beobachtet, wie Hitlers Krieg gegen die Juden derartige Veränderungen erfährt, dann kann man mit gutem Recht wirklich skeptisch werden und anfangen, so etwas wie das herannahende „Ende des Holocaust“ zu ahnen. Zwar werden sicherlich Bücher, Filme, Fernsehsendungen, beliebte Theaterstücke, Gedenkveranstaltungen und Ähnliches weiterhin Berichte und Bilder von dem Geschehen für ein breites und aufnahmebereites Publikum bereithalten; aber diese breitgestreute Konfrontation damit wird als solche die Fortdauer der historischen Erinnerung an den Holocaust, einer Erinnerung, die die Vergangenheit mit den schlimmsten Exzessen getreu wiedergibt, kaum garantieren. Es ist vielmehr eher wahrscheinlich, dass die andauernde Entschärfung des Holocaust dazu führt, dass man den Schrecken dieser historischen Periode gegenüber abgestumpft wird, dass sie mit der Zeit weniger ungeheuerlich wirken und letztlich fast dem Vergessen anheimfallen. Imre Kertész formuliert den Kern dieses scheinbaren Paradoxons sehr genau: „Der Holocaust scheint immer unverständlicher zu werden, je mehr darüber gesprochen wird. … Er tritt mehr und mehr zurück in eine entfernte Geschichte, je mehr Gedenkstätten wir errichten. … Die unerträgliche Last des Holocaust hat mit der Zeit sprachliche Formen geschaffen, mit denen man scheinbar über den Holocaust spricht, wobei das Geschehen selbst aber nicht einmal berührt wird“.7 Zuzuschauen, wie diese Entwicklungen sich nach und nach herausbilden, ist nicht einfach, und leidenschaftslos über sie zu schreiben, noch weniger. Dennoch habe ich versucht, in meinen Beschreibungen und meiner Analyse des Phänomens, das ich behandele, sowohl zurückhaltend als auch deutlich zu sein. Ob mir das immer gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt. Wie aus meiner Darstellung zweifellos hervorgeht, gibt es gewisse Verfälschungen des Andenkens der Toten, die ich einfach für unerträglich halte; und ich fühle mich sehr dazu gedrängt, das auch zu sagen. Gleichwohl halte ich nichts davon, das Thema übermäßig zu dramatisieren oder darüber in einen Prosastil zu verfallen, der die Leser einschüchtert. Besonders in den Fällen, in denen ich Autoren behandele, die selbst Überlebende des Holocaust sind, habe ich mich um eine möglichst sachliche Darstellungsweise bemüht; denn nur dadurch kann man dem Ziel, die wesentlichen Wahrheiten herauszuarbeiten, näher kommen, denen diese Autoren sich verpflichtet fühlen. Eine dieser Wahrheiten, die Jean Améry in denkwürdiger Weise formuliert hat, gibt den Ton und die Richtung vor, die ich inspirierend finde und denen ich in dem vorliegenden Buch zu folgen versucht habe:

7 Kertész, „Language in Exile“ [unveröffentlichte englische Übersetzung eines ungarischen Aufsatzes, mit freundlicher Genehmigung des Autors].

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Es ist sicher wahr, dass moralische Entrüstung nichts ausrichten kann gegen die sich unhörbar nach und nach herausbildenden zerstörerischen Effekte der Transformation. Es ist hoffnungslos, vielleicht sogar gänzlich ungerechtfertigt, zu verlangen, den Nationalsozialismus mit derselben emotionalen Intensität wie in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als Schande zu empfinden. Zweifellos gibt es so etwas wie eine historische Entropie: Das historische ‚WärmeGefälle‘ verschwindet. … Aber bei der Betrachtung historischer Prozesse sollte man diese Entropie nicht auch noch fördern; im Gegenteil, man sollte ihr mit allen Kräften entgegenwirken.8

Als Tribut an das moralische Zeugnis von Jean Améry, Primo Levi, Imre Kertész, Elie Wiesel und anderen wünsche ich mir, dass dieses Buch, zumindest in bescheidenem Rahmen, dazu beitragen möge, ein gewisses Maß an Entrüstung am Leben zu erhalten.

8 Jean Améry, Radical Humanism: Selected Essays, übers. Sidney Rosenfeld und Stella P. Rosenfeld (Bloomington: Indiana University Press, 1984), 64–65. Einleitung 

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Kapitel 1

Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung

Die meisten Menschen betrügen sich bewusst mit einer doppelt falschen Überzeugung: Sie glauben an eine immerwährende Erinnerung (an Menschen, Dinge, Taten, Völker) und an Wiedergutmachung (von Untaten, Fehlern, Sünden, Ungerechtigkeit). Beides ist eine Täuschung. Die Wahrheit liegt am anderen Ende der Skala: Alles wird vergessen werden, und nichts wird wiedergutgemacht werden. Jede Wiedergutmachung (sowohl durch Rache als auch durch Vergebung) wird dem Vergessen anheimfallen. Niemand wird Unrecht wiedergutmachen; jedes Unrecht wird vergessen werden. – MILAN KUNDERA1

Wir sagen „Holocaust“, als ob es einen etablierten Konsens gäbe über den gesamten Bereich historischer Bedeutungen und Assoziationen, den dieser Ausdruck bezeichnen soll. Tatsächlich aber existiert ein solcher Konsens überhaupt nicht. Die gedankliche Vorstellung des Holocaust unterliegt einem Wandel; aber wie diese Vorstellung sich wandelt, wer sie verändert und welche Konsequenzen sich daraus ergeben können, das sind Fragen, über die man sorgfältig und kontinuierlich nachdenken muss. Ein solches Nachdenken wird hier auf der Basis der folgenden Grundannahmen unternommen: 1. Die meisten Menschen verdanken das, was auch immer sie sich an Kenntnissen über das Dritte Reich und die Nazi-Verbrechen an den Juden aneignen mögen, nicht so sehr der Arbeit von Historikern, sondern eher der Tätigkeit von Romanschriftstellern, Filmemachern, Dramatikern, Dichtern, Autoren und Produzenten von Fernsehsendungen; sie beziehen diese Kenntnisse dann auch von Museumsexponaten, populären Zeitungen und Illustrierten sowie Internet-Webseiten und schließlich auch von Reden und Ritualen von Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens. 2. Somit ist die „Geschichte“ des Holocaust, die den meisten Menschen überwiegend vermittelt wird, zum großen Teil ein Produkt der gängigen Kultur und leitet sich nicht immer von der Geschichte der Juden unter dem Nationalsozialismus ab, um deren wahrheitsgemäße Darstellung Fachhistoriker sich bemühen; sie entspricht ihr auch nicht notwendigerweise. In mancher Hinsicht können die beiden Quellen sogar als rivalisierende Unternehmungen erscheinen, wobei die Konkurrenz zwischen ihnen als Kampf zwischen antithetischen ehrgeizigen Bestrebungen angesehen werden kann. 3. Die breite Öffentlichkeit steht also nach wie vor bereitwillig unter dem Bann des Holocaust-Schreckgespenstes und ist daher ein aufnahmebereites Publikum 1 The Joke (New York: Harper & Row, 1982), 245. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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für Berichte und Bilder aus der Zeit des Dritten Reiches; dennoch kann man nicht davon ausgehen, dass dieses weitverbreitete Ergriffensein von dem unsagbaren Leid und dem massenhaften Sterben auch wirklich einem ernsthaften Interesse an dem jüdischen Schicksal während der Nazi-Periode gleichkäme. Eine anhaltende Konfrontation mit allgemein verbreiteten Darstellungen des Holocaust kann sogar – weit entfernt davon, dass diese Konfrontation ein wirksames Mittel ist, um die Öffentlichkeit über die Untaten des Nationalsozialismus und über das den Juden zugefügte Unheil angemessen zu informieren – in das Gegenteil umschlagen. Sie kann die moralische Sensibilität eher abstumpfen als schärfen und damit ein sachliches oder auch ein mitfühlendes Verhältnis zu den Opfern, denen in der Geschichte grausame Pein zugefügt wurde, behindern. Anschauliche Darstellungen von persönlichem oder kollektivem Leiden mögen das Gewissen durchaus aufrütteln, aber sie haben auch die Eigenschaft, die Vorstellungskraft in negativer Weise zu erregen. Und je nach dem, wie und wem sie dargeboten werden, können solche Darstellungen eine breite Palette von Reaktionen hervorrufen, die nicht alle immer angenehm oder freundlich sind. Der von der Absicht her unterrichtende Charakter des Holocaust kann durch eine pornographische Pervertierung untergraben werden. 4. Zusammengefasst lässt sich folgendes sagen: Die Darstellungen des Holocaust werden beständig umgestaltet, und die verschiedenen Stadien dieser Umgestaltung, die man überall in der gängigen Kultur aufspüren kann, können durchaus dazu beitragen, dass statt einer Festigung genauen und nachprüfbaren Wissens eine fiktionale Unterwanderung der historischen Wahrnehmung dabei herauskommt. Als eines der Resultate einer solchen Entwicklung könnte es sich ergeben, dass man es nach und nach immer mehr ablehnt, den Holocaust als wirklich geschehen anzuerkennen; dabei kann der Fall eintreten, dass das Geschehen keinen Eingang mehr in die historische Erinnerung erfährt und somit in ihr keinen festen Platz erhält. Diese Perspektive und die ihr zugrundeliegenden subtilen psychologischen, ästhetischen und kulturellen Motive sind auf einer breiten Palette von Kulturphänomenen festzustellen; viele davon werden in den folgenden Kapiteln des vorliegenden Buches untersucht. Zu Beginn sollten wir einige bemerkenswerte Entwicklungen des politischen Lebens und der gängigen Kultur betrachten, die die Hauptquellen für die Verbreitung von Informationen in einer von den Massenmedien beherrschten Zeit darstellen. Wir können zunächst vom Offenkundigen ausgehen: Die meisten öffentlichen Gedenkveranstaltungen sind ohne Berücksichtigung der politischen Kultur des Augenblicks nicht zu verstehen. Ein amerikanischer Historiker drückt es so aus: „Bei der Erinnerung geht es niemals einfach um die Vergangenheit. Es geht immer nur um die Gegenwart.2 Als anschauliche Illustration der Wahrheit dieser Einsicht ist 2 John Bodnar, Autor von: Remaking America: Public Memory, Commemoration, and Patriotism, zitiert nach „A Belated Place in U.S. History“, New York Times, 6. März, 1997.

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Kapitel 1

es hilfreich, sich an einen Codenamen zu erinnern, der nicht mehr in den Medien vorkommt, obwohl er Mitte der achtziger Jahre einige Wochen lang die Schlagzeilen bestimmte: Bitburg. Es ist zweifelhaft, ob sehr viele Menschen außerhalb Deutschlands vor dem Frühjahr 1985 jemals von dieser rheinischen Stadt gehört hatten (und in Deutschland selbst war fast die einzige mitschwingende Assoziation das dort produzierte Bier, „Bit-Bier“). Innerhalb kürzester Zeit jedoch symbolisierte „Bitburg“ weit mehr als nur den Ortsnamen und stand dann für eine außerordentliche Anspannung in Bezug auf das historische Bewusstsein, auf moralische Wertmaßstäbe, die deutsch-amerikanischen politischen Beziehungen und auf weiteres mehr. Kurz: Was sich bei „Bitburg“ sofort einstellte, war eine ganze Anzahl größerer und offenbar ungelöster Probleme, die ihre Wurzeln hatten in der traumatischen Periode des Zweiten Weltkrieges und der noch immer nicht verarbeiteten Geschichte der Nazi-Verbrechen an den Juden und anderen Menschen. „Bitburg“, das wurde deutlich, löste eine Debatte über einige der in der westlichen Kultur tief verwurzelten Werte aus. Die Notwendigkeit der historischen Erinnerung, der nationalen Verantwortung, der Vergebung und der Gerechtigkeit, der Politik und der Moral – all das wurde durch „Bitburg“ ins Bewusstsein gebracht, wenngleich auch meistens nur ansatzweise und auch widersprüchlich. Wie konnte etwas so Folgenschweres aus dem hervorgehen, was, oberflächlich betrachtet, mit wenig mehr als einer zeremoniellen Geste zwischen den Regierungschefs zweier alliierter Nationen begann? In einem besonders hervorgehobenen Artikel fasste Newsweek diesen Sachverhalt so zusammen: Er ist verwurzelt in „einem der gravierendsten Dilemmata unserer Zeit – nämlich in dem Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit – die alle Juden in der Welt spüren –, die Verbrechen des Holocaust in Erinnerung zu behalten, und der im nach-nationalsozialistischen Deutschland empfundenen Notwendigkeit, diese zu vergessen“.3 Zwar ist diese Formulierung simplifizierend, sie ist dennoch nicht gänzlich abwegig, da sie das weitverbreitete Gefühl für die Bedeutung von „Bitburg“ ziemlich genau wiedergibt. Um genauer zu verstehen, worum es sich tatsächlich handelt, ist es nützlich, sich die Worte eines der bedeutenderen Akteure in der Bitburg-Angelegenheit, nämlich Ronald Reagans, in Erinnerung zu rufen. Dies antwortete der Präsident der Vereinigten Staaten am 21. März 1985 in seiner aufschlussreichen Pressekonferenz auf die Frage eines Korrespondenten, warum er sich weigern würde, Dachau, das berüchtigte Konzentrationslager der Nazis nordwestlich von München, zu besuchen: Frage: Herr Präsident, würden Sie uns Ihre Entscheidung, während Ihres Aufenthaltes in Deutschland im Mai aus Anlass der Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an den V-E Day kein Nazi-Konzentrationslager zu besuchen, etwas erläutern? Antwort: Ja, das werde ich. Ich bin fest davon überzeugt, dass man bei dem Geden3 Newsweek, 29. April 1985, 14. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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ken an das Ende jenes großen Krieges nicht Erinnerungen und Emotionen jener Zeit usw. wieder aufleben lassen sollte; wir sollten vielmehr jenen Tag als den Tag begehen, als vor 40 Jahren Frieden und Freundschaft begannen, weil wir jetzt Alliierte und Freunde der Länder sind, gegen die wir einst gekämpft haben, und dass wir, und weil wir ja fast feiern können, da dieser Tag das Ende einer Ära markiert und da wir nun fast 40 Jahre Frieden haben. Im deutschen Volk leben heute noch sehr wenige, die sich überhaupt an den Krieg erinnern können – sicher war von denen niemand erwachsen und in irgendeiner Weise beteiligt –; und die, und sie, und diese haben ein Gefühl, und man hat ihnen ein Schuldgefühl aufgebürdet. Und ich glaube ganz einfach, dass das unnötig ist. Ich denke, man sollte anerkennen, dass sie eine Demokratie geschaffen haben und nun nach demokratischen Prinzipien leben.4 Das ist wirklich eine bemerkenswerte Aussage, wobei nicht unerheblich ist, dass sie gravierende sprachliche Brüche und Ungenauigkeiten enthält. Man kann in einer direkten und gradlinigen Art und Weise sowohl lügen als auch die Wahrheit sagen, aber Meinungen auszudrücken, die so ambivalent sind wie die von Präsident Reagan, erfordert es geradezu, dass man eine gestammelte und gewundene Redeweise verwendet. Ganz abgesehen von dem linkischen Gestammel, was eigentlich ist es, was an diesen Worten (und sie kündigten Schlimmeres an) so verstörend ist? Zum Teil wird man durch die Anzeichen der historischen Ignoranz, die diese Aussage enthält, vor den Kopf gestoßen und auch verblüfft: Schließlich war es zu der Zeit allgemein bekannt, dass eine große Anzahl von Deutschen noch lebten, die im Krieg gekämpft hatten, und eine noch größere Zahl, die sich an den Krieg erinnerten (diese Kenntnis wurde in Deutschland selbst nie in Frage gestellt). Warum also schien der Präsident der Vereinigten Staaten dies nicht zu wissen? Und wenn er es doch wusste, was veranlasste ihn dann, das Gegenteil zu behaupten? Warum, so fragte man sich, war er so offensichtlich bestrebt, Deutschland von seiner jüngsten Vergangenheit zu distanzieren? Der Gedanke, dass „unnötige“ Schuldgefühle den Deutschen „aufgebürdet“ worden seien, ist genauso verquer und steht auch der allgemeinen Moral entgegen, die bekräftigt, dass die, die sich eines Unrechts schuldig gemacht haben, sich auch wirklich schuldig fühlen sollten. Wenn die Schuldigen solche Gefühle nämlich leugnen oder sie nur deshalb zulassen, weil jemand anders sie dazu drängt, dann werden sie sich zu ihren Untaten nie auch nur ansatzweise bekennen, geschweige denn dafür Sühne leisten. Dass Präsident Reagan das Gewissen der Schuldigen durch den Gedanken erleichterte, es sei unfair, die Erinnerung an die Kriegsjahre wieder aufleben zu lassen, war ein weiteres erschreckendes Beispiel dafür, wie weit die präsidiale Rhetorik in die Irre ging. Was aber an Präsident Reagans Äußerung am beunruhigendsten war, das war etwas anderes, nämlich das Gefühl, dass das, was er sagte – so bizarr und inak4 New York Times, 22. März 1985.

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Kapitel 1

zeptabel es auch schien –, vielleicht überhaupt nicht nur seine eigene Auffassung spiegelte, sondern im Gegenteil die Einstellung vieler wiedergab. Der Präsident der Vereinigten Staaten war nicht dumm, und er war mit Sicherheit mit dem weit verbreiteten Empfinden und den allgemeinen Wunschvorstellungen vertraut. Ein großer Teil des Erfolges seiner Präsidentschaft erklärt sich ja durch seine natürliche Fähigkeit, das auszudrücken, was im Inneren seiner Mitbürger vorging, und einige ihrer tief empfundenen, grundsätzlichen Ansichten zu artikulieren. Wenn er mit seinen Äußerungen über Deutschland und die Deutschen nicht nur seine persönliche Missachtung der Vergangenheit mitteilte, sondern auch die einer erheblichen Anzahl seiner Landsleute, dann ist das Problem für uns noch beunruhigender. Aus verschiedenen Gründen haben viele Amerikaner eine nur ungenügende Kenntnis der Geschichte. Es fällt ihnen auch schwer, eine Beziehung zur Geschichte herzustellen, hauptsächlich wenn es sich um die Geschichte anderer Personen handelt, und besonders wenn diese Geschichte schmerzhaft oder sonstwie beunruhigend ist. Dadurch, dass er sich von der jüngsten deutschen Geschichte abkoppelte, repräsentierte der amerikanische Präsident wohl wirklich eine unter seinen Landsleuten weit verbreitete Stimmung. Als einer der Berater Präsident Reagans im Weißen Haus gefragt wurde, ob der Präsident den Besuch eines früheren Konzentrationslagers plane, zitierte er ihn mit den Worten: „Wissen Sie, ich glaube, wir sollten uns nicht auf die Vergangenheit konzentrieren; ich will mich auf die Zukunft konzentrieren und diese Geschichte hinter mir lassen“. Ein anderer Regierungsbeamter erläuterte: „Der Präsident war nicht darauf versessen, ein Lager zu besuchen. Wissen Sie, er ist ein fröhlicher Politiker. Er mag es nicht, vor einem grausigen Schauplatz wie Dachau den Zerknirschten zu spielen“.5 Das sind ziemlich bekannte Äußerungen, heute wie damals. Wie der Präsident wollen die meisten Menschen nicht an die Brutalitäten der Vergangenheit erinnert werden und sind nicht versessen darauf, sie auf verstörende Weise beständig im Sinn zu haben. Soweit sie über Dachau überhaupt etwas wissen, möchten sie den Ort, der wirklich grausig ist, gedanklich hinter sich lassen. Als ein nach vorn schauendes Volk billigen sie generell den Gedanken, dass es besser sei zu vergeben, wenn auch nicht notwendigerweise zu vergessen, und machen sich daran – wenn sie dazu eine Möglichkeit finden –, selbst mit einem früheren Gegner auszukommen. So wie Präsident Reagan es sah, war es daher seine Aufgabe in Bitburg, nach den alten Feindseligkeiten das Verhältnis zu den Deutschen wieder zusammenzuflicken und ihnen früheres Unrecht zu verzeihen; eine Aufgabe, für die er eine zweifache Lösung vorsah: 1. die Leistungen des neuen Deutschland lobend anzuerkennen, und 2. dem alten Deutschland Absolution zu gewähren, und zwar dadurch, dass er dessen Untaten einer, wie er es wiederholt ausdrückte, „totalitären EinmannDiktatur“ anlastete, einer Diktatur, die er als absolut und verantwortlich dafür beschrieb, dass nicht nur die Völker Europas, sondern auch das deutsche Volk seine 5 Ebd., 22. März 1985; 22. April 1985. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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Opfer wurden. Was die erste der beiden Lösungen angeht, so wird von den meisten anerkannt, dass die deutsche Demokratie in der Nachkriegszeit sich bewährt hat und dass Deutschland heute als ein generell florierender, starker und verlässlicher Verbündeter der Vereinigten Staaten dasteht. Wenn ein amerikanischer Präsident dergleichen sagt, dann ist das weder verwunderlich noch kritikwürdig. Aber wenn er dies tat im Rahmen eines geplanten Besuches eines deutschen Soldatenfriedhofes ganz in der Nähe des Schauplatzes der Ardennenoffensive, wo auch Gräber von SS-Leute sind, dann musste das beunruhigende Fragen aufwerfen. Präsident Reagans Antworten auf diese Fragen verstärkten die Peinlichkeiten seines bevorstehenden Besuches in Bitburg sehr, dennoch zeigten sie seine Entschlossenheit, mit der selbstgestellten Aufgabe der historischen Bereinigung fortzufahren. Man möge nun die folgenden Worte des Präsidenten auf der Pressekonferenz vom 18. April 1985 beachten und sich dessen erinnern, dass er nur einen Monat zuvor erklärt hatte, dass er kein Nazi-Konzentrationslager besuchen wollte aus Furcht davor, alte Emotionen wieder aufleben zu lassen: „Ich glaube, es ist nicht verkehrt, jenen Friedhof zu besuchen, wo diese jungen Männer ebenfalls Opfer des Nationalsozialismus sind, obwohl sie in deutschen Uniformen kämpften, in den Militärdienst eingezogen wurden, um den abscheulichen Willen der Nazis zu erfüllen. Sie waren mit Sicherheit genauso Opfer wie die Opfer der Konzentrationslager“.6 Wenn je eine öffentliche Äußerung geeignet war, alte Emotionen aufleben zu lassen, dann war es diese; denn in zwei einfachen Sätzen wurde erreicht, den Unterschied zwischen den in den Lagern ermordeten Menschen und den Kampfgenossen ihrer Mörder einzuebnen. Gleichzeitig schwang bei den Worten des Präsidenten die Verteidigung der Mörder bei den Nürnberger Prozessen mit, der Mörder, die in Präsident Reagans apologetischen Ansichten nur widerwillig den aggressiven Willen eines anderen ausgeführt hätten. Seltsamerweise wurde dieser „andere“ niemals namentlich erwähnt, obwohl der Präsident bei mehreren Gelegenheiten unter anderem von „dem schrecklichen Übel, das von einem einzigen Mann ausging“ oder von „der totalitären Diktatur eines einzigen Mannes“ sprach. Es gibt Aspekte von Nazi-Deutschland, die wir noch nicht vollständig verstehen, aber inzwischen ist klar, dass der NaziStaat nicht von „nur einem Mann“ geleitet wurde, und dass der Terror, der zwölf Jahre lang im Namen des Dritten Reiches ausgeübt wurde, nicht hätte geschehen können, wenn so viele Menschen nicht aktiv und bereitwillig der Führung dieses „einen Mannes“ gefolgt wären. Der Nationalsozialismus war ein Massenphänomen und hatte während des Krieges in hohem und auch in geringerem Maße sehr viele Deutsche einbezogen. Dadurch, dass Präsident Reagan das Übel des Nationalsozialismus nur Hitler allein anlastete und ihn auch unerklärlicherweise nie bei Namen nannte, reduzierte er die Geschichte auf eine Karikatur, auf das Maß eines

6 Ebd., 19. April 1985.

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Zelluloid-Bildchens einer alles durchdringenden heimtückischen Macht, die sich jedoch aller Beschreibung entzieht. In Bergen-Belsen, einem Lager, das er ziemlich spät und dazu recht ungeschickt seiner Reiseroute durch Deutschland hinzufügte (und das auch nur aufgrund beträchtlichen öffentlichen Druckes), sprach Präsident Reagan von dem „schrecklichen Übel, das durch einen einzigen Mann anfing – einem Übel, das die ganze Welt mit seiner zerstörerischen Kraft zu seinem Opfer machte“. Er fuhr dann in derselben figurativen Sprache fort: „Denn Jahr für Jahr, solange bis dieser Mann und sein Übel vernichtet waren, brachte der Abgrund der Hölle seinen gräßlichen Inhalt zum Vorschein“. Solche Sätze, die alte und inzwischen leere Abstraktionen verwenden, lenken von der Geschichte mit ihren sie kennzeichnenden Zügen ab und haben zur Folge, dass ihre individuellen handelnden Personen immer mehr vergessen werden. Hitler erscheint in Präsident Reagans Sichtweise als eine erschreckende, aber vage Verkörperung des Übels, und Hitlers Soldaten, die „jungen Männer in ihren Gräbern“, als seine unschuldigen und ihm nur widerwillig folgenden Opfer. Was die wirklichen Opfer betrifft – von Präsident Reagan beklagt als „Nie mehr hoffen. Nie mehr beten. Nie mehr lieben. Nie mehr genesen. Nie mehr lachen. Nie mehr weinen“ –, so werden diese durch sentimentale Phrasen aus dem Bewusstsein getilgt. Nur ein einziges Opfer wird namentlich genannt: Anne Frank. Aber die Stelle aus Anne Franks Tagebuch, die Präsident Reagan in Bergen-Belsen zitierte, wird jedesmal von denjenigen benutzt, die die Vergangenheit von ihren negativen Inhalten befreien und ihre Schrecken so schnell wie möglich vergessen wollen: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind“. In der prekären Sicherheit ihres Verstecks in einem Amsterdamer Hinterhaus gab es durchaus Augenblicke, in denen das junge Mädchen ein solches optimistisches Gefühl empfand; aber angesichts dessen, dass sie später von den Toten und Sterbenden in Auschwitz umgeben war und danach ein Opfer der Entbehrungen und der Krankheiten in Bergen-Belsen wurde, ist es zweifelhaft, dass eine derartige Passage aus ihrem Tagebuch auch nur entfernt das repräsentierte, was Anne Frank am Ende empfand. Präsident Reagans Rhetorik ließ jedoch erkennen, dass er an der wirklichen Anne Frank oder dem wirklichen Bergen-Belsen nicht sehr interessiert war. „Wir sind hier“, erklärte er an der Stätte des Lagers, „um dessen zu gedenken, dass das Leben über die Tragödie und über den Tod durch den Holocaust triumphiert hat – dass es das Leiden, die Krankheiten, die schweren Prüfungen, ja, und auch die Vergasungen überwunden hat“.7 Die Tatsache, dass es in Bergen-Belsen keine Gaskammern gab und deshalb auch keine Vergasungen, blieb den Redenschreibern und offensichtlich auch Präsident Reagan selbst verschlossen. Aber selbst wenn es sie gegeben hätte, dann hätte das keinen großen Unterschied gemacht. Der Präsident hatte Helmut Kohl, den deutschen Bundeskanzler, und die nationale Versöhnung 7 Ebd., 6. Mai 1985. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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im Sinn, nicht Bergen-Belsen und den Holocaust. Und sobald sein Pflichtbesuch eines Nazi-Konzentrationslagers beendet war, flog er weiter, um auf dem Bitburger Friedhof den deutschen Kriegstoten seine Reverenz zu erweisen. Wenn man sagte, dass die ganze fehlgeleitete Episode das Produkt historischer Ignoranz und unzureichender Planung gewesen sei, dann wäre das eine bewusste Untertreibung. Es war ein Rückschlag recht großen Ausmaßes in Bezug auf Informationen der Öffentlichkeit über den Holocaust, Informationen, die sehr stark auf anschauliches Material angewiesen und somit gegenüber revisionistischen Manipulationen jedweder Art außerordentlich empfindlich sind. Aber die amerikanische Öffentlichkeit, oder zumindest die Hälfte, betrachtete die Angelegenheit ganz anders; und ihre Reaktion muss sowohl bei Präsident Reagan als auch bei Bundeskanzler Kohl Befriedigung ausgelöst haben. Denn wie aufgebracht amerikanische Juden, frühere U.S.-Soldaten und andere über „Bitburg“ auch immer gewesen sein mochten, so hat doch eine von der New York Times und dem CBS (Columbia Broadcasting System) nach dem Deutschland-Besuch durchgeführte Umfrage ergeben, dass 41 % der Befragten die Handlungsweise Präsident Reagans billigten und ebenso viele sie kritisierten.8 Über diese statistische Erhebung hinaus ergab eine Stichprobe von Leserbriefen an amerikanische Zeitungen hinsichtlich zustimmender bzw. kritischer Äußerungen ein ähnliches Resultat. Die im folgenden aufgeführten Briefe stellen keine hinreichenden Stichproben dar, um die allgemeine Auffassung zu repräsentieren, man kann sie aber vielleicht als Hinweis auf die Bandbreite der Einstellungen zu der Zeit werten. Beide Briefe sind in Universitätszeitungen von Orten des mittleren Westens erschienen; somit könnte man davon ausgehen, dass ihnen ein gewisses Bildungsniveau zugrundeliegt. Der erste Brief, von einem Geschichtsprofessor geschrieben, der während des Zweiten Weltkrieges selbst in Europa gekämpft hatte, kritisierte den Besuch des Präsidenten in Bitburg heftig und betrachtete ihn als gefühllosen Affront. Der Verfasser hielt dem Präsidenten vor, dass er nicht sachgerecht unterschieden hatte zwischen den deutschen Kriegstoten und ihren Opfern, und kommentierte wie folgt: Zweifellos gab es im Zweiten Weltkrieg Tausende von anständigen, ehrenhaften Männern in der deutschen Armee. Aber die Armee, in der sie kämpften, war nicht anständig und ehrenhaft, und das Regime, dem sie dienten, war vielleicht das schrecklichste in der gesamten Geschichte der Menschheit. Was die Waffen-SS angeht, so waren diese auf keinen Fall Opfer, sie waren im Gegenteil Täter, die andere Menschen zu Opfern machten.

Der Verfasser lobt Elie Wiesels Worte im Weißen Haus, mit denen er den Präsidenten beschwor, seinen Besuch in Bitburg abzusagen, und beschließt seinen Brief mit diesem Hinweis: Es heißt, dass die Deutschen, wenn die Bitburg-Angelegenheit abgesagt wird, dann beleidigt seien. Wie schade! Ich glaube nicht, dass die anständigen Deutschen beleidigt sein werden. Was

8 Ebd.

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Kapitel 1

die anderen angeht, wenn ihnen noch nicht klar ist, welche Meinung der Rest der Welt von der Waffen-SS hat, dann ist es höchste Zeit, dass sie sich das klar machen.

Der Verfasser des zweiten Leserbriefes ist Student, und er schreibt aus einer völlig anderen Sichtweise. Seine Hauptsorge ist, dass eine zu konzentrierte Beschäftigung mit dem Holocaust uns daran hindere, zuversichtlich in die Zukunft zu schauen, und dass sie auch in ungerechter und negativer Weise die Deutschen insgesamt stereotypisiere. Er betrachtet Wiesels Worte an den Präsidenten als einen Affront, kritisiert, dass „die mächtige jüdische Lobby“ unzulässigen Druck auf die Regierung ausübe, und argumentiert dahingehend, dass es an der Zeit sei, damit aufzuhören, auf dem Holocaust als Beispiel außergewöhnlichen jüdischen Leidens herumzureiten. „Holocausts sind keine ungewöhnlichen Erscheinungen“, schreibt er. „Ich kann Bitten um Mitgefühl verstehen, aber ich weigere mich, in eine Pseudo-Verehrung der früher Verfolgten hineinmanipuliert zu werden“. Er fährt fort: „Müssen wir eigentlich von ein paar Knochen, die fast überall in der Welt herumliegen, abgelenkt werden?“ Er fordert den Präsidenten dazu auf, seine Pläne, Bitburg zu besuchen, auszuführen, und schreibt: „Das ist viel wichtiger als das Jammern von Leuten wie Wiesel, und wird bedeuten, dass wir anfangen, dem deutschen Volk seine früheren Sünden zu vergeben, genauso wie Amerika begonnen hat, um Vergebung für Vietnam zu bitten“. Der Besuch werde, wie er weiter schreibt, zeigen, dass wir jüdische Appelle zurückweisen könnten (die dahingehend zu verstehen seien, dass sie nur den Interessen der israelischen Regierung dienten, „die ‚gib mir, gib mir‘ sagt, wenn sie etwas will, und ‚Antisemitismus, Antisemitismus‘, wenn sie nichts erhält“). Der Brief endet damit, dass der Verfasser anerkennt, dass „der methodische Mord an über sechs Millionen Juden tatsächlich eine Tragödie“ sei, aber dass „diejenigen, die sie umbrachten, ohne Zweifel von abartigem Denken geleitet waren“ und daher auch Opfer seien. Daher sei ihr Schicksal „auch eine Tragödie“, eine, die der Präsident ansprechen könne und solle, wenn er nach Bitburg geht.9 In diesen beiden Briefen beobachtet man etwas von den gemischten Gefühlen bezüglich der Bitburg-Affäre zu der Zeit. Auf dem Hintergrund dieser Episode bekommt man auch ein Gespür für den übergreifenden Themenkomplex einer sich in der amerikanischen Öffentlichkeit immer noch herausbildenden und sehr verschiedenartigen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an die Verfolgung der Juden durch die Nazis. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der man vielleicht von einem gewissen Grundkonsens in Bezug auf den Holocaust und von einer allgemeinen Gefühlshaltung den Opfern gegenüber ausgehen konnte; aber es ist bei weitem nicht sicher, dass irgendein derartiger Konsens heute besteht. Wenn sie in die Enge getrieben werden, dann werden die meisten Menschen wahrscheinlich ihren Abscheu gegenüber den Nazi-Verbrechen und ihr Mitgefühl für die Opfer ausdrücken; es ist aber zweifelhaft, ob sich sehr viele einem solchen Druck über längere Zeit würden ausset9 Indiana Daily Student, 1. Mai 1985, und The Notre Dame Observer, 24. April 1985. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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zen wollen. Wer kann sie auch dafür tadeln? Eine ernsthafte Konfrontation mit der Geschichte des Holocaust ist eine schmerzvolle Erfahrung und belastet die meisten Menschen mehr, als sie so ohne weiteres tragen können. Als Konsequenz würden viele wahrscheinlich die Vergangenheit lieber ruhen lassen. Sie ist zu schmerzvoll und zu unfassbar, erfüllt mit albtraumhaften Bildern von Grausamkeit, Terror, Entbehrungen und Tod, Schuld und Schande. Es ist daher verständlich, wenn auch nicht besonders empfehlenswert, wenn Menschen dem Impuls nachgeben, zu vergeben und zu vergessen. Vor diesem Hintergrund könnte man die Bitburg-Affäre als anschauliches Beispiel für eine spürbare Belastung der Empfindungslage der amerikanischen Öffentlichkeit betrachten. Unter anderem wird deutlich, dass in Bezug auf die moralische Wahrnehmung des Holocaust ein gewisses Maß an Überdruss erreicht worden ist. Dies wurde auf schmerzhafte Weise durch Präsident Reagans Worte und seine Handlungsweise illustriert und ließ deutlich werden, dass Ereignisse der Geschichte nach und nach übergehen in Pseudo-Geschichte, politisches Kalkül und andere Fiktionen. Denn mit welchem Nachdruck auch immer der Präsident vor den Kameras darauf bestanden haben mochte, dass man all das nie vergessen dürfe, so wurde doch aus seinen Worten und Handlungen unmissverständlich der Wunsch deutlich, dass das Bewusstsein von heute nicht mehr so schwer durch die Last der Vergangenheit niedergedrückt werden solle. Heute, etwa 25 Jahre später, ist „Bitburg“ zum größten Teil vergessen; aber wenn das Ereignis uns alle überhaupt noch beunruhigt, dann deshalb, weil es den prekären Stellenwert des Holocaust in der öffentlichen Wahrnehmung so sehr deutlich macht, einen Stellenwert, den früher nur wenige Menschen überhaupt in Frage gestellt hätten. Wenn man aber kritisch betrachtet, wie der Holocaust der Öffentlichkeit über die Zeit hin vermittelt worden ist, dann sieht man, dass eine Abschwächung seines Stellenwertes in der Geschichte eben kein plötzliches Phänomen war, sondern dass es sich um eine jahrelange Entwicklung handelt. Ein gewisses Maß an Erosion kann man sogar in den historischen Fachveröffentlichungen selbst entdecken, die nicht frei sind von fiktionalisierenden Tendenzen.10 Den weitaus größten Teil jedoch findet man in den populären Medien – in den zahllosen Romanen und Geschichten, Gedichten und Theaterstücken, Filmen und Fernsehsendungen über das Dritte Reich und die Juden. Wenn man an diese denkt, dann erkennt man, dass der Weg nach Bitburg bereitet war, lange bevor Bundeskanzler Kohl und Präsident Reagan sich auf ihren Spaziergang entlang den Gräbern auf dem Militärfriedhof in Bitburg begaben. Man betrachte z. B. die Figur Hitler, womit ich ganz wörtlich die verschiedenen Formen meine, die er in Wort und äußerer Erscheinung annahm, und infolgedessen sein wechselndes Bild in der öffentlichen Wahrnehmung. Das beherrschende 10 Siehe Alvin H. Rosenfeld, Imagining Hitler (Bloomington: Indiana University Press, 1985), 13–25.

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Kapitel 1

Bild des Mannes ist gekennzeichnet durch Bedrohung sowie meist, aber nicht nur, auch durch eine Erscheinungsform, als die Präsident Reagan sie gern bezeichnete, nämlich des undifferenzierten Bösen. Solche gleichsam überlebensgroßen Figuren sind indes nicht nur abstoßend, sondern durchaus auch faszinierend und attraktiv. Nicht selten haben sie auch eine menschliche Seite. So ist es bei Hitler, der heute vor uns steht als die bezwingendste Figur zerstörerischer Macht. Aber in manchen Darstellungen hat Hitler auch eine Andeutung von Menschlichkeit angenommen, die seiner bösen Seite mit einer manchmal komischen, manchmal auch tragischen Anziehungskraft entgegenwirkt. Wenn man an Darstellungen Hitlers in Filmen denkt – von Leni Riefenstahls heroischem Porträt (Triumph des Willens) über Charlie Chaplins Satire (The Great Dictator; Der große Diktator) und Hans Jürgen Syberbergs Film, in dem das Grab Wagners eine Rolle spielt (Hitler, Ein Film aus Deutschland) und Oliver Hirschbiegels eher verständnisvollen Film (Der Untergang) und Dani Levys sehr umstrittenen Film (Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler), der den Versuch macht, Hitlers „komische“ Seite darzustellen, bis, erst vor kurzem, zu Quentin Tarantinos megamanischem Film (Inglourious Basterds; etwa: Unrühmliche Mistkerle) –, dann wird man einem Hitler in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen begegnen, von denen durchaus nicht alle abstoßend sind. Man denke auch an Darstellungen in der Literatur – von dem eigennützigen politischen Porträt (Mein Kampf) über Wyndham Lewis’ apologetisches Porträt (Hitler) und George Steiners neo-kabbalistische Novelle (The Portage to San Cristóbal of A. H.; Der Transport von A. H. nach San Cristóbal) und Norman Mailers Tändelei mit den metaphysischen und dämonologischen Dimensionen von Hitlers Geschichte (The Castle in the Forest; Das Schloss im Wald) –, in denen man so ziemlich das Gleiche findet. Auf der Bühne zeigt Mel Brooks’ Musical-Fassung seines Films (The Producers; Frühling für Hitler) einen clownhaften Hitler „mit einem Lied im Herzen“. Es gibt sogar romantische Bühnendarstellungen Hitlers, so etwa in Love Letters to Adolf Hitler (Liebesbriefe an Adolf Hitler), eine musikalische Rezitation von Briefen, die an den deutschen Führer von Dutzenden seiner in ihn vernarrten Untertanen gerichtet sind.11 Hitler im Fernsehen, Hitler in übergroßen Bilderbüchern, Hitler in verbreiteten Illustrierten, Hitler in Science-Fiction, in Liedern, Witzen und Karikaturen – Hitler ist eine allgegenwärtige und unendlich wandelbare Figur. Gordon Craig hat ihn zusammenfassend so beschrieben: „Eineinhalb Generationen nach seinem Tod im Bunker war Hitler wie der kleine Mann auf der Treppe in dem bekannten alten Lied. Er war nicht da, aber er wollte auch nicht weggehen“.12 Hitler ist also sowohl eine allegorische als auch eine historische Figur geworden, eine 11 Zu einer Rezension von Love Letters to Adolf Hitler, erstmalig 1996 in Berlin aufgeführt und im Januar 1997 in einer erweiterten Fassung in New York auf die Bühne gebracht, siehe „Even Hitler Had His Groupies“, New York Times, 11. Januar 1997. 12 Gordon Craig, The Germans (New York: G.P. Putnam’s Sons, 1982), 80. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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Präsenz, die die Aufmerksamkeit dieser Generation fordert und die in den kommenden Jahren zweifellos eine bezwingende Präsenz behalten wird. Während er auf der einen Ebene eine bedrohliche Figur bleibt, so erfährt er auf einer anderen Ebene im übertragenen Sinne gleichsam einen Prozess der Zähmung und Normalisierung mit der Folge, ihn von dem verbrecherischen Regime, das er errichtete, und der Katastrophe, die er heraufbeschwor, loszulösen. Man betrachte z. B. die folgende kleine „Biographie“ des Mannes in Norman Spinrads Roman The Iron Dream (Der Stählerne Traum): Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 in Österreich geboren. Er zog als junger Mann nach Deutschland und diente während des Ersten Weltkrieges in der deutschen Armee. Nach dem Krieg dilettierte er kurze Zeit in radikalen politischen Gruppierungen in München, ehe er schließlich 1919 nach New York auswanderte. Während er dort Englisch lernte, schlug er sich mühsam durch mit Straßenmalerei und gelegentlichen Übersetzungen in Greenwich Village, dem Künstler- und Szeneviertel von New York. Nachdem er einige Jahre dieses unstete Leben geführt hatte, nahm er verschiedene Jobs als Zeitschriftenillustrator und Karikaturist an. 1930 machte er seine erste Illustrationsgestaltung für das Science-Fiction-Magazin Amazing. 1932 fertigte er inzwischen regelmäßig Illustrationen für Science-Fiction-Magazine an, und 1935 schließlich war er im Englischen genügend versiert, um sein Debut als Autor von Science-Fiction-Geschichten zu geben. Er widmete den Rest seines Lebens dem Science-Fiction-Genre als Autor, Illustrator und Herausgeber von Fan-Zeitschriften. Obwohl er heutigen Science-Fiction-Fans hauptsächlich durch seine Romane und Geschichten bekannt ist, war er während der Goldenen dreißiger Jahre ein weithin bekannter Illustrator, gab mehrere Anthologien heraus, schrieb flotte Rezensionen und gab fast zehn Jahre lang eine beliebte Fan-Zeitschrift, Storm, heraus. Posthum gewann er 1955 bei der Welt-Science-Fiction-Konferenz einen Hugo für den Herrn des Hakenkreuzes, ein Werk, das 1953, kurz vor seinem Tod, fertiggestellt worden war. Viele Jahre lang war er eine populäre Figur bei Science-Fiction-Konferenzen, weithin bekannt bei ScienceFiction-Fans als sprühender Geist und unermüdlicher Erzähler. Seit der Veröffentlichung des Buches sind die farbenfrohen Kostüme, der er in dem Herrn des Hakenkreuzes geschaffen hat, Lieblingsmotive auf Konferenzmaskeraden. Hitler starb 1953, aber die Geschichten und Romane, die er hinterließ, bleiben ein Vermächtnis bei allen Science-Fiction-Enthusiasten.13

Bizarr? Empörend? Amüsant? Wie auch immer man diesem Hitler gegenüber eingestellt ist, so hat diese Figur nur wenig Ähnlichkeit mit dem Führer des Dritten Reiches. Natürlich kann es sein, dass Spinrad genau das beabsichtigt; aber wenn, dann ist sein Versuch einer Parodie gescheitert. Mit Sicherheit hat sie andere nicht daran gehindert, sich in ziemlich ähnlich origineller Weise ein neues Bild von Hitler zu machen. Man lese Baryl Bainbridges Young Adolf (Der junge Adolf), und man wird ihn in dem Roman als aufgeblasenen Tolpatsch geschildert finden. Oder George Steiners The Portage to San Cristóbal of A. H. (Der Transport von A. H. nach San Cristóbal), worin er fast als von der Thora inspirierter Visionär dargestellt wird, 13 Norman Spinrad, The Iron Dream (New York: Avon Books, 1972), 9. Zu einer umfassenden Untersuchung über allohistorische Prosa über Nazi-Deutschland einschließlich zahlreicher solcher Werke über Hitler siehe Gavriel Rosenfeld, The World Hitler Never Made: Alternate History and the Memory of Nazism (Cambridge: Cambridge University Press, 2005).

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Kapitel 1

der angeblich für die Gründung des Staates Israel verantwortlich ist. In jeder beliebigen dieser Geschichten haben wir den tobenden Hitler, den zerknirschten Hitler, den künstlerischen Hitler, den feinfühligen Hitler. Es gibt fiktionale Texte, die ihn als Frau zum Leben erstehen lassen. Andere erschaffen in neu als Juden. Man nehme etwa Joachim Fests Dokumentation über Hitler, und man wird darin nur mit Mühe den Mann entdecken, dessen leidenschaftliches Programm der Mord an den Juden war. Oder Syberbergs phantasmagorischen Hitler-Film (er läuft volle sieben Stunden), in dem er als der romantische Künstler erscheint, der entschlossen ist, einen epischen Zeitpunkt apokalyptischer Erfüllung zu erreichen. In den Werken verschiedener Komödienautoren ist er immer gut für einen Spaß. Für gewisse Rockfans war er „der erste Rockstar“. Für Pornographen, die gern seine privaten Augenblicke mit Eva Braun nachempfinden wollen (über die wir wenig wissen), ist er – wie überhaupt der Nationalsozialismus als Ganzes – eine reiche Quelle der Symbolik für sadomasochistischen Sex. Wie er in den einst berühmt-berüchtigten „Hitler-Tagebüchern“ genau ausgesehen hätte, wissen wir nicht; denn sie wurden als Betrug aufgedeckt, ehe es eine Chance gab, sie in größerem Umfang als Serienveröffentlichung in Zeitschriften herauszubringen. Man kann jedoch sicher sein, dass Herr Kujau, der talentierte Fälscher dieser „Tagebücher“, ihn reingewaschen hätte. Aber andere haben das mehr oder weniger regelmäßig sowie schon getan. Der britische Historiker David Irving und seine verschiedenen Kollegen in der amerikanischen und europäischen „revisionistischen“ Bewegung haben praktisch eine Industrie aus ihren Veränderungen der Nazi-Geschichte gemacht. Und sie sind kaum allein damit. Etwa in der Zeit der Bitburg-Affäre brachte Österreichs erfolgreichste Massenzeitung, die Neue Kronen Zeitung, Auszüge aus einem Buch von Christa Schroeder, einer von Hitlers Privatsekretärinnen, die ihren früheren Chef als liebenswürdigen Menschen beschrieb, der Blumen und Hunde sowie hübsche Frauen und vegetarische Ernährung liebte und großzügig mit Geschenken an seine Angestellten war. Die Zeitung wurde heftig kritisiert, weil sie eine so grotesk apologetische Ansicht veröffentlichte, die Hitler, wie ein Kritiker es formulierte, als „eine Mischung aus Robert Redford und einem Pfadfinderleiter erscheinen ließ.14 Solche Rügen halten jedoch offenbar nicht lange an. Hirschbiegels Film Der Untergang, der sich auf die Erinnerungen einer anderen von Hitlers Sekretärinnen gründet, schildert den deutschen Führer in seinen letzten Tagen als einen Mann mit menschlichen Zügen, der Sensibilität anderen gegenüber zu zeigen vermochte. Vor einigen Jahren fand ein attraktiv gestalteter Prospekt weite Verbreitung, der potenziellen Käufern das Erscheinen von „Adolf Hitler, der unbekannte Künstler“ ankündigte. Der Prospekt warb für ein Buch mit großformatigem Bildmaterial „in burgunderrotem Leinen mit Goldprägung“, das „über 830 Bilder [enthielt], davon 94 in Farbe, die größtenteils zum ersten Mal publiziert werden“. Ein anschaulich 14 Zitiert in Philadelphia Jewish Exponent, 28. Juni 1985. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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beschreibender Text erwähnte Hitlers „Erinnerungen als Heranwachsender an das Wien vor dem Ersten Weltkrieg, Schilderungen von Menschen, denen er im Laufe des Lebens begegnet war, friedliche Hirtenszenen, die längst Vergangenheit waren, flüchtige Blicke auf Straßen des alten Europa, hoch aufragende Kirchen, Blumenstillleben, architektonische Pläne für die Zukunft“. Warum überhaupt irgendjemand sein gutes Geld für den Besitz dieses „unbekannten Hitler“, dessen Fähigkeiten als Maler nur mäßig waren, würde ausgeben wollen, bleibt ein Geheimnis; aber der hohe Preis des Buches war ein Indiz dafür, dass der Verlag der Auffassung war, es sei durchaus damit Geld zu machen, dass man eine weitere Version der Figur Hitler auf den Markt bringt, in diesem Fall eine ästhetisierende und wohlwollende Darstellung. Und damit ist wirklich Geld zu machen, sonst wäre nicht so viel „Hitler“ auf dem Markt: Nach einem Bericht sind es Nazi Memorabilia der verschiedensten Art, weit über 50 Millionen Dollar im Jahr.15 Bedeutet Hitler auf dem Markt auch Hitler im Kopf? Bei vielen ist das zweifellos der Fall. Einem seiner Biographen zufolge „wird über Adolf Hitler mehr geschrieben werden als über irgendjemanden in der Geschichte außer über Jesus Christus.16 Eine solche Figur – die allem Anschein nach gleichzeitig unsere Phantasievorstellungen von Macht, Irrsinn, Geld, Sex, Mord, Politik, Pomp, Ehrgeiz und Kunst zufriedenzustellen vermag –, ist offensichtlich attraktiv. Sie hat zwar nicht die Attraktivität, die uns die nationalsozialistische Verfolgung und das Abschlachten der Juden besser verstehen ließe, aber das ist auch gar nicht das Ziel. Diese Attraktivität soll uns vielmehr den Holocaust faszinierend erscheinen lassen, uns in gewissem Maße sogar damit unterhalten sowie uns letztlich dadurch von ihm ablenken, dass er in etwas anderes verwandelt wird – in eine Quelle indirekter Gefahr und Spannung, in eine neue Mythologie von manchmal angenehmen, manchmal heftigen Empfindungen. Kurz gesagt: Die Popularisierung und Kommerzialisierung Hitlers – und man könnte das Gleiche über andere Figuren des Dritten Reiches sagen – ist nicht nur ahistorisch, sondern im Grunde auch antihistorisch. Mit der Zeit untergraben diese Entwicklungen das Gefühl für Geschichte und stumpfen das ab, was an moralischen Implikationen darin liegt. Genauso wie die Politisierung des Holocaust – was an Bitburg deutlich wird – die Vergangenheit für ihre eigenen Zwecke verfälscht, so führt die Fiktionalisierung des Holocaust das Potenzial mit sich, die Akteure und Ereignisse der Vergangenheit umzuformen, um den heutigen Phantasievorstellungen entgegenzukommen. In beiden Fällen ist die tatsächliche Geschichte des Dritten Reiches, die einst von wirklichen Männern und Frauen durch die Hand von anderen wirklichen Männern und Frauen durchlitten wurde, nicht von primärer Bedeutung. Richard von Weizsäcker, ein früherer Präsident der Bundesrepublik Deutschland, war zur Zeit der Bitburg-Affäre eine der wenigen Personen des öffentlichen Lebens, 15 „The Hitler Business“, Life, Juli 1983, 83–88. 16 Robert G.L. Waite, The Psychopathic God: Adolf Hitler (New York: Basic Books, 1977), xi.

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Kapitel 1

der es für geboten hielt, sich diesen Tendenzen in einer offenen und direkten Weise zu widersetzen. In seiner bedeutenden Rede am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag aus Anlass des 40. Jahrestages des Kriegsendes in Europa sprach er von der Notwendigkeit, „der Wahrheit direkt in die Augen zu sehen – ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“. „Die Vergangenheit war schrecklich“, erklärte er, und müsse ehrlich im Gedächtnis bleiben. In einer Hinsicht jedoch war selbst von Weizsäcker, dessen Absichten edel waren, in seiner Kritik des Revisionismus nicht streng genug. „Wir alle“, erklärte er, „ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Jüngere und Ältere müssen und können sich gegenseitig helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart“.17 Die moralische Haltung hinter diesen Worten ist bewundernswert; aber in einem entscheidenden Punkt sind sie nicht ganz zutreffend: Die Aktivitäten im Dunstkreis von Bitburg und zahlreiche andere Manipulationen mit dem Holocaust lassen uns erkennen, dass sich die Vergangenheit durchaus „nachträglich ändern“ lässt, dass sie sich durchaus „ungeschehen machen“ lässt. Die Vergangenheit ist weit davon entfernt, unveränderlich zu sein; sie ist stets anfällig für Modifizierung und sogar für völlige Auslöschung. Die verschiedenen Hitler-Beispiele, die in diesem Kapitel vorgestellt wurden, zeigen nur eine Erscheinungsform dieses Prozesses. Es gibt viele andere. Wenn man sie alle zusammennimmt, dann verweisen sie auf eine Umgestaltung und Verfälschung von Geschichte, manchmal in geringer und subtiler Weise, manchmal aber auch vollständig. Der Nazi-Völkermord an den Juden wird nicht so bald vergessen werden, aber wie er im Gedächtnis behalten und vermittelt wird, hängt in überwältigender Weise davon ab, was wir aus der Vergangenheit in die Gegenwart herüberretten wollen, oder was wir ignorieren oder unterdrücken wollen, oder was wir schließlich umgestalten oder sogar neu erfinden wollen. Der historische Charakter der Verbrechen, die wir nun den Holocaust nennen, ist anfällig für Veränderungen unter dem Druck einer großen Bandbreite kultureller Kräfte einschließlich politischer Nützlichkeitserwägungen, kommerziellen Profits sowie allgemeiner Geschmacksrichtungen und Präferenzen. Selbst ohne diesen Druck unterliegt der entsetzliche Charakter dieser Verbrechen, obwohl sie auch eine Quelle unbeschränkter Faszination sind, einer unbewussten Leugnung. Während einige unter der Verpflichtung zur Erinnerung leben, ist das für andere keine primäre Pflicht. Und für wiederum andere ist die Versuchung, die Leiden der Nazi-Ära für persönliche und politische Programme auszunutzen, zu groß, als dass sie darauf verzichten könnten. Eines der Resultate 17 Siehe Geoffrey Hartmann, Hg., Bitburg in Moral and Political Perspective (Bloomington: Indiana University Press, 1986), 262–273. [Zitiert nach Weizsäckers Originalfassung]. Die gängige Kultur und die Politik der Erinnerung 

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ist, wie auf den folgenden Seiten ausgeführt wird, die Herausbildung einer Kultur der Viktimisierung, die den Holocaust als figuratives Zentrum haben mag, die aber in Wirklichkeit wenig echtes Interesse an denen zeigt, die zu Millionen im von den Nazis beherrschten Europa litten und starben.

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Kapitel 1

Kapitel 2

Die Rhetorik der Viktimisierung

Die Agonie der Juden unter Hitler ist zu bedeutsam und zu ungeheuerlich, als dass man sie vergessen könnte; dennoch scheint es so, dass man sich ihrer nur in einer Art und Weise erinnern kann, die ihren Sinngehalt entstellt und ihre Bedeutung leugnet. … Als Auschwitz ein gesellschaftlicher Mythos, eine Metapher für das heutige Leben wurde, verloren die Menschen den Blick für die einzige Lektion, die ihnen das Geschehen erteilen konnte: Nämlich die, dass es aus sich heraus keine Lektionen erteilt. – CHRISTOPHER LASCH

In The Minimal Self, einer einfühlsamen Studie über „psychisches Überleben in schlimmer Zeit“, bemerkte Christopher Lasch, dass eine intensive Beschäftigung mit Viktimisierung und Überleben seit den frühen siebziger Jahren ein herausragendes Element in der amerikanischen Kultur geworden war und dass als Konsequenz daraus das tägliche Leben nun mit „der Rhetorik der Krise und des Überlebens“ durchdrungen sei.1 Lasch, ein scharfsinniger Sozialhistoriker und -kritiker, fand die Hauptquelle dieser verstärkten Besorgnis in Zeiten des Unglücks in der Geschichte des Völkermordes im 20. Jahrhundert. Ihm war jedoch auch die Opferund Überlebensmentalität, die sich bei den Amerikanern entwickelte, durchaus bewusst; er hielt sie für übertrieben und warnte vor ihrer gesellschaftlichen Ausnutzung und ihrem politischen Missbrauch. Lasch räumte ein, dass es legitime Gründe für die Besorgnis gibt: Zusätzlich zu den Gefahren durch eine Fortsetzung des Kalten Krieges war dies schließlich ein Jahrhundert, das bereits „die Ausrottung der Armenier, der Kulaken, der Juden und der Kambodschaner“ (S. 69) gesehen hatte. Gleichwohl glaubte er, dass die innere Resonanz darauf in einem Missverhältnis zu der tatsächlichen Wirklichkeit des Lebens der meisten Menschen stünde, und er stellte das vorherrschende Gefühl der Hilflosigkeit in Frage, das zunehmend den psychischen Tenor der Zeit charakterisierte. Entsprechend dieser Kritik war er beunruhigt darüber, dass das Konzentrationslager „als stringente Metapher für die Gesellschaft als Ganzes“ (S. 72) verstanden wurde und dass viele Amerikaner sich bereitwillig mit der Figur des Opfers identifizierten: Unsere Wahrnehmung nicht nur der Vergangenheit und der Zukunft, sondern auch der Gegenwart, ist durch ein neues Bewusstsein von Extremen beeinflusst worden. Wir betrachten uns als Überlebende, aber auch als Opfer oder potenzielle Opfer. Die zunehmende Überzeugung, dass wir alle in der einen oder anderen Weise Opfer von Ereignissen außerhalb unserer Einflussnahme sind, verdankt einen großen Teil ihrer Kraft nicht nur dem verbreiteten Gefühl, dass wir in einer gefähr1 Christopher Lasch, The Minimal Self: Psychic Survival in Troubled Times (New York: W.W. Norton & Company, 1984), 64. Das Epigramm zu Beginn dieses Kapitels ist zitiert nach den Seiten 111 und 129 desselben Buches. Die Rhetorik der Viktimisierung  | 39

lichen Welt leben, die von großen Organisationen beherrscht wird, sondern auch der Erinnerung an spezifische Ereignisse der Geschichte des 20. Jahrhunderts, denen Menschen in ungeheurer Anzahl zum Opfer gefallen sind. Wie die Vorstellung vom Überleben, so hält die Vorstellung von der Viktimisierung, unangemessen auf tägliche kleine Missgeschicke angewandt, die Erinnerung wach und schwächt gleichzeitig ihre emotionale Stoßkraft. Unterschiedsloser Gebrauch erweitert die Vorstellung der Viktimisierung so sehr, dass sie schließlich ihren Sinngehalt verliert (S. 66).

Wie George Orwell und andere gezeigt haben, führt die Inflation der politischen Rhetorik unweigerlich zu Verzerrungen und zu einer Schwächung des Sinngehaltes; und Lasch hatte Recht damit, als er auf die verderblichen Auswirkungen dieser Tendenz aufmerksam machte. Er erkannte, dass die bereitwillige Aneignung von „Auschwitz“ als bequemes Symbol für verbreitete Ängste unglückliche psychische und gesellschaftliche Konsequenzen hatte, darunter die Normalisierung von Gräueltaten und die künstliche Erhebung des „Opfers“ in den Status eines privilegierten kulturellen Typus. In diesem Kapitel möchte ich die genannten Entwicklungen über Laschs Untersuchung hinaus verfolgen und einige der Konsequenzen erläutern, die sich einstellen, wenn eine Sprache unter Verwendung von Extremen als Ausdruckscode von mehr oder weniger alltäglichen Erfahrungen benutzt wird. Die Aneignung der Sprache des Holocaust für diese Zwecke ist keine geringfügige Angelegenheit, denn mit der Zeit hat sie den Effekt, das ungeheure Ausmaß wirklichen historisch geschehenen Leidens zu trivialisieren und daraus wenig mehr als rhetorische Gesten zu machen. Und dennoch gehören diese Gesten – in nicht geringem Maße dank der Verbreitung des landläufigen Redens über Viktimisierung und Überleben – zu der Sprachwelt, in der wir leben, und zwar sogar in dem Maße, dass jemand, der uns so reden hört, daraus schließen kann, dass sich der Zeitgeist wieder einmal in Richtung einer allzu vertrauten Verrücktheit bewegt: Item. Die Vogelbeobachter in New Yorks Central Park sind aufgebracht, als Dutzende von Bäumen gefällt werden, und erheben heftigen Einspruch bei dem Park-Beauftragten gegen die Entfernung der Bäume mit dem Hinweis, dass Zugvögel dadurch ihre Ruhe- und Futterplätze verlieren würden. Der Protest nimmt an Heftigkeit zu. Um ihm die Spitze zu nehmen, verurteilt der Direktor der New York City Audubon Society den Plan zur Umgestaltung des Parks und nennt ihn damit einen anderen „Mein Kampf “. Item. Das Altwerden macht Amerikas älteren Leuten Sorge, und verschiedene anti-aging-Organisationen wollen, dass die Regierung mehr dafür tut, dass neue Medikamente gegen die Alterungsspuren entwickelt werden. Eine dieser Organisationen, The Life Extension Foundation (Stiftung für Lebensverlängerung) „unterhält eine Ausstellung in Fort Lauderdale, Florida, in der die Food and Drug Administration (Lebensmittelüberwachungs- und Arzneizulassungsbehörde) beschuldigt wird, die Zulassung einer ganzen Reihe von erwünschten Medikamenten zu verzögern. Ihr Name? ‚Das F.D.A.-Holocaust-Museum‘“.2 Item. In dem bekanntesten vom Fernsehen übertragenen Gerichtsdrama schließt Johnnie L. Cochran, O.J. Simpsons Hauptanwalt, sein Plädoyer damit, dass er Mark Fuhrman, den diskreditier2 New York Times Sunday Magazine, 15. Dezember 1996, 21.

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Kapitel 2

ten Inspektor der Polizei von Los Angeles, mit „einem anderen Mann aus einer nicht so lange zurückliegenden Zeit“ vergleicht, „der Menschen verbrennen wollte, der rassistische Ansichten hatte. … Dieser Mann, diese Geißel, wurde einer der schlimmsten Männer der Welt, Adolf Hitler. … Und so auch Fuhrman; Fuhrman will nun alle Farbigen nehmen und sie verbrennen oder mit Bomben umbringen. Das ist Völkermord-Rassismus.3 Item. Zahlreiche Buchtitel erweitern den Umfang des Begriffes „Völkermord-Rassismus“; darunter: Larry Kramers Reports from the Holocaust: The Making of an AIDS-Activist (Berichte vom Holocaust: Der Werdegang eines AIDS-Aktivisten), und David Stannards American Holocaust: Columbus and the Conquest of the New World (Der amerikanische Holocaust: Kolumbus und die Eroberung der Neuen Welt). Um nicht von den Linken hinsichtlich der Urheberrechte an diesem sprachlichen Ausdruck ausmanövriert zu werden, gibt uns John Powell Abortion: The Silent Holocaust (Abtreibung: Der Lautlose Holocaust), und für eine verbreitete christliche Zeitschrift liefert Jerry Falwell einen Beitrag mit dem Titel „Let’s Stop the Holocaust“ („Stoppt den Holocaust“), in dem er schreibt: „Das Urteil im Falle Roe gegen Wade hat zu einem Völkermord an mehr als 10 Millionen hilfloser Babys geführt“. Item. Ein Völkermord an „10 Millionen“ übertrifft ganz klar den Völkermord an 6 Millionen. Toni Morrison übertrumpft beide Zahlen noch, indem sie ihren Roman Beloved den „über 60 Millionen“ widmet. Und Na‘im Akbar, der Black Muslim-Psychologe und afrozentrische Aktivist, stellt in einer Rede in der Wayne State University fest: Es handele sich um „eine vereinfachende Vorstellung von Sklaverei, die es den Leuten leicht mache, ihren Holocaust mit unserem Holocaust zu vergleichen. Sie verstehen nicht, dass es verdammt besser ist, in die Öfen zu wandern und zu wissen, wer man ist, als hundert Jahre lang umherzulaufen, ohne zu wissen, wer man ist. … Unser Holocaust in Amerika ist schlimmer als der Holocaust in Europa“.4

Diese kurze Liste rhetorischer Manipulationen der Vergangenheit könnte fast beliebig erweitert werden um ähnliche Zitate aus dem Fernsehen, der Tagespresse, aus Filmen, Romanen, beliebten Schlagern, politischen Reden, Internet-Blogs usw. Was beweist das? Nicht dass ein neuer Holocaust auf uns zukäme, wohl aber, dass der alte uns noch nicht gänzlich verlassen hat. Zumindest haben uns die vertrauten Zeichen und Symbole nicht verlassen. Die Nazis sind zurück, und ebenso, in manchmal bizarrer Umformung, die Juden. Ihre Wiederkehr, weit entfernt davon, überraschend zu sein, erinnert an nichts so sehr wie an Karl Marx’ berühmter Beobachtung, dass „alle großen, welthistorischen [Ereignisse] sozusagen zweimal geschehen. … Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce“.5 In den meisten Fällen ist das farcenhafte Element nicht beabsichtigt, dennoch ist sein wiederholtes Vorkommen alltäglich geworden und hat einen verderblichen Effekt auf die öffentliche Diskussion. Man höre nur oft genug auf Rush Limbaughs verbale Angriffe auf „Feminazis“, und binnen kurzem wird der Terminus „Nazi“ neu definiert, damit 3 Los Angeles Times, 1. Oktober 1995. 4 Siehe Joseph A. Amato, Victims and Values: A History and a Theory of Suffering (Westport, Conn.: Greenwood Press, 1990), 159–160. Zu einem scharfsinnigen Kommentar zum „Schwarzen Holocaust“ siehe Eric J. Sundquist, Strangers in the Land: Blacks, Jews, Post-Holocaust America (Cambridge, Mass.: The Belknap Press of Harvard University Press, 2005). 5 Das Zitat, aus „The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte“, findet man in The Marx-Engels Reader, hg. Robert C. Tucker (New York: W.W. Norton & Co., 1978), 594. Die Rhetorik der Viktimisierung  | 41

er das ausdrückt, was er nach dem Willen von Limbaugh und anderen, wenn sie wütend werden, bedeuten soll. Oder in einer ähnlichen rhetorischen Sprachverwendung wird die Sprache des Dritten Reiches ein Teil der politischen Beschimpfung, so wie in dem Fall, in dem ein Kongressabgeordneter aus Pennsylvania die Environmental Protection Agency (Umweltschutzbehörde) als „Umwelt-Gestapo“ beschimpft. Oder zwei Kongressabgeordnete aus New York prangern Newt Gingrichs „Contract with America“ („Vertrag mit Amerika“) als ein politisches Instrument an, das den amerikanischen Farbigen und anderen Minderheiten das antun werde, was den Juden in Hitlers Deutschland angetan wurde. Oder in der jüngsten Diskussion über eine Reform des Gesundheitswesens wird Präsident Obama von seinen Gegnern regelmäßig als ein neuer Hitler gebrandmarkt. Die Nazi-Metapher wird auch in bestimmten Bemühungen von Lobbyisten wiederverwendet, so wenn die National Rifle Association („Nationale Gewehrvereinigung“) ExekutivOrgane der Vereinigten Staaten als „Regierungsgangster in Kampfstiefeln“ verunglimpft, die „Nazi-Kübelhelme und schwarze Sturmtruppen-Uniformen“ tragen. Oder, wie bereits oben dargestellt, wenn Anti-Abtreibungsgruppen regelmäßig den „Abtreibungs-Holocaust“ anprangern, wobei sie ungeborene Föten mit den ermordeten Juden und die die Abtreibungen ausführenden Ärzte mit Dr. Mengele selbst vergleichen.6 Für die, die es besser wissen – vermutlich für jeden mit einer sogar geringen historischen Erinnerung –, zeugen diese Analogien nicht nur von schlechtem Geschmack, sie untergraben vielmehr den gesunden Menschenverstand, das sachliche Urteilsvermögen und die Vernunft selbst. Trotzdem sind sie inzwischen allgegenwärtig und stellen das in Frage, was eine der fundamentalen Grundpositionen der Nachkriegskultur gewesen war, nämlich dass der Holocaust ein bestimmendes Ereignis in der modernen Geschichte war, eines, von dem wir vielleicht etwas von bleibendem Wert haben lernen können. Elie Wiesel drückt es so aus: Wir stimmen alle darin überein, dass für unser Leben die zentrale Bedeutung des Holocaust unwiderlegbar ist. Wir stimmen alle darin überein, dass dieses Geschehen ein Wendepunkt war: Es gibt ein Vorher, und es gibt ein Nachher; gar nichts ist mehr so, wie es einmal war. … Das Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft, zur Familie, zu seinem Selbstverständnis … all das ist in Mitleidenschaft gezogen worden durch alles, was innerhalb des verbotenen Reiches, auf dem ein Fluch liegt, geschehen ist.7

Es ist zweifellos wahr, dass der Holocaust für diejenigen, die die Schrecken von Auschwitz überlebt haben, einen entscheidenden geschichtlichen Wendepunkt darstellt. Aber für zahllose andere hat sich die Tatsache des Geschehens in Auschwitz nicht in der alles verändernden Art und Weise, wie Wiesel es behauptet, aus6 „Using Nazi Images to Hit Political Opponents Now a Common Tack“, New York Times, 23. Oktober 1995. 7 Elie Wiesel, „Some Questions that Remain Open“, in Comprehending the Holocaust, hg. Asher Cohen, Joav Gelber, und Charlotte Wardi (Frankfurt am Main: Verlag Peter Lang, 1988), 11.

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gewirkt. Wenn der Holocaust die von ihm beschriebenen Konsequenzen hätte, dann würden wir nicht die Degradierung der sich auf den Holocaust beziehenden Sprache erleben, die in der gegenwärtigen Rhetorik so alltäglich geworden ist. Wir würden auch nicht – und das ist noch bedrohlicher – das Aufkommen einer Skinhead-Subkultur in mehreren europäischen Ländern miterleben, oder das politische Wiedererscheinen rassistischer und nationalistischer Demagogen in einigen derselben Länder, oder die Geißel der ethnischen Säuberungen, oder den obszönen Eifer der Holocaust-Leugner, oder amerikanische Jugendliche, die an Hitlers Geburtstag Schulkameraden und sich selbst umbringen. Wiesel betrachtet Auschwitz „als eine Art von Schwarzem Loch in der Geschichte“; mit dieser Beschreibung aber spricht er aus dem Blickwinkel der Ausnahmeposition des Opfers. In der Tat aber ist für viele Menschen das Loch, das ein Überlebender des Holocaust im Herzen der Geschichte wahrscheinlich sieht, entweder kaum sichtbar, oder es wird von anderen ausgefüllt, die die Sprache der Viktimisierung der Juden unter den Nazis dazu benutzen, ihren eigenen Anspruch auf den Opfer-Status mit Nachdruck zu behaupten. Die Geschichten, die sie erzählen, mögen von der Anteilnahme und dem Mitgefühl aufgrund der Leiden der Juden profitieren, aber der „Holocaust“, den sie dabei heraufbeschwören, ist primär eine metaphorische, aber keine historische Realität. In einer beißenden, aber zutreffenden Formulierung hat der Kritiker Edward Alexander diesen Prozess als „Diebstahl des Holocaust“ bezeichnet.8 Einige Beispiele werden zeigen, wie das vor sich geht. Im Sommer 1993, zu einer Zeit, als die Nachrichten jeden Tag Berichte und Bilder von der Bombardierung Sarajewos brachten, wurde ein kleines Buch veröffentlicht, das besonders auf die Balkan-Krise und binnen kurzem in noch stärkerem Maße auf die jugendliche Autorin aufmerksam machte. Zlata’s Diary9 (Zlatas Tagebuch), eine Wiederaufnahme des berühmtesten Kriegstagebuches dieses Jahrhunderts, war das Werk von Zlata Filipović, einer sensiblen und intelligenten Dreizehnjährigen, die als „die Anne Frank von Sarajewo“ gefeiert wurde. Eng an seinen weltberühmten Vorläufer angelehnt, spiegelte Zlatas Tagebuch die Hoffnungen und die Verwundbarkeit eines heranwachsenden Mädchens, das in einer brutalen und einer auf Schritt und Tritt bedrohlichen Erwachsenenwelt gefangen ist. Ebenso wie Anne Franks Buch, umfasst das Sarajewo-Tagebuch etwas mehr als zwei Jahre. Wie Anne Franks Buch beginnt es ebenfalls mit Notizen, die in den ruhigen, unbeschwerten Tagen des Lebens vor dem Krieg begonnen wurden („Hinter mir – ein langer, heißer Sommer und die glücklichen Tage der Sommerferien; vor mir – ein neues Schuljahr“, S. 1); dann aber richtet sich der Blick unvermittelt auf den Bericht über die Gräueltaten der Außenwelt und auf die Notwendigkeit, einen Schutz der Familie dagegen 8 Edward Alexander, The Jewish Idea and Its Enemies (New Brunswick, N.J.: Transaction Books, 1988), 99–109. 9 Zlata Filipović, Zlata’s Diary: A Child’s Life in Sarajevo, übers. Christina Pribichevich-Zoric (New York: Viking, 1994). Die Rhetorik der Viktimisierung  | 43

zu improvisieren („Heute ist es schrecklich in Sarajewo. Menschen, darunter auch Kinder, werden umgebracht; Schießen. Wir werden die Nacht wahrscheinlich im Keller verbringen“, S. 38). Wie im Tagebuch der Anne Frank gibt es in Zlatas Tagebuch zahlreiche besorgte Notizen über „Mama und Papa“, über Lieblingshaustiere, vermisste Freunde, über eine Schule, die man nicht mehr besuchen kann, darüber, dass ganz normale Nahrungsmittel fehlen und dass man im Freien gar nichts mehr unternehmen kann; es gibt andere Tagebuch-Eintragungen darüber, dass man sich eingeschlossen vorkommt, gelangweilt und besorgt ist, dass einem alles Mögliche fehlt, und dass man sich nach einem sicheren und wieder normaleren Leben sehnt. All diese Gefühle gehören sicher gemeinhin in die Zeit des Heranwachsens, aber wichtiger ist hier, dass sie zu Zlatas Tagebuch gehören, weil Zlatas Worte bezeichnenderweise diejenigen der Anne Frank zur Vorlage hatten. In einem ihrer frühen Einträge (30. März 1992) gibt Zlata offen die Quelle an, die sie inspiriert und geleitet hat: „He, Tagebuch! Weißt du, was ich denke? Da Anne Frank ihr Tagebuch ‚Kitty‘ genannt hat, könnte ich dir vielleicht auch einen Namen geben. Wie wär’s mit MIMMY?“ (S. 29). Indem Zlata Filipović „Mimmy“, einen Namen, der so ähnlich klingt wie „Kitty“, als beste Freundin und Vertraute nahm, machte sie sich daran, ein Kriegstagebuch in einem Stil zu schreiben, der, wie es ihr amerikanischer Herausgeber nennt, „sowohl unschuldig als auch weise ist und rührend an den Schreibstil Anne Franks erinnert“. Und wie es bei Anne Frank der Fall war, so sollte auch Zlatas Stimme „das Gewissen der Welt wachrütteln“. Hat aber die „Welt“, die bekanntermaßen immer schlummert, sie gehört und darauf reagiert? Ja, in einer gewissen sentimentalen Art und Weise, wobei sie die politische Not ihres vom Krieg überzogenen Landes größtenteils ignorierte und statt dessen dem frühreifen jungen Mädchen einen plötzlichen Ruhm zuerkannte, der inzwischen charakteristisch für unsere Welt geworden ist, die von Medien beherrscht wird und Berühmtheiten in das Zentrum des Interesses stellt. Zlatas Tagebuch, von dem ursprünglich eine frühe Fassung durch UNICEF 1993 in Sarajewo herausgebracht wurde, zog recht bald Horden von Journalisten und Kameraleuten zu der Wohnung der Familie Filipović, um das „Kriegskind“ zu interviewen; und binnen kurzem war sie – mit ihren eigenen Worten – „eine Persönlichkeit“ geworden (S. 167). Ihre Situation, die zwar unangenehm war, gleichzeitig aber auch für besondere Effekte aufbereitet wurde, war mehr als bizarr. So ist z. B. unter den Farbfotos in der amerikanischen Ausgabe ihres Buches eins, auf dem sie ruhig in ihrem Zimmer sitzt und ihr Tagebuch offen vor sich liegen hat. Unter dem Bild findet sich der recht unpassende Begleittext: „Zlata schreibt an ihrem Schreibtisch, wobei sogar das Rattern von Maschinengewehren von den Bergen herübertönt“ (S. 83). Bei der Suche danach, welchen Effekt die Maschinengewehre auf Zlata haben, findet man jedoch herzlich wenig. So wie Zlata hier zu sehen ist, ist sie ruhig, gelassen und eifrig in ihre Tätigkeit vertieft. Darüberhinaus scheint draußen die Sonne, und in ihrem Zimmer atmet alles guten Geschmack, bürgerliche Ordnung und offenkundige Sicherheit. Obwohl dem Leser also völlig bewusst 44 | 

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ist, dass es sich um ein Kriegstagebuch handelt, vermittelt das Foto von Zlata an ihrem Schreibtisch auch nicht im entferntesten etwas von dem Leben am gefährlichen Rand des Krieges. Auf einem anderen Foto sieht man Zlata im Bett mit einem Buch in der Hand; aber statt zu lesen, lächelt sie in die Kameras in einem Raum, der speziell für ein gestelltes Foto ausgeleuchtet ist. Obwohl die Umgebung erkennbar inszeniert ist, wird der Betrachter trotzdem aufgefordert, sich ein junges Mädchen vorzustellen, das unter gravierenden Entbehrungen leidet; denn die Bildunterschrift lautet: „Zlata, die Bücher liebt, liest bei Kerzenlicht“ (S. 118). Tatsächlich ist eine Kerze neben ihrem Bett aufgestellt, aber angesichts der Helligkeit der Scheinwerfer der Kameraleute, die Zlatas Stirn in gleißendes Licht tauchen, fällt es einem schwer, diesen Worten und der Szene, die sie beschreiben sollen, Glauben zu schenken. Man kann sich unmöglich vorstellen, dass sich 1942–1944 in Amsterdam etwas Ähnliches zugetragen hätte; denn das wäre so, als ob man Zeuge wäre, wie Anne Frank von CNN (Cable News Network, ein amerikanischer Fernsehsender) just in dem Augenblick interviewt würde, als die Gestapo nach der verborgenen Tür zu dem Versteck ihrer Familie suchte. Dennoch ist Zlatas Tagebuch, beworben als das Werk „der Anne Frank von Sarajewo“, voll von solchen unvereinbaren Elementen. Ein letztes Beispiel sei noch angeführt: Zlata schreibt am 29. Juli 1993 über die Belagerung der Stadt: „SCHIESSEN, KEIN STROM, KEIN WASSER, KEIN GAS, NICHTS ZU ESSEN. Fast gar kein Leben mehr“ (S. 168) – dennoch beschreibt sie dann während derselben Woche die „Werbekampagne für ihr Buch“. Dieses Buch ist genau das, das sie gerade schreibt, und die „Werbung“ dafür, so erfahren wir, fand statt „im Café Jeñ, [das] vollgepackt war mit wunderbaren Leuten“. „Natürlich“, so fährt sie fort, „waren Filmkameras da und Fotografen, und es gab einen Riesenblumenstrauß aus Rosen und Gänseblümchen, … und zum Schluss las ich meine Botschaft vor. Hier ist das, was ich sagte: Plötzlich und unerwartet wendet jemand die hässliche Gewalt des Krieges an, die mich erschreckt, und versucht, mich von den Gestaden des Friedens, von dem Glück wunderbarer Freundschaften, von Spiel und von Liebe wegzuziehen. Ich fühle mich wie eine Schwimmerin, die gegen ihren Willen ins kalte Wasser geworfen wurde. Ich bin schockiert, traurig, unglücklich und verängstigt, und ich frage mich, wohin sie mich zu gehen zwingen werden, und warum sie mir die friedlichen, schönen Gestade meiner Kindheit weggenommen haben. Ich habe mich immer über jeden neuen Tag gefreut, weil jeder Tag für sich schön war. Ich habe mich über die Sonne gefreut, darüber, dass ich spielen und singen konnte. Kurz, ich habe meine Kindheit genossen. Für mich gab es keine bessere. Ich habe nun immer weniger Kraft, um in diesem kalten Wasser zu schwimmen. Bringt mich doch zurück an die Gestade meiner Kindheit, wo ich Wärme spürte, wo ich glücklich und zufrieden war wie alle die Kinder, deren Kindheit und deren Recht, sie zu genießen, nun zerstört werden. Das einzige, was ich jedem sagen möchte, ist FRIEDEN!“ (S. 165–166)

Bei jemandem, die zweimal in ihrem Tagebuch die Sorge notierte, dass sie „nicht das Schicksal von Anne Frank erleiden möge“ (S. 171; 193), ist das nicht nur rührselig, sondern geradezu auf aufdringliche Weise unecht. Dennoch verkauft sich in einer Welt, die offensichtlich für Anne-Frank-Doubles empfänglich ist, so künstDie Rhetorik der Viktimisierung  | 45

lich diese auch aufbereitet sein mögen, Sentimentalität dieser Art sehr gut. Binnen kurzem wurde Zlatas Tagebuch von Robert Laffont, einem französischen Verlag, aufgegriffen und wurde in Frankreich und einem Dutzend anderer Länder rasch ein Bestseller. Zlata und ihre Familie wurden aus Sarajewo ausgeflogen, und bald wohnte Zlata in Paris, wo sie der Weltpresse über die Leiden ihrer belagerten Stadt und über ihre leidenschaftliche Sehnsucht nach Frieden Interviews gab. So erschien in Newsweek eine Titelgeschichte von ihr, und auf ihrer Tour durch Amerika gab sie weitere Interviews und trat in allen dazu passenden Talkshows auf. Bald danach waren Filmrechte an ihrem Tagebuch an Universal Pictures verkauft worden; und wer weiß, ob nicht eines Tages eine Suche nach der nächsten Millie Perkins gestartet wird, die Zlatas Geschichte für Millionen von Fernsehzuschauern unsterblich machen wird? Welche Schlüsse lassen sich aus der Erfahrung mit Zlata ziehen? Bis zu einem gewissen Punkt gelten die alten Klischees immer noch, aber sie müssen modifiziert werden, damit sie zu den neuen technischen Möglichkeiten unserer Zeit und zu den Freizeit- und Kommerz-Interessen, denen sie dienen sollen, passen. Während es also nach wie vor wahr bleibt, dass Krieg etwas Furchtbares für diejenigen ist, die ihn direkt erleiden, so ist er für viele andere, die ihn nun indirekt in der Behaglichkeit ihres Wohnzimmers miterleben, zu einer Art Zuschauersport geworden, zu einer Gelegenheit, sich dem Nervenkitzel und dem Schrecken einer Ausnahmeerfahrung hinzugeben, die sich in Echtzeit vor ihren Augen entfaltet. Zlata, ein intelligentes Mädchen, erkennt, dass sie in die Fremdheit dieser Situation einbezogen worden ist; und während sie willentlich und zu ihrem Vorteil an der Situation teilhat, ist sie aber hinsichtlich der Rolle, die sie dabei spielt, ambivalent. Am 27. Juli 1993 trägt sie folgendes ein: „Journalisten, Reporter, Fernseh- und Radioleute aus aller Welt (sogar aus Japan) … Es ist spannend“ (S. 168). Aber in dem Eintrag eine Woche später, am 2. August 1993, ist es nicht die aufregende Spannung, die sie ausdrückt, sondern eine Spur von Angst: „Noch mehr Journalisten, Reporter und Kameraleute. Sie schreiben, machen Fotos, filmen; und all das geht nach Frankreich, Italien, Kanada, Japan, Spanien, Amerika. … Einige Leute vergleichen mich mit Anne Frank. Das erschreckt mich, Mimmy. Ich will ihr Schicksal nicht erleiden“ (S. 171–172). Angesichts des Schutzes, den eine solche umfassende journalistische Publizität ihr gab, war es wenig wahrscheinlich, dass Zlata Anne Franks Schicksal erleiden würde. Das war ihr Glück. Und dennoch kann man hier eine Gefahr erkennen: Angesichts des wiederholten Gebrauchs und Missbrauchs des Namens und der Geschichte der Anne Frank zeichnet sich eine Gefahr ab, die – weit entfernt davon, an die metaphorische „Anne Frank von Sarajewo“ heranzutreten – die Geschichte und das Andenken der Anne Frank von Amsterdam berührt. Das Tagebuch der Anne Frank hat, wie im folgenden ausführlich dargelegt wird, einen besonderen Platz in der Literatur und Kultur der Nachkriegszeit eingenommen, und es hat sich längst einen Standardstellenwert erworben, an dem sich alle anderen Zeug46 | 

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nisse des Mutes eines Kindes und des Verlustes der Kindheit messen lassen müssen. Etty Hillesum, Hana Demetz, Charlotte Salomon, Jona Oberski, Selma Meerbaum-Eisinger, Hannah Senesh, Eva Schloss sowie zahlreiche andere haben Bücher geschrieben oder haben Bücher über ihre Kriegserlebnisse veröffentlichen lassen, von denen man sagte, dass sie „ihren Platz neben Anne Franks Tagebuch haben“ oder dass sie erkennbar „in der Tradition von Anne Frank“ stünden oder dass sie „da weitermachen, wo Anne Franks Tagebuch endete“. Ein solches marktschreierisches Anpreisen ist bei heutigen Buchveröffentlichungen üblich; darum geht es hier aber nicht. Der bei weitem größere Anlass zur Sorge kommt woanders her – nämlich aus der ständigen Heraufbeschwörung Anne Franks als Metapher für die Geschichten anderer Leute; dies ist eine Praxis, die inzwischen den Effekt hat, Anne Franks Geschichte sowohl einzuengen als auch bis zu dem Punkt umzuwandeln, an dem sie die Bodenhaftung mit der geschichtlichen Grundlage verliert. Starke Metaphern wirken oft so, dass sie die realen Geschehnisse, die sie aufrufen, vertreiben oder ersetzen. Das ist insbesondere der Fall bei unangenehmen oder unliebsamen realen Geschehnissen, die auf subtile Weise durch metaphorische Ausweitung und metaphorischen Ersatz zum Verschwinden gebracht werden können. Im vorliegenden Fall ist die negative Wirklichkeit, die beseitigt werden soll, recht klar: Anne Frank wurde, anders als Zlata, nicht durch die Intervention von Zeitungsjournalisten und Fernsehkameraleuten von ihren Leiden erlöst; und als sie noch nicht einmal sechzehn war, wurde die Autorin des berühmten Tagebuches in Bergen-Belsen ermordet. Dies ist jedoch für die meisten Menschen nicht ein ohne weiteres willkommenes Bild von dem jungen Mädchen, für Menschen, die viel lieber ihren „Mut“, ihren „unbezähmbaren Geist“, ihre „Hoffnung für die Menschheit“ und andere eher glückliche und triumphierende Qualitäten hervorheben. Angesichts ihrer neuen Karriere als eine Kultur-Ikone sind das genau die Qualitäten, wegen derer die Welt Anne Frank so liebt, und die ihr in hohem Maße posthume Huldigung und Ruhm eingebracht haben. Dieser Ruhm ist jedoch auf Kosten der historischen Wahrheit erkauft worden; denn die Anne Frank, die als inspirierende Figur in der landläufigen Phantasie weiterlebt, ist eine grob karikierte Version des Mädchens, das von den Nazis gehetzt und in einen unzeitigen und grauenhaften Tod getrieben wurde. Wer aber will die Anne Frank wirklich betrachten, die tot unter den Zehntausenden anderer anonymer Juden in Bergen-Belsen liegt, wenn er stattdessen beim Anblick des hübschen Gesichts von Millie Perkins, die auf dem Fernsehschirm das ewig vor Lebenslust sprühende junge Mädchen spielt, wohlige Nervenkitzel erlebt? Trotz all ihrer liebenswerten Qualitäten bleibt Anne Frank letztlich das jugendliche Opfer – unter Millionen anderer Opfer – der mörderischen anti-jüdischen Gewalt. Das jedoch ist die am wenigsten akzeptable Tatsache an ihr. Und so macht sie schon sehr lange einen Prozess der metaphorischen Transformation durch, der sie schließlich symbolisch zum Leben als „Überlebende“ wiedererweckt hat. Nach der Terminologie dieser Phantasie lebt ihr „Geist“ weiter und findet seine ReinkarDie Rhetorik der Viktimisierung  | 47

nation in anderen, die ihre Tradition des Mutes und der Lebensbejahung angesichts der schlimmsten Lebensbedrohungen weiterführen. Bezeichnenderweise wird dabei beabsichtigt, dass man, immer wenn Anne Franks Stimme beschworen wird – so wie in der Werbung für Zlatas Tagebuch –, darin all das vernehmen soll, was geeignet ist, sich gegen alle Widrigkeiten durchzusetzen – eine unzerstörbare Unschuld sowie eine alles übersteigende Weisheit und hoffnungsvolle Zuversicht –, und nicht die Agonie des letzten Todesröchelns. Wie einer ihrer zahllosen Verehrer erklärt, ist die Anne Frank, die wir im Gedächtnis haben, „jene großartige junge Frau mit dem übermenschlichen Glauben an das Gute und Gerechte im Leben“.10 Wenn man sie mit dieser Terminologie wieder ins Gedächtnis ruft – oder, wie man sich oft ausdrückt, wenn man damit „ihren Geist entfaltet –, dann ist das etwas typisch Amerikanisches: nämlich positiv, lebensbejahend, aufbauend, optimistisch zu sein. Aber genau die Tatsache, dass man sich ihrer und zahlloser anderer in einer solchen auf Trost abzielenden Weise erinnert, führt dazu, dass Anne Franks Stimme und die Gesamtheit der Stimmen der anderen jüdischen Opfer des Völkermordes durch die Nazis mit der Zeit immer weniger gehört werden. In einem berühmten Aufsatz, geschrieben vor fast fünfzig Jahren, „A Plea for the Dead“ („Ein Plädoyer für die Toten“), vertritt Elie Wiesel die Auffassung, dass es besser sei, „die Toten ruhen zu lassen“, als ihr Andenken durch oberflächliches Geplauder und durch andere Formen pietätlosen Wachrufens zu trivialisieren. Wiesels Plädoyer war leidenschaftlich, ausgelöst von dem Gefühl, dass die Popularisierung des Holocaust sehr schnell von seiner Trivialisierung begleitet werden würde. Er hatte Recht damals, und heute hat er umso mehr Recht, aber wir sind wohl alle weit über den Punkt hinaus, bis zu dem solche Ermahnungen wahrscheinlich noch gehört worden wären. Die Toten sind nicht in Ruhe gelassen worden; man hat sie aber auch weder in der gebotenen Art und Weise betrauert, noch hat man ihrer ehrlich gedacht. Aufgrund der popularisierenden Verbreitung der Darstellungsformen des Holocaust durch all die Medien der gängigen Kultur sind Hitlers Opfer zurückgekehrt, um einen herausragenden Platz im heutigen Bewusstsein einzunehmen. Das ist jedoch in einer Art und Weise geschehen, die ihr wahres Schicksal oft entstellt und banalisiert. Während also der Begriff der Viktimisierung an die vorderste Stelle gerückt wurde, ist die Aufmerksamkeit häufig weg von den tatsächlichen Opfern des Nazi-Völkermordes und hin auf die Instrumentalisierung ihres Andenkens für persönliche, kommerzielle oder politische Zwecke gelenkt worden. In einigen der folgenden Kapitel wird ausführlich dargelegt, wie sich dieses Phänomen in der amerikanischen Kultur herausgebildet hat und wie einige der Konsequenzen aussehen. Aber zur weiteren Illustration des Phänomens ist es von Nutzen, hier noch zwei Beispiele anzuführen. Das erste Beispiel ist in Gedichtform, „An

10 Cara Wilson, Love, Otto: The Legacy of Anne Frank (Kansas City: Andrews and McMeel, 1995), 96.

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American Holocaust“ („Ein amerikanischer Holocaust“), geschrieben von dem zeitgenössischen Dichter Louis Daniel Brodsky.11 Es beginnt mit diesen Zeilen: Der Schmerz, wenn meine Kinder mir entrissen werden, ist viel qualvoller, als wenn ich eingehüllt werde von einem bleich-heißen Aschenregen, der von Bergen-Belsens Schornsteinen unaufhörlich in ein gasgefülltes Himmelsgewölbe hinaufbrüllt. …

Der „Schmerz“, den der Dichter in diesen Zeilen beschreibt, ist der, der durch die gerichtlich angeordnete Trennung von den Kindern ausgelöst wurde. Ohne Zweifel ist eine solche Trennung schmerzvoll, aber unter Berücksichtigung der üblichen Bedingungen der Scheidungsregelungen in Amerika wird der Schmerz fast immer durch das elterliche Besuchsrecht gemildert. Ein solches familiäres Auseinanderbrechen mit dem Schicksal derer zu vergleichen, die in den Krematorien der Konzentrationslager der Nazis endeten, bedeutet, sich einer rhetorischen wüsten Wildheit hinzugeben, die ganz einfach die Glaubwürdigkeit jedes derartigen Gedichtes untergräbt. Und noch darüber hinaus zu gehen, indem der Dichter hinzufügt, dass sein Schmerz noch „qualvoller“ sei als der der Holocaust-Opfer, überschreitet die Grenzen der rhetorischen Freiheit und verweist auf einen Geisteszustand, der dem Wahnsinn ähnelt. Es ist einfach unsinnig, wieder in die Sprache zu verfallen, die sich auf den Holocaust bezieht, um über die Unbill zu sprechen, die schließlich eine ganz alltägliche amerikanische Erfahrung geworden ist. Dennoch ist der Dichter gnadenlos in seinem fieberhaften Bestreben, sich mit nichts Geringerem zufriedenzugeben als mit der extremsten der historischen Andeutungen, um damit die kummervolle Notlage seiner Ehescheidung zu illustrieren. Und so endet das Gedicht, wiederum mit einer Bezugnahme auf die Trennung von seinen Kindern: Aber der größte Schmerz ist, sie zu sehen aus der Ferne, die nicht einmal die Phantasie überbrücken kann wegen des dichten Zaunes, den meine Frau errichtet und zusammengefügt hat mit Nazi-Feindschaft, und sich die Kinder vorzustellen, wie sie in der Stacheldraht-Rache meiner Frau zugrundegehen.

Die Aussage, „An American Holocaust“ sei nur ein schlechtes Gedicht, wäre viel zu wenig. Denn das, was es zu einem schlechten Gedicht macht – unter anderem seine völlig unverhältnismäßige Verknüpfung von persönlichem Schmerz mit dem Leiden, das durch eines der entsetzlichsten Verbrechen der Geschichte des 20. Jahrhunderts verursacht wurde –, ist symptomatisch für einen bestimmten Gedankengang, der in der heutigen amerikanischen Kultur inzwischen allzu vertraut geworden ist. Ein solches Denken sucht eine individuelle Notlage oder die einer Gruppe dadurch 11 Louis Daniel Brodsky, Gestapo Crows: Holocaust Poems (St. Louis, Missouri: Time Being Books, 1992), 100. Die Rhetorik der Viktimisierung  | 49

zu vergrößern, dass es sie mit den allerschlimmsten Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts vergleicht. So behandelt die Ehefrau in Brodskys Gedicht den der Kinder beraubten Vater nicht nur kalt oder grausam, sondern mit nichts Geringerem als mit „Nazi-Feindschaft“. Und es reicht auch nicht, dass die Kinder von ihrem Vater weggenommen worden sind, sondern er stellt sie sich vor als Eingeschlossene in der Umzäunung der „Stacheldraht-Rache“ ihrer Mutter. In „An American Holocaust“ kommt alles vor außer Hitlers Schnurrbart und dem Brandzeichen des Hakenkreuzes; es ist ein Gedicht, dessen unmäßige Verrenkungen, einen emotionalen Effekt zu erreichen, mehr als nur anstößig sind. Sie sind unverantwortlich und doch – leider muss man das sagen – auf eine Art und Weise unverantwortlich, die allzu vertraut ist. Damit, dass die Vorstellungskraft inzwischen fest im Griff einer Art moralischer Hysterie ist, ist der Exzess ansteckend geworden. Man betrachte Betty Friedans Reflexionen über die Nachkriegssituation amerikanischer Hausfrauen, so wie sie sie in ihrem einflussreichen Buch, The Feminine Mystique (1963) (deutsch: Der Weiblichkeitswahn [1966]), dargelegt hat: In einem gewissen Sinne, der nicht so weit hergeholt ist, wie er klingt, sind die Frauen, die sich in die Rolle der Hausfrauen „schicken“, die aufwachsen und „nur Hausfrau“ sein wollen, in genauso großer Gefahr wie die Millionen, die in den Konzentrationslagern in den Tod gingen –, und wie die weiteren Millionen, die die Existenz der Konzentrationslager leugneten. Es gibt tatsächlich eine unheimliche, unbehagliche Einsicht in das Problem, warum eine Frau bei gewissen psychologischen Beobachtungen des Verhaltens von Gefangenen in Nazi-Konzentrationslagern so leicht ihr Selbstwertgefühl als Hausfrau verlieren kann. In dieser Umgebung, die mit Absicht für die Entmenschlichung des Menschen ersonnen worden war, wurden die Gefangenen buchstäblich „wandelnde Leichen“. Diejenigen, die sich den Lagerbedingungen „anpassten“, gaben ihre menschliche Identität auf und gingen fast gleichgültig in den Tod. Seltsamerweise waren die Bedingungen, die die menschliche Identität so vieler Gefangener zerstörte, nicht die Tortur und die Brutalität, sondern sie waren denen ähnlich, die die Identität der amerikanischen Hausfrau zerstören. … Man sagte …, dass nicht die SS, sondern die Gefangenen selbst ihr größter Feind wurden. Weil sie es nicht ertragen konnten, ihre Situation so zu sehen, wie sie wirklich war – weil sie sogar die Wirklichkeit ihres Problems leugneten und sich schließlich an das Lager selbst „anpassten“, als ob dies die einzige Realität wäre –, waren sie gefangen in dem Gefängnis ihres eigenen Denkens. … All das scheint furchtbar weit entfernt von dem bequemen Leben einer amerikanischen Hausfrau am Stadtrand zu sein. Aber ist ihr Haus [nicht] in Wirklichkeit ein komfortables Konzentrationslager?12

„In Wirklichkeit“ ist ihr Haus das keineswegs, und ein klar denkender Mensch weiß, dass der Vergleich töricht ist. Wie im Falle von Brodskys „An American Holocaust“, so geht das, was wir in Friedans Buch vor uns haben, über das nur exzessive Denken hinaus in Richtung auf die völlige Ausschaltung der Vernunft selbst. Denn niemand, der überhaupt klar denkt, kann irgendeine Verbindung „in Wirklichkeit“ zwischen der Nachkriegssituation einer amerikanischen Hausfrau der Mittelschicht – ganz gleich wie öde sie ihr Dasein empfindet – und der Kriegs12 Betty Friedan, The Feminine Mystique (New York: W.W. Norton & Company, 1963), 305–307.

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situation von Gefangenen in den Nazi-Lagern sehen. Wie lässt sich eine solche Verwirrung erklären? Wie Christopher Lasch und andere gezeigt haben, hat sich während der letzten Jahrzehnte innerhalb der amerikanischen Gesellschaft allmählich eine Politik des Leidens und der Viktimisierung entwickelt, eine Politik, deren Verfechter die alles durchdringende Präsenz der Darstellungsformen des Holocaust dazu benutzen, um für sich eine gewisse moralische Überlegenheit aufzubauen, die die Opfer in unserer Gesellschaft inzwischen genießen. Ein Kommentator drückt es so aus: Paradoxerweise beschäftigt sich unsere Zeit, die das persönliche Glück als universelles Ziel proklamiert, nicht nur mit gewissen Formen des Leidens – dabei kann sich sogar Verzweiflung darüber aufdrängen –, sondern sie sieht, ideologisiert und politisiert in immer höherem Maße gewisse Formen des Leidens und gewisse Typen von Opfern, die sie dann als berechtigt, schick und sogar als offiziell anerkannt betrachtet. [Dadurch] wird das Leiden zu einer moralischen Identität und zu einer Basis für politische Ansprüche.13

Der Philosoph Tzvetan Todorov führt diese Einsichten noch weiter: Welches Vergnügen findet man daran, Opfer zu sein? Keines; aber wenn niemand ein Opfer sein will, dann will aber jeder eines gewesen sein. … Wenn man Opfer war, dann hat man das Recht, sich zu beklagen, zu protestieren und Forderungen zu stellen. … Die Privilegien eines solchen Menschen sind permanent. Was hierbei für Individuen gilt, das gilt in höherem Maße für Gruppen. Wenn es jemandem gelingt, den überzeugenden Nachweis zu erbringen, dass die Gruppe Sound-So in der Vergangenheit Opfer eines Unrechts geworden ist, dann eröffnet das der Gruppe in der Gegenwart unerschöpflichen Vertrauensvorschuss. … Statt dass man darum kämpfen muss, ein Privileg zu erhalten, bekommt man es automatisch dadurch, dass man zu einer früher benachteiligten Gruppe gehört. Daher kommt dann das fieberhafte Konkurrenzdenken, und zwar nicht, wie in internationalen Handelsbeziehungen, in Bezug auf den Status als „meistbegünstigtes Land“, sondern auf den Status als am meisten benachteiligte Gruppe. … „Was sind sechs Millionen tote Juden, und dazu noch jenseits unserer Grenzen?“ fragt Louis Farrakhan, der Führer der Neureligion Nation of Islam, „Der Holocaust an den Farbigen war hundertmal schlimmer als der Holocaust an den Juden“.14

Solche manipulativen Strategien neigen fast immer zu rhetorischen Extremen; und in unserem ererbten Vokabular zum Ausdruck menschlichen Leidens und Schmerzes gibt es kein anderes rhetorisches Mittel als jenes, das sich von dem Nazi-Holocaust an den Juden ableitet. Indem sie sich aber mit dieser Terminologie als „Opfer“ hochstilisieren, machen Autoren wie Filipović, Brodsky und Friedan sowie Demagogen wie Louis Farrakhan ihr eigenes Anliegen nicht nur unglaubwürdig, sondern sie tun unserem Sprachgebrauch und unserem Geschichtsbewusstsein etwas an, was in höchstem Maße rücksichtslos ist. Denn wenn jeder zu einem „Opfer“ erklärt wird – überdies zu einem „Opfer“ auf derselben Stufe wie die Opfer des Nazi-Völkermordes oder sogar darüber hinaus –, dann wird der bloße Begriff „Opfer“ von 13 Amato, Victims and Values, xvii, xxiii. 14 Tzvetan Todorov, „The Abuses of Memory“, übers. Mei Lin Chang, Common Knowledge 5 (Frühjahr 1996), 24. Die Rhetorik der Viktimisierung  | 51

jeder Eigenbedeutung entleert, die er auf dem Hintergrund der Vergangenheit einst mitgeführt hat. So aber soll ein geschiedener Ehemann, der seine Kinder vermisst, „einen amerikanischen Holocaust“ durchmachen; Hausfrauen der Mittelschicht, die in ihrer Stadtrandwohnung verkümmern, sollen ihren ganz eigenen „Völkermord“ erleiden; und während Zlata Filipović ihr Kriegstagebuch in Gegenwart von Journalisten und Fernsehkameraleuten schreibt, wird sie austauschbar mit Anne Frank. Die Vergangenheit wird durch ihre neuen Verkörperungen neutralisiert, und schließlich wird die Wirklichkeit selbst auf wenig mehr als eine Redewendung reduziert, und zwar dergestalt, dass der bloße Ausdruck „in Wirklichkeit“ nur ein rhetorisches Füllwort wird. Anne Frank und die anderen Opfer des Nazi-Völkermordes werden, so kann man zusammenfassend sagen, ein weiteres Mal zu Opfern, wobei sie diesmal einer neuen Mystik der „Viktimisierung“ zum Opfer fallen. Recht bald werden Menschen, die die Sprache der inzwischen fest verwurzelten Opferkultur vielleicht nicht bewusst manipulieren wollen, eben selbst davon manipuliert; und sie können dann leicht unter dem Eindruck sein, dass sie selbst in der Situation des Leidens und Schmerzes gefangen sind, die ihre wirkliche Situation höchstwahrscheinlich bei weitem übertrifft. Es ist genau diese unbewusst überzogene Assoziation, die das vertraute Phänomen erklären kann, nämlich die Tatsache, dass junge Mädchen sich sofort mit Anne Frank „identifizieren“ und ihr eigenes Lebensschicksal immer mehr auf derselben Ebene sehen wie das der Anne Frank. Diese Erscheinung hat den Ausdruck „Holocaust“ in seiner Anwendung dann eben auch so verformbar werden lassen, dass er als Ausdruck historischer Bezugnahme manchmal bedeutungslos wird. Das Gefühl der Schmach, das mit dem entsetzlichen Leiden der Juden und dem Massenmord an ihnen für immer verknüpft sein sollte, wird durch einen neuen gesellschaftlichen Mythos, den Mythos eines universellen „Auschwitz“, zum Verschwinden gebracht, der aus uns allen Opfer oder potenzielle Opfer macht. An dem Punkt, an dem wir alle „Anne Frank“ werden, wird Anne Frank selbst der Geschichte entzogen, und sie beginnt, in eine Metapher hinein zu entschwinden. Wie sich das in der Weise entwickelt hat, wird im Kapitel 4 gezeigt. Zunächst aber ist es notwendig, gewisse Entwicklungen innerhalb der amerikanischen Kultur etwas genauer zu betrachten, die die Art und Weise beeinflussen, wie man hierzulande den Holocaust, so wie er wirklich war, sieht oder wie man daran gehindert wird, ihn so zu sehen.

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Kapitel 2

Kapitel 3

Die Amerikanisierung des Holocaust

Wenn man auf die Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges zurückblickt, fragt man sich: Was ist es eigentlich, was die meisten Menschen sehen, und wie verstehen sie es? In seinem Bemühen, Antworten auf solche Fragen zu finden, führte das American Jewish Committee (Amerikanisch-Jüdisches Komitee) in den neunziger Jahren eine Reihe von Untersuchungen durch, um festzustellen, was die Menschen in mehreren unterschiedlichen Ländern – darunter waren die Vereinigten Staaten, Frankreich, Deutschland und Großbritannien – über den Holocaust wissen.1 Die Ergebnisse waren nicht gerade ermutigend, besonders im Hinblick auf den historischen Wissensstand der Amerikaner. Auf die Frage „Worauf bezieht sich der Ausdruck ‚der Holocaust‘?“ wussten 38 % der amerikanischen Erwachsenen und 53 % der Schüler von höheren Schulen entweder gar nichts, oder sie gaben falsche Antworten. Ein noch höherer Anteil der amerikanischen Erwachsenen (65 %) und der Schüler von höheren Schulen (71 %) schien nicht zu wissen, dass etwa sechs Millionen Juden von den Nazis und ihren Helfershelfern umgebracht worden sind. Bei Nennung der Namen „Auschwitz, Dachau, und Treblinka“ erkannten 38 % der Erwachsenen und 51 % der Schüler nicht, dass diese Namen sich auf Konzentrationslager beziehen. Weiterhin wussten 59 % der Erwachsenen und derselbe Anteil der Studenten nicht, dass das Symbol, das die Juden während des Krieges zwangsweise tragen mussten, der gelbe Stern war. Es wundert dann nicht, dass die Wissenschaftler, die diese Untersuchung durchführten, daraus schlossen, dass „sowohl bei den Erwachsenen als auch bei den Jugendlichen in Amerika eine bedenkliche Wissenslücke in Bezug auf elementare Informationen über den Holocaust existiert“.2 Die Europäer schneiden besser ab, wobei Erwachsene und Schüler in Deutschland die höchste Punktzahl unter den befragten Bevölkerungsgruppen der verschiedenen Länder erreichten. Aber dann stellt man ein scheinbares Paradoxon fest; denn während 1 Diese Untersuchungen, von denen die erste 1993 erschien, wurden vom American Jewish Committee als eine Serie von „Working Papers on Contemporary Anti-Semitism“ veröffentlicht. Unter den Beiträgen sind folgende: What Do Americans Know about the Holocaust? (1993), What Do the British Know about the Holocaust? (1993), What Do the French Know about the Holocaust? (1994), What Do Australians Know about the Holocaust? (1994), Current German Attitudes toward Jews and Other Minorities (1994), und Holocaust Denial: What the Survey Data Reveal (1995). Die Beiträge sind erhältlich vom American Jewish Committee, 165 East 56th Street, New York, NY 10022–2746. 2 Jennifer Golub und Renae Cohen, What Do Americans Know about the Holocaust? (New York: The American Jewish Committee, 1993), 13. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 53

die Amerikaner am allerwenigsten über den Holocaust wissen, sind sie es, die sich dafür am meisten interessieren; dabei haben prozentual sehr viele Befragte geantwortet, dass sie es für „wesentlich“ oder „wichtig“ halten, dass die Amerikaner etwas „über den Holocaust wissen und das Geschehen verstehen“.3 Angesichts des erschreckend niedrigen Wissensstandes und des wenig vorhandenen Verständnisses kann man fragen, warum diese Amerikaner – von denen nur 21 % erkannten, dass das „Warschauer Ghetto“ etwas mit den Nazi-Verbrechen gegen die Juden zu tun hatte – den Holocaust als „relevant“ für die heutige Zeit betrachten und entschieden die Meinung vertreten, dass die Amerikaner darüber Bescheid wissen sollten.4 Es ist nicht angebracht, in einen leichtfertigen Zynismus zu verfallen und anzudeuten, dass sie „andere“ Amerikaner meinen; denn zweifellos schließen sie sich selbst in diesen Befund mit ein. Was für ein Befund ist das aber, wenn Menschen, die so wenig über ein Geschehen wissen, das so bedeutungsschwer ist wie der Holocaust, erkennen lassen, dass sie sich sehr dafür interessieren? Diese Frage zieht eine ganze Reihe von ähnlichen Fragen nach sich: Was verstehen die Amerikaner überhaupt unter dem Holocaust, und wie sind sie zu diesem Begriffsinhalt gekommen? Welche Informationsquellen über den Holocaust haben sie, und welche Vorstellung vermitteln ihnen diese Quellen? Zusammengefasst: Wie kommen sie zu der Kenntnis darüber, was sie wirklich wissen, was auch immer es sei? Einige Antworten auf diese Fragen sind bereits in den vorangegangenen Kapiteln gegeben worden; aber wir müssen noch tiefer gehen. Ehe wir zu einer Betrachtung der Frage übergehen, wie die Amerikaner eine Kenntnis und ein Verständnis des Holocaust erworben haben, ist es nützlich, einige eher allgemeine Überlegungen anzustellen. Dank der wertvollen Arbeit unzähliger Historiker und anderer besitzen wir heute sehr viele Informationen über das Schicksal der Juden in Europa während des Dritten Reiches. So ist das Verbrechen, das wir nun den Holocaust nennen, eines der am häufigsten dokumentierten Verbrechen der Geschichte. Dennoch stellt es immer noch ein schwerwiegendes Verständnisproblem dar. Warum ist das so? Zum Teil liegt das an dem entsetzlichen Charakter der Nazi-Gewalttaten an den Juden, des geplanten Völkermordes, dessen Umfang und dessen Brutalität die Grenzen der Vorstellungskraft der meisten Menschen übersteigen. Es ist sehr schwer, die dieser Raserei zugrundeliegenden Absichten zu begreifen, und genauso schwer, den diese Raserei treibenden unkontrollierten emotionalen Ausbruch zu verstehen, das System, das all das trug, und die Menschen, die dem mörderischen Zweck dienten. Wenn man all das einräumt, dann heißt das aber nicht, dass es irgendetwas grundsätzlich „Irreales“ oder Jenseitiges am Holocaust gäbe. Der Holocaust war schon ein allzu reales historisches Geschehen, aber eines von einem beispiellosen Charakter, wodurch es sich dem unmittelbaren Begreifen im Rahmen der allge3 Ebd., 38–40. 4 Tom W. Smith, Holocaust Denial: What the Survey Data Reveal (New York: The American Jewish Committee, 1995), 31.

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Kapitel 3

mein akzeptierten Kategorien der historischen Erklärung entzieht. Zu diesen Problemen der Unbegreiflichkeit kommt ein weiteres, das damit zu tun hat, wie sich die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen innerhalb der verschiedenen nationalen Kulturen darstellt. Die Forderung, das Geschehen im Gedächtnis zu behalten, ist eine Konstante in praktisch jedem Werk, das den Holocaust belegt und gedanklich verarbeitet; aber die Frage, was im Gedächtnis behalten werden soll, ist aufs engste mit der Frage verknüpft, wer dies tun soll, und auch mit den kulturellen Prioritäten und Einflussnahmen, die das historische Gedächtnis überhaupt erst bestimmen oder eben auch behindern. Der Terminus „historische Erinnerung“ ist allgemein gebräuchlich, dennoch wird, wie oben erwähnt, für die meisten Menschen die Wahrnehmung der NaziVerbrechen gegen die Juden weniger von den Berichten über die Ereignisse, die von professionellen Historikern erarbeitet worden sind, geformt als vielmehr von indivuellen Geschichten und Bildern, die uns von populäreren Autoren, Künstlern, Filmregisseuren, Fernsehproduzenten, politischen Persönlichkeiten usw. erreichen. In den früheren Kapiteln haben wir schon einige Beispiele einer solchen Popularisierung gesehen und einige ihrer Folgen betrachtet. Weitere Beispiele werden in diesem und in den folgenden Kapiteln aufgeführt. Alle weisen auf dieselbe Wahrheit: Wir leben in einer Massenkultur, und vieles von dem, was wir über die Vergangenheit erfahren, kommt zu uns über diese Kommunikationsformen, die zu den Informations- und Unterhaltungs-Netzwerken dieser Kultur gehören. Um das zu illustrieren, sei auf den erwähnenswerten Umstand hingewiesen, dass mehrere zehn Millionen Amerikaner das von der NBC (National Broadcasting Company) ausgestrahlte Dokudrama Holocaust gesehen haben; diese populäre Fernseh-Miniserie wurde zuerst im Frühjahr 1978 gezeigt. In jüngerer Zeit hat eine noch größere Anzahl von Zuschauern Steven Spielbergs Schindlers Liste gesehen. Es tut dem wissenschaftlichen Wert eines Werkes wie etwa der maßgebende Untersuchung The Destruction of the European Jews (Die Vernichtung der europäischen Juden) von Raul Hilberg durchaus keinen Abbruch, wenn man anerkennt, dass höchstwahrscheinlich weitaus mehr Menschen etwas über die Judenverfolgung durch die Nazis aus diesen Filmen oder durch die Lektüre von Anne Franks Tagebuch oder von Art Spiegelmans Maus erfahren als durch die Lektüre von Hilbergs Werk. Welche Schlüsse könnte man aus diesen Tatsachen ziehen? Es sind die offensichtlichen: Die historische Erinnerung in einer gängigen Kultur wird hauptsächlich von gängigen Darstellungsformen bestimmt. Deshalb ist es notwendig, wenn man wirklich verstehen will, wie die Amerikaner zu ihrer Sichtweise in Bezug auf den Holocaust gekommen sind, sich zuallererst den Autoren und Künstlern zuzuwenden, mit deren Werken die meisten Menschen konfrontiert werden. So hat z. B. William Shirers The Rise and Fall of the Third Reich (Aufstieg und Fall des Dritten Reiches) als Geschichtswerk nicht die Autorität der von akademischen Historikern verfassten besten Bücher über Nazi-Deutschland. Dennoch war das Buch zu seiner Zeit außerordentich populär und wird immer noch von sehr vielen gelesen. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 55

Wenn man die Bücher identifizieren will, die dazu beigetragen haben, das gängige Verständnis der Nazi-Ära zu formen, dann hat Shirers Werk seinen Platz ziemlich oben auf der Liste und muss ernst genommen werden.5 Man muss auch erkennen, dass mehr als 65 Jahre nach der Niederlage NaziDeutschlands und der Befreiung der Todeslager weiterhin Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, wie der Holocaust zu begreifen ist und auf welche Weise man sich an ihn erinnern soll. In seinem ältesten und maßgebenden Begriffsinhalt z. B. bezeichnet „Holocaust“ den Tod von etwa 6 Millionen Juden im von den Nazis besetzten Europa.6 Simon Wiesenthal und diejenigen, die sich ihm in diesem Punkt anschließen, haben jedoch diese Zahlen in Frage gestellt und sprechen sich hinsichtlich der Opfer der Nazi-Verbrechen für eine Erweiterung des Begriffes aus. Sie verweisen auf 11 Millionen Tote.7 Diese Diskrepanz der Zahlen ist etwas, was man nicht einfach abtun kann; denn sie spiegelt eine erhebliche begriffliche Unstimmigkeit darüber, was der Holocaust überhaupt war und wer zu seinen Opfern gehört – nur die Juden oder alle diejenigen, die unter der Nazi-Tyrannei umkamen, einschließlich der polnischen politischen Gefangenen, der Sowjet-Soldaten, der Sinti und Roma, der Homosexuellen, der Körperbehinderten, der geistig Behinderten, der Zeugen Jehovas 5 Zu einer ausgezeichneten Untersuchung dieses Themas siehe Gavriel D. Rosenfeld, „The Reception of William L. Shirer’s The Rise and Fall of the Third Reich in the United States and West Germany, 1960–1962“, Journal of Contemporary History 29 (1994): 95–128. 6 Die genaue Zahl der umgebrachten Juden ist unbekannt und wird vermutlich nie genau bekannt sein. Raul Hilberg hat die Zahl von etwa 5,1 Millionen angegeben; Lucy Dawidowicz schätzte sie auf 5933900; Martin Gilbert auf 5,75 Millionen; die Encyclopedia of the Holocaust gibt als Minimalzahl 5596000 und als Maximalzahl 5860000; und Wolfgang Benz setzt als Minimum 5290000 und als Maximum über 6000000. Da bisher unzugängliches Archivmaterial in der früheren Sowjetunion Wissenschaftlern jetzt zur Verfügung steht, müssten diese Zahlen wahrscheinlich revidiert werden, und zwar aufgrund früherer Hinweise wohl nach oben. Einige dieser Zahlen und eine kompetente Erklärung dafür, wie man zu diesen Zahlen gekommen ist, findet sich in Frantiszek Piper, „The Number of Victims“, Anatomy of the Auschwitz Death Camp [Titel kursiv], hg. Yisrael Gutman und Michael Berenbaum, 61–76 (Bloomington: Indiana University Press, 1994). 7 Nach Ansicht von Yehuda Bauer ist die Position Wiesenthals sowohl historisch als auch begrifflich erheblich fehlerhaft: „Offensichtlich ist es kein Geringerer als Simon Wiesenthal, … der die Zahl ‚11 Millionen‘ erfunden hat, die ein Hauptschlagwort bei der Leugnung der Einzigartigkeit dessen ist, was den Juden widerfahren ist. Wiesenthal macht die Runde auf diesem und jenem Universitäts-Campus und bei jüdischen Gemeinden und sagt, der Holocaust sei die Ermordung von 11 Millionen Menschen gewesen – die 6 Millionen Juden und 5 Millionen Nicht-Juden, die in den Nazi-Lagern umgebracht worden seien. Rein historisch betrachtet ist das schlichtweg Unsinn. Die Gesamtzahl der Menschen, die während der Kriegszeit in den Konzentrationslagern starben – außer Juden und Roma bzw. Sinti – war etwa eine halbe Million, vielleicht auch etwas höher. Andererseits kann die Gesamtzahl der nicht-jüdischen Zivilopfer während des Krieges, die durch die Nazi-Brutalität umgebracht wurden, nicht geringer sein als 20–25 Millionen. … Vermutlich 2,5 Millionen sowjetische Kriegsgefangene starben in besonderen Lagern, die nicht zu dem Konzentrationslagersystem gehörten (obwohl einige Tausend in Konzentrationslager verbracht wurden, wo sie umgebracht wurden)“. Yehuda Bauer, „Whose Holocaust?“, Midstream 26, Nr. 9 (November 1980): 43.

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Kapitel 3

etc. Außerdem wird heute darüber gestritten, ob der Holocaust als nur ein Beispiel eines größeren Phänomens – nämlich Völkermord – zu verstehen und daher in dem umfassenderen Rahmen staatlich geförderter Massengewalt zu sehen ist, oder ob sein besonderer Charakter den Holocaust zu einem einzigartigen Verbrechen macht, das am besten als eigene Kategorie zu begreifen ist.8 Die einst von vielen geteilte Auffassung, wonach der Holocaust „einzigartig“ war, ist in wissenschaftlichen Kreisen in ähnlicher Weise ausgehöhlt worden, obwohl sie generell bei Menschen außerhalb des universitären Bereiches, zumindest in Nordamerika, noch vorherrscht.9 Man möchte meinen, dass mehr als sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges diese grundsätzlichen Fragen nun geklärt wären, in Wirklichkeit sind sie es aber nicht. Auch gibt es keinen Konsens über irgendeinen einer ganzen Anzahl gleichgelagerter Themenkomplexe. Im Gegenteil, eine vergleichende Untersuchung der historischen Darstellungen in verschiedenen Ländern würde schnell ergeben, dass nationale Mythen und herrschende Ideologien die Erinnerung an die Kriegsjahre in unterschiedlicher und oft scharf gegensätzlicher Art und Weise geformt haben. Während vieler Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellten Besucher der Überreste des Lager-Systems in Auschwitz in Polen fest, dass die Gestaltung des Hauptlagers zum größten Teil mit dem Ziel organisiert war, dem polnischen Nationalinteresse zu dienen. Auschwitz wurde mit dieser Zielsetzung als wichtigste Erinnerungsstätte des Martyriums des polnischen Volkes dargestellt, und erst in neuerer Zeit ist Auschwitz auch als ein Ort gezeigt worden, an dem über eine Million europäischer Juden umgebracht worden sind.10 Überdies kennzeichnen die zahlreichen Kruzifixe, die der Besucher in Auschwitz-Birkenau und anderen früheren Nazi-Todeslagern manchmal sehen kann, diese Orte in symbolischer Weise als christliche Begräbnisstätten. Die Tatsache, dass die größte Anzahl an Opfern Juden waren – mindestens 90 % derer, die in Auschwitz-Birkenau ermordert wurden, waren Juden –, mag für Besucher dieser früheren Mordzentren, die dieses Wissen nicht mitbringen, nicht erkennbar sein. Und Polen ist keineswegs ein einmaliges Vorkommen dieses Phänomens. Jahrzehnte lang weigerten sich die Russen, die jüdischen Toten an Orten wie Babi   8 Zu einer gut zugänglichen Zusammenfassung dieser Argumente siehe A. Dirk Moses, „The Holocaust and Genocide“, in The Historiography of the Holocaust, hg. Dan Stone (New York: Palgrave Macmillian, 2004), 533–555; siehe auch Dan Stone, History, Memory, and Mass Atrocity: Essays on the Holocaust and Genocide (London: Vallentine Michell, 2006) und, von demselben Autor, Constructing the Holocaust: A Study in Historiography (London: Vallentine Michell, 2003), Kapitel 5.   9 Siehe Gavriel D. Rosenfeld, „The Politics of Uniqueness: Reflections on the Recent Polemical Turn in Holocaust and Genocide Scholarship“, Holocaust and Genocide Studies 13, Nr. 1 (1999): 28–61. 10 Siehe Auschwitz: A History in Photographs, hg. Jonathan Webber, Teresa Swiebocka und Connie Wilsack (Bloomington: Indiana University Press, 1993); die Beiträge in diesem Band spiegeln eine deutliche Änderung der polnischen Haltung zu Auschwitz wider. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 57

Yar angemessen zu würdigen; statt dessen haben sie unterschiedslos all derer gedacht, die als „Opfer des Faschismus“ während des Großen Vaterländischen Krieges umkamen. In Deutschland ist darüber diskutiert worden, ob die Verbrechen, die vor drei Generationen von Deutschen begangen wurden, ein einzigartiges Kapitel in der Geschichte darstellen, oder ob man sie vergleichen kann mit anderen barbarischen Untaten und Massenmorden im 20. Jahrhundert, so wie etwa mit den Verbrechen Stalins. Diejenigen in Deutschland, die diese letztere Auffassung teilen, streben eine „Normalisierung“ der Nazi-Verbrechen an, indem sie sie in eine umfassendere Geschichte der Brutalität und des Massenmordes einbinden; ein Schritt, der den Effekt haben kann, dass der einzigartige kriminelle Charakter des deutschen Nationalsozialismus in einem Rahmen von Begrifflichkeiten wie „Totalitarismus“, „Faschismus“ etc. untergeht. Neben dieser Debatte unter Historikern hat sich eine neue und verstärkte Hinwendung zu der Rolle von Deutschen, die gegen die Tyrannei des Dritten Reiches Widerstand geleistet haben, herausgebildet sowie auch zu den Menschen, die – insbesondere in den östlichen Landesteilen – durch die alliierten Bombenangriffe umkamen oder in großer Zahl aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Mit den Jahren haben sich daher viele Deutsche von einer wie auch immer gearteten Identifikation mit den Tätern distanziert und sind zunehmend dazu übergegangen, sich selbst als „Opfer“ zu betrachten. In dieser Verlagerung der psychologischen Rollen und der moralischen Verantwortung sind ihnen die Österreicher sogar vorangegangen, die sich schon vor langer Zeit als die ersten „Opfer“ des Dritten Reiches hochstilisiert haben. Erst vor kurzem und auch mit merklicher Zurückhaltung ist den Österreichern langsam die Einsicht gekommen, dass sie durchaus willige Partner ihres Landsmannes Adolf Hitler waren. Auch die Franzosen haben lange eine nationale Abrechnung mit ihrer Vichy-Vergangenheit aufgeschoben, wobei sie äußerst langsam damit waren, sich einigen hässlichen Tatsachen der aktiven französischen Kollaboration mit der Nazi-Regierung zu stellen. Recht spät und auf einen öffentlichen Skandal hin haben die Schweizer inzwischen begriffen, dass ihr Land nicht der neutrale Hafen war, als den es sich üblicherweise immer dargestellt hat, sondern dass das Land durch einige seiner zentralen Institutionen wohl aktiv mit den Nazis paktiert hat. Unter den Niederländern gibt es bis heute diejenigen, die stolz darauf hinweisen, dass es eine kampfbereite Bürgeropposition gegen die deutsche Besatzung ihres Landes gegeben habe – und dies trotz der Tatsache, dass eine beträchtliche Anzahl von Niederländern in einer eigenen Nazi-Partei organisiert waren und mit der deutschen Besatzung Hand in Hand arbeiteten. In Israel sind die Werte des Heldentums und des Widerstandes seit Jahrzehnten konstitutive Elemente des nationalen Holocaust-Gedenkens und werden als positives Gegengewicht den sonst überwältigend negativen Tatsachen der jüdischen Viktimisierung gegenübergestellt. Zusammengefasst: Nationale, kulturelle, ideologische, religiöse und politische Interessen haben die Art und Weise, in der die Geschichte des Zweiten Weltkrieges und die Verbrechen gegen 58 | 

Kapitel 3

die Juden gegenüber der Öffentlichkeit verschiedener Länder dargestellt worden sind, geformt und tun dies noch immer.11 Es gibt keineswegs eine gemeinsame Erinnerung an den Holocaust; statt dessen findet man eine Vielzahl historischer Erinnerungen, die einander oft widersprechen. Die amerikanische Kultur, die selbst dominant in der Formung populärer Vorstellungen ist, ist von diesen Tendenzen nicht ausgenommen. Es ist sogar fast sicher, dass die zukünftige Erinnerung an den Holocaust in hohem Maße durch die Rolle Amerikas, dann auch durch die Rolle Israels, Deutschlands und Polens bestimmt werden wird, und zwar mit der Folge, dass besondere Sichtweisen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust geschaffen werden. Im folgenden möchte ich einige der Quellen untersuchen, die in spezifisch amerikanischer Denkweise zu dem laufenden Prozess der Herausformung eines gedanklichen Bildes und der Darstellung des Holocaust beitragen. Es wird dabei recht bald deutlich werden, dass die Frage, wer genau als „Opfer“ des Holocaust, als „Täter“, als „Überlebender“ etc. anzusehen ist, keineswegs klar oder einfach zu beantworten ist, sondern von einem komplexen Spektrum von kulturellen Einstellungen, politischen Ideologien, religiösen Werten und Ähnlichem abhängt. Diese heute wirksamen Einflüsse auf unsere Wahrnehmung der Vergangenheit zu identifizieren und zu erläutern, ist die Hauptaufgabe dieses Kapitels. Am besten beginnt man mit dem Terminus „Holocaust“ selbst. Obwohl der Ausdruck heute weithin gebraucht wird, hielten die in den Ghettos und Lagern im von den Nazis besetzten Europa sich nicht für Opfer eines „Holocaust“. Die meisten von ihnen benutzten auch nicht Termini wie churban oder shoah, die im heute gängigen Gebrauch manchmal mit „Holocaust“ austauschbar sind. Vielmehr sprachen sie, wenn sie sich in den Jahren unmittelbar nach dem Krieg auf ihr Schicksal bezogen, typischerweise von der „Katastrophe“, der „jüngsten jüdischen Katastrophe“ oder von dem „Unheil“. Diese mehr oder weniger allgemein gehaltenen Termini blieben während der späten vierziger und der frühen fünfziger Jahre dominant, bis dann „Holocaust“ oder „der Holocaust“ gängig wurde und die Konnotationen mitführte,

11 Über die Formung der jeweiligen nationalen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust gibt es inzwischen eine reiche wissenschaftliche Literatur. Unter anderen Werken siehe Peter Baldwin, Hg., Reworking the Past: Hitler, the Holocaust, and the Historians’ Debate (Boston: Beacon Press, 1990); Saul Friedländer, Memory, History, and the Extermination of the Jews of Europe (Bloomington: Indiana University Press, 1993); Charles S. Maier, The Unmasterable Past: History, Holocaust, and German National Identity (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1988); Judith Miller, One, By One, By One: Facing the Holocaust (New York: Simon and Schuster, 1990); Henry Rousso, The Vichy Syndrome: History and Memory in France since 1944 (Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1991); Gavrie D. Rosenfeld, Munich and Memory: Architecture, Monuments, and the Legacy of the Third Reich (Berkeley: University of California Press, 2000); Michael C. Steinlauf, Bondage to the Dead: Poland and the Memory of the Holocaust (Syracuse: Syracuse University Press, 1997); Jeffrey Herf, Divided Memory: The Nazi Past in the Two Germanys (Cambridge Massachusetts: Harvard University Press, 1997). Die Amerikanisierung des Holocaust  | 59

die diese Ausdrücke großenteils bis heute beibehalten haben.12 Elie Wiesel spielte eine herausragende Rolle bei der Verbreitung des Ausdrucks „Der Holocaust“ als passenden Terminus, um die an den Juden begangenen Nazi-Untaten zu bezeichnen, obwohl er den Ausdruck nicht selbst geprägt hat. Dem Gebrauch durch Wiesel und, nach ihm, durch zahllose andere folgend, ist der Terminus „der Holocaust“ als ausschließlich zu verwendender Ausdruck für die Verfolgung der europäischen Juden und den geplanten Völkermord an ihnen bestimmt worden. Wie schon erwähnt, gibt es jedoch andere, die es vorgezogen haben, den Anwendungsbereich des Ausdrucks „Holocaust“ zu erweitern, so dass er all diejenigen einschließt, die durch die Hand der Deutschen und ihrer Helfershelfer gelitten haben und umgekommen sind.13 Die Debatte zwischen denen, die den Terminus „Holocaust“ spezifisch und ausschließlich für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus reservieren, und denen, die für eine viel umfassendere Einbeziehung von Opfergruppen plädieren, geht weiter. Es ist eine Debatte von großer Tragweite; denn im Hinblick auf die Schaffung einer Vorstellung davon, was der Holocaust war, hängt sehr viel von den dabei verwendeten Zahlen und von der Wahrnehmung der Vergangenheit, die diese Zahlen implizieren, ab. Im Anschluss an Simon Wiesenthal z. B. nannte Präsident Carter am Holocaust Remembrance Day (Holocaust-Gedenktag) 1979 11 Millionen Opfer des Holocaust, darunter 6 Millionen Juden und 5 Millionen Nichtjuden.14 In neuerer Zeit wird der Terminus „Holocaust“ von denen benutzt, die die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Verbrechen, die Misshandlungen und die unterschiedlichsten Arten von Leid lenken wollen, die im heutigen Amerika gesellschaftliche Übelstände ausmachen. In den leidenschaftlichen Debatten, die z. B. über Abtreibung in vollem Gange sind, hört man häufig von den „Tötungs12 Zu einer frühen, aber immer noch nützlichen Untersuchung über Herkunft und Wechsel der Terminologie siehe Gerd Kormann, „The Holocaust in American Historical Writing“, Societas 2, Nr. 3 (Sommer, 1972): 251–270; siehe auch Zev Garber und Bruce Zuckerman, „Why Do We Call the Holocaust ‚The Holocaust‘? An Inquiry into the Psychology of Labels“, Modern Judaism 9, Nr. 2 (Mai 1989): 197–212. 13 Zev Garber und Bruce Zuckerman sprechen sich für eine Begriffserweiterung des Ausdrucks „Holocaust“ aus und sind Ziel derselben historischen Kritik, die Bauer an Simon Wiesenthal übt: „[Der Holocaust] wird zu einer Warnung davor, was zu jeder Zeit und an jedem Ort jedem in der Rolle des Opfers oder des Verfolgers zu leicht geschehen kann. Auf diese Weise sollte ‚der Holocaust‘ beschrieben und insbesondere vermittelt werden. … Die Zahl ‚6 Millionen‘, die oft zur Kennzeichnung von ‚der Holocaust‘ herangezogen wird, zeigt das Problem auf, wenn man die Einzigartigkeit und die Idee der Auserwähltheit über das für alle Geltende stellt. Die Wahrheit ist, dass 11 Millionen Menschen von den Nazis in den Konzentrationslagern umgebracht wurden. Fast die Hälfte davon werden in den meisten Charakterisierungen von ‚der Holocaust‘ ausgeschlossen, was zu implizieren scheint, dass der Tod von Nichtjuden nicht so bedeutsam ist wie der von Juden“. („Why Do We Call the Holocaust ‚the Holocaust‘?“, 208). Die Autoren geben keine Quellen an, um ihre Bezugnahme auf „11 Millionen“ Menschen, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden, zu bestätigen; wahrscheinlich nehmen sie Wiesenthal als Autorität dafür. 14 Siehe „Address by President Jimmy Carter“, gedruckt in „President’s Commission on the Holocaust“, 27. September 1979.

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zentren“ reden, in denen ein „Völkermord“ an ungeborenen Baby-„Opfern“ verübt werde. Im Zuge dieser sprachlichen Verschiebung – und die Absicht, weit umfassend zu sein, ist typisch amerikanisch – macht „Holocaust“ oder „der Holocaust“ einen Prozess der Umwandlung eines Eigennamens in einen Gattungsbegriff durch; dies ist eine semantische Verschiebung, die eine ganz wesentliche begriffliche und ideologische Umwandlung bedeutet. Das Ergebnis ist, dass die sprachlichen Termini, die sonst primär zur Bezeichnung der Nazi-Verbrechen gegen die Juden gebraucht wurden, nun auch häufig auf die verschiedensten Formen menschlichen Leidens angewandt werden. In einer Zeit der Globalisierung, die durch ein hohes Maß an Standardisierung gekennzeichnet ist, „dient der Holocaust“, wie Daniel Levy und Natan Sznaider bemerken, „nun als ein universeller ‚Behälter‘ für die Erinnerung an Myriaden von Opfern“ und ist für viele Menschen ein Symbol für die „Verallgemeinerung des Bösen“.15 Es gibt sowohl diejenigen, die sich dieser Tendenz entgegenstellen, als auch die, die sie befürworten. Der israelische Historiker Yehuda Bauer hat sich vehement dagegen ausgesprochen, und zwar mit dem Argument, dass der Holocaust durch den Prozess der Amerikanisierung in Gefahr gerät, de-judaisiert zu werden. Er drückt es so aus: „Im öffentlichen Bewusstsein ist der Terminus ‚Holocaust‘ verflacht worden“, so dass „alles Böse, das irgendjemandem irgendwo zustößt, zu einem Holocaust wird“. Bauer erkennt, dass die semantische Ausweitung des Ausdrucks „Holocaust“ durch eine kognitive Verschiebung begleitet wird, wobei er befürchtet, dass dies zu einem „totalen Missverständnis“ des historischen Geschehens führt, das der Terminus ursprünglich bezeichnen sollte. Wodurch wird diese Entwicklung verursacht? Die Ursachen sind sehr unterschiedlich, aber nach Bauers Ansicht ist vieles davon auf jene Personen zurückzuführen, die mit der Aufgabe betraut worden waren, das United States Holocaust Memorial Museum (Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten) in Washington, D.C., zu gründen. Sie sahen sich nämlich einem schwierigen Dilemma gegenüber, das überdies ein spezifisch amerikanisches ist: „Es war unklar, wie die Einzigartigkeit des Holocaust mit seinen universalistischen Implikationen in Einklang gebracht werden könnte, und zwar so, dass dies mit dem amerikanischen Erbe und der amerikanischen politischen Realität verträglich wäre“.16 Bauer erklärte nicht genau, was das „amerikanische Erbe“ ausmacht, aber jeder, der mit den ideologischen Tendenzen vertraut ist, die die amerikanische politische Kultur beeinflussen, wäre in der Lage, das für ihn zu konkretisieren. Es gehört zum traditionellen mehrheitlich anerkannten amerikanischen Ethos, den Wert des Guten, der Unschuld, des Optimismus, der Freiheit, der Vielfalt und der Gleichheit zu betonen. Es gehört zu demselben Ethos, die dunklen und brutalen Seiten des 15 Daniel Levy und Natan Sznaider, The Holocaust and Memory in the Global Age (Philadelphia: Temple University Press, 2006), 195. 16 Bauer, „Whose Holocaust?“, 42. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 61

Lebens herunterzuspielen bzw. zumindest nicht dabei zu verweilen und statt dessen die bewahrende Kraft des individuellen moralischen Verhaltens und der kollektiven Befreiungstaten stark zu betonen. Die Amerikaner ziehen es im großen und ganzen vor, lebensbejahend und progressiv zu denken. Die tragische Sichtweise steht somit in antithetischem Verhältnis zur amerikanischen Weltanschauung, wonach die Menschen Widrigkeiten überwinden und nicht endlos ihrem Kummer nachhängen sollen. Und weil die Amerikaner auch pragmatisch an die Geschichte herangehen, liegt ihnen sehr viel daran zu erfahren, welche „Lehren“ man aus der Geschichte ziehen kann, damit – wie viele hinzufügen – sichergestellt wird, dass die schlimmsten Exzesse „nie wieder vorkommen“. Kurz: Man sollte aus der Geschichte das nehmen, was man kann, und dann in der Hoffnung auf bessere Zeiten weitergehen. Wenn Bauer solche Werte im Sinn hatte, als er vom amerikanischen Erbe sprach, dann wundert es nicht, dass er die Auffassung vertritt, dass die Amerikaner kulturell prädisponiert sind, die Verfolgung durch die Nazis und den Massenmord an den europäischen Juden „misszuverstehen“. Das Recht auf Leben, Freiheit und auf Streben nach Glück hatte schließlich keinen Platz in Auschwitz, einem Ort, der den Häftlingen alle Rechte verweigerte und sie stattdessen den Strafen gewaltsamer Einkerkerung, beständigen Elends und schließlich des massenhaften Todes aussetzte. Diese Grausamkeiten und Drangsalierungen, die durch die staatliche Politik systematisiert und von einer großen Zahl von Bürgern bereitwillig ausgeführt wurden, stehen der Denkweise und den moralischen Vorstellungen der Amerikaner so entgegen, dass sie für sie praktisch unverständlich sind. Der Holocaust musste also in das Bewusstsein der Amerikaner auf eine Art und Weise Eingang finden, die sie auf dem Hintergrund ihrer eigenen Verständnisbedingungen leicht begreifen konnten. Es sind dies Bedingungen, die eine Tendenz zum Individualisieren, Heroisieren, Moralisieren und Verallgemeinern fördern. Durch derartige kognitive Filter wird das menschliche Verhalten durch amerikanische Kulturproduktionen in eine bestimmte Richtung gelenkt, Produktionen, die zu der Art und Weise beigetragen haben, wie der Nazi-Holocaust an den europäischen Juden hierzulande auf der populären Ebene dargestellt worden ist. Dazu kommt, dass Haltungen wie „politische Korrektheit“ und andere ideologische Modeerscheinungen, die im Augenblick gängig sind, ebenfalls dadurch eine Rolle spielen, dass sie Einfluss nehmen auf unsere Deutung der Vergangenheit einschließlich der zerstörerischen Jahre, die die Nazi-Ära in Europa charakterisieren. Während sich in den letzten Jahren eine beträchtliche Aufmerksamkeit auf den Holocaust konzentriert hat, war während des Krieges selbst und auch einige Jahre danach das Schicksal der europäische Juden unter Hitler innerhalb des amerikanischen politischen und kulturellen Lebens keine Angelegenheit von zentraler Bedeutung. Man denke z. B. an amerikanische Filme über das Thema. Ilan Avisar in Screening the Holocaust (etwa: Der Holocaust in Filmen) zufolge hat Hollywood in den Jahren von 1940 bis 1945 etwa 500 erzählende Filme über den Krieg und 62 | 

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über kriegsbezogene Themen produziert. „Bei der Untersuchung dieser reichen Produktion“, schreibt Avisar, „stellt man eine ausgesprochene Vermeidung irgendeiner expliziten Darstellung der jüdischen Katastrophe während des Krieges fest. Der Große Diktator (1940) war eine bemerkenswerte Ausnahme. … [Sonst] hat Hollywood die zeitgleiche systematische Ausrottung der europäischen Juden vollständig ignoriert“.17 Weiterhin, so notiert Avisar, war es erst 1959 bei der Verfilmung des Tagebuches der Anne Frank, dass Hollywood „sich direkt dem Völkermord an den Juden durch die Nazis zuwandte“.18 Es ist durchaus nicht uninteressant, dass die Gestalt der Anne Frank dazu beigetragen hat, das vergleichsweise weit verbreitete Schweigen innerhalb der amerikanischen Kultur über das jüdische Schicksal unter der Nazi-Tyrannei zu brechen. Wie im nächsten Kapitel dieses Buches ganz deutlich wird, war Anne Franks Tagebuch von Anfang an ein großer Erfolg; und bis heute kann man es als paradigmatisch für die amerikanische Rezeption des Holocaust auffassen. Für Millionen von Amerikanern ist der Holocaust erst durch die Gestalt der Anne Frank bekannt gemacht und an ihrer Person festgemacht worden. Was ist es eigentlich, das ihr Bild für die Menschen hierzulande definiert, und warum bedeutet es ihnen inzwischen so viel? Man geht zwar allgemein davon aus, dass Anne Frank Jüdin und deshalb auch Opfer war, aber die meisten Bühnenund Filmversionen ihres Tagebuches lassen sie gar nicht als „zu jüdisch“ erscheinen, und sie gestalten ihren Status als Opfer auch gar nicht einmal unerträglich hart. So ist es z. B. bemerkenswert, dass zu keiner Zeit im Verlauf des preisgekrönten Theaterstückes von Goodrich und Hackett ein Nazi-Soldat oder ein GestapoAgent jemals auf der Bühne erscheint. Das Stück hat sicherlich seine angsterfüllten Augenblicke; diese konzentrieren sich jedoch nie visuell auf diejenigen, die Anne Frank und ihre Familie ganz konkret in ihr Versteck verfolgten und sie zu Opfern werden ließen. Vielmehr baut sich Angst auf, das auf ein Schicksal hin ausgerichtet ist, welches für die Zuschauer sorgfältig verborgen bleibt, denen jede direkte Konfrontation mit Nazi-Gewalt erspart bleibt. Die Folge ist, dass man das Theater verlassen kann mit dem Gefühl, dass man durch Anne Franks Geschichte irgendwie erbaut statt zutiefst verstört wurde. Wie aus diesem Beispiel ersichtlich, gibt man den Amerikanern typischerweise Geschichts- und Bildmaterial des Nazi-Holocaust, das am Ende eher nach oben weist, als dass es nach unten in das erschreckende Schweigen eines grausamen Todes gerichtet ist. Die Bühnenfassung des Tagebuches der Anne Frank endet damit, dass Annes Stimme das wiederholt, was zu ihrer charakteristischen Aussage geworden ist, indem sie uns, wie vom Himmel sprechend, wissen lässt: „Trotz allem glaube 17 Ilan Avisar, Screening the Holocaust: Cinema’s Images of the Unimaginable (Bloomington: Indiana University Press, 1988), 96–97; siehe auch Lawrence Baron, „The First Wave of American ‚Holocaust‘ Films“, American Historical Review 115 (Februar 2010), 90–113. 18 Ebd., 116. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 63

ich noch immer, dass der Mensch im Grunde seines Herzens gut ist“. Worauf ihr Vater demütig und liebevoll erwidert: „Sie beschämt mich“. Nach diesen Worten fällt der Vorhang und beendet damit Anne Franks Geschichte – nicht in einer trostlosen, sondern in einer aufbauenden Stimmungslage.19 In einer ähnlichen Stimmungslage endet Gerald Greens ungeheuer populäre NBC-Miniserie, Holocaust; auch William Styrons Bestseller, der Roman Sophie’s Choice (Sophies Entscheidung); und schließlich auch Steven Spielbergs außerordentlich gefeierter Film Schindlers Liste. In diesen und zahlreichen anderen Fällen ist es bei der amerikanischen Einstellung zum Holocaust fast eine allgemein akzeptierte Gegebenheit, dass die Zuschauer nicht mit unablässigem Schmerz konfrontiert werden sollen. Die amerikanische „Zivilreligion“, wie diese Einstellung genannt worden ist, legt tatsächlich den Hauptakzent auf ein Ende, das optimistisch und lebensbejahend ist. Als ein weiteres Beispiel dieser Tendenz betrachte man die folgende Passage aus einem weit verbreiteten Brief des Holocaust-Gedenkmuseums, der für Unterstützung durch neue Mitglieder wirbt: Während es hier weit überwiegend um das Geschehen der Ausrottung des jüdischen Volkes geht, erfahren die Besucher aber auch von den Plänen der Nazis zur Vernichtung der Sinti und Roma und der Behinderten sowie von der Verfolgung von Priestern und Patrioten, polnischen Intellektuellen und sowjetischen Kriegsgefangenen, von Homosexuellen und sogar unschuldigen Kindern. Schließlich aber werden Besucher, wenn ihnen fast das Herz bricht und sie es nicht länger ertragen können, in das Licht hinaustreten – in eine Gedenkfeier für Widerstand, Wiedergeburt und Erneuerung der Überlebenden –, ob sie nun in Europa geblieben sind oder, wie viele es taten, nach Israel oder Amerika gingen, um ihr Leben neu aufzubauen. Und nachdem sie dem Albtraum des Bösen beigewohnt haben, werden die großen amerikanischen Gedenkstätten, die für die Demokratie zeugen und jeden scheidenden Besucher umgeben, ebenso wie die Ideale, für die sie stehen, eine neue Bedeutung annehmen.20

Die topographische Bezugnahme, die diesen Hinweis auf den amerikanischen Triumphalismus hat entstehen lassen, ist ein ganz wichtiges Charakteristikum der umfassenderen Botschaft, die das Holocaust-Gedenkmuseum vermitteln möchte. Das Museum liegt günstig auf der National Mall (Nationalpromenade) in Washington, D.C. Das Washington Monument und das Jefferson Memorial sind ganz in der Nähe und daher gut sichtbar. Diese nationalen Gedenkstätten wirken sich dahingehend aus, dass Museumsbesucher wieder in die vertraute und tröstliche Wirklichkeit der amerikanischen Umgebung zurückversetzt werden; ein weiterer Effekt ist der, dass Besuchern mitgeteilt wird, dass die Exponate, die sie gerade gesehen haben, trotz all ihrer Schrecken auf ein im wesentlichen europäisches Geschehen verweisen. Eine solche Identifizierung mindert nicht die Bedeutung des Holocaust für Amerikaner, aber sie kennzeichnet den Holocaust als ein fremdes Geschehen, 19 Frances Goodrich und Albert Hackett, The Diary of Anne Frank, (New York: Random House, 1956), 174. 20 Ein undatierter vierseitiger Brief mit der Bitte um Unterstützung, geschrieben von Miles Lerman, Vorsitzender, Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten.

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das weit entfernt von Amerikas Küsten stattfand und sogar noch weiter weg vom amerikanischen Geist des Fair Play, des Anstandes und der Gerechtigkeit für alle. Es ist daher unbedingt erforderlich, dass einige Hilfsmittel, um die Menschen zu diesem Geist zurückzuführen, in die Art und Weise, wie die jüdische Katastrophe in Europa den Bürgern hierzulande nahegebracht werden soll, eingebaut werden. Entsprechend dieser Notwendigkeit schließt der Brief, aus dem ich oben zitiert habe, damit, dass er uns alle auffordert, „der sechs Millionen Juden und der Millionen anderer unschuldiger Opfer, die im Holocaust umgekommen sind“, zu gedenken und gleichzeitig „sich unseres eigenes Glaubens an das Leben … die Zivilisation … die Menschlichkeit … und an die Beziehungen zueinander zu erinnern sowie unseren Glauben daran zu erneuern“. Wieviele Menschen tatsächlich in diesem Geist der Erneuerung aus der Reise in die Hölle herauskommen, durch die das Holocaust-Gedenkmuseum sie führt, ist eine offene Frage. Die meisten Amerikaner sind keine zynischen Menschen, und sie sehen sich selbst oder irgendjemanden anders nicht gern als permanente Verlierer. Deshalb kann es durchaus sein, dass viele all das in dem oben beschriebenen doppelten Sinne in Erinnerung behalten wollen, und zwar dadurch, dass sie den Opfern des europäischen Holocaust ihren Respekt zollen und sich selbst auch immer wieder versichern, dass sie in einem Land leben, das all seinen Bürgern das Recht auf „Leben, Freiheit und auf das Streben nach Glück“ gewährt. Es ist erwähnenswert, dass Besucher beim Betreten des Holocaust-Museums mit genau diesen Worten aus der als geheiligt verehrten Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die eingraviert auf einer Wand ganz in der Nähe sofort ins Auge fällt, begrüßt werden. Vielleicht werden sie auch gegen die erschreckenden Bilder, die sie zu sehen bekommen, durch einige berühmte Worte des ersten amerikanischen Präsidenten, die ebenfalls in der Nähe des Eingangs ins Auge fallen, gestärkt: „Die Regierung der Vereinigten Staaten … gibt dem Fanatismus keine Chance, der Verfolgung keine Unterstützung“. Es sind natürlich genau Fanatismus und Verfolgung im extremsten Sinne, die sich den entsetzten Blicken der Besucher recht bald darbieten, wenn sie sich auf den Rundgang durch die Ausstellungsstücke des Holocaust-Museums begeben. Aber dadurch, dass der Horror durch einige der edelsten Prinzipien des nationalen Credos Amerikas abgemildert wird, erinnern die Architekten und Programmgestalter des Museums ihre Besucher daran, dass die amerikanische Lebensauffassung völlig verschieden ist von jener, die die Katastrophe, deren Darstellungen sich vor ihren Augen entfalten, heraufbeschworen hat. Angesichts dessen, was das Holocaust-Gedenkmuseum in einer eindrucksvoll anschaulichen Form bietet, ist ein Besuch dort keineswegs angenehm und kann es auch nicht sein. Sein Ziel, das es auf bewundernswerte und effektive Weise erreicht, ist, die amerikanische Öffentlichkeit über ein historisches Geschehen zu informieren, das so entsetzlich schmerzvoll ist, dass kaum jemals ein Besucher von diesem Ort ungerührt wieder fortgeht. Die emotionale, moralische und pädagogische WirDie Amerikanisierung des Holocaust  | 65

kung, die das Museum auf die fast zwei Millionen Menschen ausübt, die es jedes Jahr besuchen, ist ohne Zweifel gewaltig. Aber was genau die meisten Menschen davon mitnehmen und für immer im Gedächtnis behalten, wissen wir nicht. Der folgende Bericht am Ende eines Artikels, in dem Estelle Gilson ihren eigenen Besuch beschreibt, ist vielleicht repräsentativ für den Respons vieler, die in das HolocaustGedenkmuseum kommen: Denke ich wirklich, dass das Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten Juden künftig schützen wird? Das ist sehr unwahrscheinlich. Wird es andere Minderheiten vor dem Völkermord bewahren? Wahrscheinlich nicht. Aber es erreicht das, was die Vereinigten Staaten am besten können. Es informiert. Es legt Zeugnis ab von der Existenz des Holocaust und weist jeden, der davon lernen möchte, warnend darauf hin, dass diejenigen, die Menschen entmenschlichen, um sie zu vernichten, auch sich selbst entmenschlichen. Nachdem ich durch diese Ausstellung zusammen mit anderen Amerikanern gegangen war – mit Amerikanern kaukasischer Abstammung, Afro-Amerikanern, Lateinamerikanern, mit Amerikanern asiatischer Abstammung und, ja, jüdischen Amerikanern –, alle in ihrer hellen, sommerlichen Touristenbekleidung, fühlte ich mich auf seltsame Weise getröstet und überraschend stolz.21

Trost und Stolz gehören nicht zu den Empfindungen, die einen typischerweise überkommen, wenn man die Überreste der Nazi-Lager in Polen oder Deutschland verlässt oder wenn man einen Besuch in Yad Vashem in Israel beendet. Warum also werden solche Gefühle im Holocaust-Gedenkmuseum hervorgerufen? Die Antwort wird wahrscheinlich weniger durch das gegeben, was an der einen Stelle und nicht an anderen Stellen gezeigt wird, sondern vielmehr durch den Standort selbst und durch die demokratischen Ideale, für die Amerikas Kapitol steht. Wenn man sich überhaupt einer ernsthaften Konfrontation mit der Geschichte des Holocaust unterziehen will, ist es deshalb vielleicht etwas leichter, dies eher auf der National Mall (Nationalpromenade) in Washington, D.C., als irgendwo anders auf der Welt zu tun. Das Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten zieht Jahr für Jahr außergewöhnlich große Menschenmengen an (bis zum März 2010 waren es etwa 30 Millionen Besucher), und alles an der Einrichtung legt nahe, dass das Museum aufgrund seiner Bestimmung auch in den kommenden Jahren ein wirkmächtiges Instrument zur Information einer großen Anzahl von Amerikanern und auch anderer über den Holocaust sein wird. Wird aber im Zuge des weiteren Wachsens und Älterwerdens seine konzeptionelle Grundlage in bekannter amerikanischer Art mit dem Ziel eines umfassenderen Verständnisses seiner Aufgabe erweitert werden? Wie dies bei anderen in Washington, D.C., gelegenen Institutionen der Fall ist, wird sich aufseiten einiger einflussreicher Personen die Erwartung einstellen, dass das Museum sich mit amerikanischen politischen Entscheidungen in Bezug auf gesellschaftliche und politische Probleme hierzulande und im Ausland beschäftigen sollte. Es spricht für die Direktoren und leitenden Komitees des Museums, 21 Estelle Gilson, „Americanizing the Holocaust“, Congress Monthly, September/Oktober 1993, 6.

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dass sie es bis heute erfolgreich vermieden haben, einem solchen Druck nachzugeben. Dieser Druck wird aber sicher anhalten, jedoch auch die Versuchung, die Bandbreite der Aufgaben des Museums über die Periode der Nazi-Herrschaft in Europa hinaus auszuweiten. In seinen Anfangsjahren förderte das Holocaust-Museum Vorträge über den Völkermord in Ruanda. Die meisten Menschen hielten dies für angebracht und sogar für ausgezeichnet, einige aber erhoben Einwendungen. Etwas später wurde das Museum das Ziel einer Kontroverse, weil es eine Fotoausstellung über den Bosnien-Krieg organisiert hatte.22 In neuerer Zeit hat das Museum im Auftrag seines Committee on Conscience (etwa: Gewissenskomitee) erhebliche Mittel darauf verwandt, verstärkte Aufmerksamkeit auf die anhaltende Ermordung von Menschen in Darfur zu richten. Viele werden einen solchen erweiterten Fokus als anerkennenswert ansehen und dahingehend argumentieren, dass die Leiden in Ruanda, Bosnien und Darfur geradezu nach öffentlicher Aufmerksamkeit schreien, wobei impliziert wird, sie seien „dem Holocaust ähnlich“. Andere sind der Auffassung, dass die Einbeziehung solcher aktuellen Vorträge und Exponate in einem Holocaust-Gedenkmuseum dahin tendiert, die Grenzen der Definition der Erinnerung an den Holocaust auszuweiten, wobei sie Yehuda Bauers Unbehagen an der Amerikanisierung des Holocaust teilen. Michael Berenbaum, der während der Planungs- und Bauphasen als Projektdirektor des Museums und eine Zeitlang auch als Direktor des Forschungsinstituts des Museums tätig war, hat Bauer mit dem Argument kritisiert, dass der Holocaust nur insofern ‚amerikanisiert‘ ist, als er den Amerikanern erklärt wird und in Beziehung zu ihrer eigenen Geschichte steht, wobei sich Verzweigungen für eine künftige Politik ergeben. Die Untersuchung des Holocaust kann Einsichten vermitteln, die von universeller Bedeutung für das Schicksal der ganzen Menschheit sind. Ein nationales Gremium, das vom Steuerzahler finanziert wird, um eine nationale Gedenkstätte zu errichten, hat nicht das Recht, eine im strengen Sinne ausschließlich jüdische Gedenkstätte zu schaffen, wobei insbesondere auch die Besucher berücksichtigt werden müssen.23

In näherer Erläuterung der Beziehung zwischen der Präsentation eines Museums und seinen Besuchern schreibt Berenbaum: Als der United States Memorial Council (etwa: Gedenkstättenrat der Vereinigten Staaten) sich an die Aufgabe machte, die Amerikaner über den Holocaust zu informieren, erkannte er, dass „das Geschehen dergestalt vermittelt werden musste, dass es nicht nur bei dem Überlebenden in New York und seinen Kindern in San Francisco einen Widerhall finden würde, sondern auch bei einem Farbigenführer in Atlanta, einem Farmer im Mittleren Westen oder einem Industriellen im Nordosten“. Eine so unterschiedliche Besuchergruppe mit der Geschichte in Kontakt zu bringen, bemerkt Berenbaum, bedeutet, sie in der 22 Siehe den Artikel in der New York Times, „Photographs of Balkans Draw Fire: Serb Groups Fault Holocaust Museum“, 24. September 1994; siehe auch Alfred Lipson, „Anger at a Holocaust Museum Exhibit“, Midstream 40, Nr. 9 (Dezember 1994), 26–27. 23 Michael Berenbaum, After Tragedy and Triumph: Essays in Modern Jewish Thought and the American Experience (Cambridge: Cambridge University Press, 1990), 22. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 67

Weise mit der Vergangenheit zu konfrontieren, dass sie „ihre gegenwärtige reale Situation prägend beeinflusst“, einschließlich, wie er es nennt, ihrer gegenwärtigen „sozialen Bedürfnisse“.24 Die sozialen Bedürfnisse der jeweiligen Typen von Amerikanern, die er beschreibt, sind sehr unterschiedlich; und man kann sich nur schwer vorstellen, dass man auch nur wenig über die Verbrechen der Nazi-Ära berichten kann, was die spezifischen Charakteristika europäischer historischer Ereignisse von vor drei Generationen wahrheitsgetreu wiedergibt, und dass man sich gleichzeitig mit einer komplexen Vielzahl heutiger sozialer und politischer Aufgaben befassen kann. Berenbaums Formel für die Lösung solcher potenzieller Probleme war die Erkenntnis, dass der Holocaust zwar ein einzigartiges Geschehen war, dabei aber universelle Implikationen hat. Das ist zweifellos der Fall. Seine Nachfolger im Holocaust-Gedenkmuseum sind durchaus sensibel für diese komplexen Fragen und haben bisher immer in effizienter Weise verantwortungsvolle Wege gefunden, mit ihnen umzugehen. Deren Nachfolger werden ihre eigene Interpretation der Formel Berenbaums erarbeiten müssen und sie so anwenden, dass sichergestellt wird, dass die „Einzigartigkeit“ des Holocaust für heutige amerikanische Besucher nichts von ihrer Vorrangstellung als historische Tatsache zugunsten breiterer metaphorischer Verzweigungen verliert. Dies ist eine ernste Herausforderung. Kathryn Hill, die frühere Direktorin des Besucherdienstes, wurde in einem Artikel der New York Times dahingehend zitiert, dass sie besorgt über die sehr unterschiedliche Zusammensetzung der Besucher des Museums sei: „Wir glauben, dass das Museum ein spezielles Bedürfnis hat, Schüler in innerstädtischen und in ländlichen Schulen zu erreichen“. Wenn man tatsächlich solche Bedürfnisse zufriedenstellen kann, ohne die historische Integrität der Museumsausstellungen zu kompromittieren, dann ist das eine lohnende Sache. Man fragt sich jedoch, was verloren gehen könnte, wenn man die Geschichte des Holocaust in eine Darstellungsform übertragen würde, die für junge Amerikaner von innerstädtischen und ländlichen Schulen verständlich und aussagekräftig wäre. Nach Naomi Paiss, einer früheren Kommunikationsleiterin, ist „das letztliche Ziel des Museums die Vermittlung eines ‚Grundverständnisses, wonach es sich bei uns nicht darum handelt, was die Deutschen den Juden angetan haben, sondern was Menschen anderen Menschen angetan haben‘“.25 Ein solches Ziel liegt in gravierendem Widerstreit mit dem Auftrag des Museums und ist glücklicherweise auch tatsächlich bis heute nicht angestrebt worden. Aber wenn die für die Leitung der Arbeit des Holocaust-Gedenkmuseums Verantwortlichen künftig jemals eine solche Erweiterung des Aufgabenumfangs vornehmen sollten, dann würde diese Einrichtung aufhören, ein Museum zu sein, das primär dazu dient, die Öffentlichkeit über den Nazi-Holocaust zu informieren, und würde dann etwas ganz anderes werden. 24 Ebd., 20. 25 Siehe Artikel der New York Times, „Crowds Strain U.S. Museum on Holocaust“, 23. Dezember 1993.

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Man braucht sich gar nicht groß zu fragen, wie dieses „etwas anderes“ aussehen könnte; denn es existiert bereits, zwar nicht im Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten in Washington, D.C., sondern im Museum of Tolerance (Museum der Toleranz) des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles und auch anderswo. Der Auftrag des Museums in Los Angeles ist zwiefach: Es soll Besucher über die Geschichte des Rassismus und des sozialen Vorurteils in Amerika informieren und soll das darstellen, was das Museum „das extremste Beispiel der Unmenschlichkeit des Menschen dem Menschen gegenüber – den Holocaust“ nennt.26 Beides sind noble Ziele, aber dadurch dass der Holocaust hier in einen geschichtlichen Rahmen gestellt wird, der solche typisch amerikanischen Vorkommnisse wie etwa die Krawalle in Los Angeles und den Kampf für die Bürgerrechte der Farbigen einschließt – beides wird hier in hervorgehobener Weise illustriert –, relativiert das Museum der Toleranz radikal die vom Nationalsozialismus ausgelöste Katastrophe. So gravierend Amerikas soziale Probleme auch sind, so hat ihr Charakter doch nichts mit Völkermord zu tun; denn sie sind mit der Verfolgung und der systematischen Ermordung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges einfach nicht zu vergleichen. Wenn also die Opfer all dieser sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen miteinander vermischt werden, dann erweitert man letztlich die begriffliche Grundlage des Nazi-Holocaust in einem Maße, dass er allmählich, ganz verändert, in jene vollmundige, aber fast bedeutungsleere Abstraktion entschwindet: „Die Unmenschlichkeit des Menschen dem Menschen gegenüber“. Diese Tendenz, den Holocaust zu relativieren und zu verallgemeinern, ist von Anfang an ein Wesenszug der Rezeption von Holocaust-Darstellungen. Heute ist diese Tendenz recht stark und scheint sich sogar noch zu verstärken, insbesondere in jenen Bereichen der amerikanischen Kultur, in denen man entschlossen ist, eine Politik der Identität zu entwickeln, die sich auf den Opferstatus und die damit einhergehenden Unzuträglichkeiten gründet. Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, ist die Rhetorik der „Bedrückung“ ein Gemeinplatz der heutigen politischen, akademischen und künstlerischen Sprachverwendung in Amerika. Und ihre Vertreter nehmen oft die Kennzeichen und Symbole des Nazi-Holocaust zu Hilfe, um – wie sie es nennen – ihre eigene Viktimisierung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zu beschreiben. Als ungeheuerliches Beispiel unter vielen im kulturellen Bereich sei eines der am meisten gepriesenen Werke der feministischen Künstlerin Judy Chicago angeführt. Chicago (geb. Gerowitz) behauptet, sie stamme aus 23 Generationen von Rabbis; gleichwohl gibt sie offen zu, dass sie bis zu ihrem 45. Lebensjahr praktisch nichts über das Judentum oder den Holocaust wusste. Anfang der neunziger Jahre produzierte sie jedoch eine groß angelegte und ehrgeizige Kunstinstallation unter dem Namen Holocaust Project, die ihr eigenes Werk in verschiedenen Medien mit dem 26 Diese Ziele werden in einer Werbebroschüre des Museums der Toleranz im Simon Wiesenthal Center erläutert. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 69

Werk ihres Mannes, des Fotografen Donald Woodman, vereint. Das Holocaust-Projekt wurde im März 1993 im Spertus Institute of Jewish Studies in Chicago eröffnet und ist seitdem in Museen in Boston, Los Angeles und mehreren anderen Städten gezeigt worden. Denjenigen, die die Fotogemälde, Bildteppiche und Produktionen in farbigem Glas, die diese Ausstellung ausmachen, nicht direkt zu sehen bekommen, ist Chicagos Werk durch einen illustrierten großformatigen Band, ebenfalls betitelt Holocaust Project, zugänglich. Das Buch präsentiert Farbtafeln der künstlerischen Arbeit zusammen mit zahlreichen vorläufigen Skizzen, weiterhin historische und neuere Fotos, Auszüge von den Lesungen der Künstler sowie ein detailliertes und sehr aufschlussreiches persönliches Tagebuch, das Chicago führte, als sie begann, sich selbst den Holocaust nahezubringen.27 Ihre Recherchen, die sie als Suche nach ihrem eigenen latenten jüdischen Selbst sowie nach Wissen um die Nazi-Verbrechen beschreibt, waren intensiv und anstrengend. Sie dauerten etwa sechs oder sieben Jahre und führten Chicago zusammen mit Woodman auf Reisen zu früheren Lagerstandorten und anderen vom Krieg geprägten Orten in Frankreich, Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei, in Polen, Russland, Lettland und Litauen. Tagebucheintragungen, Zeichnungen und Fotos illustrieren diesen ehrgeizigen Reiseverlauf und machen deutlich, dass Chicagos Recherchen nicht nur auf Wissen im kognitiven Sinne gerichtet war, sondern auch – und das leidenschaftlicher – auf eine emotionale Wahrnehmung der „Holocaust-Erfahrung“. Um sich diese „Erfahrung“ zu eigen zu machen, tat Chicago Dinge, die weit über das normale Touristenverhalten hinausgingen. Im Verlaufe eines Besuches des früheren Konzentrationslager Natzweiler/Struthof in Frankreich z. B. ließ sie sich fotografieren, während sie auf einer der langen Eisenschaufeln lag, die dazu benutzt wurden, die Leichen der Opfer in die Flammen der Krematoriumsöfen zu werfen. Dem großformatigen Foto von ihr, das sie wie eine Leiche zeigt, ausgestreckt vor der Öffnung des Ofens liegend, in den sie scheinbar hineinbefördert wird, ist diese kurze Erläuterung beigegeben: „Als ich auf der Schaufel lag, welche die Leichen in das Krematorium beförderte, wurde mir klar, dass dies mit mir, wenn ich während des Krieges in Europa gelebt hätte, wahrscheinlich auch geschehen wäre. (Donald ist zu jung.)“28 Das Holocaust-Projekt enthält auch andere Erläuterungen dieser Art, die andeuten, dass sie in dem Maße, wie sie mehr über den Holocaust erfuhr, auch etwas mehr über sich als Person, als Frau und als Jüdin erfuhr. So reiste sie z. B. nach ihrer simulierten Beförderung in den Krematoriumsofen mit ihrem Mann nach Nürnberg, wo ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie in Deutschland war, „wo alles begann“. Sie gingen in ein Restaurant, „vom Typ einer alten Bierstube“, und unterhielten sich beim Essen über dies und das, „wahrscheinlich weil wir Angst hatten vor dem 27 Judy Chicago, Holocaust Project: From Darkness into Light, mit Fotografien von Donald Woodman (New York: Penguin Books, 1993). 28 Ebd., 36.

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Schmerz, den wir empfanden: vor dem Schmerz, als Juden in Deutschland zu sein und uns der Erfahrung hinzugeben, diesen Ort kennen zu lernen, ihn zu fühlen und zu erleben, einen Ort wie es keinen anderen gibt, wo der Holocaust entstand“. Es scheint, dass sie in dieser Bierstube noch eine weitere „Erleuchtung“ erfuhr, die durch eine Lektüre einiger der Schriften Elie Wiesels bestätigt wurden: Sie sagt: Je mehr ich verstehe, desto weniger verstehe ich. Immer wieder suche ich bei Wiesel Hilfe, obwohl ich nicht immer mit allem, was er sagt, übereinstimme. Aber eine Bemerkung von ihm war recht aufschlussreich im Hinblick auf meine Unfähigkeit, die Täter zu verstehen. Ich habe geschrieben, dass ich nicht bewusst anderen Schmerzen zufügen kann, weil ich Feministin und bewusst eine Frau bin; und dann traf ich auf Wiesels Aussage, wonach „den Juden gesagt worden ist, dass sie die Freiheit nicht einschränken dürfen“. Es ist ihnen [durch die Heilige Schrift] verboten, jemandem Schmerz zuzufügen. So stelle ich also fest, dass ich unter einem doppelten Gebot stehe, und zwar als Feministin und als Jüdin. Welch interessante Erleuchtung!29

Für eine Person, die ihre Abstammung von einer so herausragenden Figur geltend macht, wie es der Gaon von Wilna ist, der große Intellektuelle und geistliche Führer im 18. Jahrhundert, muss diese ihr plötzlich zugefallene, obwohl recht spät erworbene, Kenntnis des Judentums sowohl eine Bestärkung als auch eine Inspiration bedeuten. Dennoch ist dies kaum eine einzigartige Einsicht; denn der Text des Holocaust-Projekts enthält andere neue Einsichten dieser Art. Einige legen dem eifrigen Ehepaar eine enge Beziehung zwischen „der Unterdrückung von Frauen“ und „der Unterdrückung von Juden“ nahe; andere deuten an, dass der Holocaust vielleicht „ein direkter Auswuchs der patriarchalischen Gesinnung“ gewesen sei, und wieder andere verbinden den Holocaust mit „der Verletzbarkeit aller Menschen und – ganz allgemein – der Verletzbarkeit jeder Spezies und ebenfalls unseres gebrechlichen Planeten“.30 An einer Stelle kritisiert Ms. Chicago Wiesels Auffassung, wonach der Holocaust ein einzigartiges historisches Geschehen war, und kommt zu dem Schluss, dass der Holocaust, weit entfernt davon, einzigartig zu sein, als „eine Verirrung in der Geschichte der menschlichen Grausamkeit verstanden werden muss: Die Nazis gingen zu weit, viel zu weit, aber es hat viele, viele grausame Geschehnisse in der Geschichte gegeben“.31 Der wahrscheinliche Höhepunkt der wachsenden Weisheit der Autorin/Künstlerin in Bezug auf den Holocaust wird erreicht, wo sie zu dem Schluss kommt, dass es nutzlos sei, die Schuld der Nazi-Verbrechen an irgendeiner besonderen Gruppe festzumachen. Mit ihren eigenen Worten: Jeder rennt mit Schuldzuweisungen herum: Die Deutschen haben es getan; die Franzosen haben kollaboriert; die Polen haben mitgemacht; die Amerikaner und andere Verbündete waren gleichgültig. Die Liste lässt sich fortsetzen, wobei immer versucht wird, jemandem Schuld zuzuweisen für etwas, an dem niemand schuld ist, wofür aber alle Menschen verantwortlich sind. Als eine Spezies 29 Ebd., 37. Kursivdruck und Klammern im Original. 30 Ebd., 9–10. 31 Ebd., 19. Kursivdruck im Original. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 71

sind wir verantwortlich für das, was wir einander, der Erde und ihren Geschöpfen angetan haben. Der Holocaust lässt sich als logischer Auswuchs der Herrschaft von Gewalt, Vorherrschaft und Macht betrachten. Es ist nicht einmal von Bedeutung, welches Geschlecht es getan hat, obwohl es sich hauptsächlich bei Männern zeigt.32

Bei der Hereinnahme dieser mit Mühe gewonnenen, sich selbst ermächtigenden Einsichten in ihre künstlerische Arbeit wird Chicago von einer Auffassung geleitet, von der sie sagt, dass sie selbst und ihr Mann sich dadurch von den meisten Mitgliedern „der Holocaust-Gemeinschaft“ abheben. Insbesondere ordnet Chicagos „umfassendere Zugangsweise“ den Holocaust als eine „Opfererfahrung“ unter vielen ein und findet die Wurzel all dieser Erfahrungen in „der Ungerechtigkeit, die der globalen Struktur des Patriarchats innewohnt, und in den Folgeerscheinungen der Macht, die durch von Männern beherrschte Gesellschaftsformen definiert und durchgesetzt wurde“.33 Nachdem die Künstlerin den Feind entdeckt und ihm einen passenden Namen gegeben hatte, begab sie sich daran, seine Gewalttätigkeit anschaulich darzustellen. Hier ist nicht genug Raum, um all die Einzelheiten, die das Holocaust-Projekt ausmachen, zu kommentieren; aber es genügt festzustellen, dass Judy Chicagos künstlerisches Werk selbst schon die oben beschriebenen Hauptakzente und Interpretationen spiegelt. Man findet dort Nazi-Brutalität neben Bildern der Sklaverei, atomarer Kriegführung, Vivisektion bei Tieren und böse aussehenden Gynäkologen. Überall werden Frauen misshandelt, angegriffen, gequält. Und es gibt auch noch andere Opfer, deren Leiden Chicagos Mitleid wecken: Pink Triangle (Rosa Winkel) beschreibt sowohl die Tortur als auch die Solidarität männlicher Homosexueller (als besonderer Effekt wird ihr Elend vor einem Hintergrund eines Stiefmütterchen-Fotos dargestellt), und Lesbian Triangle drückt mehr oder weniger dasselbe für Lesben aus. Ein großer Bildteppich mit dem Titel The Fall (Der Sündenfall), konzipiert in Anlehnung an a battle of the sexes (Kampf der Geschlechter), stellt nackte Frauen dar, die von mit Messern bewaffneten Männern angegriffen werden, während andere Frauen bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Auf demselben Ausstellungsstück pflügt ein schwarzer Sklave Furchen in die weinende Mutter Erde; eine hagere Jesus-ähnliche Figur hängt hilflos im Hintergrund; andere Männer schwingen blutige Schwerter oder schaufeln Menschen in die Flammen von Öfen; und wieder andere ziehen Schweinen und Frauen die Haut ab, die nebeneinander an einem Gestell hängen. Mitten in all dieser Qual sieht man eine Bearbeitung von Leonardo da Vincis Vitruvianischem Menschen, die nach der erläuternden Notiz zeigen soll, dass der Holocaust seinen wahren Ursprung in „jenem Augenblick der menschlichen Geschichte, als Männer gewaltsam die patriarchalische Macht festigten“, hatte.34 In Chicagos Vorstellung von der Geschichte haben all unsere 32 Ebd., 62. Kursivdruck im Original. 33 Ebd., 27, 31. 34 Ebd., 90.

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späteren Leiden einschließlich der von den Nazis und ihren Helfershelfern verursachten ihre Wurzel in dem Sturz des Matriarchats durch grausam aggressive, herrschsüchtige Männer. Genau dieser Ton und diese Interpretation durchziehen das Holocaust-Projekt von Anfang bis Ende – oder fast bis zum Ende. Das letzte Element mit dem Titel Rainbow Shabbat (Regenbogen-Sabbat) weicht von allem Vorangehenden ab und hat das Ziel, die Ausstellung mit einem Gebetston zu schließen. Es ist, wie die Künstlerin sich ausdrückt, „eine Anrufung zum Zwecke des menschlichen Erwachens und der globalen Transformation“.35 Der Regenbogen-Sabbat, eine große Produktion aus farbigem Glas, zeigt zwölf Menschen um einen Sabbat-Tisch herum. An dem einen Ende des Tisches steht eine Frau, in ein traditionelles Gebets-Schultertuch gehüllt, und segnet die Kerzen. Am anderen Ende nimmt ein Mann, ebenfalls mit dem Gebets-Schultertuch angetan, die traditionelle Segnung des Weines vor. Zwischen diesen beiden Personen sitzen um den Tisch herum Repräsentanten der Weltbevölkerung – ein Araber mit dem Kufiyah-Kopftuch, ein christlicher Pfarrer oder Priester mit einem großen Kruzifix, das an einer Kette unterhalb seines Kollars hängt; weiter Vietnamesen, Farbige, Frauen, Kinder, verschiedene Weiße. Es ist von Bedeutung, dass die zehn Personen, die um den Sabbattisch herum sitzen, nicht in Richtung des Mannes, sondern in Richtung der Frau blicken; denn durch sie und nicht durch ihn wird die Welt Erneuerung und Erlösung finden, soweit überhaupt möglich. Die Gesichter dieser Sabbat-Zelebranten sind ausdruckslos, aber insofern als sie alle ihre Arme umeinander gelegt haben und die betende Frau sie alle, wie es scheint, in ihre ausgestreckten Arme einschließen wird, gibt die Darstellung uns zu verstehen, dass jetzt mit der Welt alles gut ist oder bald sein wird. Regenbogenfarben erfüllen die Tischszene von oben nach unten, und an den seitlich angrenzenden Tafelbildern befindet sich ein großer Davidsstern – ebenfalls von diesen hellen Farben umgeben – mit einer Inschrift, die das Holocaust-Projekt mit einem Gebetston beschließt: „Heile diese gebrochenen Seelen, die keinen Frieden haben, und führe uns alle von der Dunkelheit in das Licht“.36 Es wäre ein Leichtes, das Holocaust-Projekt von Anfang bis Ende als ein gigantisches Klischee zu betrachten und es daher ohne weitere Überlegung als unwichtig abzutun. Das wäre jedoch ein schwerer Fehler; denn Ms. Chicagos Darstellung des Holocaust repräsentiert eine Anzahl von Tendenzen, die die amerikanische Kultur und die politische Stimmung von heute durchdringen. Wir leben in einer Zeit, die durch ausgesprochen narzisstische Verhätschelung charakterisiert ist; alles ist auf das Selbst und seine Begehrlichkeit ausgerichtet, auf das Selbst und seine Bedürfnisse, auf das Selbst und seinen Schmerz. Man verknüpfe diese extreme Betonung des Individualismus mit dem Druck vonseiten einer sich immer mehr aufdrängenden politischen Korrektheit, und man bekommt Produktionen wie das Holo35 Ebd., 138. 36 Ebd., 139. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 73

caust-Projekt, wonach Hitler-Deutschlands Völkermordverbrechen auf die Untaten eines bösen „Patriarchats“ reduziert werden und die Nazi-Opfer gleichgesetzt werden mit Affen in einem Tierlaboratorium und mit Frauen praktisch während jedes wachen Augenblicks in ihrem Leben. Angesichts des tatsächlichen Ausmaßes der Schreckenstaten, die vor drei Generationen im von den Nazis beherrschten Europa verübt worden sind, kommt es einer Perversion gleich, wenn eine amerikanische Künstlerin sich heute mit dieser Terminologie zum Opfer erklärt; aber in einer Kultur, die zur Annahme des Opferstatus ermuntert und diesen auch noch belohnt, wird dies nicht mehr als besonders pervers angesehen. Und so bekommen wir Darstellungsformen des Holocaust, die sich immer weiter ausbreiten und als praktische Anklage-Embleme in heutigen amerikanischen Diskussionen über AIDS, Abtreibung, Kindesmissbrauch, Schwulenrechte, die Rechte von Einwanderern usw. dienen. All das sind natürlich Angelegenheiten legitimer und ernster sozialer Besorgnis, aber die Analogie zu der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis fügt der öffentlichen Diskussion über die wirklich schmerzenden Probleme der amerikanischen Gesellschaft nichts als Sensationsmache hinzu. Und während Sensationen die öffentliche Aufmerksamkeit garantieren, vernebeln und verdunkeln sie mehr als dass sie aufklären. Sensationen tendieren auch dahin, dass Menschen die Beziehung zur Realität verlieren. Man möge noch ein letztes Mal Judy Chicago hören, wie sie erwägt, eine Vergewaltigungsszene für eins der Tafelbilder ihres Holocaust-Projekts zu malen: Ich verausgabe mich, verbrauche meine ganze Lebensenergie und kämpfe dafür, dass die Wahrheit gesehen und gehört wird. … Ich muss mich ausruhen, ehe ich mit dem Vergewaltigungsbild beginne. Es ist nicht nur ein intensives, schmerzvolles Bild, sondern es macht mir auch Angst. Ich denke immer: Werde ich nach der Fertigstellung dieses Bildes selbst vergewaltigt? … Aber natürlich habe ich keine Wahl – daher muss ich einfach hoffen, dass die Kunst nicht in das Leben übergeht.37

In dieser imaginären Welt drohen Holocausts aus jeder Ecke, und alle sind Opfer oder potenzielle Opfer. In mehr oder weniger gleicher psychologischer Stimmungslage, wenn auch in Bezug auf einen anderen Feind, lässt sich der evangelikale Prediger Pat Robertson vernehmen: Genau das, was Nazi-Deutschland den Juden angetan hat, tut das so liberale Amerika den evangelikalen Christen an. … Es ist nichts anderes; es ist genau dasselbe. Es geschieht alles aufs Neue. Es sind der Demokratische Kongress, die Medien mit liberaler Tendenz und die Homosexuellen, die alle Christen vernichten wollen. Es ist schrecklicher als alles, was irgendeine Minderheit in unserer Geschichte erlitten hat.

Während der Prediger Robertson über sein Christian Broadcasting Network sprach, „erschien Filmmaterial über Nazi-Gräuel gegen die Juden auf dem Bildschirm“.38 Man fragt sich, wie die Zuhörerschaft des Predigers Robertson auf dergleichen Phrasen reagiert. Werden die meisten Menschen sie als erfunden erkennen, als 37 Ebd., 132. 38 Zitiert in einem Artikel „ADL Hits Christian Fundamentalists“, in Forward, 10. Juni 1994.

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eine Form von religiös-politischer Hysterie und als solche völlig abgehoben von der Realität, oder werden sie geneigt sein, ihnen zu glauben? Wir wissen es nicht, genauso wenig wie wir wissen, wieviel echten Glauben Judy Chicago in ihre gravierend verdrehte Darstellung des Holocaust einbringt. Was wir aber wissen, ist dies: Wenn man denkende Menschen nur lange genug Darstellungen von Gräueltaten aussetzt, dann sind sie allmählich nicht mehr uneingeschränkt denkende Menschen mit der Fähigkeit, Unterschiede zu erkennen und zwischen den verschiedenen Arten von menschlichen Erfahrungen zu unterscheiden. Angesichts der Tatsache, dass bei einer wachsenden Anzahl von Amerikanern die Tendenz besteht, sich zu „Opfern“ zu erklären, muss man sich fragen, ob die Verbreitung der Holocaust-Darstellungen auf den verschiedenen Ebenen unserer Kultur nicht vielleicht einen solchen selbsttäuschenden Effekt hat. Was oben über die Repräsentation von Holocaust-Opfern innerhalb der gängigen amerikanischen Kultur ausgeführt worden ist, lässt sich auch auf die anderen Haupttypen, die mit dem Holocaust in Verbindung stehen, anwenden. Um es noch einmal zu wiederholen: Bis noch vor einiger Zeit bestand ein allgemein akzeptiertes Grundverständnis darüber, dass der wesentliche Kernbereich des Holocaust aus Opfern, Tätern und Zuschauern bestand. In neuerer Zeit jedoch gibt es dadurch, dass das Denken und Schreiben über die Verbrechen der Nazis eine symbolische Wendung genommen haben, eine beträchtliche Ausweitung dieses Kernbereiches und zudem noch eine Schwerpunktverlagerung innerhalb dieses Bereiches. Ich beziehe mich dabei besonders auf das Auftauchen der „Überlebenden“ und „Retter“ als herausragende Figuren zusammen mit „Befreiern“, „Widerstandskämpfern“, „Überlebenden der zweiten Generation“, „Rächern“ und selbst mit „Revisionisten“ oder „Leugnern“ des Holocaust. Das Interesse an all diesen Typen hat den Fokus der „Geschichte“ des Holocaust verbreitert und die Perspektive, aus der sie sowohl erzählt als auch rezipiert wird, beeinflusst. Um voll einschätzen zu können, was die Amerikaner inzwischen über die Verbrechen der Nazi-Ära wissen und wie sie das Wissen erlangt haben, muss man also auf alle diejenigen einen genauen Blick werfen, deren Handlungen und Interaktionen zusammengenommen den Holocaust für das amerikanische Publikum definieren.39 Im folgenden möchte ich die herausra39 Die Untersuchungen des American Jewish Committee, die in Fußnote 1 dieses Kapitels erwähnt wurden, lassen erkennen, dass die Amerikaner ihre Informationen über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust hauptsächlich aus Fernsehsendungen beziehen. Gelegentlich „diskutieren“ beliebte Fernseh- und Radio-Talkshows die Realität des Holocaust, wobei ein „Revisionist“ und ein „Überlebender“ das vorbringt, was gemeinhin als deren jeweilige „Ansicht“ gilt. Diese Sendungen erreichen sehr viele Zuschauer bzw. Zuhörer, die durch die Sensationselemente und die Kontroversen anscheinend angezogen werden; den genauen Effekt davon kennen wir jedoch nicht. Insofern als diese populären „Diskussionen“ „Leugner“ aus dem Lager der Neo-Nazis gegen jüdische „Überlebende“ bzw. „Zeugen“ antreten lassen, wiederholen sie nur die grundsätzliche Aggression gegen den Holocaust selbst. In dieser Hinsicht kann man die genannten Talkshows als eine Fortsetzung des Krieges gegen die Juden mit anderen Mitteln ansehen. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 75

gende Stellung, die zwei dieser Typen in den letzten Jahren erhalten haben, untersuchen, nämlich den „Überlebenden“ und den „Retter“. Ich konzentriere mich dabei auf Steven Spielbergs außerordentlich erfolgreichen Film, Schindlers Liste, sowie auf die Art der Reaktion darauf bei amerikanischen Filmbesuchern und Kritikern. Während mehrerer Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erhielten in Amerika diejenigen Menschen, die die Nazi-Gewalttaten gegen die europäischen Juden überlebt hatten und sich in den Vereinigten Staaten niederlassen konnten, außerhalb der jüdischen Bevölkerungsteile relativ wenig öffentliche Aufmerksamkeit.40 Ihr Status war der von „Displaced Persons [Heimatlosen]“, „Einwanderern“, „Kriegsflüchtlingen“ oder „Neulingen“, und die Haltung diesen Personen gegenüber war kaum schmeichelhaft. Großherzige Menschen taten, was sie konnten, um diesen Neuankömmlingen zu helfen, sich an die neuen Verhältnisse in Amerika zu gewöhnen und ihr Leben hier neu zu gestalten; andere ignorierten sie mehr oder weniger. Während der späten vierziger und während des größten Teils der fünfziger Jahre war die vorherrschende Haltung die, all „das“ hinter sich zu lassen und mit dem Leben voranzukommen. So beschreibt der Soziologe William Helmreich die Situation: Die meisten Einwanderer lernten schnell, nicht über den Krieg zu sprechen; dabei unterlegten sie ihrer Zurückhaltung ein Vernunftargument, indem sie sagten, dass die Schilderungen zu schrecklich seien, als dass man sie glauben könne. Häufig reagierten Amerikaner auf solche Schilderungen mit Berichten darüber, wie sie selbst während des Krieges Entbehrungen, hauptsächlich durch Lebensmittelrationierung, erlitten hatten. Moritz Felberman [ein Überlebender] hörte von seiner Tante: „Wenn du hier in Amerika Freunde haben willst, dann rede nicht immer über deine Erlebnisse. Niemand ist daran interessiert, und wenn du ihnen davon erzählst, dann hören sie sich das einmal an, und das nächste Mal werden sie Angst habe, dich wieder zu besuchen. Sprich überhaupt nicht darüber“.41

Während ungefähr einiger Jahrzehnte nach Kriegsende wollten viele der „Flüchtlinge“ aus Hitlers Europa wohl nicht gern „darüber sprechen“, selbst nicht in ihrem familiären Umfeld. Natürlich gab es Ausnahmen; aber die Hauptrichtung der amerikanischen Kultur und sogar Teile der jüdischen Kultur in Amerika förderten öffentliche bekennerartige Gefühlsäußerungen in Bezug auf Berichte über Holocaust-Gräueltaten nicht. Wann nun diese Periode des relativen Schweigens endete, lässt sich nicht genau sagen. Aber in den mittleren und späteren sechziger Jahren begann eine radikale Änderung der Einstellung, die sich bis heute fortgesetzt hat, und zwar in der Weise, dass der „Überlebende“ eine hochgeehrte Figur geworden ist und in manchen Fällen fast Berühmtheitstatus genießt. Diesbezüglich hat Elie 40 Zu einer detaillierten Untersuchung von Nachkriegsreaktionen auf den Holocaust innerhalb der amerikanischen jüdischen Gemeinden siehe Hasia Diner, We Remember with Reverence and Love: American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust, 1945–1962 (New York: New York University Press, 2009). 41 William Helmreich, Against All Odds: Holocaust Survivors and the Successful Lives They Made in America (New York: Simon & Schuster, 1992), 38.

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Wiesel, wie auch andere, eine einflussreiche Rolle gespielt. Das Resultat ist, dass man denjenigen, die früher als „Kriegsflüchtlinge“ betrachtet worden waren, diesen wenig beneidenswerten Status nicht mehr gibt und ihnen statt dessen eine neue symbolische Bedeutung als „Holocaust-Überlebende“ zuerkennt. Als „Überlebende“ sind diese Männer und Frauen im fortgeschrittenen Alter vielfach gesuchte Podiumsredner an Schulen und Universitäten, bei Gedenkveranstaltungen am Yom HaShoah (Holocaust-Gedenktag) sowie bei anderen öffentlichen Anlässen über das Jahr hin, wobei sich durchaus zahlreiche Zuhörer einfinden, um ihre Berichte zu hören. In beträchtlichem Umfang sind Memoiren von Überlebenden veröffentlicht worden, die jetzt eine bedeutende Untergattung der Holocaust-Literatur ausmachen. Des weiteren sind Institutionen wie das FortunoffVideoarchiv an der Yale-Universität und die Shoah Foundation for Visual History and Education (etwa: Holocaust-Stiftung für videogestützten Geschichtsunterricht) an der Universität von Süd-Kalifornien (ursprünglich von Steven Spielberg gegründet) in ehrgeizige Bemühungen eingebunden worden, um diese Zeitzeugen, die im fortgeschrittenen Alter sind, zu interviewen und dabei ihre Berichte auf Band aufzunehmen, solange das noch möglich ist.42 Kurz: Der „Überlebende“ genießt heute ein sehr ausgeprägtes öffentliches Profil und hat eine Aura um sich, die Ehre, Respekt, Faszination und – in nicht geringem Maße – Ehrfurcht hervorruft. Der Schriftsteller Leon Uris hat diese Verhaltensformen ganz direkt und deutlich zusammengefasst: „Diesen Männern und Frauen gebührt unsere Bewunderung“.43 Und die erhalten sie in zunehmendem Maße. Der Film Schindlers Liste, der „Überlebende“ ehrt, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte von 1100 Juden zu erzählen, die vor einem Tod gerettet wurden, der für die meisten von ihnen zweifellos entsetzlich gewesen wäre. Als solcher macht er sich eine Tendenz innerhalb von Teilen der amerikanischen Kultur – und besonders der jüdischen Kultur in Amerika – zunutze, die sich während einer ganzen Anzahl von Jahren entwickelt hatte. Viele von denen, die die Ghettos, Lager und die verschiedenen Verstecke im von den Nazis beherrschten Europa haben überleben können, haben sich hierzulande gut eingelebt und haben in ihren späteren Lebensjahren energisch und erfolgreich dafür gesorgt, dass ihre jeweiligen Lebens42 Die Einrichtung Fortunoff Video Archives for Holocaust Testimonies (Fortunoff-Videoarchiv für Holocaust-Zeugenaussagen) an der Yale-Universität ist schon mehrere Jahre mit der filmischen Aufzeichnung von Holocaust-Überlebenden beschäftigt und ist eine der bedeutendsten Informationsquellen ihrer Art. Auf der Grundlage dieser Archivbestände sind schon mindestens zwei Bücher herausgekommen: Lawrence Langers Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory (New Haven, Conn.: Yale University Press, 1991) und Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History von Shoshana Felman und Dori Laub (New York: Routledge, 1992). Zusätzlich hat die USC Shoah Foundation (etwa: Holocaust-Stiftung für videogestützten Geschichtsunterricht an der Universität von Süd-Kalifornien), die Steven Spielberg-Stiftung übernommen und erweitert hat, die Zeugenaussagen von mehr als 52000 Holocaust-Überlebenden auf Video aufgenommen. 43 Leon Uris, Vorwort zu Ernst Michel, Promises to Keep (New York: Barricade Books, 1994), xiii. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 77

geschichten und die quälend schmerzvolle Geschichte ihrer Zeit für kommende Generationen bewahrt werden. Ohne das außergewöhnliche Engagement dieser Menschen gäbe es wahrscheinlich kein Holocaust-Gedenkmuseum, keine Videoarchive mit den Aussagen der Holocaust-Zeitzeugen, eine viel geringere Anzahl an Lehrstühlen, die an amerikanischen Colleges und Universitäten eingerichtet wurden, um über den Holocaust zu informieren – und es gäbe Schindlers Liste nicht. Der Erfolg all dieser Menschen ist in der Hinsicht wirklich bemerkenswert. Die Aufgabe dieser überlebenden Aktivisten ist, einfach ausgedrückt, folgende: Die Arbeit des Gedenkens einer traumatisierten Generation europäischer Juden für immer weiterzutragen, einer Generation, die in der kurzen Zeitspanne eines Menschenalters ihren früheren Status als Opfer in noch nie vorher erreichte Positionen von Einfluss und Respekt umgewandelt haben. Dadurch, dass sie ihr Schweigen, das ihre Situation in den unmittelbaren Nachkriegsjahren charakterisierte, aufgaben, haben sie ihre Stimme gefunden und lassen sie, wenn notwendig, auch bereitwillig vernehmen. Niemand, der sich an die Bitburg-Affäre im Frühjahr 1985 erinnert, wird so bald vergessen, dass es ein Überlebender war, der dem Präsidenten der Vereinigten Staaten gegenüberstand und, während alle Fernsehkameras der Welt den Augenblick festhielten, „den Mächtigen die Wahrheit sagte“. Wer außer Elie Wiesel – ein Holocaust-Überlebender, der inzwischen die moralische Autorität seiner Generation symbolisierte – hätte es gewagt, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten öffentlich zu sagen, dass es „ihm nicht zusteht“, zu Bundeskanzler Kohl nach Deutschland zu reisen, um an Feierlichkeiten auf dem Militärfriedhof in Bitburg teilzunehmen?44 Die neu gefundene Kraft, das Selbstvertrauen und die Selbstbehauptung der Überlebenden erreichten bei der Academy Awards Ceremony 1994 einen Höhepunkt, als Branko Lustig, selbst ein Überlebender, und Steven Spielberg vor ein großes und außergewöhnlich wohlwollendes Fernsehpublikum traten und im Namen der „Überlebenden“ sowie im Namen „der sechs Millionen“ ihre Oscars als Produzenten bzw. als Regisseur von Schindlers Liste in Empfang nahmen. Damit machten sie mit Nachdruck deutlich, dass diese Generation von Holocaust-Überlebenden, die weiß, dass sie die letzte ihrer Art ist, nicht abtreten wird, ohne für die heutige und für künftige Generationen ihre Lebensspur zu hinterlassen. In nicht geringem Maße wird diese Entschlossenheit durch die Schaffung des Holocaust-Gedenkmuseums der Vereinigten Staaten und durch die vielen anderen Institutionen ihrer Art überall im Land symbolisiert.45 44 Zu Details über die Bitburg-Affäre siehe Geoffrey Hartman, Hg., Bitburg in Moral and Political Perspective (Bloomington: Indiana University Press, 1986). 45 Mit der Unterstützung durch einige dieser Institutionen ist über die Jahre hin viel dazu beigetragen worden, dass der Holocaust in die Curricula amerikanischer höherer Schulen aufgenommen wurde, und mehrere U.S.-Staaten haben verfügt, dass dies ein obligatorisches Lernfach für alle ihre Schüler ist. Allein in Michigan z. B. haben über hundert Schulen einen vielbeachteten Text über den Holocaust in den Lehrplan aufgenommen; der Text, Life Unworthy of Life: a Holocaust Curriculum, wurde verfasst von Sidney Bolkosky und anderen. Andere Staaten

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Wie Schindlers Liste dartut, ist diese Zeit, wenn sie die Zeit des „Überlebenden“ ist, eben auch die Zeit des „Retters“. Denn während die öffentliche Aufmerksamkeit sich bisher in hohem Maße auf den „Überlebenden“ konzentriert hat, rücken durch die populären Medien mehr und mehr die „gerechten Nicht-Juden“, „Helfer“, „Befreier“, und „Retter“ ins Blickfeld. Diese Menschen haben in vielen Fällen dem „Überlebenden“ geholfen zu überleben; daher werden auch sie in zunehmendem Maße mit einer gewissen Bewunderung betrachtet. Sie werden nun tatsächlich als die „moralischen Helden“ des Holocaust angesehen, als Menschen, die beispielhafte sittliche Kraft aufbrachten in einer Zeit, als elementare menschliche Tugenden sonst kaum zu finden waren. Diejenigen, die unermüdlich von ihnen sprechen, greifen auf religiöse oder quasi-religiöse Metaphern zurück, so etwa „das Licht, das die Dunkelheit durchbricht“, „die Gerechten“, „die Rechtschaffenen“, „die guten Samariter“ usw. In einer Zeit, in der viele das Gefühl haben, sie müssten der überwältigenden Finsternis und dem Schrecken, die dem Holocaust innewohnen, ein moralisches Gegengewicht entgegensetzen, sind die „Helfer“ und „Retter“ diejenigen, die Vorstellungen von „Licht“, „Hoffnung“, „Lebensbejahung“ und „Gutem“ hervorrufen. In dieser Hinsicht ist es erwähnenswert, dass das Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten in Washington, D.C., am Raoul Wallenberg-Platz liegt; es ist dies ein Name, der reich an symbolischen Implikationen ist und der dazu beiträgt, die Schrecken, die die Besucher innerhalb des Gebäudes erwartet, mit einem Gefühl für Gerechtigkeit, das außerhalb gebührend geehrt wird, „auszugleichen“. Es ist Steven Spielbergs Film zu verdanken, dass dem schwedische Helden Wallenberg, einem der zu Recht verehrten europäischen „Retter“, nun der Deutsche Oskar Schindler als einer der „Gerechten unter den Völkern“ an die Seite gestellt wird. Überdies hat die Aufmerksamkeit, die sich erneut auf Schindlers Rettungstaten während des Krieges richtet, auch den Effekt gehabt, das Interesse an den Berichten über andere, die für ähnliche gute Taten Anerkennung gefunden haben, zu erneuern oder erst zu wecken: So etwa Aristedes de Sousa Mendes, Sempo Sugihara, Hermann Gräbe, Miep Gies, Pastor André Trocmé und die Bürger von Le Chambon, die Dänen etc. Jeder von ihnen bleibt in Erinnerung, weil er in der einen oder anderen Weise sein Leben riskiert hat, um Juden während des Krieges zu schützen und zu retten. Und obwohl ihre Zahl nicht groß ist, waren ihre Handlungen, wenn bestätigt, klar beispielhaft. Die Frage, die sich in Bezug auf die „Retter“ stellt, ist daher nicht, ob sie in die Berichte aus der NaziÄra einbezogen oder davon ausgeschlossen werden sollen, sondern es ist eine Angelegenheit des jeweiligen Stellenwertes: Wie zentral oder wie peripher sind diese „moralischen Helden“ des Holocaust im Verhältnis zu der umfassenderen Geschichte des Holocaust? verwenden andere Texte, von denen jedoch nicht alle einer kritischen Prüfung standhalten. Dazu siehe Lucy Dawidowicz, „How They Teach the Holocaust“, Commentary, Dezember 1990, 25–32. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 79

Schindlers Liste beantwortet diese Frage in einer Art und Weise, die „Retter“ wie Schindler vom Rand der Ereignisse genau in ihr Zentrum rückt. Dadurch, dass Spielberg das so erfolgreich bewirkt hat, hat er die an der Holocaust-„Geschichte“ Beteiligten anders angeordnet: Er hat die von Hilberg und anderen in den Vordergrund gerückten Beteiligten – nämlich die zum Holocaust wesentlich gehörenden Gruppen der „Täter“, „Opfer“ und „Zuschauer“ – in den Hintergrund gerückt und den Hauptakzent deutlich auf die „Retter“ und die „Überlebenden“ gelegt. Schindlers Liste ist schließlich ein Film, der sich hauptsächlich auf die Juden konzentriert, die nicht durch die Hand der Nazis sterben, sondern die im Gegenteil tatsächlich von einem Nazi gerettet werden, der eine moralische Bekehrung zum Guten hin erfährt. Wenn, wie einige behaupten, Spielbergs Film seitdem als der „definitive“ Holocaust-Film betrachtet werden muss und wenn er, wie andere behaupten, vielleicht tatsächlich mehr dazu beitragen kann, eine große Anzahl von Menschen über die Geschichte des Holocaust zu informieren, als es alle mit dem Thema befassten akademischen Bücher zusammen tun können, muss man aber erkennen, dass der Film diese Ziele als Resultat eines Paradigmenwechsels größeren Ausmaßes erreicht hat. Massen von Filmbesuchern sind, wenn sie diesen Film sehen, einer Version des Holocaust ausgesetzt, die ihren Ursprung in den traditionellen amerikanischen Präferenzen für „Helden“ und „glückliche Ausgänge“ hat, Präferenzen, denen Schindlers Liste durch die kunstvolle Anwendung bewährter Hollywood-Konventionen in Bezug auf die filmische Form des Erzählens entgegenkommt. Diese Aussage bedeutet nicht, Spielbergs Leistung – die beträchtlich ist – mit Schindlers Liste in Frage zu stellen, aber sie verweist auf die Tatsache, dass dies ein Film ist, der eine typisch amerikanische Art präsentiert, ein extremes historisches Geschehen wahrzunehmen und zu bewältigen. Was die Wirkung des Films angeht, so gab es in der Presse sogar vor der Premiere ein außerordentliches Interesse an Schindlers Liste. Seitdem ist die Anzahl der Kommentare exponentiell gewachsen und weist sowohl lobende als auch sehr kritische Einstellungen auf. Keine geringere politische Persönlichkeit als Präsident Clinton „beschwor“ die Menschen öffentlich, sich Schindlers Liste anzusehen; und andere in Positionen politischen Einflusses, einschließlich der Gouverneure von Kalifornien und New Jersey, empfahlen den Film ebenfalls und setzten sich für ihn ein als grundlegende Quelle historischer Information und moralischer Erziehung. Nachdem Schindlers Liste bei den Oscar-Präsentationen 1994 nicht weniger als sieben Preise gesammelt hatte, wurde der Film sogar mit noch mehr Lob überschüttet: „Ein großer Film“, „ein Meisterwerk“, „eine erstaunliche Leistung“. Stephen Schiff nannte den Film in einem Artikel für The New Yorker „den besten Spielfilm, der jemals über das größte Übel des Jahrhunderts gedreht worden ist. … Er wird seinen Platz in der Kulturgeschichte einnehmen und behalten“. Terrence Rafferty stimmte mit dieser Einschätzung überein und beschrieb Spielbergs Film als „bei weitem den besten und in höchstem Maße dramatischen Film, der jemals über den Holocaust gedreht worden ist“. Jeffrey Katzenberg, der zu der Zeit Direk80 | 

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tor der Walt Disney-Filmstudios war, bemerkte, dass Schindlers Liste „sich schließlich als viel, viel wichtiger als ein normaler Kinofilm erweisen wird. … Er wird sich darauf auswirken, wie die Menschen auf diesem Planeten denken und handeln. … Er wird tatsächlich weltgeschichtliche Weichen stellen“. Viele andere schlossen sich mit ähnlich anerkennenden Worten diesen Einschätzungen an, wenngleich auch nicht immer in diesen höchsten Tönen.46 Gleichwohl hat der Film auch seine Kritiker gehabt, von denen einige das, was Spielberg geschaffen hatte, leidenschaftlich ablehnten. In einem Artikel für The American Spectator verurteilte James Bowman Schindlers Liste als einen Film, der „das alles übersteigende Ausmaß des Holocaust auf billige Weise trivialisiert“ und „keinerlei Gespür für die politischen Realitäten, die so etwas geschehen ließen“, aufbringe. J. Hoberman, Filmkritiker von The Village Voice, fand den Film „sentimental“, er habe zu viel von einem „Wohlfühl“-Film und müsse bei den Zuschauern daher zwangsläufig Haltungen von „Selbstzufriedenheit“ hervorrufen. Donald Kuspit betrachtete Schindlers Liste als „stereotypisch“, als das Werk eines Künstlers, der die Geschichte des Holocaust einfach nicht „verstehe“: „Schindlers Liste ist ein Triumph der Einfältigkeit – immer schon Spielbergs Stärke“. Claude Lanzmann, der den Film Shoah schuf, kritisierte Spielbergs Film scharf als einen, der die wesentlichen Tatsachen des Holocaust verfälscht: „Der Umstand, dass das Geschehen des Holocaust von einem Deutschen erzählt wird, der Juden rettete, kann nur zu einer Entstellung der Wahrheit führen, weil für die überwältigende Mehrheit der Juden so etwas nicht geschehen ist.47 Obwohl die kritischen Einschätzungen des Films deutlich unterschiedlich sind, steht außer Frage, dass Spielbergs filmische Aussage bedeutend ist und dass Schindlers Liste seither dazu bestimmt ist, eine einflussreiche Rolle bei der Entscheidung zu spielen, auf welche Weise Millionen von Menschen hierzulande und anderswo den Nazi-Holocaust im Gedächtnis behalten und begreifen. Aus dieser Perspektive ist man versucht zu fragen: Welche Version des Holocaust entwirft dieser Film? Insbesondere fragt man: Welches Bild von Deutschen und Juden stellt Spielberg in Schindlers Liste in den Vordergrund? Die grundlegende dramatische Konfrontation in dem Film ist nicht die zwischen Juden und Deutschen, sondern zwischen einem bösen Deutschen (Amon Göth, Kommandant des Arbeitslagers Plaszow) und einem Deutschen, der ein Beispiel rechtschaffenen Verhaltens ist (Oskar Schindler). Im Verlaufe der Filmhandlung wird die Konfrontation zwischen diesen beiden intensiver und nimmt allegorische 46 Stephen Schiff, „Seriously Spielberg“, The New Yorker, 21. März 1994; Terrence Rafferty, „A Man of Transactions“, The New Yorker, 20. Dezember 1993; die lobenden Äußerungen von Katzenberg werden in dem Schiff-Artikel oben zitiert. 47 James Bowman, „Lost and Profound“, The American Spectator, Februar 1994; J. Hoberman, „Spielberg’s Oskar“, Village Voice, 21. Dezember 1993; Donald Kuspit, „Director’s Guilt“, Artforum, Februar 1994; und Claude Lanzmann, „The Twisted Truth of Schindler’s List“, London, Evening Standard, 10. Februar 1994. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 81

Dimensionen an, wobei das Schicksal der Juden in der Schwebe hängt. Ansonsten sind die Juden in Schindlers Liste schwach gezeichnete Figuren, meist entweder passive Opfer wahlloser Gewalttaten oder bestechliche Kollaborateure, die mit ihren Verfolgern gemeinsame Sache machen. In fast jedem Fall werden sie als unauffällige, anonyme Figuren dargestellt, oder sie erscheinen als Stereotypen, die Männer unter ihnen im Zusammenhang mit Geldgeschäften und anderen Arten von Machenschaften, die Frauen als Verführerinnen. Itzhak Stern, die einzige jüdische Figur, die etwas weiter entwickelt wird, ist ein steifer, seelenloser Typus, dessen Ausdruck während des ganzen Films kaum von dem eines professionellen Buchhalters, der er auch ist, abweicht. In fast jeder anderen Hinsicht sind die Juden in Schindlers Liste irrelevant für die Hauptdramatik des Films, die sich auf Oskar Schindler und Amon Göth konzentriert, den Hauptverkörperungen von „Gut“ bzw. „Böse“ in dem Film. In dem Wettbewerb zwischen ihnen ist es selbstverständlich Schindler, der obsiegt und dem am Ende des Films die Dankbarkeit, der Respekt und die Liebe der Juden entgegengebracht werden. Dieses Ende führt Schindler und die Juden durch zwei bedeutende Initiationsriten, die beide von einer Aura des moralisch Erhabenen umgeben sind, wenn nicht vielleicht sogar des Heiligen: Die Schindlerjuden überreichen ihm einen goldenen Ring und „verehelichen“ sich dadurch gleichsam mit diesem Mann aus Dankbarkeit für seine rechtschaffene Handlungsweise; denn nur durch diese wurden sie davor bewahrt, Opfer der Nazis zu werden. In der Friedhofsszene am Ende des Films erweisen dieselben Juden, nun ältere „Überlebende“, dem Andenken ihres Retters ihren Respekt dadurch, dass sie in ritueller Weise Zeichen der Verehrung und der Liebe auf sein Grab legen. Beide Szenen vermitteln zarte Gefühle der Zuneigung, des Respekts und der Versöhnung, und die meisten Filmbesucher werden zweifellos von ähnlichen Gefühlen in ihrem Inneren bewegt werden. Darüberhinaus ist es erwähnenswert, dass beide Szenen Schindler als eine Figur darstellen, die durch deutlich christliche Symbole definiert wird – in der ersten hält er eine dramatische Rede, die an Jesu Bergpredigt denken lässt, und in der zweiten schwenkt die Kamera liebevoll über die Kreuze auf dem Franziskaner-Friedhof in Jerusalem und hält dann über dem Grab, in dem Schindler selbst bestattet wurde.48 Diese beiden Szenen bringen den Werdegang eines Mannes zum Höhepunkt und Abschluss, eines Mannes, der vielleicht in mancher Hinsicht charakterlich moralische Mängel gehabt haben mag, der aber im Hinblick auf die Juden geradezu als ein heiliger Held dargestellt wird. In dem Maße wie der Holocaust durch Schindlers Liste in das Bewusstsein der Öffentlichkeit eingeht, kann daher der Effekt eintreten, dass frühere und komplexere 48 Seitdem der Film herausgekommen ist, ist Oskar Schindlers Grab auf dem FranziskanerFriedhof in Jerusalem eine beliebte religiöse Stätte für Pilger geworden, die Israel besuchen. Darüberhinaus können Touristen auf monatlich stattfindenen Reisen, die „Oskar Schindlers Polen“ heißen, Polen besuchen. Siehe Jack Schneidler, „The Ghosts of Poland’s Past“, St. Petersburg Times, 9. Oktober 1994.

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Scham- und Schuldgefühle, die typischerweise mit Reaktionen auf Darstellungen der Verfolgung der europäischen Juden und des Massenmordes an ihnen einhergehen, nun zum Verschwinden gebracht werden. In der langen und verstörend eindringlichen Szene z. B., die die Liquidierung des Krakauer Ghettos zeigt, schreckt Spielberg nicht davor zurück, die Brutalität und das Blutvergießen darzustellen; er macht jedoch die Verantwortung für derartige Gräueltaten an Nazi-Typen fest, die kaum mehr sind als psychopathische Schläger. Die politischen Dimensionen der Handlungsweise der Nazis werden in Schindlers Liste überhaupt nicht untersucht. An ihrer Stelle erlebt man rohen Sadismus von einer eher extrem persönlichen als einer systematischen Art. Eine Identifikation mit einer Figur wie Amon Göth, der Inkarnation der mörderischen Leidenschaften des grenzenlosen Bösen, kommt für die meisten Filmbesucher nicht in Frage; diese richten sich gefühlsmäßig viel wahrscheinlicher an dem „guten“ Deutschen aus, an Oskar Schindler, dem „Retter“ der Juden. Am Schluss des Films endet der keine Reue zeigende Göth durch den Tod am Galgen; Schindler findet die ewige Ruhe als Ehrenmann, die Schindlerjuden überleben und machen sich auf nach Palästina, um dort ein neues Leben als Siedler zu beginnen. Welche Version des Holocaust präsentiert also Schindlers Liste? Es ist eine deutlich erkennbare amerikanische Version; damit meine ich nicht eine historisch „falsche“ Version, sondern eher eine, die die Geschichte nach Maßstäben interpretiert, die die Amerikaner anscheinend für erforderlich halten oder zumindest instinktiv vorziehen. Michael André Bernstein hat Recht, wenn er schreibt, dass Spielberg, wenn er sich „eher auf eine kleine Gruppe von Juden“ konzentriert, „die überlebt haben, und auf den guten Deutschen, der ihnen geholfen hat, als auf die Millionen, die nicht überlebt haben, und die Millionen von Deutschen und deutschen Sympathisanten, die nichts taten, um zu helfen, damit ein typisch amerikanisches Verlangen“ stillt, „in jedem Ereignis einen letztlich erlösenden Sinn zu finden“.49 Dieses Verlangen ist nicht zu spüren in Filmen wie Alain Resnais’ Night and Fog (Nacht und Nebel) oder Claude Lanzmanns Shoah; es wird auch nicht gestillt in den Auschwitz-Memoiren von europäischen Autoren wie Primo Levi oder Jean Améry. Demgegenüber enden amerikanische Produktionen über den Holocaust meist mit einem Hinweis auf ein Erlösungsversprechen. Um ein solches Ende zu erreichen, ist jedoch ein neues Paradigma der Konstruktion des Erzählerischen erforderlich, eines, das sich hauptsächlich auf die „positiven“ Figuren der Geschichte des Holocaust, insbesondere auf „Überlebende“ und „Retter“, konzentriert. Schindlers Liste ist das am eindringlichsten gestaltete Beispiel dieses Paradigmenwechsels, aber der Film steht damit nicht allein. Man findet zunehmend ein Verlangen nach einem höheren Maß an „Ausgewogenheit“ bei der Darstellung des Holocaust, eine „Ausgewogenheit“, die vielleicht dadurch erreicht werden kann, dass man den Haupt49 Michael André Bernstein, „The Schindler’s List Effect“, The American Scholar 63, Nr. 3 (Sommer 1994), 429–432. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 83

akzent, der bisher auf den jüdischen Opfern und ihren deutschen Folterern und Mördern lag, etwas verlagert und sich auf eine neue Art der Hinwendung konzentriert, auf den „rechtschaffenen Nichtjuden“ oder auf den „Retter“. Im amerikanischen Kontext scheint diese Suche nach Figuren des Leuchtens und des Guten in der Finsternis und in dem Bösen des Holocaust Teil einer umfassenderen kulturellen Suche nach religiösem Sinn zu sein oder nach dem, was heute etwas ungenau als „Spiritualität“ bezeichnet wird. So stellt Eva Fogelman in Conscience and Courage: Rescuers of Jews during the Holocaust (Gewissen und Mut: Retter von Juden während des Holocaust) fest: Die Menschen „hungern nach Rollenvorbildern“, nach inspirierenden Beispielen „moralischen Mutes in einer unmoralischen Zeit“. Ihr Buch ist nur eines von vielen, die diese Rollenvorbilder mit den „Rettern“ identifizieren, und sie zögert nicht, sie zu definieren als die „spirituellen Erben der LamedWaw Zadikim – der 36 Gerechten der jüdischen Tradition, deren einzige Aufgabe es ist, in jeder Generation … ihren Mitmenschen Gutes zu tun“.50 André Schwarz-Bart ließ das einst verbreitete Interesse an der Zahl der Lamed-Waw Zadikim in seinem bewegenden Roman Der Letzte der Gerechten (1959) wieder aufleben, obwohl diese Tradition, so wie er sie präsentiert, sich während der Zeit des Holocaust erschöpfte. Im Bestreben, sie wieder aufleben zu lassen, produzierte Marek Halter einen Film in normaler Spielfilmlänge, Tzedek, der die Geschichten von 36 gerechten Nichtjuden, die Juden retteten, präsentiert. Zahlreiche andere Filme und Bücher tun das Gleiche.51 Darüberhinaus sind seit den frühen achtziger Jahren mindestens ein halbes Dutzend Bücher über Raoul Wallenberg erschienen, und mehrere Bücher über Oskar Schindler stehen in den Regalen der meisten amerikanischen Buchhandlungen.52 Eva Fogelman steht daher kaum allein damit, dass sie „dem Altruismus seinen guten Namen wiedergeben“ will.53 Seit 1980 haben wir tatsächlich mindes50 Eva Fogelman, Conscience and Courage: Rescue of Jews during the Holocaust (New York: Anchor Books Doubleday, 1994), xix, 3. 51 Neben Fogelmans Conscience and Courage sind folgende Titel erwähnenswert: Gay Block und Malta Drucker, Rescuers: Portraits of Moral Courage in the Holocaust (1992); Peter Hellman, Avenue of the Righteous: Portraits in Uncommon Courage of Christians and the Jews They Saved from Hitler (1980); Douglas K. Huneke, The Moses of Rovno: The Stirring Story of Fritz Graebe, A German Christian Who Risked His Life to Lead Hundreds of Jews to Safety during the Holocaust (1985); Samuel P. Oliner und Pearl Oliner, The Altruistic Personality: Rescuers of Jews in Nazi Europe (1988); Mordecai Paldiel, The Path of the Righteous: Gentile Rescuers of Jews during the Holocaust (1993); Eric Silver, The Book of the Just: The Unsung Heroes Who Rescued Jews from Hitler (1992); Nechama Tec, When Light Pierced the Darkness: Christian Rescue of Jews in Nazi-Occupied Poland (1986); Hillel Levine, In Search of Sugihara (1996); und viele andere in der gleichen Art. Eine ausführliche und kritisch scharfsichtige Bewertung eines großen Teils der Literatur über „Retter“, die bisher erschienen ist, liegt vor in David Gushee, „Many Paths to Righteousness: An Assessment of Research on Why Righteous Gentiles Helped Jews“, Holocaust and Genocide Studies 7, Nr. 3 (Winter 1993), 372–401. 52 Siehe z. B. Elinor J. Brecher, Schindler’s Legacy: True Stories of the List Survivors (New York: Penguin Books, 1994). 53 Fogelman, Conscience and Courage, xix.

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tens 40 Filme und genauso viele Bücher bekommen, die Berichte wiedergeben, wie Christen Juden gerettet haben. Bei denen, die dabei mitwirken, die Struktur der Erinnerung an den Holocaust zu formen, bemerkt man eine neue Betonung des „Positiven“, und zwar dergestalt, dass das Magazin Moment es für angebracht hielt, einen Artikel mit dem Titel „Ist Elie Wiesel glücklich?“54 zu veröffentlichen. Andere, weniger bizarre Indikatoren verweisen ebenfalls auf ein neues Interesse an den „positiven“ oder „guten“ Aspekten des Holocaust. Im Jahre 1984 richtete der United States Holocaust Memorial Council (etwa: Holocaust-Gedenkstättenrat der Vereinigten Staaten) eine größere Konferenz aus mit dem Titel „Glaube an die Menschheit: Retter von Juden während des Holocaust“. Andere, kleinere Konferenzen sind seitdem über dasselbe Thema auch anderswo abgehalten worden. Das Altruistic Personality Project (etwa: Projekt über altruistische Persönlichkeiten) hat Programme entwickelt und ähnliche Veröffentlichungen gefördert; und Projekte wie etwa „Freunde von Le Chambon“, „Dank an Skandinavien“ und „Tribut an die Dänen“ lenken die Aufmerksamkeit auf Rettungsbemühungen einer eher spezifisch regionalen Art.55 In diesem Kontext betrachtet, ist Steven Spielbergs Film – weit entfernt davon, mit seinem Schwerpunkt auf „Rettung“ außergewöhnlich zu sein – der Höhepunkt einer Entwicklung in der Erzählstruktur des Holocaust, die seit mehreren Jahren eine Eigendynamik aufgebaut hat. Nach Ansicht von Eva Fogelman ist es nicht schwierig, die Ursachen für diese Entwicklung zu erklären: „Die Brutalität, die in den Aussagen während des Eichmann-Prozesses deutlich wurden, löste eine dringende Suche nach Anzeichen menschlicher Güte während des Krieges aus. Menschen in aller Welt mussten das Gefühl bekommen, dass das menschliche Herz nicht völlig schwarz ist. So wurden Retter entdeckt.56 Innerhalb der Diskussion in Amerika über den Holocaust ist die Person, die am meisten für diese Entdeckung getan hat, Rabbi Harold N. Schulweis. Im Jahre 1963, in der Zeit nach dem Eichmann-Prozess, gründet Rabbi Schulweis das Institute for Righteous Acts (Institut für gerechte Handlungen) beim Judah Magnes Museum in Berkeley, Kalifornien. Etwa 20 Jahre später gründete er dann die Jewish Foundation for Christian Rescuers (Jüdische Stiftung für christliche Retter), deren erste Leiterin Eva Fogelman war. Die Stiftung wurde ein integraler Bestandteil des International 54 Yosef Abramowitz, „Is Elie Wiesel Happy?“ Moment, Februar 1994, 32–37, 78. Dem Artikel sind Fotos beigegeben, auf denen Wiesel seine Frau küsst, mit einem Freund scherzt sowie – und damit wird alles in einer eindeutig amerikanischen Art und Weise hervorgehoben – mit einem Baseball posiert. Es erscheinen Zeilen wie diese: „Elie Wiesel hat nicht nur überlebt, er hat sogar triumphiert. Und wenn er sich nur genügend Zeit nehmen würde, alles zu durchdenken, dann könnte er vielleicht sogar sagen, dass er glücklich sei“ (32). Jeder, der Wiesels grübelnden und zutiefst melancholischen Roman The Forgotten (1992) gelesen hat, wird sich den Autor schwerlich als dieselbe Person, die in Abramowitz’ Artikel als „glücklich“ herausgestellt wird, vorstellen können. 55 Siehe Dennis Klein, „The Exceptional Intervention“, Dimensions 3, Nr. 3 (1988), 3. 56 Fogelman, Conscience and Courage, 301. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 85

Center for Holocaust Studies (Internationales Zentrum für Holocaust-Forschung) der Anti-Defamation League (Antidiffamierungsliga). Außer der Gründung dieser Institutionen hat Rabbi Schulweis viel über die Notwendigkeit geschrieben, die öffentliche Aufmerksamkeit auf die guten Taten der „Gerechten“ zu richten. Er hat jeweils das Vorwort geschrieben für die oben erwähnten Bücher von Douglas Huneke, Samuel und Pearl Oliner und Mordecai Paldiel; er hat ein Nachwort geschrieben zu The Courage to Care: Rescuers of Jews during the Holocaust (etwa: Der Mut zur Sorge für andere: Retter von Juden während des Holocaust) (1986) von Carol Rittner und Sondra Myers. Außerdem hat er mehrere Artikel über „Retter“ verfasst und widmet ihnen ein ganzes Kapitel in seinem Buch For Those Who Can’t Believe (1994) (Für die, die nicht glauben können). Mit all diesen Veröffentlichungen ist Rabbi Schulweis damit befasst, wie der Holocaust einem unterschiedlichen Publikum in Amerika vermittelt wird: „Die Art und Weise, wie wir den Holocaust interpretieren, hat ernste Konsequenzen für den Charakter und die geistig-seelische Verfassung unserer Kinder, und zwar nicht nur für jüdische Kinder, sondern auch für nichtjüdische. … Wie wirksam, wie konstruktiv ist unsere Art, diese ungeheuerliche Gräueltat zu vermitteln, die ganze Zeit gewesen? … Es kann sein, dass wir dadurch, dass wir uns ausschließlich auf die tragische Vergangenheit konzentriert haben, unbeabsichtigt einen Pessimismus verbreitet haben, der das emotionale Gleichgewicht gestört hat.57 Rabbi Schulweis hat konsequent dahingehend argumentiert, dass bei der Vermittlung des Wissens vom Holocaust nichts unternommen werden sollte, was die Darstellung der Ungeheuerlichkeit der Nazi-Verbrechen gegen die Juden mildert, dass aber alles dafür getan werden sollte, diese guten Menschen zu finden und bekannt zu machen, die bei Gefahr für ihr eigenes Leben Juden, die gefährdet waren, schützten. Mit seinen eigenen Worten: „Bei der Erinnerung an die barbarische Grausamkeit des Holocaust dürfen wir die Helden mit moralischem Gewissen nicht vergessen. In einer Zeit des Anti-Helden müssen die Helden mit Gewissen gewürdigt werden“.58 Rabbi Schulweis sieht das Sich-Erinnern als „Heilkunst“, die durch die Forderung charakterisiert wird, bei dem Erinnerten und Dargestellten eine „Ausgewogenheit“ herzustellen. In dieser Sichtweise hat die Erinnerung erst dann ihre volle Bedeutung, wenn sie den Zwecken der „moralischen Erziehung“ dient. Dementsprechend argumentiert Rabbi Schulweis im Hinblick auf die Wiedergabe des Holocaust-Geschehens, dass wir uns einer Frage gegenüber sehen, die in ihrer Hauptzielrichtung grundsätzlich ethisch ist: „Wie sollen wir uns erinnern, ohne die Hoffnung zu zerstören?“59 Um Antworten auf diese Frage zu finden, hat Rabbi Schulweis sowohl eine pragmatische als auch eine didaktische Zugangsweise entwickelt, die versucht, den Holo57 Harold M. Schulweis, „The Bias against Man“, Dimensions 3, Nr. 3 (1988), 4, 5. 58 Schulweis, For Those Who Can’t Believe (New York: HarperCollins, 1994), 150. 59 Schulweis, „The Bias against Man“, 5.

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caust in einer grundsätzlich konstruktiven Art und Weise zu interpretieren. „Erinnerung“, schreibt er, „enthält eine doppeldeutige Energie. Sie kann befreien oder knechten, heilen oder vernichten. Der Gebrauch der Erinnerung trägt eine Verantwortung für die Zukunft in sich“. Daher „müssen wir uns vorbehaltlos dem moralischen Akt des Sich-Erinnerns zuwenden. Wie sollen wir als Moral-Erzieher das Sich-Erinnern zur Grundlage des Gewissens und der konstruktiven Reue machen?“ Seine Antwort ist nicht überraschend: Dadurch, dass wir auf die „Gerechten unter den Völkern“ als positives Gegengewicht zu dem blicken, was sonst eine überwältigend negative und deprimierende Erfahrung der Schurkerei ist. „Im Menschen gibt es eine moralische Symmetrie“, betont Rabbi Schulweis und fügt hinzu, dass wir, um diese wiederherzustellen, aufs Neue auf die Stimmen des Heldentums achten müssen: „Die Welt hungert nach moralischen Helden …, Helden, deren Altruismus durch ihr Handeln realisiert wird; Vorbilder von beispielhaftem Verhalten, die unsere abstrakten Ideale in die Tat umsetzen, Menschen, denen man nacheifern kann“. So erklärt sich die Entdeckung und Bekanntmachung Oskar Schindlers und der anderen „Retter“.60 Diese Menschen dienen als Brücke zur Förderung des jüdisch-christlichen Dialogs in Amerika; aber über diesen pragmatischen Zweck hinaus haben sie nach Rabbi Schulweis’ Ansicht eine Ebene der Bedeutsamkeit erreicht, die ihr Gutsein zu einem theologischen Prinzip erhebt. „Wo war Adonai in Auschwitz?“, fragt Rabbi Schulweis. „Wo war die Macht und der geheimnisvolle Nimbus von Adonai in der Hölle des Holocaust?“ Während zahlreiche andere religiöse Denker ähnliche Fragen in Bezug auf Gottes Abwesenheit oder Anwesenheit in den Nazi-Todeslagern gestellt haben, würde man unter ihnen nur sehr wenige finden, die wie Rabbi Schulweis antworten würden: Wo war Adonai im Holocaust? Adonai war in Nieuwelande, einem niederländischen Dorf, in dem 700 Einwohner 500 Juden retteten. … Adonai war in Le Chambon-sur-Lignon, dessen Bürger 5000 Juden versteckten und bewahrten. … Adonai war in den von Ratten befallenen Abwässerkanälen von Lvov, wo polnische Kanalarbeiter 17 Juden versteckten. … Adonai war in Bulgarien … in Finnland. … Adonai war bei den italienischen Truppen, die im südwestlichen Teil Kroatiens stationiert waren. … in Jugoslawien, Griechenland, Südfrankreich, Albanien. …61

Die Liste geht weiter und weiter; sie ist eine „zustimmende“ Antiphon gegen jene dunkle Melodie tiefen religiösen Zweifels, wenn nicht sogar ausgesprochener theologischer Verzweiflung, die nach dem Holocaust im religiösen Bewusstsein so vieler anderer Autoren zu finden ist. Man erinnert sich an das brüchige, stammelnde Gebet am Ende von Schwarz-Barts Der Letzte der Gerechten: „Und gepriesen. Ausch-

60 Ebd., 4, 6, 8. 61 Schulweis, For Those Who Can’t Believe, 148–149. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 87

witz. Be. Maidanek. Der Herr. Treblinka. Und gepriesen. Buchenwald. Be. Mauthausen. Der Herr. Belzek. …62 Wie bereits bemerkt, scheint Schwarz-Bart die melancholische Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Nazi-Gewalttaten gegen die Juden so überwältigend zerstörerisch waren, dass sie ein Ende der alten jüdischen Tradition der Gerechten herbeiführten. Rabbi Schulweis dagegen ist nicht nur bestrebt, diese Tradition wieder aufleben zu lassen, sondern er geht – auf der Grundlage ihrer christlichen Vorbilder – tatsächlich so weit, Gott im Holocaust aufzusuchen. Mit seiner Forderung, dass Nazi-Schurkerei durch christliche „Helden“, die „Hoffnung“ und „Gutes“ verkörpern, „ausgeglichen“ werden sollte, schreibt er ein neues und typisch amerikanisches Drehbuch für das „Erzählen“ der Geschichte des Holocaust. Daraus ist ein großes und noch wachsendes Corpus von „Rettungs“-Literatur und „Rettungs“-Filmen hervorgegangen, dessen höchster Ausdruck im Augenblick Spielbergs Schindlers Liste ist. Die Rezeption des Spielberg-Films zeigt deutlich, dass sehr viele Menschen begeistert auf die Verwendung von Erzählformen des Holocaust reagieren, die dazu beitragen, das wiederherzustellen, was Rabbi Schulweis die „moralische Symmetrie des Menschen“ nennt. Rabbi Schulweis hat in seinen Äußerungen zu dem Film so argumentiert: Wenn Schindlers Liste das den Holocaust definierende Symbol geworden ist, dann liegt das nicht an der künstlerischen Qualität des Films selbst, sondern daran, dass er den Zuschauer in die Lage versetzt, die dunkle Höhle zu betreten, ohne dass man das Gefühl hat, dass es keinen Ausgang gibt. „Wie weit doch jene kleine Kerze ihren Schein wirft“. Das Sich-Erinnern an den Holocaust ist ein heiliger Akt, der einen doppelten Auftrag enthält: Den Abgrund des Bösen bloßzulegen und Gutsein aus dem Staub des Vergessens ans Licht zu bringen.63

Eva Fogelman hat denselben Auftrag in die Form einer Frage gekleidet: „Jedes Kind kennt den Namen Hitler, aber wieviele kennen den Namen Raoul Wallenberg?“64 Tatsache ist aber, dass in der amerikanischen Bevölkerung in ihrer Gesamtheit und nicht nur bei den Kindern herzlich wenig sowohl über Hitler als auch über Wallenberg bekannt ist.65 Aber selbst wenn das Wissen über ersteren umfassend und das Wissen über letzteren kaum vorhanden wäre, dann wäre das Argument in 62 André Schwarz-Bart, The Last of the Just, übers. Stephen Becker (New York: Atheneum, 1961), 374. Zu einer knappen, aber informativen Geschichte der jüdischen Volkslegende des „gerechten Menschen“ siehe Gershom Scholem, „The Tradition of the Thirty-Six Hidden Just Men“, The Messianic Idea in Judaism and other Essays on Jewish Spirituality (New York: Schocken Books, 1971), 251–256. 63 Schulweis, For Those Who Can’t Believe, 157. 64 Fogelman, Conscience and Courage, 303. 65 Die Autoren von What Do Americans Know about the Holocaust? und Holocaust Denial: What the Survey Data Reveal stimmen hinsichtlich des Wisssensstandes der Amerikaner in Bezug auf den Holocaust überein und kommen zu dem Schluss, dass er allgemein „oberflächlich, mangelhaft und unvollkommen“ ist. Aus ihrer begründeten Sicht ist „Unwissenheit über den Holocaust weit verbreitet“ (Holocaust Denial, 3, 22).

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Kapitel 3

Bezug auf „Ausgewogenheit“ nicht überzeugend. Eine „Symmetrie“ in der historischen Gewichtung von Hitler und Wallenberg oder Hitler und Schindler oder auch Hitler und die guten Menschen von Le Chambon hat es nie gegeben und kann es auch nicht geben. Die guten Taten der Gerechten sind es mit Sicherheit wert, dass man sich ihrer erinnert, aber wenn man sie auf fast dieselbe Ebene mit den Untaten Hitlers hebt und wenn man beide in einen „doppelten Auftrag“ des HolocaustGedenkens einbindet, dann formt man schließlich die Geschichte des Holocaust und die Erinnerung daran in einer Weise um, die notwendigerweise verschleiert, wie entsetzlich der Holocaust tatsächlich war. Eine solche Konsequenz lag natürlich nicht in der Absicht von Rabbi Schulweis; er hat sich in der Tat in dieser Hinsicht mehrmals nachdrücklich erklärt. Trotzdem ist das unvermeidliche Resultat seiner moralischen „Kunst der Erinnerung“ klar: Dadurch, dass man „Retter“ als zentrale Figuren im „Erzählen“ vom Holocaust erscheinen lässt – als ob die moralische Qualität Wallenbergs oder Schindlers auf derselben Ebene wie das Böse Hitlers wäre und diese irgendwie ausgleichen könnte –, ändert man den Kern der Erinnerung an den Holocaust in einer Art und Weise, die ziemlich sicher jede ernsthafte Einsicht in die Untaten der Mörder und in das Leiden der Opfer zunichte macht. Als Folge eines solchen Wandels mag sich bei manchen der religiöse Glaube erneuern, und bei anderen mag sich die grundsätzliche Einstellung zu dem jüdischchristlichen Dialog in Amerika verbessern; aber es besteht Grund zu der Annahme, dass die begeisterte Hervorhebung der „Gerechten“ mit der Zeit eine stärkere Gleichgültigkeit gegenüber den erschütterndsten historischen Geschehnissen dieses vergangenen Jahrhunderts fördert. Die Verfechter von „Ausgewogenheit“ dürfen also die Verhältnismäßigkeit nicht aus dem Auge verlieren – das heißt, den ausgeprägten Charakter der historischen Realität selbst. Der israelische Autor Aharon Appelfeld hat diesbezüglich in einer Weise geschrieben, die die dringend benötigte Perspektive in etwa wiederherstellt: Während des Holocaust gab es tapfere Deutsche, Ukrainer und Polen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu retten. Aber die Charakterstärke dieser bewundernswerten Einzelpersonen ist nicht der Inbegriff des Holocaust. … Ich sage das, weil Überlebende tiefe Dankbarkeit ihren Rettern gegenüber empfinden können und dabei manchmal vergessen, dass es nur wenige Retter gab, aber sehr viele Böse, die Juden an die Nazis verrieten.66

Appelfelds ernüchternd sachliche Worte machen auf eine parallele Entwicklung innerhalb der „Rettungs-“Literatur aufmerksam, die sich über die Jahre hin herausgebildet hat, besonders in den Vereinigten Staaten – nämlich auf die Rettung, die nicht eintrat.67 Inzwischen hat sich eine erzählerische Gegenbewegung gegen die Berichte, die die „Retter“ und „die Gerechten“ preisen, herausgebildet: Sie beginnt mindestens mit der weit zurückliegenden Veröffentlichung von Arthur Morse, While 66 Aharon Appelfeld, Beyond Despair (New York: Fromm Publishers, 1994), xiii. 67 Ich danke Eric Sundquist von der Universität von Kalifornien in Los Angeles dafür, dass er mir Einblicke in dieses Phänomen gewährt hat. Die Amerikanisierung des Holocaust  | 89

Six Million Died: A Chronicle of American Apathy (Während sechs Millionen umkamen: Eine Chronik der Apathie in Amerika) und setzt sich in einer bedeutenden Weise mit David Wymans einflussreichem Buch The Abandonment of the Jews (Die Verlassenheit der Juden) fort.68 Diese Gegenbewegung dokumentiert und prangert Gleichgültigkeit und Antisemitismus an, die auf Regierungsebene, in den Nachrichtenmedien69 und in Teilen der Öffentlichkeit allgemein festzustellen sind, und kritisiert die Tatsache scharf, dass nicht noch mehr getan wurde, um die gefährdeten Juden Europas zu retten. Raphael Medoff, Direktor des David Wyman Institute for Holocaust Studies und zusammen mit Wyman Mitautor von A Race against Time: Peter Bergson, America, and the Holocaust (Ein Wettlauf gegen die Zeit: Peter Bergson, Amerika und der Holocaust), hat sich mit besonderem Engagement auf die Versäumnisse der Kriegspolitik der Regierung von Präsident Roosevelt konzentriert. Zusammen mit anderen hat er bedeutende Debatten über den Status von Flüchtlingen sowie auch darüber wach gehalten, dass das amerikanische Militär es versäumt hat, die Nazi-Todeslager oder die zu ihnen führenden Bahnstrecken zu bombardieren.70 Wenn man diese Veröffentlichungen gründlich genug liest, dann ergibt sich ein sehr viel dunkleres Bild der amerikanischen Reaktionen auf den Holocaust, das die positiveren Argumente, die Rabbi Schulweis vorzubringen versuchte, in Frage stellt. Obwohl die Auffassungen von Morse, Wyman, Medoff und anderen wissenschaftlich verdienstvoll sind, ist es jedoch unwahrscheinlich, dass sie mit den überwältigend positiven Sichtweisen, die in dem immer noch wachsenden Corpus der „Rettungs-“Literatur vorgebracht werden, konkurrieren können. Wie andere, so können Amerikaner auch nur ein gewisses Maß an historischem Schmerz angemessen würdigen, und, während sie das Leiden anderer zwar nicht leugnen, beziehen sie aus einer Geschichte des Massenmordes lieber einen Rest von moralischem Idealismus. Wie schon gezeigt, ist diese Tendenz in den letzten Jahren stärker geworden, obwohl man sie innerhalb der Reaktionen der Amerikaner auf den Holocaust schon vor einigen Jahrzehnten feststellen konnte, als einige den bösen Charakter des Nazi-Völkermordes einfach nicht mehr ertragen konnten. Man hört das Leitmotiv zu einem religiösen Gegenrespons auf Gräueltaten in Pater John O’Briens 68 Weitere erwähnenswerte Bücher mit dieser Zielrichtung sind u. a. Henry Feingold, The Politics of Rescue: The Roosevelt Administration and the Holocaust, 1938–1945 (New York: Holocaust Library, 1980); Richard Breitman, Official Secrets: What the Nazis Planned, What the British and Americans Knew (New York: Hill and Wang, 1998); Saul Friedman, No Haven for the Oppressed: United States Policy toward Jewish Refugees, 1938–1945 (Detroit: Wayne State University Press, 1973). 69 Zu anderen Veröffentlichungen über die amerikanischen Medien siehe Deborah Lipstadt, Beyond Belief: The American Press and the Coming of the Holocaust, 1933–1945 (New York: The Free Press, 1986) und Laurel Leff, Buried by the Times: The Holocaust and America’s Most Important Newspaper (Cambridge: Cambridge Univerity Press, 2005). 70 Ein Gegenargument findet sich bei William D. Rubinstein, The Myth of Rescue: Why the Democracies Could Not Have Saved More Jews from the Nazis (New York: Routledge, 1997).

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Vorwort zu Philip Friedmans Buch Their Brothers’ Keepers (Die Hüter ihrer Brüder), dem ersten auf Englisch geschriebenen Buch über christliche „Retter“. Pater O’Brien beginnt durchaus sachlich: Die Geschichte von Hitlers Plan, die „Judenfrage“ in Deutschland und in all den Ländern, die unter dem Joch der Nazis waren, durch die einfache Maßnahme der Ausrottung zu lösen, … ist ein entsetzliches und schockierendes Beispiel von Brutalität, Folter und Mord, das im Hinblick auf das große Ausmaß der vorsätzlichen systematischen Bestialität in der gesamten Geschichte der Menschheit wohl unübertroffen ist. Vor dem Lesen solcher Berichte weichen Menschen instinktiv zurück, denn sie sind alles andere als eine angenehme Lektüre.

Pater O’Brien hat mit beidem Recht: Die Schrecken der Nazi-Verbrechen gegen die Juden haben keine Parallele, und wenn das entsetzliche Geschehen in einer Weise dargestellt wird, die das Grauen nicht abmildert, weichen die meisten Menschen wohl davor zurück. Die amerikanischen Darstellungen des Holocaust, die das erkennen, angefangen mit dem Tagebuch der Anne Frank in den späten fünfziger Jahren bis hin zum Holocaust-Projekt und zu Schindlers Liste, suchen nach Wegen, ein Geschehen von unerträglichem Leid mit positiven Bildern der Hoffnung „auszugleichen“. So wird die Erinnerung an Anne Franks entsetzliches Schicksal in Auschwitz und Bergen-Belsen durch ihre transzendente „Botschaft des Glaubens an die Menschheit“ abgemildert; die Opfer, die in Judy Chicagos Holocaust-Projekt dargestellt werden, sind nicht nur die europäischen Juden, die vor drei Generationen zu Millionen abgeschlachtet wurden, sondern eine viel umfassendere und verallgemeinerte Gesamtheit leidender Menschen, Tiere und der leidenden Erde selbst; und die Juden von Krakau und anderen europäischen Orten, die zusammengetrieben und deportiert und in den Nazi-Mordzentren Polens umgebracht wurden, werden in Schindlers Liste als bloße Hintergrundfiguren dargestellt, wohingegen der Vordergrund von einer kleinen Anzahl Juden eingenommen wird, die ihr Leben einem „guten“ Nazi verdanken, der sich gegen alle Erwartungen als ihr Retter erwies. Hierbei und auch in recht vielen anderen Fällen begegnet man einer amerikanischen Erinnerung an den Holocaust, die sich allmählich so herausbildet, dass „Opfer“ präsentiert werden, aber auch „Überlebende“, „Täter“, aber auch „Retter“, „Zuschauer“, aber auch „Befreier“ usw. Ein auf diese Weise „ausgewogenes“ Bild, das „die moralische Symmetrie des Menschen“ wiederherstellen soll, ermöglicht es amerikanischen Erziehern, das, was man gemeinhin „die Lektionen des Holocaust“ nennt, einem sehr unterschiedlichen Publikum zu vermitteln. Anstelle des Empfindens der Schmach, das jetzt und für immer jede ernsthafte Begegnung mit dem beispiellosen Bösen der Nazi-Verbrechen gegen die Juden begleiten sollte, erleben wir, wie sich moralische Fermente verschiedenster Art herausbilden – die „Gerechten unter den Völkern“, die „Retter“, die „Lichtträger in einer Zeit der Dunkelheit“, usw. Durch diese Figuren findet Rabbi Schulweis einen Weg zu einem erneuerten Glauben an Adonai, und Pater O’Brien findet ein Hilfsmittel, um christliche Tugenden zu feiern: Die Amerikanisierung des Holocaust  | 91

Dies wird benötigt, um die Erniedrigung und die Niedertracht der Juden-Quäler mit der Tapferkeit und dem Heldenmut der Juden-Helfer auszugleichen. … [Their Brothers’ Keepers] zeigt, dass neunzehn Jahrhunderte christlicher Unterweisung nicht ohne Resultate geblieben sind. So tief war das fundamentale Gesetz der christlichen Religion – die Pflicht, seinen Nächsten zu lieben – in Kette und Schuss des christlichen Gewissens eingewoben worden, dass Tausende in allen Ländern den strengsten Befehlen und Drohungen der Gestapo trotzten und Juden Zuflucht gewährten. … Sie bewiesen, dass sie wirklich ihrer Brüder Hüter waren und dass Jesus von Nazareth das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter nicht umsonst erzählt hatte.71

Wenn man diese Ausführungen in einer solchen Gestimmtheit beendet, dann lässt man damit Hoffung und Trost aufscheinen; man verdunkelt damit aber auch ein fast beispielloses Geschehen menschlichen Verrats, menschlicher Erniedrigung und Vernichtung. Dennoch ziehen die meisten Menschen – und besonders die meisten Amerikaner – Pater O’Briens Nachdruck auf eine positive Geschichtsauffassung einer trostlosen Sichtweise vor. Um diese Ausführungen weiterhin zu untermauern, wenden wir uns nun einer Untersuchung der kritischen und sich beständig ändernden Rolle Anne Franks zu.

71 Pater John A. O’Brien, Vorwort zu Philip Friedman, Their Brothers’ Keepers (New York: Holocaust Library, 1978; zuerst veröffentlicht 1957), 7–8.

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Kapitel 3

Kapitel 4

Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod

Für mich ist sie eine der Überlebenden. – EINE INSCHRIFT EINES ANONYMEN BESUCHERS DES ANNE FRANK-HAUSES1

Man hat geschätzt, dass unter den fast sechs Millionen Juden, die während des Zweiten Weltkriegs den Nazis zum Opfer fielen, mindestens eine Million, wenn nicht sogar anderthalb Millionen Kinder waren. Yad Vashem in Jerusalem und andere Forschungsinstitutionen an anderen Orten haben viele ihrer Namen registriert. Für die Welt im allgemeinen tragen diese Kinder jedoch nur einen Namen – den der Anne Frank. Es ist nicht so, dass wir über die anderen keine Informationen hätten; denn mehr als nur einige waren jugendliche Autoren, die Tagebücher und andere persönliche Zeugnisse geschrieben haben, die uns überliefert sind. Zum größten Teil sind diese anderen Bücher jedoch relativ unbekannt geblieben, wohingegen das Tagebuch der Anne Frank fast sicher das am meisten gelesene Buch des Zweiten Weltkrieges ist. Es ist so, als ob die breite Öffentlichkeit es vorgezogen hat, dem Gedächtnis der anderen dadurch ihren Tribut zu zollen, dass sie des einen Kindes gedenkt, das heute für alle kindlichen Opfer der Nazi-Ära steht. Der Million von Kindern – oder sogar einer größeren Zahl –, die umgekommen sind, haben wir einen kollektiven Namen gegeben: Anne Frank. Wie erklärt sich diese bemerkenswerte Metonymie? Wie ist sie entstanden, und welche Informationen über die Herausbildung eines umfassenderen populären Verständnisses des Holocaust könnte sie uns geben? Diese Fragen werden in diesem Kapitel im Zentrum meiner Untersuchung stehen; es ist ein Kapitel, das klären möchte, auf welche Weise – auf der Ebene gängiger Wahrnehmungen – eine Einstellung zur Vergangenheit durch die Projektion einzelner Bilder mit allgegenwärtiger und bezwingender Kraft entscheidend geprägt zu werden scheint. Durch eine Untersuchung der Entwicklung des Bildes der Anne Frank hoffe ich, etwas über die Art und Weise, wie sich die Erinnerung der Öffentlichkeit an die Nazi-Ära seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges selbst entwickelt hat, aussagen zu können. An der fortdauernden starken Präsenz der Figur der Anne Frank kann es heute keinen Zweifel geben. Vereinfacht ausgedrückt, ist sie vielleicht das berühmteste Kind des 20. Jahrhunderts. Ihr Buch ist in Dutzende von Sprachen übersetzt wor1 Das Epigramm ist aus Dick Houwaart, Anne in’t voorbijgaan: Emoties, gedachten en verwachtingen rondom het huis en het Dagboek van Anne Frank (Amsterdam: Keesing Boeken, 1982), 20. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 93

den, und viele Millionen von Menschen überall in der Welt haben es gelesen. Weitere Millionen sind durch Versionen ihres Tagebuches in Drama und Film mit ihrer Geschichte vertraut. Straßen, Schulen und Jugendzentren tragen ihren Namen, ebenso wie öffentlich aufgestellte Statuen, Briefmarken und Gedenkmünzen ihr Bild zeigen. Jugenddörfer, Wälder und Stiftungen sind nach ihr benannt; Ballette, Requiems und Kantaten sind für sie geschrieben worden; Gedichte und Lieder sind als Tribut an sie verfasst worden; und unterschiedlichste Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, von Politikern bis hin zu Religionsführern, beschwören regelmäßig ihren Namen und zitieren Zeilen aus ihrem Buch. Mit all diesem werden ihr Name, ihr Gesicht und ihr Schicksal für uns beständig wach gehalten. Zur Illustration dieses Phänomens, das mit den Jahren keineswegs nachlässt, sondern in Umfang und Intensität immer mehr zuzunehmen scheint, betrachte man das Folgende: Im Juni 1989 wurde in New York eine Reihe von Gedenkveranstaltungen aus Anlass des Tages abgehalten, an dem Anne Frank sechzig Jahre alt geworden wäre. Bürgermeister Koch proklamierte offiziell die mit dem 12. Juni beginnende Woche als „Anne Frank-Woche“. Eine größere Ausstellung mit Fotos und Texten aus der NaziÄra mit dem Titel „Anne Frank in der Welt: 1929–1945“ wurde in der City Gallery am Columbus Circle eröffnet und später in der Cathedral of Saint John the Divine und an anderen Orten in New York gezeigt. Die Ausstellung zog Zehntausende von Besuchern an. Ein Festkonzert mit berühmten Persönlichkeiten mit Wort- und Musikbeiträgen wurde zu Ehren von Anne Frank unter dem Titel „Zum Gedenken an Anne Frank“ am Abend des 12. Juni eröffnet. Später an demselben Abend strahlte ein bekannter New Yorker Fernsehsender die amerikanische Premiere von Willy Lindwers Dokumentarfilm The Last Seven Months of Anne Frank (Die letzten sieben Monate der Anne Frank) aus, der mit dem Emmy-Award ausgezeichnet wurde. Ein zweiter Film über Juden, die während des Krieges von Christen versteckt worden waren, wurde auch gezeigt. An dem Tag wurden auch folgende Bücher veröffentlicht: Die kritische Ausgabe (Doubleday) des Tagebuchs der Anne Frank2 sowie ein neues Schul-Curriculum, The End of Innocence: Anne Frank and the Holocaust (Das Ende der Unschuld: Anne Frank und der Holocaust).3 Eine Kunstausstellung, die in einer bedeutenden Galerie in Manhattan eröffnet wurde, zeigte „The Anne Frank Series“ (Die Anne Frank-Serie). Am 13. Juni moderierte Bill Moyers zur Hauptsendezeit eine spezielle Sendung über „The Legend and the Legacy of Anne Frank“ (Die Legende und das Vermächtnis der Anne Frank). Am darauf folgenden Tag fand ein internationales Symposion über Anne Frank statt; einen Tag später wurde ein Workshop zur Weiterbildung von Lehrern veranstaltet, um Lehrer der weiterführenden Schulen in das Thema „Anne Frank und der Holocaust“ einzuführen; und so ging es durch die ganze Woche weiter. 2 David Barnouw und Gerrold van der Stroom, Hg., The Diary of Anne Frank: The Critical Edition, übers. Arnold J. Pomerans und B.M. Mooyaart-Doubleday (New York: Doubleday, 1989). 3 Karen Shawn, The End of Innocence: Anne Frank and the Holocaust (New York: International Center for Holocaust Studies, Anti-Defamation League of B’nai B’rith, 1989).

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Ähnliche Veranstaltungen fanden außerhalb von New York statt; in Pennsylvania, New Jersey, Texas und anderswo wurden Filme über Anne Franks Leben gezeigt, Vorlesungen über ihr Buch und Lesungen daraus wurden abgehalten, Musikprogramme wurden dargeboten, und Theaterproduktionen des Tagebuchs der Anne Frank kamen zu ihrem Gedächtnis heraus. Paul Simon, U.S.-Senator von Illinois, legte dem Senat am 12. Juni 1989 einen Entschließungsantrag vor, demzufolge dieser Tag zum „Anne Frank-Tag“ erklärt werden sollte. In seinem Antrag bemerkte er, dass mehr als zwanzig Städte landesweit den Tag im Gedenken an Anne Frank begehen würden. In Philadelphia präsentierte eine neue pädagogische Stiftung, das „Anne Frank-Institut“, ihren jährlichen Anne Frank-Jugendpreis und gab Pläne bekannt, das landesweit erste Anne Frank-Museum entstehen zu lassen (es wurde aber nie gebaut). In ihrer Geburtsstadt Frankfurt verweist eine Gedenktafel auf ihr Geburtshaus, und 1989 wurde eine größere Ausstellung über Anne Frank im historischen Museum der Stadt organisiert. An verschiedenen Orten in Westdeutschland besuchten sehr viele Menschen die Wanderausstellung „Anne Frank in der Welt“, gingen zu Vorlesungen und Symposien über sie, sahen Filme aus der Zeit, in der sie lebte, und ließen sich über die Art ihres Todes und des Todes vieler anderer informieren. Die Ausstellung, die von der Anne Frank-Stiftung in Amsterdam organisiert wurde, reiste auch in verschiedene Städte in den Vereinigten Staaten, in Europa und Asien. Bis heute haben Millionen von Menschen in über hundert Städten der Welt die Ausstellung gesehen.4 Die oben genannte Liste ist keineswegs erschöpfend. Sie soll nur die vielfältige Art und Weise illustrieren, in der die Figur der Anne Frank einen so herausragenden Platz bei uns erhalten hat und heute die fast unangefochtene Position als zeitgenössische kulturelle Ikone innehat. Es geht daher nicht um die Frage nach ihrer konstanten Präsenz, die inzwischen eine Gegebenheit ist, sondern um die Frage nach dem Symbolwert dieser Präsenz. Wie kommt es, dass es unter den vielen Millionen, die während der Nazi-Ära umkamen, Anne Frank ist, die fast einzigartig als eine so beherrschende Figur dasteht? Was repräsentiert sie inzwischen für eine riesige Anzahl von Menschen überall in der Welt, die sich mit solcher Macht von ihrem Bild angezogen fühlen? Kurz: Wer ist die Anne Frank, die wir in Erinnerung haben? Bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen sollten wir zunächst über die frühesten Signale nachdenken, die schon andeuteten, dass Anne Frank schließlich aus der Unzahl der anonymen Toten von Bergen-Belsen hervortreten und eine posthume Existenz von solch ungewöhnlicher Kraft und Größe innerhalb der gängigen Kultur annehmen würde. Anfangs war die Rezeption ihres Tagebuches nämlich gar nicht so vielversprechend. Nach Berichten des Historikers Louis de Jong und anderer hatten mehrere niederländische Verlage das Manuskript Het Achterhuis (Das Hinterhaus) abgelehnt, ehe es schließlich von Contact, einem Amsterdamer Verlag, angenommen 4 Legacy: The Newsletter of the Anne Frank Center (2. Juni 1989). Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 95

wurde.5 Die erste Auflage, die im Juni 1947 erschien, war mit nur 1500 Exemplaren relativ klein; dies spiegelte zweifellos das verbreitete Gefühl, dass die Menschen des Krieges überdrüssig waren und vermutlich nicht zum wiederholten Male an das Leid erinnert werden wollten, das die Jahre der Besatzung geprägt hatte. Die erste kritische Notiz, geschrieben von Jan Romein, Professor für niederländische Geschichte an der Universität Amsterdam, ließ einen ausgesprochenen Pessimismus in Bezug auf die Aussichten anklingen, dass eine Geschichte wie die von Anne Frank überhaupt viele Leser finden würde. Nach einem Lob für die Intelligenz, die Anschaulichkeit und Menschlichkeit ihres Tagebuches und dem Hinweis darauf, dass die jugendliche Autorin in einem der schlimmsten der deutschen Konzentrationslager kurz vor der Befreiung umgekommen war, äußerte er folgende Gedanken: Die Art ihres Todes ist unerheblich. Viel wichtiger ist, dass dieses junge Leben vorsätzlich durch ein System von irrationaler Grausamkeit beendet wurde. Wir hatten uns geschworen, dieses System niemals zu vergessen und ihm niemals zu vergeben, solange es noch wütete; nun aber, da es nicht mehr besteht, vergeben wir allzu leicht oder vergessen zumindest, was letztlich dasselbe bedeutet.6

Was so bemerkenswert an dieser Aussage ist, das ist ihr Datum: April 1946. Der Krieg war noch nicht einmal ein Jahr zu Ende, und doch war, wie aus Romeins deprimierten Worten hervorgeht, die Frage der Erinnerung eine sorgenvolle Frage; sie war im Hinblick auf die spätere Entwicklung vielleicht sogar schon eine verlorene Frage. Romeins Reaktion auf Anne Franks Tagebuch (er hatte nach der Lektüre des Manuskripts den kleinen Artikel ein volles Jahr, ehe Contact die erste Ausgabe des Buches herausbrachte, geschrieben) war geprägt von seinem Gefühl, dass der Krieg all das, was an kulturellen Kräften vielleicht noch da war, um gegen den Nationalsozialismus wirkungsvoll Widerstand leisten zu können, hinweggefegt hatte und dass es in der Nachkriegszeit nur wenige Anzeichen dafür gab, dass sich an seiner Stelle eine aktive demokratische Gegenkraft würde etablieren können. Und so zog er pessimistisch folgenden Schluss: „Wir haben den Kampf gegen das Tier im Menschen verloren. Wir haben verloren, weil wir es durch nichts Positives haben ersetzen können. Und deswegen werden wir auch wieder verlieren“. Wenn sich diese Ansicht durchgesetzt hätte, dann wäre natürlich Anne Franks Geschichte eine unbedeutende Angelegenheit geblieben, eine von Hunderten von Kriegstagebüchern, die in den Archiven des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation aufbewahrt werden, aber eine, die im übrigen kaum bekannt wäre. So aber sollte Romeins Leserzeugnis des Tagebuchs der Anne Frank keine weite Verbreitung finden, denn innerhalb von zehn Jahren nach seiner Rezension sollte das Tagebuch ein großes Publikum überall in der Welt in seinen Bann ziehen. Spätere Leser sollten sich dann offensichtlich auf Aspekte der Geschichte der Anne 5 Louis de Jong, „The Girl Who Was Anne Frank“, The Reader’s Digest, Oktober 1957, 118. 6 Jan Romeins Artikel ist nachgedruckt in Anna G. Steenmeijer, Hg., A Tribute to Anne Frank (Garden City, New York: Doubleday & Company, 1971), 21; in leicht veränderter Übersetzung ist er auch erschienen in The Diary of Anne Frank: The Critical Edition, 67–68; die hier gegebenen Zitate sind der Fassung A Tribute to Anne Frank entnommen.

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Frank konzentrieren, die Romein entweder übersehen oder die er für zweitrangig gehalten hatte. Klar ist jedoch, dass weder seine Sichtweise in Bezug auf Anne Frank „falsch“ war, noch dass er ihr Buch „mangelhaft“ gelesen hätte. Vielmehr verwiesen ihn die Entdeckungen, die er in dem Tagebuch gemacht hatte, zurück auf die Verwüstungen, aus denen die Länder Europas nur langsam wiedererstanden. Das Buch zeigte ihm „die wirklichen Schrecken des Faschismus, mehr als dies alle Nürnberger Prozesse tun konnten“, und schilderte wie in einem Überblick „das schlimmste Verbrechen jenes verabscheuungswürdigen Ungeistes …, die Vernichtung von Leben und Lebenskraft, und zwar aus keinem anderen Grund als dem der sinnlosen Zerstörungssucht“. Überdies spürte er auch, dass die Gewalt des von den Nationalsozialisten entfesselten Ungeistes sich noch längst nicht verausgabt hatte und dass Anne Frank kaum sein letztes Opfer gewesen sein würde. „Unabhängig davon, in welcher Gestalt die Unmenschlichkeit uns Fallen stellen mag, werden wir solange darin gefangen werden, wie wir diese Unmenschlichkeit nicht durch eine positive Kraft ersetzen können“. Der Name, den Romein dieser positiven Kraft gab, war „Demokratie“, und er beschloss sein Nachdenken über den Konflikt zwischen Faschismus und einem lebenskräftigen Widerstand dagegen mit diesen melancholischen Worten: „Und trotz all unserer guten Absichten sind wir immer noch genauso weit entfernt von dieser Art Demokratie wie vor dem Krieg“. Romeins Artikel bot eine düstere Sichtweise in Bezug auf die neueste Geschichte und ließ eine Angst erkennen vor den Auswirkungen dieser Altlast auf Europa in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In diesem Bezugsrahmen las er Anne Franks Tagebuch auf die einzige ihm mögliche Art, nämlich als einen mahnenden Text. Die jugendliche Autorin des Buches war schließlich von den Nationalsozialisten ermordet worden, und ihr Tod erschien ihm als eine Warnung vor weiteren künftigen Verwüstungen, wenn der von den Nazis entfesselte Ungeist des Nihilismus nicht dauerhaft überwunden werden könnte. Romein erkannte durchaus Anne Franks frühreifes Talent, aber er fand nichts in ihrem Tagebuch, was sein waches Bewusstsein ihres schrecklichen Endes und des monströsen Systems, das sie vernichtet hatte, hätte überhöhend mildern können. Romeins Artikel, „Die Stimme eines Kindes“, erschien auf der Titelseite der niederländischen Zeitung Het Parool vom 3. April 1946; und man muss positiv hervorheben, dass der Artikel ein Interesse, das dann auch die Aufmerksamkeit anderer weckte, an Anne Franks damals noch unveröffentlichtem Manuskript erkennen ließ. Im folgenden Juni erschien das Buch mit einer Einleitung von Romeins Frau und, auf dem Schutzumschlag, mit Auszügen aus seinem Artikel. Die frühen Rezensionen waren, wie der niederländische Wissenschaftler Gerrold van der Stroom sagte, durchweg positiv und bezeichneten das Buch als „ein moralisches Testament“, „ein menschliches Dokument von großer Klarheit und Aufrichtigkeit“, und als einen Text, der „das Elend“, das es dokumentiert, „überhöhend mildert“.7 Diese Cha7 The Diary of Anne Frank: The Critical Edition, 71. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 97

rakterisierungen, die bei weitem optimistischer waren als die von Romein, sollten schließlich auch anderswo wiederholt und erweitert werden, als das Tagebuch dann in fremdsprachigen Übersetzungen erschien. Eine französische Ausgabe kam 1950 bei Calmann-Levy in Paris heraus; in demselben Jahr brachte der Heidelberger Verlag Lambert Schneider die erste deutschsprachige Fassung heraus; 1952 publizierte Valentine, Mitchell die britische Version, und um dieselbe Zeit legte Doubleday das Tagebuch den amerikanischen Lesern vor; innerhalb weniger Jahre folgten Übersetzungen in zahlreiche andere Sprachen. 1955 wurde die populäre Theaterversion von Frances Goodrich und Albert Hackett in den Vereinigten Staaten uraufgeführt und nach und nach von Theaterbesuchern auf der ganzen Welt sehr positiv aufgenommen.8 Vier Jahre später, 1959, wurde George Stevens’ Hollywood-Filmversion produziert und war ebenfalls ein internationaler Erfolg. Die „Stimme des Kindes“, die in Bergen-Belsen zum Schweigen gebracht worden war, wurde nun von zahllosen Menschen überall auf der Welt gehört. Was war es aber, das sie in dieser Stimme hörten, und warum wurden sie so davon angesprochen? Im Gegensatz zu Romein, der aus Anne Franks Geschichte das niederdrückende Gefühl mitnahm, „dass wir den Kampf gegen das Tier im Menschen verloren haben“, fanden die meisten späteren Leser in dem Buch eine weitaus heiterere Botschaft. Sie sahen Anne Frank als ein junges, unschuldiges, lebhaftes Mädchen, voller Lebenskraft und mit einem optimistischen Geist gesegnet, der sie in die Lage versetzte, niemals ihre Hoffnung für die Menschheit aufzugeben, selbst dann nicht, als ihre schlimmsten Vertreter entschlossen waren, sie aufzuspüren und zu ermorden. Sie empfanden ihre Geschichte zwar als zutiefst traurig, vielleicht aber letztlich nicht als tragisch; denn sie fanden darin auch Qualitäten von Zartheit und Innigkeit, Mut und Mitgefühl, Witz und Humor, von echtem religiösen Gefühl und entdeckten schließlich auch einen ambitionierten romantischen Idealismus; all dies nahm dem Bewusstsein der historischen Katastrophe, die Romein betont hatte, die Schärfe. Während er das Werk also primär als ein historisches Dokument las, das viel enthüllte, sahen die meisten anderen das Tagebuch eher als ein bewegendes persönliches Zeugnis, eine Kriegsgeschichte zwar, aber auch als das Werk eines intelligenten jugendlichen Geistes, der ein Leben schilderte, das von der täglichen Anspannung und der überall lauernden Bedrohung überschattet war, aber auch inspiriert von aufkeimender Liebe und menschenfreundlicher Intelligenz. In ihrer Einleitung zu der amerikanischen Ausgabe z. B. gab Eleanor Roosevelt zu, dass Anne Franks Buch ihr „das schlimmste Übel des Krieges schockartig bewusst machte – die Erniedrigung des menschlichen Geistes“, aber dass „Annes Tagebuch gleichzeitig den letztlich leuchtenden Adel dieses Geistes nachhaltig deutlich macht“.9 Die bejahende Haltung, die dieser Einschätzung innewohnt, ihr Streben nach see8 Der Text des Stückes wurde veröffentlicht als The Diary of Anne Frank, von Frances Goodrich und Albert Hackett (New York: Random House, 1956). 9 Einleitung zu Anne Frank: The Diary of a Young Girl (New York: Pocket Books, 1953), ix.

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lischer Harmonie, die in dem syntaktischen Gleichgewicht dieses Satzes zum Ausdruck kommt, ist typisch für eine größere Anzahl von frühen Reaktionen auf Anne Franks Buch bei amerikanischen Lesern. Ein Rezensent für Newsweek verwendete die Überschrift „Traurige Geschichte“, hob aber Anne Franks „Mut und Glauben“ hervor, lobte ihre Entschlossenheit, ihre Ideale unter den schwierigsten Umständen aufrechtzuerhalten, und schloss mit der Voraussage, dass „sie mit ihrem anschaulich und eindrucksvoll geschriebenen Tagebuch als begabte und sensible Jugendliche in Erinnerung bleiben wird, deren Geist nicht eingekerkert oder behindert werden konnte“.10 Eine Rezension in der Saturday Review hatte die Überschrift „Glanz und Untergang“ und argumentierte, wie schon der Titel nahelegt, für eine ausgewogene Lesart des Buches, wobei zwar auf die traurigen Aspekte hingewiesen wurde, aber schließlich auch auf eine positive Überzeugung, dass „aus dem Tagebuch dieses einen Mädchens ein Schimmer der Erlösung hervorleuchten möge“.11 Meyer Levin, der ein intensives, sogar besessenes Interesse an Anne Frank zeigen sollte, schrieb eine sehr anerkennende Rezension für die Titelseite der Sonntagsausgabe der New York Times Book Review, die zweifellos zu dem frühen Erfolg des Buches in den Vereinigten Staaten beitrug. Sie hat wohl auch die Bedingungen, unter denen das Buch von vielen seiner ersten Leser aufgenommen wurde, mitbestimmt. Levin notierte, dass „Anne Franks Stimme die Stimme von sechs Millionen verschwundener jüdischer Seelen wird“, sonst aber wies er dem historischen Aspekt des Tagebuches eine untergeordnete Rolle zu und betonte mehr die private Seite. Er lobte diese Seite als „ein warmherziges und bewegendes Bekenntnis“, ein „praktisch perfektes Pubertätsdrama“, das man zum Verständnis und auch zum Vergnügen immer wieder lesen sollte. Obwohl das Buch eine Geschichte sei, die unter den Bedingungen des letzten Krieges geformt wurde, brauchten die Leser, wie er betonte, nicht davor zurückzuschrecken, denn „dies ist keine düstere GhettoGeschichte und auch kein Sammelwerk von Schrecknissen“. Vielmehr sei das Buch repräsentativ „für den Charakter und das innere Wachstums des Menschen überall“, ein Buch, „das nur so übersprudelt vor Heiterkeit, Liebe und Entdeckerfreude“, und das „eine anrührende Freude an dem unendlichen menschlichen Geist“ ausdrücke. Für jemanden, der später eine leidenschaftliche Kampagne gegen jene führte, die er beschuldigte, Anne Franks Tagebuch durch Verallgemeinerung vorsätzlich zu entstellen, hat Levin in seiner Rezension in der New York Times aber nicht viel dafür getan, seine partikularistischen Aspekte hervorzuheben. Statt dessen schrieb er, das Tagebuch sei „so wunderbar lebendig, so nahe, dass man in überwältigender Weise das Allgemeine der menschlichen Natur spürt“. Die geschilderten Typen seien menschliche Typen, und zwar so eindringlich, dass die Franks und die Van Daans Leute seien, „die nebenan wohnen könnten“. Was die Autorin selbst angehe, „spürt man die Gegenwart dieses Kindes an der Schwelle zur Frau so warm, als ob 10 Newsweek, 16. Juni 1952. 11 Saturday Review, 19. Juli 1952, 20. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 99

sie sich in ein Sofa neben einem kuschelte“. „Mit Sicherheit“, schloss Levin, „wird dieses kluge und wunderbare junge Mädchen … von vielen geliebt werden“.12 Um dem Buch diesen Schwerpunkt zu geben – einen, der die Leser dazu drängt, das Mädchen eher als jugendliche Autorin zu schätzen als sie zu betrauern –, musste man aber das Tagebuch in einer solchen Weise lesen, dass Anne Franks Geschichte als eine aufbauende und nicht als eine erschütternde Erfahrung erschien. Der einzige Weg jedoch, um das zu erreichen, war, dass man ihre Geschichte ihres historischen Rahmens entkleidete und sie zwar als emblematisch für das jüdische Schicksal während der Nazi-Periode ansah, aber auch als eine Geschichte, die die Begrenzungen dieses Schicksal überstieg. Das Mädchen war nicht mehr da, aber etwas Kostbares, das ihren Geist kennzeichnete – das überschäumende Wesen, der jugendliche Optimismus, die Großherzigkeit –, würde ihre Mörder überdauern. Wie so viele andere, die über das Tagebuch geschrieben haben, konzentrierte sich Levin auf die Passagen, die Anne Franks Fröhlichkeit und Heiterkeit hervorhoben, und neigte dazu, die mehr düsteren Aspekte herunterzuspielen. Natürlich konnte weder Levin noch irgendjemand anders das letztliche Ende des jungen Mädchens ignorieren, aber dadurch, dass die zarten und eher veredelnden Aspekte der jugendlichen Gefühlslage in dem Buch betont wurden und seine dunkleren Bereiche in den Hintergrund gerieten, wurde es möglich, ein Bild der Anne Frank zu projizieren, das den Abscheu und das Erschrecken, die sonst die Reaktionen der Leser auf das Tagebuch gesteuert haben mochten, in gewisser Weise milderte. Kurz: Man wollte das Buch als einen inspirierenden und nicht als einen trostlosen Text betrachten können und nach der Lektüre eher Gefühle der Zuneigung für die Autorin mitnehmen können als Gefühle der Angst wegen ihres Schicksals oder des Abscheus vor denen, die ihr dieses Schicksal bereitet hatten. Diese Tendenz, ihre Geschichte zu idealisieren, kennzeichnete einen großen Teil der frühen Reaktionen auf Anne Franks Werk, besonders bei den amerikanischen Lesern. So zitierten Anne Birstein und Alfred Kazin in ihrer Einleitung zu The Works of Anne Frank das Nachtgebet des jungen Mädchens – „Ich danke Dir, Gott, für alles, was gut und lieb und schön ist“ – und deuteten an, dass dies vielleicht Annes letztes Gebet in ihrem Versteck war. Als sie am Abend vor dem 3. August 1944 zu Bett ging [am folgenden Tag sollte die Familie entdeckt und verschleppt werden], war vielleicht ihr letzter Gedanke der, dass sie reich gesegnet war: Ihre Jugend, ihre Kraft, ihre Liebe zu allen Menschen und zu allem, was um sie herum wuchs, ihre Nähe zu Gott, der dies alles bereitgestellt hatte.

Vielleicht. Aber, wie Birstein und Kazin hinzufügen, „man kann es nicht wissen“. Der Mangel an Wissen hinderte jedoch die beiden Autoren nicht daran, Anne Franks letzter Nacht in relativer Freiheit eine Aura von Hoffnung und Trost im Gebet zu verleihen. Birstein und Kazin legen sogar das Hauptgewicht auf die Inspirationsaspekte des Tagebuches und schreiben, dass es überlebt habe, „weil die Detailtreue, 12 New York Times Book Review, 15. Juni 1952, 1, 22.

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mit der sie über eine ungewöhnliche Erfahrung berichtet, uns erinnert … an das Liebenswerte und Gute, das in einer Welt möglich ist, in der einige wenige Seelen noch guten Willens sind. Das Tagebuch rührt uns an, weil die Autorin die Kraft hatte zu sehen, sich zu erinnern, zu hoffen“.13 Wie hier gezeigt, charakterisiert ein starker Wunsch, Anne Franks Geschichte als ein Vermächtnis der Hoffnung zu betrachten, einen großen Teil der frühen Rezeption des Tagebuches. Dieser Wunsch fand eine einflussreiche Erfüllung und einen neuen Auftrieb in dem Theaterstück The Diary of Anne Frank von Frances Goodrich und Albert Hackett von 1955. Das Stück sollte sich als außerordentlich erfolgreich erweisen, weil es ein großes Publikum zu Mitleid mit dem geistigen Bild des fröhlichen jungen Mädchens und zur Liebe zu ihr bewegen konnte, ohne die Zuschauer zugleich durch eine zu starke Betroffenheit in Bezug auf ihr Ende übermäßig zu ängstigen oder abzuschrecken. Mehr als jede andere „Lesart“ ihres Tagebuches war die Bearbeitung von Goodrich und Hackett dafür verantwortlich, ein Bild der Anne Frank zu projizieren, das in der Nachkriegszeit von einer großen Anzahl von Menschen angenommen werden konnte. Im wesentlichen schufen die beiden Autoren eine neue Anne Frank als triumphierende Figur, die charakterisiert war durch eine solche ununterdrückbare Hoffnung und einen solchen beharrlichen Optimismus, dass jedes Bewusstsein eines endgültigen grausamen Endes überwunden wurde. Walter Kerr drückte es in seiner Rezension des Stückes für die Herald Tribune so aus: „Sie steigt auf durch das Zentrum des Stückes mit der unbeschwerten Fröhlichkeit eines Vogels, der einfach nicht im Käfig festgehalten werden kann – das ist Anne Frank selbst. … Anne geht nicht ihrem Tod entgegen; sie wird einen bleibenden Eindruck auf das Leben hinterlassen, und der Tod soll das nehmen, was übrig bleibt“.14 Der Rezensent für die New York Post äußerte sich ähnlich, wenn er schrieb, dass das Stück „die Reinkarnation der Anne Frank bewirkt hat – als ob sie überhaupt nicht gestorben wäre“.15 Wenn die Zuschauer das Theater verließen, dann wussten sie natürlich, dass Anne Frank umgekommen war, angesichts der Energie und der Anziehungskraft der Persönlichkeit des jungen Mädchens jedoch hatten sie das Gefühl, das sie nicht besiegt worden war. Wie haben Goodrich und Hackett diesen Effekt erreicht? Die Bühnenautoren haben sich, wie hinreichend bekannt, einige große Freiheiten mit dem Text des Tagebuches erlaubt und dadurch, dass sie die mehr vorahnenden Einträge herunterspielten oder einfach gänzlich unterdrückten, haben sie ein Bild der Anne Frank geschaffen, das mehr als nur geringfügig von dem Bild, das das Mädchen sich in ihrem Tagebuch von sich selbst gemacht hatte, abwich. Insbesondere neigten sie dazu, den spezifisch jüdischen Aspekt ihrer Geschichte abzuschwächen und statt 13 Einleitung zu The Works of Anne Frank (Garden City, New York: Doubleday & Company, 1959); der Artikel von Birstein und Kazin liegt auch als Einleitung zu Tales from the House Behind (New York: Bantam Books, 1966) vor. 14 Herald Tribune, 23. Oktober 1955. 15 New York Post, 8. Oktober 1955. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 101

dessen ihre Erfahrung als die Erfahrung der leidenden Menschheit insgesamt zu verallgemeinern. Darin hatten sie, wie in Kürze erläutert wird, die Unterstützung und enge Mitarbeit sowohl von Otto Frank als auch von Garson Kanin, dem ersten Regisseur des Stückes. Sie betonten auch zu stark ihre fröhliche Seite, indem sie das Stück mit der tröstenden Versicherung enden ließen: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind“. Es ist dies eine Zeile, die in ihrem Tagebuch an keiner Stelle vorkommt, die irgendwie der gesteigerten Rolle gleichkäme, zu der sie in dem Stück gemacht wurde. „Diese Zeile“, so schrieb Lawrence Langer, „die über die Zuschauer hinwegschwebt wie eine Segnung, die nach der vorübergehenden bedrückenden Düsternis Gnade zusichert, ist das am wenigsten als angemessen vorstellbare Epitaph für die Millionen von Opfern des Nazi-Völkermordes und wird auch den Tausenden von Überlebenden nicht gerecht“.16 Natürlich hat Langer mit seiner Kritik Recht – oder zumindest hätte er Recht, wenn das Stück so konzipiert worden wäre, das Andenken der Millionen von Opfern des Nazi-Terrors zu ehren. In Wirklichkeit aber wurde das Stück mit einer ganz anderen Zielrichtung konzipiert. Garson Kanin drückt dies in einem recht aufschlussreichen Interview mit der New York Times so aus: „Dieses Stück verwendet Elemente, die hauptsächlich mit menschlichem Mut, mit Glauben, Hoffnung, Brüderlichkeit, Liebe und Selbstaufopferung zu tun haben. Je tiefer wir in die Materie einstiegen, desto mehr entdeckten wir, das es sich um ein Stück über das handelt, was Shaw ‚die Lebenskraft‘ nannte“.17 Hier gibt es kein grübelndes Bewusstsein eines Massensterbens. Was sich vielmehr an dieser Kette erhabener Abstraktionen zeigt, ist nichts anderes als eine idealisierte Vorstellung von Geschichte oder, genauer gesagt, überhaupt keine Vorstellung von Geschichte. Geschichte, wie Anne Frank und Millionen anderer europäischer Juden sie erlitten, war eine gefahrvolle Angelegenheit; aber weder die Bühnenautoren noch der Regisseur hatten vor, ein grauenvolles oder düsteres Stück auf die Bühne zu bringen. Aus anderen Äußerungen Kanins, die er zu der Zeit der Erstaufführung des Stückes in New York machte, wird deutlich, dass es schlicht und einfach nicht in seiner Absicht lag, die Zuschauer dem auszusetzen, was auch nur im entferntesten an den Völkermord erinnerte: Ich habe das Stück nie als ein trauriges Stück betrachtet. Auf keinen Fall möchte ich die Zuschauer mit deprimierenden Dingen konfrontieren; ich glaube, das ist kein legitimes Ziel des Theaters. Ich habe aber auch das Originalmaterial nicht als deprimierend empfunden. Ich habe es nie als ein soziologisches, historisches oder politisches Dokument betrachtet – sondern als ein menschliches Dokument. … Aus der Rückschau scheint mir Anne Franks Tod kein sinnloser Tod zu

16 Lawrence Langer, „The Americanization of the Holocaust on Stage and Screen“, From Hester Street to Hollywood, hg. Sarah Blacher Cohen (Bloomington: Indiana University Press, 1983), 216. 17 New York Times, 2. Oktober 1955.

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sein; denn sie hinterließ uns ein Vermächtnis, das bei Berücksichtigung des ganzen Geschehens für uns Sinn und Wert hat.18

Kanin fasste 1979 – fast 25 Jahre nach der ersten Bühnenfassung des Tagebuchs der Anne Frank – in einem Artikel für Newsweek zusammen, was er unter dem „Sinn und Wert“ der Geschichte der Anne Frank verstand. Er verglich sie u. a. mit Peter Pan und Mona Lisa, wenn er schrieb: „Anne bleibt für immer eine Jugendliche. … [Sie] erinnert uns daran, dass die Länge des Lebens nicht notwendigerweise seine Qualität ausmacht. … Anne lebt weiter. Sie bleibt für uns immer ein leuchtender Stern, eine strahlende Präsenz, die es in ihrer Zeit der Schrecken, der Demütigung und der Einkerkerung vermochte, in sich selbst die Fähigkeit zu finden, dies in ihr unsterbliches Tagebuch zu schreiben: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind“.19 So triumphiert Sentimentalität, hier auf eine fast naive Ebene herabgeholt, über die Geschichte. Wenn man berücksichtigt, dass sich die Bühnenautoren mit dem Text Freiheiten erlaubten, um ihn für ein populäres Bühnenstück umzuarbeiten, und dass der Regisseur ihm diese rührselige Fassung gab, dann wundert man sich nicht darüber, dass die Zuschauer in der bekannten Weise reagierten. Der Rezensent für Variety hatte folgendes über die New Yorker Erstaufführung zu sagen: Theoretisch müsste man nach dem Besuch dieses neuen Stückes … deprimiert herauskommen, mit Hass auf die Nazis, mit Abscheu angesichts dessen, was sie Millionen von unschuldigen Menschen angetan haben, insbesondere aber dem jungen jüdischen Mädchen aus den Niederlanden, deren Name Anne Frank war. … Das „Tagebuch“ kommt jedoch als ein leuchtendes, rührendes und häufig humorvolles Stück daher, das praktisch all das hat, was man sich nur wünschen kann. Es ist nicht trostlos.20

Der Rezensent für die Daily News schrieb: „Wie es auf der Bühne des Cort-Theaters erscheint, ist das Tagebuch der Anne Frank in keinem wesentlichen Sinne ein jüdisches Stück. … Es ist eine Geschichte des tapferen menschlichen Geistes. … Anne Frank ist das kleine Waisenkind Annie, das zu einem pulsierenden Leben erweckt wird“. Über die Familie, die sich verstecken musste, fuhr dieser Rezensent in derselben überschwänglichen Weise fort: „Ohne die Tapferkeit des menschlichen Geistes könnte dieser Aufenthaltsort einige Stockwerke über der Erde die Hölle sein. … Aber dieser Ort ist keine Hölle über der Erde; er ist ein Ort der Prüfung, an dem Männer, Frauen und Kinder sich das gesegnete Recht auf Leben verdienen.21 Andere zeigten ähnliche Reaktionen; in einer wurde erklärt, dass Anne Frank „dazu bestimmt war, ein Symbol für die Hoffnung der Menschen auf das Überleben des menschlichen Geistes zu werden;“ eine andere Äußerung prophezeite in pathetischer, aber ebenso sinnloser Weise, dass „wo auch immer und wann 18 Herald Tribune, 2. Oktober 1955. 19 Newsweek, 25. Juni 1979. 20 Variety, 6. Oktober 1955. 21 Daily News, 6. Oktober 1955. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 103

auch immer die Unmenschlichkeit dem Menschen gegenüber ausbricht, werden diese Charaktere und ihre Konflikte menschlich und dramatisch gültig sein“, etc.22 Kurz: Die Anne Frank, die aus diesem Stück hervorgeht, war so gestaltet, dass die konventionellsten Reaktionen mit Aussagen wie „die Unmenschlichkeit des Menschen dem Menschen gegenüber“, „der Triumph des Guten über das Böse“, die ewigen Wahrheiten des „menschlichen Geistes“ und andere derartige Banalitäten hervorgerufen werden. Die harte Wirklichkeit der Geschichte blieb unbeachtet, und stattdessen wurden sanftere, akzeptablere Bilder der Fröhlichkeit und moralischen Tapferkeit eines jungen Mädchens in der Vordergrund gerückt. Lawrence Langer fasst die unvermeidlichen Eindrücke, die ein Stück dieser Art auf Zuschauer ausübt, zusammen: Zuschauer, die sich 1955, nur ein Jahrzehnt nach dem Geschehen, dieses Stück ansahen, fanden darin wohl recht wenig, was ihre psychische oder emotionale Sicherheit bedrohen könnte. … Den Autoren der Bühnenfassung von Anne Franks Tagebuch fehlte der künstlerische Wille – oder der Mut –, den Zuschauern das überwältigende Bewusstsein zu vermitteln, dass Annes aufgeweckter Geist ausgelöscht worden, dass Anne, zusammen mit Millionen von anderen Menschen, einfach weil sie Jüdin war und aus keinem anderen Grund, umgebracht worden war.23

In den späten fünfziger Jahren traf man eine solche Kritik nur selten an. Im Gegenteil, die meisten Rezensionen des Tagebuchs der Anne Frank äußerten sich lobend, und das Stück hatte unmittelbaren Erfolg. Es erhielt 1956 alle größeren Theaterpreise – den Pulitzerpreis, den Critics Circle Prize und den Antoinette Perry Award – und wurde bald überall auf die Bühne gebracht. Bis heute ist es ein populäres Theaterstück geblieben und wird in allen größeren und kleineren Städten in der ganzen Welt aufgeführt. Dem Stück folgte 1959 ein Film in normaler Kinofilmlänge – das Drehbuch stammte ebenfalls von Goodrich und Hackett –, der ebenso populär wurde; 1967 erschien dann die erste von mehreren Fernsehbearbeitungen. Es folgten Videos, Kinderbücher und andere Filmbegleitbücher sowie eine Anzahl von Neuausgaben des Original-Tagebuches. Man kann somit ohne Übertreibung sagen, dass vermutlich mehr Menschen mit der Nazi-Ära durch die Figur der Anne Frank vertraut sind als durch irgendeine andere Figur jener Zeit mit der möglichen Ausnahme von Adolf Hitler selbst. Sehr viele Menschen erfahren etwas über jene Zeit zuerst durch Anne Franks Geschichte. Und ihre Geschichte ist wohl auch die letzte Geschichte ihrer Art, mit der sie in Berührung kommen und deren Bilder sie auch wahrscheinlich am besten behalten. Vernünftigerweise kann man also annehmen, dass, wenn Menschen ein Buch und nur ein Buch über die Opfer des Nationalsozialismus gelesen haben, es höchstwahrscheinlich The Diary of a Young Girl ist. Wenn sie ein Stück und nur ein Stück gesehen haben, dann ist es wahrscheinlich The Diary of Anne Frank von Goodrich und Hackett. Millionen haben die verschiedenen Film- und Fernsehfassungen gesehen, und weitere Millionen 22 B’nai B’rith Messenger, 3. Februar 1956; Congress Weekly, 19. Dezember 1952. 23 Langer, „The Americanization of the Holocaust on Stage and Screen“, 214–215.

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sind in Amsterdam gewesen, um das Haus an der Prinsengracht zu besuchen, wo das Tagebuch geschrieben wurde. Kurz: Die starke Wirkung der Anne Frank auf die Formung des historischen Bewusstseins einer großen Anzahl von Menschen ist kaum zu überschätzen. Mehr als jedes andere Einzelwerk der Nachkriegszeit muss ihr Tagebuch – in seinen verschiedenen Veränderungen – zu den ersten und dauerhaftesten populären Darstellungen des jüdischen Schicksals in der Ära der Verfolgungen durch die Nationalsozialisten gezählt werden. Wer ist aber die Anne Frank des Tagebuchs der Anne Frank? Welche Version der Autorin des Original-Tagebuches wird durch das Theaterstück von Goodrich und Hackett dargestellt? Aus einigen schon zitierten Theaterrezensionen geht hervor, dass die Anne der Bühne in manchen Punkten der Anne der gedruckten Seite gleicht, dass sie aber in anderen Punkten erheblich davon abweicht. Der Hauptunterschied ist, worauf in der Vergangenheit mehr als ein Kritiker hingewiesen hat, dass die Anne der Bühne mehr als universeller Typus konzipiert worden ist als die Anne des Original-Tagebuches. Es scheint auch, dass sie mit einem Geist erfüllt ist, der eher konstant optimistisch, ja sogar auf fast unzerstörbare Weise positiv ist. Zwar kann man Einträge in ihrem Tagebuch finden, die Anne Franks Fröhlichkeit illustrieren; wenn man aber offen dafür ist, kann man auch Passagen finden, aus denen ein weitaus tiefergehendes Bewusstsein jener Zeit und erhebliche Befürchtungen in Bezug auf aktuelle Ereignisse hervorgehen. Beim Hinausschauen aus den Fenstern ihres Verstecks z. B. sah Anne Frank die Brutalität der deutschen Besatzung und schrieb darüber (Eintrag vom 19. November 1942): Abend für Abend rumpeln die grau-grünen Militärlastwagen vorbei. Die Deutschen klingeln an jeder Haustür und fragen, ob Juden in dem Haus wohnen. Wenn ja, dann muss die ganze Familie unverzüglich mitgehen. Wenn sie keine finden, dann gehen sie zum nächsten Haus. Niemand hat eine Chance, ihnen zu entgehen, es sei denn, man versteckt sich. … Es ähnelt den Sklavenjagden in alten Zeiten. Aber es ist keineswegs ein Scherz; dafür ist es viel zu tragisch. Abends, wenn es dunkel ist, sehe ich oft reihenweise gute, unschuldige Menschen mit weinenden Kindern, die immer weiter gehen …, schikaniert und fast bis zum Umfallen hin und her gestoßen. Keiner wird verschont – alte Menschen, Kleinkinder, werdende Mütter, Kranke – alle zusammen müssen sich dem Todesmarsch anschließen.24

Die Szene wird anschaulich geschildert und zeigt, dass Anne Frank sich dessen recht wohl bewusst war, was unten auf den Straßen Amsterdams vor sich ging. Eine solche Passage kommt jedoch in dem Bühnenstück nicht vor. Goodrich und Hackett fanden es auch nicht passend, den folgenden Eintrag (9. Oktober 1942) in das Bühnenstück einzubeziehen, einen Eintrag, der in noch größerem Maße zeigt, dass sich die junge Tagebuchautorin des jüdischen Schicksals jener Zeit sehr bewusst war: Unsere zahlreichen jüdischen Freunde werden zu Dutzenden verschleppt. Diese Menschen werden von der Gestapo ohne den geringsten Anstand behandelt; sie werden auf Viehwagen verladen und nach Westerbork, dem großen jüdischen Lager in Drente, gebracht. Westerbork hat einen 24 Ebd., 34–35. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 105

fürchterlichen Ruf: Nur ein Waschraum für hundert Menschen und nicht ausreichend Toiletten. Es gibt keine getrennte Unterbringung. Männer, Frauen und Kinder schlafen alle zusammen. Man hört von erschreckender Sittenlosigkeit deshalb. Und viele der Frauen und selbst Mädchen, die hier auch nur eine Zeitlang zubringen, erwarten ein Kind. … Wenn es schon in Holland so schlimm ist, wie wird es in den weit entfernten und barbarischen Gegenden sein, wo [die Juden] hingebracht werden? Wir nehmen an, dass die meisten von ihnen ermordet werden. Der englische Rundfunk spricht davon, dass sie vergast werden.25

Es ergab sich, dass Anne Frank und ihre Familie selbst nach Westerbork gebracht werden sollten und von dort weiter in jene östlichen Gegenden, die hier so direkt beschrieben werden, dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft. Aber dieses Wissen wurde ebenfalls überhaupt nicht in irgendeiner wirklich greifbaren Weise in das Stück inkorporiert. Indem Goodrich und Hackett solche Passagen aus dem Text herausnahmen, haben sie es den Zuschauern vielleicht „erspart“, etwas von dem Schlimmsten, das Anne Frank selbst wusste oder befürchtete, zu erfahren; aber damit haben sie die Figur des jungen Mädchens eben auch ganz beträchtlich abgeschwächt. Sie haben sie auch von ihrem eindringlichen Bewusstsein dessen, dass sie selbst Jüdin war, distanziert. Bei dem Nachsinnen über das Elend ihrer familiären Situation z. B. wurde die Anne des Tagebuches veranlasst, über das Wesen der historischen Erfahrung der Juden nachzudenken, und schrieb gedankenvoll über das Verhältnis zwischen ihrem leidenden Volk und ihrem Gott (11. April 1944): Man hat uns unverblümt daran erinnert, dass wir im Verborgenen leben, dass wir Juden in Ketten sind, an einen Ort gefesselt, ohne Rechte, aber mit tausend Pflichten. Wir Juden dürfen unsere Gefühle nicht zeigen, wir müssen tapfer und stark sein, müssen alle Unzuträglichkeiten akzeptieren und dürfen nicht murren. … Wer hat uns das auferlegt? Wer hat es gemacht, dass wir Juden anders sind als alle anderen Leute? Wer hat es zugelassen, dass wir bis heute so schrecklich leiden mussten? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, wie wir sind, aber es wird auch Gott sein, der uns wieder aufstehen lassen wird. Wenn wir all diese Leiden ertragen und wenn dann immer noch Juden übrig sind, dann werden die Juden nicht zum Untergang verurteilt sein, sondern sie werden vielmehr als Vorbild hochgehalten werden. Wer weiß, ob es nicht vielleicht unsere Religion ist, von der die Welt und alle Völker das Gute lernen werden, und aus dem Grunde – und nur aus dem Grunde – müssen wir jetzt leiden. Wir können niemals einfach Niederländer werden oder einfach Engländer oder, was das anbelangt, Vertreter irgendeines Landes; wir werden immer Juden bleiben, aber wir wollen das auch.26

Diese Passage ist bemerkenswert wegen der Reife ihres religiösen Verständnisses und auch deshalb, weil sie darlegt, wie Anne Frank sich selbst als Handelnde im Strom der jüdischen Geschichte sieht. Dieser Textteil wurde jedoch in dem Stück ganz gestrichen, und stattdessen erscheint folgender schwacher Ersatz: „Wir sind nicht das einzige Volk, das leiden musste. Es hat immer Menschen gegeben, die leiden mussten …, manchmal war es das eine Volk …, manchmal ein anderes. …“27 Garson Kanin, der Regisseur des Stückes, war, wie Lawrence Graver erläutert, für 25 Ebd. 26 Ebd., 186–187. 27 Goodrich und Hackett, The Diary of Anne Frank, 168.

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diese unglückliche Änderung verantwortlich. Als Kanin einen Vorab-Entwurf des Manuskripts von Goodrich und Hackett las, stieß er auf Zeilen, die mehr oder weniger genau die jüdischen Gedanken des Tagebuches über das Leiden wiedergaben, und beanstandete sie als „ein peinliches Stück eines speziellen Verteidigungsplädoyers“. Durch die Geschichte hindurch, so ließ er die Autoren wissen: haben Menschen gelitten, weil sie Engländer, Franzosen, Deutsche, Italiener, Äthiopier, Mohammedaner, Neger usw. waren. Ich weiß nicht, wie man das genau zeigen kann, aber es scheint mir von äußerster Wichtigkeit zu sein. Die Tatsache, dass diejenigen, die typischerweise verfolgt und unterdrückt wurden, Juden waren, ist zufällig, und wenn Anne so argumentiert, verkleinert sie ihre großartige Gestalt. Es ist hier Peter, der der junge Mensch sein sollte und der empört sein sollte, verfolgt zu werden, weil er Jude ist, während Anne – weiser – darauf hinweist, dass Minderheiten zu allen Zeiten unterdrückt worden sind. Mit anderen Worten: Jetzt hat das Stück die Gelegenheit, sein Thema ins Unendliche auszuweiten.28

Goodrich und Hackett nahmen sich Kanins Argumentation zu Herzen und änderten ihr Drehbuch radikal, um den Wünschen ihres Regisseurs entgegenzukommen: „Wir sind nicht das einzige Volk, das leiden musste“, usw. Als dramatischer Text sind diese Zeilen im Vergleich zu den oben zitierten blass. Was aber viel schwerer wiegt, ist, dass sich in dem Tagebuch selbst überhaupt keine Quelle oder eine Analogie findet; sie haben den Effekt, die Figur der Anne Frank zu verallgemeinern, und zwar so stark, dass sie geradezu entwurzelt wird. Die Zeilen sind jedoch typisch für die Hauptzielrichtung des Stückes, das der Welt eine Anne Frank gegeben hat, die emotional viel schwächer, intellektuell weniger wach sowie spirituell und psychologisch weitaus weniger ernst als die Anne des Tagebuches ist. In der Schlussszene des Stückes stellen Goodrich und Hackett ihre Heldin tatsächlich in einer so sentimentalen Weise dar, dass es geradezu albern wirkt, wenn Otto Frank bemerkt: „Es erscheint seltsam, wenn man sagt, dass jeder in einem Konzentrationslager glücklich sein konnte. Aber Anne war glücklich in dem Lager in Holland, in das sie uns zuerst gebracht hatten. Nach zwei Jahren, in denen sie in diesen Räumen eingeschlossen war, konnte sie wieder hinaus. …, hinaus in den Sonnenschein und an die frische Luft, die sie so liebte“.29 Diese Zeilen passen in Bezug auf den trivialen Charakter dieser Aussage, die sie ausdrücken, genau zu der oben zitierten Phantasterei von Birstein und Kazin über Anne Franks Abendgebet, wodurch sie vielleicht sogar ausgelöst wurden. Beide postulieren eine Anne Frank der Seligpreisungen, eine Figur wie eine Heilige, die letztlich von ihren Verfolgern nicht zu Fall gebracht werden konnte. „Kein Kind mehr“, so beschreiben Goodrich und Hackett sie am Ende des Stückes, „sondern eine Frau mit dem Mut, sich allem, was ihr auch begegnen mochte, zu stellen“. Zuletzt ist sie auf der Bühne zu sehen „mit einem sanften, beruhigenden Lächeln“, – und dies vermutlich in Gegenwart 28 Lawrence Graver, An Obsession with Anne Frank, (Berkeley: University of California Press, 1995), 89. 29 Ebd., 172–173. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 107

der bewaffneten Gestapo, die zu ihrer Familie in ihr Versteck hineingestürmt war –; und ihre letzten Worte in dem Stück, zweimal wiederholt, sind: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Grunde ihres Herzens gut sind“. Ehe der Vorhang fällt, unterstreicht Otto Frank diese Beteuerung, die den Zuschauer erheben soll über jede Angst oder jeden Kummer – über Gefühle also, die man möglicherweise sonst in diesem Augenblick in dem Stück empfinden könnte, mit der Aussage: „Sie beschämt mich“.30 Und so endet Das Tagebuch der Anne Frank nicht in einer Stimmung von endgültigem Untergang, sondern von moralischem Triumph, und der Glaube an die Menschheit ist angeblich wiederhergestellt durch das inspirierende Beispiel des Mädchens, das uns „trotz allem“ mit einem Credo zurücklässt, das den Glauben an das Gute im Menschen beteuert. Dieses Credo war in höherem Maße Otto Franks Credo als das seiner Tochter, obwohl es mit ihr so lange in Verbindung gebracht wurde, dass es heute fast allgemein als die den „Geist“ Anne Franks definierende Qualität angenommen wird. Tatsächlich aber war dieser heitere „Geist“, obwohl er in bestimmten Einträgen ihres Tagebuches durchaus vorhanden ist, zum größten Teil die Schöpfung Otto Franks in der Nachkriegszeit; dessen Rolle bei der Schaffung eines positiven, inspirierenden Bildes seiner Tochter war in mancher Hinsicht entscheidend. So ist die Anne Frank, die wir in Erinnerung haben, in nicht unerheblichem Maße jene Anne Frank, von der ihr Vater wollte, das wir uns an sie erinnern, und an deren Entwurf er unermüdlich arbeitete. Zusammen mit seiner Frau und zwei Töchtern wurde Otto Frank nach Auschwitz gebracht und war dann das einzige Mitglied der Familie, das die Nazi-Lager überlebte. Nach seiner Rückkehr nach Amsterdam gab Miep Gies, sein loyaler Mitarbeiter und Beschützer, ihm die Tagebuchblätter seiner Tochter. Mit der Hilfe einiger anderer machte Otto Frank sich dann daran, den Text für die Veröffentlichung vorzubereiten. Das Werk erschien 1950 unter dem Titel Het Achterhuis (Das Hinterhaus). In den folgenden Jahren widmete Otto Frank sich der Aufgabe, das Andenken seiner Tochter auf verschiedene Art und Weise aufrechtzuerhalten – durch seine eingehenden, oft mühseligen und manchmal schmerzlichen Verhandlungen mit Übersetzern, Verlagen, Bühnenautoren, Produzenten, Regisseuren, Agenten und Anwälten, die mit den Buch-, Bühnen- und Filmfassungen von Anne Franks Tagebuch befasst waren; weiterhin durch die Gründung und Leitung der Anne Frank-Stiftung in Amsterdam, deren Zweck es war, sowohl das Haus an der Prinsengracht 263 als Gedächtnismuseum zu erhalten, als auch breit fundierte Aufklärungsprogramme gegen Erscheinungsformen von Diskriminierung und Rassismus in der Nachkriegszeit durchzuführen; dann durch eine jahrzehntelange Korrespondenz mit Hunderten von Menschen überall in der Welt, die ihm geschrieben hatten, nachdem sie das Tagebuch gelesen oder das Bühnenstück gesehen hatten; und durch gleichgelagerte Aktivitäten. Otto Franks Hauptbeschäftigung in der Nach30 Ebd., 170, 174.

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kriegszeit war seine zielstrebige Hingabe an die Vermittlung der Geschichte des Lebens und des „Vermächtnisses“ seiner Tochter, eines Vermächtnisses, wie er es verstand und wie er es verstanden wissen wollte, das das Hauptgewicht auf Hoffnung, Frieden sowie die Förderung von Toleranz und Verständigung unter den verschiedensten Völkern legte. Durch Erziehung und aus Überzeugung weltoffen, vernunftgeleitet und weitgehend kosmopolitisch, wurde Otto Frank bei seiner Mission geleitet von seinem bewundernswert menschenfreundlichen Engagement und der starken Überzeugung, dass die Geschichte seiner Tochter, wenn man sie von dem umfassendsten Blickwinkel aus betrachtet, für zahllose andere zu einer Quelle der Inspiration werden könnte. Damit diese Geschichte aber auch diesen Effekt haben konnte, musste das Bild der Anne Frank in einer Weise gestaltet werden, dass es für ein breites und heterogenes Publikum akzeptabel sein würde. In Teilen seiner frühen Korrespondenz mit Meyer Levin, der dabei war, eine Bühnenversion des Tagebuches zu schreiben, machte Otto Frank sehr deutlich, wie seine Tochter nach seinen Vorstellungen gesehen werden sollte: Was [den Punkt] des jüdischen Charakters betrifft, so haben Sie Recht darin, dass ich nicht so denke wie Sie. Ich habe immer gesagt, dass Annes Buch kein Kriegsbuch ist. Der Krieg ist nur der Hintergrund. Es ist auch kein jüdisches Buch, obwohl der jüdische Lebensbereich, die jüdische Empfindungswelt und das jüdische Umfeld den Hintergrund bilden. Ich habe auch nie gewollt, dass ein Jude eine Einleitung dazu schreibt. (Zumindest hier) wird es mehr von Nichtjuden gelesen und verstanden als in jüdischen Kreisen. … Machen Sie also kein jüdisches Stück daraus.31

Wie allgemein bekannt, wurde Levins Drehbuch abgelehnt, weil es dahin tendierte, genau die Elemente, die nach Otto Franks Überzeugung nur Hintergrundbedeutung hatten, in den Vordergrund zu rücken; und die nichtjüdischen Bühnenautoren Goodrich und Hackett wurden beauftragt, die Theaterfassung des Tagebuches zu schreiben. Ihre Anne Frank, die sie in enger Konsultation mit Otto Frank gestalteten, folgt gewissenhaft den Wünschen des Letzteren und realisiert insbesondere Georg Kanins Vorgabe für die Gestaltung einer positiveren, ansprechenderen und allgemein inspirierenden Anne Frank. Die Formel wirkte, und nach dem Erfolg des Stückes gleich zu Beginn, der enorm war, gab es ein erneuertes öffentliches Interesse an dem Tagebuch selbst. Contact hatte Het Achterhuis seit 1950 nicht wieder gedruckt, aber 1955 publizierte der Verlag das Tagebuch in drei separaten Auflagen. 1956 gab es drei weitere Auflagen, 1957 neun, 1958 fünf und bis heute zahlreiche andere Auflagen. Als das Tagebuch zuerst erschien, hatte es nämlich in Holland keinen bemerkenswerten Erfolg, aber infolge des weitaus größeren Anklangs, den es in Amerika fand, und der großen Beachtung, die der Bühnenfassung von Goodrich und Hackett entgegengebracht wurde, kehrte das Buch „über einen internationalen Umweg“, wie Gerrold van der Stroom es beschreibt, in das Land seines Ursprungs zurück.32 31 Dieser Brief wird zitiert in Lawrence Graver, An Obsession with Anne Frank, 54. 32 The Diary of Anne Frank: The Critical Edition, 74. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 109

Auch anderswo gab es einen ähnlichen Respons. Das Tagebuch der Anne Frank hatte auch in Deutschland einen nur bescheidenen Anfang. Die ursprüngliche Ausgabe von Lambert Schneider hatte 1950 nur eine Auflage von 4500. 1955 jedoch übernahm die Fischer-Bücherei das Werk und brachte das Buch als PaperbackBand neu heraus, und auf dem Buchumschlag standen die Worte – inzwischen schon eine autoritative Aussage: „Ich glaube an das Gute im Menschen“. Innerhalb der ersten fünf Jahre druckte Fischer das Tagebuch nicht weniger als achtzehn Mal und verkaufte an die deutschen Leser mehr als 700000 Exemplare. 1958 brachte Fischer auch Ernst Schnabels Anne Frank: Spur eines Kindes heraus, ein Buch, das die Geschichte der Anne Frank über den Punkt ihres letzten Tagebucheintrags hinaus bis hin zu ihrem Tod in Bergen-Belsen verfolgte. Mit der Beschreibung der Nachwirkungen der Erfahrungen der Familie Frank in Amsterdam hat Schnabel einen wertvollen Dienst geleistet. Sein Buch ist jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch: Zum einen ist es mangels aller dokumentarischen Nachweise unmöglich, die persönlichen Aussagen der Anne Frank zu verifizieren, die der Autor den verschiedenen interviewten Augenzeugen zuschreibt; zum anderen tendiert das Buch dazu, Anne Frank zu idealisieren, und trägt also zu dem geheimnisvollen Nimbus bei, der sich rasch um sie herum verbreitete. So fragt der Autor z. B. auf den ersten Seiten: „Was war in diesem Kind die Quelle der Kraft, die ihr Name überall in der Welt ausübt? War diese Kraft vielleicht gar nicht etwas in ihr selbst, sondern kam sie von außerhalb und von oben?“33 Er beantwortet diese Fragen nie ausdrücklich, aber ihre metaphysische Zielrichtung ist offensichtlich und zeigt, wie es scheint, wieder einmal in die Richtung einer besonderen Seligpreisung. Dieser Schwerpunkt wird durch den Bericht über Anne Franks Zeit der Einkerkerung in Auschwitz, den Schnabel Zeugen zuschreibt, noch verstärkt – „Bis zum Letzten behielt Anne ihr Gesicht. Sie schien mir sogar in Auschwitz noch schöner zu sein als in Westerbork“34 – und dann sogar noch mehr durch den Bericht über sie in Bergen-Belsen: „Sie starb friedlich in dem Gefühl, dass ihr nichts Böses geschah“.35 Schnabel schreibt dieses Gefühl des Todes von Anne Frank einem der vielen nicht genannten Zeugen zu, die er interviewt hat; aber ohne die Möglichkeit der Bestätigung der Echtheit des Zeugnisses ist man einfach ratlos in Bezug auf dessen Wahrheit. Birstein und Kazin jedoch nehmen diese Beschreibung eines friedlichen Todes auf und verwenden sie, wie es zahlreiche andere auch tun, beifällig in ihrer eigenen Darstellung der Anne Frank. Es mag ja sein, dass Anne Frank tatsächlich auf diese Weise starb, aber unter Berücksichtigung der Bedingungen, die während ihrer Zeit im Lager Bergen-Belsen herrschten, ist es viel wahrscheinlicher, dass das verheerende Wüten von Typhus, Unterernährung, von anderen viel33 Ernst Schnabel, Anne Frank: A Portrait in Courage, übers. Richard und Clara Winston (New York: Harcourt, Brace and World, 1958), 16. 34 Ebd., 167. 35 Ebd., 185.

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fältigen Gefährdungen und weiteren damit verbundenen Schrecknissen zu einem weit grausameren Tod führten. Tatsache ist, dass wir nicht mit Gewissheit wissen und auch nicht wissen können, wie Anne Frank starb. Es ist jedoch klar, dass sich die Vorstellung von ihrem trostlosen Ende nicht mit dem Bild der Anne Frank vertrug, das sich in der Zeit nach dem Stück von Goodrich und Hackett langsam entwickelte. Die meisten Menschen hatten lieber eine Vorstellung von dem Mädchen, das sie mit einer lebensbejahenden Stärke verknüpfte als mit einer lähmenden Schwachheit; eher mit dem bleibenden Guten als mit dem triumphierenden Bösen. Weit entfernt davon, dass sie als ein totes Kind unter einer Million oder einer noch größeren Zahl ermordeter jüdischer Kinder in Erinnerung blieb, sollte sie stattdessen in hohen Ehren gehalten werden als generelles Symbol gepeinigter Unschuld, die für das Schicksal der leidenden Menschheit stand, dieses Schicksal aber auch gleichzeitig überwand. Wie wir gesehen haben, hat dieses Bild von ihr zur Zeit der Bitburg-Affäre eine gewisse spirituell-politische Apotheose erfahren, als Präsident Reagan mit Blick auf eine „Ausgewogenheit“ seines schlecht durchdachten Besuches des deutschen Militärfriedhofes in Bitburg nach Bergen-Belsen reiste, um den Opfern des Holocaust seine Reverenz zu erweisen. Hier ist ein detaillierterer Bericht darüber, was der amerikanische Präsident aus dem Anlass zu sagen hatte: Hier liegen sie. Nie mehr hoffen. Nie mehr beten. Nie mehr lieben. Nie mehr niederknien. Nie mehr lachen. Nie mehr weinen. Und zu viele von ihnen wussten, dass dies ihr Schicksal war. Aber das war nicht das Ende. Durch alles hindurch wirkten ihr Glaube und ein Geist, der ihren Glauben bewegte. Nichts illustriert das besser als die Geschichte eines jungen Mädchens, das hier in Bergen-Belsen starb. Mehr als zwei Jahre lang hatten sich Anne Frank und ihre Familie in einem beengten Anbau in Holland vor den Nazis versteckt, wo sie ein bemerkenswert tiefsinniges Tagebuch führte. Durch einen Spitzel verraten, wurden Anne und ihre Familie in einem Güterwagen nach Auschwitz und schließlich hierher nach Bergen-Belsen gebracht. Gerade drei Wochen vor ihrer Festnahme schrieb die junge Anne diese Worte: „Es ist wirklich ein Wunder, dass ich nicht alle meine Ideale, weil sie so absurd und unmöglich zu realisieren schienen, aufgegeben habe. Aber ich behalte sie, weil ich immer noch glaube, dass die Menschen trotz allem im Herzen wirklich gut sind. Ich kann meine Hoffnungen einfach nicht auf ein Fundament bauen, das aus Verwirrung, Elend und Tod besteht. Ich sehe, wie die Welt allmählich zur Wüste wird, ich höre den immer näherkommenden Donner, der auch uns vernichten wird, ich kann das Leiden von Millionen fühlen, und doch wenn ich zum Himmel hinaufschaue, dann denke ich, dass alles wieder richtig werden wird, dass dieses Grausame auch enden wird und dass Frieden und Ruhe wiederkommen werden“.36

Spätestens bis zu der Zeit von Präsident Reagans Rede im Mai 1985 waren diese Worte schon so oft zitiert worden, dass sie den Charakter eines Klischees angenommen hatten. Diese Worte in Bergen-Belsen zu zitieren, wo Anne Frank und all die anderen anonymen Toten ihr Ende fanden, bedeutete, dass man daraus nur wenig mehr machte als kitschige Hoffnung. Für sich genommen, drücken Anne Franks 36 Präsident Reagans Ansprache in Bergen-Belsen findet sich in Bitburg in Moral and Political Perspective, hg. Geoffrey Hartman (Bloomington: Indiana University Press, 1986), 253–255. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 111

Worte sicherlich einen edlen Gedanken aus, aber da wir wissen, was sie außerhalb des geheimen Anbau-Verstecks erwartete, ist es kaum möglich, diese Worte heute zu zitieren und so zu tun, als ob der Idealismus, den sie ausdrücken, völlig intakt geblieben wäre. Wenn dann der amerikanische Präsident seine Überzeugung äußerte, dass die Erinnerungen, die in Bergen-Belsen hervorgerufen werden, „uns dorthin bringen, wohin wir nach Gottes Willen gehen sollen – nämlich in Richtung des Lernens, des Heilens und vor allem in Richtung der Erlösung“,37 dann wurde deutlich, dass die Anne Frank, die er am Grab heraufzubeschwören gehofft hatte, sich in eine öffentliche Rhetorik von leerer Frömmelei aufgelöst hatte und dass ihr Bild reduziert worden war auf wenig mehr als vage Platitüden über die Kraft des Glaubens, die das menschliche Leid hinter sich lässt. Was ihre historische Substanz betrifft, so war, nachdem so viel in die sich allmählich herausbildende Legende einer säkularen Heiligen hineingeflossen war, davon nur noch wenig übrig. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen ist dies das Bild der Anne Frank, das bis heute bei einem breiten und aufnahmebereiten Publikum vorherrscht. Im Großen und Ganzen ist dies ein Bild, das in Amerika entsprechend den konventionellen Vorgaben der größeren Unterhaltungsmedien produziert wurde. Angesichts der Macht der amerikanischen gängigen Kultur in der Nachkriegszeit und angesichts des Einflusses, den sie in Ländern überall in der Welt ausgeübt hat, etablierte sich die amerikanische Version der Anne Frank überall recht schnell. Die oben angedeuteten „Ausnahmen“ sind jedoch von größter Bedeutung für das Verständnis des Stellenwertes der Anne Frank innerhalb der sich herausbildenden Erinnerung an den Holocaust. Tatsache ist, dass ihre Rezeption nicht zu allen Zeiten und an allen Orten einheitlich gewesen ist – genauso wenig wie die öffentliche Wahrnehmung der gesamten Nazi-Periode. Aus offensichtlichen Gründen sind die entscheidenden Träger der Erinnerung in Bezug auf diesen geschichtlichen Abschnitt die Deutschen und die Juden, unter denen man komplexe und oft subtil differenzierte Reaktionen auf die hier analysierte Geschichte antrifft. Wie bereits erwähnt, wurde Das Tagebuch der Anne Frank erstmals 1950 vom Lambert Schneider Verlag veröffentlicht. Zeitgenössischen Berichten zufolge zögerten einige Buchhändler anfangs, das Buch in ihre Auslagen zu stellen, weil sie Bedenken hatten, dass es ablehnende Reaktionen hervorrufen könnte; aber offenbar geschah das nicht. Das Buch verkaufte sich mäßig, später aber verkaufte es sich in der Fischer Taschenbuch-Ausgabe, die zuerst 1955 erschien, sogar außerordentlich gut und wurde dann zu einem der populärsten Bücher der deutschen Nachkriegsliteratur. Die Auflagenzahlen entsprechen dem Ausmaß der Rezeption des Werkes: Bis zum Frühjahr 2010 hatte die Fischer Paperback-Ausgabe ihre 135. Auflage mit weit über drei Millionen gedruckten Examplaren erreicht.38 37 Ebd., 255. 38 Die Zahlen erhielt ich in einer privaten Mitteilung von Gabriele Shettle, einer Assistentin von Monika Schoeller, der Verlagsleiterin des Fischer Verlags, Frankfurt (12. März 2010).

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Auch das Theaterstück sollte ein ungewöhnlich großes Publikum erreichen. Die Premiere war am 1. Oktober 1956 in größeren Theatern in sieben verschiedenen Städten (West-Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Aachen, Karlsruhe, Konstanz und Dresden) und machte den Rezensionen zufolge überall einen tiefen Eindruck auf die Zuschauer. Innerhalb kurzer Zeit wurde das Stück in Dutzenden von Städten überall in Deutschland aufgeführt und erreichte allein in den späten fünfziger Jahren Hunderttausende von Menschen. Während das Stück in den folgenden zwei Jahrzehnten zwar weiterhin aufgeführt wurde, ging jedoch seine Popularität leicht zurück. Nach dem ungeheuren Erfolg der Sendung „Holocaust“ der National Broadcasting Company im deutschen Fernsehen im Herbst 1979 lebte das Inter­ esse an dem Tagebuch der Anne Frank aber wieder auf. Das Stück wurde in Düsseldorf, Oldenburg, Bielefeld, Wilhelmshaven und in anderen Städten mehrmals aufgeführt; in einigen dieser Orte gab es dazu eine Begleitausstellung mit Fotos von Anne Frank und ihrer Familie. Zahlreiche andere Veranstaltungen charakterisieren die Rezeption des Tagebuches in Deutschland und machen das Ausmaß deutlich, in dem die Figur der Anne Frank sich als wichtige Präsenz im deutschen Bewusstsein der Nachkriegszeit etabliert hat. In den fünfziger Jahren bildeten sich unter deutschen Jugendlichen in mehreren Städten Anne Frank-Clubs und Anne Frank-Diskussionsgruppen. 1957 unternahmen etwa 2000 dieser jungen Menschen, hauptsächlich aus der Hamburger Gegend, eine Pilgerfahrt nach Bergen-Belsen, um das Andenken Anne Franks zu ehren. Im folgenden Jahr beteiligten sich mehr als 8000 Menschen ebenfalls an einem Besuch des Lagers. Im Juni 1959 wurde in Wuppertal ein Anne Frank-Dorf als Zufluchtsort für Flüchtlinge eingeweiht. Ebenfalls im Juni wurden spezielle Gedenkgottesdienste zu Ehren von Anne Frank in der Universität und in der Paulskirche in Frankfurt abgehalten, die von vielen Menschen besucht wurden. Durch die fünfziger und sechziger Jahre wurden in Dutzenden von Städten und anderen Orten in Deutschland Schulen nach Anne Frank benannt, und ihr Tagebuch wurde Teil der Lektüre deutscher Schüler. Diese fuhren regelmäßig mit Bussen nach Holland, um das Anne Frank-Haus in Amsterdam zu besuchen. Ebenfalls in den sechziger Jahren berichteten die deutschen Zeitungen ausführlich über den Prozess gegen Karl Silberbauer, den österreichischen Gestapo-Agenten, der die Familie Frank verhaftet hatte, sowie über die Prozesse gegen den früheren SS-Generalmajor Wilhelm Harster und gegen zwei seiner Helfershelfer, Wilhelm Zöpf und Gertrud Slotke, die der Beihilfe zum Mord an 83000 niederländischen Juden beschuldigt wurden; Anne Franks Name und ihr Schicksal wurden in all diesen Zeitungsberichten eingehend erwähnt. 1979 brachte die Deutsche Bundespost anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Geburt von Anne Frank eine Anne Frank-Gedenkbriefmarke heraus. Ebenfalls 1979 veröffentlichte der Lambert Schneider Verlag ein illustriertes Gedenkbuch, das über Anne Franks Leben und über ihre Zeit berichtete. In den letzten Jahren hat die deutsche Übersetzung von Miep Gies’ Biographie – wie auch Ernst Schnabels Buch vorher – die Erinnerung an Anne Frank für deutsche Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 113

Leser wachgehalten. Das gleiche Ziel haben bis heute Fernsehsendungen und die Wanderausstellung „Anne Frank in der Welt“, die in zahlreichen deutschen Städten gezeigt wurde. Diese Liste könnte erweitert werden; für den jetzt im Vordergrund stehenden Zweck ist das aber nicht erforderlich. Es ist aber klar, dass Anne Frank seit 1950, dem Jahr der deutschen Erstveröffentlichung des Tagebuches, bis heute auf einer durchgängigen Basis und durch praktisch alle Medien der gängigen Kultur dem deutschen Publikum nahegebracht worden ist. Die Frage ist daher nicht: „Kennen die Deutschen sie?“, denn natürlich kennen sie Anne Frank. Vielmehr möchte man den Respons der Deutschen kennen, man möchte wissen, was sie ihnen bedeutet und wie sie sich mit ihrer Geschichte identifizieren. Um das Wesen dieses Responses im Kern zu verstehen, ist es erforderlich, die deutsche Rezeption der Anne Frank in den Kontext des Ringens um die historische Erinnerung zu stellen, das die Deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ nennen. Diese Vergangenheitsbewältigung, eine Herausforderung, die an das innere Wesen der deutschen nationalen Identität in der Nachkriegszeit rührt, ist mit mehr oder weniger Bereitschaft und Erfolg schon seit mehr als fündundsechzig Jahren im Gange. Ihre Geschichte hat viele verschlungene Windungen, weil sie persönliche und kollektive Erinnerungen mit Politik und Moral verknüpft, und zwar auf eine Weise, die extrem schwierige Anforderungen stellt. Wenn sie nur an sich selbst zu denken hätten, würde sich die Mehrheit der Deutschen zweifellos lieber von diesem Teil der Geschichte abkoppeln, obwohl sie in gewisser Weise wissen, dass er sie nach wie vor erheblich fordert. Seit der Zeit unmittelbar nach dem Krieg hat es unweigerlich eine sehr wechselvolle Beschäftigung mit der traumatischen Geschichte des Dritten Reiches gegeben. Anfangs war die Konfrontation mit dieser Periode eine erzwungene Maßnahme und traf daher auf allgemeine Ablehnung. Die meisten Deutschen nahmen die Nürnberger Prozesse nicht wohlwollend auf, genauso wenig wie sie ohne weiteres bereit waren, sich dokumentarische Filme von Kriegsgräueln anzusehen, wozu sie von den Alliierten gedrängt wurden. Diese Dokumentationen sollten die Menschen dazu bringen, die schlimmsten Verbrechen, die von ihren Landsleuten begangen worden waren, als solche anzuerkennen; aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren die meisten nicht in der Stimmung, mit den Sünden ihres Volkes zu ringen, insbesondere dann nicht, wenn sie das Gefühl hatten, von den Siegern dazu gezwungen zu werden. Im Gegensatz zu diesem generellen Widerstand scheint aber das Tagebuch der Anne Frank, sowohl in der Buchfassung als auch in den Bühnenbearbeitungen, zahlreiche sonst widerstrebende Deutsche dazu gebracht zu haben, manche von ihnen zum ersten Mal, auf die Kriegszeit zurückzuschauen und das wahre Wesen der Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zu erkennen. Während die meisten sich nicht dazu bringen konnten, einen wie auch immer gearteten Schock der persönlichen Einsicht in den Gesichtern der Nazi-Funktionäre, die vor dem Nürnberger Tribunal standen, zu erkennen oder irgendeine Betroffenheit angesichts der entsetzlichen Bilder der Leichenberge, die ihnen in den Filmen gezeigt wurden, 114 | 

Kapitel 4

zuzulassen, wurden doch viele von der Geschichte der Anne Frank ehrlich berührt. Die Theaterrezensionen jener Zeit sprechen von Zuschauern, die schweigend wie betäubt vor der Bühne saßen und dann die Aufführung verließen, ohne sprechen oder einander anschauen zu können. Viele der frühen Buchrezensionen machen auch deutlich, dass das Tagebuch der Anne Frank deutsche Leser so ins Innere traf, wie es kaum etwas anderes, das sonst mit dem Krieg zu tun hatte, vermocht hatte. In jeder Hinsicht also signalisierte das Hervortreten der Anne Frank als ein Faktor im Bewusstsein der Deutschen in der Nachkriegszeit etwas Neues – sie war praktisch der erste Anstoß zur Herausbildung einer öffentlichen Erinnerung und setzte eine Debatte in Gang, die bis heute – unbewältigt – andauert. Im Grunde ist dies eine Debatte über das Wesen des Zweiten Weltkrieges und insbesondere darüber, wie das Deutschland der Nachkriegszeit die Verantwortung für die mörderische Behandlung der Juden durch Nazi-Deutschland begreift und empfindet. Zahlreiche öffentliche Debatten einschließlich des berüchtigten „Historikerstreits“, der 1989 begann und einige Jahre anhielt, sowie die hochgradig ambivalente deutsche Rezeption von Daniel Jonah Goldhagens Hitler’s Willing Executioners (Hitlers willige Vollstrecker) ein Jahrzehnt später machen deutlich, dass die Deutschen in ihren Anstrengungen, die Kriegsjahre sich selbst begreiflich zu machen, sehr gespalten sind, noch mehr sogar in ihrem Bemühen, sie anderen zu erklären. Was die Verfolgung der europäischen Juden und den Massenmord an ihnen betrifft, werden die Verbrechen von praktisch allen verantwortlichen Teilen der deutschen Gesellschaft weitgehend anerkannt, wobei aber ein Konsens in Bezug auf die Erklärung dafür fehlt. Das sind große und beunruhigende Problemkreise, und immer wenn sie berührt werden, lösen sie komplexe emotionale Reaktionen aus, die von Entrüstung über Ablehnung bis hin zu Scham und Schuldgefühlen reichen. Die Geschichte der Anne Frank musste eben ganz einfach diese Bandbreite an Reaktionen hervorrufen. Im Gefolge von Produktionen des Stückes gab es oft turbulente Diskussionen über die Nazi-Periode innerhalb der Familien. Bundespräsident Heuss selbst hielt im Oktober 1957 in München eine von den Medien stark beachtete Rede, in der er auf diese Debatten einging und seinen Wunsch zum Ausdruck brachte, dass sie fortdauern, damit die Vergangenheit nicht vergessen wird. Während es für die Deutschen schmerzlich war, mit der Geschichte der Anne Frank konfrontiert zu werden, wurde diese Konfrontation aber auch für notwendig erachtet. Die größte Wirkung, die diese Geschichte hatte, war, die Menschen dazu zu bringen, die „andere“ Seite der Kriegserfahrung zu sehen, und ihnen mit Nachdruck klar zu machen, welches Leid ihr Volk Millionen von unschuldigen Menschen angetan hatte. Zweifellos waren es diese Gründe, die bei vielen Menschen einen starken, fast verzweifelten Respons auf die Botschaft der Hoffnung bewirkten, die sie in dem Tagebuch entdeckten und der sie eine so gesteigerte Bedeutung zumaßen. Die Anne Frank, die sie bevorzugen würden, ja sogar fast die einzige Anne Frank, die sie anzuerkennen bereit waren, war jene, die positiv über das Leben sprach und Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 115

ihre Peiniger nicht anklagte. Einem zeitgenössischen Kommentator zufolge war die Anziehungskraft des Tagebuches für deutsche Leser „die Faszination des verzeihenden Glaubens, der das Buch durchzieht und die Ermordeten zu veranlassen scheint, den Mördern die Absolution zu erteilen“.39 Nach einem anderen Kommentator sollte die außerordentliche Popularität des Stückes nicht notwendigerweise als etwas uneingeschränkt Gutes betrachtet werden, denn „damit kommen die Deutschen zu leicht davon. Diese Popularität lässt nicht einmal ansatzweise erahnen, wie entsetzlich die deutschen Untaten waren“.40 Man sieht daran, dass die Einstellung des deutschen Publikums zu Anne Frank sehr ambivalent sein musste. Wenn sie in eine zu enge Identifikation mit den Häschern des Mädchens gezwungen worden wären, dann wären die meisten durch Gefühle von Schuld und Scham gleichsam erdrückt worden, die durch ein stellvertretendes Gefühl der Komplizenschaft hervorgerufen worden wären. So aber ist das Stück in einer Weise konstruiert, dass die Gefühle die Zuschauer nicht überwältigen. Das Drama baut sich zwar in Richtung der Gewalt auf, stellt sie aber nie als solche dar. Niemand wird umgebracht, und nie erscheint auch nur ein einziger Funktionär der Gestapo oder der SS auf der Bühne. Das Publikum sieht nur die Menschen in ihrem Versteck, und während es natürlich weiß, vor wem sie Schutz suchen, findet eine direkte Begegnung mit Deutschen in der Rolle der Häscher nie statt. Das ist sicherlich der Grund dafür, dass ein Teil des Publikums wohl dazu bewogen wird, sich enger mit den Opfern zu identifizieren, wenn auch nicht speziell in ihrer Eigenschaft als Juden, wohl aber als Menschen, die in extremer Not sind. Ein zeitgenössischer Theaterkritiker drückt es so aus: „In Anne Franks Schicksal sehen wir unser eigenes Schicksal – die Tragödie der menschlichen Existenz an sich“.41 Diese Tendenz zur Generalisierung der Erfahrung der Anne Frank, die dadurch keine spezielle historische Erfahrung mehr ist, sondern zu einer existenziellen wird, war besonders ausgeprägt bei den jungen Menschen. Norbert Muhlen, der versuchte, die Reaktion der Öffentlichkeit auf das Tagebuch der Anne Frank nach der Erstaufführung in westdeutschen Theatern einzuschätzen, schrieb folgendes: Viele junge Menschen identifizieren sich mit Anne Frank, sehen in ihr den Prototyp aller Jugend – hilflos, eingekerkert, angewiesen auf die Hilfe der Älteren, der Außenwelt trotzend und innerlich mit Angst und Schrecken erfüllt. Und die Verfolgung und Ermordung der Juden erscheint ihnen nur als ein fremdartiger äußerer Umstand – an Bedeutung der persönlichen Tragödie der Heldin untergeordnet. … Die politische Grundlage dieser Tragödie zieht sich in ihren Augen in den entlegenen historischen Hintergrund zurück.42

39 Zitiert in „In the Hearts of Men: The Progress of Anne Frank’s ‚Diary‘“, The Wiener Library 12 (1958), 45. 40 Zitiert in Emanuel Litvinoff, „Berlin’s High Noon“, Jewish Observer und Middle East Review, 8. Februar 1957, 13. 41 Theater der Zeit, Juni 1957. 42 Norbert Muhlen, „The Return of Anne Frank“, ADL Bulletin, Juni 1957, 2.

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Kapitel 4

Es ist unmöglich, den jüdischen Faktor in der Geschichte der Anne Frank ganz zu unterdrücken – genauso wie es unmöglich ist, den deutschen Faktor zu leugnen –, aber wie oben angedeutet wurde, und wie – seltsamerweise – durch den Charakter der deutschen Übersetzung des Tagebuches illustriert, scheint ein gewisser Grad an Unterdrückung ein konstitutives Element der deutschen Rezeption der Anne Frank zu sein. Einige frühe Rezensionen notierten, dass die deutsche Übersetzerin, Anneliese Schütz, den jugendlichen Stil der jungen Autorin von Het Achterhuis nicht besonders treffend in ihrer Sprache wiedergegeben habe. Was nicht moniert wurde, waren der durchaus bedenkliche Charakter ihrer Änderungen sowie die völlige Unterschlagung von Textmaterial aus dem Original-Tagebuch. Einige Beispiele sollen genügen. In ihrem Eintrag vom 29. Oktober 1942 erwähnt Anne Frank, dass sie in dem deutschen Gebetbuch ihrer Mutter gelesen hat. Die Familie Frank kam ursprünglich aus Deutschland, so dass es nicht überrascht, dass Frau Frank in ihrer Muttersprache betete oder auch, dass Anne darin lesen konnte. In der Schütz-Übersetzung jedoch fehlt der Hinweis darauf, dass Anne die Gebete „auf deutsch“ las. An zahlreichen anderen Stellen finden sich ebenfalls solche Auslassungen. In ihrem Eintrag vom 13. Juni 1943 erwähnt Anne ein Geburtstagsgedicht, das ihr Vater für sie geschrieben hat, und fügt hinzu, dass es auf Deutsch verfasst war. Deutsche Leser des Tagebuches würden das jedoch überhaupt nicht wissen, denn wieder einmal zog Schütz es vor, die Erwähnung der Sprache ihres Vaters auszulassen. Sie verfuhr ebenso in ihrer Übersetzung des Eintrages vom 17. November 1942, in dem Anne einen humorvollen „Prospekt und Führer zu dem ‚Geheimen Anbau,‘“ anführt, eine Parodie auf einen Hotelführer, der verschiedene ‚Benimmregeln‘ beschreibt. Darunter ist die folgende Bemerkung zur Sprachverwendung: „Sprich jederzeit leise, das ist ein Befehl! Alle Kultursprachen sind erlaubt, deshalb kein Deutsch!“ In der SchützÜbersetzung wird das zu: „Alle Kultursprachen … aber leise!!!“ Die ursprüngliche Bezugnahme auf das Deutsche ist einfach aus dem Text entfernt worden, als ob sie dort nie gewesen wäre. Es gibt noch andere solcher Beispiele; alle scheinen ein dezidiertes Bestreben auf Seiten der Übersetzerin anzudeuten, die Familie Frank von jeder Verbindung mit ihrer Muttersprache zu lösen. Insofern als Sprache ein Kulturbesitz ist, der natürlicher und enger als die meisten anderen Wirkfaktoren seine Sprecher aneinander bindet, hat die Abtrennung der Familie Frank von der deutschen Sprache notwendigerweise auch den Effekt, dass sie auch bis zu einem gewissen Grade von den deutschen Lesern des Tagebuches abgetrennt wird. Welche natürlichen Verbindungen auch immer zwischen ihnen bestanden haben mochten, so sind sie nun durch die Textmanipulationen der Übersetzerin durchtrennt worden. Auch sonst wurde manches entfernt, obwohl man bezweifeln kann, dass deutsche Leser des Tagebuches der Anne Frank sich dessen überhaupt bewusst sind. So beschreibt Anne z. B. in ihrem Tagebucheintrag vom 19. November 1942 die nächtliche Jagd nach versteckten Juden, die oben schon zitiert wurde, und bemerkt: „Die Deutschen klingeln an jeder Haustür und fragen, ob in dem Haus Juden leben“. Die Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 117

deutsche Übersetzung gibt die Erwähnung der Menschenjagd zwar wieder, lässt die Nationalität der Häscher jedoch im Unklaren. In ihrem Eintrag vom 18. Mai 1943 erwähnt Anne die Tatsache, dass „alle Studenten, die entweder in diesem Jahr ihr Studium abschließen oder ihr Studium fortsetzen wollen, gezwungen werden, durch ihre Unterschrift zu erklären, dass sie mit den Deutschen sympathisieren und die Neue Ordnung gutheißen“. Die Schütz-Übersetzung unterschlägt auch wieder die spezifische Erwähnung „mit den Deutschen“ und ersetzt diesen Teil recht vage durch „die besetzende Macht“. In ihrem Eintrag vom 28. Januar 1944 schreibt Anne: „Obwohl andere in ihrem Krieg oder gegen die Deutschen Heldentum zeigen mögen, so beweisen unsere Helfer Heldentum durch ihre Fröhlichkeit und Zuneigung“. Schütz eliminiert wieder die Bezugnahme auf „die Deutschen“ und ersetzt dies, mehr abstrakt, durch „die Unterdrückung“. Bei sorgfältiger Betrachtung dieser Änderungen erkennt man ein Muster. Während es der Effekt der früher erwähnten Serie von Änderungen war, die deutschjüdische Identität der Familie Frank zu schwächen, und zwar dadurch, dass sie von der deutschen Sprache losgelöst wurde, und möglicherweise auch dadurch, dass eine gewisse natürliche Sympathie, die die deutschen Leser des Tagebuches für die Familie Frank empfanden, ebenfalls abgeschwächt wurde, wirkt der Effekt dieser zweiten Serie von Änderungen gerade andersherum: Er trennt deutsche Leser von jeder gemeinsamen Identität mit den Verfolgern der Familie Frank durch Eliminierung von spezifischen Hinweisen auf die deutsche Nationalität der Verbrecher. Deutsche Leser werden also daran gehindert, sich die Tatsache voll bewusst zu machen, dass die Juden, wie sie selbst auch, von Geburt ebenfalls Deutsche sind; und weiterhin auch daran, sich die Tatsache klar zu machen, dass die Verfolger dieser Juden ihre eigenen Landsleute waren. In einem allgemeinen Sinne sind sich die Leser des Tagebuches natürlich der deutschen Identität sowohl der Familie Frank als auch derer, die für die Terrormaßnahmen gegen sie verantwortlich waren, bewusst. Der Akt des Lesens vollzieht sich jedoch nie „in einem allgemeinen Sinne“, sondern hängt immer von der Wahrnehmung winziger Einzelheiten ab. Wie oben dargelegt, wurden jedoch einige der aufschlussreichsten Elemente der Geschichte der Anne Frank den deutschen Lesern vorenthalten; sie hatten jahrelang unwissentlich eine zensierte Version des Tagebuches gelesen.43 Es handelt sich hierbei nicht einfach um den wohlbekannten Verlust, der immer dann anzutreffen ist, wenn man Literatur in Übersetzung liest, sondern um etwas 43 Eine knappe Bezugnahme auf Änderungen in dem Tagebuch findet sich in einem Artikel, der im Spiegel vom 1. April 1959 erschien; ein ausführlicherer Bericht liegt vor in The Diary of Anne Frank: The Critical Edition, 72–73. Leser, die die im vorliegenden Kapitel beschriebenen und analysierten Änderungen weiter verfolgen wollen, können die deutsche kritische Ausgabe, Die Tagebücher der Anne Frank (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1988) konsultieren. Anne Frank: Tagebuch, neu übersetzt von Mirjam Pressler (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1991), ist eine deutliche Verbesserung der früheren deutschen Ausgabe von Anne Franks Tagebuch und korrigiert die verschiedenen Probleme, die in diesem Kapitel angesprochen werden.

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Kapitel 4

weitaus Beunruhigenderes: Durch die unwissentliche Lektüre eines entstellten Textes sind deutsche Leser des Tagebuches mit einer Version der Anne Frank vertraut gemacht worden, die unvollständig und in bedenklicher Weise unecht ist. Ein letztes Beispiel wird dies illustrieren. In ihrem Tagebucheintrag vom 9. Oktober 1942 vermerkt Anne, was sie inzwischen über das Lager in Westerbork, wohin die niederländischen Juden gebracht wurden, erfahren hat. Sie beschreibt die hygienischen Bedingungen im Lager als beklagenswert inadäquat und schreibt dann: „Man hört von erschreckender Sittenlosigkeit deshalb. Und viele der Frauen und selbst Mädchen, die hier auch nur eine Zeitlang zubringen, erwarten ein Kind“. Als ein Mädchen, das Angst davor hatte, verhaftet und zu genau diesem Lager gebracht zu werden (Befürchtungen, die, wie wir wissen, durch ihre spätere Erfahrung bestätigt wurden), hatte Anne Grund, sich über die Viktimisierung junger Frauen in Westerbork Sorgen zu machen. Die deutsche Übersetzung des Tagebuches unterschlägt jedoch diesen Hinweis vollständig und hindert deutsche Leser somit daran, irgendetwas über die Ängste des jungen Mädchens zu erfahren. Überdies erwähnt die deutsche Übersetzung überhaupt nichts von Annes Hinweis – in demselben Tagebucheintrag – darauf, dass im Osten Juden ermordet werden. Die Tagebuchführerin schreibt: „Wenn es schon in Holland so schlimm ist, wie wird es in den weit entfernten und barbarischen Gegenden sein, wo [die Juden] hingebracht werden? Wir nehmen an, dass die meisten von ihnen ermordet werden“. Der zweite dieser beiden Sätze – „Wir nehmen an, dass die meisten von ihnen ermordet werden“ – wurde in der deutschen Übersetzung einfach unterschlagen, so als ob es völlig unwichtig wäre, dass das junge Mädchen Tag für Tag mit so erschreckenden Vermutungen lebte. Wieder einmal wurde deutschen Lesern die Möglichkeit vorenthalten, die Psychologie der jüdischen Opferrolle, wie Anne Frank sie durchlebt hat, in vollem Umfang zu begreifen. Schließlich wird ihnen aufgrund einer weiteren Auslassung aus demselben Eintrag der Schock erspart, das volle Ausmaß von Annes Bitterkeit den Deutschen gegenüber zu erfahren. Am Ende ihrer Notizen für den 9. Oktober 1942 schrieb sie: „Nette Leute, die Deutschen! Wenn ich nur daran denke, dass ich auch eine von ihnen war! Nein, Hitler hat uns unsere Nationalität schon vor langer Zeit weggenommen. Tatsächlich sind die Deutschen und die Juden füreinander die größten Feinde in der Welt!“ Die deutsche Übersetzung behandelt den größten Teil dieses Textes mehr oder weniger korrekt, aber der letzte Satz wird dann wie folgt wiedergegeben: „Und eine größere Feindschaft als zwischen diesen Deutschen und den Juden gibt es nicht auf der Welt!“ (Kursiv im Original). In der ursprünglichen niederländischen Fassung ist Annes Aussage unmodifiziert: Wie sie es sieht, sind Deutsche und Juden Feinde, die erbittertsten Feinde in der Welt – Punkt! Die deutsche Übersetzung modifiziert jedoch ihre Auffassung in einer schwerwiegenden Weise, indem sie deutschen Lesern mitteilt, dass Anne nur „diese Deutschen“ – die „bösen“ Deutschen – als ihre Feinde betrachtet. Die anderen, vermutlich einschließlich ihrer selbst, sind von ihrem Urteil nicht betroffen und brauchen daher nicht mit seinen Implikationen zu kämpfen; denn Anne Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 119

hatte offenbar nicht vor, sie in ihr hartes Urteil einzubeziehen. Aber natürlich tat sie genau das, und auf lange Sicht ist es nicht gerade freundlich deutschen Lesern gegenüber, ihnen die volle Wahrheit ihrer Auffassungen zu ersparen und sie stattdessen dahin zu bringen, Trost in Annes freundlicheren Aussagen über das Gute im Menschen zu finden. Sie hatte wahrlich viele Gründe, etwas anderes zu glauben. Es besteht kein Zweifel daran, dass für viele Deutsche in der Nachkriegszeit die Entdeckung der Anne Frank den Beginn eines lange Zeit verschleppten, aber notwendigen Prozesses der Selbstprüfung markiert; die harte Arbeit der persönlichen Introspektion und historischen Prüfung ist jedoch sehr ungleichmäßig verlaufen und hat hochgradig ambivalente Reaktionen hervorgerufen. Sowohl aus Kummer als auch aus Scham haben die Deutschen Straßen, Schulen und Jugendzentren nach Anne Frank benannt; aber bis heute begreifen die meisten vermutlich nicht, warum vor drei Generationen eine bedeutende Anzahl ihrer Landsleute es für notwendig hielt, ein fünfzehn Jahre altes Mädchen aufzuspüren und sie an Orte wie Auschwitz und Bergen-Belsen zu bringen, wo sie litt und starb. Solange das nicht geschieht, ist die deutsche Begegnung mit Anne Frank dazu verurteilt, unvollständig zu bleiben. Die jüdische Rezeption der Anne Frank – wenn man überhaupt einen so einheitlichen Ausdruck verwenden kann, um ein komplexes, facettenreiches Phänomen zu beschreiben – enthält teilweise eine Kritik an dem gerade oben umrissenen deutschen Respons. Hannah Arendt, die angesehene deutsch-jüdische Philosophin, stand keineswegs allein mit dem Ausdruck ihrer Abneigung gegen die Art und Weise, wie sich die Deutschen und auch andere zu Anne Frank verhielten. „Ich denke, die Bewunderung für Anne Frank, besonders in Deutschland, war unecht, und die ganze Angelegenheit war höchst unangenehm – billige Sentimentalität auf Kosten einer ungeheuren Katastrophe“, schrieb sie.44 Mit dieser Aussage folgte sie Bruno Bettelheim, dem österreichisch-jüdischen Flüchtling und angesehenen Kinderpsychologen, der sich eingehend mit der gängigen Rezeption der Anne Frank auseinandergesetzt und sie scharf kritisiert hat, weil auf dieser Basis das Thema der Todeslager umgangen wird. „Es gibt gute Gründe“, schrieb er, warum das so außerordentlich erfolgreiche Stück damit endet, dass Anne ihren Glauben an das Gute in allen Menschen bekundet. … Wenn alle Menschen grundsätzlich gut sind, … dann können wir tatsächlich so weiterleben wie immer und Auschwitz vergessen. … [Anne Franks Geschichte] hat deshalb so großen Zuspruch gefunden, weil … sie implizit leugnet, dass Auschwitz überhaupt jemals existiert hat. Wenn alle Menschen gut sind, dann hat es ein Auschwitz nie gegeben.45

Arendt und Bettelheim, in anderer Hinsicht kämpferische Kritiker der jüdischen Rolle während des Zweiten Weltkrieges, wenden sich hier mit heftigem Zorn gegen die gängige innere Verarbeitung des Holocaust. Sie kritisieren insbesondere den bekannten Respons auf Anne Franks Schicksal, der die Ungeheuerlichkeit des den Juden unter dem deutschen Nationalsozialismus zugefügten Leidens auf ein Gefühl 44 Hannah Arendt, „Letter to the Editor“, Midstream (September 1962), 84–85. 45 Bruno Bettelheim, „The Ignored Lesson of Anne Frank“, Harper’s, November 1960, 46.

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Kapitel 4

der trivialsten Art reduziert. Norbert Muhlen illustriert diese Tendenz, wobei er sogar unwissentlich zu dem banalen Charakter beizutragen scheint: Das beträchtliche Ausmaß, in dem Anne Frank ein Symbol geworden ist, kam mir wieder zum Bewusstsein, als eine junge Berliner Tänzerin – ein Mädchen, das in einer Familie von strammen Nazis, aber ohne politische Interessen, aufgewachsen ist – nach der Erwähnung von Anne Franks Namen sagte: „Ist es nicht wunderbar, dass ein Mädchen, das so viel erlitten hat, immer noch sagen kann: ‚Ich glaube an das Gute im Menschen?‘“ Die Tänzerin hatte weder das Buch gelesen, noch das Stück gesehen, dennoch zitierte sie die Aussage richtig. Denn Anne Franks Einfluss reicht viel weiter als nur bis zu dem jeweils unmittelbaren Publikum des Stückes und des Buches. Anne Frank ist für die, die sie überlebt haben, zu einer Zeugin und Lehrerin geworden. So ist ihre Heimkehr in das Land, das sie vertrieben und dann umgebracht hat, eine seltsame, aber herzerwärmende Art von Triumph.46

Uns liegt keine Erwiderung von Arendt oder von Bettelheim auf diesen Bericht vor; es ist jedoch nicht schwer, sich vorzustellen, was jeder von ihnen Herrn Muhlen zu sagen gehabt hätte. Sie wären in hohem Maße kritisch hinsichtlich seiner Schlussfolgerungen, nämlich genau deshalb, weil diese die Reduzierung der Anne Frank auf ein Symbol der moralischen und intellektuellen Bequemlichkeit fördern. In dem von Muhlen angeführten Beispiel hat sich eine Person der Anne Frank bemächtigt, die weder das Buch gelesen noch ihre Geschichte auf der Bühne gesehen hat, die es aber genießt, Anne als eine erlösende Präsenz zu empfinden. Mit einem Wort: Anne Frank ist zu einer handlichen Formel für leichte Vergebung geworden. Weit entfernt von dieser Entwicklung, die ihre triumphale Heimkehr in das Land, das sie zunächst vertrieben und dann umgebracht hat, darstellt, wird hier genau das Gegenteil dargestellt, nämlich der Triumph von Anne Franks früheren Landsleuten über sie. In ihrem Namen haben sie schließlich sich selbst vergeben. Wenn es überhaupt irgendeine „Lehre“ gibt, die man aus dieser seltsamen Kehrtwendung ziehen kann, dann kann es nur die sein, auf die Hannah Arendt hingewiesen hat – die Vorherrschaft billiger Sentimentalität über jeden verantwortungsvollen Sinn für Geschichte. Andere haben aus der gleichen Sorge geschrieben und entsprechende Besorgnisse und ihren Unmut ausgedrückt. Martin Dworkin äußerte sich in einem sehr kritischen Artikel in Jewish Frontier dahingehend, dass sowohl die Bühnenfassung als auch die Filmbearbeitungen des Tagebuches „einen grundsätzlichen Irrtum perpetuieren“ dadurch, dass der Welt eine Anne Frank präsentiert wird, die wie „eine typisch amerikanische jugendlich-gedankenlose Figur“ aussieht. Er fand, dass das Werk von Goodrich und Hackett den Reichtum des Tagebuches der Anne Frank zu „einem allzu bekannten faden Limonadengeschmack“ verwässert habe, und stellte fest, dass das Publikum, das den Film und das Stück sieht, „wenig von der Tatsache der Vernichtung von sechs Millionen Juden durch die Nazis weiß und auch durch das Stück nicht zu einer [solchen] Kenntnis gelangen wird“.47 Die Zeit46 „The Return of Anne Frank“, ADL Bulletin, Juni 1957, 8. 47 Martin Dworkin, „The Vanishing Diary of Anne Frank“, Jewish Frontier (April 1960), 9–10. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 121

schrift Commentary, die unter den ersten englischsprachigen Zeitschriften war, die die Aufmerksamkeit der Leser auf das Tagebuch lenkten, kritisierte ebenfalls das Werk von Goodrich und Hackett; der Rezensent der Zeitschrift nannte das Stück „gravierend unehrlich“ und bezeichnete es als einen „Fehlschlag“. „Wenn wir in Amerika Anne Frank nicht mit einer Haltung des Respekts, des Anstandes und des Ernstes präsentieren können, die sie verdient, dann, so glaube ich, sollten wir nicht versuchen, sie überhaupt zu präsentieren“.48 Wenn man diese kritischen Äußerungen und andere ähnliche, die in der jüdischen Presse in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren erschienen sind, der generellen Rezeption, die das Bühnenstück und die Filmfassungen des Tagebuches erhalten haben, gegenüberstellt, dann sieht man, dass die jüdische Sichtweise im großen und ganzen sehr viel schärfer war. Ein Teil der Juden erkannte zwar, dass die Figur der Anne Frank auf der Bühne ein großes Publikum erreichen würde, das sonst wenig über das Schicksal der Juden in der jüngsten europäischen Katastrophe wusste, viele konnten jedoch die gravierenden historischen Kompromisse, die die Popularisierung des Tagebuches mit sich brachte, nicht billigen. Die Anne Frank, die durch diese Medien dargestellt wurde, glich ihrer Meinung nach viel zu sehr einer amerikanischen Jugendlichen und viel zu wenig einer jüdischen Jugendlichen aus dem europäischen Umfeld. Die Kritik, der man immer wieder bei jüdischen Autoren der Zeit begegnet, hatte daher häufig Fragen der Darstellung im Blick. Wurde Anne Frank wirklichkeitsgetreu dargestellt, oder wurden ihr Bild und das der umfassenderen jüdischen Katastrophe, die sie symbolisierte, trivialisiert und entstellt? Diese Fragen, die uns auch heute noch beschäftigen, haben die jüdische Rezeption der Anne Frank von Anfang an charakterisiert. Im Gegensatz zu dem, was man anderswo sieht, stellt man auch fest, dass Juden das Tagebuch der Anne Frank in den größeren Kontext eines Verbrechens stellten, das sie dann „den Holocaust“ nannten; dies wurde dann Teil eines Textcorpus, das manche als „hurban-Literatur“ bezeichneten. Diese Ausdrücke wurden schon 1952 in Publikationsorganen wie National Jewish Monthly, Congress Weekly und Jewish Social Studies verwendet. Sie stehen im scharfen Gegensatz zu der oft eher abstrakten Terminologie, die man in den etablierten Zeitungen und Zeitschriften der Zeit findet, in denen eher Phrasen wie „die Unmenschlichkeit des Menschen dem Menschen gegenüber“ und „das Böse unserer Zeit“ verwendet werden. Die jüdische Auffassung wurde durch die Überzeugung begründet, dass Anne Franks Tod Teil der umfassenderen Vernichtung des europäischen Judentums war und auch als solcher begriffen werden sollte. Ihre Geschichte war – weit entfernt davon, einzigartig zu sein – wie Ludwig Lewisohn gesagt hat, Teil der „Literatur des jüdischen Martyriums unseres Zeitalters“. Viele andere, schrieb Lewisohn, „haben Prosa und Dichtung sowie unter Tränen geschriebene Berichte hinterlassen, die genauso

48 Algeine Ballif, „Anne Frank on Broadway“, Commentary, November 1955, 466–467.

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ergreifend sind wie das Tagebuch der Anne Frank“.49 Um sie richtig zu verstehen, sollte man sie daher als eine repräsentative und nicht als eine einzelne Stimme lesen. Interessanterweise hat sich auch Meyer Levin dafür ausgesprochen, dass sie in dieser Weise gelesen werden sollten. In seiner Rezension in der New York Times hat er sich allerdings nicht so geäußert. Zur gleichen Zeit jedoch, als er für die Times über Anne Frank schrieb, veröffentlichte er zwei davon unabhängige Rezensionen in jüdischen Zeitschriften, in denen er ein größeres Gewicht auf die spezifisch jüdischen Elemente in Anne Franks Geschichte legte. Seinen Artikel für Congress Weekly begann er mit dem Satz: „Endlich dürfte die Stimme von sechs Millionen in Amerika gehört werden“, und weiter sagte er: „Dieses Tagebuch ist ohne Zweifel das wichtigste menschliche Dokument, das aus der ungeheuren Katastrophe hervorgegangen ist. … Der Holocaust ist endlich angekommen, und unsere Abwehr ist zerschlagen. Wir weinen“.50 Diesen Ton hatte Levin in der New York Times nicht angeschlagen. Er schrieb auch für die National Jewish Post und lobte das Tagebuch als „das Buch, das uns mit all den Juden, die in Europa verschwunden sind, leben lässt. Es ist das Buch, mit dem wir uns identifizieren können, … der reinste Bericht, den wir besitzen, von Leben derer, die ausgerottet wurden“. Er ermunterte seine Leser dazu, Anne Franks Geschichte kennen zu lernen und auch dafür Sorge zu tragen, dass andere sie ebenfalls kennen lernen. Dabei sprach Levin seine Leser in einer Weise an, die er nie benutzt hätte, wenn er für die etablierte Presse geschrieben hätte: „Selbst wenn das zur Folge hat, dass Sie dieses Jahr kein anderes Buch kaufen, bitte ich Sie dringend, zehn Exemplare des Tagebuches zu kaufen und sie an Ihre nichtjüdischen Freunden zu verteilen“. Levin plädierte auch dafür, dass jüdische Institutionen einen größeren Teil ihres für die Öffentlichkeitsarbeit vorgesehenen Budgets darauf verwenden, „dieses Buch und seinen Inhalt in jeder nur möglichen Art und Weise zu verbreiten“. Es sollte „ein Theaterstück und ein Film sein; es sollte im Fernsehen und im Radio gebracht werden“. Levin verfolgte hier ganz klar eine Mission. Er wollte, dass Anne Franks Geschichte bekannt wurde, weil er darin „genau den Pulsschlag, den angsterfüllten, aber mutigen Pulsschlag der sechs Millionen Juden“ entdeckte, die im Holocaust umkamen.51 Mit dem Ziel, ihre Geschichte einem möglichst breiten Publikum nahezubringen und davon das zu bewahren, was er als ihren wesentlichen Charakter ansah, schrieb Levin, wie bekannt, die erste Bühnenfassung des Tagebuches der Anne Frank, und als er damit keinen Erfolg hatte, führte er einen heftigen, sich lange hinziehenden öffentlichen Streit mit Otto Frank, Kermit Bloomgarden und anderen, die zu dem Stück von Goodrich und Hackett eine enge Beziehung hatten. Der Streit hielt sehr lange an. Levin schrieb darüber ein ganzes Buch, das er – recht passend – mit dem Titel The 49 Ludwig Lewisohn, „A Glory and a Doom“, Saturday Review, 19. Juli 1952, 20. 50 Meyer Levin, „A Classic Human Document“, Congress Weekly, 16. Juni 1952. 51 Meyer Levin, „At Long Last We Have A Real Story of Jews Under Nazism“, National Jewish Post, 20. Juni 1952. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 123

Obsession (Die Besessenheit) versah; danach verwandelte er seine „Besessenheit“ in einen Roman, den er – recht vielsagend – The Fanatic (Der Fanatiker) nannte. Im Zuge dieser Aktivitäten warb er um öffentliche Unterstützung für sein Anliegen durch Dutzende von Rabbis, Autoren und anderen herausragenden Persönlichkeiten und erreichte so, den Kreuzzug eines Einzelnen in eine Angelegenheit zu verwandeln, die symptomatisch von einer viel weiter verbreiteten jüdischen Angst zu sprechen schien. Es war eine Angst, die sich aus einem zwiefachen Gefühl der Opferrolle heraus entwickelte – zum einen aus der Viktimisierung der Juden während des Krieges selbst, und zum anderen aus der nochmaligen Viktimisierung in der Nachkriegszeit, als es manchmal so schien, dass andere die Einzigartigkeit und Ungeheuerlichkeit des Leidens der Juden nicht verstanden. Ludwig Lewisohn drückt es so aus: „Eine Million Anne Franks starben in entsetzlichem Elend“.52 Der Toten mit dem ihnen zukommenden Respekt zu gedenken war nach dieser Katastrophe das mindeste, das man tun konnte. Vor diesem Hintergrund war es, dass Bruno Bettelheim mit seiner scharfen Kritik an der öffentlichen Rezeption der Anne Frank die Nerven vieler Juden strapazierte. In Artikeln, die er in den frühen sechziger Jahren an verschiedenen Stellen veröffentlichte, erhob er schwere Vorwürfe gegen die Familie Frank wegen ihres Verhaltens im Krieg und kritisierte scharf die Beweihräucherung der Anne Frank in der Nachkriegszeit. Für Bettelheim war das Schicksal des Mädchens „mit Sicherheit kein notwendiges Schicksal und noch weniger ein heldenhaftes; es war ein sinnloses Schicksal“.53 Es sei töricht gewesen, dass ihre Familie zusammenblieb, denn sie hätten getrennt eine größere Chance gehabt. Ebenso töricht sei es gewesen, die täglichen Abläufe weitergehen zu lassen, als ob die Gefahr direkt vor ihrer Tür sie nicht erreichen könnte. Sie hätten sich bewaffnen sollen, um gegen ihre Feinde zu kämpfen. Zumindest hätten sie die Todesdrohung, unter der sie waren, erkennen und sich nicht der Illusion hingeben sollen, sie könnten ihr Leben so weiterführen, wie sie es vor der Besetzung durch die Deutschen gewohnt waren. Genau zu der Zeit, als die Todeslager fertig waren, um sie aufzunehmen, habe Otto Frank seinen beiden Töchtern ganz normalen Schulunterricht gegeben. Nach Ansicht Bettelheims ist Anne „vielleicht deshalb gestorben, weil ihre Eltern es nicht fertigbrachten zu glauben, dass es Auschwitz überhaupt gab“. Dadurch, dass sie sich dem traditionellen „Ghetto-Denken“ hingegeben hätten, habe die Familie Frank sich wehrlos gemacht und ihr schreckliches Ende selbst mit herbeigeführt.54 Bettelheims Anschuldigung, dass die Juden praktisch selbst den Weg für ihre eigene Viktimisierung gebahnt hätten, wurde von den meisten anderen sehr übel aufgenommen, und recht schnell entwickelte sich eine öffentliche Diskussion über 52 Lewisohn, „A Glory and a Doom“. 53 Bettelheim, „The Ignored Lesson of Anne Frank“, 46. 54 Bettelheim, „Freedom from Ghetto Thinking“, Midstream (Frühjahr 1962), 16–25.

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das Verhalten der Juden während des Krieges. Die Kontroverse eskalierte wenig später, als Hannah Arendt im Rahmen ihrer Arbeit über den Eichmann-Prozess argumentierte, dass die osteuropäischen Juden von den Judenräten in den Ghettos verurteilt worden seien und daher in viel größerer Zahl umkamen, als wenn sie überhaupt keine Gemeindeführer gehabt hätten.55 Spätestens zu dieser Zeit hatte Anne Frank bereits den symbolischen Status des typisch jüdischen Opfers erreicht, und ihr Name und ihr Schicksal waren Teil des darauf folgenden Streites. Die Polemik war so leidenschaftlich, weil so viel auf dem Spiel stand: Der Streit ging um nichts Geringeres als um die Frage, wie die jüdische historische Erinnerung die Geschichte der „Einen Million Anne Franks, die in entsetzlichem Elend starben“, begreifen und vermitteln sollte. Bei dieser Formulierung der Frage ist es offensichtlich, dass die jüdische Beschäftigung mit den Kriegsjahren sich auf Angelegenheiten konzentrierte, die kaum in anderen Diskussionen aufgekommen wären. Bettelheim drückte es so aus: Die gegenwärtige Generation von Juden wird immer von der Frage verfolgt werden: Wie war es möglich, dass sechs Millionen Juden umkamen? Wie war es möglich, dass wir nicht eilends alles daransetzten, der Metzelei Einhalt zu gebieten? … Zu unserem eigenen Schutz – jetzt und in der Zukunft – müssen wir versuchen, Antworten darauf zu finden.56

Die Antworten müssen erst noch gefunden werden, aber die Angst, aus der heraus diese Fragen gestellt werden, ist tatsächlich ein konstitutives Element des jüdischen Bewusstseins in den Jahrzehnten nach dem Krieg. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Angst die jüdische Rezeption der Anne Frank mitbestimmt hat und ihr eine Gestalt verliehen hat, die man sonst nirgends findet. Jüdische Leser des Tagebuches kennen, wie auch andere Leser, die berühmten Passagen, in denen das junge Mädchen von ihrem Glauben an das Gute im Menschen spricht; aber die meisten Juden betrachten diese Stellen nicht als konstitutiv für die zentrale Botschaft des Textes. Da sie mit einem erdrückenden Gefühl der jüdischen Viktimisierung belastet sind, neigen sie dazu, auf die Idealisierungen der Anne Frank als einer heldenhaften Figur skeptisch zu reagieren und sie stattdessen als eine unter den sechs Millionen zu sehen. Wenn sie von ihrem Vermächtnis sprechen, dann tun sie das also mit Ausdrucksformen, die ganz verschieden von denen sind, die andere verwenden. Das Folgende, das als Vorwort zu einem 1967 von Otto Frank verfassten Artikel geschrieben wurde, illustriert dies: Anne Frank, 15, mit dunklen Augen und fast noch ein Kind, starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. … Sie wurde zum Symbol der jüdischen Vergangenheit. … Hitler brachte sie und sechs Millionen andere Menschen um. Aber die Geschehnisse, die sie in ihrem Tagebuch festgehalten hat, wurden Teil der nationalen Erinnerung, durch die der Staat Israel entstand – und des Geistes, der im letzten Juni Israels Sechstagekrieg beflügelte. Nicht länger würden Juden versu-

55 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem: A Report on the Banality of Evil (New York: Viking, 1963). 56 Bettelheim, „Freedom from Ghetto Thinking“, 16. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 125

chen, nur zu überleben. Es würde keine Märtyrer mehr geben. Tote Helden, wenn nötig ja, aber keine Anne Franks mehr. Das ist ihr lebendiges Vermächtnis.57

Es ist zweifelhaft, ob andere Anne Franks Vermächtnis so beschreiben würden, aber unter den Juden drückt diese Redeweise ein Gefühl aus, das inzwischen sehr vertraut ist und die anderswo anzutreffenden optimistischeren Gefühle allmählich verdrängt. Es ist interessant und recht bezeichnend, dass bei der Erstaufführung des Stückes von Goodrich und Hackett in Israel durch die Habimah Theatergruppe der Regisseur, Israel Becker, die letzte Zeile des Stückes geändert hatte. In der ursprünglichen Fassung hört Otto Frank, wie die Stimme seiner Tochter die berühmten Worte wiederholt: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Herzen wirklich gut sind“, und antwortet: „Sie beschämt mich“. Besonders in Deutschland erzielten diese Worte eine starke Wirkung. In Israel jedoch musste die Reaktion der Theaterbesucher vor dem Hintergrund einer ganz verschiedenen historischen Erfahrung völlig anders ausfallen: Eine solche Zeile, gesprochen von dem trauernden Vater des toten Mädchens, hätte wenig Sinn ergeben. In der Fassung des Habimah Theaters geschieht daher Folgendes: Als Otto Frank die Stimme seiner Tochter hört, schüttelt er den Kopf und sagt – unsicher – : „Ich weiß nicht, ich weiß nicht“.58 Wenn der Vorhang dann fällt, haben die Zuschauer keinen Trost bekommen; sie teilen den Kummer und den Zweifel des Vaters. In diesem Respons, der nicht durch irgendeine aufbauende Wahrnehmung heiterer Augenblicke des Mädchens gemildert wird, lässt sich das bezeichnende Ausmaß des Unterschiedes zwischen einer jüdischen Rezeption der Anne Frank und der Rezeption durch andere erkennen. In einer anderen deutlichen Erwiderung auf die Bühnenfassung des Tagebuches durch Goodrich und Hackett machte sich Wendy Kesselman ebenfalls daran, die Verallgemeinerungstendenz in ihrer Bearbeitung des Tagebuches der Anne Frank etwas zu lockern. Kesselman konnte die frühere Fassung des Theaterstückes nicht so frei umarbeiten, wie sie es sich vielleicht gewünscht hätte; denn sie war vertraglich gebunden, die Hauptzüge der Darstellung von Goodrich und Hackett beizubehalten. Trotzdem gelang es ihr, in einigen wichtigen Dingen die Wohlfühl-Sentimentalität des Bühnenstückes von 1955 etwas zu neutralisieren. Durch Dialoge, die sich explizit auf das Judentum, das Leiden der Juden und auf ein Gefühl von jüdischer nationaler Zugehörigkeit beziehen, sowie auch durch Gebetsrezitationen auf hebräisch formte Kesselman die frühere Fassung um und legte dadurch das Hauptgewicht auf die jüdische Identität Annes und anderer, die mit ihr zusammen in dem Versteck waren. Dadurch, dass sie den gelben Stern, den diese Juden von Beginn des ersten Aktes an tragen mussten, in den Vordergrund rückte, und dadurch, dass sie am Ende des zweiten Aktes Nazis auf die Bühne brachte, macht 57 Otto Frank, „The Living Legacy of Anne Frank: The Memory Behind Today’s Headlines“, Ladies Home Journal, September 1967, 87. 58 „The ‚Diary‘ in Israel“, New York Times, 17. Februar 1957.

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sie den Schrecken des Holocaust, der in dem Stück von Goodrich und Hackett nur gedämpft vorkam, etwas anschaulicher. Hier erscheint zwar auch das berühmte Credo: „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Herzen wirklich gut sind“, aber der Stimme, die diese Zeile am Ende des zweiten Aktes aus dem Off spricht, folgt unmittelbar das gebrüllte „Raus!“ des Nazi-Offiziers. Sein schnarrend-kreischender Befehl ertränkt nicht nur Anne Franks optimistische Worte, sondern zeigt auch, dass sie angesichts des Nazi-Terrors ihren Wohlklang verlieren. Die Schlussworte des Stückes spricht Otto Frank, aber dieses Mal hört man kein Wort darüber, dass Anne in einem Konzentrationslager glücklich sein könne. Im Gegenteil, Herrn Franks Schlussworte beleuchten die überaus traurige Tatsache, dass von den acht früheren Bewohnern des geheimen Anbaus alle außer ihm ihr Leben in den Nazi-Lagern verloren haben. Wenn der Vorhang fällt, hält er das Tagebuch seiner Tochter in der Hand, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Tagebuchführerin selbst ihren Tod in irgendeiner Weise überhöhend hinter sich gelassen hätte. Ihre Geschichte bleibt bestehen, aber sie ist weit entfernt davon, tröstlich zu sein. Von da an wird Kesselmans neu geschriebene Geschichte der Anne Frank mit der Version von Goodrich und Hackett um die Gunst des Theaterpublikums wetteifern. Wenn die kulturellen Präferenzen der Vergangenheit sich halten, dann wird die gängige Wahrnehmung der Anne Frank immer noch hauptsächlich durch das eher fröhliche Bild des Mädchens, das Mitte der fünfziger Jahre erstmals die Bühne betrat, geprägt sein. Aber Kesselmans Stück macht zumindest deutlich, dass wir nicht für alle Zeiten an solch sentimental gefärbte Vorstellungen davon, wer Anne Frank war und wie es kam, dass sie einen so frühen und grausamen Tod erleiden musste, gebunden sein müssen.59 Was kann man abschließend über die Anne Frank sagen, die wir in Erinnerung haben? Sie ist zweifellos eine allgegenwärtige Figur des Nachkriegsbewusstseins. Aber wie der Krieg selbst hat sie für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutung. Wie die Deutschen, so haben auch die Israelis Straßen, Schulen und Jugendzentren nach Anne Frank benannt. Anders aber als die Deutschen, die dem Andenken eines jungen Mädchens als Akt der Sühne für die Vergangenheit und der Warnung für die Zukunft einen solchen Tribut gezollt haben, haben die Israelis aus einem Gefühl der nationalen Trauer und der Solidarität mit den Toten gehandelt. Man findet also sowohl in Deutschland als auch in Israel eine gemeinsame Geschichte, die ein gemeinsames Symbol hat, aber aus sehr unterschiedlichen Motiven heraus gestaltet worden ist und verschiedene Interpretationen der Vergangenheit hervorgebracht hat. Anderswo findet man ähnlich vielfältige Darstellungen der Anne Frank. Bei bestimmten katholischen Autoren wird Anne Frank 59 Der Text des Stückes liegt vor unter dem Titel The Diary of Anne Frank, von Frances Goodrich und Albert Hackett, neu bearbeitet von Wendy Kesselman. Definitive Edition (New York: Dramatists Play Service, Inc., 2009). Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 127

mit Ausdrucksmitten beschrieben, die üblicherweise für Heilige reserviert sind. In Japan, wo sie weithin bekannt ist, war es zu einer Zeit üblich, dass junge Mädchen den Namen der Anne Frank benutzten, um euphemistisch von ihrer Monatsregel zu sprechen. Jewgeni Jewtuschenko trug in seinem berühmten Gedicht Babi Jar dazu bei, Anne Frank unsterblich zu machen, benutzte dazu jedoch eine Figur der Liebe und Phantasie und auch der Viktimisierung. Wenn man eine Untersuchung der Rezeption des Tagebuches in den verschiedenen anderen Ländern und Kulturen, wo Anne Frank bekannt ist, anstellen würde, dann würde man fast sicher noch andere Arten der Resonanz auf das Mädchen und auf die Geschichte, die durch ihr Bild gespiegelt wird, finden. Die Vergangenheit ist, wie wir wissen, nie permanent fixiert, sondern ändert sich mit den sich wandelnden Formen in ihren Konturen und in ihrer Bedeutung der Symbolisierung und Interpretation. Wir wir gesehen haben, rufen starke symbolische Figuren wie Anne Frank eine große Bandbreite von Reaktionen hervor und lassen die verschiedensten Assoziationen aufkommen. Ein Vergleich der zahlreichen Vorreden zu den fremdsprachigen Ausgaben des Tagebuches z. B. lässt ebenfalls mehrere verschiedene Versionen der Anne Frank erkennen. Albrecht Goes, der Autor des Vorwortes zu der Fischer-Edition des Tagebuches der Anne Frank, spricht in abstrakter Weise von einem „Geist der Liebe“, der das Tagebuch durchziehe. Daniel Rops, der das Vorwort zu der französischen Ausgabe schrieb, gibt uns eine Anne Frank, die einerseits sinnenfreudig und andererseits Künstlerin und Mystikerin ist. In Storm Jamesons Vorwort zu der britischen Ausgabe haben wir wieder eine andere Anne Frank vor uns, eine, die geistvoll geschrieben hat und dann ihren Tod in Bergen-Belsen erlitt mit „einem tiefgründigen Lächeln … von Beglückung und Glauben“.60 Ich führe diese Versionen der Anne Frank an, um das wandelbare Wesen der Figur, die wir untersucht haben, zu betonen. Wenn man durch die Figur der Anne Frank auf den Holocaust sieht, erkennt man, dass „der Holocaust“ selbst ein variabler Terminus ist, der in verschiedener Weise, die einen leichten Konsens verhindert, erklärt und verstanden wird. In dieser Entwicklung liegt nichts besonders Überraschendes, obwohl die Geschwindigkeit, mit der diese Entwicklung voranzuschreiten scheint, und das dadurch geschaffene Ausmaß der Divergenz Dinge sind, die jedem, der daran interessiert ist, wie verschieden die Vergangenheit rekonstruiert und wie sie einem jeweils unterschiedlichen Publikum vermittelt wird, ein ernsthaftes Nachdenken abverlangen. Wir haben bereits zahlreiche Versionen der Anne Frank bekommen und werden in Zukunft mit Sicherheit noch andere erhalten. „Wir werden ihr Tagebuch lesen, bis der Messias kommt“, wie ein Gedicht über

60 Zu Albrecht Goes siehe „Vorwort“, Das Tagebuch der Anne Frank (Frankfurt am Main: Fischer Bücherei); zu Daniel Rops siehe „Préface“, Journal de Anne Frank (Paris: Calmann-Lévy); zu Storm Jameson siehe Vorwort zu Anne Frank’s Diary (London: Valentine, Mitchell).

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Kapitel 4

sie sagt.61 Das werden wir zweifellos tun, obwohl die Fragen, wie wir sie lesen werden und was wir aus ihr und der Geschichte, die ihr Werk spiegelt, machen werden, jetzt offen bleiben.

61 G. Boogaard, „Poem on May 5“, gesammelt in A Tribute to Anne Frank, hg. Anna Steenmeijer (Garden City, New York: Doubleday & Company, 1971), 53. Anne Frank: Die Jahre nach ihrem Tod  | 129

Kapitel 5

Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / Die Anne Frank, die wir vergessen

Ich würde gern in einem veröffentlichten Buch lesen, was man von Anne Frank denkt. – EINE INSCHRIFT EINES ANONYMEN BESUCHERS DES ANNE FRANK-HAUSES Die Menschen glauben, dass sie etwas ganz Besonderes ist. Als meine Tochter einmal mit ihren Zwillingstöchtern in den Niederlanden war, war eines der ersten Dinge, die ich ihnen zeigen sollte, das Anne Frank-Haus. Mir war aber nicht danach; eigentlich wollte ich auch überhaupt nicht dorthin gehen. Mehr als vierzig Jahre lang hatte ich das beiseite geschoben, weil ich einfach normal leben und auch nicht mehr darüber sprechen wollte. Trotzdem ging ich dann zum Anne Frank-Haus, und ich empfand etwas ganz Besonderes dort. Schließlich hatte ich sie von der Zeit an, als sie nach Westerbork kam, gesehen. Die Leute machten Aufnahmen dort [im Anne Frank-Haus] von jeder Ecke, jedem Dielenbrett, von allem. … Meine Tochter geriet in Panik, weil sie wusste, dass ich Anne gekannt hatte. Sie sah sich um und sagte: „Mama, solltest du diesen Leuten nicht besser sagen, dass du sie gekannt hast? Solltest du nicht irgendetwas machen? Sag es ihnen, sage es ihnen“. Ich konnte es nicht; absolut nicht. Ich hätte überhaupt nicht gewusst, wie ich das sagen sollte. Weil es alles so bizarr war, das ganze Anne Frank-Haus. All diese Leute, all diese Kameras. Ich sah Anne wieder, und ich dachte, dass all das nichts für sie gewesen wäre. Im Anne Frank-Haus kann man sehen, was ich in das Gästebuch eingetragen habe: „Anne Frank wollte das nicht“. – AUS EINEM INTERVIEW MIT EINER BESUCHERIN DES ANNE FRANK-HAUSES1

Ob sie es nun gewollt hätte oder nicht – die Menschen kommen jedes Jahr zu Hunderttausenden zum Anne Frank-Haus. Was sie zu dieser Pilgerreise motiviert, ist zweifellos von Person zu Person verschieden, aber dass sie zu dem Haus an der Prinsengracht in großer Zahl hingezogen werden, ist klar. Sie steigen die schmale Treppe hinauf, treten durch die verborgene Tür hinter der Bücherschrankattrappe in den „geheimen Anbau“, gehen durch die Räume, wo Anne Frank und die sieben anderen Personen sich vor ihren Verfolgern versteckt hielten, blicken schweigend auf die Möbel, die noch da sind, sehen auf die Pin-ups des Mädchens, die immer noch an der Wand von Anne Franks Zimmer hängen, und blicken aus den Fenstern, um zu sehen, was sie sah. Den meisten Besuchern ist vermutlich nicht klar, dass diese Räume seit dem 4. August 1944 mehrmals neu gemacht worden sind, seit jenem verhängnisvollen Tag, als die Gestapo zu den versteckten Juden hineinstürzte, sie verhaftete und sie bald danach in die Lager bringen ließ, wo alle außer 1 Das erste Epigramm ist von Dick Houwaart, Anne in’t voorbijgaan: Emoties, gedachten en verwachtingen rondom het huis en het Dagboek van Anne Frank (Amsterdam: Keesing Boeken, 1982), 114. Das zweite Epigramm stammt aus einem Interview mit Rachel van AmerongenFrankfoorder, in Willy Lindwer, The Last Seven Months of Anne Frank (New York: Pantheon, 1991, 110. Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 131

Otto Frank umkommen sollten. Aber all das ist kaum wichtig, denn mit den Jahren ist Prinsengracht 263 in Amsterdam eine Gedenkstätte von größter Bedeutung geworden. Ob es nun rekonstruiert worden ist oder nicht, so birgt das Gebäude doch gleichsam etwas, was man mit geheiligten Räumlichkeiten bezeichnen könnte, und zumindest einen kurzen Augenblick werden die meisten, die den „geheimen Anbau“ besuchen, von einer Empfindung erfasst, dass sie von einem sehr seltenen und zutiefst bedeutsamen Augenblick der Geschichte berührt werden. In anderen Teilen des Gebäudes kehren sie wieder in ihre eigene Zeit zurück, gehen durch vertrautere, weniger sakrale Räumlichkeiten. Sie sehen Anne Franks Tagebuch als Kopie ausgestellt sowie auch Kopien ihres Buches in vielen fremdsprachigen Übersetzungen, dann auch einen kurzen Film über Antisemitismus, studieren die historischen Dokumente in den Schaukästen und an einigen Wänden; weiterhin werden sie über das immer wieder festzustellende Aufflackern von Rassismus und über die Gefahren des extremen politischen Nationalismus informiert; sie kaufen Souvenir-Postkarten, Bücher und Tonträger über Anne Frank und das Haus. Beim Verlassen des Hauses machen viele Besucher Eintragungen in die Gästebücher, so wie Rachel van Amerongen-Frankfoorder – siehe Zitat oben – dies getan hat. Für sie war die Transformation des jungen Mädchens, das sie gekannt hatte, in eine populäre Legende ganz klar inakzeptabel. Im Folgenden einiges von dem, was andere zu sagen hatten: Ein Kind, das solchen Optimismus ausdrückt, gibt jedem Hoffnung. Warum musste das geschehen? Informiert die Kinder über den Hass ihrer Eltern. Du hast mich angelächelt und nichts gesagt, und ich wusste, dass ich darauf schon lange gewartet hatte. Anne ist verrückt. Anne Frank hat die Menschen nicht wirklich verstanden, oder? Warum die Juden? Warum dieser Tod? Jüdisch gewesen zu sein bedeutete, Anne Frank gewesen zu sein. Jüdisch zu sein bedeutet, nicht Anne Frank zu werden. Warum werden wir immer wieder daran erinnert? Wir sollten vergessen. Wir sollten die Erinnerung wachhalten. Ich bin froh, kein Jude zu sein.

Aus diesen Inschriften, die den Gästebüchern im Anne Frank-Haus entnommen wurden, geht hervor, dass Anne Frank bei denen, die über sie nachdenken, eine ganze Bandbreite von Reaktionen heraufbeschwört. Das, was an Gemeinsamkeit da ist, scheint in der Erkenntnis zu liegen, dass sie ein Opfer war, obwohl für viele ein Opfer, dessen „Geist“ ihren Tod überhöhend hinter sich lassen konnte. Viele deutsche Besucher des Anne Frank-Hauses tragen Worte der Scham und des Bedauerns ein. Viele jüdische Besucher drücken Gefühle der Trauer und des trotzigen Widerstandes aus sowie die Entschlossenheit, dass „es“ nie wieder geschehen dürfe. Einige Besucher notieren schnell ein paar romantische Botschaften – 132 | 

Kapitel 5

einige davon sind posthume Liebeserklärungen an das ermordete Mädchen. Wieder andere bringen Wut, Bestürzung, Schuld, Reue, Feindseligkeit, Unmut, Aggression zum Ausdruck. Was man auch immer über sie sagen mag, sie ist auf keinen Fall ein neutrales Symbol. Kann man aber über die Legende hinaus, die sie geworden ist, wieder zu der Person kommen, die sie war? So lange danach, Jahrzehnte nach dem Beginn ihrer Mythologisierung, ist ein solcher Akt der Rehistorisierung schwierig. Anne Franks Geschichte gehört nicht mehr ihr, sondern der Welt, und die „Welt“ hat entschieden, aus ihr das zu machen, was sie will – das typisch kindliche Opfer, aber auch die ewig strahlende und fröhliche Jugendliche; die gemarterte Unschuldige, aber auch die Abgesandte der Hoffnung. Anne Frank ist all das und mehr. Bis heute, mehr als 65 Jahre nach ihrem Tod, schreiben Kinder ihr Briefe, so als ob sie eine Weltheilige wäre und nicht eine mehr oder weniger typisch jüdische Jugendliche, eine unter vielen aus ihrer außergewöhnlich tragischen Generation. Wenn man in dieser Weise an sie denkt – und besonders wenn man sie in die Reihe der sechs Millionen toter Juden stellt –, dann trifft man auf Zahlen und auf ein Schicksal, die der Verstand nicht so einfach aufnehmen kann. Am Schluss ihres Buches One, By One, By One: Facing the Holocaust (Einer, und noch einer, und noch einer: Dem Holocaust ins Auge schauend) spricht Judith Miller dieses Dilemma an: Die Abstraktion ist der schärfste Feind der Erinnerung. Sie tötet, weil sie auf Distanz drängt und oft auch auf Gleichgültigkeit. Wir müssen uns daran erinnern, dass der Holocaust nicht „sechs Millionen“ war. Er war „einer, und noch einer, und noch einer“. … Nur wenn man begreift, dass zivilisierte Menschen das „einer, und noch einer, und noch einer“ … schützen müssen, kann der Holocaust, das Unfassbare, Bedeutung erhalten.2

Was für eine Bedeutung die systematische Verfolgung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen wie Anne Frank genau haben kann, ist eine Frage, die Miller nicht beantwortet. Sie betont aber die berechtigte Notwendigkeit, den Holocaust zu personalisieren. Sonst, wie sie richtig vermerkt, könnte die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen in eine bedeutungsleere Abstraktion anonymen Massensterbens entschwinden. Die Erinnerung hat aber tatsächlich bereits eine solche Wendung genommen. Die von so vielen gesehenen Fotos und Filme mit den Leichenbergen projizieren unvermeidlich Anonymität – Bilder, bei denen dem Betrachter das Herz stehen bleibt, Bilder von reglosen, verschlungenen Gliedern, die das Gespenst von entsetzlich entmenschtem Grauen definieren und weiter verschlimmern. Man fühlt sich von diesen Bildern gleichzeitig angezogen und abgestoßen. Wenn man sich ihnen gegenüber sieht, dann verliert man leicht die Tatsache aus den Augen, dass diese Bilder gesichtsloser, erstarrter Agonie tatsächlich aus individuellen Männern, Frauen und Kindern bestehen, die, ehe sie von den nationalsozialistischen Mör2 Judith Miller, One, by One, by One: Facing the Holocaust (New York: Simon und Schuster, 1990), 287. Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 133

dern umgebracht wurden, oft bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und ausgemergelt waren. Man kann für diese zahllosen Toten heute nichts anderes tun als ihrer in Trauer zu gedenken. Aber wie stellt sich die Erinnerungs- und Trauerarbeit in einer Kultur eigentlich dar, einer Kultur, die beidem keinen großen Wert beimisst? Die Frage der Abschwächung des Erinnerungsvermögens, die in der einen oder anderen Form alle Holocaust-Überlebenden verfolgt, wurde in besonders scharfer Form in Primo Levis letztem Buch, The Drowned and the Saved (Die Untergegangenen und die Geretteten), gestellt. Unter anderem war Levi durch die Erkenntnis beunruhigt, dass es eine Kluft gibt – die jedes Jahr breiter wird – zwischen den Dingen, wie sie ‚dort‘ waren, und denen, wie sie durch die gängige Vorstellung repräsentiert werden, die durch Bücher, Filme und Mythen nur annäherungsweise genährt wird. Diese Vorstellung gleitet in fataler Weise hinüber in den Bereich der Vereinfachung und der Stereotypie. …3

Eine der Möglichkeiten, zu verhindern, dass dieses Hinübergleiten immer schneller wird, ist die Konzentration auf die Geschichte individueller Personen, der genaue Blick auf die Art und Weise, wie der Holocaust seine Opfer forderte, „einer, und noch einer, und noch einer“. Levi tat genau das, als er schrieb, dass „eine individuelle Anne Frank mehr Emotionen hervorruft als die Myriaden, die das Gleiche erlitten, deren Profil aber im Dunkel geblieben ist. Vielleicht muss das so sein. Wenn wir das Leiden eines jeden ertragen müssten und könnten, dann könnten wir aber nicht leben“.4 Levis eigene Schriften bringen die Leiden der Opfer so eindringlich und klar in Erinnerung wie nur irgendeine, die uns vorliegt. Dennoch ist es nicht Levi, der der meistgelesene Autor in Bezug auf den Holocaust ist, sondern es ist die Figur, die er nennt: Anne Frank. Wie wir jedoch gesehen haben, ist die Anne Frank, die über die Jahre hin Millionen von Menschen vermittelt worden ist, eine Figur, die weitgehend in den Bereich der Legende eingegangen ist. Selbst wenn das nicht der Fall wäre, dann wäre die Aussage nicht zutreffend, dass sie die Opfer der nationalsozialistischen Morde repräsentiere. Ihre Geschichte, die sich ja in Amsterdam zugetragen hat, entfaltete sich weit weg von den Orten in Osteuropa, wo die meisten Juden ermordet wurden. Während der Zeit ihres Aufenthalts in ihrem geheimen Anbau war Anne Frank abgeschirmt von den schlimmsten Erscheinungsformen des Nazi-Terrors und kannte diese nur aus der Distanz. Zwar musste auch sie letztlich das Schicksal von Millionen anderer Juden in dem Nazilager-System erleiden, aber da ihr Tagebuch vor diesem endgültigen, grauenhaften Kapitel ihrer Geschichte endet, sind die meisten Leser sich der tatsächlichen Umstände ihres Endes nicht bewusst. Wahrscheinlich würden die meisten auch lieber in Unkenntnis bleiben; denn wenn sie mit der vollständigen Beschreibung des Leidens der Anne Frank konfrontiert würden, dann ist es zweifelhaft, ob ihr Respons so intensiv bleiben würde, wie er es über die Jahre hin gewesen ist. 3 Primo Levi, The Drowned and the Saved (New York: Summit Books, 1988), 157. 4 Ebd., 56.

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Kapitel 5

Dass wir einen gewissen Einblick in Anne Franks Situation am Ende ihres Lebens bekommen, haben wir Willy Lindwers The Last Seven Months of Anne Frank (Die letzten sieben Monate der Anne Frank) zu verdanken, dem Dokumentarfilm, der die Texte von Interviews mit niederländischen Frauen enthält, die mit der Familie Frank in Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen inhaftiert waren. Hier ist z. B. eine Beschreibung von Anne Frank während ihrer letzten Tage in Bergen-Belsen; sie entstammt einem Interview mit Rachel van Amerongen-Frankfoorder: Ich sah Anne und ihre Schwester Margot wieder in den Baracken [von Bergen-Belsen]. … Die beiden Mädchen waren fast nicht mehr zu erkennen, da ihnen das Haar abgeschnitten worden war. Sie waren viel kahler als wir. … Und sie froren, so wie wir alle. Es war Winter, und man hatte keine entsprechende Kleidung. So waren also Erkrankungen unvermeidlich. Die Mädchen waren in sehr schlechter Verfassung. Tag für Tag wurden sie schwächer. … Man sah, dass sie sehr krank waren. Die Frank-Mädchen waren so sehr ausgemergelt. Sie sahen furchtbar aus. Sie zankten sich hin und wieder – das kam durch ihre Krankheit –, und es war klar, dass sie Typhus hatten. … Ihre Gesichter waren eingefallen und knochig. Und sie froren sehr. Sie hatten den ungünstigsten Platz in der Baracke, ganz unten in der Nähe der Tür, die beständig auf und zu ging. Man hörte, wie sie immer riefen: „Macht die Tür zu, macht die Tür zu“, und ihre Stimme wurde von Tag zu Tag schwächer. Man konnte wirklich sehen, dass beide dem Tode nahe waren, so wie andere auch. Was aber natürlich so traurig war, das war, dass diese Kinder noch so jung waren. Ich fand es immer so entsetzlich, dass sie niemals richtig als Kinder gelebt hatten. Sie waren tatsächlich die Jüngsten unter uns. … Die Symptome von Typhus waren bei ihnen eindeutig erkennbar – dieses Dahinsiechen, eine gewisse Apathie, ganz gelegentlich flackerten die Lebensgeister wieder auf, bis sie so krank geworden waren, dass keine Hoffnung mehr bestand. Und dann kam ihr Ende. Ich weiß nicht mehr, wer von beiden zuerst hinausgetragen wurde, Anne oder Margot. … Die Toten wurden immer nach draußen getragen und vor die Baracken gelegt. Wenn man dann am Morgen hinausgelassen wurde, um zur Latrine zu gehen, dann musste man immer an ihnen vorbeigehen. Das war genauso schlimm wie der Gang zur Latrine selbst, denn nach und nach bekam jeder Typhus. Vor den Baracken stand eine Art Schubkarre, in der man seine Notdurft verrichten konnte. Manchmal musste man diese Schubkarren auch zur Latrine bringen. Wahrscheinlich war es auf einem dieser Gänge zur Latrine, dass ich an den Leichen der FrankSchwestern vorbeikam. … Die Berge [von Leichen] [vor den Baracken] wurden dann weggebracht. Und dann wurde immer ein großes Loch gegraben, in das die Leichen hineingeworfen wurden. Das weiß ich noch genau. Und das muss auch ihr Schicksal gewesen sein, denn das geschah mit allen anderen auch. Ich kann mir nicht einen einzigen Grund zu der Annahme vorstellen, dass es bei ihnen anders war als bei den anderen Frauen unter uns, die zu derselben Zeit starben.5

Man muss nicht betonen, dass dieses Bild des ausgemergelten, von Krankheit gezeichneten Mädchens, das inmitten des menschlichen Abfalls der Lagerlatrine lag und dann in ein großes Loch geworfen wurde, das als Massengrab diente, nicht zu dem hochgeschätzten „Vermächtnis“ der Anne Frank passte. Und genau das aber war Anne Franks Schicksal, so wie es das Schicksal zahlloser anderer jüdischer Opfer Nazi-Deutschlands war. Entsprechend den vorherrschenden kulturellen Normen ist 5 Willy Lindwer, The Last Seven Months of Anne Frank, (New York: Pantheon Books, 1991), 103–104. Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 135

jedoch die Vorstellung von Anne Frank, die sich über die Jahre hin herausgebildet hat, großenteils zu einem Bild geworden, das von jedem realistischen Verständnis ihres Lebens und Sterbens gleichsam hygienisch gereinigt wurde. Wie bereits gezeigt, ist ihr Bild in einem solchen Maße idealisiert worden, dass es durch einen einzigen, oft zitierten Satz aus ihrem Tagebuch zusammengefasst werden kann – „Trotz allem glaube ich immer noch, dass die Menschen im Herzen gut sind“ –, und ihr Tod wird entweder ganz vertuscht, oder er erhält einen hoffnungsvollen, wenn nicht sogar glückseligen Charakter. Es kann ja durchaus so sein, dass Anne Franks Popularität auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass ihre Geschichte nur unvollkommen bekannt ist und nach und nach sentimentalisiert und romantisiert worden ist. In einigen entscheidenden Punkten ist ihr auch der spezifisch jüdische Charakter genommen worden. Das, was übrigbleibt, ist zwar sicherlich rührend, aber verhältnismäßig mild, wenn man berücksichtigt, was man anderswo in der Holocaust-Literatur findet. Anne Franks Geschichte zieht ein breites Publikum an das private Leben eines bewundernswerten jungen Mädchens heran, gleichzeitig aber schirmt sie dieses Leben von einer genaueren Kenntnis des brutalen Schicksals ab, das sie mit Millionen anderer europäischer Juden teilte. Dadurch, dass man das wenige erfährt, das man durch die Geschichte der Anne Frank über die Nazi-Verbrechen kennen lernt, kann man zwar in vorläufiger Weise aus der Distanz etwas „über“ den Holocaust „erfahren“, mit den schlimmsten Nazi-Gräueln wird man jedoch dadurch nicht konfrontiert. Primo Levis Besorgnis, dass die Geschichte, die er und so viele andere erlitten haben, in Vereinfachung und Stereotypie abgleiten könnte, scheint sich zu bestätigen, wenn man die verschiedenen Reaktionen auf Anne Frank Revue passieren lässt. Mehrere Artikel in David Rosenbergs Sammelband Testimony: Contemporary Writers Make the Holocaust Personal (1989) (Zeugnis: Zeitgenössische Autoren machen den Holocaust persönlich) z. B. beziehen sich auf Anne Frank, aber in einer Weise, die erkennen lässt, eine wie abgeschwächte Figur sie geworden ist. Rosenberg hatte die Beiträger, von denen die meisten amerikanische Autoren sind, die während des Krieges oder danach geboren sind, gebeten, „den Schatten, den der Holocaust“ auf ihr Leben wirft, zu beschreiben. Des weiteren wollte er, dass sie angaben, wie und wann sie das erste Mal vom Holocaust erfahren hatten und welchen formenden Einfluss – wenn überhaupt – das Geschehen auf ihren Werdegang als Autoren gehabt hatte. Diese Fragen sind recht interessant, aber viele der Antworten sind enttäuschend oberflächlich. Francine Prose, eine Beiträgerin zu Rosenbergs Band, benennt The Diary of a Young Girl als einen frühen formenden Einfluss auf sie und bemerkt, dass sie als junges Mädchen das Buch immer wieder gelesen habe. Was hatte das Buch ihr zu sagen? „Für mich“, schreibt sie, „war das Buch die Geschichte eines Mädchens, das eine Liebesbeziehung hatte, und eines Mädchens, das starb; und aus der Rückschau bin ich nicht sicher, ob ich den Unterschied wusste. … Ich glaube, dass ich bereit gewesen wäre, den Tod zu erleiden, wenn ich die Romanze gehabt hätte“. Prose 136 | 

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schreibt über die Verbindung, die sie zwischen sich als jungem Mädchen und Anne Frank gefühlt habe („Anne Frank, unsere Schwester, unser Double“), und erinnert sich daran, wie sie den Holocaust als Mittelpunkt für die wollüstige Vermischung von Sexualität und Tod empfunden habe. „Und so“, notiert sie, „wurde der Holocaust für mich erfüllt mit einer Atmosphäre des Romantischen. Er war schrecklich und glanzvoll, düster und nostalgisch. …“ Was auch immer diese Worte ausdrücken mögen, so lassen sie fast kein Bewusstsein des extremen Charakters der Geschehnisse erkennen, die sich vor drei Generationen in Europa vollzogen haben. Vielmehr, und damit soll diese Autorin das letzte Mal zitiert werden, wurde der Holocaust auf den Status „einer Nadel, mit der man sich sticht“, herabgewürdigt. Erstaunlicherweise wurde er dabei nur wenig mehr als ein Instrument für die Stimulation schmerzhafter, aber irgendwie sehr wünschenswerter Empfindungen, „gleichzeitig schrecklich und aufregend“. Wie ein guter Horrorfilm, den man sich an einem müßigen Samstagnachmittag ansieht, vermittele er „eine Art von halb-erschreckendem, halb-vergnüglichem Kälteschauer, … eine berauschende Mischung von Melancholie und Hochgefühl“.6 In dieser Art und Weise verstanden, wird eine geschichtliche Katastrophe von jeder ernsthaften Bedeutung, die sie irgend haben könnte, entleert und auf das Banale reduziert. Eine Reduktion auf eine noch niedrigere Stufe liegt vor in dem Artikel von Daphne Merkin, ebenfalls für den Sammelband Testimony. Darin notiert sie, dass sie ebenfalls eine enge persönliche Beziehung zu Anne Frank spüre und das Tagebuch als einen inspirierenden Bericht einer intensiv privaten Erfahrung schätze. Wie viele andere auch betrachtete sie Anne Frank solipsistisch und fand in ihr, was sie finden wollte: nicht ein junges jüdisches Opfer des Nazi-Terrors, sondern ein Abbild ihrer selbst am Schreibtisch. „Die Realität ihres eigenen Ich war genauso gültig wie die lebensbedrohliche Realität außerhalb ihres Ich“, schreibt Merkin und fährt fort: „Es war durchaus möglich, genau in der windstillen Mitte des Nazi-Sturmes zu leben und dabei doch seine eigene kleine Angst ernst zu nehmen. Noch besser: Es war möglich, aus dem Holocaust als eine literarische Heldin hervorzugehen! Der Gedanke war beglückend“. Beglückung, die erreicht wurde durch die entschlossene Reizung ihrer eigenen dunkelsten Impulse, ist dieser Autorin wichtig, und zwar so sehr, dass sie sich einer wilden Holocaust-Phantasie hingibt, in der sie sich „in der Umarmung des jungen Adolf Hitler“ sieht („Er spielte mit meinem Haar, dem Haar einer Jüdin, dem Haar mit der falschen Farbe, nicht arischblond“.). An anderer Stelle, in Ausweitung dieser Phantastereien, schreibt Merkin, dass jüdische Männer ihrer Generation ihre eigenen Nazi-inspirierten erotischen Phantasien hätten und dass „in einem Loswurf, der entscheiden soll, ob sie sich 6 In David Rosenberg, Hg., Testimony: Contemporary Writers Make the Holocaust Personal (New York: Random House, 1989), 101–103. Zu einem detaillierteren und reiferen Respons auf Anne Franks Tagebuch siehe Francine Prose, Anne Frank, The Book, The Life, The Afterlife (New York: Harper, 2009). Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 137

entweder mit Anne Frank oder mit Eva Braun (Hitlers Mätresse) treffen, mir klar ist, wen diese Männer wählen würden“.7 Wie sie überhaupt wissen kann, wer in diesem wahnwitzigen Loswurf gewinnen würde, ist unklar; aber jedenfalls ist Merkin davon überzeugt, dass ihre jüdischen Männer von dem Drang getrieben werden, den sie „shiksa-Hunger“ nennt, ein unersättliches Verlangen nach blonden christlichen Frauen (ein Vorwurf, der dem nicht unähnlich ist, den man häufig gegen farbige Männer erhebt, die manchmal dahingehend stereotypisiert werden, dass sie der angeblichen Anziehungskraft dieser blonden Frauen nicht widerstehen können). Obwohl Anne Frank der ursprüngliche Auslöser für diese obszönen Träumereien sein mag, so wird sie aber in Merkins Betrachtungen recht schnell beiseitegeschoben, Betrachtungen, die schließlich sehr wenig mit dem Holocaust zu tun haben, wohl aber sehr viel mit den zügellosen Phantastereien der Autorin von Verfolgung und Rache. Das jedoch scheint einer der Preise zu sein, die man bezahlen muss, wenn man sich vornimmt, „den Holocaust zu personalisieren“. Wenn man diesen Beispielen folgt, dann wird deutlich, dass das begriffliche Problem, mit dem wir angefangen haben, bestehen bleibt; denn wenn man die Opfer des Holocaust als „einen, und noch einen, und noch einen“ betrachtet, dann sieht man sie aber nicht notwendigerweise klar vor sich. Im Falle der Popularisierung der Anne Frank ist wohl tatsächlich ein weitaus größerer Teil dieser Geschichte dem Blick entzogen. Sicherlich gibt es andere, die die Verbrechen des Dritten Reiches in einer eher sachlichen und verantwortungsbewussteren Art und Weise sehen, aber Tendenzen, den Holocaust zu „personalisieren“ oder zu politisieren, herrschen heute durchaus vor und repräsentieren damit einen kulturellen Trend, der beunruhigend ist. Es ist ein Trend, der den Effekt hat, die Wirklichkeit von Auschwitz entweder ganz zu leugnen oder sie in etwas anderes zu verwandeln – nämlich in erotische Schwelgerei verschiedenster Art oder in politische Aktionsprogramme, die deren Reiz durch emotionale Bezugnahme auf die Völkermordmaßnahmen der Nazis dramatisieren. Die obigen Zitate aus Testimony illustrieren das Erstgenannte. Was die Illustration des Letztgenannten angeht, so braucht man nur auf die Rhetorik zu blicken, die in den Debatten über Abtreibung und AIDS verwendet wird, um zu erkennen, dass „Völkermord“ und „Holocaust“ Termini sind, die inzwischen auf gesellschaftliche Realitäten angewandt werden, die trotz ihres gravierenden Charakters mit den Nazi-Verbrechen gegen die Juden nicht zu vergleichen sind. Diese Verbrechen hatten den Völkermord als erklärtes Ziel, und sie hatten die organisierte Durchschlagskraft eines mächtigen politischen Staatsapparates hinter sich, um dieses Vorhaben in einer entschlossenen, systematischen Art und Weise in die Tat umzusetzen. Unter Berücksichtigung sowohl der Absicht als auch der verfügbaren Mittel war der Nazi-Holocaust daher von Grund auf zerstörerisch. Als ein Geschehen ohne erkennbaren historischen Präzedenzfall bietet der Holocaust sich nicht ohne weiteres für einen Vergleich oder eine Analogie an. Wenn man das sagt, 7 Testimony, 27–28.

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dann heißt das aber offensichtlich nicht, dass es heute niemanden gäbe, der Leid trägt; denn die täglichen Nachrichten zeigen uns deutlich das Gegenteil. Es heißt auch nicht, dass es uns gelungen wäre, die verschiedenen Erscheinungsformen des Vorurteils, der Intoleranz und der Ungerechtigkeit auszumerzen, die die Wurzel von so viel persönlichem und kollektivem Schmerz ist – nein, das ist uns wirklich nicht gelungen. Vielmehr heißt es, dass wir den Charakter und die Ursachen des gegenwärtigen Leidens eher verdunkeln als erhellen, wenn wir ein solches Leid als eine neue Form von „Völkermord“ betrachten. Wenn jedes Vorkommen menschlichen Unglücks in einen weiteren „Holocaust“ verwandelt wird, dann wird der Holocaust selbst immer weniger real und ist schließlich nur wenig mehr als eine rhetorische Figur – wobei dann die moralischen Ansprüche des Geschehens an uns durch die Verlagerung in den Bereich der Metaphorik eher vermindert als vergrößert werden. Man hat sich Anne Frank fast von Anfang an in dieser Weise als ein Symbol angeeignet. Dazu kommt, dass es wiederholte Versuche gegeben hat, ihrer Geschichte jeden irgend möglichen Wert abzusprechen. Jahrzehntelang haben Neonazis und andere extrem rechts stehende Gruppen die Echtheit des Tagebuches durch die Publikation polemischer Artikel aggressiv bestritten, Artikel, die Anne Franks Werk als Fälschung „entlarven“ sollten. Die Absicht dabei ist, die Geschichtlichkeit des Holocaust dadurch für nicht existent zu erklären, dass man die Legitimität einer der zentralen Textstellen des Werkes in Frage stellt. Wenn also gezeigt werden kann, dass Anne Franks Tagebuch eine „Fälschung“ ist – eher eine literarische Erfindung als ein authentisches historisches Dokument –, dann kann die Realität des Leidens der Juden unter den Nazis ebenfalls als Schwindel „bewiesen“ werden. Das, was natürlich in all diesen Fällen wirklich Schwindel ist, das ist die „Wissenschaftlichkeit“, die dazu verwendet wird, um diese Art des radikalen Revisionismus zu fördern. Aber trotz ihrer üblen Methoden und schädlichen Wirkungen ist die Literatur der Leugnung des Holocaust heute weit verbreitet und hat solche unehrlichen Bücher und Pamphlete herausgebracht wie etwa Anne Frank’s Diary – A Forgery, Anne Frank’s Diary – A Hoax, Anne Frank’s Diary – The Big Fraud (Anne Franks Tagebuch – eine Fälschung, Anne Franks Tagebuch – ein Schwindel, Anne Franks Tagebuch – der große Betrug) und ähnlich geschmacklose Machwerke. Die Tatsache, dass derartige Literatur spürbar böswillig motiviert ist, bedeutet leider nicht, dass sie keine Leser findet. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein; denn die bereitwillige Aufnahme der revisionistischen Behauptung, der Holocaust sei nie geschehen, erscheint heute weiter verbreitet, als es in der Vergangenheit der Fall war.8 Am anderen Ende des politischen Spektrums findet man anders gelagerte beunruhigende Tendenzen. Typischerweise versuchen die Linken nicht, die histori8 Zu einer Auflistung der von den Rechten kommenden Angriffe auf die Echtheit von Anne Franks Tagebuch siehe The Diary of Anne Frank: The Critical Edition, 84–101. Zu einer detaillierteren Darstellung der Werke der Holocaust-Leugner siehe Deborah Lipstadt, Denying the Holocaust (New York: The Free Press, 1993). Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 139

sche Erinnerung an den Holocaust zu attackieren oder zu unterdrücken, sondern zumindest einige von ihnen neigen dazu, den Holocaust für ihre eigenen politischen Zwecke zu instrumentalisieren. In den sechziger Jahren z. B. war es allgemeine Praxis, die Figur der Anne Frank in den Dienst des Kampfes gegen den „Faschismus“ zu stellen. Während des Vietnam-Krieges gab es eine Zeit, in der das Anne Frank-Haus in Amsterdam selbst ein herausragender Mittelpunkt für die „antifaschistische“ Kampagne wurde, die unter anderem bestrebt war, Besucher der Prinsengracht eindringlichen Verunglimpfungen Amerikas als eines Nachfolgerstaates Nazi-Deutschlands auszusetzen. Diese Besucher kamen zweifellos, um dem Andenken Anne Franks ihre Reverenz zu erweisen, sie wurden jedoch häufig mit ganz anderen Aktivitäten konfrontiert, zu denen unter anderem Schlagworte wie „Amerika, Amerika über alles“ gehörten. S. H. Radius, einer der Direktoren der Anne Frank-Stiftung in den späten sechziger Jahren, gab folgende Begründung für diese Aktivitäten: Wir sind dankbar, dass so viele Menschen hierher kommen. Das Problem ist nur, dass die meisten aus den falschen Gründen kommen! Sie betrachten das Haus als einen Schrein eines gemarterten jüdischen Mädchens. Das will es aber am wenigsten sein. … All diese Leute denken aber nur im Hinblick auf die Vergangenheit. Das Ziel der Anne Frank-Stiftung ist es aber, die Vergangenheit nur dazu heranzuziehen, um die Gegenwart und die Zukunft zu erhellen. Wir versuchen nämlich, die Auswirkungen jeder Art von Verfolgung auf jede beliebige Gruppe sichtbar zu machen.9

Nur wenige wohlmeinende Menschen würden die Ziele, nämlich den Kampf gegen das Übel der Verfolgung, wann und wo auch immer dieses in Erscheinung tritt, in Frage stellen; aber die programmatische Instrumentalisierung der Geschichte für gegenwärtige politische Zwecke schafft wieder ganz eigene Probleme. Wenn z. B. die Figur der Anne Frank als Sammelpunkt der Opposition gegen die amerikanische Politik in Vietnam benutzt wird, wie das in den späten sechziger Jahren der Fall war, dann ist klar, dass die Vergangenheit nicht mehr nach ihren eigenen Kriterien bewertet, sondern zu einem Werkzeug in den ideologischen Kämpfen von heute gemacht wird. Die Geschichte in dieser Art und Weise zu „gebrauchen“ bedeutet fast immer, sie zu missbrauchen, und zwar mit allen begleitenden Konsequenzen. Um einen solchen Missbrauch in seiner heute krassesten Form zu beobachten, möge man die im Folgenden genannten Anstrengungen, sich Anne Franks Geschichte zweckwidrig für parteipolitische Ziele anzueignen, betrachten. Im Januar 2008 erschien auf den Gebäudewänden in Amsterdam ein Schablonenbild einer lächelnden Anne Frank, die ein rot-weißes Kufiyah-Kopftuch trug. Bald danach übertrug eine geschäftstüchtige niederländische Firma mit dem Namen „Bumerang“ dieses Bild auf Designer-T-Shirts und Ansichtskarten. Die Karten wurden gratis überall in den Niederlanden verteilt, ohne Zweifel um den Verkauf von Bumerangs politisch schicker neuer Hemdenproduktlinie anzukurbeln. Aber es war eine ris9 Frances A. Koestler, „The House on the Prince Canal“, The National Jewish Monthly (Februar 1969), 20.

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kante Marketing-Maßnahme, ein Produkt zu bewerben, bei dem das Gesicht von Amsterdams berühmtester Märtyrerin so verändert wurde, dass sie wie eine Tochter von Yassir Arafat aussah. Der israelische Botschafter in den Niederlanden drückte, wie auch die niederländischen jüdischen Organisationen, seine Empörung aus. Aber diese Reaktionen waren durchaus nicht allgemein. Einige wurden von der neugestalteten palästinensischen Anne Frank angezogen und stimmten der politischen Aussage des Künstlers zu, deren Bedeutung ein Blogger dahingehend interpretierte, dass „die Zionisten im Namen des Judentums den Palästinensern das antun, was den Juden in Europa angetan wurde“.10 Diese simplizistische Formel ist ein Hauptbestandteil der Rhetorik des gegenwärtigen Antizionismus geworden. Die darin enthaltene Anschuldigung entbehrt jeder Grundlage, aber sie ist rhetorisch griffig und wird routinemäßig verwendet, um Israel mit dem Nazi-Pinsel zu beschmieren. Was sich in gewissen politischen Kreisen gut macht, das macht sich aber im Geschäftlichen vielleicht nicht so gut. Weil Bumerang möglicherweise spürte, dass das Image der Firma auf dem Spiel stand, schalteten die Manager der Firma schnell in den Schadenbegrenzungsmodus. Ihre aggressiv revisionistische T-Shirt-Version der Anne Frank wurde nun als Darstellung „eines idyllischen Friedensbildes“ bezeichnet.11 Nach Aussage eines Firmensprechers sollte, und das ist recht unwahrscheinlich, diese Darstellung „Menschen dazu ermuntern, über eine friedliche Lösung für Israel und die Palästinenser nachzudenken“.12 Aber Bumerangs Imageberater haben nie erklärt, wie eine Harmonisierung des bekanntesten jüdischen Opfers des Holocaust mit dem Symbol des militanten palästinensischen Nationalismus jemals „ein idealistisches Bild“ schaffen könnte, „in dem beide Staaten nebeneinander in Frieden existieren“.13 Dieses Bild ist nicht nur inkongruent, sondern anstößig. Dennoch hat die gegenwärtige politische Ikonographie es mit einem anderen Bild in Einklang gebracht, das gleichermaßen obszön ist: Eine Zeichnung, die von der Arabisch-Europäischen Liga, einer belgisch-niederländischen islamischen politischen Organisation, in Auftrag gegeben wurde, geleitet von dem populären Führer Dyab Abou Jahjah, zeigt ein elend aussehendes Mädchen, das traurig unter die Bettdecke sinkt, während mit bloßem Oberkörper neben ihr aufrecht sitzend ein mit dem Hakenkreuz versehener Hitler triumphierend kreischt: „Schreib das in dein Tagebuch, Anne!“ Über dem Kopf des unglücklichen Opfers des Führers tut 10 Alvin H. Rosenfeld, „Anne Frank and the Future of Holocaust Memory“, Joseph and Rebecca Meyerhoff Annual Lecture. Center for Advanced Holocaust Studies, United States Holocaust Memorial Museum (Washington, D.C.), 14. Oktober 2004. 11 Cnaan Liphshiz, „Dutch Jewish Group Slams Card of Anne Frank Wearing Kaffiyeh“, Ha’aretz, 27. Januar 2008, http://www.haaretz.com/hasen/spages/948514 html. 12 Sebastiaan Gottlieb, „Controversial Anne Frank Post Card Won’t Be Withdrawn“, Expatica. com, 29. Januar 2008, http://www.expatica.com/nl/life_in/feature/Controversial-Anne-Frankpost-card-won_t-be-withdrawn.html. 13 Liphshiz, „Dutch Jewish Group Slams Card of Anne Frank Wearing Kaffiyeh“. Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 141

eine wortlose Blase den Gram des verzweifelten Mädchens kund. Die Tatsache, dass diese Graphik widerwärtig ist, hat nicht verhindert, dass sie von der Arabisch-Europäischen Liga und anderen islamistischen Gruppen weiträumig verteilt worden ist. Im Gefolge der dänischen Karikatur-Kontroverse, die viele Muslime erbost hatte, sagte Herr Jahjah, dass er es denen hiermit heimzahle, wobei er hinzufügte, dass „auch Europa seine heiligen Kühe hat“. Ja, die hat Europa durchaus, aber Europas ermordete Juden gehören nicht dazu. Anne Frank, tot, ehe sie sechzehn wurde, war keine Heilige, vielmehr kam mit ihr noch ein weiterer Mensch zu den Bergen von anonymen Leichen in Bergen-Belsen. Man muss ihr Andenken nicht mit dem Sakralen umgeben, um ihm einen geziemenden Respekt zu erweisen. Bis vor kurzem haben die meisten das für angemessen gehalten, aber in einer Zeit des wieder auflebenden Antisemitismus ist der Respekt auch vor den jüdischen Toten in manchen Kreisen eine Mangelware geworden. Nichts verdeutlicht diese moralische Erosion so dramatisch wie diese Manipulationen mit dem Bild der Anne Frank. Und es gibt noch mehr. Im März 2004 berichtete ein niederländisches Fernsehteam, das zu Besuch in Nordkorea war, dass Anne Franks Buch im ganzen Land als verpflichtende Lektüre in höheren Schulen eingeführt worden war – eine überraschende und auf den ersten Blick ermutigende Entwicklung. Bei näherer Prüfung entdeckte das niederländische Team jedoch, dass die Lehrer in diesem streng stalinistischen Staat das Tagebuch dazu benutzten, ihre Schüler durch Gehirnwäsche zu der Überzeugung zu bringen, dass das, was ihrem Land widerfahren war, eine direkte Parallele zu der Familie Frank in ihrem Versteck sei, dass die Amerikaner dieser Generation die Nazis der Hitler-Ära seien und der amerikanische Präsident so schlimm wie Hitler selbst. In der Interpretation Pjöngjangs ist das sogenannte „Vermächtnis“ Anne Franks unzweideutig klar. Mit den Worten eines nordkoreanischen Jugendlichen: „Zur Erreichung des Weltfriedens muss Amerika zerstört werden. Nur dann wird Annes Traum vom Frieden sich verwirklichen“.14 Eklatante Fälle des Missbrauchs des Tagebuches erscheinen regelmäßig auch in Teilen der arabischen Welt. Bei dem, was nun gemeinhin der „palästinensische Holocaust“ genannt wird, ist Anne Frank ein allgegenwärtiger Referenzpunkt geworden, und die Suche nach der „palästinensischen Anne Frank“ wird ganz bewusst verfolgt, was keineswegs überraschend ist. Eine kürzlich auf der Website „aljazeerah.info“ erschienene Geschichte präsentiert den folgenden Plan: Zur Betrachtung. Ein Propagandabuch [gemeint ist Anne Franks Tagebuch], das den Zweck hat, Sympathie für das jüdische Volk hervorzurufen, und zwar über den Weg eines jungen Mädchens, das sich vor bösen Menschen versteckt, ist in vielen Schulen der Vereinigten Staaten vepflichtende Lektüre. Wieviele heranwachsende Kinder, die weder Propaganda noch Manipulation kennen, diese Geschichte doch als das lesen, was sie ist, die Geschichte eines Mädchens, das in Not ist und 14 Zitiert nach Damien McElroy, „Anne Frank Diary Used to Portray Bush as Nazi“, Telegraph (London), 8. März 2004.

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sich deshalb versteckt! Ihnen ist nicht klar, dass sie Sympathie nicht nur für irgendein Mädchen empfinden, sondern für ein jüdisches Mädchen. … Das gab mir zu denken. Wenn das für Juden funktioniert, warum sollte es nicht für andere auch funktionieren? Wenn nun ein palästinensischer Autor ein junges palästinensisches Mädchen, das Schwierigkeiten hat, finden würde. Vielleicht ist ihr Bruder von einem Heckenschützen getötet worden. Oder ihre Eltern sind von einem Bulldozer zerquetscht worden. Oder ihr Heim ist von Sprengkörpern der Israelis zerstört worden. Wenn ein palästinensischer Autor seine Geschichte genauso verfassen würde, auch stilistisch, wie Das Tagebuch der Anne Frank, dann würde das Buch vielleicht genauso populär werden wie Das Tagebuch der Anne Frank. Vielleicht würde es den Durchschnittslesern vor Augen führen, wie das Leben dieses jungen palästinensischen Mädchens aussah. Genauso wie Das Tagebuch der Anne Frank ganz normalen Leuten vor Augen führt, wie das Leben für das junge jüdische Mädchen Anne Frank aussah. … Es muss buchstäblich Tausende von jungen … palästinensischen Mädchen mit schrecklichen Erlebnissen geben, die das kollektive Herz der Welt fast zum Zerreißen bringen. Es würde nicht schaden, es zu versuchen.15

Es gibt Autoren, die das schon die ganze Zeit versuchen. In ihren Tagebucheinträgen über das Leben in einem palästinensischen Flüchtlingslager ruft Muna Hamzeh flehentlich: „Wo bist du, Anne Frank? Wo bist du? Bist du deshalb gestorben? Deshalb, damit dein Volk den Spieß umdreht und diese Pogrome an anderen Menschen verübt? Du warst so jung und hattest den Tod nicht verdient, aber du musstest wegen deiner Identität sterben. Aus genau demselben Grunde bringen sie jetzt uns um“.16 Jeder, der mit dem andauernden arabisch-israelischen Krieg vertraut ist, weiß, dass Palästinenser getötet werden wie auch Israelis, aber nicht aufgrund ihrer „Identität“ oder aus irgendeinem anderen Grunde, der den Motiven für die Ermordung Anne Franks ähnlich wäre. Und wie bei ihrer Verwendung des Wortes „Pogrom“ macht Muna Hamzeh Gebrauch von dem Wortschatz des Leidens der Juden, um das Leiden der Palästinenser von dem Leiden der Juden in seiner schlimmsten Form ununterscheidbar zu machen. Andere tun dasselbe. In seiner Rezension von Ghada Karmis Autobiographie In Search of Fatima: A Palestinian Story (Auf der Suche nach Fatima: Eine palästinensische Geschichte)17 notiert Muhammad Khan, dass Karmis Geschichte eines „palästinensischen Mädchens, das zusammen mit ihrer Familie aus ihrem Heimatland vertrieben wurde, mich sofort an das Unglück von Anne Frank und ihrer Familie in Nazi-Deutschland erinnerte“. Er schreibt dann weiter, dass das Bild der jungen Karmi auf dem Umschlag ihres Buches dem Bild der Anne Frank auf dem Umschlag ihres Tagebuches so auffallend ähnlich sei, „dass ein nichtsahnender Leser glauben würde, dass sie tatsächlich Schwestern sind“. Der Rezensent fährt dann fort: Bald nach Ende des Zweiten Weltkrieges … zogen europäische Juden, die Opfer des europäischen Antisemitismus und der Verfolgung durch die Nazis, in das Herz des Nahen Ostens und besiedelten rasch das Land eines nichtsahnenden palästinensischen Volkes. Dieses Mal hatten sich die 15 David Little, „Coud a Little Girl Be the Key to Stopping the Violence in Iraq and Palestine?“ Al-Jazeerah, 13. Juni 2004. 16 Zitiert nach Rodney Carmichael, „Jewish Studies Class Draws Fire from Some Local Jews“, WACO Tribune-Herald, 28. April 2001. 17 Ghada Karmi, In Search of Fatima: A Palestinian Story (London: Verso, 2004). Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 143

früheren Opfer der Massenverfolgung in Europa über Nacht in die Bedrücker eines anderen, völlig unschuldigen Volkes in dem historisch bedeutsamen Land Palästina verwandelt. Sobald die Geschichte Anne Franks, des schönen deutschen jüdischen Mädchens, zu Ende gekommen war, sollte eine andere Geschichte, die Geschichte eines anderen entsetzlichen Gräuels, ja eines der schlimmsten Verbrechen in der neuesten Geschichte von einer Palästinenserin aufgeschrieben und uns vermittelt werden, die ebenfalls als junges Mädchen aus ihrem Heimatland vertrieben wurde. Das ist die Geschichte von Ghada Karmi und dem Volk der Palästinenser.18

Seit einer Reihe von Jahren ist der rhetorische Trick, Juden in Nazis und Palästinenser in Juden umzuwandeln, Teil des arabischen Redens über den Konflikt im Nahen Osten. Obwohl die historischen Parallelen weithergeholt sind, wird eine Geschichte der Gleichsetzung der Viktimisierung der Palästinenser durch die israelischen Juden mit der Viktimisierung der Juden unter Hitler jetzt weithin akzeptiert – und das nicht nur in der arabischen und muslimischen Welt, sondern auch von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen in Europa und anderswo. Der Gedanke einer „palästinensischen Anne Frank“ passt in diesen Kontext; doch zeigt es sich bei genauerem Hinsehen, dass das „Passen“ nur erfunden ist. So lebt z. B. Ghada Karmi seit 1949 in London, wo sie vor Jahrzehnten bereitwillig die britische Kultur angenommen und sich in die englische Gesellschaft integriert hat. Anne Frank dagegen hat ihren sechzehnten Geburtstag nie erlebt und liegt in einem anonymen Leichenberg in Bergen-Belsen. Trotz all der offenkundigen Unterschiede in ihrer jeweiligen Geschichte hat es aber in diesem und in zahllosen anderen Fällen eine kontinuierliche Vermengung von Anne Franks Erfahrungen mit denen von anderen jungen Mädchen gegeben, die Bedrängnisse der einen oder anderen Art erlitten haben. Dieses Bestreben – offensichtlich eine Form der Usurpation – ist ein regelmäßiges Element in den arabischen Medien. „Lernen Sie die Anne Frank von heute kennen!“, schreibt Yusuf Agha in einem Artikel mit der Überschrift „Die Anne Franks von Palästina“. Der Autor präsentiert dann mehrere Jugendliche, die als Vertreter für Anne Frank gedacht sind, und beschreibt das, was die erste dieser Ersatzpersonen denkt, nämlich Suad Ghazal, ein siebzehnjähriges palästinensischen Mädchen, das in einem Gefängnis in Ramla in Israel einsitzt, auf diese Weise: In dem Augenblick, als ich allein war, wusste ich, dass ich Rotz und Wasser heulen würde. Ich rutschte in meinem Nachthemd auf den Fußboden und fing damit an, dass ich ganz inbrünstig meine Gebete sprach. Dann zog ich die Knie an die Brust, legte den Kopf auf die Arme und heulte, ganz zusammengekauert auf dem bloßen Fußboden. Ein lautes Schluchzen brachte mich wieder auf den Boden der Tatsachen. … Ich habe den Punkt erreicht, wo es mir fast egal ist, ob ich lebe oder sterbe. Die Welt wird sich auch ohne mich weiter drehen, und ich kann sowieso nichts machen, um daran irgendetwas zu ändern.19 18 Muhammad Khan, „Voices of a People Living in Exile“, www.muslimnews.co.uk/paper/index. php?article’1582 (aufgerufen am 20. Juli 2004). 19 Zitiert nach Yusuf Agha, „The Anne Franks of Palestine“, Yellowtimes.org, 20. Juni 2002, www. yellowtimes.org/article.php?sid‘410 (aufgerufen 20. Juli 2004).

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Das ist jedoch nicht Suad Ghazals Stimme in einer Gefängniszelle in Ramla, sondern die Stimme von Anne Frank in einem der seltenen Augenblicke der Resignation. Obwohl die Erfahrungen der beiden Mädchen als fast identisch präsentiert werden, sind sie aber tatsächlich überhaupt nicht vergleichbar. Suad Ghazal kam in ein israelisches Gefängnis nicht, weil sie eine Palästinenserin ist, sondern weil sie versucht hatte, einen Israeli, der auf der West Bank lebt, niederzustechen. Anne Frank andererseits war als Jüdin in ihrem Amsterdamer Hinterhaus eingesperrt, weil sie sich vor den Nazi-Häschern versteckte. Die palästinensische Jugendliche ist wegen versuchten Mordes im Gefängnis, wird aber schließlich wieder entlassen werden. Das jüdische Mädchen hatte keine Chance auf Rückgängigmachung ihres Urteils, das nur gefällt worden war, weil sie Jüdin war – ein Kapitalverbrechen in dem Europa ihrer Zeit –, und sie wurde ermordet. Trotz all ihrer Unterschiede wird Suad aber als Anne Franks Doppelgängerin dargestellt. „Ich bin die palästinensische Anne Frank“, erklärt sie stolz, „und israelische Hitlers, die überall um mich herum sind, haben Vergnügen daran, mich zu quälen. … Obwohl ich keines Verbrechens schuldig bin, sind alle Verbrechen der ganzen Welt an mir verübt worden“.20 Man kann unmöglich wissen, ob Suad Ghazal wirklich glaubt, was sie sagt, aber man kann leicht in die Falle dieser übersteigerten Rhetorik geraten und sich dann tatsächlich vorstellen, man sei als Opfer auf der gleichen Stufe mit den jüdischen Opfern des wirklichen Hitler. Der Fall von Binjamin Wilkomirski, dem Autor der notorisch betrügerischen „Memoiren“ Fragments, kommt einem als ein mahnendes Beispiel sofort in den Sinn. In einer Zeit, da Opfer aufgewertet worden sind, ist es allerdings sowohl verführerisch als auch vorteilhaft, sich als Zielscheibe extremen und ungerechten Leidens darzustellen. Man wirbt eindringlich um das Mitleid der Welt und neutralisiert gleichzeitig jeden Sinn für persönliche Verantwortung für die eigene Situation. An der Politik solcher Manöver ist nichts undurchsichtig oder subtil, und je nach der eigenen politischen Tendenz kann man ihnen zustimmen oder auch nicht. Man sollte sich allerdings dessen bewusst sein, dass rhetorische Winkelzüge dieser Art inhärent manipulativ sind und gegen die Erinnerung und die Integrität der Wahrheit selbst verstoßen. Aneignungen der Geschichte eines anderen, in diesem Falle der Geschichte der Anne Frank, sind zwangsläufig widerrechtliche Aneignungen – es ist die propagandistische Verwendung der tragischen Erfahrung einer Person, um die Erfahrung einer anderen Person zu steigern und in den Vordergrund zu rücken. Zweifellos haben Muna Hamzeh, Ghada Karmi, Suad Ghazal und andere palästinensische Araber ein hartes und keineswegs beneidenswertes Leben gehabt; es ist jedoch ein Betrug, ihre Lebensgeschichten mit der von Anne Frank zu verknüpfen – genauso wie es eine Entstellung ist, Anne Franks Geschichte zu idealisieren und sentimental darzustellen sowie sie als generalisiertes Symbol der Unter20 Zitiert nach Edna Yaghi, „My Humanity on Hold“, www.hejleh.com/edna_yaghi/suad.html (aufgerufen am 20. Juli 2004). Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 145

drückung in einer tyrannischen Welt erscheinen zu lassen. Wenn diese Tendenzen unkontrolliert weitergehen, dann wird das berühmteste Opfer des Holocaust zwar immer noch in Erinnerung sein, aber in einer Art und Weise, die eine historisch akkurate und moralisch verantwortungsvolle Erinnerung an den Holocaust selbst gefährden kann. Ein weiteres Beispiel, diesmal noch näher an dem Problem, soll zur Illustration dieser Tendenz angeführt werden. Die Anne Frank-Stiftung in Amsterdam hat eine große Wanderausstellung mit Fotografien ins Leben gerufen mit dem Titel „Anne Frank in der Welt: 1929–1945“, die über die Jahre hin in vielen Ländern gezeigt worden ist. Die Ausstellung ist eine ernsthafte und im allgemeinen effektive Unternehmung. Eines ihrer Ziele ist es, die Geschichte der Anne Frank vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen im von den Nazis besetzten Europa darzustellen. Ein weiteres Ziel ist es, Besuchern das gegenwärtige Vorkommen von Antisemitismus, Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung und des Vorurteils bewusst zu machen. Beides sind lobenswerte Ziele, aber insofern als Sponsoren der Ausstellung jeweils vor Ort die dort angebrachten Fotografien von Anne Frank und ihrer Zeit mit Vorträgen, Filmen, Publikationen und anderen eigenen Materialien erweitern können, wird das Gleichgewicht zwischen den beiden Zielen nicht immer gehalten. Man erfährt z. B. von Legacy, dem Mitteilungsblatt des Anne Frank Center USA, dass die Ausstellung „Anne Frank in der Welt: 1929–1945“ von bestimmten Gruppen nach Watsonville, Kalifornien, gebracht worden ist; es sind Gruppen wie: „Schwule, Lesben und Bisexuelle, sowie Feministen, Amerikaner japanischer Herkunft, amerikanische Ureinwohner, Menschen mit geistigen Behinderungen, Obdachlose und Menschen mit AIDS“. Beim ersten Lesen ist man überrascht, dass eine so heterogene Gruppe von Menschen offensichtlich Interesse an Anne Frank hat. Wenn man aber in dem Bericht weiterliest, dann fragt man sich, welche Absicht diese bunt gemischte Koalition von Programm-Sponsoren verfolgt, die, wie man erfährt, „ihre eigenen Exponate“ angebracht haben, „die ihre Erfahrungen mit Diskriminierungen illustrieren sollen. … Angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas in den Vereinigten Staaten war es besonders notwendig, existierende Vorurteile und Stereotypisierungen in Bezug auf Schwule, Lesben und Bisexuelle zu thematisieren“.21 Was auch immer die Gruppen bezweckten, die „Anne Frank in der Welt“ nach Watsonville, Kalifornien, brachten, so muss jedenfalls zwangsläufig eine ganz gravierende Verfälschung der Geschichte eintreten, wenn die Verbrechen des Holocaust mit den gegenwärtigen amerikanischen gesellschaftlichen Problemen auf eine Stufe gestellt werden. Diese Probleme sind durchaus ernster Natur, aber man kann nicht hoffen, sie zu verstehen oder zu lösen, wenn man sie mit Völkermord gleichsetzt. Vorurteile gegen Schwule, Lesben, Bisexuelle und andere sind abstoßend und gefährlich, und sie müssen beständig angeprangert und aktiv bekämpft 21 Legacy: The Newsletter of the Anne Frank Center USA 3, Nr. 1 (November 1992), 5.

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Kapitel 5

werden; aber Anne Frank für diesen Kampf heute zu vereinnahmen, ist kaum verschieden von ihrer Vereinnahmung als Parteigängerin der Antikriegsbewegung der sechziger Jahre. In beiden Fällen mögen die Ziele zwar bewundernswert sein, aber die Mittel sind gleichbedeutend mit Geschichtsfälschung. Angesichts solcher Praktiken besteht die Sorge, dass die Erinnerung an den Holocaust in Zukunft einen zunehmend vagen Charakter annehmen wird. Seit er in den Bereich der öffentlichen Diskussion eingetreten ist, ist der Terminus „Holocaust“ eine stark aufgeladene rhetorische Figur geworden, die üblicherweise in den hitzigen Debatten über Abtreibung, AIDS, Bürgerrechte, Rechte von Schwulen, über die Umwelt, die Gesundheitsfürsorge, Pornographie und anderes bemüht wird. Dies sind durchaus ernstzunehmende Debatten, aber sie gründen sich auf eine Geschichte, die nichts zu tun hat mit der Geschichte, die Auschwitz und Bergen-Belsen hervorgebracht hat. Sie haben vom Wesen her nichts zu tun mit Anne Frank oder mit den anderen Opfern des Nazi-Völkermordes; und wir tun dem Andenken Anne Franks und der vielen anderen mit dem gleichen Schicksal keine Ehre an, wenn wir in ihrem Bild uns selbst als „Opfer“ sehen. Es ist nämlich unser Glück, dass wir nicht Anne Franks „Schwester“ oder „Doppelgängerin“ sind, und wir sollten auch nicht so tun, als ob wir das wären. Der Autor Julius Lester erkannte das in seinen eigenen Betrachtungen zu Anne Frank, Betrachtungen, die in einem willkommenen Gegensatz zu den anderen, oben zitierten Beiträgen für Testimony stehen. Lester erfuhr erstmals von dem Tagebuch in seiner Zeit als College-Student, als er eine Vorlesung über Anne Frank hörte, die von einem niederländischen Gastprofessor gehalten wurde. Die Vorlesung hatte offenbar eine entscheidende Wirkung auf seine Vorstellung von der Welt und von seinem Platz darin. „Ich weiß nicht, wie ich mit dem Wissen um so viel Böses und so viel Leid leben soll“, dachte er, als ihm das alles bewusst wurde. Er dachte weiter über das Wesen dieser neuen Erkenntnis, die er erworben hatte, nach und fand eine wichtige Klärung in einem aufschlussreichen Gespräch mit dem Dichter Robert Hayden: „Wir glauben, wir wüssten etwas über das Leid“, sagt er [Hayden] mit Bezug auf Farbige. „Wir wissen nicht, was Leid bedeutet. … Nun, das stimmt nicht ganz. Vielleicht ist es auch ein Sprachproblem. … Vielleicht ist mir gar nicht wohl dabei, wenn ich dasselbe Wort ‚Leiden‘ verwende, um das zu beschreiben, was wir durchgemacht haben und was die Juden durchgemacht haben. Wissen Sie, was ich meine?“ Ich wusste es. Ich hatte mein ganzes Leben lang im Bus hinten gesessen, hatte Schilder gelesen, die mir sagten, wo ich essen konnte und wo nicht, durch welche Türen ich gehen konnte und durch welche nicht, aus welchen Brunnen ich trinken konnte und aus welchen nicht. Mir war von meinen Eltern beigebracht worden, nicht nach weißen Frauen zu schauen. Und dann dachte ich daran, in einer Dachkammer zu wohnen, dachte an Gaskammern und Öfen, in die Menschen wie Altpapier hineingeschaufelt wurden. „Ich sage nicht, dass die Juden mehr gelitten haben. Wie kann man ermessen, was ein Mensch erleidet? Aber es gibt einen Unterschied, und wir brauchen ein Wort, um diesen Unterschied deutlich zu machen. … Darum geht es beim Schreiben, wissen Sie? Das richtige Wort finden“.

Die Anne Frank, an die wir uns erinnern / die wir vergessen  | 147

Ich würde gern derjenige sein, der das richtige Wort findet. … Aber gibt es ein Wort, das stark genug ist, um zu Bergen aufgeschichtete nackte Körper unter einem sonnigen Himmel festzuhalten? Gezwungen zu sein, im Bus hinten zu sitzen, ist nicht im gleichen Erfahrungsbereich. Aber Juden mussten den gelben Davidsstern auf ihrer Kleidung tragen, damit sie als Juden identifiziert werden konnten. Mein Stern ist meine Hautfarbe. Aber ich lebe noch. Anne Frank nicht.22

Mit der einfachen Erkennung des Unterschiedes, der in diesen beiden letzten Sätzen beschrieben wird, stellt Lester ein sehr notwendiges Gleichgewicht in Bezug auf die hier angesprochenen Themen in etwa wieder her. Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass dieser Standpunkt wohl nur wenig geteilt wird. Wir leben in einer Zeit, in der stark darauf hingewirkt wird, Geschichte verflachend in die Form zu pressen, die wir haben wollen; es ist ein revisionistischer Prozess, der von Menschen jeder Couleur gefördert wird, um ein persönliches und kollektives Gefühl der „Unterdrückung“ und „Viktimisierung“ auszudrücken. Man könnte versucht sein, bereitwillig zu erklären: „Wir alle sind Anne Frank“. Aber in Wirklichkeit sind wir nichts dergleichen, wie Julius Lester – recht verständig – sehr wohl weiß. Dieses Wissen versetzt ihn in die Lage, klar zu erkennen, was jeweils an Anne Franks Geschichte und an seiner eigenen charakteristisch ist. Beide sind wichtig, und beide verdienen es, weithin bekanntgemacht zu werden. Es ist wenig sinnvoll, sie als Konkurrenzerfahrungen zu betrachten oder als „Leid, das man vergleichen kann“, wovor Robert Hayden warnt; denn jedes Leid stellt einen bedeutenden historischen und moralischen Anspruch an uns. In einem kulturellen Klima jedoch, in dem die historische Erinnerung entweder auf populäre Unterhaltung reduziert oder starkem persönlichem und politischem Durchsetzungswillen untergeordnet wird, ist es durchaus nicht klar, ob man sich an jede der beiden Geschichten in Zukunft mit der Integrität, die jede von ihnen verdient, erinnern wird.

22 Testimony, 195–196.

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Kapitel 6

Jean Améry: Die Angst des Zeugen

Als Jude empfinde ich die Tragödie von gestern als innere Bedrückung. Auf meinem linken Unterarm trage ich die Nummer von Auschwitz; sie liest sich ungleich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch viel detailliertere Informationen. – JEAN AMÉRY1

Wenn man von der Betrachtung der Holocaust-Opfer zur Betrachtung der Holocaust-Überlebenden wechselt, bedeutet das, wie zu erwarten ist, sich von den Toten den Lebenden zuzuwenden. Tatsächlich aber ist das Verhältnis der Lebenden zu den Toten innerhalb des aufgewühlten Umfeldes der Holocaust-Erinnerung weniger klar definiert. Weit entfernt davon, zwei scharf unterschiedene Typen – „Opfer“ und „Überlebende“ – anzutreffen, findet man oft einen verschwommenen und mehrdeutigen ontologischen Status vor. Lawrence Langer nennt diesen Status „Tod-Leben“. Der Terminus ist zwar misslich, verweist aber andeutungsweise auf einen seelischen Zustand, von dem Langer postuliert, dass er ein „vernachlässigtes Vermächtnis der Erfahrung des Holocaust“ sein könne. Primo Levi hat dies exemplifiziert, als er in einer späteren Periode seines Lebens bekannte: „Ich hatte das Gefühl, dass ich existierte, aber ohne dass ich lebte“.2 In einer ironischen Anspielung auf Hamlet drückt es Elie Wiesel so aus: „Das Problem ist nicht: Sein oder Nichtsein. Sondern eher: Sein oder Nichtsein“.3 Die schwierige Erfahrung, gleichzeitig mit zwei Existenzformen zu leben – nämlich sowohl hier und immer noch „dort“ – ist Überlebenden des Holocaust vertraut. In den Gedanken vieler konstituieren die Toten und die, die von den Toten zurückgekehrt sind, eine einzige zusammenhängende Gemeinschaft. Die Situation ist auch mit einem Paradoxon in einem anderen Sinne belastet, denn der gängigen Wahrnehmung zufolge scheinen einige Opfer durch die weite Verbreitung und bereitwillige Aufnahme ihres jeweiligen Bildes zu einem posthumen „Überleben“ zu gelangen – wobei Anne Frank das berühmteste Beispiel ist, aber beileibe nicht das einzige –, während zahlreiche Überlebende durch die Leiden, durch die sie in den Nachkriegsjahren immer noch hindurchgehen mussten, zu verspäteten „Opfern“ werden. In seinen schlimmsten Auswüchsen führt dieses Leid 1 Das Epigramm ist aus Jean Améry, At the Mind’s Limits: Contemplation by a Survivor on Auschwitz and Its Realities, übers. Sidney Rosenfeld und Stella P. Rosenfeld (Bloomington: Indiana University Press, 1980), 94. 2 Lawrence Langer, Using and Abusing the Holocaust (Bloomington: Indiana University Press, 2006), xii. Levis Worte, Ian Thomson gegenüber geäußert, werden von Langer zitiert. 3 Elie Wiesel, The Accident (New York: Hill & Wang, 1962), 77. Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 149

sogar manchmal zu einer tragischen Selbst-Viktimisierung durch Suizid. In manchen Fällen also scheinen die tatsächlichen Opfer der Nazi-Verbrechen aus ihren Gräbern in Form stark nachschwingender, „lebender“ Bilder vielleicht zurückzukehren, wohingegen die Überlebenden vielleicht eine qualvolle Existenz fortsetzen, die gefährlich am Rande des Vergessens liegt, und sogar der Auffassung verfallen, dass sie in Wirklichkeit zu denen gehören, die umgekommen sind. Sicherlich haben nicht alle, denen es gelang, die Ghettos und Lager des von den Nazis besetzten Europa zu überleben, immer noch das Gefühl, Opfer zu sein. Einige haben sich offenbar an die neuen und besseren Umstände ihrer Existenz in der Nachkriegszeit angepasst und erfreuen sich – wie es aussieht – eines ganz normalen Lebens.4 Einige Überlebende heiraten oder schließen eine neue Ehe, haben Familie, einen Beruf, Freunde, tragen normale Verantwortung und nehmen teil an den üblichen Vergnügungen. Welche Träume sie nachts haben, das wissen nur sie; aber es sei denn, dass sie uns etwas anderes sagen, so scheint es, dass diese Menschen nicht nur überlebt, sondern dass sie inzwischen ihr Leben erfolgreich neu aufgebaut haben. Andere sind in einer weniger glücklichen Lage: Sie fühlen sich erdrückt von Formen des Leidens, das nicht aufhört. Einige leiden, weil sie glauben, dass ihre jeweilige Geschichte über das Leben in den Ghettos und in den Lagern von Hitlers Europa größtenteils ignoriert worden ist oder dass sie nicht wirklich „etwas bewegt hat“. Sie leben mit einem Gefühl der Sinnlosigkeit und des Versagens und kommen möglicherweise zu dem Schluss, dass der Fehler sowohl bei der sie umgebenden „Welt“ liegt, die sie nicht beachtet hat, als auch bei ihnen selbst, weil sie nicht gewissenhafter und wirksamer das Wort für die Toten ergriffen haben. Zeugen, die sprechen oder schreiben, denen man aber nicht zuhört, werden manchmal von Angst, Enttäuschung und Aussichtslosigkeit heimgesucht, von Gefühlen, die ihr Leben überschatten können und sogar manchmal zum Tode führen können. Es ist kaum von Bedeutung, dass sie etwa weithin bekannt sind oder sogar öffentlich als „Überlebende“ gefeiert werden; denn eine ganz persönliche Angst sagt ihnen, dass sie immer noch „dort“ sind, in jenem „anderen Land“. Ihre Situation unterliegt einer schweren Belastung und bringt viele komplexe Dinge in den Vordergrund; nicht das geringste unter diesen Dingen ist die Frage: „Was bedeutet es, als Zeuge auszusagen?“ Für diejenigen, die sich vornehmen, über ihre Kriegserfahrungen nachzudenken und sie niederzuschreiben, ist diese Frage oft gleichbedeutend mit der verwandten Frage: „Was bedeutet es zu schreiben?“ Wenn man an die Tätigkeit als Autor im traditionellen Sinne denkt, dann stellt man fest, dass das Schreiben für die meisten Juden im von den Nazis besetzten Europa kaum möglich war; dennoch wurde durchaus einiges geschrieben. Die Texte hatten mehrere Funktionen; nicht die geringste Funktion bestand darin, dem Nazi4 Siehe William Helmreich, Against All Odds: Holocaust Survivors and the Successful Lives They Made in America (New York: Simon & Schuster, 1992).

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Kapitel 6

Aggressor dadurch zu trotzen, dass man den Verlauf seiner Verbrechen schriftlich festhielt. Angesichts der Macht und der Entschlossenheit der deutschen Armee und ihrer Hilfstruppen konnte der Verfolgung der Juden nicht in einem militärischen Sinne wirksam durch die Juden selbst begegnet werden; die Untaten konnten aber aufgezeichnet werden und dadurch in Erinnerung bleiben. Und als Chronisten waren die jüdischen Schreiber genauso entschlossen wie ihre Feinde. „Es ist schwierig zu schreiben“, notierte Chaim Kaplan in dem wichtigen Tagebuch, das er im Warschauer Ghetto führte, „aber ich halte es für eine Verpflichtung, und ich bin entschlossen, dieser Verpflichtung mit dem letzten bisschen Energie nachzukommen. Ich werde ein Dokument der Agonie schreiben, um mich in der Zukunft an die Vergangenheit zu erinnern“.5 Durch eine detaillierte Dokumentation der damals verübten Verbrechen der Entwürdigung und des Massenmordes widmeten sich Autoren, eindringlich angetrieben von der Notwendigkeit, alles niederzuschreiben, der Erstellung von Tagebüchern, Protokollen und anderen Aufzeichnungs- und Betrachtungsformen. Die meisten wussten, dass sie den Krieg wohl nicht würden überleben können, aber sie wollten auch nicht bloß schweigende Opfer des Krieges sein. Heute sehen wir ihr Schreiben hauptsächlich als geistigen Widerstand, obwohl ein solcher Widerstand gegen die Macht der deutschen Streitkräfte, die gegen die schwer geprüften, unbewaffneten Juden gerichtet war, letztlich überhaupt keine Chance hatte. Als Symbol aber überlebt die Zeugnisliteratur, die in den Ghettos von Warschau, Lodz und in zahllosen anderen Orten, in denen Menschen festgehalten wurden, als Ausdruck des Heldenmutes der Juden geschrieben wurde. Aber die Tatsache, dass diese Literatur letztlich nur zu einem Ausdruck der Aussichtslosigkeit und zu vereiteltem Heldenmut verurteilt war, verleiht den Werken elegische Qualitäten, die jede ernsthafte Beschäftigung mit ihnen fast unerträglich macht. Man liest diese Bücher und leidet. Warum sollte man sie dann überhaupt lesen? Eine einsichtige Antwort ist, dass das aus der Literatur der Opfer bezogene Wissen für ein Verständnis des Schicksals der Juden unter Hitler von wesentlicher Bedeutung ist. Aber über diesen offensichtlichen Faktor hinaus gibt es noch andere, anspruchsvollere Überlegungen. Bücher wie etwa The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan, Emmanuel Ringelblums Notes from the Warsaw Ghetto oder The Chronicle of the Lodz Ghetto sind unschätzbare, aber unvollständige Berichte von Augenzeugen über ein Geschehen, das nach der Überzeugung ihrer Autoren ein noch nie dagewesenes Verbrechen war. Abgesehen von den Völkermordabsichten war es das Ziel der Täter – und damit heben sich die Untaten der Nazis gegen die Juden von denen gegen andere ab –, keine Zeugen übrig zu lassen und damit auch keinerlei Dokumentation. Die Vernichtung der Juden sollte eine umfassende, aber eben auch eine stumme Tat sein – mit den Worten eines ihrer Haupttäter: „Eine ungeschriebene 5 Abraham I. Katsh, Hg., The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan (New York: Collier Books, 1973), 30. Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 151

und niemals zu beschreibende ruhmvolle Seite“.6 Die Tatsache, dass sich Himmlers Plan in dieser Hinsicht nicht realisiert hat, ist in erster Linie der Entschlossenheit seiner Opfer zu verdanken, die unter fast unmöglichen Bedingungen den Mut und die Mittel fanden, mit ihren Aufzeichnungen als Zeugen durchzuhalten. Heute ist dies nun der Bereitwilligkeit der Leser zu verdanken, die in einer sekundären, aber keineswegs weniger wichtigen Eigenschaft als Zeugen für die Zeugen fungieren. Wenn man in dieser Weise liest, dann führt man einen Komplex mehrerer Handlungen gleichzeitig aus: Man lernt, zollt Tribut, man leidet, trauert und bewahrt die Erinnerung. Man stellt sich als sekundäre Zeugen denen an die Seite, die nicht mehr als primäre Zeugen für sich selbst auftreten können. Letztlich bedeutet dies, als Mittler der historischen Erinnerung zu fungieren – Worte über die Schrecken des Geschehens in ihrer schlimmsten Ausprägung zu bewahren und weiterzugeben. „Ich schreibe“, so hat Elie Wiesel erklärt, „um die Opfer dem Vergessen zu entreißen; um den Toten zu helfen, den Tod zu besiegen“.7 Man kann mit einer ähnlichen Absicht lesen und so dazu beitragen, dass die Opfer nicht vergessen werden. Zusätzlich zu den Texten derer, die in den Ghettos und Lagern umgekommen sind, gibt es ein umfangreiches Corpus von Literatur derer, die den Nazi-Terror erlitten, ihn jedoch überlebt haben. Für diese Autoren diente das Schreiben auch als Akt des Zeugnisablegens, obwohl natürlich aus anderen Motiven. Überlebende Autoren haben – aus qualvollen Erinnerungsquellen schöpfend – das Schreiben großenteils als ein Mittel des Wiederfindens, der Reflexion, der Beschreibung, der Analyse und des Gedenkens betrachtet. Für einige ist das Schreiben als Akt der Katharsis gedacht, als Versuch, von den Leiden der Vergangenheit freizukommen. Für andere hat es als Protest oder Warnung, als Rebellion oder Anklage gedient. In all diesen Fällen – und in welcher literarischen Form auch immer – trägt die Zeugnisliteratur der Holocaust-Überlebenden zu einer umfangreichen, immer noch anwachsenden Dokumentation historischer Gräueltaten bei. Ihr Ziel ist es, das tatsächliche Geschehen dieser Gräueltaten zu dokumentieren; ihre Motive, ihre Entwicklung und ihr Wesen zu ergründen; die dadurch herbeigeführte beispiellose menschliche Zerstörung offenzulegen; und manchmal – und nicht ohne große Schwierigkeiten – kundzutun, wie das Leben nach diesen traumatischen Erlebnissen aussah. Während die Memoiren und Essays von Holocaust-Überlebenden also oft sehr persönlich sind, so sind sie doch in ihrer Bandbreite und in ihrer Zielrichtung historisch. Solche Texte bezeugen, dass die Zivilisation weit mehr gefährdet ist, als man sich das bisher vorgestellt hat: Sie hat, wie diese Autoren uns wissen lassen, schon einmal versagt, und sie könnte wieder versagen. In ihrer explizitesten didaktischen Form tendiert diese Literatur dazu, eine Sichtweise anzuzeigen, die 6 Die Worte stammen von Himmler; sie waren am 4. Oktober 1943 an eine Gruppe von SS-Offizieren gerichtet. Zitiert nach Lucy Dawidowicz, A Holocaust Reader, (New York: Behrman House, 1976), 133. 7 Alvin H. Rosenfeld und Irving Greenberg, Hgg., Confronting the Holocaust: The Impact of Elie Wiesel (Bloomington: Indiana Universit Press, 1979), 206.

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Kapitel 6

den nahe bevorstehenden Untergang der Welt in warnenden, manchmal sogar in anspornenden Worten anzeigt. Sie ermuntert Leser dazu aufzupassen, sich gegen die Möglichkeit einer Wiederholung zu wappnen, das, was häufig die „Lehren des Holocaust“ genannt wird, zu beherzigen und anzuwenden, sowie all das zu tun, und zwar „jetzt, bevor es zu spät ist“. Es gibt aber auch Bücher mit Zeugnissen von Überlebenden, die sich anders und in vielfältiger Weise äußern – Bücher, die ebenfalls die Aufmerksamkeit des Lesers fordern, die aber akzeptieren, dass die „Welt“ lieber vergisst, als dass sie sich erinnert. Diese Bücher bemerken – sehr zum Leidwesen ihrer Autoren –, dass die von seelischem Schmerz erfüllten Berichte der Überlebenden keinen notwendigerweise bindenden Anspruch auf die Aufmerksamkeit der heute Lebenden haben und dass es vielleicht schon zu spät ist, aus irgendwelchen „Lehren“ der Vergangenheit, welcher Art sie auch seien, zu lernen oder diese anzuwenden. Solche Zeugnisse sind in dem, was sie uns zu sagen haben, gravierender und auch unheilverkündend, denn sie halten wenig Trost für die Zukunft bereit. Es wäre durchaus verständlich, wenn Leser sich gegen diese dunklen Visionen der Sinnlosigkeit wehrten. Und doch ist es genau diese Literatur – so wenig Trost sie auch bereithält –, die einige der tiefsten Wahrheiten derer, die dem Gemetzel durch die Nazis entkommen konnten, vermitteln kann. Es sind jene Wahrheiten, die die schmerzvolle Tatsache unterstreichen, dass Überlebende immer noch Opfer sein können und dass die spezielle Viktimisierung der überlebenden Autoren zumindest teilweise von dem Gefühl herrühren kann, dass ihre Berichte bei den Lesern auf so wenig Resonanz stoßen. Trotz der Eindringlichkeit ihres Zeugnisses bekommen solche Autoren vielleicht das Gefühl, dass sie bei der Suche nach einer wirklich ansprechbaren Leserschaft versagt haben und dass sie somit auch als Vermittler der Erinnerung und des moralischen Gewissens versagt haben. Ein solches Verständnis kann, wenn es eintritt, gefährlich sein; dies war der Fall bei Jean Améry und Primo Levi, bei den beiden Autoren, die überlebt hatten, Autoren von höchster literarischer und historischer Bedeutung. Jean Améry ist hauptsächlich durch sein erstes Buch bekannt, das in der englischen Übersetzung als At the Mind’s Limits: Contemplations by a Survivor on Auschwitz and Its Realities vorliegt.8 In der ursprünglichen deutschen Ausgabe erschien das Buch zuerst 1966 unter dem Titel Jenseits von Schuld und Sühne. Bei der Erstveröffentlichung war Améry schon 54 Jahre alt. 1977, ein Jahr von Amérys Tod, kam das Buch mit einem neuen Vorwort des Autors erneut heraus. Zuerst 1980 in englischer Übersetzung veröffentlicht, gilt At the Mind’s Limits heute als eines der gedanklich leidenschaftlichsten und bedeutendsten Werke eines Überlebenden des Holocaust. 8 Jean Améry, At the Mind’s Limits: Contemplations by a Survivor on Auschwitz and Its Realities, übers. Sidney Rosenfeld und Stella P. Rosenfeld (Bloomington: Indiana University Press, 1980); alle Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe und erscheinen mit der Seitenzahl innerhalb des Kapitels. Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 153

Der Autor, Sohn eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter, wurde 1912 in Österreich als Hans Maier geboren. Die gegen die Juden gerichteten Rassengesetze, die bald nach Hitlers Machtergreifung in Kraft traten, machten ihm in erschreckender Weise die Todesdrohungen gegen die Juden voll bewusst. Er floh 1938 aus seinem Heimatland nach Belgien. 1940 wurde er von den Belgiern als deutscher Ausländer verhaftet und dann 1943 von der Gestapo wegen seiner Mitgliedschaft im Widerstand gegen die Nazis. Er durchlitt die Kriegsjahre als Häftling in deutschen Gefängnissen sowie Konzentrations- und Todeslagern in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen. Nach der Befreiung von Bergen-Belsen bei Kriegsende kehrte er 1945 nach Belgien zurück, ließ sich in Brüssel nieder und begann eine Karriere als Journalist und Politik- und Kulturkritiker, wobei er dann den Namen Jean Améry benutzte. Obwohl er in einem hauptsächlich französischsprachigen Umfeld lebte, zog Améry es vor, als deutschschreibender Autor im Exil zu veröffentlichen. Seine bevorzugte literarische Form war der Essay; sein wichtigstes Thema war das Leid der Opfer des Dritten Reiches; seine aussagekräftigste Quelle der Kenntnis der Viktimisierung war er selbst. At the Mind’s Limits ist ein schmales Buch, jedoch mit kraftvoller Wirkung. In den fünf Essays gelingt es dem Autor, über seine Erfahrungen als Opfer des Nationalsozialismus während der Kriegszeit in einer Art und Weise nachzudenken und sie zu beschreiben, die sehr persönlich ist, aber gleichzeitig das Persönliche dadurch transzendiert, dass er sehr aufschlussreich über die Qualen und Traumata der Holocaust-Opfer im allgemeinen spricht. Es ist ein Buch mit autobiographischem Charakter, das aber zu Einsichten gelangt, die in ihren moralischen, psychologischen und historischen Implikationen weithin repräsentativ sind. Die „Grenzen des Verstehens“, die Améry in seinem Werk aufzeigt, tragen dazu bei, die Grenzen einiger unserer fundamentalsten kulturellen Annahmen über das Individuum und seinen Platz innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung der modernen politischen Realität zu definieren. Beim Lesen dieses Autors erfährt man aufs neue die Bedeutung der persönlichen Integrität und der menschlichen Verletzbarkeit – das erstere ist eine wesentliche Lebensvoraussetzung, die um jeden Preis behauptet werden muss; das letztere ist die unvermeidliche Situation, wenn das Leben unter dem Druck gesellschaftlicher Niedertracht entwertet und unter einem Programm der politischen Barbarei entwürdigt wird. Améry, ein streitbarer Verfechter des Wertes der individuellen Würde, kannte angesicht der seinem Fleisch eingebrannten Nummer die extreme Schwierigkeit, auch die geringste Spur von Würde in einem System wie dem des deutschen Nationalsozialismus zu bewahren. Seine Schriften sprechen kraftvoll im Namen der humanistischen Werte, selbst wenn sie Zeugnis von dem schweren Versagen so vieler Menschen seiner Zeit ablegen, diese Werte hochzuhalten. Die einleitenden Essays seines Buches erzählen von den verheerenden Auswirkungen auf Körper und Seele, Verwüstungen, die zugefügt wurden durch den von dem Nazi-System bewirkten radikalen Entzug der Lebensqualität. Der Titel-Essay, „At the 154 | 

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Mind’s Limits“, zeigt deutlich, wie wenig dem Häftling verblieb, dem das effiziente Arbeiten des Intellekts genommen worden war – einschließlich jener Verteidigungsstrategien, die uns normalerweise vor feindlichen Bedrohungen von außen schützen. Amérys Hauptanliegen in diesem Essay ist die Situation des Intellektuellen in dem Lager und insbesondere die Frage nach seinen Überlebenschancen. Er argumentiert dahingehend, dass die Unterdrückung des Intellekts ein wesentlicher Teil des NaziProgramms der Entmenschlichung war; denn wenn der Geist sich als inkompetent erwies, dann war der individuelle Häftling, dem sonst rationales Verhalten eigen war, plötzlich von den wesentlichsten Zentren seines Ich abgeschnitten und damit hilflos geworden. „Schönheit: Das war eine Illusion. Wissen: Das erwies sich als ein Spiel mit Ideen“ (p. 19). Daher – geistig entwaffnet und intellektuell desorientiert – „sah der Intellektuelle den Tod wehrlos vor sich“. In Amérys denkwürdiger Formulierung: „Keine Brücke führte vom Tod in Auschwitz zum Tod in Venedig“ (p. 16). „Folter“, der zweite Essay des Buches, macht in anschaulicher Art und Weise – dabei wird fast die tiefste intuitive Ebene erreicht – das Ausmaß des eigenen Verlustes deutlich, wenn man in brutaler Weise der Autonomie des eigenen Körpers beraubt wird. Es ist Amérys feste Überzeugung, dass „Folter nicht eine zufällige Eigenschaft des Dritten Reiches war, sondern sein Wesen“, ja sogar „seine Apotheose“ (pp. 24, 30). Die Folter definierte den grundsätzlich verkommenen und inhärent destruktiven Charakter des Nationalsozialismus – einer Ideologie, „die … die Herrschaft des Anti-Menschen … als Prinzip … ausdrücklich aufrichtete“ (p. 31) – und brachte diesen Charakter zu einem Höhepunkt der Realisierung. Andere Regimes sind zwar auch von diesem nihilistischen Prinzip angesteckt worden, aber der deutsche Nationalsozialismus gab diesem Prinzip die reinste Vollendung. „Die Nazis folterten – wie andere auch –, weil sie mit den Mitteln der Tortur Informationen erlangen wollten, die für die nationale Politik wichtig waren. Darüberhinaus aber folterten sie mit dem guten Gewissen der Verworfenheit …: Sie folterten, weil sie Folterknechte waren“ (p. 31). Améry, der selbst ein Opfer der Tortur war, äußert phänomenologische Reflexionen über das extreme Ausmaß seiner eigenen Erfahrungen, Reflexionen, die in der Literatur über dieses Thema keine Parallele haben. Mit Beginn der Tortur endet ein Teil des eigenen Lebens, und „es kann niemals wiederbelebt werden“ (p. 29). Die Verletzung ist nicht nur schmerzhaft, sie ist permanent. Und die Spuren der Zerstörung bleiben, sie werden zum Entstehungsort eines inneren Leidens, das mit den Jahren schlimmer werden kann. Der Essay „How Much Home Does a Person Need?“ („Wieviel Heimat braucht ein Mensch?“) wendet den Fokus weg von den Schmerzen der Tortur hin zu den Schmerzen des Exils und der Entfremdung; durch die Schilderung des verzweifelten Gefühls, seiner Heimat beraubt zu sein, beschreibt dieser Essay auch den damit einhergehenden Verlust des Bewusstseins des eigenen Ich. „Ich war nicht mehr ein Ich“, erkennt Améry, und „ich lebte aber auch nicht innerhalb eines Wir“ (p. 44). Wie die Erfahrung der Tortur ist auch die Erfahrung des Exils in einem permanenten Sinne zerstörerisch: Die Wunde ist nicht eine, „die im Laufe der Zeit verJean Améry: Die Angst des Zeugen  | 155

narbt“, sondern sie gleicht mehr einer „heimtückischen Krankheit, die mit den Jahren immer schlimmer wird“ (p. 57). Alle drei Essays schildern anschaulich den Entzug des eigenen Ich und den Verlust des für das Menschsein wesentlichen Wertes. Die Opfer des Dritten Reiches erlebten einen systematischen Angriff auf die elementaren Grundlagen des Ich – Geist, Körper, Herkunft und bisherige Lebensgeschichte. Nach dem Verlust der normalen geistigen Funktionen war man nicht in der Lage, die unerträgliche, bedrohliche Realität der Lager zu transzendieren. Unter der Tortur, in der alle körperlichen Empfindungen auf die dominante Schmerzempfindung reduziert werden, wurde einem das Grundrecht, sich wohlzufühlen, entzogen. Heimatlosigkeit und Exil ließen die letzten Spuren auch des geringsten Gefühls von Sicherheit verschwinden – die Sicherheit in kognitiver Hinsicht genauso wie das physische Wohlbefinden. Durch all diese Essays hindurch wird dies ganz deutlich: Ein solcher Verlust ist nicht nur radikal, er ist unwiderruflich. Man kann ihn nicht überwinden. Welche Zukunft man sich auch für sich vorstellen mag, sie wird die Wiederherstellung dieser wesentlichen Elemente des Ich, die einem Jahre zuvor genommen wurden, nicht enthalten. Der dem Geist, dem Körper und der persönlichen Integrität zugefügte Schaden ist permanent. Vertrauen zur Welt, die einmal verloren gegangen ist, betont Améry, kann man nie wiedergewinnen. Das sind außerordentlich herbe Schlussfolgerungen, aber Améry bringt sie mit solcher Klarheit und Überzeugung vor, dass man sie nicht leugnen kann. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Wie ist es möglich, damit zu leben? Der vierte Essay in At the Mind’s Limits trägt den Titel „Resentments“ („Verbitterung“); er vermittelt die emotionale Aufladung hinter den Motiven des Autors, so zu schreiben, wie er es tut, nämlich über solch unerträgliche Erfahrungen. Er empfindet eine verständliche starke Verbitterung denen gegenüber, die daran mitgewirkt haben, sein Menschsein dadurch herabzusetzen, dass sie ihn als verachteten Juden und als einen entrechteten, geschundenen Menschen behandelt haben; weit entfernt davon, über eine solche Behandlung zu schweigen, besteht er auf seinem Recht, gegen seine Häscher die Stimme des Protestes zu erheben. Als Teil seiner Rebellion gelingen ihm einige kühne neue Schlussfolgerungen in dem letzten Essay des Buches, „On the Necessity and Impossibility of Being a Jew“ („Über die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit, Jude zu sein“), in dem er eine sehr persönliche und deutlich trotzige Identität für sich formuliert: Als „ein vehement protestierender Jude“. Indem er sich in dieser Weise selbst bestätigte, suchte Améry die Würde wiederzuerlangen, die ihm als Nazi-Opfer versagt worden war; Jude sein, schrieb er, hieß „ein Toter auf Urlaub, jemand, der ermordet werden muss“ (p. 86). Dadurch, dass er sich öffentlich als Jude auswies, wenngleich als Juden „ohne positive Determinanten, als [einen] Katastrophen-Juden“ (p. 94), trotzte Améry seinen potenziellen Mördern – in der Vergangenheit und in der Gegenwart – und beanspruchte für sich sowohl die Legitimität als auch die Würde eines Menschen, dem man nicht das Recht versagt, sein Leben nach seinen eigenen Bedingungen zu führen. 156 | 

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Im Vorwort zu der ersten Ausgabe seines Buches schrieb der Autor, dass er mit dem Verfassen dieser Essays zwanzig Jahre Schweigen brach, um seinen Lesern das vorzulegen, was er „eine phänomenologische Beschreibung der Existenz des Opfers“ (p. xxiii) nannte. Er bemerkte weiter, dass er nicht für seine „Kameraden im Schicksal“ schrieb, denn „die wissen genau, worum es geht“, sondern für „die Deutschen, die sich in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht oder nicht mehr von den schwärzesten und gleichzeitig ganz charakteristischen Untaten des Dritten Reiches betroffen fühlen“. Er fügte hinzu: „Ich möchte hier gern einiges berichten, was ihnen bis jetzt vielleicht noch nicht deutlich gemacht worden ist“. Er schloss dann damit, dass er die idealistische Hoffnung äußerte, dass seine Schriften „alle diejenigen“ erreichen möge, „die den Wunsch haben, als Mitmenschen miteinander zu leben“ (p. xxiv). 1977 brachte Améry sein Buch mit einem neuen und wichtigen Autorenvorwort heraus. Hierin ist keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft mehr enthalten. Stattdessen beginnt das Vorwort in einem mutlosen Ton und geht weiter in Richtung Verzweiflung: „Zwischen der Zeit, in der das Buch geschrieben wurde, und heute liegen mehr als dreizehn Jahre. Es waren keine guten Jahre. … Manchmal scheint es, als habe Hitler einen posthumen Triumph errungen. … Was nützt angesichts dessen mein Versuch über die conditio inhumana der Opfer des Dritten Reiches nachzudenken? Ist es nicht alles überholt?“ (p. xvii). Seit dem ersten Erscheinen seines Buches hatten zahlreiche grauenhafte Ereignisse stattgefunden; aber was Améry offenbar am meisten beunruhigte, war das, was in Deutschland selbst geschah: „Als ich zu schreiben begann und als ich aufhörte, gab es keinen Antisemitismus in Deutschland, oder genauer: Da, wo er doch existierte, wagte er sich nicht zu zeigen. … Das Blatt hat sich gewendet. Wieder erhebt ein alt-neuer Antisemitismus schamlos sein widerwärtiges Haupt, ohne dabei Entrüstung hervorzurufen. …“ (p. xix). Améry schreibt weiter, dass dieses Mal die Gefahr von den Linken kommt, und insbesondere von der politisch aktiven Jugend. Er drückt seine Besorgnis darüber aus, dass „die jungen Leute der Linken“, gefangen in „unausgegorenen Ideologien, … vielleicht einfach unversehens in das Lager ihrer Feinde rutschen“. Dieses Hinüberrutschen war nämlich schon bei den sogenannten „antizionistischen“ Kundgebungen in deutschen Städten sichtbar, wobei, wie Améry zu seinem Schrecken erfuhr, ein allzu bekannter Schrei von der Straße unter den selbsternannten „antifaschistischen“ deutschen Jugendlichen wieder zu hören war: „Tod dem jüdischen Volk“. Diese brutalen Worte veranlassten Améry, auf die deutlichste und unmissverständlichste Weise zu erklären: Die politischen und die jüdischen Nazi-Opfer – zu denen ich gehörte und gehöre – können nicht schweigen, wenn sich unter dem Banner des Antizionismus der elende alte Antisemitismus wieder hervorwagt. Die Unmöglichkeit, Jude zu sein, wird zur Notwendigkeit, Jude zu sein; und das heißt, ein vehement protestierender Jude zu sein. Möge dieses Buch dann … ein Appell an die deutsche Jugend sein, sich selbst zu prüfen (pp. xix–xx).

Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 157

Améry war entsetzt, dass er sich gegen diejenigen wenden musste, die er immer wie selbstverständlich als seine Freunde und politischen Mitstreiter betrachtet hatte; er zögerte jedoch nicht, sich ihnen gegenüber energisch zu behaupten. „Ich schlage Feueralarm“, schrieb er. Er hatte zu viel gelitten, und er hatte andere zu viel leiden sehen, um angesichts dessen, was er offenkundig als Möglichkeit der Wiederholung betrachtete, ruhig zu bleiben: „Was geschehen ist, ist geschehen. Aber dass es geschah, kann nicht so ohne weiteres akzeptiert werden. Ich rebelliere: Gegen meine Vergangenheit, gegen die Geschichte und gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche in das kalte Archiv der Geschichte stellt und es damit in empörender Art und Weise verfälscht“ (pp. xx, xxi). Diese Verfälschung wie auch gewisse andere Tendenzen, die er in den Jahren vor seinem Tod im politischen Leben Deutschlands beobachtete, setzten Améry sehr zu. Sidney Rosenfeld, einer seiner amerikanischen Übersetzer, beschrieb Amérys Stimmung: Besonders gegen Ende war er in niedergeschlagener Stimmung durch die zunehmenden Erscheinungen der autoritäten Restauration von rechts zusammen mit einem Wiederaufleben des Antisemitismus im öffentlichen Leben in Deutschland; seine Entfremdung von der Neuen Linken, auf die er seine Hoffnung für ein demokratisches Deutschland gesetzt hatte, war noch akuter geworden; das Aufgehen der Nazi-Vergangenheit in ihrer Einzigartigkeit und Unreduzierbarkeit in einer universellen Theorie des Faschismus und Totalitarismus – eine Entwicklung, die er in At the Mind’s Limits vorhergesehen hatte, aber immer noch in einer etwas entfernteren Zukunft – wurde vor seinen Augen zur Realität. Der groteske Charakter des Maidanek-Prozesses in Düsseldort, wo die Zeugen, Überlebende des Nazi-Todeslagers, der Lächerlichmachung durch reaktionäre Verteidiger ausgesetzt waren, erfüllten ihn mit Bitterkeit. Sein Respons auf die Verjährungsdebatte war eine prägnante und ergreifende Bitte, gerichtet nicht an die Parlamentarier, sondern an die deutsche Gesellschaft insgesamt, die letzten noch lebenden Opfer nicht dadurch zu verurteilen, dass ihre damaligen Folterer moralisch entlastet und dass damit die Gräueltaten gerechtfertigt werden. Er war von einem Gefühl bedrängt, dass er seine Worte in den Wind sprach, was zu einem verzweifelten Zorn, zu wachsender Resignation und schließlich zu Gleichgültigkeit führte. (p. 110)

Die verzweifelte Stimmung ist spürbar in dem Vorwort zu der Ausgabe von At the Mind’s Limits von 1977, wo sie sich mit einem Gefühl der Dringlichkeit und der Empörung vermengt. Der Ursprung all dieser intensiven, sehr komplexen Gefühle ist klar. In seinen Reflexionen über die Historiographie zum Dritten Reich verwirft Améry die Plausibilität aller existierenden Erklärungen des Phänomens des Nationalsozialismus und beschreibt diesen als ein einzigartiges Übel, „einmalig und unreduzierbar in seiner gesamten inneren Logik und verhassten Rationalität“. Weiterhin stellt er fest, dass durch die Relativierung des Nationalsozialismus als Teil einer generellen Theorie des „Faschismus“ oder der politischen Barbarei des 20. Jahrhunderts nichts anderes als Vernebelung gewonnen werden kann. „Es geschah nicht in einem Entwicklungsland, nicht als direkte Fortsetzung eines tyrannischen Regimes, … nicht im blutigen Kampf einer Revolution, die um ihre Existenz bangte. … Es geschah in Deutschland. Es entstand sozusagen durch spontane Zeugung aus einem Leib heraus, der es als Perversion getragen hatte“ (p. xviii). Man 158 | 

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kann zwar versuchen, den speziellen Terror des deutschen Nationalsozialismus zu beschreiben, aber man kann ihn nicht zufriedenstellend erklären. Vor allem, argumentierte Améry, darf man nicht versuchen, ihn durch die Anwendung griffiger Kategorien des konventionellen Denkens der Aufklärung wegzudiskutieren: Klärung würde auf Beseitigung, auf endgültige Erledigung des Falles hinauslaufen, der dann in den Akten der Geschichte abgelegt werden kann. Mein Buch verfolgt den Zweck, dazu beizutragen, genau das zu verhindern. Denn nichts ist gelöst, kein Konflikt ist beigelegt, keine Erinnerung ist eine bloße Erinnerung geworden. … Nichts ist verheilt, und das, was 1964 vielleicht zu heilen begann, bricht wie eine infizierte Wunde wieder auf (p. xxi).

Da ihm ganz deutlich bewusst war, dass das gesellschaftliche Gift, das aus einer solchen Wunde hervorquoll, das Potenzial hatte, sich auszubreiten, brachte Améry sein Buch zu einer Zeit seines Lebens erneut heraus – das ist heute deutlich –, als eine Anhäufung äußerer Geschehnisse und innerer Unruhe schwer auf ihm lastete. Was in der Ausgabe von 1977 von At the Mind’s Limits fehlt, ist jeder Appell an „alle die, die als Mitmenschen miteinander leben wollen“. Stattdessen erklärt er in einem Prosastil, der abwechselnd ein Gefühl der Resignation und eines, das der Verzweiflung nahekommt, aufweist, seine Absicht, weiterhin mit Nachdruck von den Opfern des Dritten Reiches zu sprechen; er lässt jedoch kein besonderes Vertrauen darauf erkennen, dass er dort gehört wird, wo seine Worte am nötigsten wären. „Ich kann nichts anderes tun, als Zeugnis abzulegen“, schreibt er (p. xviii). Er war mutlos und hatte offenbar das Äußerste seiner kritischen Grenzen erreicht. Im Oktober 1978 nahm Jean Améry sich während eines Besuches in seinem Heimatland Österreich das Leben. Wie liest man heute sein Zeugnis? Wovon legt sein Buch eigentlich Zeugnis ab? Améry hat nie behauptet, dass seine Zeit in Auschwitz und den anderen Lagern, in denen er inhaftiert war, ihn zu einem besseren oder edleren Menschen gemacht habe, er glaubte aber durchaus, dass seine Erfahrungen dort ihn besser befähigt hätten, „die Realität zu erkennen“ (p. 101). Welche Art von Realität muss er wohl in den letzten Jahren seines Lebens erkannt haben, die ihn zum Suizid trieben? Obwohl eine solche Frage höchstwahrscheinlich keine sicheren Antworten finden wird, kann eine mitfühlende Lektüre seines Buches helfen, die Ursachen einiger Enttäuschungen und zutiefst bitterer Gefühle eines ehemaligen Opfers des Dritten Reiches, Gefühle, die der Autor jahrelang ertragen hatte, zu verstehen. Genauer gesagt: Man versteht nach und nach, dass in seinem Falle „ehemaliges Opfer“ fast ein Oxymoron war, das, genau wie „Überlebender“, wenig sinnvoll ist. Améry hatte der Nazi-Bedrohung gegen ihn widerstanden, es war ihm gelungen, sie zu überleben; dennoch war er nicht in der Lage, seine Viktimisierung als etwas Vergangenes anzusehen, sondern er sah sie eben als immer noch andauernd. Derjenige, der gefoltert wurde, bleibt ein Gefolterter, betonte er. Was die Folterknechte und die Nation, die sie hervorbrachte, angeht, war für sie das Leiden großenteils etwas Vergangenes. Dieses radikale Missverhältnis zwischen der andauernden Tortur des Opfers und der Leugnung der Verantwortung dafür aufseiten der Folterknechte war etwas, was Améry nicht so ohne Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 159

weiteres mit Schweigen ertragen konnte. Es veranlasste ihn, At the Mind’s Limits zu schreiben, und zeigt sich mit ganz deutlichem Nachdruck in „Resentments“, einem seiner leidenschaftlichsten Essays und vielleicht dem, der am unmittelbarsten das Zentrum seines Bewusstseins von sich selbst als Autor und Zeuge trifft. Der Essay beginnt in einer burlesk-pastoralen Gestimmtheit, wenn der Autor seine Reisen durch ein idyllisches, unbenanntes Land zur Sommerzeit schildert. Obwohl die Landschaft reizvoll ist, die Städte sauber und gut geführt, die Bürger tolerant und scheinbar weltoffen sind, bekennt Améry, dass er sich in diesem schönen Land unbehaglich fühlt. Dann erklärt er den Grund dafür: „Ich gehöre zu der glücklicherweise nur langsam verschwindenden Spezies derer, die … die Opfer des Nationalsozialismus genannt werden“ (p. 63). Obwohl er auch jetzt das Land nicht mit Namen genannt hat, gibt er zu, dass er in der Rückschau einen starken Groll gegen das Land hegt, einen Groll, der ihn mit Verbitterung erfüllt, die er nicht völlig versteht. So bittet er den Leser um Geduld (zuerst und hauptsächlich, da er auf Deutsch schrieb, den deutschen Leser), wenn er nach und nach seine Verbitterung analysiert. Das erste, das er notiert, ist dass andere über ihn urteilen und ihn dabei verurteilen, weil er immer noch diesen Groll hegt. Sie nehmen ihm seine Verbitterung übel, fühlen sich viktimisiert, weil sie an seine Viktimisierung erinnert werden. Ihr Opfer war er überdies in Deutschland, das er nun ausdrücklich bei Namen nennt. Damit konfrontiert zu werden, ist für die meisten von ihnen zu viel. Daher drehen sie, was die Geschichte angeht, den Spieß um und beschließen, sich selbst als Opfer zu sehen, als „absolute Opfer“ eines grausamen Krieges, der ihnen Vertreibung, Hunger, Heimatlosigkeit und die Zerstückelung ihres Landes brachte. Anders als Améry und andere, die darauf bestehen, ihren Status als Opfer des Krieges zu behalten, tun die Deutschen jedoch ihren Willen kund, das Unglück, das sie durch das Dritte Reich erlitten haben, zu „überwinden“ und normal weiterzuleben. Es sei Zeit, das Vergangene ruhen zu lassen. So sagte dem Autor ein deutscher Geschäftsmann – ohne jede ironische Absicht: „Die Deutschen hegen keinen Groll gegen die Juden“ und „sie haben keine Ressentiments gegen die Widerstandskämpfer und die Juden“ (p. 67). Überdies hätten die Deutschen ja den Juden großzügige Wiedergutmachungsleistungen gezahlt. Warum sollte also noch Groll da sein, und warum sollte man öffentliche Sühne fordern? Schließlich hätten die Alliierten, die im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten, das Land längst wieder in den Kreis der „Völkergemeinschaft“ aufgenommen. Das Land hatte aufgrund dessen seinen Paria-Status schnell abgelegt, war entschlossen, nach vorn und nicht zurück zu schauen und war damit beschäftigt, sich als modernen demokratischen Staat wieder aufzubauen. Wenn jemand heute, so bemerkt Améry, als Paria betrachtet werden sollte, dann wären es tatsächlich eher diejenigen, die an ihrem Groll über die Vergangenheit festhalten und sich weigern loszulassen. Améry sieht sich selbst als einen dieser Rückwärtsgewandten, viel enger an die Vergangenheit und ihre Verwüstungen gebunden als an die Zukunft und 160 | 

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ihre Aussichten. Während die Verbrecher nun in eine neue Ära eingetreten sind und großenteils frei sind von dem Makel ihres Verbrechens, bleibt er, das Opfer, durch seinen Groll an die Vergangenheit gebunden. Warum soll man dem aber dann immer noch nachhängen? Weil, so erläutert Améry in seinem Essay, solche Gefühle die moralische Wahrheit des Konfliktes zwischen ihm und seinen Folterern wachhalten. Er beharrt darauf, diese Wahrheit wiederzubeleben, selbst angesichts dessen, dass die meisten seiner Folterer ihre Existenz überhaupt nie anerkannt haben: „Die Verbrechen des Nationalsozialismus hatten für die Täter keine moralische Qualität; denn sie vertrauten dem Normensystem ihres Führers und seines Reiches. … Aber mein Groll bleibt, damit das Verbrechen für den Verbrecher eine moralische Realität wird, damit er in die Wahrheit seiner Gräueltaten hineingefegt wird“ (p. 70). An keiner Stelle seiner Schriften idealisiert Améry das Leiden, er betont aber, dass sein eigenes Leiden als Opfer des Nationalsozialismus mit einem starken moralischen Wert durchtränkt ist und dass der einzige Weg zum Verständnis der Art der ihm zugefügten Tortur der ist, die Erinnerung daran wachzuhalten, und zwar so, dass ihr himmelschreiender Charakter ganz deutlich wird: „Der moralische Mensch verlangt die Annullierung des Verlaufes der Zeit – in dem hier behandelten besonderen Fall dadurch, dass der Verbrecher an seine Untat festgenagelt wird. Dadurch … kann der Verbrecher letztlich mit seinem Opfer als Mitmensch zusammengehen“ (p. 72). Angesichts dieser Auffassung, die ihren Ursprung in seiner entschieden vertretenen Ethik des Sich-Erinnerns hat, war jedes leichte und unbekümmerte Vergeben und Vergessen ausgeschlossen. Befreiung von den Untaten der Vergangenheit konnte es, wenn überhaupt, nur dadurch geben, dass die Täter das gravierende moralische Vergehen gegen die Opfer als solches anerkannten; da jedoch diejenigen, die so viel Leid verursacht hatten, nicht bereit oder nicht in der Lage waren, es von sich aus anzuerkennen, könnten sie vielleicht durch die überlebenden Zeugen ihrer Verbrechen dazu gebracht werden. Wie Améry den andauernden Konflikt zwischen den Deutschen und denen, die so entsetzlich unter ihnen während des Dritten Reiches gelitten hatten, verstand, wäre also eine Lösung nur dann möglich, wenn Menschen wie er selbst – aus ihrem Groll heraus handelnd – weiterhin gegen die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit protestierten. Die Deutschen könnten dann vielleicht, aufgerüttelt durch einen solchen Protest, schließlich „der Tatsache“ ins Auge sehen, „dass sie nicht zulassen können, dass ein Teil ihrer nationalen Geschichte mit der Zeit neutralisiert wird, sondern dass sie diesen Teil integrieren müssen“: [Deutschland] würde dann, wie ich manchmal hoffe, lernen, seine vergangene Ergebenheit dem Dritten Reich gegenüber als die totale Negation nicht nur der Welt, die es mit Krieg und Tod überzogen hat, sondern auch als die Negation seiner eigenen besseren Ursprünge zu begreifen. Es würde nicht länger die zwölf Jahre, die für uns wirklich tausend Jahre waren, unterdrücken oder einfach übergehen, sondern es würde sie anerkennen als die Negation der Welt und seiner selbst, als seinen eigenen negativen Besitz. … Zwei Gruppen von Menschen, die NiedergekämpfJean Améry: Die Angst des Zeugen  | 161

ten und die, die sie niedergekämpft haben, wären dann in dem Wunsch vereint, die Zeit zurückzudrehen und somit zu erreichen, dass Geschichte moralisch wird. Wenn dieses Verlangen von den Deutschen selbst geäußert würde, … dann hätte dies ungeheures Gewicht. … Die deutsche Revolution würde zur Wiedergutmachung, und Hitler würde verstoßen. Und am Ende würden die Deutschen wirklich das erreichen, wozu sie einst nicht die Kraft oder den Willen hatten und was später in dem politischen Machtspiel nicht mehr als entscheidende Notwendigkeit erschien, nämlich die Ausrottung der Schande. (p. 78)

Diese Passage stellt ein wichtiges Hoffnungselement in Améry Buch wie auch in der Zeugnis-Literatur generell dar. Améry war jedoch ein absoluter moralischer Realist, und als solcher erkannte er: Wenn eine solche innere Reinigung bei den Deutschen jemals geschehen sollte, dann könnte sie nur durch die Deutschen selbst herbeigeführt werden: „Dieser Autor ist kein Deutscher, und es steht ihm nicht zu, diesem Volk Ratschläge zu erteilen“ (p. 78). Er würde zwar sprechen – er müsste dies sogar tun –, würde aber dann ins Glied zurücktreten. Gab es aber Personen des öffentlichen Lebens, die hervortreten und mit ihrer eigenen Stimme ein Verlangen nach einer moralischen Kehrtwendung in solch einer Größenordnung initiieren würden? Améry wusste, dass es einzelne gewissenhafte Deutsche gab, die innerlich an der Vergangenheit litten und Wiedergutmachung versuchten, aber die Anstrengung, die er sich ausmalte – eine umfassende, noch nie dagewesene „Negation der Negation“ –, musste auf nationaler Ebene geschehen, wenn sie Erfolg haben sollte. Er rief nach einer radikalen inneren Kehrtwende, nach nichts weniger als nach „einer geistigen Rücknahme … durch das deutsche Volk … alles dessen, was in jenen zwölf Jahren durchgeführt worden war“ (p. 79). Glaubte er, dass die Deutschen eines solchen Erlösungsaktes fähig waren? „Nichts dergleichen wird geschehen“, schrieb er. Während er diese negative Sicht im einzelnen ausführt, wandelt sich sein Essay vom Visionären zum Sardonischen und enthüllt auf die schmerzvollste Weise, dass Améry in der Zukunft nichts von den Deutschen erwartete außer der Zerschlagung seiner eigenen leidenschaftlichsten Hoffnungen: Welchem extravaganten Tagtraum habe ich mich nur hingegeben! … Alle erkennbaren Zeichen lassen vermuten, dass der natürliche Zeitablauf die moralischen Forderungen unseres Grolls zurückweisen und schließlich auslöschen wird. Die große Revolution? Deutschland wird nichts wiedergutmachen, und unser Groll wird umsonst gewesen sein. Hitlers Reich wird vorerst weiterhin als ein Betriebsunfall der Geschichte betrachtet werden. Schließlich jedoch wird es schlicht und einfach Geschichte sein, nicht besser und nicht schlechter als dramatische historische Epochen es eben so sind; blutbefleckt vielleicht, aber schließlich ein Reich, das auch sein ganz alltägliches Familienleben hatte. Das Bild des Urgroßvaters in seiner SS-Uniform wird im Wohnzimmer hängen, und die Kinder in der Schule werden weniger etwas über die Selektionsrampen erfahren als über einen erstaunlichen Triumph über die verbreitete Arbeitslosigkeit. … Was in Deutschland zwischen 1933 und 1945 geschah, hätte, so wird es gesagt und gelehrt werden, überall unter ähnlichen Umständen geschehen können; und niemand wird weiter den unbedeutenden Umstand betonen, dass es eben genau in Deutschland und sonst nirgendwo geschah. (p. 79)

Was Améry am meisten fürchtete, aber was er auch – und das ist deutlich – erwartete, war mit der Zeit eine allmähliche Normalisierung des Nationalsozialismus, 162 | 

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ein Prozess des historischen Revisionismus, der den unvermeidlichen Effekt haben würde, die Realität seiner eigenen Erfahrung zu verwischen und letztlich zu leugnen. Es ergab sich aber nun, dass ein selbstgewählter Tod es ihm ersparte, weitere Anzeichen dafür zu erleben, dass der Revisionismus, den er vorausgesehen hatte, an Dynamik gewann: Allzu klare Beispiele dafür waren das groteske Schauspiel im Frühjahr 1985 auf dem Bitburger Militärfriedhof; einige der Argumente, die den deutschen Historikerstreit, der kurz danach begann, begleiteten; das unheilverkündende Auftauchen deutscher Neonazis auf den Straßen deutscher Städte und die gewaltsamen Übergriffe gegen Türken und andere „Ausländer;“ sowie andere analoge Geschehnisse, die in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig die politische Kultur Deutschlands durchsetzt haben. Diese Entwicklungen hätten Amérys Kummer verstärkt und seinen Pessimismus vertieft. Aber er hatte während seines Lebens schon genug gesehen, um einige besorgte Schlussfolgerungen aus dem zu ziehen, was in Deutschland vor sich ging und was seine eigene Situation gegenüber den Deutschen betraf: „Ich trage meinen Groll in mir aus Gründen der persönlichen Rettung“, schrieb er. Was die Wirkung auf andere betraf, schrieb er: „Unser Groll … hat eine nur geringe oder auch überhaupt keine Chance, die Untaten der Bedrücker für sie selbst bitter zu machen“ (p. 80). Er war es, der die Bitterkeit schlucken musste; seine Häscher würden davon nichts spüren. Wenn man andauernd mit dem Finger auf die Deutschen zeigen würde, dann würde dies – das zumindest wusste Améry – sie nur empören mit der Folge, dass sich einige von ihnen aggressiv gegen die Opfer und gegen die, die sich mit den Opfern identifizierten, wenden könnten. Er selbst würde sich immer noch an die moralische Wahrheit dessen, was er nach wie vor den „Konflikt“ nannte, gebunden fühlen, aber für die meisten anderen gab es einen solchen „Konflikt“ nicht mehr. Ihrer Meinung nach war der Krieg vorbei. Welches Unglück er auch mit sich gebracht haben mochte, so war das zwar zu bedauern, aber schließlich musste man es hinter sich lassen. Indem er diese schmerzvolle Kluft zwischen sich selbst und seinen potenziellen Lesern in Deutschland erkannte und sie nicht überbrücken konnte, schlug er sozusagen die Hände über dem Kopf zusammen. „Resentments“ endet in einer bitteren, sarkastischen Gestimmtheit, die für den Autor auf nichts anderes deutet als auf schmerzliche Trostlosigkeit: „Wir Opfer müssen unseren nach rückwärts gewandten Groll beenden; ‚beenden‘ im Sinne des KZ-Jargons als ‚erledigen‘, was so viel wie ‚umbringen‘ hieß. Bald müssen wir und werden wir erledigt sein. Bis diese Zeit kommt, bitten wir diejenigen, deren Frieden durch unseren Groll gestört wird, um Geduld“ (p. 81). Man beendet die Lektüre von „Resentments“ mit einem Gefühl der tiefen Traurigkeit; denn das ist ein Text, der die Nutzlosigkeit des Zeugnisablegens selbst bezeugt. Man bewundert Améry wegen der Klarheit und der moralischen Stringenz seiner Gedanken, man erkennt jedoch – so wie er selbst auch –, dass seine Klage von nur wenigen geteilt wurde und dass sie höchstwahrscheinlich nie die heilsame Wirkung haben würde, die ihm einst vorschwebte. Das würde ihn zwar nicht daran Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 163

hindern, seine Wahrheit weiterhin zu verkünden, denn er glaubte, dass das, was er zu sagen hatte, nicht nur gut für ihn war, sondern „auch gut für das deutsche Volk“. Er reagierte jedoch mit offensichtlicher Enttäuschung auf die Art und Weise, wie die deutschen Leser ihn aufgenommen hatten: „Niemand will mich von [meinem Groll] befreien – außer den Organen der öffentlichen Meinungsbildung, die ihn kaufen. Was mir das Menschliche genommen hat, ist zu einer Ware geworden, die ich zum Verkauf anbiete“ (p. 80). Trotz des Sarkasmus seiner Bemerkung schrieb Améry jedoch weiter und publizierte seine Werke weiterhin für deutsche Leser. Was ihn weiterschreiben ließ, war etwas anderes als kommerzielle Erwägungen. Er fühlte sich den heuristischen und ethischen Dimensionen von Literatur verpflichtet und schrieb daher, weil er das Wesen seiner eigenen extremen Erfahrung begreifen wollte, und auch, weil er davon überzeugt war, dass andere daraus lernen sollten. Während seines Lebens war er erfolgreicher bei dem erstgenannten Grund und nicht so sehr bei dem zweiten; es gibt jedoch keinen Grund, seine letztendliche Bedeutung auf seine eigene Epoche zu beschränken. Seine reife schriftstellerische Karriere war kurz – nur zwölf Jahre –, aber er schuf ein Werk, das auch in Zukunft beachtet werden sollte.9 Man muss zwar einen Preis für die Lektüre eines Buches wie At the Mind’s Limits bezahlen, eines Buches, das eine Art von Erfahrung vermittelt, die nur erschütternd ist, aber man muss einen wesentliche höheren Preis bezahlen, wenn man einen Autor wie Jean Améry unbeachtet lässt; denn das käme der Reduktion des historischen und moralischen Bewusstseins selbst gleich. Améry hatte unwiderleglich Recht, wenn er darauf beharrte, dass wir die Realität als das, was sie ist, anerkennen; damit meinte er nicht nur, dass wir anerkennen, dass „das, was geschehen ist, geschehen ist“, sondern auch, dass wir uns weigern, mit der Annehmbarkeit dessen, was geschehen ist, einverstanden zu sein. Die Normalisierung des Dritten Reiches, befürchtete er, könnte als Auftakt zu seiner Akzeptanz angesehen werden. Einer solchen Entwicklung, deren frühe Anzeichen er bereits sah, musste entgegengewirkt werden. Amérys Rebellion gegen die Vergangenheit war somit im Grunde eine moralische Rebellion – mit seinen Worten: Es ist erforderlich, dass die Realität eine grundsätzliche Komponente der Gerechtigkeit hat. Alles, was dieses Erfordernis nicht erfüllte, betrachtete er als unvernünftig und als Grund zum heftigen Protest. Daher hielt er seinen Groll und seinen Unmut nicht 9 Neben At the Mind’s Limits liegen noch drei andere Bücher von Améry in englischer Übersetzung vor: Radical Humanism: Selected Essays, übers. Sidney Rosenfeld und Stella P. Rosenfeld (Bloomington: Indiana University Press, 1984); On Aging: Revolt and Resignation, übers. John D. Barlow (Bloomington: Indiana University Press, 1994); und On Suicide: A Discourse on Voluntary Death, übers. John D. Barlow (Bloomington: Indiana University Press, 1999). Zu den nicht übersetzten Werken des Autors gehören Unmeisterliche Wanderjahre (1973), ein Werk autobiographischer Reflexion, das großenteils anhand einer Selbstanalyse die Entwicklung eines Intellektuellen untersucht; und Widersprüche, eine Essay-Sammlung. Améry schrieb auch zwei Romane, Lefeu oder der Abbruch (1974) und Charles Bovary, Landarzt (1978). Posthum sind drei Essay-Bände erschienen: Örtlichkeiten (1980), Bücher aus der Jugend unseres Jahrhunderts (1981) und Weiterleben – aber wie? (1982).

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um ihrer selbst willen durch, sondern stellte sie in den Dienst einer wichtigen und drängenden Forderung, nämlich dem Beharren darauf, dass „die Realität nur so lange vernünftig ist, wie sie moralisch ist“.10 Auf den Fall von Améry war diese Formel tatsächlich anwendbar. Es war daher am Ende ohne Bedeutung, ob sein Protest sehr viele Gleichgesinnte ansprach; denn Protest war für ihn ein notwendiges Mittel, Zeugnis abzulegen, er war die Form, die sein Zeugnis am leidenschaftlichsten ausdrückte. Und Zeugnis – so wie er es ablegte, nämlich glaubhafte, korrektive Worte über eine sonst unglaubliche, inakzeptable Art der Erfahrung – konnte ihm nicht versagt werden, ganz gleich wie seine Aussichten auf eine unmittelbare Wirkung sein mochten: Es ist sicherlich wahr, dass sich moralische Entrüstung den lautlos erodierenden und verändernden Wirkungen der Zeit gegenüber nicht behaupten kann. Es ist hoffnungslos, wenn auch nicht gänzlich ungerechtfertigt, zu verlangen, dass der Nationalsozialismus als empörendes Phänomen heute mit derselben emotionalen Intensität empfunden wird wie in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Zweifellos gibt es so etwas wie eine historische Entropie: Der historische Temperaturgradient verschwindet; das Resultat ist ein ungeordnetes Gleichgewicht. Aber bei der Betrachtung historischer Prozesse sollten wir diese Entropie nicht auch noch fördern; wir sollten ihr im Gegenteil mit aller Macht Widerstand entgegensetzen, und wenn es auch nur aus dem Grunde ist, dass die Verteilung der historischen Moleküle uns sonst nicht mehr in die Lage versetzen würden, ein zusammenhängendes Bild der Geschichte zu erkennen. Entscheidender für die Sorge um Menschenwürdigkeit ist allerdings die Forderung, dass das Studium der Geschichte eine Komponente moralischen Urteils enthalten sollte, wie das auch bei den historischen Geschehnissen selbst der Fall ist. … So gesehen, ist der Mythos des Dritten Reiches als Mythos des von Grund auf Bösen näher an der Wirklichkeit als eine angebliche Objektivität, die sich dem Bösen nicht in den Weg stellt und allein schon durch ihre Gleichgültigkeit der Advokat genau dieses Bösen wird.11

Améry schrieb in Opposition gegen das alte Böse und im Protest gegen alle zukünftigen Versuche, es zu rehabilitieren. Die moralische Grundhaltung, die er als ein Zeuge den Verbrechen des Dritten Reiches gegenüber einnahm, war kompromisslos. Er war ein Kämpfer; aber er muss sich durch den Kampf zermürbt gefühlt und den Punkt erreicht haben, an dem er die Überzeugung gewann, dass eine Fortsetzung des Kampfes nutzlos war. Und so entschied er sich während eines erneuten Besuches in seinem Heimatland, in der Einsamkeit eines Salzburger Hotelzimmers, dafür, seinen Kämpfen ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Ob man seinen Suizid als einen letzten Akt des Protestes oder als einen Akt der Verzweiflung ansieht, er bestätigt jedenfalls eine herbe Wahrheit, die anderen Holocaust-Überlebenden ebenfalls bekannt war und die Jean Améry auf erschreckende Weise deutlich machte: Er war überzeugt, dass nach Auschwitz Jude zu sein „bedeutet, die Tragödie von gestern als eine innere Bedrückung zu empfinden. … Jude zu sein [bedeutet] … ein Toter auf Urlaub zu sein“ (p. 94, p. 86). 10 Améry, Radical Humanism, 65. 11 Ebd., 64–65. Jean Améry: Die Angst des Zeugen  | 165

Kapitel 7

Primo Levi: Der Überlebende als Opfer

Nach Auschwitz bringt uns alles nach Auschwitz zurück. – ELIE WIESEL1

Der Suizid von Jean Améry wirft wie der zahlreicher anderer Holocaust-Autoren beunruhigende Fragen über die möglichen Verbindungen zwischen den fortbestehenden Folgen des Holocaust-Traumas und dem Suizid auf. Literaturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, Psychiater und Autoren selbst haben ernsthafte Forschungen betrieben, um die Gründe für den Suizid bei denen, die die Lager überlebt, über ihre Erfahrungen geschrieben und sich dann das Leben genommen haben, zu analysieren. Ihre Analysen unterscheiden sich beträchtlich voneinander und geben keine endgültigen Antworten. Angesichts der großen Bandbreite von Motiven hinter einem solchen Tod ist das Fehlen eines Konsenses nicht überraschend. In einigen Fällen scheint der Suizid impulsiv zu sein – ein plötzlicher, überstürzter Akt; in anderen Fällen liegt vielleicht eine eher rationale, geplante Prägung vor. Schwere Depression ist oft ein auslösender Faktor, so wie auch Schmerzen durch Altersbeschwerden, dann auch Krankheit und körperlicher Verfall. Abgesehen von den seltenen Fällen, in denen der Suizid bewusst als eine Form des politischen Protests gewählt wurde – der Tod von Shmuel Zygielbojm ist ein herausragendes Beispiel –, ist es in der Mehrheit der Fälle unwahrscheinlich, dass die Suche nach dem Kausalen nur eine einzige Ursache entdeckt. Primo Levi schrieb in seinen späten Reflexionen über Améry, die in The Drowned and the Saved enthalten sind: „Jean Amérys Suizid, der 1978 in Salzburg geschah, lässt wie auch andere Suizide eine Fülle von Erklärungen zu“.2 Während dies vielleicht Levis letzte Worte zu Amérys Tod waren, so waren es jedoch nicht seine einzigen. In einem Beitrag zu La Stampa vom 7. Dezember 1978, bald nachdem er von Améry Tod erfahren hatte, war Levi ausführlicher und mit seinen Kommentaren auch selbstsicherer: Es ist besonders schwer zu verstehen, warum jemand sich selbst tötet, [aber] … der Suizid von Jean Améry [ist] … absolut verständlich. … Nein, Jean Amérys Tod kam nicht überraschend. … Der Gedanke ist unerträglich, dass, während die von ihm erlittene Tortur bis zu seinem Tod schwer auf ihm lastete – ja, für ihn ein endloser Tod war –, es mehr als wahrscheinlich ist, dass seine Folterer in einem Büro sitzen oder ihren Ruhestand genießen. Und wenn sie befragt würden (aber 1 Das Epigramm ist aus Elie Wiesel, „Why I Write“, Confronting the Holocaust: The Impact of Elie Wiesel, hgg. Alvin H. Rosenfeld und Irving Greenberg (Bloomington: Indiana University Press, 1978), 205. 2 Primo Levi, The Drowned and the Saved, übers. Raymond Rosenthal (New York: Summit Books, 1988), 136. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 167

wer wäre überhaupt da, um sie zu befragen?), so würden sie mit einem reinen Gewissen dieselbe alte Antwort geben: Sie hatten damals nur Befehle ausgeführt.3

Levis Kommentare zu Améry Tod sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Einer davon ist der, dass sie nicht im geringsten vorläufig sind: Levi erkennt zwar an, dass im allgemeinen die Motive für einen Suizid typischerweise schwer zu ergründen sind, er ist sich jedoch sicher, warum Améry sich tötete. Levi gibt eine knapp gefasste Geschichte der qualvollen Kriegserlebnisse des österreichischen Autors und zitiert dann die folgenden Zeilen aus Amérys Schriften, die sich, wie er sagt, „wie ein Epitaph liest“: „Derjenige, der gefoltert wurde, bleibt ein Gefolterter. … Wer Qualen erlitten hat, wird seinen Weg in der Welt nicht mehr deutlich finden können; das Grässliche der Vernichtung wird nie ausgelöscht werden. Vertrauen zu den Menschen … kann niemals wiedergewonnen werden“.4 Levi war davon überzeugt, dass die Anhäufung von innerem Schmerz, die Améry seit seiner Zeit in den Nazi-Lagern mit sich trug, ihn letztlich tötete. Besonders angesichts des Fehlens jeglichen läuternden Gefühls für Gerechtigkeit, das Améry lange bei den Deutschen suchte, aber nie fand, führte die Erinnerung an die Leiden, die ihm als einem jüdischen Opfer der Nazi-Gräueltaten zugefügt worden waren, „unvermeidlich zu [seinem] Tod“.5 Ob nun Levis Analyse von Amérys gewaltsamem Ende zutrifft oder nicht, so beziehen sich seine Worte aber in einer vorausahnenden Weise auf ihn selbst, und man kann sie nicht einfach aus seinen Gedanken verbannen, wenn man das unerwartete Ende des Autors betrachtet. Die Nachricht von Primo Levis Tod im April 1987 ließ ein Gefühl des Verlustes und der Betrübnis aufkommen, das bis zum heutigen Tag noch nicht gänzlich verschwunden ist. Levi hatte, wie damals berichtet wurde, seinen Tod selbst herbeigeführt – Grund genug dafür, dass man über das Hinscheiden eines außergewöhnlichen Autors mehr als nur Trauer empfand. Unweigerlich erinnerte man sich an andere Namen: Paul Celan, Tadeusz Borowski, Piotr Rawicz, Jean Améry. Als Autor, der beständig über die Verbrechen des Dritten Reiches nachdachte, gehörte Levi zu der Gruppe dieser Autoren, aber man zögerte, ihn hinsichtlich des Suizids zu ihnen zu stellen. Wie konnte er, dessen Bücher durch ein so ausgeglichenes Naturell, durch emotionales Gleichgewicht und rationale Beherrschung gekennzeichnet waren, wie konnte ausgerechnet dieser Autor sich das Leben nehmen? Hat er sich eigentlich wirklich selbst getötet, oder – wie von einigen behauptet – ist sein Tod auf einen Unfall zurückzuführen?6 Wie auch immer man es sieht, Levis Hin3 Primo Levi, „Jean Améry, Philosopher and Suicide“, ursprünglich veröffentlicht in La Stampa, 7. Dezember 1978, gesammelt in The Black Hole of Auschwitz, hg. Marco Belpoliti, übers. Sharon Wood (Cambridge: Polity Press, 2005), 48, 50. 4 Ebd., 50. 5 Ebd., 49. 6 Leser, die an Berichten über Levis Tod und an verschiedenen Interpretationen dazu interessiert sind, finden sachdienliches Material in Myriam Anissimov, Primo Levi: Tragedy of an Optimist, übers. Steve Cox (Woodstock, N.Y.: The Overlook Press, 1999); Carole Angier, The

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scheiden war auf tragische Weise vorzeitig und wurde als sehr großer Verlust für die Welt der Literatur betrauert. Außerdem: Wenn sein Tod wirklich ein Suizid war, dann sind die Implikationen umso beunruhigender; denn dann lässt Levis gewaltsames Ende an die schreckliche Möglichkeit denken, dass die Nazi-Verbrechen Jahrzehnte nach der Niederlage des Nationalsozialismus selbst immer noch Opfer fordern konnte. Wie im Falle von Jean Améry wird man gedrängt, Fragen zu stellen, die das Persönliche übersteigen und die dann tiefe psychologische und umfassende kulturelle Implikationen erkennen lassen: Gibt es innerhalb der Erinnerung an diese Verbrechen eine latente Gefahr, die Jahre später diejenigen überwältigen könnte, die scheinbar Erfolg damit hatten, ihnen zu entkommen? Und nicht nur ihnen zu entkommen, sondern – wie es in Primo Levis Fall zuzutreffen schien – ihnen gegenüber die Oberhand zu gewinnen? Unter allen, die die Todeslager überlebt und dann über sie geschrieben hatten, schien Levi einer der wenigen zu sein, die ein gewisses Maß an durchgehender künstlerischer Kontrolle über ihre Erfahrungen erreicht hatten. Seine Schriften schreckten nie vor einer direkten Konfrontation mit dem Nationalsozialismus zurück, sie waren aber auch gleichzeitig auffallend frei von Empörung oder Selbstmitleid, von unverhohlenem Ausdruck von Bitterkeit, emotionalem Zorn oder unbeherrschter Wut. „Mein persönliches Temperament neigt nicht zu Hass“, schrieb er. „Ich betrachte Hass als brutal, rüde, und ich ziehe es im Gegenteil vor, dass meine Handlungen und Gedanken so weit wie möglich das Produkt der Vernunft sein sollten“.7 Hass und Rache sind Leidenschaften, die in seinen Schriften einfach nicht erscheinen, und selbst Verärgerung ist selten. Obwohl es vieles gab, weswegen er verärgert sein konnte, hatte Levi in seinen Büchern ein ungewöhnliches Niveau intellektueller und moralischer Gelassenheit erreicht. Es schien tatsächlich, dass er durch seine qualvollen Erfahrungen hindurchgekommen war und nun – in seiner Person wie auch in seinen Schriften – kundtat, dass es möglich war, dass die zivilisierten Werte Intelligenz und menschliches Empfinden die Nazi-Übergriffe gegen diese Werte überlebten. Dieser Eindruck, den Levi als ein standhafter Überlebender gemacht hatte, wurde durch die Nachricht seines Todes sehr erschüttert. Es war zwar keineswegs so, dass seine Schriften nun plötzlich entwertet waren oder dass sie weniger Bedeutung hatten als vorher; letztlich aber waren sie nicht stark genug, den Autor vor den zutiefst verletzten Erinnerungen an persönliche und historische äußerste Grenzerfahrungen, die sie in sich bargen, zu schützen. Noch schlimmer war die reale Möglichkeit, dass Levi dadurch, dass er diese Erinnerungen wachhielt und in seinen Büchern immer wieder zu ihnen zurückkehrte, das Trauma verlängert und sogar intensiviert hatte, welDouble Bond: Primo Levi, A Biography (New York: Farrar, Straus und Giroux, 2002); und Ian Thomson, Primo Levi: A Life (New York: Metropolitan Books, 2002). Siehe auch Jared Stark, „Suicide After Auschwitz“, The Yale Journal of Criticism 14, Nr. 1 (2001), 91–114. 7 Primo Levi, „Afterword: The Author’s Answers to His Readers’ questions“, Survival in Auschwitz and the Reawakening: Two Memoirs (New York: Summit Books, 1986), 276. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 169

ches seine früheren Jahre auf so grausame Weise gekennzeichnet hatte. Er war ein Überlebender, aber war er durch sein intensives Eintauchen in die Vergangenheit nicht auch in zunehmendem Maße ein Opfer? Seine Bücher sind sowohl Zeugnis als auch Reflexion eines überlebenden Zeugen, eine anschauliche Vergegenwärtigung der Vergangenheit, um die seine Gedanken beständig kreisten. Ist es notwendig, dass wir heute diesen Status, diese selbstgewählte Berufung als mit einem hohen Risiko und, zumindest in den Augen einiger, als letztlich mit einer Berufung zum Untergang beladen betrachten? Gleich zu Beginn seines letzten Buches, The Drowned and the Saved, zitiert Levi eine aufschlussreiche Passage aus Simon Wiesenthals The Murderers Among Us (Die Mörder unter uns). Der Sprecher ist ein Angehöriger der Waffen-SS; er wendet sich in zynischer, höhnischer Weise an Häftlinge in einem der Lager: Wie auch immer der Krieg enden mag, wir haben jedenfalls den Krieg gegen euch gewonnen; keiner von euch wird übrigbleiben, um davon Zeugnis abzulegen; aber selbst wenn jemand überleben sollte, dann würde die Welt ihm nicht glauben. Es wird vielleicht Verdächtigungen geben, Diskussionen, historische Forschungen; aber es wird keine Gewissheit geben, denn wir vernichten das Beweismaterial zusammen mit euch. Und selbst wenn hier und da Beweise da sein und einige von euch überleben sollten, wird man sagen, dass die Geschehnisse, die ihr beschreibt, zu monströs sind, als dass man sie glauben könnte. Man wird sagen, dass es sich um Übertreibungen der alliierten Propaganda handelt, und man wird uns glauben, die wir alles abstreiten werden. Wir werden diejenigen sein, die die Geschichte der Lager diktieren.8

Levi sagt dazu, dass „genau dieser Gedanke (‚selbst wenn wir davon erzählen sollten, würde uns niemand glauben‘)“ von allen Häftlingen im Lager geteilt wurde. Er fügt hinzu, dass sich „beide Gruppen, Opfer und Bedrücker, sehr deutlich der Ungeheuerlichkeit und somit der Unglaubwürdigkeit dessen, was in den Lagern geschah, bewusst waren …“ (p. 12). Es ist ein wesentlicher Teil der Aufgabe des Holocaust-Zeugnisses, diese Unglaubwürdigkeit dadurch zu besiegen, dass man von dem Geschehen erzählt und dadurch andere davon überzeugt, dass das Unglaubliche tatsächlich geschehen ist. Dies war eine Aufgabe, der Levi sich zusammen mit anderen, die gleichartige Erfahrungen durchmachen mussten und sich ebenfalls als Zeugnis ablegende Autoren verstanden, gestellt hat. Einer dieser Autoren war Améry, der zur gleichen Zeit wie Levi in Auschwitz-Monowitz gefangen gehalten wurde. In dem Titel-Essay von At the Mind’s Limits bezieht sich Améry namentlich auf Levi.9 Levi seinerseits schrieb über Améry ausführlich in The Drowned and the Saved. In „The Memory of the Offense“ („Die Erinnerung an das Vergehen“) untersucht Levi das Wesen der traumatischen Erinnerung und sieht sie als „eine unheilbare Verletzung“. Um sein Argument zu bestätigen, wonach „die Erinnerung eines Traumas, das erlitten

8 Zitiert nach Primo Levi, The Drowned and the Saved, 11–12. 9 Améry, At the Mind’s Limits, 3.

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oder zugefügt worden ist, selbst traumatisch ist“, zitiert er Zeilen aus Amérys eindrucksvollem Essay über „Folter“, der inzwischen gut bekannt sein dürfte: Wir lesen nicht ohne Entsetzen die Worte Jean Amérys, des österreichischen Philosophen, der von der Gestapo gefoltert wurde, weil er aktiv im belgischen Widerstand mitwirkte, und dann nach Auschwitz deportiert wurde, weil er Jude war: „Derjenige, der gefoltert wurde, bleibt ein Gefolterter. … Wer Qualen erlitten hat, wird seinen Weg in der Welt nicht mehr deutlich finden können; das Grässliche der Vernichtung wird nie ausgelöscht werden. Den Glauben an die Menschheit, der bereits durch den ersten Schlag ins Gesicht zerbrochen und dann durch die Tortur völlig zerstört worden ist, kann man niemals wiedergewinnen“.

Levi schrieb dann weiter, dass „die Folter für ihn ein endloser Tod war: Améry … tötete sich 1978 selbst“.10 Angesichts seines eigenen Todes weniger als zehn Jahre später berühren diese Worte besonders schmerzlich. Sie deuten, wenn auch vielleicht nicht auf einen geplanten, selbstgewollten Tod, so doch auf das Empfinden, das beiden Autoren gemeinsam war, dass das Überleben für diejenigen, die in den Lagern waren, einen in Abständen immer wieder spürbaren Tod-im-Leben bedeuten kann, eine Bewusstseinsqual, die hin und wieder durch das, was Levi „die Erinnerung an das Vergehen“ nannte, ausgelöst wurde. Levi zog den Schluss: „Wieder einmal muss bemerkt werden – mit Trauer –, dass die Verletzung unheilbar ist; sie zieht sich durch alle Zeit hindurch, und die Furien, an deren Existenz wir zu glauben gezwungen sind, quälen nicht nur den Folterer …, sondern perpetuieren sein Werk dadurch, dass dem Gequälten der Friede versagt wird“.11 Obwohl offensichtlich nicht jeder Überlebende in der hier beschriebenen Weise leidet, besteht aber wenig Zweifel daran, dass Levi die Furien selbst nur allzu gut kannte und dass er die durch sie erfahrene Strafe in nicht geringem Maße durchlitt. Die Erinnerung, die eigentliche Quelle seiner Begabung als Autor, war auch die Ursache eines großen Teiles seiner Pein. Man lernt aus der Notwendigkeit heraus, mit einer solchen Pein zu leben, sie zu verschleiern oder zu unterdrücken oder auch einer direkten Konfrontation mit ihr auszuweichen; diese Manöver können allenfalls das innere Leid in Schach halten, aber nicht ganz beseitigen. Werner Weinberg, ein anderer scharfsichtiger überlebender Autor, spricht davon, dass man lernt, „mit einem unaustreibbaren Stück Holocaust in mir zu leben und zu funktionieren“.12 Primo Levi lernte auch, auf diese Weise zu leben, aber um einen zu hohen Preis. Unter anderem wurde er durch ein tiefsitzendes und anhaltendes Gefühl für Unrecht beunruhigt; es war dies ein Thema, das in seinen Schriften immer wieder auftauchte, in besonders bemerkenswerter Weise jedoch in seinen Reflexionen über Jean Améry und den Suizid. Levi gibt eine Episode aus Amérys Essay „On the Necessity and Impossibility of Being a Jew“ wieder, in der Améry einen Schlagab10 The Drowned and the Saved, 24, 25. 11 Ebd. 12 Self-Portrait of a Holocaust Survivor (Jefferson, N.C.: McFarland and Company, 1985), 10. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 171

tausch mit einem aggressiven polnischen Aufseher in Auschwitz beschreibt. Der Aufseher schlug oft willkürlich Juden unter seinem Kommando, und eines Tages schlug er aus keinem erkennbaren Grund Améry ins Gesicht. In einem seltenen Augenblick des Revoltierens versetzte Améry ihm einen Kinnhaken. Dieser Schlag eines rebellischen Juden brachte noch schlimmere Schläge des gewalttätigen Polen mit sich; trotzdem war die Handlung notwendig: Die Würde gebot sie. In seinen Anmerkungen zu der Episode drückt Levi seine Anerkennung für Améry Mut aus, fügt aber hinzu, dass er selbst nie hätte zurückschlagen können. „Ich habe nie einen Schlag ‚zurückgeben‘ können“, schreibt er. „So weit ich mich erinnern kann, habe ich mit dem ‚Einstecken und Austeilen von Schlägen‘ keine Erfahrung“. Dann sagt er etwas über diese Episode, was nicht leicht zu verstehen ist. Obwohl er Amérys Handlung als „eine vernünftig begründete Revolte gegen die pervertierte Welt des Lagers“ respektiert, verknüpft er sie aber direkt mit Amérys Suizid. Hier ist die entscheidende Passage: „Diejenigen, die ‚sich‘ mit der ganzen Welt ‚schlagen‘, erreichen dadurch Würde, müssen jedoch einen hohen Preis dafür bezahlen, weil sie mit Sicherheit eine Niederlage erleben werden. Amérys Suizid … lässt, wie andere Suizide auch, eine Fülle von Erklärungen zu, aber aus der Rückschau lässt jene Episode, als er dem Polen die Stirn bietet, nur eine Interpretation zu“.13 Was genau sah Levi eigentlich in Amérys Augenblick der Rebellion, das ihn zu der Überzeugung kommen ließ, er habe das Wesen von Amérys gewaltsamem Tode verstanden? Die amerikanische Autorin Cynthia Ozick glaubt, dass es Wut war. „The Drowned and the Saved“, schreibt Ozick, „ist ein Buch darüber, dass nach Jahrzehnten der Enthaltung alles nachgeholt wurde. Es ist ein Buch von Schlägen, die von einer brennenden Feder ausgeteilt werden“. Die lange unterdrückte Wut war nach Ozicks Ansicht einfach zu viel für Levi: „Levi wartete mehr als vierzig Jahre; und er beging erst dann den Suizid, als er die Leidenschaft zuließ und die Schläge zurückgab. … Es macht mich traurig, dass er Wut mit Selbstzerstörung gleichsetzte“.14 The Drowned and the Saved ist ein viel wirkungsvolleres Buch als alle vorher veröffentlichten Werke. Nach der Lektüre ist mein Eindruck aber der, dass es uns keinen wütenden Autor zeigt. Es gibt darin zwar eine emphatische Gestimmtheit des Grolls, die alle Essays in dieser Sammlung durchzieht, es gibt aber auch etwas mehr als nur ein wenig Selbstkritik. Levi ist in diesem Buch sich gegenüber hart, tatsächlich viel zu hart. Obwohl er den Deutschen gegenüber sehr kritisch ist, fühlt er aber auch die Notwendigkeit, seine früheren Äußerungen über sie zu verteidigen. „Améry“, schreibt er, „nannte mich ‚den Verzeihenden‘. Ich betrachte das weder als Beleidigung noch als Lob, sondern als Ungenauigkeit. Ich bin nicht gewillt zu verzeihen, ich habe nie unseren Feinden jener Zeit verziehen. … Ich kenne keine menschliche Handlung, die ein Verbrechen auslöschen könnte. Ich verlange Gerech13 The Drowned and the Saved, 135, 136. 14 Cynthia Ozick, „Primo Levi’s Suicide Note“, Metaphor and Memory (New York: Alfred A. Knopf, 1989), 47–48.

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tigkeit, aber ich kann persönlich Schläge, die ich erlitten habe, nicht wieder austeilen“.15 „Ich bin das, wozu ich durch meine Vergangenheit gemacht worden bin“, schreibt er, „und ich kann mich unmöglich noch ändern“.16 Es war sehr ehrlich von ihm, in dieser Weise für seine relative Passivität im Vergleich zu Amérys eher offen rebellischer Natur Rechenschaft abzulegen. Aber waren seine Handlungen, oder genauer, seine Inaktivität eine angemessene Antwort auf das Unrecht, das er erleiden musste? Mit ziemlicher Sicherheit nicht. Er scheint das Gefühl gehabt zu haben, doppelt verletzt worden zu sein – zuerst durch die menschenverachtenden Erfahrungen während seiner Zeit in Auschwitz; und dann durch die beunruhigende Beschuldigung, die zum Teil auch eine Selbstbeschuldigung gewesen sein kann, dass er zu wenig dazu beigetragen habe, seine Forderung nach Gerechtigkeit mit konkreten Taten zu unterstützen. Was aus seiner ausführlichen Reflexion über Améry und den Suizid also deutlich wird, hat viel weniger mit Wut gegen seine ehemaligen Häscher zu tun als vielmehr mit intensiver Selbstkritik und zusammen damit möglicherweise mit einem schweren Verlust persönlicher Würde. Das sind Dinge, die Levi mit dem allergrößten Ernst betrachtete und die er in bedeutungsschwerem Ton in seiner Arbeit über Améry beschrieb: „Um zu leben, ist eine Identität – das heißt Würde – notwendig. … Wer das eine verliert, der verliert auch das andere und stirbt seelisch: Er ist deshalb schutzlos auch dem physischen Tod ausgesetzt“.17 Auch diese Passage scheint in aufschlussreicher Weise auf Selbstreflexion zu verweisen und deutet auf eine schwierige Zeit seelischer Krise in Levis eigenem Leben hin. Werner Weinberg liefert Einsichten in das Innere von Überlebenden, die vielleicht hier anwendbar sind. „Es gibt Wunden, die der Heilung trotzen“, schrieb er, „und der Grund dafür ist, dass sie nicht heilen dürfen“.18 Er bezieht sich damit auf seelische Wunden, auf Erinnerungs-Wunden, also auf dieselben, die Primo Levi im Sinn hatte, als er von der „Erinnerung an das Vergehen“ sprach. Levi forderte Gerechtigkeit, aber in einer tiefen Schicht seines Bewusstseins erkannte er, dass Gerechtigkeit nicht erreicht werden würde. Und deshalb wandte er sich in seinen Schriften einer zunehmend beängstigenden Analyse des Problematischen selbst zu – einer Untersuchung nämlich der Motive und Handlungen derer, die beispiellose Unrechtshandlungen geplant, organisiert und ausgeführt haben, sowie einer Untersuchung seiner selbst und anderer, die in den Lagern gewesen und also Opfer des extremen Unrechts waren. Er untersuchte aber in seinen letzten Jahren, auch aus dem Gefühl wachsender Notwendigkeit heraus, die Qualität seines eigenen Zeugnisses in seiner Eigenschaft als Chronist und Analysator des Unrechts. Sein Denken und Schreiben gingen immer mehr in diese Richtung, und so zeigen seine Bücher, 15 The Drowned and the Saved, 137. 16 Ebd., 137–138. 17 Ebd., 128. 18 Self-Portrait of a Holocaust Survivor, 82. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 173

dass er dazu gedrängt war, mehr und mehr über den Wert des Lebens selbst nachzudenken und darüber nachzusinnen, was manche Menschen veranlasst, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen. Primo Levi hatte vor dem Krieg sein reguläres Studium in Italien abgeschlossen, aber seine wirkliche Universität war, wie er oft bemerkte, Auschwitz.19 Man könnte also sagen, dass Levi in entscheidender, sogar in umformender Weise auch eine „deutsche“ Schulung erhielt. Dies war ein andauernder Prozess, denn er war von seinem 25. Lebensjahr an bis zum Ende seines Lebens beständig an Deutschland und den Deutschen interessiert. Wie er selbst mitteilte, besuchte er das Land in der Nachkriegszeit mindestens fünfzehn Mal,20 verbrachte mehrere Jahre mit dem Studium der deutschen Sprache und tat von seinem ersten bis zu seinem letzten Buch sein Bestes, über das Volk und die Kultur, die das deutsche Volk ausmachte, nachzudenken. Er wurde, wie er wiederholt sagte, dazu gedrängt, und zwar nicht aus Hass und nicht, um an seinen ehemaligen Häschern Rache zu nehmen, sondern aus dem Bemühen heraus, sie zu begreifen. Das erwies sich als eine recht schwierige Aufgabe. Levis Reflexionen über Deutschland und die Deutschen sind durch all seine Schriften hindurch verteilt. Eine sorgfältige Lektüre dieses Materials führt zu zahlreichen Einsichten, von denen die meisten sich auf die Versuche des Autors konzentrieren, das Wesen der besonderen Schulung, die er von den Deutschen in Auschwitz erhalten hatte, zu begreifen. Wie er in seinem ersten Buch schreibt, war es eine Schulung in den Prozessen der Entmenschlichung oder, wie er es noch einprägsamer ausdrückt, „der Demontage eines Menschen“.21 Survival in Auschwitz (Überleben in Auschwitz) schildert die Entmenschlichung auf mehreren unterschiedlichen Ebenen; aber wenn man in Levis erstem Buch nach einer frühesten Szene grundlegender menschlicher Reduzierung suchen müsste – nach einer, in der der Autor sich selbst als das Opfer eines grundlegenden Aktes der Entwürdigung porträtiert –, dann geht man am besten zurück zu dem Kapitel „Chemical Examination“ („Chemieprüfung“). Darin berichtet Levi von einer „Erinnerung an das Vergehen“, die ihm zeigte, wie verletzbar er doch gegenüber den Entwürdigungen und Herabsetzungen durch Unrecht war. Da er in Turin Chemie studiert hatte, meldete sich Levi freiwillig zu einer chemischen Einheit in Auschwitz. Sollte er angenommen werden, dann konnte er auf die relative Sicherheit einer Bürotätigkeit zählen und hoffen, dadurch etwas länger leben zu können. Um in diese Einheit aufgenommen zu werden, musste er sich allerdings erst einer Chemieprüfung unterziehen. Unter normalen Umständen hätte ihm eine solche Prüfung keine besonderen Probleme bereitet, aber als jüdischer Häftling in 19 Ferdinando Camon, Conversations with Primo Levi (Marlboro, Vt.: The Marlboro Press, 1989), 61. 20 Ebd., 37. 21 Survival in Auschwitz, 26.

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Kapitel 7

Auschwitz waren die Umstände alles andere als normal. So beschreibt Levi, wie er Dr. Pannwitz, seinem Prüfer, gegenübertritt: Pannwitz ist groß, dünn, blond; seine Augen, sein Haar und seine Nase sind so, wie alle Deutschen sie haben sollten. Er sitzt furchteinflößend hinter einem gewaltigen Schreibtisch. Ich, Häftling 174517, stehe in seinem Büro, einem richtigen Büro, strahlend sauber und aufgeräumt; und ich habe das Gefühl, dass ich einen Schmutzfleck hinterlassen würde, wenn ich irgendetwas berührte. Als er mit Schreiben fertig war, hob er die Augen auf und blickte mich an. Von dem Tag an habe ich viele Male und in verschiedener Weise über Dr. Pannwitz nachgedacht. Ich habe mich gefragt, wie er als Mensch wirklich funktionierte; wie er seine Zeit ausfüllte – außerhalb der Polymerisation und des indogermanischen Gewissens. Vor allem wollte ich ihn, wenn ich wieder ein freier Mann sei würde, wieder treffen, nicht aus einem Geist der Rache heraus, sondern nur aus persönlicher Neugier in Bezug auf die menschliche Seele. Denn dieser Blick war keiner zwischen zwei Menschen; und wenn ich gewusst hätte, wie ich das Wesen dieses Blickes vollständig hätte erklären können, eines Blickes, der zu mir kam wie durch das Glasfenster eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen, die in verschiedenen Welten lebten, dann hätte ich auch den wesentlichen Kern des großen Irrsinns des Dritten Deutschland erklärt.22

Levi verließ Dr. Pannwitz, ohne zu wissen, ob er die Chemieprüfung bestanden hatte; aber die Erinnerung an diese absonderliche Prüfung, bei der er in seiner Häftlingskleidung vor seinem deutschen Prüfer stand, verließ ihn nie wieder. Wer oder was genau war er eigentlich in den Augen des anderen? Diese Frage beschäftigte Primo Levi in der einen oder anderen Form für den Rest seines Lebens. Wenn er, wie er bemerkte, sie hätte beantworten können, dann hätte er das Wesen des Nationalsozialismus selbst erklären können. Levi war von einem Kapo namens Alex, einem rohen Typen, der einen kriminellen Eindruck machte, zur Chemieprüfung gebracht worden. Derselbe Kapo führte Levi ins Lager zurück. Auf dem Weg mussten sie über ein paar schmutzige Stahlabsperrungen klettern. Dabei machte Alex sich schmutzig und fluchte, weil seine Hand ölbeschmiert war. So beschreibt Primo Levi das, was dann folgte: Ohne Hass und auch ohne höhnisches Grinsen wischte Alex seine Hand an meiner Schulter ab, die Handfläche und den Handrücken, um sie zu säubern. Dieser armselige brutale Kerl wäre bass erstaunt, wenn ihm jemand sagte, dass ich ihn heute auf der Grundlage dieser Handlung beurteile, ihn und Pannwitz und die zahllosen anderen, die ihm gleichen, groß und klein, in Auschwitz und überall.23

Man kann Szenen der Entmenschlichung finden, die in ihrer Schilderung menschlicher Entwürdigung noch nervenzermürbender sind als die gerade zitierte Szene. Es ist aber charakteristisch für Levis Begabung als Autor, gravierende Vergehen in einem scheinbar unbedeutenden Akt erscheinen zu lassen – im vorliegenden Fall wird die Reduzierung eines Mitmenschen dadurch hervorgehoben, dass er ihn in zweckdienlicher Lumpenkleidung auftreten lässt. Während seiner Zeit der Inhaftierung in Auschwitz sollte Levi sicherlich weit schlimmere Schrecknisse kennen 22 Ebd., 105–106. 23 Ebd., 107–108. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 175

lernen, aber diejenigen, auf die er in The Chemical Examination anspielt – die verharmlosende Ungleichheit und grundsätzliche Absurdität seiner „Audienz“ bei Pannwitz sowie die Beleidigung, die er von dem Kapo Alex hinnehmen musste –, diese beiden Vorkommnisse konstituierten primäre Unrechtsakte, die Levi niemals vergessen hat. Beide lösten in ihm ein lebenslanges Verlangen danach aus, die Deutschen zu begreifen, und sie waren ursächlich dafür, dass er Autor wurde. Das folgende sagte er seinem ersten deutschen Übersetzer: Ich kann nicht sagen, dass ich die Deutschen verstehe. Und das, was man nicht versteht, bildet eine schmerzende Leere; es ist ein Dorn, ein beständiger Drang, der Erfüllung fordert. … Wenn ich über mein Leben nachdenke und über die verschiedenen Ziele, die ich mir gesetzt habe, dann erkenne ich nur eines, das mir als klar definiertes Ziel im Bewusstsein ist: Zeugnis abzulegen, das deutsche Volk meine Stimme hören zu lassen und dem Kapo, der seine Hand an meiner Schulter abwischte, und Dr. Pannwitz zu „antworten“.24

Levi war davon überzeugt, wie er in The Periodic Table (Das periodische System) feststellte, dass „jeder Deutsche sich für Auschwitz verantworten muss“,25, aber je mehr er sich in das Wesen der Nazi-Verbrechen vertiefte und auch in das, was er generell als das Versagen der Deutschen in der Nachkriegszeit, dasselbe zu tun, ansah, desto einsamer wurde er nach und nach. Er betrachtete das Schweigen der Deutschen während der Zeit des Dritten Reiches als unentschuldbar: „Die meisten Deutschen wussten nichts, weil sie nichts wissen wollten. Weil sie sogar das Nichtwissen wollten“.26 Was das Schweigen der Deutschen in den Nachkriegsjahren betrifft, „so schockt uns das ‚ich weiß nicht‘ oder ‚ich wusste nicht‘, das man heute von vielen Deutschen hört, schon längst nicht mehr“.27 Dies war ein Versagen, das er in einigen seiner frühesten Schriften schon intuitiv vorhersah und das durch die folgende Passage aus The Reawakening (Das Wiedererwecken), seinem zweiten Buch, illustriert werden kann. Darin beschreibt Levi seine Gefühle, als er sich im Oktober 1945 nach einer langen, auf Umwegen erreichten Repatriierung nach Turin plötzlich in München fand. Es war das erste Mal, dass er in Deutschland war: Wir hatten das Gefühl, dass wir etwas zu sagen hatten, ungeheuerliche Dinge zu sagen hatten, und zwar jedem einzelnen Deutschen, und wir hatten auch das Gefühl, dass jeder Deutsche auch uns etwas zu sagen haben müsste. Wir verspürten eine drängende Notwendigkeit, unsere Angelegenheiten zu ordnen, zu fragen, zu erklären und zu kommentieren. … Wusste „man“ von Auschwitz, von dem täglichen stummen Massaker, nur einen Schritt von der eigenen Tür entfernt? … Ich hatte das Gefühl, dass jeder uns befragen, in unseren Gesichtern lesen, wer wir waren, und in Demut unsere Geschichte hören müsste. Aber niemand sah uns in die Augen, niemand nahm die Herausforderung an. Sie waren taub, blind und stumm, gefangen in ihren Ruinen wie in einer

24 Primo Levi, „Aus einem Brief Primo Levis an den Übersetzer“, Ist das ein Mensch? Erinnerungen an Auschwitz (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1979), 8–9. 25 Primo Levi, The Periodic Table (New York: Schocken Books, 1984), 223. 26 Nachwort zu Survival in Auschwitz, 381. 27 The Drowned and the Saved, 19–20.

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Kapitel 7

Festung vorsätzlicher Ignoranz, immer noch stark, immer noch des Hasses und der Verachtung fähig, immer noch Gefangene ihres alten Gewirrs von Hochmut und Schuld. Ich habe unter ihnen gesucht … nach jemandem, der wissen musste, der sich erinnern musste, der antworten musste; der Befehle gegeben und Befehle ausgeführt hatte, getötet, gedemütigt, zerstört hatte. Eine nutzlose und törichte Suche; denn nicht sie, sondern andere – die wenigen Gerechten – haben für sie geantwortet.28

The Drowned and the Saved, Levis letztes Buch, wurde zwei Jahrzehnte später geschrieben, aber es schließt mit einer ähnlich niedergeschlagenen Gestimmtheit und vielfach aus denselben Gründen: Nach Levis Auffassung hatten sich die Deutschen bis auf wenige Ausnahmen dafür entschieden, vorsätzlich unwissend hinsichtlich der Verbrechen des Dritten Reiches zu bleiben. Die ältere Generation der Deutschen war im großen und ganzen genauso, wie er sie im Herbst 1945 in München gesehen hatte – taub, blind und stumm. Was die Jüngeren angeht, so scheinen Berichte wie der seine, wenn überhaupt, nur von einer Welt zu sprechen, die „längst vergangen, verschwommen, ‚historisch‘“ ist. Levi war im allgemeinen kein zynischer oder fatalistischer Autor, aber gegen Ende seines Lebens hatte er das Gefühl, er selbst sei anachronistisch und zunehmend bedeutungslos, wenn es sich um die Deutschen handelte. Seine letzten Worte über das Thema sind von einem untypisch eindringlichen Ton von Bitterkeit und fast von Verzweiflung geprägt: Eins muss klar sein: Alle waren mehr oder weniger verantwortlich; aber etwas anderes ist ebenso klar: Hinter ihrer Verantwortung steht die überwiegende Mehrheit der Deutschen, die zu Beginn aufgrund geistiger Faulheit, kurzsichtiger Berechnung, Dummheit und Nationalstolz die „schönen Worte“ des Gefreiten Hitler akzeptierten, ihm folgten, solange Glück und Skrupellosigkeit ihn begünstigten, die durch seinen Untergang mitgerissen wurden, von Tod, Elend und Reue befallen und ein paar Jahre später als Folge eines prinzipienlosen politischen Spieles rehabilitiert wurden.29

Aufgrund dieser Worte müsste man den Schluss ziehen, dass Levi die Deutschen mehr oder weniger aufgegeben hatte. In seinen „Letters from Germans“ („Briefe von Deutschen“) berichtet er, dass die meisten Leute, die ihm aus Deutschland geschrieben hatten, entweder versuchten, die Vergangenheit zu beschönigen, oder ernst gemeinte, aber hilflose Schuldgefühle in Bezug auf die schlimmsten Aspekte der Vergangenheit ausdrückten. Überdies reagierten viele auf Levis Bemühungen, die Deutschen zu verstehen, mit dem Geständnis, dass sie sich selbst nicht verstehen könnten. Deutschlands anhaltende Ambivalenz in Bezug auf die Vergangenheit zeigte sich in besonders auffallender Weise in den zwei Jahren vor Primo Levis Tod. Die Bitburg-Affäre im Frühjahr 1985 zum Beispiel war ein Ereignis, das Levi als persönlichen Affront den Opfern des Nationalsozialismus gegenüber und als nationale Schande ansah.30 Er betrachtete den Historikerstreit, eine sich weithin in der Öffent28 The Reawakening, 370–371. 29 Ebd., 203. 30 Primo Levi, „Questions and Answers at Indiana University“, Midstream 32 (April 1986), 26–28. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 177

lichkeit abspielende Debatte unter Historikern über die Frage der deutschen Schuld und Verantwortung, die bald nach „Bitburg“ begann, als eine beunruhigende Form des historischen Revisionismus, die er in einer Veröffentlichung scharf kritisierte.31 Diese und ähnliche Tendenzen untergruben Levis anfängliche Hoffnung, so etwas wie eine ehrliche Begegnung mit den Deutschen zu erreichen. Als er erstmalig erfahren hatte, dass Survival in Auschwitz ins Deutsche übersetzt wurde, hatte er sich, wie aus seinem letzten Buch hervorgeht, recht unbehaglich gefühlt. Dann aber begrüßte er die Aussicht auf eine deutsche Ausgabe und äußerte sich dahingehend, dass er „sie“ doch endlich erreichen würde, „die wahren Empfänger“ seines Werkes, „diejenigen, auf die das Buch wie ein Gewehr gerichtet war“. Er schrieb dann über das Resultat der Übersetzung: „Nun war das Gewehr geladen“.32 Dies ist eine ungewöhnliche und stark aggressive Metapher, die die Intensität von Levis Gefühlen unterstreicht, mit denen er seine Begegnung mit einem deutschen Publikum erwartet. Es war eine Begegnung, die eine lange Entwicklungszeit hinter sich hatte, und die ihm schließlich die Gelegenheit geben würde, das Verhältnis zwischen ihm und denen, die versucht hatten, ihn herabzusetzen, wiederherzustellen. Tatsächlich aber musste er erleben, dass in Deutschland der Respons auf sein Buch verhältnismäßig schwach war; und ohne Zweifel war er enttäuscht darüber, dass sein bester Schuss in seinem Kampf gegen eine Abschwächung der historischen Erinnerung an die Unterdrückung durch die Nazis ein so geringes Echo erfahren hatte. Hatte er dabei bereits den verzweifelten Schritt geplant und – um mit dem Bildbereich seiner Metapher zu sprechen – eine Zeit vorausgeahnt, in der er sein geladenes Gewehr gegen sich selbst richten könnte? „Suizid ist“, schrieb Primo Levi, „ein überlegter Akt“.33 Wie alle anderen folgenschweren Akte hat er ebenfalls eine Geschichte hinter sich – einschließlich, wie bei den meisten Autoren, einer literarischen Geschichte. Eine sorgfältige Lektüre aller Schriften Primo Levis lässt eine zeitweilige Faszination erkennen, die von Fällen eines plötzlichen Endes, von heftigen Explosionen, von Fällen des Ertrinkens und eben auch der Selbstzerstörung ausgeht. Was sich ebenfalls zeigt, ist eine Besorgtheit über die psychologischen und seelischen Komponenten dessen, was Levi „die Krankheit des Überlebenden“ nannte – das Nachlassen der Energie, das Schwächerwerden der Vitalität, die schwere Last der Schuld und der Scham, ein langsamer, aber sicherer Verfall des Lebenswillens. Levi hat sich in seinen Hauptschriften zwar nicht auf diese Gefühlsinhalte konzentriert, dennoch erscheinen sie recht oft in seinen Büchern und deuten dort zumindest eine unterschwellige Beschäftigung mit der Möglichkeit – wenn nicht sogar auch der Attraktivität – des selbstgewollten Todes an. 31 Primo Levi, „The Dispute among the Historians“, The Mirror Maker (New York: Schocken Books, 1989), 163–166. 32 Ebd., 168. 33 Ebd., 76.

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Man findet explizite Bezugnahmen auf einen solchen Tod in Levis kommentierenden Reflexionen über Améry, Trakl und Celan; aber die interessanteste Behandlung des Suizids erscheint in seinen Schriften, die eher der Imagination zuzurechnen sind, so etwa in den Kurzgeschichten „Versamina“ und „Westward“, die in dem Sammelband The Sixth Day and Other Tales (Der sechste Tag und andere Erzählungen) vorliegen, in „Lorenzo’s Return“, im Sammelband Moments of Reprieve (Augenblicke der Atempause), in Passagen von The Periodic Table sowie in dem Roman The Monkey’s Wrench (Der Mutternschlüssel des Affen) und schließlich in Gedichten wie „Pliny“ („Plinius“) und „The Girl-Child of Pompei“ („Das kleine Mädchen von Pompeji“). „Plinius“ z. B. schildert die Gefahren, die die Faszination durch die Gewalt natürlicher Vulkanausbrüche begleiten. Der Erzähler des Gedichtes, der auf Plinius dem Älteren basiert, der 79 n. Chr. starb, weil er zu nah an den Vesuv herangekommen war, ist ein leidenschaftlicher Beobachter, der sich nicht daran hindern lässt, seinem Verlangen zu folgen, die explosiven Ursachen der Zerstörung zu untersuchen. Als Erforscher der „Asche“ erscheint Plinius als Maske für Levi selbst, sogar in seiner Entschlossenheit, sich selbst in das Zentrum der Gefahr zu stürzen, einer Entschlossenheit, die sich ja mit der üblichen Vorstellung von Levi als einem grundsätzlich ausgeglichenen, nicht-impulsiven Menschen nicht verträgt. PLINIUS Haltet mich nicht zurück, Freunde, lasst mich aufbrechen. Ich werde nicht weit gehen; nur zum anderen Gestade. Ich will aus der Nähe jene dunkle Wolke in Form einer Kiefer beobachten, die über dem Vesuv aufsteigt, und die Quelle dieses seltsamen Lichtes finden. Neffe, willst du nicht mitkommen? Gut, bleib hier und studiere weiter. Kopiere die Notizen nochmals, die ich dir gestern gab. Du brauchst die Asche nicht zu fürchten; Asche zu Asche. Wir selbst sind Asche; erinnerst du dich, Epikur? Schnell, mach das Boot fertig, es ist schon Nacht: Nacht am Mittag, ein noch nie dagewesenes Vorzeichen. Mach dir keine Sorgen, Schwester, ich bin vorsichtig und kenne mich aus. Die Jahre, die mich beugten, sind nicht umsonst vergangen. Natürlich werde ich schnell zurückkommen. Gib mir nur Zeit hinüberzufahren, die Erscheinungen zu beobachten und dann zurückzukommen, um morgen aus ihnen ein neues Kapitel für meine Bücher zu beziehen, das, wie ich hoffe, dann immer noch leben wird, wenn die Atome meines alten Körpers schon jahrhundertelang herumwirbeln, aufgelöst in den Strudeln des Universums, oder erneut leben in einem Adler, einem jungen Mädchen, einer Blume. Seeleute, gehorcht mir: Lasst das Boot zu Wasser.34

Im Gegensatz zu dem in „Plinius“ dargestellten verhängnisvollen Ungestüm charakterisieren Vorsicht, Skepsis und Beherrschung die wissenschaftlichen Forscher in „Westward“, aber das beherrschende Thema ist dort auch wieder einmal Selbstzerstörung. In dieser Geschichte machen sich zwei Wissenschaftler daran, den Todesinstinkt zu untersuchen, indem sie das Suizidverhalten von Lemmingen analysieren. Im Verlaufe ihrer Untersuchungen gelangen sie immer mehr dahin, über den Wert des Lebens selbst nachzudenken sowie über die Option, aus freier Wahl 34 „Pliny“, in Primo Levi, Collected Poems, übers. Ruth Feldman und Brian Swann (London: Faber and Faber, 1988), 33. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 179

das Leben zu beenden. Ihr Dialog zeigt Wissbegierde und ist anspruchsvoll, und er treibt das rationale Fragen bis an seine Grenzen: „Warum würde ein Lebewesen sterben wollen?“ fragt der eine. Der andere antwortet: „Und warum sollte es leben wollen? Warum sollte es immer leben wollen?“35 Die Fragen sind eindringlich, und die Schlussfolgerungen sind oft deprimierend: „Das Leben hat keinen zweckhaften Sinn; Schmerz siegt immer über Freude; wir sind alle zum Tode verurteilt, und der Tag unserer Hinrichtung ist nicht bekanntgemacht worden; wir sind dazu verurteilt, das Ende unserer Lieben abzuwarten; es gibt zwar Kompensationen, aber nur wenige“.36 In „Westward“ gibt es zahlreiche Reflexionen dieser Art, von denen sich die meisten um negative Einschätzungen der Fähigkeit des Lebensinstinkts drehen, sich gegen die Unvermeidlichkeit des Verfalls und die Zerstörungskraft des Todes zur Wehr zu setzen. Die Erzählung endet mit einer Bezugnahme auf die Arunde, ein Volk, das, wie man sagt, „wenig Wert dem individuellen Überleben“ beimisst und „keinen Wert dem Überleben der Nation“.37 Wenn die Angehörigen dieses Volksstammes erst einmal den Beginn des Verfalls fühlen, dann wählen sie oft den Freitod. Angesichts der Möglichkeit, das Leben mit Hilfe von Medikamenten zu verlängern, erklären die Arunde: „Wir ziehen die Freiheit der Arznei vor und den Tod der Illusion“.38 Auch Lorenzo hatte offenbar diese Präferenz, wie Primo Levi sie in „Lorenzo’s Return“ („Lorenzos Rückkehr“) beschrieb. Wie die Leser von Survival in Auschwitz wissen, war Lorenzo ein Mensch, der für Levi während seiner Zeit in Auschwitz von großer Bedeutung war. Lorenzo, ein italienischer ausländischer Zivilarbeiter, brachte Levi in loyaler Gesinnung zusätzliche Essensportionen und ermöglichte es ihm damit, seine Hoffnung auf menschliche Güte aufrechtzuerhalten und eben auch seinen Hunger zu stillen. Levi betrachtete Lorenzo als einen einfachen, durch und durch anständigen Menschen und spürte, dass er sein eigenes Überleben in nicht geringem Maße Lorenzos zahlreichen Beweisen der Freundlichkeit und Großmut verdankte. An einem Ort, der überwältigend durch die Allgegenwart des Todes geprägt war, stand Lorenzo auf der Seite des Lebens. Es betrübte Levi daher sehr, als er bei Kriegsende entdeckte, dass Auschwitz von Lorenzo einen weitaus größeren Tribut gefordert hatte, als Levi angenommen hatte: Ich fand einen erschöpften Mann vor, … zu Tode erschöpft, es war eine unheilbare Erschöpfung. … Sein Spielraum für die Liebe zum Leben war enger geworden, ja, er war fast verschwunden. … Er hatte die Welt gesehen, er mochte sie nicht, er spürte, dass sie dem Untergang nahe war. Sein Interesse war nur noch, nicht weiterzuleben. … Er war sicher und konsequent in seiner Ablehnung des Lebens. … Er, der kein Überlebender war, starb an der Krankheit des Überlebenden.39 35 Primo Levi, „Westward“, The Sixth Day and Other Tales (New York: Summit Books, 1990), 128. 36 Ebd., 129. 37 Ebd., 132. 38 Ebd., 135. 39 Primo Levi, Moments of Reprieve (New York: Summit Books, 1986), 159–160.

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Wenn man über solche und die anderen oben zitierten Passagen nachdenkt, dann fragt man sich natürlich: Ist Levi selbst an der „Krankheit des Überlebenden“ gestorben? Wir werden das nie genau wissen; aber seine Schriften weisen auf eine solche Möglichkeit hin. Sie zeigen uns einen Autor, der in zunehmendem Maße bedrängt wird von Schmerz, Schuld, Scham, Selbstanklage, von Gefühlen der Nutzlosigkeit und des Versagens – kurz: sie zeigen uns einen Menschen, der mit der Angst seines Überlebens zu kämpfen hat. Dieser Kampf kommt sehr stark in Levis letztem Buch zum Ausdruck, das in seiner Grundstimmung eine so schmerzvoll betrübte Meditation über den Kummer und die Qualen dessen, der überlebt hat, darstellt wie nur irgendeine im gesamten Corpus der Holocaust-Literatur. Dieser Kummer ist seinem Wesen nach vielgestaltig und richtet sich einschneidend sowohl nach innen als auch auf von außen einwirkende Kräfte. Wie bereits bemerkt, war Levis Kummer in nicht geringem Maße mit seinen Gefühlen in Bezug auf Deutschland verknüpft. Er litt nach wie vor unter den traumatischen Erinnerungen an seine Zeit in dem Lager, wohingegen die Menschen, die zu dem Volk seiner Unterdrücker gehörten, in den Jahren nach Auschwitz relativ unbekümmert waren und ihm bei seinen Begegnungen mit ihnen recht wenig Trost – wenn überhaupt – gaben. Wenn er mit Leuten wie Dr. Pannwitz oder dem Kapo Alex hätte abrechnen können, dann hätte er vielleicht seine aufgewühlten Gefühle in etwa zur Ruhe kommen lassen können – aber eine solche Lösung sollte die seine nicht sein. Stattdessen dekretierte die intensiver werdende Perpetuierung der traumatischen Erinnerungen, dass er, der gefoltert worden war, ein Gefolterter blieb. Ein Autor sucht unter solchen Umständen natürlich Zuflucht und Erleichterung in seiner Arbeit. Levi war darin keine Ausnahme. Er zitierte gern das jiddische Sprichwort „Ibergekumene tsores iz gut tsu dertseylin“ („Überwundene Schwierigkeiten lassen sich gut erzählen“),40 und es besteht kein Zweifel daran, dass er das Schreiben als ein Mittel, seine leidvolle Vergangenheit sowohl zu überwinden als auch darzustellen, ansah. Obwohl Primo Levis Schriften einen hohen Grad an analytischer Präzision und Darstellungskraft aufweisen, fehlt ihnen generell ein Effekt der Katharsis. Sie sind meisterhaft darin, den physischen und moralischen Charakter der berichteten Leiden zu schildern, aber in nur sehr seltenen Fällen lösen sie dieses Leiden auf oder lassen eine weniger angstvolle Zukunft, die jenseits der Leiden liegt, durchscheinen. Ja, dadurch dass er in dieser Weise über seine Erfahrungen im Lager schrieb, hat Levi sein Trauma vielleicht eher vertieft, als dass er sich dadurch entlastet hätte. In dieser Hinsicht sah er sich einem Dilemma einer besonders fordernden und letztlich kräfteraubenden Art gegenüber. Dadurch, dass Levi so in die Erinnerung eintauchte und auch in das, was er darin als Verpflichtung und Anspruch an sich als Autor sah, kehrte er immer wieder in die Vergangenheit zurück, an den Ort seiner schlimmsten und auch seiner reichsten Erfahrungen. 40 Levi benutzt dieses jiddische Sprichwort als Überschrift zu The Periodic Table und zitiert es auch an anderen Stellen. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 181

Zu Anfang hatte er das Schreiben als ein Mittel der inneren Befreiung betrachtet, und er hatte sein erstes Buch tatsächlich schon begonnen, als er noch Häftling in Auschwitz war.41 Damals sah er sich als Chronist eines historischen Verbrechens von noch nie dagewesenem Ausmaß, und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht – sowohl als Opfer als auch als Zeuge dieses Verbrechens –, sicherzustellen, dass andere von der Ungeheuerlichkeit dieses Verbrechens erfahren sollten. Auf die Frage, die er in seinem ersten Buch stellte, ob „es notwendig oder gut ist, überhaupt eine Erinnerung an diese Ausnahmesituation zu behalten“,42 war daher die einzig vorstellbare Antwort des Autors von Survival in Auschwitz ein emphatisches Ja. Es ist zweifelhaft, ob der Autor in seinen späteren Jahren mit solchem Vertrauen auf die heilenden Kräfte der Erinnerung hätte antworten können. Spätestens zu der Zeit, als er dabei war, die teils bitteren, teils grübelnden Kapitel von The Drowned and the Saved zu schreiben, hatte Levi dann auch vieles noch einmal überdacht, und man erkennt ernsthafte Vorbehalte hinsichtlich der Qualität seines eigenen Zeugnisses. „Haben wir, die wir zurückgekehrt sind, es vermocht, unsere Erfahrungen zu begreifen und sie anderen begreiflich zu machen?“ fragt er.43 Seine Antwort – implizit in der Frage enthalten – ist kaum bejahend: „Das menschliche Gedächtnis ist ein wunderbares, aber trügerisches Instrument“, schreibt er. „Selbst unter normalen Bedingungen ist ein allmählicher Verfall am Werk, ein Verwischen der Konturen, sozusagen ein physiologisches Vergessen; all diesem kann das Gedächtnis nur weniger Menschen widerstehen. … [Deshalb] ist eine Entschuldigung angebracht. Dieses Buch hier ist voll von Erinnerungen – und überdies von weit zurückliegenden Erinnerungen. Es benutzt also eine fehlerverdächtige Quelle und muss vor sich selbst geschützt werden“.44 Dies ist eine starke, revisionistische Kehrtwendung, die zeigt, dass der junge Levi, der gelebt hatte – wie er sich ausdrückte –, „um zu erzählen“,45 abgelöst wurde durch einen älteren, traurigeren Autor, dem inzwischen offenbar Zweifel an der Zuverlässigkeit und der Wirksamkeit seines eigenen Erzählens gekommen sind. Der jüngere Levi sprach von „der befreienden Freude beim Erzählen [seiner] Geschichte“,46 und er erzählte sie mit dem Selbstbewusstsein eines Autors, der sich im Vollbesitz seiner Ausdruckskraft wusste. Der ältere Levi hingegen erwies sich als zunehmend unsicher in Bezug auf das Zeugnis von Überlebenden und sogar in Bezug auf die Verlässlichkeit der Erinnerung selbst. „Der größte Teil der Zeugen“, notiert er, „hat immer verschwommenere und mehr und mehr stilisierte Erinnerungen“.47 Außerdem haben diese Zeugen seiner Auffassung nach ihre Berichte nur 41 Nachwort zu Survival in Auschwitz, 375. 42 Survival in Auschwitz, 87. 43 The Drowned and the Saved, 36. 44 Ebd., 23, 24, 34. 45 Primo Levi, „Beyond Survival“, Prooftexts 4 (Januar 1984), 13. 46 The Reawakening, 373. 47 The Drowned and the Saved, 19.

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Kapitel 7

aufgrund unvollständigen Wissens geschrieben. Diejenigen, die den ganzen Schrecken des Nationalsozialismus kannten, haben entweder ihre Tortur nicht überlebt oder sind durch sie fast bis zur Sprachlosigkeit entkräftet worden. In seinen letzten Jahren scheint Levi also die melancholische Schlussfolgerung gezogen zu haben, dass die grundlegende Wirklichkeit seines Lebens – die volle Wahrheit von Auschwitz selbst – vielleicht niemals genau erkannt werden kann. Levi widmete sein letztes Buch ausführlichen Analysen der Ursachen und Implikationen dieser verstörenden Aussicht. The Drowned and the Saved lässt ausgesprochene Angst in Bezug auf das Abgleiten und die Verzerrung der Erinnerung erkennen und damit auch in Bezug auf die Verschleierung und Verfälschung der Vergangenheit. Levi schreibt diese beunruhigende Entwicklung denen zu, die die Vergangenheit am liebsten vergessen würden, oder auch denen, die sie auf unehrliche Weise vorsätzlich manipulieren; aber einen beträchtlichen Teil seiner Sorge scheint er gegen sich selbst zu richten, und diese Sorge verweist auf die beunruhigende Implikation, dass er inzwischen dahin gekommen ist, sich als einen desavouierten Zeugen zu betrachten. Das Thema der moralischen Ambiguität, das er mit solchem Nachdruck und solcher Präzision in „The Gray Zone“ („Die Grauzone“) entwickelt, ist ein Bereich, aus dem er sich nicht absentiert hat; und obwohl es keinen Beweis für Levis tatsächliche Mittäterschaft als Häftling in Auschwitz gibt, so scheint er sich dennoch in gewisser Weise als Beteiligter gesehen zu haben: „Ein so infernalisches System, wie es der Nationalsozialismus war, übt eine furchtbar korrumpierende Macht aus, gegen die man sich nur mit Mühe schützen kann. Dieses System entwürdigt seine Opfer und macht sie sich selbst ähnlich, weil es Mittäterschaft sowohl in großem als auch in kleinem Rahmen braucht. Um dem System zu widerstehen, braucht man eine wahrhaft solide moralische Schutzhülle“.48 „The Gray Zone“ lässt klar erkennen, dass Levi nicht glaubte, dass es sehr viele gab, die einen solchen moralischen Schutz besaßen oder die – unter den verwahrlosten Verhältnissen in den Lagern – diesen intakt bewahren konnten. „Wir werden alle in Rumkowski gespiegelt“, schrieb er; „seine Ambiguität ist unsere, ja, sie ist unsere zweite Natur“.49 Er schließt sich auch selbst in dieses Urteil mit ein: „Auch ich hatte die Hauptregel des Lagers tief in mir verinnerlicht, eine Regel, die es zwingend notwendig machte, dass man zu allererst für sich selbst sorgen muss“.50 Diese Erkenntnis bringt in seine letzten Schriften eine Note der Selbstbeschuldigung hinein und damit eine belastende Scham, die für ihn unerträglich war. Elend, Angst, Erschöpfung, Schuld und Scham – all dies gehörte für viele Überlebende zu dem Erbe der Lager. Die Befreiung brachte physische, aber nicht notwendigerweise psychische Freiheit. „Man litt“, schrieb Levi, „wegen des wiederer-

48 Ebd., 68. 49 Ebd., 69. 50 Ebd., 78–79. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 183

worbenen Bewusstseins, entwürdigt worden zu sein“.51 Zusätzlich litt man unter quälenden Schuldgefühlen. „Was für eine Schuld? Als alles vorüber war, kam die Erkenntnis, dass wir nichts getan hatten – oder nicht genug getan hatten – gegen das System, das uns vereinnahmt hatte. … [Der Überlebende] fühlt sich angeklagt und verurteilt, gezwungen, sich zu rechtfertigen und zu verteidigen“. Wogegen sich zu verteidigen? „Selbstbeschuldigung oder die Beschuldigung, in Bezug auf die menschliche Solidarität versagt zu haben, … versäumt zu haben, Hilfe anzubieten, … ein menschliches Wort, einen Rat oder einfach nur ein offenes Ohr“.52 Schuld spielte auch eine Rolle bei dem beunruhigenden Verdacht, dass einer überlebte statt eines anderen: nämlich eines Menschen, der großzügiger war, sensibler, nützlicher, weiser, lebenswerter als man selbst. Solche Gefühle kann man nicht verdrängen: Man prüft sich selbst, man lässt seine Erinnerung Revue passieren. … Nein, man findet dabei kein offensichtliches Vergehen, man hat keines anderen Platz usurpiert. … [Dennoch: Scham] nagt an uns; sie hat sich wie ein Holzwurm tief eingenistet; obwohl sie von außen nicht zu sehen ist, nagt und schabt sie.53

Das späte Gedicht „The Survivor“ („Der Überlebende“) drückt die Agonie des ehemaligen Lagerhäftlings aus, der durch diese zerstörerischen Gefühle heimgesucht wird; aber die eindringlichste Entfaltung dieser Gefühle findet sich in dem Essay „Shame“ („Scham“), aus dem ich zitiert habe. Wie keine andere Stelle in Levis Schriften zeigt dieser Essay uns den Autor, der sich in einer Art und Weise, die äußerst hart und an der Grenze zur Selbstbestrafung ist, gegen sich selbst wendet: Die „Geretteten“ des Lagers waren nicht die Besten, nicht die, die prädestiniert waren, Gutes zu tun, nicht die Träger einer Botschaft: Was ich gesehen und erlebt habe, erwies sich als das genaue Gegenteil. … Die Schlechtesten überlebten, die Selbstsüchtigen, die Gewalttätigen, die Unsensiblen, die Kollaborateure der „Grauzone“, die Spione. … Die Schlechtesten überlebten, das heißt die Stärkeren; die Besten starben alle. … Ich muss wiederholen: Wir, die Überlebenden, sind nicht die wahren Zeugen. … Wir … sind nicht nur eine winzige, sondern auch eine anomale Minderheit: Wir sind diejenigen, die aufgrund ihrer krummen Wege oder ihres Geschicks oder einfach aufgrund ihres Glücks nicht das Schlimmste erleben mussten. Die es erleben mussten, … sind entweder nicht zurückgekehrt, um davon zu erzählen, oder sie sind stumm zurückgekehrt; sie aber sind … die vollkommenen Zeugen, diejenigen, deren Aussagen allgemeine Bedeutung hätten. Sie sind die Regel, wir sind die Ausnahme.54

Wenn man diese Passage als Anzeichen für Levis Empfinden in Bezug auf sich selbst, wie er es in seiner letzten Lebenszeit hatte, betrachtet, dann sind die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen äußerst beunruhigend. Sowohl in moralischer als auch in literarischer Hinsicht scheint der Autor von The Drowned and the Saved den Wert des in seinen früheren Büchern gegebenen Zeugnisses ernsthaft in Frage zu stellen. Die Überlebenden sind nicht die wahren Zeugen – zu diesem Eingeständ51 Ebd., 75. 52 Ebd., 76–78. 53 Ebd., 81–82. 54 Ebd., 82–84.

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nis kommt Levi –, sondern „sie sprechen nur an ihrer Statt, nur als Vertreter“. Die Geschichte, die sie zu erzählen haben, ist „eine Rede ‚im Namen dritter Parteien‘“, nicht der Bericht über Erfahrungen, die sie selbst durchlebt haben. Diejenigen, die das Schlimmste erleben mussten, blieben verschwunden; ihre Geschichten blieben unausgesprochen und ungehört. Was die betrifft, die überlebt und für sie zu sprechen versucht haben, „kann ich überhaupt kein Verhältnis sehen“, schloss Levi, „zwischen dem Vorrecht [des Überlebens] und dessen Resultat. … Wir, die wir vom Schicksal begünstigt wurden, versuchten, … nicht nur von unserem Schicksal zu erzählen, sondern auch von dem anderer, dem der Untergegangenen; aber … die vollständige und endgültige Zerstörung wurde von niemandem erzählt“.55 Unter Berücksichtigung dieser Worte scheint es klar zu sein, dass Levi beim Verfassen seines letzten Buches unter einem verspäteten Gefühl seiner eigenen Unzulänglichkeit als überlebender Zeuge gelitten hat. Wurde er auch dazu bewogen, den Wert seines eigenen Überlebens in Frage zu stellen? Wir werden das wohl nie genau wissen. Die Zeugnisse seiner Freunde sind oft widersprüchlich und daher nicht beweiskräftig. Trotz der Suche nach definitiven Antworten findet man in seinen Veröffentlichungen nichts. Es wäre nützlich, wenn es andere Quellen gäbe, die Hinweise auf die besondere Eigenart seines Denkens in den letzten Jahren seines Lebens geben und sein Ende vielleicht erhellen könnten; aber bisher sind solche Quellen noch nicht aufgetaucht. Und so bleibt die Frage, die so wichtig wie sie beunruhigend ist, offen. Es war mein Vorrecht, ein Freund Primo Levis in seinen letzten Jahren zu sein, und ich führte eine ausgedehnte Korrespondenz mit ihm von 1980 an bis nur einige Tage vor seinem Tode im April 1987. Dieser Briefwechsel allein kann das Problem seines Todes nicht lösen. Aber einige dieser Briefe sind nützlich aufgrund dessen, was sie uns über die sorgenschwere Seite des Lebens von Primo Levi in seinen letzten Jahren mitteilen können. In einem Brief an mich vom 15. September 1985 bezog sich Levi in dieser Weise auf sein in Arbeit befindliches „Essay-Buch“: „Sein Titel wird „I Sommersi e i Salvati“ sein („Die Untergegangenen und die Geretteten“); dies ist ein stillschweigendes Zitat aus Dantes Inferno (XX: 3), das ironisch verstanden werden soll: Die Geretteten sind nicht diejenigen, die in einem theologischen Sinn die Erlösung verdienten, sondern eher die Schlauen, die Gewalttätigen, die Kollaborateure“. Levi selbst war kein brutaler oder hinterlistiger Mann und gehört nicht in diese ironische Kategorie der unverdient „Geretteten“, aber es gelang ihm, Auschwitz zu überleben, und in seinem späteren Leben hat er dafür gelitten. Das Leiden wurde verstärkt durch Angst und immer wiederkehrende Depressionen. Als ich ihn im Frühjahr 1981 in Italien sah, war er guten Mutes; aber als ich anderthalb Jahre später einen zweiten Besuch vorschlug, hatte sein Zustand sich geändert. In einem Brief vom 14. Januar 1983 schrieb er: 55 Ebd., 83–84. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 185

Dein Vorschlag, mich in den nächsten Monaten zu besuchen, hat mich berührt, aber er brachte mich auch aus dem Gleichgewicht. Ich hoffe, ich hoffe wirklich, bald in der Lage zu sein, dich wiederzusehen und mit dir zu sprechen, aber zur Zeit leide ich unter einer Depressionsperiode (nicht meine erste; ich glaube, diese Zustände sind ein Erbe aus dem Lager). Ich hoffe, dass du nie solche seelischen Stimmungsschwankungen erfahren musstest; sie sind schmerzvoll und hemmen den Gedankenfluss, sie hindern mich nicht nur daran, zu schreiben, sondern auch zu fahren oder zu reisen. Natürlich werde ich medizinisch versorgt, aber ich kann nicht sagen, wielange das anhält. … Wirst du mich entschuldigen? Wenn du wieder in Europa bist, werde ich vielleicht wieder OK sein, aber ich kann nichts voraussehen oder im voraus planen.

Es ist allgemein bekannt, dass Levi unter Depressionsperioden litt, aber ich kenne kein anderes Dokument, in dem er dieses Leiden mit seiner Zeit im Lager in Verbindung bringt. Wie er diese Verbindung genau verstanden hat, ist unklar; aber es ist von großer Bedeutung, dass Levi etwa vier Jahrzehnte nach seiner Befreiung Auschwitz als etwas ansah, das immerwährend einen solchen überwältigend negativen, kräftezehrenden Effekt auf sein Leben ausübte. Welche positiven Wirkungen die medizinische Behandlung auf ihn auch gehabt haben mochte, so ging der Zustand der Abgeschlagenheit und der Lähmung seiner kreativen Fähigkeiten, die Levi beschreibt, keineswegs schnell vorbei. Am 23. April 1983 schrieb er mir: „Mein Zustand der allgemeinen Ermüdung hat sich leicht verbessert, aber ich bin noch nicht zufrieden. Ich bemerke Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, besonders beim Schreiben. Ich habe mir kaum etwas so intensiv gewünscht, wie ganz schnell zu meiner normalen Verfassung zurückzukehren“. Diese bestimmte Depressionsperiode dauerte sieben Monate; dann, Ende Mai, löste sie sich. Am 3. August 1983 schrieb er mir: „Man fühlt sich wie neugeboren! Obwohl ich jetzt ganz normal lebe, fehlt es mir aber an Ideen, und im Augenblick ist meine Tätigkeit auf eine oberflächliche Zusammenarbeit mit der örtlichen Zeitung reduziert“. Kurz danach begann Levi damit, die Essays zu schreiben, die The Drowned and the Saved ausmachen sollten. Er arbeitete zügig, und bis spätestens September 1985 hatte er sechs von den zehn oder zwölf Essays, die er für das Buch ursprünglich geplant hatte, vollendet (Brief vom 15. September 1985). Er fügte zwei weitere Stücke hinzu (der veröffentlichte Band sollte eigentlich insgesamt acht Essays umfassen) und schrieb mir am 16. Januar 1986 in einer im ganzen lebensfrohen Stimmung: „Genau heute habe ich Einaudi mein Essay-Buch übergeben“. Ursprünglich hatte Levi dieses Buch als eine Soziologie des Lagerlebens geplant (Brief vom 8. Mai 1985); aber wie sehr wir auch diesen Aspekt des Buches schätzen mögen, werden wir doch veranlasst, sein letztes Buch in einer anderen Weise zu lesen – nämlich sowohl als tiefsinniges Selbstportrait eines Überlebenden des Holocaust als auch als Zeugnis seines Abschieds vom Schreiben. In demselben Brief, in dem er erwähnte, dass er das Manuskript gerade seinem Verlag hatte zukommen lassen, hatte Levi für mich auch eine englische Übersetzung seines Gedichtes „The Survivor“ abgetippt. Die folgenden Zeilen aus Coleridges The Rime of the Ancient Mariner (Die Ballade vom alten Seemann), leiten als Epigramm The Drowned and the Saved ein: 186 | 

Kapitel 7

Since then, at an uncertain hour, That agony returns: And till my ghastly tale is told, This heart within me burns. Seit dieser Zeit, zu ungewisser Stunde, kehrt jene Agonie immer wieder: Und bis meine grauenhafte Geschichte erzählt ist, brennt dieses Herz in mir.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Levi sich mit dem alten Seemann identifiziert hat. Die Figur des gespenstischen Geschichtenerzählers, der leidenschaftlich nach Zuhörern sucht, versinnbildlichte für ihn den Autor als überlebenden Zeugen, der unter dem Zwang steht, seine Erfahrung außerordentlicher Ereignisse zu berichten. Das Syndrom des Überlebenden, der unter dem Zwang steht zu erzählen, ist jedoch äußerst problematisch; denn es bringt den Erzähler immer wieder zu der Erinnerung an seine traumatische Vergangenheit zurück, ohne ihn davon zu befreien. Es setzt ihn auch der Gefahr aus, eine Geschichte eindringlich zu erzählen, die andere vielleicht gar nicht hören wollen. Ein solcher Autor sieht sich einer dreifachen Gefahr gegenüber: Durch sein Erzählen und Wiedererzählen erschöpft er vielleicht die Antriebskraft seines erzählerischen Impulses; oder er wird möglicherweise durch die an ihn gestellten Anforderungen erschöpft; oder er leidet vielleicht unter dem Gefühl der Zurückweisung, weil er befürchtet, die beabsichtigten Zuhörer nicht zu erreichen. In gewissem Maße litt Levi am Ende seines Lebens unter all diesen drei Konsequenzen. Zusätzlich litt er unter einem Schuldgefühl, das nur andere Überlebende richtig verstehen können. Levi muss The Drowned and the Saved, zumindest teilweise, deshalb geschrieben haben, um seine Schuldgefühle zu beruhigen – diese waren aber nicht zu beruhigen. Er glaubte, er habe ein „hartes“ Buch geschrieben, und erwartete nicht, eine breite Leserschaft zu erreichen (Brief vom 30. Juni 1986). Tatsächlich aber fand das Buch eine beträchtliche und aufnahmebereite Leserschaft in Italien. Trotzdem war Levi beunruhigt von der – seiner Meinung nach – Nutzlosigkeit seiner Bemühungen. Er schrieb seinem Freund Dan Vittorio Segre: „Das Problem ist, dass die Leute, die dieses Buch lesen und verstehen, es nicht brauchen, und die, die es brauchen, es nicht verstehen“. Beim Nachdenken über diese Worte Levis nach seinem Tod äußerte Segre den Gedanken, dass „die Art seines Todes deshalb so war, weil er entweder nicht mehr sprechen oder nicht mehr verstanden werden konnte“.56 Es gab andere erschwerende Umstände – zu viele, um sie auf die leichte Schulter zu nehmen. Einige davon beschrieb Levi mir in einem Brief vom 30. Juli 1986: „Unsere familiäre Situation hat sich plötzlich verschlechtert. Vorigen Montag hatte meine Mutter einen Schlaganfall und ist jetzt im Krankenhaus. … Die Zukunftsaus56 „A Romantic Grows Up“, an interview with Dan Vittorio Segre, Jerusalem Post International Edition, 5. September 1987. Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 187

sichten sind völlig unklar, aber in ihrem Alter (91) ist die Hoffnung auf Genesung praktisch gleich Null“. Er schloss den Brief mit diesen Worten: „Entschuldige diese knappe Nachricht. Ich hoffe, das nächste Mal, wenn sich alles geklärt hat, ruhiger und ausführlicher zu sein“. Es hatte sich nichts geklärt, sondern es wurde im Gegenteil offenbar schlimmer. Mehrere Monate vergingen, ohne dass mich aus Italien eine Nachricht erreicht hätte. Dann erhielt ich den folgenden Brief vom 29. März 1987: Lieber Alvin, danke für Deinen Brief vom 13. März und für den ausgezeichneten Essay, den Du beigefügt hast. Ja, wir haben eine ganze Zeitlang nichts mehr voneinander gehört: Es ist meine Schuld, oder ich war zumindest das fehlende Glied in der Kette. Meine Familie ist zweimal getroffen worden, und zuhause sieht es ziemlich schlecht aus: Meine Mutter, 92, ist für immer gelähmt und liegt im Bett, und ich kam gestern nach einem schweren chirurgischen Eingriff vom Krankenhaus nach Hause. Hauptsächlich aber leide ich aufgrund all dieser genannten Probleme an einer ernsten Depression, von der ich mich trotz aller Anstrengungen nicht befreien kann. Bitte entschuldige diese knappe Nachricht; allein schon das Briefeschreiben ist eine Qual für mich, aber ich habe einen starken Genesungswillen. Sehen wir mal, was die nächsten Monate uns allen bringen; aber mein augenblicklicher Zustand ist der schlimmste, den ich je durchgemacht habe – Auschwitz eingeschlossen. Meine besten Wünsche für Deine Europaraeise im Sommer, und herzliche Grüße an Deine gesamte liebe Familie und an Dich. Primo

Dieser Brief erreichte mich am 9. April 1987. Zwei Tage später erfuhr ich, dass Primo Levi tot war. Der Tod eines großen Autors hinterlässt eine Lücke im Bewusstsein, die wir nicht zu füllen wissen. Wir erweisen den Toten unseren Respekt und nehmen andere Formen des persönlichen Zeugnisses und der öffentlichen Anerkennung zu Hilfe; aber welchen zeremoniellen und therapeutischen Wert diese Gesten auch haben mögen, so erkennen wir doch, dass sie nicht genug sind. Wenn es sich, wie in diesem Fall, um Tod durch eigene Hand handelt, werden wir doch auch sehr dazu bewogen, nach Erklärungen zu suchen. Primo Levi hat einen solchen Respons vorausgeahnt und gab in The Monkey’s Wrench eine vorsichtige Warnung davor: „Wenn jemand stirbt, … dann sagen danach alle, dass sie es haben kommen sehen. … Nach dem Unglück mussten alle ihren Kommentar dazu geben. … Wenn ein Mensch stirbt, dann … muss offensichtlich ein Grund vorgelegen haben, aber das heißt nicht, dass es nur einen einzigen Grund gab, oder wenn es nur einen einzigen Grund gab, dass es auch möglich wäre, ihn zu entdecken“.57 Während seines Lebens hat Primo Levi Schmerzhaftes im Übermaß erfahren, und es wäre töricht, seinen Tod auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Es besteht kein Zweifel daran, dass er aufgrund seiner Erlebnisse im Krieg die Qual traumatischer Erinnerungen durchlitt und dass er durch sein Schreiben sowohl Klarheit als auch Erleichterung suchte. Heute ist deutlich, dass er mehr vom Ersteren als vom 57 Primo Levi, The Monkey’s Wrench (New York: Penguin Books, 1987), 118–119.

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Kapitel 7

Letzteren fand. Was seine literarischen Erfolge angeht, waren die Ergebnisse seiner Bemühungen enorm und werden auch die Zeiten überdauern. Im Hinblick darauf aber, wie all das zu Lasten seines geistigen und seelischen Wohlbefindens ging, gibt es nur wenige unter uns mit einem genügend großen Einfühlungsvermögen, die das Ausmaß seines inneren Leidens ermessen könnten. Am Ende waren der Schmerz und die Angst seines Lebens einfach zu groß, und sie überwältigten ihn. Seine Bücher bleiben: Sie sind ein unerreichtes Zeugnis von Widrigkeiten, die er erfuhr und die er überwand, und von noch anderen Widrigkeiten, die zu gewaltig waren, als dass der Überlebende ihnen hätte Widerstand entgegensetzen können.

Primo Levi: Der Überlebende als Opfer  | 189

Kapitel 8

Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész

Unser Aufenthalt dort setzte Zeitbomben in uns hinein. Von Zeit zu Zeit explodiert eine von ihnen. Und dann sind wir nichts als Leid, Scham und Schuld. … Eine dieser Bomben wird zweifellos zum Wahnsinn führen. Das ist unvermeidlich. – ELIE WIESEL1

Wie aus den vorigen Kapiteln hervorgehen müsste, zeigt eine sorgfältige Lektüre von Jean Améry und Primo Levi einen spürbaren Ton des Zweifels aufseiten des jeweiligen Autors in Bezug auf die Wirksamkeit eines Holocaust-Zeugnisses. Beide Autoren schufen außergewöhnlich wichtige Werke über das Wesen und die tiefgreifenden Auswirkungen der Nazi-Verbrechen gegen die Juden. Am Ende ihres Werdegangs waren sowohl Améry als auch Levi zu der Überzeugung gelangt, dass ihre Schriften den entscheidenden Effekt vermissen ließen, wenn nicht sogar dazu verurteilt waren, vollständig zu versagen. Andere überlebende Autoren haben über ähnliche Augenblicke des Zweifels geschrieben, haben es aber letztlich erreicht, von der Verzweiflung nicht übermannt zu werden. Das vorliegende Kapitel wird sich auf zwei dieser Autoren konzentrieren – Elie Wiesel und Imre Kertész – und untersuchen, was sie befähigt hat, dem Gefühl der Nutzlosigkeit, das Améry und Levi bedrückte, nicht zu erliegen und statt dessen bis ins achtzigste Lebensjahr und darüber hinaus weiterzuschreiben. Elie Wiesels Engagement bei der Bewahrung und Weitergabe der Erinnerungen an den Holocaust hat sein Lebenswerk im Hinblick auf ihn als Autor, Lehrer und weithin bekannten Intellektuellen in grundlegender Weise geformt. Wiesels Beitrag zur Zeugnisliteratur ist so wegweisend geworden, dass es praktisch unmöglich ist, dieses gesamte Textcorpus ohne seine Bücher und Essays zu betrachten. Von zentraler Bedeutung seines immer noch wachsenden Werkes sind einmal die Figur des Zeugen und zum anderen die Aufforderung, die Erinnerung wachzuhalten: „… unsere tiefe Überzeugung“, schreibt er in „Art and Culture after the Holocaust“ („Kunst und Kultur nach dem Holocaust“), ist, „dass jeder, der sich nicht in der aktiven Erinnerungsarbeit engagiert, ein Komplize der Henker ist; denn er verrät die Toten dadurch, dass er sie und ihr Zeugnis vergisst“.2 Aus einer solchen Überzeugung heraus schrieb der junge Wiesel seine jetzt berühmten Erinnerungen an Auschwitz und Buchenwald und der reife Autor die meisten seiner darauf folgenden Bücher. Er schreibt in „Why 1 Das Epigramm ist aus Elie Wiesel, The Accident, übers. Anne Borchardt (New York: Hill and Wang, 1962), 105. 2 Eva Fleischner, Hg., Auschwitz: Beginning of a New Era? (New York: Ktav, 1977), 409. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 191

I Write“ („Warum ich schreibe“): „Die einzige Rolle, nach der ich gesucht habe, ist die des Zeugen. … Ich wusste, dass diese Geschichte erzählt werden musste. Eine Erfahrung nicht weiterzugeben bedeutet, sie zu verraten; das lehrt uns die jüdische Tradition“.3 Mehr als alles andere hat die Treue zu dieser Tradition – und insbesondere die Treue zu ihrer Forderung, die Erinnerung wachzuhalten – Wiesel als Autor und als Jude (in seinem Fall sind die beiden Aspekte untrennbar) beflügelt und definiert. Wie Améry und Levi hat aber auch Wiesel Zeiten der Niedergeschlagenheit erlebt, die aus dem Eindruck kamen, dass die Öffentlichkeit in ihrer Gesamtheit einfach nicht daran interessiert sei, das, was er zu sagen hatte, aufzunehmen. Man spürt diesen niedergeschlagenen Ton in vielen seiner Werke einschließlich – und das erstaunt – seines allerersten Buches, das folgende Schlusszeilen enthält: „Heute, zehn Jahre nach Buchenwald, ist mir klar geworden, dass die Welt vergisst. … Die Vergangenheit ist ausgelöscht, begraben. … Bücher üben nicht mehr die Macht aus wie früher. Diejenigen, die gestern schwiegen, werden auch morgen stumm bleiben“.4 Die meisten Leser von Night werden diese Zeilen nicht kennen, denn sie erscheinen nicht in der englischen Übersetzung von Un di velt hot geshvign (Und die Welt hat geschwiegen), das ursprünglich auf Jiddisch herausgekommen ist. Wer diesen Text liest, wird entdecken, dass Wiesel von Anfang an – obwohl er dabei war, ein Buch zu schreiben, das innerhalb des Corpus der Zeugnisliteratur kanonischen Status bekommen sollte – ein Gefühl des Pessimismus hinsichtlich der Wirksamkeit eines solchen Werkes zum Ausdruck brachte. Dieser Pessimismus hatte seine Wurzeln zum Teil in seinen persönlichen Zweifeln in Bezug auf seine Fähigkeiten als Autor. Waren diese ausreichend, um die Ungeheuerlichkeit dessen, was er erlebt hatte, zu beschreiben? Es setzte ihm sehr zu, dass sie dies vielleicht nicht vermochten. Seine gravierendsten Zweifel jedoch betrafen seine Leserschaft: Denn selbst wenn er sich als Autor als fähig erweisen sollte, wieviele Menschen würden seinen Bericht wirklich hören wollen? Längst nicht genug, fürchtete er. „War es nicht ein Fehler, Zeugnis abzulegen?“ fragt er in One Generation After (Eine Generation danach). Er antwortet, in ziemlich verzweifeltem Ton: „Man hat nichts gelernt; Auschwitz hat nicht einmal als Warnung gedient“.5 Die Schlüsse, die Wiesel dann aus diesen melancholischen Gedanken zieht, sind denen vergleichbar, die man in den späten Werken von Améry und Levi findet: Wenn der Zeuge zufällig auch Erzähler ist, dann bleibt bei ihm ein Gefühl von Ohnmacht und Schuld. Es war nämlich ein Fehler, sich anderen aufzudrängen, eine Welt zu belästigen, die davon gar keine Notiz nehmen wollte. Es war falsch, die Türen des in Flammen stehenden Heiligtums aufzustoßen; die Leute sahen gar nicht hin. Schlimmer noch: Viele schauten zwar in die Richtung, sahen aber nichts. So wird das Schreiben selbst in Frage gestellt.6 3 Rosenfeld und Greenberg, Confronting the Holocaust, 201. 4 Elie Wiesel, Memoirs: All Rivers Run to the Sea (New York: Alfred A. Knopf, 1995), 320. 5 Elie Wiesel, One Generation After, übers. Lily Edelman und Elie Wiesel (New York: Random House), 9. 6 One Generation After, 9–10.

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Kapitel 8

Das sind nüchterne, entmutigende Gedanken, die notwendigerweise zu der Frage führen: Was hat Wiesel denn nun über die Jahre hin befähigt weiterzuschreiben? Zweifellos eine ganze Reihe von Ursachen; vier aber heben sich als besonders wichtig heraus. Eine hat mit dem Temperament Wiesels, so wie er ist, zu tun: Er ist ein Mensch, der so denkt und handelt, wie er es aufgrund einer bestimmten intellektuellen Neigung, einer emotionalen Veranlagung und einer geistigen Verfassung unverwechselbar tut. Eine andere Ursache ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass er durch seinen Werdegang, durch Loyalität und Engagement ein gebildeter praktizierender gläubiger Jude ist und die Realität innerhalb der jüdischen historischen und begrifflichen Rahmenbedingungen kennt. Der dritte Punkt hat mit seinen ästhetischen Vorlieben zu tun. Und als vierten Punkt kann man seine spezifische Leserschaft und die Art ihres Responses auf sein Werk nennen. Der Faktor des Temperaments, also der persönliche Faktor, ist fast überall in Wiesels Œuvre zu spüren. Man findet ihn z. B. in dem Roman The Testament, in dem Paltiel Kossover, die Hauptfigur des Buches, erklärt: „Ich schreibe, weil ich keine andere Wahl habe“.7 Auch Wiesel selbst hat keine andere Wahl gehabt. Angesichts der ihm innewohnenden Notwendigkeit zu schreiben und im Hinblick auf seine eigene Geschichte als Holocaust-Überlebender weiß er, dass es ihm auferlegt wurde, von der Besonderheit seiner Erfahrungen unter der Naziherrschaft Zeugnis abzulegen und damit gegen das Vergessen anzukämpfen. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich wenig von Améry und Levi. In einem entscheidenden Punkt jedoch hebt Wiesel sich von diesen beiden Autoren ab: Im Unterschied zu ihnen hat er den Ursprung dieser Verpflichtung zu schreiben innerhalb der jüdischen religiösen Traditionen festgemacht, und er identifiziert seine Berufung als Autor mit den religiösen Forderungen des Judentums selbst. Mit seinen eigenen Worten: „Jude zu sein … bedeutet: Zeugnis abzulegen. Zeugnis abzulegen von dem, was ist, und von dem, was nicht mehr ist. … Für einen jüdischen Autor von heute kann es kein menschlicheres Thema, kein universelleres Projekt geben“.8 Améry und Levi hätten das nicht in dieser Weise ausgedrückt. Denn obwohl beide ihre Identität als Jude betonten, waren sie bei weitem mehr durch die Kultur der säkularen Aufklärung geformt als durch die jüdische Kultur; und die wichtigsten Fragen, die sie in Bezug auf die Nazi-Verbrechen stellten, deuteten auf eine Krise in den rationalistischen und humanistischen Traditionen der westlichen Moderne, durch die sie geformt worden waren. Jeder von ihnen dachte in seiner eigenen Weise mit großem Einfühlungsvermögen über das nach, was Améry „die Notwendigkeit und Unmöglichkeit, Jude zu sein“9 nannte, aber keiner von ihnen spürte eine nachhaltige Notwendigkeit, seine Erfahrungen während der Kriegszeit auf eine tiefere jüdische Bedeutung hin zu untersuchen. Ihre Aufmerksamkeit wurde 7 Elie Wiesel, The Testament, übers. Marion Wiesel (New York: Summit Books, 1981), 30. 8 One Generation After, 174. 9 At the Mind’s Limits, 82. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 193

auf etwas anderes gelenkt: Auf die Ursachen und Folgen des Nazi-Terrors, auf seine politischen, kulturellen und psychologischen Ursprünge und Verzweigungen, auf Fragen der individuellen und kollektiven Schuld und Verantwortung, auf komplexe Probleme von moralischem Kompromiss und ethischem Zusammenbruch: Kurz, auf die vielgestaltige Art und Weise, in der Hitlers Deutschland die Grundlagen der westlichen Zivilisation, wie sie sie kannten und wertschätzten, ausgehöhlt hatte. Beide Autoren fühlten sich tief verletzt und entwürdigt durch das, was sie in den Mordlagern durchlitten hatten, und sie fürchteten, dass diese Verletzungen sich als permanent erweisen würden. Sie könnten gemildert werden, wenn die für die Nazi-Verbrechen Verantwortlichen ihre Schuld bekennen und somit dazu beitragen würden, dass die Opfer dieser Verbrechen das notwendige Maß an intellektueller Klarheit und innerem Frieden finden könnten. Wie die späteren Schriften von Améry und Levi zeigen, forderten beide Autoren Verständnis und Gerechtigkeit, Haltungen, die sie beide aktiv suchten. Sie spürten, dass beides nur erreicht werden konnte durch eine schwierige, aber notwendige Begegnung mit den Menschen in Deutschland, die bereit waren, sich der Wahrheit der Vergangenheit ihres Landes zu stellen. Sie wurden jedoch enttäuscht und fast zur Verzweiflung getrieben durch die – wie sie es sahen – fehlende Bereitschaft Nachkriegsdeutschlands, ehrlich in eine solche Aufarbeitung einzutreten. Diese Sorgen erscheinen auch in Wiesels Werk, sie sind aber, zumindest in seinen wichtigsten Schriften, nicht von zentraler Bedeutung. Er suchte nicht so sehr die Wiedergutmachung vonseiten der Deutschen, sondern Wiesels nachhaltiger und leidenschaftlicher Hader war der mit dem Gott Israels, dessen scheinbare Abwesenheit während der Jahre, in denen das Volk Israel unterjocht und abgeschlachtet wurde, ein unlösbares Geheimnis und ein unerträglicher Affront gewesen sind. Dieses Geheimnis zu durchdringen und dem Affront zu begegnen, das gehörte zu den Hauptzielen seines Lebens. Solche theologischen Probleme spielen in den Schriften von Améry und Levi praktisch keine Rolle. Sie beide waren vom Prinzip her nicht religiös und suchten Erklärungen für ihre Erfahrungen in der Kriegszeit innerhalb der Hauptkategorien des europäischen Denkens. Sie fanden sie jedoch nicht; denn Auschwitz trotzte den rationalen und ethischen Traditionen der Kultur, durch die sie geformt worden waren, und unterhöhlte sie. In Amérys denkwürdiger Formulierung: „Keine Brücke führte vom Tod in Auschwitz zum Tod in Venedig“.10 Wiesels kulturelle Formung ist davon deutlich verschieden gewesen. Zwar hat er seit seinen Nachkriegsjahren in Frankreich bis heute sowohl Einflüsse der europäischen Literatur und Philosophie als auch Elemente einiger der heiligen Schriften des Hinduismus in sich aufgenommen, aber in seinem Innersten ist Wiesel von Grund auf das Produkt einer ganz anderen Welt – nämlich des ungarischen Chassidismus und seiner Bildungs- und Frömmigkeitstraditionen –, und deshalb hat er die Herausforderungen des Holocaust in völlig anderer Weise eingeordnet. Die 10 Ebd., 16.

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Kapitel 8

Krise, der er sich gegenüber sah, ist nicht in erster Linie eine Krise des Denkens – zumindest nicht in den moderen kartesianischen Begriffen – sondern eine des Glaubens. Die Grundlage dieser Krise ist nicht so sehr im Schweigen der Deutschen zu suchen, sondern in dem Schweigen Gottes. In jedem Buch hat er versucht, dieses Schweigen zu ergründen und den seelischen Schmerz und die mit ihm einhergehenden Dilemmata vernehmbar zu machen. Sein suchendes Bemühen hat ihn auf einen Weg der umfassenden Erforschung jüdischer religiöser Texte geführt und hat ihn innerhalb dieser Texte eine Sprache entdecken lassen, mit der er eine leidenschaftliche, manchmal konfrontative Begegnung mit Gott zu finden suchte. Es ist eine fordernde und schwierige Suche, aber sie hat ihm als Autor seit fast sechs Jahrzehnten Kraft verliehen und ihm eine bestimmte Richtung gewiesen. Diese Suche hat ihn auch gelehrt, dass er nicht allein ist; denn die Fragen, die er aus innerem Antrieb formuliert hat, haben Wiesel in eine Tradition der Gottsucher und der mit Gott Ringenden hineingestellt, eine Tradition, die weit zurückgeht auf den Bericht über die Opferung Isaaks (Akedah) und auf die Prüfungen des Hiob. „Alles scheint mich zu jüdischen Erinnerungsinhalten zurückzubringen“, bekennt er. „Jeder, dem ich dabei begegne, ist ein alter Bekannter“.11 So hat Wiesel als Autor also Optionen entdeckt, die Améry und Levi weitgehend verschlossen waren, darunter etwa die Hinwendung zum Midrasch, der ihn befähigt hat, spätere Erfahrungen auf dem Hintergrund früherer zu interpretieren. Seine Fragen aber bleiben, und es kann sein, dass er immer noch die Schlussfolgerung zieht, dass, „wenn Gott die Antwort ist, dann muss es die falsche Antwort sein“, aber er weiß auch, dass er, wenn er diese Frage stellt, eine Tradition der Befragung aufrechterhält, die seine Identität bestätigt: „Für mich sind der Jude und sein Fragen ein und dasselbe“.12 So wie hier hat Wiesel als Autor bestimmte ästhetische Wahlmöglichkeiten genutzt, die ihn von den anderen Autoren, die wir betrachtet haben, unterscheiden und die ihm im Gegensatz zu diesen die Mittel an die Hand gegeben haben, seine Arbeit fortzusetzen. Sowohl Améry als auch Levi haben sich z. B. in fiktionaler Literatur versucht, aber der größte Teil ihrer Werke ist durch die eher persönlichen Formen der Memoiren und essayistischen Reflexion charakterisiert. In diesen literarischen Formen haben sie Hervorragendes geleistet, aber sie konnten damit, wenn überhaupt, nur wenig Distanz zu sich selbst gewinnen. Wenn sie z. B. über Traumata schrieben, dann waren es ihrer eigenen, und das Schreiben darüber muss sie in gewissem Maße immer wieder aufs neue traumatisiert haben. Wenn Améry erklärt und Levi sich dem anschließt, dass „derjenige, der gefoltert wurde, ein Gefolterter bleibt“,13 dann bezieht er sich damit auf seine eigenen Erfahrungen als Opfer von Nazi-Gräueltaten, obwohl sein Einblick in die Phänomenologie der 11 One Generation After, 231. 12 Ebd., 166, 165. 13 At the Mind’s Limits, 34. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 195

Tortur durchaus alle einbezieht, die solchen Grausamkeiten unterworfen wurden. Was solche Texte so lebendig macht, aber für den Autor auch so aufwändig, das ist gerade das subjektive oder eben auch das autobiographische Element. Weil er unmittelbar in persönlichen Erfahrungen wurzelt, kann ein Text dieser Art eine Ebene zeugnisstarker Autorität erreichen, auf die andere Schriften nicht so leicht gelangen. Aber der Autor zahlt dafür einen hohen Preis. „Nach Auschwitz bringt uns alles nach Auschwitz zurück“, wie Wiesel es ausgedrückt hat.14 Das trifft besonders auf diejenigen zu, die in persönlichem, sehr bekenntnishaftem Ton über ihre Lagererfahrungen schreiben. Als Erinnerungsbericht in der Ich-Form ist Wiesels erstes Buch in einem solchen Ton verfasst worden, in seinen späteren Werken ist er jedoch oft zu fiktionalen Texten übergegangen, wodurch er ein Mittel gefunden hat, viele der Themen, die zuerst in Night (Nacht) behandelt worden sind, durch das Medium anderer Stimmen als nur seiner eigenen zu entwickeln. Wenn man im Rahmen weniger persönlicher Genres schreibt, kann das gleichsam ein rettender Vorteil sein. Menschlicher Schmerz mag dann immer noch stark wahrgenommen werden, aber man stellt sich dann vor, dass es sich um den Schmerz eines anderen handelt: So etwa Elishas Schmerz in Dawn (Morgendämmerung), Gregors in The Gates of the Forest (Die Tore des Waldes) oder Elhanan Rosenbaums in The Forgotten (Die Vergessenen). Wie es bei vielen von Wiesels Büchern der Fall ist, so sind auch diese Romane in Aspekten der persönlichen Geschichte des Autors verwurzelt, aber dadurch, dass der Blick dahingehend abgelenkt wird, dass die Geschichten fiktional und nicht autobiographisch sind, beruhen sie auf der Entwicklung der literarischen Figuren, die aber trotz der Fiktionalität nicht weniger wahr sind. Wiesels Protagonisten sind oft darauf bedacht, Möglichkeiten zu finden, um nach einer langen und schlimmen Begegnung mit dem Tod wieder ins Leben zurückzufinden. Bei diesem Bemühen um Rückgewinnung verfolgen sie Spuren ihres früheren Lebens und versuchen, wenn auch nur zum Zweck der Erinnerung, auch noch so kleine Reste einer Vergangenheit zu retten, die ihnen teuer war, von der sie aber wissen, dass sie zerstört ist. Auf diesem Weg mischen sie sich häufig unter Geisteskranke und Mystiker, Bettler und Träumer, Dichter und Stumme, Kinder und Totengräber-Figuren, denen sie auch manchmal zunehmend ähneln. Was praktisch all diesen Figuren gemeinsam ist, das ist, dass sie zum großen Teil prärationale oder auch postrationale Typen sind, „Boten Gottes“, wie Wiesel sie manchmal nennt. Dadurch, dass Wiesel seine fiktionalen Welten mit diesen Figuren bevölkert und sie mit tiefgründigen intuitiven Einsichten ausstattet, hat er seine Schriften einer ganzen Bandbreite imaginativer Intensität geöffnet – darunter Geisteskrankheit, Besessenheit, Träumerei, Phantasterei, Paradoxon und Gebet –, die ein geistiges Vokabular umfasst, das Améry und Levi grundsätzlich unbekannt ist. Die letztgenannten Autoren werden wegen der klarsichtigen und disziplinierten Art und 14 „Why I Write“, Confronting the Holocaust, 205.

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Kapitel 8

Weise gelobt, in der sie Auschwitz beschrieben und versucht haben, das Geschehen dort zu verstehen, aber diese Klarsichtigkeit konnte sie nur so weit bringen, und an einem bestimmten Punkt gelangten sie an die Grenzen des Denkens, über die hinaus sie nicht weitergehen konnten. Wenn man diese kognitive Pattsituation zusammen mit der Entmutigung betrachtet, die sich bei ihnen deswegen eingestellt hatte, weil, wie sie glaubten, ihre intellektuellen und literarischen Bemühungen die Menschen, die diese Bemühungen am meisten nötig hatten, einfach nicht interessierten, dann kann man verstehen, dass sie allmählich ihre Arbeit als letztlich irrelevant einschätzten. Wir wissen natürlich, dass ihre Arbeit alles andere als das war, und wir schätzen sie sehr für das, was sie geschrieben haben; denn ohne ihre Werke wäre unser Begriff von Auschwitz und den Folgen sehr limitiert. Trotzdem fühlten sich Améry und Levi in ihren letzten Jahren außerhalb der jüngeren Generationen in Europa und hielten sich für anachronistische Randfiguren, die ihr Bestes versuchten, aber letztlich ungehört blieben. Wie bereits bemerkt, hat Wiesel in Bezug auf seine Arbeit ebenfalls ein Gefühl der Nutzlosigkeit erfahren und hat zuweilen Reue darüber ausgedrückt, dass er überhaupt geschrieben hat: „Der Überlebende … hat versucht, Zeugnis abzulegen; es war aber alles umsonst“, gestand er einmal. Und an anderer Stelle sagte er: „Die Zeugen würden sprechen“, aber „es ist zwecklos“.15 In solchen Augenblicken war er versucht, auf das Sprechen und das Schreiben überhaupt zu verzichten. Dem Schweigen nachzugeben würde jedoch bedeuten, dass man der Verpflichtung, für die Toten zu sprechen, nicht nachkäme und dass man damit zuließe, dass der Henker das letzte Wort hat. Das wäre dann ein Akt sowohl des Verrats als auch der Verzweiflung; denn: „Jude zu sein bedeutet, nicht zu verzweifeln, selbst wenn es gerechtfertigt erscheint“.16 Das, was Wiesel also aufrechterhalten hat, ist mit seiner eigenen geistigen Orientierung sowohl auf seine jüdische Identität als auch auf sein Schreiben hin verknüpft. „Schreiben ist letztlich eine Glaubenshaltung“,17 hat er gesagt, und die Ausübung dieses Glaubens hat ihm die Überzeugung vermittelt, dass „der Ruf der Sterbenden gehört werden wird; wenn nicht heute, dann morgen. … Ein Testament ist nie verloren“.18 Diese Überzeugung ist in Wiesels Werk tiefer verwurzelt als der Zweifel und hat ihn seine Verantwortung als zeugnisablegenden Autor erkennen lassen. Durch sein Engagement, dafür Sorge zu tragen, dass sein Zeugnis gehört wird, ist Wiesels Werdegang ungewöhnlich produktiv gewesen: Er hat während des vergangenen halben Jahrhunderts etwa fünfzig Bücher herausgebracht und Hunderte von öffentlichen Vorlesungen vor Zuhörern überall in der Welt abgehalten. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass er es mit dieser Tätigkeit und auch in ande15 Ebd., 205. 16 Elie Wiesel, And the Sea Is Never Full: Memoirs, 1969–, übers. Marion Wiesel (New York: Alfred A. Knopf, 1999), 59. 17 Memoirs: All Rivers Run to the Sea, 321. 18 One Generation After, 19. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 197

rer Weise wahrscheinlich mehr als jeder andere Einzelautor der Nachkriegszeit erreicht hat, eine sehr große Anzahl von Menschen über das jüdische Schicksal unter der Nazi-Herrschaft gründlich zu informieren. Es ist ebenfalls keine Übertreibung, wenn man sagt, dass Elie Wiesel, Träger des Friedensnobelpreises und vieler anderer internationaler Auszeichnungen, einen Grad an globaler Beachtung und öffentlicher Anerkennung genießt, der von keinem anderen heute lebenden Juden erreicht worden ist. Diese herausragende Stellung ist das Ergebnis einer Reihe von Faktoren. Ein Faktor ist die Tatsache, dass sich Wiesel vor Jahren entschloss, sich in Amerika niederzulassen, und seine Berühmtheit zum großen Teil den Menschen in seiner Wahlheimat verdankt, die insgesamt offen sind für eine große Bandbreite kultureller Darstellungen des Holocaust – eine Offenheit, die er in einem gewissen Maße selbst geschaffen und erhalten hat. Obwohl die Amerikaner im großen und ganzen vielleicht weniger über die Geschichte des Holocaust wissen als die Europäer, haben sie sich viel weniger als die Menschen in Europa dagegen gesträubt, den Holocaust als eine Katastrophe anzuerkennen, die spezifisch auf die Juden zielte. Und im Hinblick auf die Juden sind die Amerikaner weniger durch eine schuldbeladene Geschichte belastet als die meisten Europäer. Viele identifizieren sich auch enger mit ihrem christlichen Glauben und lassen sich daher von Autoren ansprechen, deren Ringen mit Fragen der religiösen Überzeugung bei ihnen eine starke Resonanz auslöst. Aus diesen und anderen Gründen haben sie Wiesel viel bereitwilliger angenommen, als die Europäer die meisten jüdischen Autoren angenommen haben, die die Nazi-Todeslager überlebt haben und nach 1945 in Europa geblieben sind, um über ihre Erfahrungen während des Krieges zu berichten. Diese Frage der Rezeption in den jeweiligen Ländern kann unter anderem erklären, warum einige Autoren nach und nach ein starkes Gefühl der Nutzlosigkeit in Bezug auf ihre Arbeit bekommen haben, während andere in ihrer Arbeit als Autor nach wie vor Zweck und Sinn sehen. Zahlreiche Faktoren heben das Selbstwertgefühl und die kreativen Kräfte eines Autors oder drücken sie nieder; Akzeptanz oder Marginalisierung durch das eigene Land sind mit Sicherheit solche Faktoren. Man betrachte das Folgende: Jean Améry, in Österreich geboren, schrieb während seines Exils im französischsprachigen Brüssel weiterhin in seiner deutschen Muttersprache. Seine Bücher entstanden in Radiosendungen, die in Deutschland gehört wurden; aber er hatte bei den Deutschen nie die große Aufnahmebereitschaft gefunden, die er sich erhofft hatte. Und besonders in seinen letzten Jahren kam er zu dem melancholischen Schluss, dass sein Zeugnis es nicht vermocht hatte, diejenigen zu erreichen, die es am meisten nötig gehabt hätten, sich diesem Zeugnis zu stellen. In seinen späteren Lebensjahren genoss er einen beträchtlichen Bekanntheitsgrad in Italien und auch über die Landesgrenzen hinaus, aber auch er glaubte zunehmend, dass das, was er zu sagen hatte, sich immer mehr von der Interessenlage der jüngeren Generationen entfernte. Gegen Ende seines Lebens fühlte er sich völlig unbedeutend, nicht im Gleichklang mit anderen, unbeachtet. In Bezug auf 198 | 

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diese beiden Autoren scheinen Elie Wiesels Bemerkungen über den Suizid gramvoll zutreffend: „Nichts lässt einen Überlebenden mehr verzweifeln, als zu wissen, dass er nutzlos ist“.19 Es ist sehr traurig, dass Améry und Levi am Ende ihres Lebens das Gefühl hatten, dass sie nutzlos geworden waren. Und wie ist es mit Wiesel? Niemand, der in den Nazi-Lagern gewesen war und sie überlebt hat, um davon zu erzählen, kann mehr Widerstandskraft oder ein reicheres Schaffen vorweisen als ein Autor wie er. Im Hinblick auf sein bemerkenswertes literarisches Schaffen, das ihm weltweite Anerkennung eingebracht hat, ist er keineswegs marginalisiert worden und hat sich auch nie als nutzlos empfunden. Dennoch stellt man in seinen Büchern zuweilen eine grüblerische Stimmung von Niedergeschlagenheit und sogar Verzweiflung fest. Diese niederdrückenden Gefühle kommen in Wiesels Werk typischerweise dann in den Vordergrund, wenn das Sprechen durch Sprachlosigkeit und die Erinnerung durch Vergessen bedroht sind. Die Spannung zwischen diesen entgegengesetzten Kräften schafft Figuren, die sich im Hinblick auf die sprachlichen Hemmungen, die sie oft belasten, beim Leser sehr gut einprägen. Man betrachte z. B. Elhanan Rosenbaum in The Forgotten (1992).20 Er hat die Schrecken des Krieges in den Karpaten überlebt und lebt nun als pensionierter Professor in New York. Elhanan, tief melancholisch und chronisch deprimiert, ist das Opfer einer Vergangenheit, die ihn beständig quält. Er ist außerdem das Opfer einer seltenen Gehirnerkrankung, die sein Erinnerungsvermögen allmählich aushöhlt. „Was ist der Mensch ohne Erinnerung?“ fragt er. „Nicht einmal ein Schatten …“ (p. 247). Als Zeuge von Gräueltaten, die er mit seinen moralischen Überzeugungen als Jude nicht vereinbaren kann, ist er fest von dem Gedanken überzeugt, dass „vergessen verlassen und verleugnen bedeutet“ (p. 3); trotzdem vergisst er mehr und mehr, und er scheint nicht in der Lage zu sein, das fortschreitende Schwinden der Vergangenheit zu verhindern. In einer großen Anstrengung, das aus seinem früheren Leben zu retten, was er retten kann, drängt Elhanan seinen Sohn Malkiel, nach Feherfalu, in sein Heimatdorf in Transsylvanien, zurückzukehren und möglichst alles über die Ereignisse dort während der Kriegsjahre in Erfahrung zu bringen. Indem Malkiel sich in die Vergangenheit seines Vaters vertieft, wird er zu einem Mittler der Erinnerung und auch zu einem potenziellen Heiler der Wunden des Erinnerungsvermögens. Nach und nach erfährt er jedoch, dass „eine Erinnerungs-Transfusion“ (p. 151) vom Vater auf den Sohn unmöglich ist: Weder kann Malkiel die Vergangenheit seines Vaters zu seiner eigenen machen, noch kann er ihn von der Krankheit, die seinen Geist nach und nach zerstört, heilen. Was er aber tun kann, ist, sich durch Entdeckungen, die er in Bezug auf die Kriegserlebnisse seines Vaters und Großvaters macht, 19 And the Sea Is Never Full, 347. 20 Elie Wiesel, The Forgotten, übers. Stephen Becker (New York: Summit Books, 1992); Seitenzahlen bei Zitaten aus diesem Roman werden im Text des Kapitels in Klammern angegeben. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 199

in die Reihe seiner Vorfahren einzufügen. In dem Maße, wie Malkiel Wahrheiten über die Geschichte seiner Familie offenlegt, die er zuvor nicht kannte, erweist er sich immer mehr als der Sohn des älteren Rosenbaum, zwar nicht als die Inkarnation der Erinnerungen seines Vaters, aber als ein Zeuge aus eigenem Recht für die Zeugen, die entweder schon gegangen sind oder die bald verstummen. Wie in vielen seiner Bücher, so konzentriert sich Wiesel in The Forgotten darauf, die Dringlichkeit und moralische Wirkkraft des jüdischen Erzählens zu erforschen. Sein Ziel ist es, den Sprachlosen eine Stimme zu verleihen, die Geschichte der Toten zu erzählen und andere zum Zuhören zu bringen. Es ist allerdings unklar, ob er glaubt, dass dieses Ziel wirklich erreicht werden kann. Hat er die Kraft, den Toten eine Stimme zu geben, und wenn ja, gibt es dann überhaupt diejenigen, die sie wirklich hören wollen? Diese Frage erscheint schon in Wiesels erstem Buch, Night, und ist über die Jahre hin immer dringlicher geworden. In The Forgotten wird sie durch die beiden einprägsamsten Figuren des Buches repräsentiert. Eine von ihnen ist Hershel, der letzte verbleibende jüdische Totengräber von Feherfalu, dessen Gabe, Geschichten zu erzählen, aus der Nähe zu den Toten stammt. Hershel hat nichts aus der Vergangenheit vergessen. Die Toten sind sogar seine größere Familie, und seine Vertrautheit mit ihnen fördert sein Erinnerungsvermögen und beseelt seine Stimme. Elhanan hingegen repräsentiert das jüdische Bewusstsein in der Zeit nach dem Holocaust in seiner grüblerischsten Ausprägung – der Erzähler wird angstvoll festgehalten am Rande der erzählerischen Unfähigkeit. Elhanan kann die Kluft zwischen den Anforderungen der Erinnerung und der Verarmung seiner Sprache nicht überbrücken und ist daher eine Figur voller Verzweiflung. Während er zunehmend von den Toten, die in ihm wohnen, entnervt wird, fragt er sich, ob „das Vergessen nicht vielleicht schlimmer ist als das Sterben“ (p. 113). Das Vergessen hat auch seine Tugenden, wie Nietzsche wusste, und wie dieser Roman in seinen Höhepunkten deutlich macht; es ist aber unwahrscheinlich, dass der Autor von The Forgotten, dessen gesamtes literarisches Corpus ein Zeugnis der Erinnerung ist, nun Nietzscheaner geworden ist und sich solche Tugenden zu eigen machen will. Vielmehr erkennt man in Wiesels Werk Besorgnisse der Art, die Primo Levi in The Drowned and the Saved zum Ausdruck brachte, indem er über den langsamen Verfall des historischen Bewusstseins und das „physische Vergessen, dem nur wenige Erinnerungen widerstehen“ können, schrieb. Elhanan betet darum, dass seinen eigenen Erinnerungen ein solches Vergessen erspart bleiben möge; aber spätestens am Ende des Buches ist es offensichtlich, dass sein Gebet nicht erhört werden wird und dass seine Geschichte, wenn überhaupt, nur durch die intellektuellen und geistigen Anstrengungen seines Sohnes bewahrt werden wird. Das bedeutet jedoch, dass der Generation der Söhne eine außerordentlich schwere Last der Verantwortung aufgebürdet wird; und wie The Forgotten durch den Ton der Unausweichlichkeit, der schon im Titel anklingt, deutlich macht, ist es alles andere als sicher, dass die Nachfolgegeneration in der Lage oder willens sein wird, eine Vergangenheit zu bewahren, die sie vielleicht nicht als ihre eigene empfindet. 200 | 

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Was wird dann letztlich aus der jüdischen Erinnerung werden? Diese Frage bildet mehr als alles andere den Kern des literarischen Schaffens von Elie Wiesel. Wenn man nämlich ein einheitliches Anliegen identifizieren sollte, das sein umfangreiches und verschiedenartiges Œuvre durchzieht, dann wäre es seine Konzentration auf Erinnerung – ihre historische Kraft und Notwendigkeit, ihre moralischen und ethischen Verpflichtungen, aber auch ihre Gebrechlichkeit, ihre Schwächen und ihre Verletzbarkeit der Entstellung und Ausbeutung gegenüber. Mehr als die meisten Autoren hat Wiesel die Erinnerung als seine Aufgabe gesehen, die Vergangenheit wachzuhalten, und zwar sowohl als Tribut an die Toten als auch als Warnung an die Lebenden. „Wenn es ein einzelnes Thema gibt, dass all mein Schreiben, all meine Besessenheit beherrscht“, hat er einmal bemerkt, „dann ist es das der Erinnerung – denn ich fürchte das Vergessen genauso wie Hass und Tod“.21 Diese Besessenheit und die Ängste, die sie begleiten, werden in seinem neuesten Roman, A Mad Desire to Dance (2009) (Ein verrücktes Verlangen zu tanzen), wieder aufgenommen.22 Obwohl A Mad Desire to Dance nicht im eigentlichen Sinne ein Holocaust-Roman ist, so hat der Roman doch Anklänge an Wiesels frühere Bücher, die sich auf den Holocaust beziehen. Dennoch weicht er in mindestens zwei wichtigen Punkten von einigen seiner früheren Werke ab: Der knappe, wortkarge Erzählstil von Night und einigen anderen frühen Büchern des Autors macht in A Mad Desire to Dance einem beständigem Redefluss Platz, der zuweilen manisch ausufert; und dieser Redefluss wird wesentlich mehr von therapeutischen Notwendigkeiten vorangetrieben als von Notwendigkeiten des Zeugnisablegens. Während also der Erzählfluss oft zu den Erlebnissen der Kriegsjahre zurückkehrt, geschieht dies hauptsächlich, um Erleichterung von den Qualen der traumatischen Erinnerung zu suchen und nicht primär, um den größeren Zielen des historischen und moralischen Bewusstseins näherzukommen. Der Schwerpunkt liegt auf der Suche der Hauptfigur nach persönlicher tröstender Heilung. A Mad Desire to Dance ist überwiegend ein Roman, in dem viel geredet wird. Und sehr oft wird über Geisteskrankheit geredet. Allein auf der ersten Seite erscheinen mad („verrückt“) oder die nominalen Entsprechungen zwölf Mal. Zwei Seiten weiter werden dieselben Wörter zehn Mal gebraucht. Ihre Varianten – crazy („übergeschnappt“), disturbed („verwirrt“), insane („wahnsinnig“), nuts („bescheuert“), unbalanced („gestört“) usw. – kommen überall in dem Roman vor. Der Leser erfährt recht bald, dass Doriel Waldman, der Protagonist, „sich in den Wahnsinn rettet“ und entweder nicht in der Lage oder nicht willens ist, ihm zu entgehen. Sein Reden – mit sich selbst, mit seinem Psychotherapeuten, mit verschiedenen Menschen, die er auf seinen Reisen kennen lernt, zu dem Gott, den er inbrünstig zu verstehen sucht – ist häufig überdreht und auch nicht immer verständlich. Doriels 21 Elie Wiesel, From the Kingdom of Memory: Reminiscences (New York: Summit Books, 1990), 9. 22 Elie Wiesel, A Mad Desire to Dance, übers. Catherine Temerson (New York: Alfred A. Knopf, 2009). Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 201

Reden ist das Produkt überreizter Nerven, und der Leser braucht ruhige Nerven, um es in sich aufzunehmen. Untersuchungen des Wahnsinns kommen in vielen von Wiesels früheren Büchern vor, aber nicht in der ausführlichen, klinischen Art und Weise wie in diesem Roman. Daher stellt sich die Frage: Wer ist Doriel Waldman, und woran leidet er? Doriel weiß es selbst nicht; aber wir erfahren im Verlauf der Therapiesitzungen mit Thérèse Goldschmidt, seiner Psychoanalytikerin, dass er etwa sechzig Jahres alt ist, alleinstehend, ein Einzelgänger; dass er nicht arbeitet, nicht schlafen kann, furchtsam, empfindlich, argwöhnisch, nervös, leicht zu erschrecken ist; oft wütend, nicht gut aufgelegt und generell unwohl ist. Obwohl er Frauen anziehend findet, hat er auch Angst vor ihnen, und ein normales erotisches Verlangen bleibt ihm versagt. Was die Zeugung eines Kindes betrifft: „Ich habe immer geglaubt, dass meine Vergangenheit und der Zustand, in den sie mich gebracht hat, es mir nicht erlauben, Leben zu zeugen“ (p. 226). 1936 geboren, überlebte Doriel den Holocaust, indem er sich mit seinem Vater in einem kleinen polnischen Dorf versteckte. Seine Mutter, die er kaum kannte, war ein aktives Mitglied des Widerstandes und sah während dieser Zeit ihre Familie kaum. Doriels Bruder und Schwester sind in Polen ermordet worden. Seine Eltern überlebten zwar den Krieg, kamen aber bald danach bei einem Autounfall ums Leben. Doriel wird als jugendliche Waise von einem treusorgenden Onkel nach Amerika geholt und bemüht sich, in dem für ihn neuen Land einen neuen Anfang zu machen; aber er leidet an etwas, dessen Ursachen er nicht herausfinden kann, ist hauptsächlich funktionsgestört und sucht daher professionelle Hilfe bei Dr. Goldschmidt. Er hofft dabei, dass sie ihm helfen kann, „die Sprache und Logik meiner Krankheit“ zu verstehen“ (p. 259). Detailliert ausgearbeitete Berichte über Doriels Therapiesitzungen mit seiner Psychoanalytikerin und ihre ausführlichen Notizen werden kunstvoll entwickelt und geben dem Roman einen großen Teil seiner formalen Struktur und seines thematischen Interesses. Während seiner oft kontroversen Sitzungen mit Dr. Goldschmidt entdeckt Doriel lange unterdrückte Familiengeheimnisse, darunter auch Hinweise auf eine mögliche illegale Affäre seiner Mutter mit einem Widerstandskämpfer-Kameraden. Diese früher unterdrückte Information, so begreift er nach und nach, hat zu seinen emotionalen Problemen beigetragen und seine Beziehungen zu Frauen behindert. Dieses jetzt gelüftete Geheimnis erweist sich nun als befreiend. Nach Beendigung seiner Therapie erreicht er immer mehr Selbstsicherheit, umwirbt eine Frau und heiratet sie, ändert seinen Namen, und am Ende des Buches erfährt er, dass sie ein Kind erwarten. In der Schlusszeile drückt dieser einst freudlose, gehemmte Mann sogar „ein verrücktes Verlangen zu tanzen“ aus (p. 274). Insofern als dieses Buch größtenteils eine Erzählung über einen in sich gekehrten Menschen ist, der mit der psychischen Last von Schuld, Scham, Einsamkeit und Furcht zu kämpfen hat, kommt die Zuflucht zu heilpädagogischen Gesprächen nicht überraschend. Schließlich haben in unserer Zeit viele Romanautoren von 202 | 

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den Methoden der Psychoanalyse erwartet, dass sie die menschliche Erfahrungswelt erklärt. Aber da Wiesel sich hauptsächlich auf die geistigen und moralischen Dimensionen gequälter Seelen konzentriert hat und nicht so sehr auf die klinischen und psychologischen Aspekte, überrascht dieser Roman im Hinblick auf den Nachdruck, den er auf das Therapeutische legt. Er lässt den Leser nach einem Subtext suchen, der dazu beitragen könnte, die Geschehnisse im Supertext zu erklären. Hier ist ein nützlicher Hinweis: Als Doriel Dr. Goldschmidt zum Zweck der Therapiesitzungen engagiert, sagt er: „Frau Doktor, ich bin verwirrt. Ich bin Ihr Patient, und Sie sind meine einzige Hoffnung. Sie sind es, der ich alle meine wirklichen oder auch imaginären Geschichten, diese ganze Last von Reue und Schuld anvertraue. Sagen Sie mir, was ich damit machen soll“ (p. 225). Wiesel ist ein meisterhafter Geschichtenerzähler, und in seinen früheren Büchern haben seine Figuren typischerweise genau gewusst, was sie mit ihren Erzählungen machen sollten. Sie suchen nach mitfühlenden Zuhörern; oder, wenn sie sie nicht finden, bringen sie ihre Geschichten vor Gott; oder, wenn sie den Weg zu Gott nicht finden, ziehen sie sich in das Schweigen zurück. Geistige Verwirrung ist weit davon entfernt, in Wiesels umfangreichem Werk als eine Form von Krankheit dargestellt zu werden, vielmehr ist sie oft mit Sprachlosigkeit verknüpft, mit einer existenziellen Befindlichkeit, die sich von außen auf einen Zeugen von Gräueltaten legt, auf einen Zeugen, der seine Geschichte erzählt, dem aber nicht zugehört wird. Die Ursachenkette einer solchen Qual wurde deutlicher übermittelt durch den ursprünglich jiddischen Titel von Wiesels Memoiren, Un die velt hot geshvign (Und die Welt hat geschwiegen), und nicht so deutlich durch den eher abstrakten englischen Titel Night. Doriels „Verwirrtheit“ wird durch viele Jahre stummen Schweigens charakterisiert, das dann durch eine Überfülle nervösen Redens gebrochen wird. Der Roman legt nahe, dass seine Gestörtheit hauptsächlich in der Unterdrückung einer bestimmten Art der Freudschen Familienaffäre wurzelt und daher einer Behandlung durch einen kompetenten Analytiker zugänglich ist. Aber in dem Buch ist eine zwar knappe, jedoch aufschlussreiche Charakterskizze verborgen, die eine andere Erklärung bietet: Gehen wir einmal zurück zu dem letzten Überlebenden in meiner Stadt. Weißt du, warum und wie er seine Sprechvermögen verloren hat? Als er von den Lagern zurückgekommen war, entschloss er sich dazu, die Welt zu bereisen und den Menschen das Unsagbare zu berichten; dabei hoffte er, die Welt aus ihrer Erstarrung und aus einer Gleichgültigkeit zu befreien, die zu ihrer eigenen Vernichtung führen konnte. Er sprach, er sprach überall – bis zur Erschöpfung. … Zuerst hörten die Menschen ihm zu. … Dann kehrten sie ihm den Rücken. … Und seitdem hat er nie wieder ein Wort gesprochen (pp. 249–250).

Doriel, der Sprecher zu vieler Worte, ist das Spiegelbild dieses Mannes, der als „der letzte Jude“ bezeichnet wird. In seiner Kindheit in einer kleinen polnischen Stadt versteckt, wurden Doriel die Massaker erspart, die so viele andere ereilten; aber die Wunden, durch die er noch in den Nachkriegsjahren gezeichnet war, ähneln denen anderer Überlebender. Als solche sind sie nicht nur psychische Wunden, Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 203

sondern sie sind Zeichen für das, was Primo Levi die „Krankheit des Überlebenden“ genannt hat. Wie Wiesel in einigen seiner anderen Bücher gezeigt hat, ist dieses viel umfassendere Leid eine Wunde der Definition des Menschlichen selbst, für die bewährte Therapien erst noch gefunden werden müssen. Seit der Veröffentlichung von Night bis heute – eine Zeitspanne von einem halben Jahrhundert – hat Wiesel das Wesen der Viktimisierung durch den Holocaust und das des Überlebens beharrlicher und detaillierter erforscht als jeder andere lebende Autor. Er hat zuweilen gesagt, dass er noch nicht weit genug in die Komplexität seines Themas eingedrungen sei und dass dieses Thema immer noch tiefer ausgelotet werden müsse: „Ich werde immer noch durch dieselbe Angst gequält: Trotz all der Bücher, die ich geschrieben habe, habe ich noch nicht einmal begonnen“.23 Seine Kreativität wird zumindest zum Teil durch seine Unzufriedenheit und den Drang, mehr zu tun, angestachelt. Wenn ihm die Zeit gegeben wird, dann wird er zweifellos die Erfahrungen des Überlebenden weiter zu erforschen suchen, auch dann, wenn er sich die Frage stellt, ob seine Worte stark genug und wahr genug sind, um diese Erfahrungen anderen jemals nahezubringen. Er hat uns viel gegeben, und doch ist er nicht frei von den Sorgen, die die Wirkkraft des Schreibens selbst in Frage stellen, und bis heute fürchtet er, dass letztlich „der Bote nicht in der Lage [sein wird], seine Botschaft zu überbringen“.24 Wiesels Ruhelosigkeit wird von anderen geteilt, darunter von dem ungarisch-jüdischen Autor Imre Kertész, der sich fragt: „Wer ist an den realen Überlebenden und an den wirklichen Problemen des Überlebens interessiert?“25 Das Problem, mit der „Krankheit des Überlebenden“ zu leben, ist oft mit Problemen der Sprache verknüpft: „Man betrachte, was im 20. Jahrhundert der Sprache widerfahren ist, was aus den Wörtern geworden ist. … Die erste und erschreckendste Entdeckung, die Autoren unserer Zeit gemacht haben, war die, dass Sprache in der Form, in der sie uns vermittelt wurde, … einfach ungeeignet geworden ist, Begriffe und Prozesse, die früher einmal eindeutig und real waren, zu vermitteln.26 Auch diese Sorge wird von vielen geteilt. In einigen seiner Romane über Überlebende zeigt Wiesel z. B. dadurch, dass er in die Sprechmuster seiner Erzähler eingreift, wie akut solche Probleme sein können. Elhanan Rosenbaum, der Angst hat wegen seines schwindenden Erinnerungsvermögens und der fortschreitenden Aphasie, befürchtet schließlich den vollständigen Verlust des Sprechvermögens. Doriel Waldman, nie weit von geistiger Verwirrtheit entfernt, leidet an wiederkehrenden Perioden der Paraphasie, wobei seltsame Brüche in seinen Gedankenmustern entstehen und seine Worte zusammenhanglos und unkontrolliert erscheinen. In diesen beiden und auch in anderen Fällen hat Wiesels Rückgriff auf versagendes oder in anderer Weise gestörtes Sprechvermögen mimetische Funktion, wobei 23 And the Sea Is Never Full, 355. 24 One Generation After, 9–10. 25 Imre Kertész, „Language in Exile“ (unveröffentliche englische Übersetzung eines ungarischen Essays, mit freundlicher Genehmigung des Autors). 26 Ebd., 5.

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durch sprachliches Unvermögen die Idee vermittelt wird, dass normative Sprache einfach inadäquat ist, um die extreme Abnormität, die die Opfer des Holocaust erlitten haben, auszudrücken. Diejenigen, die solche Erfahrungen überlebt haben und sich gedrängt fühlen, sie anderen mitzuteilen, fühlen sich häufig gleichsam mattgesetzt oder blockiert. Entweder mangelt es ihnen an sprachlichen Ressourcen, um wirkungsvoll zu sprechen, oder es gelingt ihnen zwar, ihre Geschichte zu erzählen, aber sie müssen feststellen, dass die meisten Menschen sie nicht hören wollen oder sie für nicht glaubwürdig halten. Diese Enttäuschungen können, wenn sie sich oft wiederholen, als endgültiges Versagen empfunden werden; dadurch kann die „Krankheit des Überlebenden“ sich verschlimmern und das innere Leid, das diesen Zustand begleitet, verstärken. In solchen Augenblicken bringt die Frage, wie man sein eigenes Überleben überleben kann, die gefährlichste aller Fragen in den Vordergrund: Warum sollte man überhaupt weiterleben? Unter denen, die diese Probleme tiefgründig und scharfsichtig durchdacht und auch neue Wege gesucht haben, sie in ihre Werke einzubinden, ragt Imre Kertész heraus. Er erinnerte einmal einen Interviewer: „Albert Camus hat einmal gesagt, dass der Suizid das einzige philosophische Problem ist“. Dann fügte er hinzu: „Ich neige dazu, ihm zuzustimmen. … Man denkt beständig, ja beständig an die Vorstellung des Suizids – besonders wenn man unter einer Diktatur lebt“.27 Es war Kertész’ Unglück, unter zwei Diktaturen zu leben – unter der des von den Nazis besetzten Ungarn und dann auch unter den kommunistischen Regimes im Ungarn der Nachkriegszeit. Es ist kennzeichnend für seine Widerstandsfähigkeit als Mensch und für seine Genialität als Autor, dass er eine solche Bedrückung nicht nur überlebt, sondern Wege gefunden hat, sie schöpferisch in einige der im höchsten Maße ehrlichen – wenn auch außerordentlich anspruchsvollen – Meditationen über das Leben unter dem Feuerbrand der Herrschaft Hitlers bzw. Stalins zu verwandeln. Es ist ihm anzurechnen, dass es ihm gelang, beiden Tyranneien standzuhalten und die gesellschaftlichen, psychologischen und politischen Verunstaltungen, die sie verursachten, sogar in hohe Kunst zu verwandeln. Das aber hatte seinen Preis: „1944 hefteten sie einen gelben Stern an mich, der in einem symbolischen Sinne immer noch da ist; bis heute habe ich ihn nicht entfernen können“.28 In Anerkennung seiner Leistungen als Autor unter dem Zeichen dieses Sternes erhielt Kertész den Literatur-Nobelpreis 2002. Aber trotz der ihm verliehenen Auszeichnung ist er immer noch ein selten gelesener und ein unterschätzter Autor geblieben. Zu der Zeit, als er den Nobelpreis erhielt, hatten vermutlich nur wenige von diesem ungarischen Autor gehört, geschweige denn seine Bücher gelesen. Nur zwei von Kertész’ Romanen, Fatelessness (1975) (Roman eines Schicksallosen) und Kaddish for a Child Not Born (1990) (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind), waren auf Englisch herausgekommen (beide in relativ begrenzter Auflage bei einem klei27 John Freeman, „Finding a Reason to Live“, Jerusalem Post, 16. Januar 2005. 28 Imre Kertész, „The Language of Exile“, übers. Ivan Sanders, The Guardian, 19. Oktober 2002. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 205

nen akademischen Verlag). Aber in Westeuropa – und besonders in Deutschland, wo er den größten Teil des Jahres lebt und wo alle seine Bücher in deutscher Übersetzung vorliegen – hat er eine breite Leserschaft. In seinem Heimatland Ungarn dagegen ist Kertész’ Rezeption gemischt. Das ist zum Teil auf die Vorstellung bei einigen seiner eher nationalistischen Landsleute zurückzuführen, dass ein Jude, der so viel und so leidenschaftlich über Auschwitz schreibt, kein echter „Ungar“ sein könne. So hat den Autor denn auch eine Marginalisierung getroffen, die jahrelang einen Schatten auf ihn geworfen hat; und die Gefühle der Zurückweisung, der Einsamkeit, des Schmerzes und der Verletzbarkeit, die damit einhergehen, sind untilgbare Aspekte seiner persönlichen Biographie und treten auch als immer wieder vorkommende Themen in seinem Werk auf: Die proletarische Diktatur war gegen jede Erwähnung des Holocaust; und da sie dagegen war, unterdrückte sie solche Stimmen oder wandelte sie in konformistische euphemistische Klischees um. Wenn irgendjemand kühn genug war zu glauben, dass Auschwitz das bedeutungsschwerste Ereignis seit der Kreuzigung war …, und wenn er diese Fragen mit dem angemessenen Ernst angehen wollte, nun, dann musste er damit rechnen, zur totalen Vereinsamung und Isolation verurteilt zu werden. Wenn überhaupt, dann wurden seine Bücher in limitierter Auflage gedruckt, und er selbst wurde an den Rand des literarischen und intellektuellen Lebens verbannt, in das taube Schweigen kontrollierter Kritik wie in eine Einzelzelle; mit anderen Worten, sein Werk wurde damit zum Tode verurteilt, so wie er schon einmal zum Tode verurteilt worden war.29

Kertész nennt sich in dieser Passage nicht als der in Frage kommende Autor, aber seine Worte spiegeln deutlich seine bittere persönliche Erfahrung. Es ist daher kein Wunder, dass er sich im Ausland wie ein ganz anderer Mensch fühlt: „Im Ausland fühle ich mich zuhause, während ich mich zuhause wie ein Fremder verhalte“.30 Obwohl Kertész immer wieder zeitweise in seinem Heimatland Ungarn wohnt, klingen seine Worte hier und auch anderswo wie die des im Exil lebenden Autors, der auf der Suche ist nach einem begehrten, aber unerreichbaren Heimatland. Daher hat Kertész wie viele andere jüdische Autoren Europas eine Zufluchtsmöglichkeit hauptsächlich von der Literatur erwartet. Ob er diese dort letztlich finden kann, bleibt eine offene Frage. Kertész wurde 1929 in Pest in eine assimilierte jüdische Familie hineingeboren. 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert und dann nach Buchenwald und Zeitz, einem kleinen Nebenlager von Buchenwald, gebracht. Er war damals noch keine fünfzehn Jahre alt. Sein Vater war bereits in einer Gruppe von Zwangsarbeitern und kam während eines Gewaltmarsches um. Seine Großeltern mütterlicherseits und die Eltern seiner ersten Frau wurden von den Nazis ermordet. Seine Großeltern väterlicherseits wurden zwangsweise umgesiedelt und starben danach unter der Herrschaft der kommunistischen Regierung von Mátyás Rákosi. Nach seiner Befreiung aus Buchenwald kehrte der junge Kertész nach Budapest 29 Imre Kertész, „The Holocaust as Culture“, übers. Tünde Vajda, Szombat, August 1998, 8. 30 „The Language of Exile“.

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zurück. In den frühen fünfziger Jahren diente er zwei Jahre in der ungarischen Armee, ehe er sich im Journalismus versuchte. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, schrieb er auch für das Theater und verfasste auch Libretti für verschiedene leichte Opern. Hauptsächlich arbeitete er während des vergangenen halben Jahrhunderts jedoch als freier Schriftsteller und literarischer Übersetzer; in dieser Zeit widmete er sich der Aufgabe, seine Fertigkeiten als Romanautor und Essayist zu verfeinern, wobei er sich in seinen wichtigsten Arbeiten darauf konzentrierte, das Leid, das dem Individuum durch totalitäre Systeme zugefügt wird, bloßzustellen und zu erläutern. Er betrachtet diese Regimes als Teil eines Kontinuums politischer Unterdrückung, die keineswegs mit der Niederlage Nazi-Deutschlands endete, sondern die ihren Einflussbereich in der Nachkriegsperiode unter dem Stalinismus sogar noch ausweitete. Da Kertész sich der täglichen Einengung des Lebens im kommunistisch beherrschten Ungarn bewusst war, hatte er keine Illusionen hinsichtlich seines Schicksals nach Auschwitz. Er blieb in bedenklicher Weise ein Gefangener – genau wie das Volk, in dem er lebte. Diese sachliche Erkenntnis erzeugte in ihm einen Skeptizismus, der ursächlich dafür gewesen sein mag, dass er vor dem Schicksal jener überlebenden Autoren bewahrt wurde, die sich, – wie er glaubte, als Konsequenz schwerer persönlicher Desillusion, – das Leben nahmen: Ich habe nun längere Zeit über die Tatsache nachgedacht, dass der Holocaust seine intendierten Opfer nicht nur in den Konzentrationslagern erreicht hat, sondern auch Jahrzehnte später. Die Befreiung aus den Lagern verzögerte das Urteil nur, das diejenigen, die damals für den Tod selektiert worden waren, nun an sich selbst vollstreckten.

Er nannte dabei speziell Paul Celan, Tadeusz Borowski, Jean Améry und Primo Levi: Wenn ich mein Schicksal mit ihrem vergleiche, … dann muss ich denken, dass mir geholfen wurde, die letzten Jahrzehnte zu bewältigen durch eine „Gesellschaft“, die nach Auschwitz in der Form des sogenannten Stalinismus bewiesen hat, dass es keine Möglichkeit der Freiheit, der Befreiung, der umfassenden Katharsis usw. gegeben hat – alles Dinge, von denen Intellektuelle, Denker, Philosophen in einem glücklicheren Umfeld nicht nur sprachen, sondern an die sie offensichtlich auch glaubten; die mir eine Fortsetzung des Lebens in der Gefangenschaft garantierten. … Das ist ganz klar der Grund, warum ich nicht von einer Welle der Desillusionierung erfasst worden war, vor der diejenigen, die mit ähnlichen Erfahrungen in freieren Gesellschaftsformen lebten, geflohen waren, und die zuerst ihre Füße erfasste und dann, so sehr sie ihre Schritte auch zu beschleunigen versuchten, bis zu ihrer Kehle reichte.31

Da Kertész sich keinen Illusionen in Bezug darauf, dass es wieder ein Leben in Freiheit würde geben können, hingab, machte er sich daran, in einer bestimmten Weise über Auschwitz und Buchenwald zu schreiben: Er schrieb im Präsens und benutzte so weit wie möglich eine literarische Sprache, die den Zusammenbruch der humanistischen Weltsicht in der Zeit vor Auschwitz reflektieren sollte. Während Autoren in den westlichen Ländern vielleicht versuchten, diese Weltsicht wiederzugewinnen oder zu ersetzen, hat Kertész eine streng deterministische Position vertreten: „Nichts ist seit Auschwitz geschehen, das Auschwitz ungeschehen machen 31 „The Holocaust as Culture“, 8. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 207

oder entkräften könnte“.32 Kertész’ Werk ist zum großen Teil von der Herausforderung geprägt, eine Sprache zu entdecken, die diese sehr starke Vision wirkungsvoll gleichsam einmeißelt und, während sie zwar beibehalten wird, auch Wege findet, das Weiterleben zu ermöglichen. Sein erster Roman, Sorstalanság (1975) wurde ins Englische zurückübersetzt und erschien 2004 unter dem Titel Fatelessness (Roman eines Schicksallosen). In demselben Jahr wurde, auch in einer neuen Übersetzung, Kaddis a meg nem született gyermekért (1990) veröffentlicht, nun unter dem Titel Kaddish for an Unborn Child (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind); ebenfalls kam um die Zeit der Roman Felszámolás (2003), im Englischen als Liquidation (Liquidation), heraus. Diese drei Bücher bilden eine fiktionale Trilogie über die schlimmen Lebenserfahrungen in und nach Auschwitz und können als eine Reihe intensiver Meditationen über „die Situation eines Überlebenden, der versucht hat, sein eigenes Überleben zu überleben“. betrachtet werden.33 Kertész betont, dass Fatelessness, in Ungarn veröffentlicht, als er 46 Jahre alt war, nicht autobiographisch sei. Da der Roman aber die Geschichte der Inhaftierung eines 15-jährigen ungarischen Juden in Auschwitz, Buchenwald und Zeitz erzählt, liegt deutlich das persönliche Erleben zugrunde. Der Erzähler, György Köves, ein unschuldiger, argloser Jugendlicher, versucht, sich in einer Welt einzurichten, deren Fremdheit er kaum entschlüsseln kann. Schon recht früh im Roman versteht er nach und nach, dass er wegen seiner „Rasse“ oder seines „Judeseins“ verfolgt wird, obwohl er wie viele andere assimilierte Juden „nicht einmal genau weiß, was ‚jüdisch‘ ist“ (p. 35). Er glaubt vielmehr, dass es kein innewohnendes Element ist, kein „Unterschied, den wir in uns selbst tragen“ (p. 36), sondern – wie der gelbe Stern, den er zwangsweise tragen muss – ein Stigma, das ihm von außerhalb aufgezwungen wird. Wie auch immer, das „Judesein“ besiegelt sein Schicksal und ist die Ursache für seine Festnahme und Inhaftierung in Auschwitz, Buchenwald und Zeitz. Der Rest des Romans ist schonungslos in der Beschreibung seiner Leiden und seines schnellen gesundheitlichen Verfalls in diesen drei Lagern und konzentriert sich auf seine Versuche, in all dem einen Sinn zu sehen. Die Perspektive ist ungewöhnlich, nämlich die eines jungen, ratlosen Teenagers, der das Gefühl hat, dass man ihn „plötzlich mitten in ein verrücktes Theaterstück hat fallen lassen, wobei ich nicht genau mit meiner Rolle vertraut war“ (p. 57). Ausdrücke wie „so gut ich es sagen konnte“, „nach dem, was ich feststellen konnte“, „nach dem, was ich hörte“, durchziehen die Erzählung und verraten die tastenden Bemühungen des Jungen, über die Fremdheit und Verworrenheit seiner Erfahrung hinauszukommen und das Wesen seines Schicksals zu ergründen. „Wer kann beurteilen, was in einem Konzentrationslager möglich oder glaubhaft ist?“ fragt er. Er kommt zu dem Schluss: „Niemand, selbst wenn man sein gesamtes Wissen zusammenbringen würde“. Am 32 Imre Kertész, „Heureka!“ Szombat, Mai 2004, 8. 33 „The Holocaust as Culture“, 9.

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Ende ist alles, was er weiß, dieses: „Was geschehen war, war geschehen“ (257), und auch dieses: Da er schicksallos ist, ist seine einzige Wahl „mein nicht fortsetzbares Leben fortzusetzen“ (262). Ob nun autobiographisch oder nicht, jedenfalls kann ein großer Teil des späteren Werkes von Kertész als Versuch betrachtet werden, noch weiter über die in Fatelessness beschriebenen Erfahrungen und über die, denen sich der Autor selbst im repressiven Ungarn der Nachkriegszeit gegenüber sah, zu meditieren. Die Verflechtungen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft sind konstant und bestätigen György Köves’ mühevoll erworbenes Bewusstsein, dass „wir niemals ein neues Leben beginnen können, dass wir vielmehr immer nur das alte fortsetzen können“ (259). Das ist eine schwierige Aufgabe, und doch ist Kertész ihr stets treu geblieben. Kaddish for an Unborn Child ist ein schmales, aber unendlich trauriges und verstörendes Buch. Der Erzähler, nur mit der Initiale B. identifiziert, grübelt beständig über seiner gequälten Kindheit, seiner erfolglosen Schriftstellerkarriere, seiner gescheiterten Ehe, seiner Weigerung, ein Kind zu zeugen. Das Erzählerische ist hier wenig konventionell gestaltet, und es gibt kaum Dialoge. Vielmehr ist der Leser von der ersten bis zur letzten Seite fest im Griff eines zwingenden Monologs, der sich scheinbar an B.s Nachkommenschaft, die niemals gezeugt werden wird, richtet, vielleicht auch an seine frühere Frau. Das unermüdliche Reden hat oft einen halluzinatorischen Effekt. Einige Sätze erstrecken sich über fast eine ganze Seite, und es gibt Absätze, die ein oder zwei Zeilen, aber auch bis zu sechzig Seiten umfassen. Jeder Absatz – es gibt insgesamt 17 – beginnt mit einem leidenschaftlichen „Nein!“. Das, was diese entschlossene Negativität antreibt, ist dasselbe Gespenst des Terrors und des unausweichlichen Todes, das Paul Celans berühmtes Gedicht „Todesfuge“ antreibt, das häufig in dem Roman zitiert wird. Obwohl der Erzähler die Lager überlebt hat, ist die Vergangenheit nicht vorbei und wird ihn auch nicht in Ruhe lassen. Sein Leben in der Nachkriegszeit führt er „unter dem Zeichen von Auschwitz;“ dies bedeutet, nicht völlig zu leben, und es ist unbestreitbar kein richtiges Leben“ (p. 58). So redet und schreibt er, obwohl ihm klar ist, dass Schreiben „im Grunde nichts anderes ist als Graben, das Graben bis zum Ende – nämlich das Grab, das andere begonnen haben, für mich in der Luft zu graben“ (p. 30). Seine grimmige Lebensauffassung und die fortgesetzten Lebensbedrohungen veranlassen ihn, sein Jahrhundert mit einem „Exekutionskommando, das immer im Dienst ist“ (p. 75), zu vergleichen. Er weist den Wunsch seiner Frau zurück, ihr Kind zu zeugen. „Nein!“ ruft er wiederholt aus, und mit seiner leidenschaftlichen Weigerung fördert er das einzige Projekt, das ihm in der absurden, brutalen Welt, in der er lebt, vernünftig vorkommt – nämlich seine eigene Liquidation. Wie der Titel nahelegt, setzt der Roman Liquidation die Themen vertiefend fort, die in Kaddish for an Unborn Child eingeführt wurden. Auch dieser Roman erzählt die Geschichte B.s (die Figur erscheint hier häufiger als „Bee“), eines ungarischjüdischen Autors, der in Auschwitz geboren wurde und dem es später gelingt, das Lager zu überleben und sich in Budapest, der Heimatstadt seiner Familie, niederzuDas Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 209

lassen – nur um später Suizid zu begehen. Er hat ein Stück mit dem Titel Liquidation geschrieben, das unter seinen Papieren gefunden wurde, ein Stück, das voll ist von düsteren Reflexionen über das Leben als „ein riesiges Konzentrationslager“ (p. 57) und das, nicht überraschend, eine Beschäftigung mit dem Suizid erkennen lässt. Der Tod des Schriftstellers erschüttert seine Freunde. Besonders einer von ihnen, Kingbitter, fühlt sich gedrängt, in den Papieren Bees nach einer Erklärung zu suchen, mit der er, wie er vermutet, das Manuskript eines nicht veröffentlichten Romans finden könnte, das den Schlüssel zu Bees Tod liefern würde. Was er aber statt dessen entdeckt, ist verheerend: Nach Bees Anweisung ist das Manuskript von der früheren Frau des Autors verbrannt worden. Trotzdem kann Kingbitter in Gesprächen mit ihr und einigen anderen einen großen Teil von Bees Leben und die dunklen Gedanken, die zu seinem Tode führten, rekonstruieren. Ein Beispiel: Wir leben in einer Zeit der Katastrophen; jeder von uns ist ein Träger von Katastrophen. … Der Katastrophenmensch hat kein Schicksal, keine Eigenschaften, keinen Charakter. Für ihn kann es keine Rückkehr zu irgendeinem Zentrum des Ich, zu einer soliden und unwiderleglichen Selbstsicherheit geben; mit anderen Worten, er ist verloren … (pp. 55–56).

Bees tiefer Pessimismus hat mehrere unterschiedliche Quellen; die wichtigste unter ihnen ist der unerbittliche Druck während seiner Zeit in dem Nazi-Todeslager. Wie einer seiner Freunde bemerkt: „Bee lebte Auschwitz hier in Budapest, natürlich nicht ein Auschwitz, das mit Auschwitz selbst zu vergleichen wäre, aber eben ein freiwillig akzeptiertes, domestiziertes Auschwitz – aber es war eines, in dem es genauso möglich war umzukommen wie in dem wirklichen“ (pp. 109–110). Ein beträchtlicher Teil der Erzählung enthält Kingbitters Bemühungen, diesen Gedankengang zu sondieren und zu erklären. Seine Schlussfolgerung: Es gibt einen „AuschwitzExistenzmodus“ (p. 110), der Jahrzehnte nach der Zerstörung der Nazi-Todeslager immer noch Opfer fordert. Für viele, die an diesen Orten waren, besteht diese Gefahr nach wie vor. Es ist daher kein Wunder, dass Bees persönliche Philosophie sich in zutiefst pessimistischen Aussagen niederschlägt – „Das Böse war das Lebensprinzip“ (p. 43) – und schließlich zu seiner Selbstzerstörung führt. In diesem kurzen, aber äußerst verstörenden Roman spricht Kertész, wie in einem großen Teil seiner anderen Werke, in knapp zusammenfassender Klarheit eine Wahrheit aus, die so permanent wie erschreckend ist: „Niemand kann Auschwitz rückgängig machen. Auschwitz ist unabänderlich“ (p. 123). Heute existiert ein umfangreiches Corpus von literarischen Werken von Holocaust-Überlebenden und auch über sie. Selten trifft man jedoch innerhalb dieser Literatur Bücher an, die so erschütternd, aber auch so bemerkenswert innovativ, durchdacht und fordernd sind wie Fatelessness, Kaddish for an Unborn Child und Liquidation. Um des Erhalts der geistigen Gesundheit willen möchte man glauben, dass das, was Levi „die Auschwitz-Krankheit“ nannte, nicht unheilbar ist; aber eine lange Liste von Autoren, die sich das Leben nahmen, lässt vermuten, dass wirksame Gegenmittel nicht immer zur Hand sind. Was aber dank solcher Autoren wie Tadeusz Borowski, Paul Celan, Jean Améry, Primo Levi, Elie Wiesel 210 | 

Kapitel 8

und Imre Kertész zur Hand ist, das ist ein wichtiges Corpus von Literatur, welches die Möglichkeiten, aber auch die Gefahren des Lebens nach Auschwitz deutlich macht. Wie diese Autoren erläutern, kann man nicht im eigentlichen Sinne über „ein Leben nach Auschwitz“ sprechen, ohne sich seines leidvollen Erbes bewusst zu sein. In den meisten Fällen ist kein Ende eingetreten; und das Leiden hält an. Auch der Hass, der so viel Leid verursacht hat, hält an. Nach Kertész’ Auffassung gibt es heute, selbst in anscheinend freien Ländern, eine Form des Antisemitismus nach Auschwitz, die von Auschwitz inspiriert wird und dieses reproduzieren will: „Unsere Zeit ist nicht eine Zeit des [klassischen] Antisemitismus. Sie ist eine Auschwitz-Zeit. Und der Antisemit unserer Zeit verabscheut Juden nicht mehr; er will Auschwitz“.34 Deuten die Rückkehr des Antisemitismus und die VölkermordPhantasien, die ihn begleiten, an, dass das Ende des Holocaust vielleicht das Kommen eines neuen Holocaust ankündigt? Wie wir sehen werden, ist Kertész nicht der einzige Autor, der das für möglich hält.

34 Ebd. Das Überleben überleben: Elie Wiesel und Imre Kertész  | 211

Kapitel 9

Das Ende des Holocaust

Es kam der Tag, als ihnen niemand mehr zuhören wollte, und es kam ein anderer Tag, als der letzte von ihnen verschwunden war. … Die Ära des Überlebenden ist zu Ende.

Werner Weinbergs deprimierte Prognose, die seinem außergewöhnlich durchdachten, aber kaum bekannten Buch, Self-Portrait of a Holocaust Survivor1 (Selbstporträt eines Holocaust-Überlebenden) entstammt, sagt mehr, als seine Worte auf den ersten Blick zu sagen scheinen. Die meisten Überlebenden des Holocaust sind schon gegangen, und die, die jetzt noch da sind, sind um die 80 oder noch älter. Weinberg äußerte seine Klage über das Ende der Ära der Überlebenden jedoch bereits vor fast dreißig Jahren; er hatte also ganz klar mehr im Sinn als die zahlenmäßige Abnahme durch Tod und natürlichen Zeitablauf. Was ihm Sorgen bereitete, waren Verluste einer gravierenderen Art – Erinnerungsverluste –, nämlich die, die ihren Ursprung hatten in einer – wie er und andere es gesehen haben – generellen Gleichgültigkeit dem Zeugnis von Holocaust-Überlebenden gegenüber und in der Weigerung, aus ihnen zu lernen. Was er nicht voraussah und worüber er erschrocken gewesen wäre, ist das Aufkommen von Angriffen auf das Andenken des Holocaust, die in Rufen nach einem „Ende von Auschwitz“ kulminieren. Nach Auffassung von Imre Kertész ist solch eine Ende unmöglich: „Das wirkliche Problem mit Auschwitz ist, dass es geschehen ist – und das kann nicht geändert werden“.2 Im Hinblick auf die unbestreitbare Faktizität der Nazi-Todeslager hat Kertész natürlich Recht. Im Hinblick auf die Erinnerung an diese Orte jedoch – die Erinnerung an diejenigen, die sie gebaut und betrieben haben, und an die, die in ihnen gelitten haben und umgekommen sind – sind die ganze Zeit über Veränderungen verschiedenster Art geschehen. Wenn man die Herausbildung solcher Veränderungen über die Zeit hin betrachtet, findet man zahlreiche Gründe, die Weinbergs düstere Einschätzung stützen, wonach mit dem Ende seiner Generation der Überlebenden vieles verlorengegangen sein wird. Das Gedenken an den Holocaust wird durch viele Quellen am Leben erhalten – durch erzieherische, kulturelle, religiöse und institutionelle – und wird auch nicht so rasch verblassen; aber es steht in Konkurrenz mit einer Reihe von gegenläufigen und umstrittenen Quellen, die das Vergessen fördern. Manfred Gerstenfeld hat aus1 Werner Weinberg, Self-Portrait of a Holocaust Survivor, (Jefferson, N.C.: McFarland & Company, 1985), 14–15. 2 „Heureka!“, 8. Das Ende des Holocaust  | 213

führliche Beispiele dieser der Erinnerung abträglichen Strömungen in The Abuse of Holocaust Memory: Distortions and Responses (Der Missbrauch des HolocaustGedenkens: Entstellungen und Reaktionen) zusammengestellt.3 Gerstenfelds Analyse des Materials bestätigt das, was die vorigen Kapitel des vorliegenden Buches zeigen wollten: Die Erinnerung an den Holocaust – weit entfernt davon, unveränderlich zu sein – wird durch ein Aufgebot von kulturellen Zwängen bedrängt, die den Stellenwert des Holocaust als eines zentralen Ereignisses in der modernen europäischen und jüdischen Geschichte in Frage stellen. Es gibt diejenigen, die leugnen, dass der Holocaust überhaupt jemals geschehen ist, dann diejenigen, die sein ungeheuerliches Ausmaß und seine Folgen bagatellisieren, die die Darstellungskraft seiner Worte und Bilder für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren, oder auch die, die seinen Bedeutungsgehalt verkehren, entstellen, verfälschen und trivialisieren. Andere sind positiver, sogar idealistisch, in ihrem Bestreben, dieser Geschichte Sinn abzugewinnen und das, was sie als die „Lektionen“ für gegenwärtige gesellschaftliche Probleme ansehen, anzuwenden; ihre Bemühungen, den Holocaust zu verallgemeinern, haben aber zuweilen das Resultat, dass die entscheidenden Wesenszüge des Holocaust übersehen oder verwässert werden. Wieder andere lassen Anzeichen von Überdruss und Unmut bezüglich des Holocaust erkennen, weil sie von dem Reden über den Holocaust „einfach genug haben“ und eine größere Distanz dazu wollen. Und dann gibt es auch diejenigen, die die Bezugnahme auf den Holocaust polemisch in einem andauernden bitteren ideologischen und politischen Kampf gegen den Staat Israel verwenden (ihre Entsprechung haben sie in bestimmten Verteidigern Israels, die den Holocaust ebenfalls rücksichtslos und verantwortungslos heraufbeschwören). All diese verschiedenen Arten, mit der Katastrophe, durch die die Juden heimgesucht worden sind, umzugehen, haben den Effekt, dass die Darstellungsformen und das moralische Gewicht der Erinnerung an den Holocaust verändert werden. Nach zwei oder drei Generationen von heute an wird der Ausdruck „Holocaust“ zwar immer noch in Gebrauch sein, aber als historische Bezugsgröße wird er die Ereignisse vielleicht nicht mehr so lebendig bewusst machen, die er heute noch vergegenwärtigen kann, besonders unter denen, die unter seinem Schrecken gelitten und überlebt haben, um davon zu erzählen. Es sollte jetzt deutlich geworden sein, dass mehrere der überzeugendsten Autoren, die den Holocaust überlebt haben, in ihren letzten Lebensjahren unter einem angstvollen Gefühl der Nutzlosigkeit in Bezug auf den Wert und die Wirkkraft ihrer Werke gelitten haben. Einige der neueren Entwicklungen, die im folgenden beschrieben werden, würden ihre gedrückte Stimmung noch verstärken. Diese Entwicklungen lassen die Vorstellung glaubwürdig erscheinen, dass etwas wie „das Ende des Holocaust“ sich allmählich herausbildet.

3 Manfred Gerstenfeld, The Abuse of Holocaust Memory: Distortions and Responses (Jerusalem: Jerusalem Center for Public Affairs, 2009).

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Kapitel 9

Im Januar 2010, nur wenige Tage bevor der Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust begangen wurde, wurde ein prominenter polnischer Bischof mit der Aussage zitiert, dass „der Holocaust als solcher eine jüdische Erfindung“ sei. In einem Interview, das auf einer italienischen katholischen Website, www.pontifex.roma, veröffentlicht wurde, fügte Tadeusz Pieronek, ein vormaliger Vorsitzender der katholischen Bischofskonferenz, hinzu, dass die Juden die Erinnerung an den Holocaust zu ihrem eigenen Vorteil selbstsüchtig ausbeuteten: „Zweifellos waren die meisten von denen, die in den Konzentrationslagern umkamen, Juden, aber auf der Liste waren auch Polen, Roma, Italiener und Katholiken. Es ist also nicht in Ordnung, diese Tragödie für Propagandazwecke zu missbrauchen“. Bischof Pieronek soll auch gesagt haben, dass man spezielle Gedenktage abhalten sollte „für Opfer des Kommunismus, für Katholiken, für verfolgte Christen u. a.“ Er fügte hinzu: „Die Juden erfreuen sich einer guten Presse, weil sie über gewaltige Mittel verfügen, über enorme Macht und über die vorbehaltlose Rückendeckung durch die Vereinigten Staaten; all dies begünstigt eine gewisse Arroganz, die ich unerträglich finde“.4 Diese Worte, allein schon schockierend, die kurz vor dem Beginn der speziellen Feierlichkeiten aus Anlass des 65. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz geäußert wurden, provozierten sofort Proteste von Seiten jüdischer Gruppierungen. Sie verursachten auch Betretenheit bei der Katholischen Kirche, die immer noch mit gleichermaßen abscheuerregenden Aussagen zu kämpfen hatte, die ein Jahr zuvor durch Richard Williamson, einen kirchenkritischen Bischof, gemacht worden waren, in denen er behauptete, dass es in den Nazi-Todeslagern überhaupt keine Gaskammern gegeben habe und dass die Gesamtzahl der umgebrachten Juden nicht mehr als 300000 gewesen sei. Nur unter Druck fand sich Bischof Williamson zu einer kurzen Entschuldigung bereit dafür, dass er die Kirche in Verlegenheit gebracht hatte (obwohl er seine haltlosen Anschuldigungen nicht zurücknahm). Bischof Pieronek lehnte es ab, sich zu entschuldigen, behauptete jedoch – wie zu erwarten war –, dass seine Bemerkungen aus dem Kontext genommen und entstellt wiedergegeben worden seien. Aber in einer Zeit der globalen Kommunikation hatten sich die abstoßenden Worte des Bischofs schon überall verbreitet, und der Schaden war da. Oder? Innerhalb der westlichen Gesellschaft wird die direkte Leugnung des Holocaust schon lange als inakzeptabel betrachtet, und die verwerflichen Ansichten der Bischöfe Pieronek und Williamson werden wohl weder innerhalb der Katholischen Kirche noch außerhalb breite Zustimmung finden. Dennoch haben beide Männer rasch Unterstützung bei denen erfahren, die ein böswilliges Vergnügen daran haben, den Holocaust entweder ganz zu leugnen oder zu verharmlosen und das, was ihrer Meinung nach die jüdische Ausbeutung der Katastrophe zum per4 „Polish bishop says Jews exploiting Holocaust“, http://jta.org/news/article/2010/01/25/101319/ polish-bishop-says-jews-exp Das Ende des Holocaust  | 215

sönlichen und gemeindlichen Vorteil sei, zu verunglimpfen. Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Leugner des Holocaust und die Revisionisten ihre verqueren Ansichten propagiert – hauptsächlich aber aus marginalen Positionen der Gesellschaft heraus. Allem Anschein nach ist die Wirkung ihrer Propaganda eher verhalten gewesen. In den letzten Jahren jedoch, und besonders mit dem Aufkommen des Internets, erreichen ihre Auffassungen eine viel größere Anzahl von Menschen, von denen einige für die Vorstellung empfänglich sind, dass eine jüdische Verschwörung oder „Holocaust-Industrie“ einer von Schuldgefühlen geplagten westlichen Gesellschaft eine massive Lüge über jüdisches Leid aufgetischt oder das Ausmaß dieses Leids für korrupte politische Zwecke übertrieben und manipuliert habe. Diese verderblichen Ansichten kann man leicht widerlegen, sie sind jedoch für einige recht attraktiv und werden nicht so bald an Einfluss verlieren. Vor fast zwanzig Jahren stellte die amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt den verlogenen Charakter der Holocaust-Leugnung bloß, insbesondere auf der extremen Rechten.5 In neuerer Zeit hat der israelische Philosoph Elhanan Yakira überzeugend dargelegt, dass die extreme Linke gegen derartig perverses Denken auch nicht immun ist. Besonders in Frankreich haben ihre extremen Ansichten einen gewissen Grad an Akzeptanz gewonnen. Durch eine detaillierte Analyse der Arbeiten von Figuren wie Maurice Bardèche, Paul Rassinier, Pierre Guillaume, Robert Faurisson und Serge Thion hat Yakira gezeigt, dass eine kleine, aber einflussreiche Anzahl von Intellektuellen sowohl im radikalen linken als auch im radikalen rechten Spektrum eine bestimmte Wirkung auf die herrschende Meinung gehabt hat dadurch, dass sie „die Leugnung zu einer legitimen Auffassung und zu einem zentralen Thema in Frankreich und auch anderswo gemacht hat“. Ihrem Erfolg, argumentiert Yakira, liegt ihre systematische Verwendung des Holocaust – einschließlich seiner Leugnung, aber nicht darauf beschränkt – in dem, wie sie es sehen, kritischen ideologischen Kampf gegen den Zionismus und gegen Israel zugrunde: Dieses Syndrom kann man sowohl bei Rassinier als auch bei seinen Anhängern innerhalb der französischen radikalen Linken feststellen: Man dürfe nicht zulassen, dass das Verbrechen, das in Auschwitz begangen wurde, uns sozusagen blind mache gegenüber der Hauptsache, nämlich dem Leiden derer, die wirklich ausgebeutet werden – der Arbeiter, der Menschen der Dritten Welt, der Palästinenser. Was in Auschwitz geschehen ist, sei letztlich nur ein weiteres Beispiel – unter vielen – der wirklichen Ursachen aller Verbrechen: Kolonialismus, Imperialismus, Kapitalismus und Zionismus. Daher komme man an der Schlussfolgerung nicht vorbei, dass in Auschwitz nichts Einmaliges geschehen sei. Die Einmaligkeit des Geschehens könne durch den Hinweis darauf verneint werden, dass dies keine systematische, geplante Vernichtung von Juden 5 Deborah Lipstadt, Denying the Holocaust: The Growing Assault on Truth and Memory (New York: Penguin, 1993); auch: Michael Shermer und Alex Grobman, Denying History: Who Says the Holocaust Never Happened and Why Do They Say It? (Berkeley: University of California Press, 2000).

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Kapitel 9

gewesen sei, oder alternativ dazu, dass das, was die Israelis den Palästinensern antäten, wirklich oder symbolisch, systematische, geplante Ausrottung sei.6

Weiter unten in diesem Kapitel betrachten wir die politischen Dimensionen der Leugnung und Entstellung des Holocaust. Für den Augenblick möge die Feststellung genügen, dass Yakiras Analyse der ideologischen Motive solcher Manöver zutreffend erscheint. Sie findet Bestätigung und auch Vertiefung in Matthias Küntzels präziser und ernüchternder Formulierung: „Jede Leugnung des Holocaust enthält eine Aufforderung, ihn zu wiederholen“.7 Neben denen, die die Tatsache des Holocaust leugnen, bagatellisieren oder ausbeuten, gibt es einige, die anerkennen, dass die Juden wirklich in großer Anzahl verfolgt und ermordet wurden, die es aber ablehnen, ständig daran erinnert zu werden. Eine Meinungsumfrage, die die Anti-Defamation League (Antidiffamierungsliga) 2009 in sieben europäischen Ländern (Österreich, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Polen, Spanien und Großbritannien) durchgeführt hat, ergab, dass 44 % der Befragten der Ansicht waren, dass die Juden zu oft über den Holocaust sprächen. In dreien dieser Länder, Österreich, Polen und Ungarn, äußerten 55 % der Befragten oder sogar noch mehr diese negative Meinung.8 Eine spätere Veröffentlichung durch die Universität Bielefeld, die eine Meinungsumfrage in acht europäischen Ländern durchgeführt hatte, ergab, dass fast 42 % der einzeln Befragten glauben, dass die „Juden die Vergangenheit ausnutzen, um Geld zu erpressen“.9 Die Implikationen dieser Ergebnisse sind klar: 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges hat ein großer Teil der europäischen Bevölkerung genug gehört über die Drangsal der Juden. Eine Haltung der Ungeduld mit den Juden und der Weigerung, weitere Geschichten über ihre Viktimisierung zu hören – manchmal ausgedrückt als Gereiztheit, manchmal als Feindseligkeit –, ist nun handgreiflich zu spüren, und das nicht nur marginal. Eine der geschmacklosesten Ausdrucksformen dieser Feindseligkeit lässt sich in der Verbreitung von Holocaust-Witzen erkennen. Abgeschmackt und niederträchtig, gehören einige von ihnen inzwischen zum Repertoire populärer Bühnenkomiker. Durch Lächerlichmachung und Verhöhnung der jüdischen Leiden verlachen und verhöhnen Komiker wie Dieudonné aus Frankreich, Otto Jespersen aus Norwegen, Tommy Tiernan aus Irland sowie ihre Pendants aus anderen Ländern Hitlers jüdische Opfer. Wenn man sich Holocaust-Witze, die im Internet zugänglich sind, vor Augen führt, dann sind das viel mehr, als man so ohne weiteres ertragen kann. Eine Reihe von zufällig gefundenen Beispielen enthält Obszönitäten wie 6 Elhanan Yakira, Post-Zionism, Post-Holocaust: Three Essays on Denial, Forgetting, and the Delegimitation of Israel, übers. Michael Swirsky (Cambridge: Cambridge University Press, 2010), 41, 21. 7 Matthias Küntzel, „Iran’s Obsession with the Jews“, The Weekly Standard, 19. Februar 2007. 8 Attitudes toward Jews in Seven European Countries, Anti-Defamation Report 2009. 9 European Conditions: Findings of a Study on Group-focused Enmity in Europe, verfügbar auf: www.amadeu-antonio-stiftung.de. Das Ende des Holocaust  | 217

diese: „‚Was ist der Unterschied zwischen einer Tonne Kohlen und tausend Juden?‘ ‚Juden brennen länger‘“. „‚Wieviele Juden passen in einen VW-Käfer?‘ ‚1004, 2 auf den vorderen Sitzen, 2 auf den hinteren Sitzen und 1000 im Aschenbecher‘“. „‚Wie nennt man die Ermordung von 6 Millionen Juden?‘ ‚Einen guten Anfang‘“. Die Impulse, die diesen degenerierten Humor entstehen lassen, sind nur schwer zu begreifen. Es ist bekannt, dass während der Periode der Nazi-Verfolgungen selbst eine Art Galgenhumor unter den Juden in den Ghettos und Lagern zirkulierte. Seine Funktion war, so gut wir das überhaupt sagen können, Menschen durch eine gewisse „Erleichterung“ in die Lage zu versetzen, mit dem Elend, das sie erlitten, etwas besser fertig zu werden. Dadurch, dass man z. B. Hitler „Horowitz“ nannte, konnte man den größten Schurken des Nazi-Terrors vielleicht auf ein Normalformat zurechtstutzen und ihn weniger bedrohlich erscheinen lassen. Der Holocaust-Humor von heute hingegen hat eine solche Funktion nicht und erscheint nur grausam. „Was ist braun und versteckt sich in der Bodenkammer? Der Durchfall von Anne Frank“. „Anne Frank tut mir leid. Zuerst wird ihr Tagebuch veröffentlicht, was allein schon der schlimmste Albtraum jedes Mädchens ist, aber obendrein bekommt sie kein Geld dafür, was der schlimmste Albtraum jedes Juden ist“. Diese sogenannten „Anne Frank-Witze“, und es gibt noch viel mehr davon, enthalten eine besonders niederträchtige Untergruppe dieser abstoßenden Art von Humor. Wenn man sich dieser Art Humor aussetzt, fühlt man sich augenblicklich beschmutzt. Und doch sollte man diese „Witze“ nicht als folgenlos abtun, denn sie zeigen, dass ein Punkt erreicht ist, zumindest für einige Leute, an dem es jetzt akzeptabel geworden ist, die Schrecken des Holocaust auf makabre Witze zu reduzieren und dann die widerlichen Reste den Juden wieder vorzuwerfen. Andere neigen zwar nicht dazu, die Juden zu verhöhnen und lächerlich zu machen, sie behaupten aber, dass ein zu hohes Maß an Aufmerksamkeit dem NaziHolocaust gegenüber dahin geführt habe, dass anderen Opfergruppen und selbst anderen „Holocausts“ zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht worden sei. In gewissen europäischen Ländern, insbesondere in den baltischen Republiken, aber nicht nur dort, findet man heute eine wachsende Tendenz, die Verbrechen Hitlers mit denen Stalins auf dieselbe Stufe zu stellen, sowie einen Ruf nach der Schaffung neuer Institutionen und öffentlicher Veranstaltungen, um der Opfer beider Diktatoren gemeinsam zu gedenken. Die „Prague Declaration on European Conscience and Communism“ („Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“) vom 3. Juni 2008 formuliert eine Begründung dafür, „den Kommunismus und den Nationalsozialismus als gemeinsames Erbe“ anzuerkennen, und argumentiert dahingehend, „eine gesamteuropäische Auffassung zu erreichen“, wonach die „im Namen des Kommunismus begangenen Verbrechen in derselben Weise, in der die Nazi-Verbrechen durch die Nürnberger Prozesse eingestuft wurden“, beurteilt und in Erinnerung behalten werden sollten. Die Prager Erklärung hat ein solches Denken in signifikanter Weise angestoßen, und parallel gelagerte Vorschläge sind den politischen Gruppierungen auch anderer osteuropäischer Länder vorgelegt wor218 | 

Kapitel 9

den. Erreicht werden soll der Effekt, dass Völkermord neu definiert wird, so dass der Begriff in einer umfassenderen, wenn auch weniger genauen Weise auf andere Menschen als nur auf die Juden Anwendung findet. Am 2. April 2009 sprachen sich mehr als 400 Mitglieder des Europäischen Parlaments dafür aus, den 23. August, den Tag, an dem 1939 der Ribbentrop-Molotow-Pakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion unterzeichnet wurde, als „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ auszurufen.10 Wenn dieser Tag erfolgreich permanent eingeführt würde, dann würde der „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ überflüssig, was in relativ kurzer Zeit zu seiner Abschaffung führen würde. Yehuda Bauer, der bedeutende israelische Historiker des Holocaust, kritisiert diese Entwicklungen scharf. Obwohl er einräumt, dass der vielen Opfer der sowjetischen Tyrannei durch angemessene Stätten und Tage der Erinnerung gedacht werden sollte, betrachtet Bauer diese Tendenzen zur Gleichsetzung als eine „verlogene Revision der neueren Weltgeschichte“, die in gravierender Weise das Wesen sowohl Nazi-Deutschlands als auch der Sowjetunion entstelle und „den durch das Nazi-Regime an den Juden verübten Völkermord trivialisiert und relativiert“.11 Dovid Katz, ein amerikanischer Historiker, der in Vilnius lebt, kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Katz weist hin auf eine „wiederbelebte europäische Bewegung, die Phänomene, die empirisch und begrifflich nicht vergleichbar sind, vermischt, anders anordnet oder gleichsetzt, und zwar mit dem Ziel, ‚den Holocaust als solchen‘ zu vernebeln, zu relativieren, zu verharmlosen oder sogar ganz aus der europäischen Geschichte und dem europäischen Bewusstsein zu tilgen“.12 Der litauische Philosoph Leonidas Donskis beklagt diese Entwicklungen innerhalb seines eigenen Landes und sieht sie als Beispiele einer „generellen Inflation – und damit als Entwertung – von Begriffsinhalten und Werten“, einschließlich des Begriffs des Völkermordes. Er zieht den Schluss: „Ob wir es wollen oder nicht, der Holocaust war der einzige echte Völkermord“, und er betont, dass Versuche, durch Gleichsetzung des Schicksals der Juden mit dem anderer Europäer die Geschichte des Zweiten Weltkriegs neu zu schreiben, die Wirklichkeit des tatsächlichen Geschehens entstellen.13 Donskis Ausdruck, „ob wir es wollen oder nicht“, verrät viel, denn er weiß, dass viele seiner Landsleute es entschieden nicht wollen und sich anschicken, die Wahr10 „Holocaust scholars slam EU for backing Nazi-Communist comparison“, http://www.haaretz. com/hasen/spages/1145183.html. 11 Yehuda Bauer, „Remembering accurately on International Holocaust Remembrance Day“, The Jerusalem Post, 4. Februar 2010. 12 Dovid Katz, „On Three Definitions: Genocide; Holocaust Denial; Holocaust Obfuscation“, A Litmus Case Test of Modernity: Examining Modern Sensibilities and the Public Domain in the Baltic States at the Turn of the Century, Interdisciplinary Studies on Central and Eastern Europe 5, hg. Leonidas Donskis (Bern: Peter Lang, 2009), 259–277; viele für diese Diskussion relevanten Dokumente einschließlich der Prager Erklärung und der Reaktionen darauf lassen sich auf Dovid Katz’ Website aufrufen. 13 Donskis, „The Inflation of Genocide“, 24. Juli 2009, EuropeanVoice.com. Das Ende des Holocaust  | 219

nehmung, wonach die Juden und nur die Juden das Recht auf eine besondere Aufmerksamkeit haben, zu ändern. Ihre Pendants anderswo in Europa tun das Gleiche. Wenn sie Erfolg haben, dann könnte der „Internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ mit der Zeit durch einen eher verallgemeinernden „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ in den Hintergrund gedrängt werden. Wenn das geschieht, könnten die besonderen Charakteristika, die die Nazi-Verbrechen gegen die Juden definiert haben, mit einem eher verallgemeinernden Begriffsinhalt einer totalitären oder tyrannischen Kriminalität vermengt werden. Einige Tendenzen in Richtung auf die Gleichsetzung sind in milderer Form auch in Amerika zu beobachten, obwohl sie bis heute großenteils auf Debatten innerhalb von akademischen und bestimmten kulturellen Institutionen beschränkt waren und in ernsthaften Diskussionen auf politischer Ebene keine Rolle spielten. Mehrere Colleges und Universitäten z. B., die Institute beherbergen, die ursprünglich für Holocaust-Forschungen eingerichtet wurden, haben den Auftrag dieser Institute neu definiert und ihm eine größere Bandbreite historischer und gesellschaftlicher Probleme zugewiesen. Die Clark-Universität in Massachusetts z. B. nennt ihr früheres Center for Holocaust Studies (Zentrum für Holocaust-Studien) nun Center for Holocaust and Genocide Studies (Zentrum für Holocaust- und Völkermordstudien). Das ist auch der Fall bei der Universität von Minnesota in Minneapolis. Das Claremont McKenna College in Kalifornien folgt dem gleichen Muster und kann sich nun eines Center for the Study of the Holocaust, Genocide, and Human Rights (Zentrum für das Studium des Holocaust, des Völkermordes und der Menschenrechte) rühmen. In einer noch weiteren Fassung des Programmauftrages hat das ChicoCollege in Kalifornien nun ein Center for Excellence in the Study of the Holocaust, Genocide, Human Rights, and Tolerance (Kompetenzzentrum für das Studium des Holocaust, des Völkermordes, der Menschenrechte und der Toleranz). Die Universität von Nevada hat ein Center for Holocaust, Genocide, and Peace Studies (Zentrum für das Studium des Holocaust, des Völkermordes und des Friedens). In New York findet man das Suffolk Center on the Holocaust, Diversity, and Human Understanding (Suffolk-Zentrum über den Holocaust, über Vielfalt und Verständigung). In Cincinnati, Ohio, gibt es das Center for Holocaust and Humanity Education (Zentrum für Information über den Holocaust und für Erziehung zur Menschlichkeit). Und an der Western Washington University findet man das Center for Holocaust, Genocide, and Ethnocide Education (Zentrum zum Studium des Holocaust, des Völkermordes und der Zerstörung einer ethnischen Kultur). Zahlreiche andere Zentren mit ähnlichen Bezeichnungen gibt es auch anderswo. Darüberhinaus werden Institute, die ursprünglich als Holocaust-Museen konzipiert waren, nun von einem Auftrag geleitet, der folgendes mit einschließt: „Verteidigung der Menschenrechte“, „Toleranzschulung“, „Hinarbeiten auf eine Gesellschaft, die den Dialog zwischen allen ethnischen, politischen und religiösen Gruppen fördert“, „Förderung von Toleranz, Inklusion, sozialer Gerechtigkeit und staatsbürgerlicher Verantwortung“ 220 | 

Kapitel 9

sowie „Suche nach friedlichen Wegen zur menschlichen Vervollkommnung“.14 Diese Ziele, so bewundernswert sie an und für sich sind, haben ihren Ursprung in modernen amerikanischen sozialen und politischen Programmen, die auf den Holocaust hauptsächlich aus pragmatischen und didaktischen Gründen schauen, nämlich als Katalysator für moralische Erziehung und soziale Kompetenz. Es liegt die Idee zugrunde – eine deutlich erkennbare amerikanische Idee –, den NaziVölkermord an den Juden für Programme zu verwenden, die aus all dem Bösen möglichst etwas Gutes entstehen lassen wollen. Dieses Ziel mag anerkennenswert sein; aber wird bei dem Bemühen, es zu erreichen, die erdrückend zerstörerische Geschichte des Holocaust auch präzise in Erinnerung bleiben und darüberhinaus immer noch das Zentrum der Anteilnahme bilden? Für einige innerhalb der akademischen Welt Amerikas ist dies die falsche Frage. So wie sie es sehen, habe die fast ausschließliche Beschäftigung mit dem Holocaust zu wenig Raum gelassen für die effektive Berücksichtigung der Anliegen anderer Menschen. Sie glauben, es sei an der Zeit, den jüdischen Holocaust aus dem Zentrum der allgegenwärtigen Diskussionen über Völkermord, Wiedergutmachung und über die Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Staaten herauszunehmen. … Der jüdische Holocaust in seiner angeblichen Einzigartigkeit kann nicht immerwährend als Maßstab oder Referenzpunkt für jedes Vorkommen von Völkermord und Fremdenfeindlichkeit verwendet werden. … Die zu starke Betonung des jüdischen Holocaust erstickt unser Verstehen [anderer] … nationaler und umfassenderer Völkermordgeschehnisse.15

Diese Äußerungen erschienen in einem Aufruf zur Einreichung von Beiträgen vom November 2002, der von David Leonard verbreitet wurde, einem Professor an der Washington State University; er wollte Projekte organisieren, die „die beherrschende Position der Shoa im amerikanischen Leben“ erschüttern sollten. Angeregt durch die Arbeiten von Norman Finkelstein und Peter Novick, warf dieser Wissenschaftler dem „jüdischen Holocaust“ und „der ihn unterstützenden ‚Holocaust-Industrie‘“ vor, die Aufmerksamkeit von „den Diskussionen in den Vereinigten Staaten, die nicht die ausschließliche Domäne jüdischer Studien oder den Holocaust betreffender Studien sind“, ablenken zu wollen. Kurz: Er hatte genug von den jüdischen Opfern des Nazi-Völkermordes gehört und wollte, dass man sich auf „den Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern und den AfroAmerikanern konzentrierte. Damit steht er nicht allein. Der Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels fragt: „Warum gibt es ein von staatlicher Seite bezuschusstes Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten auf der Mall in Washington, D.C.?“ Darauf liefert er eine Antwort, die diese scheinbare Frage in eine Anklage umwandelt: „Das 14 Diese Ziele sind den Aufgaben-Erklärungen verschiedener Institute entnommen, die in 2010 Directory of the Association of Holocaust Organizations aufgelistet sind (Houston, Texas: Holocaust Museum Houston, 2010). 15 Zitiert nach Professor David Leonards elektronisch verbreiteten „CALL FOR PAPERS“, November 2002. Das Ende des Holocaust  | 221

Gedenken an die Nazi-Morde an den Juden auf der Mall [ist] in Wirklichkeit nur eine andere Art der Leugnung des Holocaust oder, genauer gesagt, der Leugnung eines anderen Holocaust“. Seiner Ansicht nach habe eine zu starke öffentliche Aufmerksamkeit dem Holocaust gegenüber bewirkt, das öffentliche Gedenken an die Geschichte der schwarzen Sklaverei und der Unterdrückung der Ureinwohner Amerikas zu behindern.16 Wie Michaels es sieht, habe die Bevorzugung des Holocaust an den europäischen Juden als „des paradigmatischen Hassverbrechens“ die längst überfällige Anerkennung des Umstandes behindert, dass sich Hass auch gegen andere, die den Amerikanern viel näher stehen, gerichtet hat. In Übereinstimmung mit dieser Auffassung, wenn auch im Ton weniger polemisch, argumentieren Marianne Hirsch und Irene Kacandes, Herausgeberinnen von Teaching the Representation of the Holocaust (Die Vermittlung von Darstellungen des Holocaust), wie folgt: Weil Historiker, die in den Vereinigten Staaten die Geschichte des Holocaust vermitteln, dies als Angehörige „eines Volkes mit seiner eigenen bewegten Geschichte des Leidens, der Verfolgung und des Völkermordes“ tun, sei eine „Anerkennung der Beziehung zwischen der Darstellung des Gedenkens an den Holocaust und der Darstellung der Sklaverei der amerikanischen Ureinwohner sowie des an ihnen begangenen Völkermordes ein grundlegendes Element jeder Holocaust-Lehrveranstaltung in den Vereinigten Staaten“. Um ihre Argumentation zu stützen, führen sie die Arbeiten des Historikers Eric D. Weitz an, der behauptet, dass „im größeren Rahmen der Schul- und Universitäts-Curricula sowie der Forschung eine ausschließliche Konzentration auf den Holocaust nicht mehr genügt“.17 Warum dies nicht mehr genügt, wird nirgends deutlich. Die meisten amerikanischen Historiker, die Lehrveranstaltungen über amerikanische Sklaverei und das Schicksal der amerikanischen Ureinwohner anbieten, fühlen sich schließlich nicht verpflichtet, ihre Curricula nach vergleichenden Prinzipien auszurichten, sondern behandeln ihre Lehrgebiete als sich völlig selbstgenügend. Aber wenn diese Handlungsweise richtig ist, warum ist dann eine Konzentration auf den Holocaust ungenügend? Und warum wird dann eine Notwendigkeit unterstellt, das Studium der Nazi-Verbrechen gegen die Juden in einen amerikanischen Kontext einzubetten, 16 Walter Benn Michaels, The Trouble with Diversity (New York: Metropolitan Books, 2006), 53, 55. 17 Teaching the Representation of the Holocaust (Modern Language Association, 2004), 10. Weitz, der an der Universität von Minnesota Geschichte lehrt, ist in Bezug auf diese Thematik sehr ambivalent. Einerseits erkennt er an, dass der „Holocaust eine Gräueltat von monumentalen Ausmaßen und die größte Tragödie in der jüdischen Geschichte war“. Er macht auch deutlich, dass er „nicht vorschlägt, Lehrveranstaltungen und Forschungen über den Holocaust und Nazi-Deutschland aufzugeben“. Andererseits aber gibt er zu, dass er persönlich „nie eine Holocaust-Lehrveranstaltung abgehalten hat“ und „die schiere Weigerung, über den durch Deutschland und das Schicksal der Juden im Dritten Reich definierten Bezugsrahmen hinauszugehen, nicht überzeugend und nicht zufriendenstellend“ findet. (Teaching the Representation of the Holocaust, 136, 138).

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der die Studenten mit etwas konfrontiert, was Hirsch und Kacandes „das Wirken des Rassismus und des Vorurteils, das wir in unserer eigenen Kultur vorfinden können“, nennen? Rassismus und Vorurteile sind fest verankerte Tatsachen im Leben der amerikanischen Nation, aber bis heute haben sie auch nicht im entferntesten einen Grad erreicht, wie es das Warschauer Ghetto oder Auschwitz waren. Die Einbeziehung des Studiums der Nazi-Verbrechen gegen die Juden in einen spezifisch amerikanischen Rahmen wird daher unweigerlich die Geschichte sowohl des Nazi-Holocaust als auch der amerikanischen Geschehnisse einschließlich des Rassismus entstellen. Die Forderung nach einer derartigen Umorientierung der Holocaust-Studien ist nur ein weiteres Beispiel für die wachsende Ungeduld mit dem Stellenwert des Holocaust im Leben Amerikas, die ähnliche, sogar noch stärker ausgedrückte Gefühle in Teilen Europas und in großen Teilen der muslimischen Welt spiegelt, Gefühle der Unzufriedenheit mit der Geschichte des Holocaust und mit dem Gedenken daran. Diese Unzufriedenheit, wie sie in den Vereinigten Staaten vonseiten einer ganzen Anzahl von Wissenschaftlern und Autoren geäußert wird, stellt sowohl das in Frage, was nun gemeinhin – manchmal auch pejorativ – das „Holocaust-Bewusstsein“ genannt wird, als auch die Motive derer, die es wachhalten möchten. Bevor wir uns denen näher zuwenden, die die Verbreitung des Holocaust-Bewusstseins verunglimpfen, ist aber der Hinweis darauf wichtig, dass einige dieses Bewusstsein bekräftigen. Im Gegensatz zu der polemischen Argumentation von Norman Finkelstein, Peter Novick und anderen, die weiter unten behandelt werden, widerlegen die Arbeiten von Jeffrey Alexander, Michael Rothberg, sowie von Daniel Levy und Natan Sznaider die Behauptung, wonach das Holocaust-Bewusstsein ausnahmslos zum Nachlassen der Aufmerksamkeit der Geschichte des Leidens anderen Gruppen gegenüber führe.18 Die Autoren zeigen im Gegenteil, dass ein Bewusstsein des Schicksals der Juden in Hitlers Europa dazu beiträgt, die Aufmerksamkeit auf Ungerechtigkeiten, die anderen gegenüber begangen werden, zu lenken, wenn auch manchmal in einer Weise, die den Holocaust von seiner historischen Grundlage ablöst und ihn als einen Vorboten eines umfassenderen Übels in einer weiteren Bedeutung verallgemeinert. So argumentiert Jeffrey C. Alexander, ein Kultur-Soziologe an der Yale-Universität, in einem viel-diskutierten Essay, „The Social Construction of Moral Universals“ („Die soziale Struktur moralischer Universalien“) dahingehend, dass der Holocaust zwar ursprünglich als „ein spezifisches und historisch lokalisierbares Geschehen“ bekannt gewesen sein mag, in den letzten Jahren aber „umgewandelt“ worden sei 18 Jeffrey Alexander, Remembering the Holocaust: A Debate (New York: Oxford University Press, 2009); dieser Band enthält Alexanders Essay und sechs Erwiderungen darauf von anderen Wissenschaftlern; Michael Rothberg, Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization (Stanford, Calif.: Stanford University Press, 2009); Daniel Levy und Natan Sznaider, Holocaust and Memory in the Global Age (Philadelphia: Temple University Press, 2005). Das Ende des Holocaust  | 223

„in ein generalisiertes Symbol menschlichen Leidens“. Im Gegensatz zu Kritikern wie Lawrence Langer und Berel Lang, die diese Umwandlungen als ausbeuterisch beklagen, bekräftigt Alexander sie nachdrücklich aus moralischen und politischen Gründen. In seiner Lesart dieser Entwicklungen hat die verbreitete Rezeption der Völkermordverbrechen an den Juden als zugängliche Metapher für das Böse „historisch beispiellose Gelegenheiten dafür geschaffen, dass ethnische, rassische und religiöse Gerechtigkeit, gegenseitige Anerkennung und globale Konflikte in einer mehr zivilisierten Art und Weise geregelt werden können“.19 Zusammengefasst: durch „symbolische Erweiterung“ des Holocaust als einer „Brückenmetapher“ könne das Gedenken an die Nazi-Verbrechen dazu beitragen, die gute Sache der Menschenrechte, der menschlichen Solidarität, einer verstärkten moralischen Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit weltweit zu fördern. Obwohl es schwierig ist, in der realen Welt einen spürbaren Fortschritt bei dem Bemühen zu erkennen, diese idealistischen Ziele zu erreichen, hat Alexander mit der Bemerkung Recht, dass der Holocaust weltweit als moralisch-politischer Mythos mehr und mehr verallgemeinert wird, als ein Mythos, den andere, die eine Geschichte der Viktimisierung für sich in Anspruch nehmen, bequem vereinnahmen können. „Holocaust“, bemerkt er, ist nicht länger auf die Verfolgung und den Massenmord an den Juden beschränkt, sondern ist „ein weltweiter Referenz- und Vergleichspunkt für Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ im allgemeinen geworden.20 Eine der Konsequenzen ist, dass verschiedene Staaten und gesellschaftliche Gruppierungen nun erreichen wollen, dass ihr jeweils eigener „Holocaust“ anerkannt wird. So wird etwa die durch die sowjetische Kollektivierungspolitik in den dreißiger Jahren in der Ukraine herbeigeführte Hungersnot, die die Landwirtschaft zugrunde richtete und den Tod von Millionen von Menschen verursachte, heute oft als der „ukrainische Holocaust“ bezeichnet. Einige Verfechter von Schwulenrechten wollen, dass die Verfolgung der Homosexuellen durch die Nazis während des Dritten Reiches als „Homocaust“ bekannt werden sollte.21 Und der Staat Israel wird regelmäßig beschuldigt, „Völkermord“ zu begehen und sogar einen neuen „Nazi-ähnlichen Holocaust“ an den Palästinensern zu verüben. Alexander bezieht sich zwar nicht auf diese Beispiele, aber er sieht das verbreitete Erscheinen „progressiver“ Holocaust-Bezugnahmen als Indiz für die Erweiterung der moralischen Vorstellungskraft, die, wie er glaubt, eine humanisierende Wirkung auf das soziale und politische Leben ausüben müsse. Was er nicht hinreichend erkennt, ist, dass all diese Vereinnahmungen der Erinnerung an den Holocaust aller Wahrscheinlichkeit nach zweckentfremdende Vereinnahmen sind. Denn mit der weiteren Ausbreitung und Umwandlung des Holocaust 19 Remembering the Holocaust, 3. 20 Ebd., 176; Alexander zitiert hier Dirk Rupnow, einen deutschen Wissenschaftler. 21 Rüdiger Lautmann, „The Pink Triangle: Homosexuals as ‚Enemies of the State‘“, The Holocaust and History: The Known, the Unknown, the Disputed, and the Reexamined, hg. Michael Berenbaum und Abraham J. Peck (Bloomington: Indiana University Press, 1998), 345.

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als einer Metapher wird der Nazi-Völkermord an den Juden auf den Status eines abstrakt universellen, typenhaften Phänomens reduziert, auf einen Tropus, der für alle, die sich durch vergangene oder gegenwärtige Gravamina gekränkt fühlen, verfügbar ist. Die Charakteristika des Holocaust werden damit abgeschwächt, und seine schockierende und niederschmetternde Wirkung wird verringert. Einer der Kritiker Alexanders bemerkt, dass durch die unterordnende Reduzierung der Geschichte der Nazi-Verbrechen gegen die Juden auf ihre „Verschlüsselungsform“ im Sinne eines „Sakral-Bösen“ „die harte Faktizität der Geschehnisse schwindet“.22 Einem anderen Kritiker zufolge „liegt das Paradoxon dieses Prozesses in dem Abtrennen des Bezeichnenden von dem Bezeichneten: Das, was geschehen ist, hat seine Bezeichnung vergessen, und die Bezeichnung hat vergessen, was geschehen ist“.23 Während Alexander also die Ausbreitung des Holocaust-Bewusstseins als Instrument begrüßt, mit dem zukünftige Völkermorde eingedämmt werden sollen, gibt er aber dem Völkermord, der tatsächlich geschehen ist, zu wenig historisches Gewicht. Andere sehen in der Unterstützung des Holocaust-Bewusstseins eine böse Absicht und eine Manipulation und verurteilen ihre Befürworter heftig. Norman Finkelstein, der vehementeste dieser Kritiker, versucht, in The Holocaust Industry (Die Holocaust-Industrie) „den Holocaust“ als ideologische Darstellung zu verurteilen, die seiner Auffassung nach in betrügerischer Absicht ersonnen und der amerikanischen Öffentlichkeit „verkauft“ worden sei, um eine wankende jüdische Identität zu beleben und „kriminelle politische Maßnahmen des Staates Israel sowie deren Unterstützung durch die Vereinigten Staaten zu rechtfertigen“. Finkelstein erhebt weitere Vorwürfe: Diejenigen, die die sogenannte „Holocaust-Industrie“ betrieben, verfolgten einen Erpressungsplan, bei dem mehrere Milliarden Dollar eine Rolle spielten.24 Während diese Ideen in The Holocaust Industry in einer besonders harten und aggressiven Weise präsentiert werden, ist Finkelsteins Buch trotz seines extremen Charakters repräsentativ für einen polemischen Umgang mit dem Holocaust, der über die Jahre hin in den Arbeiten einer ganzen Reihe von Autoren Raum gewonnen hat. Viele von ihnen gebrauchen auch Ausdrücke, die denen von Finkelstein ähneln, selbst wenn sie nicht dessen aufhetzenden Ton verwenden. Das Resultat ist, dass die Erinnerung an den Holocaust am Beginn des 21. Jahrhunderts von mehreren Seiten her angegriffen wird. Die Streitpunkte, um die sich die Argumentation typischerweise dreht, haben weniger mit dem Holocaust als einem historischen Ereignis zu tun als vielmehr mit Beschuldigungen hinsichtlich einer manipulativen Verwendung des Holocaust als eines überbewerteten Elements der heutigen jüdischen Identität. Mit anderen 22 Der Kritiker ist Nathan Glazer; vgl. Remembering the Holocaust, 146. 23 Elihu Katz und Ruth Katz, in Remembering the Holocaust, 160. 24 Norman Finkelstein, The Holocaust Industry: Reflections on the Exploitation of Jewish Suffering (London: Verso, 2000), 7–8. Das Ende des Holocaust  | 225

Worten: Es geht in diesen zunehmend erbitterten Debatten um eine Version der Politik des Gedenkens, nach der die amerikanischen Juden angeblich die moralischen Vorteile, die ihnen als privilegierten „Opfern“ vermeintlich zukommen, dazu benutzten, um ihre engstirnigen Ziele und egoistischen politischen Programme voranzutreiben. Die „Zentralisierung“ des Holocaust im jüdischen Bewusstsein und in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung, so lautet die Anschuldigung, entstelle nicht nur die jüdische Identität und verzerre das jüdische Leben, sondern übe einen gravierend negativen Effekt auf andere aus, deren eigene Geschichte von Verfolgung und Leid an den Rand gedrängt worden und aufgrund der zu starken Betonung des jüdischen Leidens fast vergessen worden sei. Wie in Amerika von einem „maßgeblichen Kader aus den Reihen derer, die sich professionell mit dem Holocaust befassen“ – der Ausdruck stammt von Peter Novick25 –, vorgetragen, diene das Holocaust-Bewusstsein dem Zweck der jüdischen Selbstverherrlichung und hindere andere viktimisierte Menschen daran, einen angemessenen Anteil der öffentlichen Aufmerksamkeit und Sympathie zu bekommen. Aus diesen und ähnlichen Gründen hält man es für die eigentliche Funktion von Kritikern, die „Holocaust-Industrie“ als das, was sie sei, bloßzustellen und damit den festen Griff, in dem das Holocaust-Gedenken das Bewusstsein der Juden und der Amerikaner gefangen halte, zu lockern. Diese Anschuldigungen sind in den letzten Jahren immer offener und leidenschaftlicher ausgesprochen worden; sie erscheinen aber schon, zwar in milderen Versionen, in amerikanischen jüdischen Zeitschriften der späten siebziger Jahre. Während der beiden letzten Jahrzehnte ist diese Kritik jedoch umfangreicher geworden und hat Untertöne von Geringschätzung und Lächerlichmachung angenommen, die in den Jahren davor selten zu hören waren. Michael Goldberg verurteilt in Why Should Jews Survive? (1995) (Warum sollten Juden überleben?) die Herausbildung des Holocaust-Bewusstseins als etwas, das „das jüdische Selbstverständnis verstümmelt“, und betont, dass „die Herausforderung, der sich Juden heutzutage gegenüber sehen, nicht darin besteht, Hitler und die Nazis zu überdauern, sondern die lebensbedrohliche Geschichte, die in der Zeit danach geschaffen worden ist, zu überwinden“. Der Holocaust sei nach Goldberg ein „Kult“ mit seinen eigenen „Glaubenssätzen, Riten und Schreinen“ geworden, geleitet von einem „Hohenpriester“, Elie Wiesel. Goldberg kritisiert Wiesel wegen der kultischen Macht, die er angeblich ausübe, wegen der Vorlesungshonorare, die er verlange, und seines angeblichen Versäumnisses, seine Anhänger für das Leiden anderer zu sensibilisieren, ganz besonders der Palästinenser, die während der ersten Intifada „geschlagen, gefoltert und noch schlimmer behandelt worden seien“. Goldberg ist so sehr von den verderblichen Folgen des Holocaust-Bewusstseins überzeugt, dass er sein Buch mit der Aussage schließt, dass „Juden nicht länger Juden bleiben können, solange sie an einer vom Holocaust 25 Peter Novick, The Holocaust in American Life (Boston: Houghton Mifflin Company, 1999), 6.

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neugeschaffenen Geschichte festhalten“, und dass „auch die Menschheit nicht länger menschlich bleiben kann“.26 Goldberg, ein Rabbi, wendet sich gegen die „Holocaust-Geschichte“, weil er glaubt, dass ihre negativen Gewichtungen den religiösen Glauben unterwanderten und damit auch den eigentlichen Grund jüdischer Existenz gefährdeten. Philip Lopate, ein prominenter Essayist, der sich selbst als einen „säkularen, gefallenen Juden“ bezeichnet, findet noch andere Gründe, sich gegen die seiner Meinung nach exzessive jüdische Beschäftigung mit dem Holocaust zu wenden. Für ihn ist schon der Ausdruck „Holocaust“ zu beanstanden, da er etwas „Wichtigtuerisches, Aufgeblasenes an sich“ habe. Diejenigen, die auf der exklusiven Verwendung des Terminus bestehen, „trivialisieren den Massenmord an anderen Menschen, wenn sie ihn nicht sogar in unwürdiger Weise betrachten“: „Ist es uns nicht möglich, etwas mehr Mitgefühl für die anderen viktimisierten Völker dieses Jahrhunderts aufzubringen?“ fragt er, „und ist es nicht möglich, nicht so sehr darauf zu beharren, dass unsere Wunden schlimmer bluten?“ Wie Goldberg, so hat sich auch Lopate Elie Wiesel als den am meisten Verantwortlichen für diesen angeblichen jüdischen Chauvinismus herausgegriffen. Wiesel, sagt er, werte den Holocaust derartig auf, als ob er „ein großes Unternehmen“ sei. Lopate gesteht zu, dass Millionen von Juden durch die Nazis ermordet worden sind, aber ihm ist auch bekannt, dass Bengalen, Einwohner von Ost-Timor und Ibo ebenfalls ermordet worden sind, und er fügt hinzu: „Wenn es sich um Massenmord handelt, dann kann ich keinen Unterschied zwischen ihren und unseren Opfern erkennen“. Lopate, der keine Rechtfertigung in dem jüdischen „Ausrottungsstolz“ sieht und auch keinen Geschmack an „Stammesdünkel“ findet, argumentiert dahingehend, dass die echteste Haltung dem Holocaust gegenüber heute die des Widerstandes sei. Wie er sich ausdrückt, „bedeutet es nicht, dass man jemanden mögen muss, nur weil er viel durchgemacht hat“.27 Lopates zorniger Essay repräsentiert, wie auch Goldbergs gehässiger Angriff, eine Art der jüdischen Ablehnung, die auch bei anderen festzustellen ist, die ebenfalls das Gefühl haben, an einem Punkt der Übersättigung angekommen zu sein, weil sie „zuviel Holocaust“ in sich hätten aufnehmen müssen. Diese kritischen Stimmen – und es gibt noch viele ähnliche – muss man im Rahmen der Entwicklung des Holocaust-Bewusstseins in Amerika über die ganze Zeit hin sehen. Während mehrerer Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren die meisten Amerikaner aller Wahrscheinlichkeit nach unfähig oder unwillig, mit dem ganzen Ausmaß der Schrecken der Nazizeit konfrontiert zu werden. Viele wussten ganz einfach recht wenig darüber. Gedenkveranstaltungen und andere 26 Michael Goldberg, Why Should Jews Survive? Looking Past the Holocaust toward a Jewish Future (New York: Oxford University Press, 1995), 5, 41, 59, 175. 27 Philip Lopate, „Resistance to the Holocaust“, Testimony: Contemporary Writers Make the Holocaust Personal, hg. David Rosenberg (New York: Random House, 1989), 307, 287, 289, 300, 293, 299, 286; eine frühere Fassung dieses Essays ist erschienen in Tikkun 4, Nr. 3 (Mai/Juni 1989), mit kritischen Erwiderungen von Yehuda Bauer und Deborah Lipstadt, 55–70. Das Ende des Holocaust  | 227

derartige Programme fanden in Amerika innerhalb jüdischer Gemeinden statt,28 aber „der Holocaust“, wie der Nazi-Völkermord später allgemein genannt wurde, war kein wesentlicher Faktor innerhalb der etablierten amerikanischen Kultur als solcher. Aufgrund verschiedener Faktoren erfuhr diese Situation in den sechziger Jahren jedoch eine signifikante Veränderung. Dieser Prozess begann mit der Entführung Adolf Eichmanns durch Israel und dem nachfolgenden Prozess 1961 und verstärkte sich im Juni 1967, als der Staat Israel von der Zerstörung bedroht war; erst durch diese Entwicklungen wurde die ganze Bedeutung des Holocaust den amerikanischen Juden und anderen mehr und mehr bewusst. Nach Israels Sieg im Sechstagekrieg und später nach der gefährlichen Situation, in der Israel sich im Jom-Kippur-Krieg 1973 befand, gab es eine Fülle von Veröffentlichungen über den Holocaust, eine außerordentliche Anstrengung der Juden, sich selbst und die gesamte Öffentlichkeit über die Nazi-Verbrechen eingehend zu informieren. Das war ein verständliches und legitimes Ziel, und der Holocaust erhielt durch diese Veröffentlichungen einen hervorgehobenen Platz innerhalb der etablierten Kultur. Dieser Erfolg jedoch führte wohl unausweichlich dazu, dass das Holocaust-Bewusstsein den Kompromissen und missbräuchlichen Verwendungen unterworfen wurde, die immer mit der Popularisierung, Kommerzialisierung und Politisierung der Geschichte einhergehen. „Unausweichlich“ bedeutet jedoch nicht ‚wünschenswert‘, und es ist daher recht heilsam, dass die kritische Aufmerksamkeit auf einige der zweifelhafteren Methoden gelenkt wurde, mit denen die Geschichten und Bilder des Holocaust in der Öffentlichkeit verbreitet worden sind. Weniger bewundernswert sind die unbedachten, sarkastischen und oft böswilligen Verhaltensformen, die einige dieser Kritiker denen gegenüber an den Tag gelegt haben, denen sie vorwerfen, den Holocaust zu „verkaufen“ oder in anderer Weise für pekuniäre oder selbstsüchtige Zwecke in den Vordergrund zu rücken. Angriffe gegen die sogenannten „Händler des Holocaust-Bewusstseins“ enthalten häufig übertriebene Behauptungen in Bezug auf eine jüdische „Besessenheit“ vom Holocaust, eine jüdische „Hegemonie“ auf dem Gebiet der Nachrichten über Massenleid, eine Erhebung des Holocaust zu einer Ersatz-„Religion“ der amerikanischen Juden und ähnliches.29 In praktisch all diesen Fällen wird das Holocaust-Bewusstsein als Ursache der Entwicklungen angesehen, die ihre Quellen ziemlich sicher ganz woanders haben. Trotzdem ist es nicht unüblich, dass Rabbis es beklagen, dass die Aufmerksamkeit, die dem Holocaust entgegengebracht wird, die amerikanischen Juden von ihren religiösen Pflichten ablenkten; genauso üblich ist es, dass erklärte Säkularisten wie Peter Novick und Philip Lopate den Vorwurf erheben, dass zuviel Holocaust im 28 Vgl. Hasia Diner, We Remember with Reverence and Love: American Jews and the Myth of Silence after the Holocaust, 1945–1962 (New York: New York University Press, 2009). 29 Tim Cole, Selling the Holocaust: From Auschwitz to Schindler: How History Is Bought, Packaged, and Sold (New York: Routledge, 1999), 1.

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Denken das soziale Bewusstsein amerikanischer Juden langsam aushöhle und ihr Herz dem Leid anderer gegenüber verhärte. Wenn sich, wie Novick behauptet, die amerikanischen Juden „in den letzten Jahrzehnten nach innen und nach rechts hin bewegt haben“, dann liege das daran, dass „der Holocaust einen zentralen Stellenwert im Bewusstsein der amerikanischen Juden erhalten“ habe.30 Dies ist eine Behauptung, für die Novick als Argument nur Vermutungen vortragen kann. Lopate hebt diesen Gedankengang auf eine noch höhere Ebene der Geschmacklosigkeit, indem er behauptet, dass „die jüdische intensive Beschäftigung mit dem Holocaust“ die amerikanischen Juden „lieblos, selbstbezogen, selbstgerecht – und aufdringlich“ gemacht habe.31 Hätte er es darüberhinaus noch für gut befunden, „käuflich“ hinzuzufügen, dann hätte er das Profil des hässlichen Juden in der klassischen antisemitischen Form abgerundet (Norman Finkelstein hat das durch seine brutalen Schilderungen des opportunistischen, geldgierigen Juden für ihn erledigt). Kurz, der Holocaust wird für vieles verantwortlich gemacht, was amerikanischen Juden Kopfschmerzen bereitet. Traditionalisten machen ihn verantwortlich dafür, dass das Judentum verfälscht und die religiöse Observanz durch eine neue, säkulare Religion ersetzt werde, die in ihrem Kern die jüdische Opferrolle verehre und nicht Gott. Und liberale Denker werfen dem Holocaust vor, die jüdische politische Vision einzuengen und einen breit angelegten Universalismus durch einen chauvinistischen Partikularismus zu ersetzen. Fast jede Abweichung von dem, was für normativ oder wünschenswert gehalten wird – die wachsende Entfremdung der amerikanischen Juden vom Judaismus, eine angebliche Gleichgültigkeit dem Schmerz und dem Leid anderer gegenüber, eine, wie manche es sehen, apologetische Haltung gegenüber den israelischen „Gräueltaten“ in nazi-ähnlichem Ausmaß –, wird denen angelastet, die sich dafür eingesetzt haben, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten. Was noch schlimmer ist: Man hört heute vielfach, dass die Befürworter des jüdischen Holocaust-Bewusstseins in nicht geringem Maße auch für das verantwortlich seien, was anderen Schmerzen bereite. „Bestimmte jüdische Wissenschaftler und ihre Gefolgsleute“ – denen vorgeworfen wird, dass sie die Verfechter einer radikal ethnozentrischen Weltsicht seien – betonten, dass der Holocaust ein beispielloses Verbrechen sei, das den Juden eine Vorrangstellung in Bezug auf Leid gewähre.32 Dieser „Kult“ von „Eiferern“ mit „einflussreichen Freunden in hoher Stellung“ habe es erreicht, durch eine „Selbstbedienungs-Maskerade der Einzigartigkeit des jüdischen Völkermordes“ breite Sympathie für die Juden zu gewinnen, und jeder, der angesichts dieses „Betruges“ Fragen stelle, stehe „sofort in der Gefahr, als Antise-

30 Novick, 10. 31 Lopate, 307. 32 David Stannard, „Vorwort“ zu A Little Matter of Genocide von Ward Churchill (San Francisco: City Lights Books, 1997), xvii. Das Ende des Holocaust  | 229

mit gebrandmarkt zu werden“. So sei, wie ein Autor schreibt, der von dieser angeblichen jüdischen Strategie der Nötigung unbeeindruckt bleibt, der Kern ihrer Argumentation nicht nur nachweislich irrig, sondern die umfassendere These, die sie in betrügerischer Weise vorbringt, ist von Grund auf rassistisch und provoziert Gewalt. Darüberhinaus schafft sie vorsätzlich eine Trennwand, hinter der opportunistische Regierungen heute versuchen, ihre eigene einschlägige Vergangenheit und ihre immer noch vorgenommenen Völkermordaktionen zu verbergen.

Unter diesen Regierungen sei auch der Staat Israel, der den Holocaust dazu habe benutzen können, seine „territoriale Expansion und die Unterdrückung des palästinensischen Volkes zu rechtfertigen“, ein Verbrechen, das viel zu lange unbeachtet geblieben sei, und zwar als Resultat des „hegemonialen Produkts vieler Jahre angestrengter intellektueller Arbeit einer Handvoll jüdischer Wissenschaftler und Autoren“.33 Ich zitiere nach David Stannard; er ist Historiker im Bereich der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner und einer von mehreren Figuren, die in den letzten Jahren frühere Argumente gegen das Holocaust-Bewusstsein auf neue Ebenen der polemischen Attacken gehoben haben. Mit ihren Arbeiten findet die Politik des Ressentiments mit einem zornigen Getöse Eingang in die kritische Literatur über den Holocaust und führt eine Rhetorik der Aggression gegen die Juden ein, die bis vor kurzem außerhalb der antisemitischen Literatur kaum anzutreffen war. Dieser Ton wird auch in Ward Churchills A Little Matter of Genocide: Holocaust and Denial in the Americas, 1492 to the Present (Eine unbedeutende Angelegenheit des Völkermordes: Holocaust und Leugnung in der Neuen Welt, 1492 bis heute) kräftig angeschlagen. Churchill, wie Stannard als Historiker im Bereich der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner weithin diskreditiert, ist überzeugt, dass dem Schicksal der Ureinwohner im „Amerikanischen Holocaust“ zu wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht worden sei, weil die jüdischen Opfern des Nazi-Holocaust zuviel Aufmerksamkeit erhalten hätten. Er erhebt den Vorwurf, dass die Opfer anderer Völkermorde aus der Geschichte praktisch getilgt worden seien, weil „maßgebliche Kreise innerhalb des Zionismus … behaupten, … dass außer dem Holocaust, den die Juden erlitten haben, kein ‚echter‘ Völkermord je geschehen ist …“ Die Politik, die Churchill und Stannard als die militante Form eines ethnischen Chauvinismus verurteilen, sei für alle klar sichtbar: Der jüdische „Absolutheitsanspruch“ diene „dem „Zwang zur permanenten Aufrechterhaltung des privilegierten politischen Status Israels, des jüdischen Staates, der 1947 auf ara33 David Stannard, „Uniqueness as Denial: The Politics of Genocide Scholarship“, Is the Holocaust Unique?: Perspectives on Comparative Genocide, hg. Alan S. Rosenbaum (Boulder, Colo.: Westview Press, 1996), 192, 198, 168, 167, 194, 167. Zu einer kritischen Stellungnahme zu Stannards Arbeit und der gesamten Frage der „Einzigartigkeit“ in der Holocaust-Forschung siehe Gavriel D. Rosenfeld, „The Politics of Uniqueness: Reflections on the Recent Polemical Turn in Holocaust and Genocide Scholarship“, Holocaust and Genocide Studies 13, Nr. 1 (Frühjahr 1999), 28–61.

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bischem Boden als ein Akt der internationalen Sühne für den Holocaust errichtet worden sei“. Mit diesem Anspruch werde auch danach getrachtet, „eine begriffliche Trennwand aufzurichten, hinter der die Realität des durch Israel immer noch begangenen Völkermordes gegen die palästinensische Bevölkerung verborgen wird, deren Rechte und deren Eigentum schon bei der Schaffung des Staates Israel usurpiert worden sind“.34 Sowohl Stannard als auch Churchill werfen jüdischen Forschern des Nazi-Holocaust vor, andere „Holocausts“ zu „leugnen“. Stannard geht sogar so weit, den „jüdischen Einzigartigkeits-Verfechtern“ vorzuwerfen, dass sie den Holocaust-Leugnern glichen, und behauptet sogar, dass sie „fast ausnahmslos genau dieselben Behauptungen nachäffen, die von den antisemitischen historischen Revisionisten vorgebracht werden“.35 Churchill verunglimpft diese Forscher in ähnlicher Weise: „Die Techniken, die von den Verfechtern des jüdischen Absolutheitsanspruchs verwendet werden, um ihre Lehre der ‚Einzigartigkeit‘ zu präsentieren, [sind] denen der Neonazi-Revisionisten [vergleichbar]“. Und er geht mit seinen Anschuldigungen noch einen Schritt weiter: „Die Verfechter des ‚jüdischen Absolutheitsanspruchs‘ stellen im Verhältnis eine größere und hinterlistigere Bedrohung für das Verständnis dar als die Holocaust-Leugner;“ denn dadurch, dass sie leugneten, dass auch andere Völker die Opfer von Völkermordverbrechen gewesen seien, hätten sie das Leid zahlloser anderer an den Rand gedrängt und es damit belanglos gemacht. Sie seien, sagt er, mit einer Geschichts-„Mythologie“ hausieren gegangen, die „vollständig zu den institutionalisierten Fällen von Völkermord-Leugnung passen“, die von zahlreichen Regierungen vorgebracht werde, die bestrebt seien, dafür zu sorgen, dass ihre eigenen „versteckten Holocausts“ auch versteckt blieben. Weil die Arbeiten dieser jüdischen Forscher für Churchill ärgerlich sind, werden sie von ihm in eine besondere Gruppe eingeordnet – er nennt Steven Katz, Yehuda Bauer, Elie Wiesel, Lucy Dawidowicz, Leni Yahil, Yisrael Gutman, Michael Marrus, Deborah Lipstadt und Martin Gilbert: „Diejenigen, die den Holocaust leugnen, richten ihre Verdrehungen schließlich auf ein einziges Ziel. Diejenigen jedoch, die alle Holocausts außer dem der Juden leugnen, erreichen denselben Effekt in Bezug auf viele Ziele“.36 Stannard und Churchill unterliegen ganz klar demselben Denkfehler, der die Arbeiten einiger der oben genannten jüdischen Kritiker beeinträchtigt. Während es zwar stimmt, dass die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner jahrelang vernachlässigt wurde, so liegt aber die Schuld nicht bei den Forschern des europäischen Holocaust, sondern bei Generationen amerikanischer Historiker und politischer Führungspersönlichkeiten, die aus Gründen, die jeweils nur sie betreffen, ihre Aufmerksamkeit nicht auf einige der beschämenden Kapitel der Vergangenheit Amerikas gerichtet haben. Dieses Versäumnis ist gravierend, aber chronologisch 34 Churchill, Little Matter of Genocide, 7, 73–74. 35 Stannard, „The Politics of Genocide Scholarship“, Is the Holocaust Unique?, 198. 36 Churchill, Little Matter of Genocide, 9, 50, 36. Das Ende des Holocaust  | 231

gesehen liegt es im Vergleich zum Holocaust zeitlich weit zurück und kann daher vernünftigerweise nicht dadurch erklärt werden, dass man den Verfechtern des „Zionismus“ oder des „jüdischen Absolutheitsanspruchs“ die Schuld gibt. Wenn man Historikern des Holocaust den Vorwurf machte, die Geschichte des Leidens der amerikanischen Ureinwohner zu vernachlässigen, so wäre das gleichbedeutend mit dem Vorwurf an die Adresse von Historikern der Geschichte der Ureinwohner, sie hätten die Aufmerksamkeit abgelenkt von dem unermesslichen Leid der afrikanischen Sklaven, den Massakern an den Armeniern oder der Ermordung von Millionen von Kambodschanern. Jedes dieser geschichtlichen Geschehnisse verdient offensichtlich ernsthafte Aufmerksamkeit, aber jedes hat auch seine einzigartigen Charakteristika; und diejenigen, die darüber schreiben, sind berechtigt, diese auch als solche anzuerkennen, ihre Forschungen darüber fortzusetzen und in ihren Lehrveranstaltungen weiterzugeben. Es ist daher logisch falsch, wenn man behauptet, dass durch die Konzentration der wissenschaftlichen Hinwendung zu dem Leid einer Nation das Leid anderer „geleugnet“ werde. Dennoch erheben Stannard und Churchill massive Vorwürfe gegen die Arbeit derer, die sich dem eingehenden Studium des Nazi-Holocaust in all seinen Facetten gewidmet haben. Ihrer Auffassung nach gleiche die Hinwendung zur historischen „Besonderheit“ nämlich der „Leugnung“ der Geschichte anderer. Und die „Verfechter der jüdischen Einzigartigkeit“ leisteten ganz bewusst „der vorsätzlichen Aufrechterhaltung der öffentlichen Unwissenheit in Bezug auf völkermörderische und rassistische Schreckenstaten, die von vielen Nationen begangen worden seien und noch begangen würden, Vorschub; dadurch befänden sie sich in „einer mörderischen Komplizenschaft mit früheren und gegenwärtigen völkermörderischen Regimes“.37 Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, und sie haben den Rahmen akademischer Forschungen im Bereich der amerikanischen Ureinwohner längst gesprengt. Heute ist der übliche Vorwurf der, dass die Juden ihre eigene Leidensgeschichte als Vorwand nähmen, um anderen Leid zuzufügen oder um die Aufmerksamkeit von der Unterdrückung anderer Völker abzulenken. Beständig wird der Staat Israel rigoros herausgegriffen als ein Israel, dessen Profil man inzwischen das Stigma eines Aggressor-Staates mit dem Rundumschutz des Holocaust-Bewusstseins aufgedrückt hat. Kein Geringerer im Bereich der Medien als Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times, schrieb während der ersten Intifada: „Israel wird heute nach und nach zu Yad Vashem mit einer Luftwaffe“.38 Zur gleichen Zeit wiederholte – wenn auch weniger extravagant – Zygmunt Bauman die Idee eines aggressiven Israel, das das Gedenken an den Holocaust für eigene Zwecke manipuliere: „Der jüdische Staat [hat] versucht, die tragische Erinnerung [an den Holocaust] als Nachweis für seine politische Legitimierung zu benutzen, als Freibrief für seine Politik in der Vergangenheit und auch in der Zukunft, vor allem 37 Stannard, „Uniqueness as Denial“, 198–199. 38 Thomas Friedman, From Beirut to Jerusalem (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1989), 281.

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aber als Zahlung einer Vorausentschädigung für die ungerechten Handlungen, die er selbst möglicherweise verüben würde“.39 Baumans Äußerungen werden zustimmend zitiert von Stannard, Churchill, Novick, Finkelstein und anderen, für die es nun eine gegebene Tatsache ist, dass der Holocaust von den Juden und besonders von dem jüdischen Staat auf zynische Weise als konkurrenzlose Ressource gegen seine Feinde benutzt werde. Insofern als sie das Holocaust-Gedenken in der Weise definiert, dass es nur wenig mehr sei als ein Werkzeug jüdischer Ermächtigung, ist die politische Logik dieses Gedankengangs evident. Man wirft dem jüdischen Staat vor, dass er im Namen von Auschwitz ein anderes Volk brutal unterdrücke, und zwar so, dass die ehemaligen Opfer nun regelmäßig als die heutigen Täter beschrieben werden, die auf der gleichen Stufe wie die Nazis stünden, und man betrachtet ihre Opfer als die neuen „Juden“. Diese groteske Rollenumkehrung hat keine Grundlage in der Realität, aber die rhetorische Kraft dieser Anschuldigung ist offenkundig, und sie wird heute häufig angeführt, als ob sie wahr wäre. Nicht weniger extrem sind die Mittel, die einige vorschlagen, um den Holocaust wieder, wie sie es sehen, in die ihm gemäße historische Perspektive zu rücken und die Juden auf ihre authentische ethische Berufung zu reduzieren, indem sie „Schluss mit Auschwitz“ proklamieren. Mit anderen Worten: Diese Kritik am Holocaust-Bewusstsein verknüpft einen Appell, sich vom Holocaust zu distanzieren, mit einem Appell an die Juden, auf die Ausübung politischer Macht dadurch zu verzichten, dass sie sich vom Staat Israel lösen. Niemand hat diesen Fall so klar formuliert wie Marc Ellis, ein jüdischer Theologe und Professor für Religion an der Baylor-Universität. Nach seiner Auffassung „sind die Juden im wesentlichen ein Volk der Diaspora“ und dazu eines, das keine staatliche Organisation benötigt, um sein religiöses Leben und seine gemeinschaftlichen Angelegenheiten zu stützen. Damit sie frei und nach ethischen Grundsätzen unter den Völkern der Welt leben können, sollten die Juden die Notwendigkeit erkennen, sich von der „Absolutsetzung Israels“ zu lösen; diese Loslösung, folgert Ellis, habe zur Folge, dass auch „der Holocaust nicht mehr absolut gesetzt wird:“40 Auschwitz ist zu einer Belastung für die jüdische Zukunft geworden. … Die Beibehaltung von Auschwitz als einer zentralen vorrangigen Erinnerung bedeutet in einem gewissen Sinne, … die brisanten Realitäten innerhalb unseres Gemeinwesens, insofern als sie mit Macht und Ungerechtigkeit zusammenhängen, … hinauszuschieben. … Auschwitz zu beenden bedeutet also das Eingeständnis, dass wir nicht mehr unschuldig sind und dass Israel nicht unsere Erlösung ist. … „Auschwitz zu beenden“ würde es uns auch erlauben – vielleicht sogar uns zwingen –, das Undenkbare zu denken – nämlich dass unsere Zukunft in einer grundlegenden Solidarität verknüpft ist mit denen, die wir vertrieben haben, einer Solidarität mit dem palästinensischen Volk. … Die ein39 Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust (Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 1989), ix. 40 Marc H. Ellis, Beyond Innocence and Redemption: Confronting the Holocaust and Israeli Power (San Francisco: Harper & Row, 1990), 187. Das Ende des Holocaust  | 233

zige Möglichkeit, dass die Erneuerung von Palästina in der jüdischen Vorstellung auch greift, ist die Beendigung von Auschwitz; oder mit anderen Worten, die Beendigung von Auschwitz und die Erneuerung von Palästina gehören zusammen.41

Das theologische bzw. politische Argument, das Ellis anführt, basiert auf der Überzeugung, dass „Auschwitz uns als ein Volk eigentlich lange nach der Zerstörung der Krematorien nach und nach umgebracht hat“,42 und dass die Juden im Namen von Auschwitz immer das Gefühl gehabt hätten, es stehe ihnen frei, ein anderes Volk zu demütigen, zu unterdrücken und sogar zu töten. Avishai Margalit beschreibt dieselbe Beziehung sogar noch zynischer: „Gegen die Waffe des Holocaust sind die Palästinenser Amateure. … Sobald die Operation ‚Holocaust-Gedenken‘ in den Schnellgang geschaltet wird, … können die Palästinenser nicht mehr konkurrieren“.43 Es liegt zweifellos an der so gesehenen Verknüpfung zwischen dem Holocaust und dem Staat Israel, dass die Medien in arabischen Ländern so sehr darauf erpicht sind, den Holocaust auszulöschen oder seine Geschichte als einen „Mythos“ zu entlarven, und dass die leidenschaftlichsten Kritiker Israels sich derartig veranlasst sehen, die „Holocaust-Industrie“ lächerlich zu machen und ein „Ende mit Auschwitz“ anzustreben. Die Idee einer „Holocaust-Industrie“ ist von Norman Finkelstein verbreitet worden, nicht von Peter Novick; aber in seinem einflussreichen Buch, The Holocaust in American Life (Der Holocaust im Leben Amerikas), schreibt Novick in etwa ähnlicher Weise.44 Aufgrund seiner wiederholten Bezugnahme auf die Arbeiten einflussreicher jüdischer Kreise ist Novick nahe daran, eine Holocaust-Industrie zu postulieren; es fehlt dabei nur noch diese Bezeichnung. Zu denen, die er im Auge hat, gehören „ein beträchtlicher Kader von Holocaust-Fachleuten“, ein „wachsender Kader von Holocaust-Fachleuten“, Juden, die „strategische Positionen in den Massenmedien innehaben“, sowie Projekte der Darstellung des Holocaust „im Rahmen der Kultur im allgemeinen“. Sein Buch, eine dezidierte Kritik der Politik des Holocaust-Gedenkens, rückt viele der Themen in den Vordergrund, die man in den Veröffentlichungen von Stannard, Churchill und anderen findet, und nimmt die voll entwickelte Attacke vorweg, die dann mit den Arbeiten von Norman Finkelstein kam.45 Novick verfolgt das Ziel, das Holocaust-Bewusstsein als bewusst geschaffenes Konstrukt amerikanischer jüdischer Organisationen und Institutionen zu entlarven, von denen die meisten angeblich im Interesse des Staates Israel arbeiteten. Er sagt, 41 Marc H. Ellis, Ending Auschwitz: The Future of Jewish and Christian Life (Louisville, Kentucky: Westminster/John Knox Press, 1994), 40, 42, 43. 42 Ebd., 39. 43 Avishai Margalit, „The Kitsch of Israel“, New York Review of Books, 9. März 2000, 19. 44 Novick ist bekannt als Kritiker der Arbeit von Finkelstein und hat eine sehr negative Rezension von The Holocaust Industry geschrieben; vgl. „A charge into darkness that sheds no light“, Jewish Chronicle, 28. Juli 2000, 28. Zu Finkelstein über Novick vgl. „Uses of the Holocaust“, London Review of Books 22, Nr. 1 (6. Januar 2000). 45 Novick, 6, 168, 208, 12.

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dass die Leiter dieser Organisationen erkannt hätten, dass die jüdische Identität in Amerika allmählich schwächer geworden sei, und sich daher konzentriert hätten auf den Holocaust als „den einen Artikel auf Lager, der attraktiv für die Verbraucher ist“, und sich nun daran machten, das schwächelnde jüdische Engagement durch die Schaffung „einer auf den Holocaust ausgerichteten jüdischen Identität“ neu zu beleben. Sie arbeiteten auch darauf hin, das Holocaust-Bewusstsein zu verbreiten, um „Unterstützung für das bedrängte Israel zu mobilisieren, das so dargestellt wird, als ob es einen neuen Holocaust zu befürchten hätte“. In diesen Bemühungen würden sie, wie Novick behauptet, durch eine starke jüdische Präsenz bei den „Medien und meinungsbildenden Eliten“ unterstützt, nämlich durch die Juden, die „eine wichtige und einflussreiche Rolle in Hollywood, der Fernsehindustrie sowie in der Welt der Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchpublikation spielen“. Durch die engagierte Tätigkeit dieser Leute sei der Holocaust von der Randlage genau in das Zentrum des amerikanischen Bewusstseins gerückt worden; und bei ihnen handele es sich „nicht einfach um ‚die Leute im Bereich des Buches‘, sondern um die Leute der Hollywood-Filme, der Fernseh-Kurzserien, der Zeitschriftenartikel und der Zeitungskolumnen sowie das Volk der Comics und der akademischen Symposien“. Kurz: Wenn der Holocaust inzwischen einen so herausragenden Platz im Leben Amerikas bekommen habe, so liege das zum größten Teil an der massiven jüdischen Präsenz in den Medien, wenn nicht sogar an der vollständigen jüdischen Kontrolle der Medien. Dadurch, dass Novick diese Position in der Weise absteckt, begibt er sich in die unangenehme Nähe derer, die schnell dabei sind, eine jüdische „verborgene Hand“ in der internationalen Finanzwelt, der Politik, den Medien, der Unterhaltungsindustrie und in anderen Machtquellen eines modernen Staates auszumachen. Bei Novick jedoch ist die einflussreiche Hand überhaupt nicht verborgen, sondern wird offen angesprochen. Seiner Auffassung nach hätten die Juden in einer Kultur, in der Opfer nach und nach immer mehr aufgewertet worden seien, für den Holocaust eine Vorrangstellung geschaffen und damit die Früchte eines solchen Erfolges eingeheimst. Um nicht in der Arena der „vergleichenden Wissenschaft der Gräueltaten“ überboten zu werden, bei der es um hohe Einsätze gehe, „besäßen“ die Juden nun „die Goldmedaille bei der Olympiade der Viktimisierung“.46 Norman Finkelstein teilt Novicks zynische Einschätzung der kulturellen und politischen Grundlagen des Holocaust-Gedenkens, will aber der ganzen Angelegenheit dadurch ein Ende setzen, dass er sie als einen totalen Betrug entlarven will. Indem er sich teilweise auf die Arbeiten früherer Kritiker des Holocaust-Bewusstseins bezieht – neben Peter Novick zitiert er Arnold Jacob Wolf, Jacob Neusner, David Stannard, Boas Evron und andere –, legt Finkelstein es darauf an, eine ausgewachsene Anklage gegen „den Holocaust“ zu erheben, den er als nur wenig mehr

46 Ebd., 186–188, 269, 207, 12, 201, 110, 195. Das Ende des Holocaust  | 235

betrachtet als „die zionistische Version des Nazi-Holocaust“.47 Finkelstein beklagt den zu sanften Charakter der Kategorien, die Novick verwendet – „‚Erinnerung‘ ist mit Sicherheit der armseligste Begriff, der seit langem in der akademischen Welt bekannt geworden ist“ –, und denkt lieber in Kategorien von „Macht“, „Interessen“ und „Ideologie“. Da Finkelstein von den eher faden Kategorien der kulturellen Analyse zu den „robusteren“ Kategorien der politischen Analyse übergeht, ist er davon überzeugt, die wirklich Schuldigen entdeckt zu haben – nämlich nicht nur diejenigen, die das Holocaust-Gedenken manipulierten, sondern vor allem die, die er als „Holocaust-Gangster“ und „Holocaust-Erpresser“ beschimpft. Er hat nur Verachtung für die Personen übrig, die er als Erpressungskünstler brandmarkt, deren korrupte Praktiken „den Antisemitismus in Europa am meisten schüren“. Sie seien es, die die Holocaust-Industrie anführten, und sie sind es, die Norman Finkelstein in wilder Entschlossenheit aus dem Geschäft drängen will, so dass „diejenigen, die dann umgekommen sind, … schließlich in Frieden ruhen [können]“.48 Unter den vielen bizarren Zügen der Rolle Finkelsteins als Autor ist der des entrüsteten Sohnes von Holocaust-Überlebenden erwähnenswert. Als erbitterter Gegner der „Instrumentalisierung des Leidens der Juden“ nutzt Finkelstein die Tatsache schamlos aus, dass seine Eltern in Hitlers Lagern gewesen waren und als einzige Mitglieder ihrer Familie überlebt haben. Sein Buch, so beteuert er in aufgesetzter Pietät, sei ein Versuch, „das Vermächtnis meiner Eltern darzustellen“. Aber was auch immer dieses Vermächtnis sein mag, so ist sein Buch – mehr als alles andere – eine Tirade von Schmähungen gegen eine jüdisch-zionistische Verschwörung, die nur in des Autors Kopf existiert. Da Finkelstein aber sozusagen eine eigene Qualifikation als der Sohn von Überlebenden hat, meint er, er habe das Recht, einen Kreuzzug gegen alle möglichen Leute zu führen, die sich mit dem Holocaust in einer Weise beschäftigt haben, die ihm nicht behagt. Diese Leute – von ihm bezeichnet als falsche Holocaust-Historiker, zionistische Ideologen, israelische Aggressoren, jüdische Beeinflussungs-Hausierer, vorgetäuschte Überlebende sowie andere zusammengewürfelte Politikaster und Söldner – bildeten die „Holocaust-Industrie“. Dies sei ein korrupter, rücksichtslos ausbeuterischer Haufen, der den Holocaust dazu benutzt habe, persönlichen Reichtum und politische Macht zu ergattern und für diejenigen im zionistischen und amerikanisch-jüdischen Lager, die emsig dabei seien, „diejenigen, die sich am wenigsten verteidigen können, herumzukommandieren“, Immunität zu erreichen. Bei der Beschreibung derer, die die jüdische Katastrophe unter Hitler für ihre eigenen Zwecke manipuliert hätten, präsentiert Finkelstein ein untilgbar beschämendes Bild menschlichen Verhaltens der abgefeimtesten Sorte. Es gibt jedoch ein wenig Licht in dem sonst düsteren Bild; denn die Figur, die sich hoch über die Machen47 Norman Finkelstein, A Nation on Trial: The Goldhagen Thesis and Historical Truth, (New York: Henry Holt and Company, 1998), 94. 48 The Holocaust Industry, 4, 5, 130, 150.

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schaften dieser moralisch bankrotten Horde erhebt, ist die Mutter des Autors, die mehr als einmal wegen ihrer moralischen Rechtschaffenheit und ihrer Lebensklugheit zitiert wird. Hier ein Beispiel: Anstatt das Leid der Juden für selbstsüchtige Zwecke auszunutzen, schreibt Finkelstein: „Die Zeit ist längst vorbei, in der wir unser Herz für das Leid des Restes der Menschheit schon hätten öffnen können. Das war die Hauptlektion, die meine Mutter uns erteilt hat. … Angesichts des Leidens der Afro-Amerikaner, der Vietnamesen und Palästinenser war das Credo meiner Mutter immer: Wir sind alle Holocaust-Opfer“. Oder auch: „‚Wenn jeder, der behauptet, ein Überlebender zu sein, auch wirklich einer ist‘, rief meine Mutter immer aus: ‚Wen hat Hitler dann eigentlich umgebracht?‘“49 Ein großer Teil des moralischen Tenors von Finkelsteins Argumentation gründet sich auf einfache Aussprüche dieser Art, wenn sie sich nicht auf lautstarke Verunglimpfungen sowohl persönlicher als auch politischer Art stützt. Infolgedessen ist man versucht, dieses Buch als sentimentales Gesülze oder als rüpelhafte Schimpftirade abzutun. Das wäre aber ein Fehler, denn obwohl Finkelstein in Amerika nicht richtig ernst genommen wird, hat er doch im Ausland eine aufmerksame Leserschaft gefunden. Sein Buch, das nun in zahlreichen Übersetzungen vorliegt, wird weithin diskutiert und in manchen Kreisen auch gelobt. Der Gedanke, dass „wir alle Holocaust-Opfer sind“, findet Anklang bei Leuten, die von den Juden als Opfern genug haben und die es unerträglich finden, dass die Juden so oft zum Zwecke der besonderen Sympathie herausgehoben würden. Überdies gewinnt Finkelsteins Argument, wonach durchtriebene „Holocaust-Hausierer“ die Anzahl der Holocaust-Überlebenden hoch ansetzten, um mit dem Leid der Juden Kasse zu machen, Zustimmung bei denen, die in den stark publik gemachten Prozessen um den Holocaust eine raffgierige Hand sehen wollen. Wenn die Zahl der Holocaust-Überlebenden künstlich hochgetrieben werde, dann folge daraus, dass viele dieser „Überlebenden“ wohl nur wenig mehr seien als ein Konstrukt jüdischer Imagination oder, was noch vernichtender wäre, ein Elaborat jüdischer Finanztricks. Durch die Entwicklung des Gedankens einer geschäftstüchtigen und manipulativen „Holocaust-Industrie“ bewegt sich Finkelsteins Gedankengang in rücksichtsloser Weise in die Richtung, die schon die schlimmsten der Holocaust-Leugner eingeschlagen haben. Diese Leute sind vielleicht nicht seine natürlichen Verbündeten, aber er hat, wie sie, in rücksichtsloser Art und Weise Israel und „das organisierte amerikanische Judentum“ verleumdet und „den Holocaust“ dem Spott preisgegeben. Es ist daher nicht überraschend, dass für sein Buch in rechtsextremen Kreisen Europas und der Vereinigten Staaten geworben wird. In Deutschland gibt es die Besorgnis, dass die Phantastereien, die Finkelstein entfesselt hat, einigen der durchaus beunruhigenden Elemente in dem Land Auftrieb geben werden, Leuten nämlich, die in Finkelsteins Buch eine Bestätigung für eine jüdische Verschwörung finden, die die deutsche historische Schuld für eigene selbstsüchtige Zwecke aus49 Ebd., 38, 8, 81. Das Ende des Holocaust  | 237

nutze. Tatsächlich ist die „Holocaust-Industrie“ des Autors nämlich genauso ein ideologisches Konstrukt wie die Neonazi-Konstruktionen eines „nie geschehenen Holocaust“. Aber das ist kaum von Bedeutung; denn für Leute, die es leid sind, über Hitler und die Juden etwas zu hören, ist Finkelsteins leidenschaftliche „Enthüllungsgeschichte“ über einen ausgefeilten Holocaust-Erpressungs-Schwindel ein willkommenes, längst überfälliges Geschenk. Ein deutscher Rezensent schrieb kurz nach der Veröffentlichung von Finkelsteins Buch in Deutschland, dass die Lektüre von Die Holocaust-Industrie „wie das Öffnen eines Fensters, um frische Luft zu bekommen“, sei.50 Finkelstein hat aber nicht so sehr ein Fenster geöffnet, sondern er hat einen Haufen Ziegelsteine durchgeworfen. Viele loben ihn dafür. Während er von den meisten Historikern als Autor ohne jedes wissenschaftliche Verdienst abgetan wird, war Die Holocaust-Industrie aber im Ausland recht erfolgreich; das liegt zweifellos daran, dass das Buch Lesern die Gelegenheit gibt, den zornigen Sohn von Holocaust-Überlebenden dabei zu beobachten, wie er Israel als einen Nazi-ähnlichen Staat attackiert und die amerikanischen Juden beschuldigt, den Holocaust für ihre eigenen Zwecke auszunutzen. Für diejenigen, die sich für ein solches Spektakel mit Angriffen von Juden auf Juden begeistern, ist Die Holocaust-Industrie sicherlich recht attraktiv; und so ist Finkelsteins Buch denn auch weltweit in Hunderttausenden von Exemplaren verkauft worden. Die erste Auflage der deutschen Übersetzung war mit 50000 sehr bald ausverkauft, und für eine Zeitlang stand Die Holocaust-Industrie allein im Jahre 2001 auf der deutschen Bestseller-Liste für Sachbücher mit einer Auflage von 150000 ganz oben.51 In einer Umfrage, die von dem renommierten Emnid-Institut kurz nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung durchgeführt wurde, stimmten 65 % der befragten Deutschen, entweder ganz oder teilweise, der Auffassung zu, wonach jüdische Organisationen Wiedergutmachungsansprüche im Zusammenhang mit dem Holocaust übertrieben, um sich zu bereichern.52 In Norman Finkelsteins zutiefst mangelhaftem Werk haben sie nun ihrer Meinung nach einen zuverlässigen Nachweis. Die Holocaust-Industrie ist die bisher nachhaltigste Attacke gegen das HolocaustGedenken; sie kommt aber nicht einfach aus dem Nichts. Finkelsteins Behauptungen, wonach die Aufmerksamkeit, die dem Leiden der Juden entgegengebracht wurde, zum größten Teil nicht ernsthaft sei, sondern von „Profitmachern“, die auf „Holocaust-Beute“ aus seien, angetrieben werde, ist eine vergröberte Version der Behauptung von Arnold Jacob Wolf: „Über den Holocaust wird nicht informiert –

50 Lorenz Jaeger, „Necessary Hyperbole“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (14. August 2000). 51 Benjamin Weinthal, „Pandering to Subtle German Antisemitism“, The Jerusalem Post, 21. Februar 2010. Der Piper Verlag, der die deutsche Fassung herausgebracht hat, teilt mit, dass bis jetzt 200000 Exemplare der deutschen Übersetzung von Finkelsteins Buch verkauft worden sind (persönliche Mitteilung des Piper Verlags von 22. Februar 2010). 52 Der Spiegel, Juli 2000, 224.

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er wird stattdessen verkauft“.53 Finkelstein zitiert tatsächlich Rabbi Wolfs genauen Wortlaut als Vorbemerkung zu seinem Buch. Seine Überzeugung, wonach die Juden den einzigartigen Charakter ihres Leids aus politischen und pekuniären Motiven betonten – „einzigartiges Leid verleiht einem einzigartige Berechtigung“54 –, passt genau zu früheren Attacken auf die sogenannten „Advokaten der Einzigartigkeit“. Seine Idee eines ineinandergreifenden Netzwerks von jüdischen Holocaust-Fachleuten – einer ganzen „Holocaust-Industrie“, die die Manipulation des HolocaustGedenkens betreibe –, lässt sich schon vorausahnen bei ähnlichen Beschuldigungen durch Stannard, Churchill und Novick und ist im Keim schon vorhanden in Lopates Herausstellung des Holocaust als eines „großen Unternehmens“, das von Elie Wiesel geleitet werde. Finkelsteins heftige Kritik an Elie Wiesel als dem „Hohenpriester“ einer „Mysterienreligion“ fußt direkt auf Novicks kritischen Bemerkungen über Wiesel und findet eine genaue Entsprechung in Michael Goldbergs spottender Kritik an Wiesel als dem „Hohenpriester“ eines neuen religiösen „Kults“. Da in Finkelsteins Formulierung „Elie Wiesel der Holocaust ist“, sei die Enthüllungsgeschichte in Bezug auf Wiesels „korrupte Moral“ und „sein kompromittiertes politisches Getue“ eine Anprangerung des ganzen „bankrotten“ Projekts selbst.55 Das, was nach Finkelsteins Auffassung eine solche Attacke zwingend erforderlich mache, sei die „zionistische“ Unterstützung der „Holocaust-Industrie“; denn was sei der Holocaust, wenn nicht die „perfekte Waffe, um Kritik an Israel abzuwehren?“ Wenn Finkelstein die Entwicklung des Holocaust-Bewusstseins in dieser Weise sieht, nämlich als eine Strategie, die von jüdischen Eliten in Amerika entworfen worden sei, um die Macht des jüdischen Staates zu stützen und „jede Kritik an den Juden als illegitim zu erklären“, gibt er nur Aussagen wieder, die jetzt unter Kritikern des Holocaust-Bewusstseins gang und gäbe sind.56 Überdies stimmt Finkelsteins Idee, wonach die amerikanischen Juden aufgrund ihrer Vereinnahmung des Holocaust als ihres zentralen Symbols eine „neu erworbene Identität“ hätten, mit den Auffassungen Peter Novicks überein, der behauptet, dass der Holocaust „praktisch der einzige gemeinsame Nenner der amerikanischen jüdischen Identität“ gewesen sei und damit das einzige, was das amerikanische Judentum vor „einer demographischen Katastrophe“ bewahren könnte.57 Wenn man diese und ähnliche Themen Revue passieren lässt, dann sollte klar sein, dass Finkelsteins Buch seine Wurzeln in den Schriften einer ganzen Reihe früherer Kritiker des Holocaust-Bewusstseins hat, die allesamt die utilitaristische und ausbeuterische Funktion des Gedenkens betonen, so als ob das Holocaust-Bewusstsein nichts anderes wäre als ein Mittel, die ethnische Identität zu stärken und 53 Arnold Jacob Wolf, „The Holocaust as Temptation“, Sh’ma, 2. November 1979, 162; siehe auch Wolf, „The Centrality of the Holocaust is a Mistake“, National Jewish Monthly, Oktober 1980, 8. 54 The Holocaust Industry, 47. 55 Ebd., 55, 3. 56 Ebd., 55, 3, 30, 37. 57 Novick, 7. Das Ende des Holocaust  | 239

das eine oder andere politische Programm voranzutreiben. Wenn diese Autoren hinter der Werbekampagne für den Holocaust auch keine jüdische Verschwörung als solche sehen, dann sehen sie aber das Wirken „jüdischer Einzigartigkeits-Advokaten“ oder das der „Verfechter des jüdischen Absolutheitsanspruchs“ oder, mit den Worten Peter Novicks, die Arbeit von „Tausenden von hauptberuflich tätigen Holocaust-Fachleuten, die sich engagiert der Aufgabe verschrieben haben, das [Holocaust-]Gedenken wachzuhalten“.58 Es interessiert diese Kritiker wenig, dass Leute, die nachdenken, sich veranlasst fühlen könnten, andere, weniger funktionale Gründe für die jüdische Katastrophe unter Hitler anzunehmen. Da, wo einige vielleicht auf zwingende historische, religiöse, moralische oder ethische Ansprüche an das Bewusstsein als legitime Anstöße verweisen, sich der Nazi-Verbrechen zu erinnern, sehen Novick, Finkelstein und andere, die deren Sicht teilen, hauptsächlich eine Stärkung des jüdischen Einflusses in den Medien und „massive Investitionen jüdischer Gemeindeorganisationen zur Förderung des ‚Holocaust-Bewusstseins‘“.59 In dieser und anderer Weise, so wird behauptet, sei der Holocaust einem breiten Publikum „verkauft“ worden, das dadurch, dass es ihn „kauft“, eine bequeme Möglichkeit finde, sich seiner moralischen und historischen Verantwortung für Verbrechen, die direkt vor der Haustür geschehen seien, zu entziehen. So stellt Novick ernsthaft die Überzeugung in Frage, dass das Gedenken eine wichtige ethische Dimension hat, weil nach seiner Auffassung das schlechte Gewissen in Bezug auf das, was den Juden in Europa widerfahren ist, ein solches in Bezug auf das verhindere, „was die Vereinigten Staaten den Farbigen, den amerikanischen Ureinwohnern, den Vietnamesen und anderen angetan haben“.60 Weit entfernt davon, die Menschen gegenüber vergangenen historischen Gräueltaten sensibler und gegenüber heutiger politischer Unterdrückung wacher zu machen, trivialisiere das Holocaust-Bewusstsein „Verbrechen einer geringeren Größenordnung“ und sei für die meisten Amerikaner „praktisch kostenlos – es kostet nur ein paar billige Tränen“.61 Am Ende – so schätzt Novick den Stellenwert des Holocaust im Leben Amerikas ein – sei er zu nichts anderem geworden als zu einem „schäbigen Spiel“.62 In dem Maße, wie das Holocaust-Gedenken weiterhin in dieser Weise gesehen wird, wird es den Weg anderer schäbiger Spiele gehen – nämlich in einen Zustand der Herabminderung und des Verfalls hinein. Selbst unter den besten Voraussetzungen besteht für die Erinnerung an den Holocaust, wie für alle historischen Erinnerungen, die Gefahr, mit der Zeit immer schwächer zu werden. Überdies macht das ungeheuerliche Ausmaß der Nazi-Verbrechen gegen die Juden es bekanntermaßen schwierig, etwas so Entsetzliches vom Gemüt und vom Verstand her in sich aufzunehmen und zu begreifen. Auch aus diesen Gründen kann man kaum 58 Ebd., 277. 59 Ebd., 152. 60 Ebd., 15. 61 Ebd., 14, 15. 62 Ebd., 10.

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darauf vertrauen, dass die öffentliche Wahrnehmung des Holocaust in den kommenden Jahren in größerem Umfang in verantwortlicher Weise beibehalten wird. Angesichts dieser Überlegungen ist es kein Wunder, dass Autoren wie Primo Levi, Jean Améry, Elie Wiesel und andere, die über die Nazi-Untaten tief nachgedacht haben, denn auch oft fast verzweifelten, wenn sie an die Zukunft des HolocaustGedenkens dachten; denn sie erkannten, wie anfällig eine solche Erinnerung ist. Was selbst die Besten dieser Autoren nicht vorhersehen konnten, ist ein gehässiges Element, das inzwischen mit den Attacken auf das Holocaust-Bewusstsein einhergeht und das fast auf eine Verhöhnung der Toten hinausläuft. Die Verbreitung der respektlosen, aber oft wiederholten Aussage, „es gibt kein besseres Geschäft als das Shoah-Geschäft“, ist symptomatisch für eine jetzt gängige Haltung der Lächerlichmachung, die den Wert jeder ernsthaften Beschäftigung mit dem Holocaust in Frage stellt. Man braucht dieser verharmlosenden Aussage nur noch die Tendenz hinzuzufügen, die Katastrophe nur auf ein ideologisches Konstrukt jüdischer oder „zionistischer“ Interessen zu reduzieren, und die Geschichte des jüdischen Schicksals unter Hitler ist noch weiter entwertet. Schließlich ist festzustellen, dass die Integrität des Holocaust-Gedenkens noch viel mehr durch diejenigen geschwächt wird, die aus politischen Gründen seine sogenannte „Zentralität“ ablehnen und die ihre Kritik am Holocaust-Bewusstsein mit einer Kritik an jüdischer „Macht“ verknüpfen, insbesondere da solche Macht durch den Staat Israel ausgeübt werde. Die geballte Kraft dieser Tendenzen könnte mit der Zeit tatsächlich zum „Ende von Auschwitz“ führen. Aber wenn man die logische Schlussfolgerung daraus zieht, fragt man sich, was „das Ende von Auschwitz“ eigentlich bedeutet, wenn nicht das Ende jeder sinnvollen Erinnerung an die Opfer von Auschwitz und den anderen Nazi-Lagern, Ghettos und Schlachtfeldern. Was bedeutet es, wenn nicht die Entwertung und letztlich die Auslöschung des Zeugnisses der Überlebenden jener Orte? Zwar wird nichts von alledem so bald geschehen, aber der Wunsch, den Eintritt zu erleben, wird immer deutlicher hörbar, als es in der Vergangenheit der Fall war. In dem Maße, wie solche Stimmen innerhalb der etablierten Kultur immer mehr an Gewicht gewinnen, wird Imre Kertész’ Aussage, dass „nichts seit Auschwitz geschehen ist, was Auschwitz ungeschehen machen oder entkräften [könnte]“, in Frage gestellt. Das tatsächliche Geschehen in Auschwitz ist zwar nicht umkehrbar, aber die Erinnerung daran kann verändert werden; sie wird jetzt auch bereits verändert, vereinnahmt, entstellt, geleugnet und gegen die Opfer gerichtet. Wenn solche Entwicklungen so rasch weitergehen, dann wird die Erfüllung des Wunsches, „das Ende von Auschwitz“ zu erleben, nicht die Wiederherstellung des hohen ethischen Standards des jüdischen Volkes sein, wie es einige der von mir oben zitierten Kritiker geltend machen, sondern eher die Wiederherstellung jener Art von Verletzbarkeit, die vor Auschwitz bestand und die dazu beitrug, Auschwitz Wirklichkeit werden zu lassen.

Das Ende des Holocaust  | 241

Epilog

Ein „Zweiter Holocaust“?

Die Anwendung selbst einer einzigen Atombombe in Israel wird alles zerstören. … Es ist nicht irrational, eine solche Möglichkeit in Betracht zu ziehen. – HASHEMI RAFSANDSCHANI, EHEMALIGER IRANISCHER PRÄSIDENT1 Der zweite Holocaust. Das ist ein Ausdruck, über den wir vielleicht allmählich nachdenken müssen. Eine Möglichkeit, die wir vielleicht in Betracht ziehen müssen. Eine Realität, die wir vielleicht werden erleben müssen. – RON ROSENBAUM2

Kurz vor dem Ende des letzten Jahrhunderts veröffentlichte der Politikwissenschaftler Walter Truett Anderson einen kurzen Artikel, in dem er auf eine Reihe von Büchern hinwies, bei denen er den Eindruck hatte, dass sie eine neue literarische Untergattung begründet hatten. In all diesen Werken ging es um „das Ende von“ etwas – Geschichte, Wohlstand, Nationalstaat, Bildung, Arbeit, Ideologie etc. Er konnte über 900 Titel ausmachen, die mit diesen drei ahnungsvollen Worten begannen, und ihm wurde klar, dass sich am Ende des 20. Jahrhunderts eine bestimmte Tendenz herausbildete. In Teilen kritisierte er diese Tendenz und bezeichnete den Rekurs auf die Beendigungs-Rhetorik als „verworren“ und kaum mehr als einen „literarischen Kunstgriff “. Er gab jedoch zu, das das Entstehen einer umfangreichen Literatur, die „das Ende von“ so vielem, das vertraut war und geschätzt wurde, ernstgenommen werden müsse. Bewegten wir uns, so fragte er, nicht nur auf ein neues Jahrhundert zu, sondern nicht auch auf eine grundsätzlich andere Welt, die gekennzeichnet sei durch ein „endgültiges Schließen eines Stückchens Leben, wie wir es kannten, oder wie wir hofften, dass es werden würde?“3 Anderson vermutete, dass das wohl der Fall war. Ich teile seinen Verdacht bis zu einem gewissen Grade, auch und gerade wenn ich sehe, dass der vorliegende Band der wachsenden Anzahl von Büchern, die ihn betreffen, einen weiteren Titel hinzufügt. Im Sinne von Andersons skeptischer 1 Das Epigramm ist von Rafsandschani und wurde am Welt-Al-Kuds (Jerusalem)-Tag am 14. Dezember 2001 in Teheran gesprochen, zitiert nach Matthias Küntzel, „Iran’s Obsession with the Jews“, The Weekly Standard, 19. Februar 2007. Zu einer scharfsichtigen Analyse der religiösen und ideologischen Dimensionen des Denkens von Rafsandschani, Ahmadinedschad und Chomeini siehe Robert Wistrich, A Lethal Obsession: Antisemitism from Antiquity to the Global Jihad (New York: Random House, 2010), 830–927. 2 Das Epigramm ist von Ron Rosenbaum, Hg., Those Who Forget the Past: The Question of AntiSemitism (New York: Random House, 2004), 170. 3 Walter Truett Anderson, „Let’s Put an End to ‚The End of Books‘“, Pacific News Service, 4. März 1996, http://www.pacificnews.org/jinn/stories/2.05/960304-end-of.html. Ein „Zweiter Holocaust“?  | 243

Untersuchung könnte man mit Fug und Recht fragen, ob wir jetzt nicht tatsächlich eine ganze Serie von kulturellen und intellektuellen Wandlungen erleben, die, wenn sie sich fortsetzen, zum „Ende des Holocaust“ führen könnten. Ich behaupte, dass wir das wirklich gerade erleben. Wie ich zu zeigen versucht habe, sind diese Veränderungen in Bezug auf die Darstellung des Holocaust und das Gedenken daran weit verbreitet, und der Prozess beschleunigt sich. Indem ich Das Ende des Holocaust geschrieben habe, war es mein Ziel, einige der hervorstechenden Dimensionen und Konsequenzen eines solchen Wandels darzustellen. Gewisse Aspekte dieses Wandels sind unvermeidlich, denn sie gehören zu den natürlichen Prozessen, die Jean Améry die „lautlos erodierenden und verändernden Wirkungen der Zeit“ nannte.4 Wandel ist auch eine Funktion nationaler Prioritäten und kultureller Zwänge, die zu einer Umformung der Geschichte des Holocaust führen, um einer Vielzahl von heutigen Zielsetzungen zu genügen. Diese Zielsetzungen entspringen Umständen, die gänzlich verschieden sind von denen, die zu dem Nazi-Programm des Völkermordes an den Juden führten; aber da sie in den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Bestrebungen bestimmter Gruppen von Menschen wurzeln, sind solche Vereinnahmungen des Holocaust wahrscheinlich ebenfalls unvermeidlich. Aber wenn Améry und andere, die auf diesen Seiten vorgestellt worden sind, in Bezug auf die künftigen Chancen des Holocaust-Gedenkens zutiefst pessimistisch geworden waren, dann war es, weil sie nicht nur diesen gegenüber sehr wach waren, sondern auch gegenüber den noch beunruhigenderen Ursachen der Wandlungen, die weder natürlich noch unvermeidlich sind. Was sie besonders beunruhigte, waren die Verwendung und der Missbrauch der Vergangenheit für unzweifelhaft bösartige Ziele: Diese reichten von niederträchtigen Versuchen, den Holocaust absichtlich zu entstellen und zu bagatellisieren bis zur Verwendung von Ausdrücken, die im Zusammenhang mit dem Holocaust Ressentiments schüren sowie Ablehnung und Leugnung hervorrufen sollten. Für Améry waren diese Manipulationen der Vergangenheit unmoralisch, und er hat sie auch als solche gebrandmarkt. Was er und die meisten anderen Holocaust-Autoren des 20. Jahrhunderts nicht voraussahen oder wovon sie nur frühe Anzeichen bemerkten, ist eine noch extremere Entwicklung: Das Emporkommen von Stimmen, die öffentlich die Nazi-Morde an den Juden gutheißen und sie als einen starken und nützlichen Präzedenzfall anpreisen. Wenn der Holocaust in dieser Weise betrachtet wird und nicht als Ermahnung und Warnung, sondern als Ermunterung und weiterer Ansporn, dann gerät unser Themenkomplex über die Grenze der Unvermeidlichkeit von „Ende“ hinaus in den Bereich des Wunsches nach Wiederholungen. Wer das Geschehen im Nahen Osten verfolgt, weiß, dass Befürchtungen eines Zweiten Holocaust den Staat Israel seit seiner Gründung überschattet haben und besonders akut wurden in der Zeit des Sechstagekrieges von 1967 und des JomKippur-Krieges von 1973. Anfeuerungen, „die Juden in das Meer zu treiben“, waren 4 Améry, Radical Humanism, 64.

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zu den Zeiten sehr verbreitet und wurden verständlicherweise nicht so einfach als nur extravagante Beispiele arabischer politischer Rhetorik abgetan. An den militärischen Mitteln, den jüdischen Staat zu zerstören, mag es zwar gemangelt haben, aber der öffentlich erklärte Wille, die Juden Israels zu vernichten, so wie er von Ägyptens Gamal Abdel Nasser und anderen zum Ausdruck gebracht worden war, wurde durchaus für bare Münze genommen.5 Es ist nicht überraschend, dass die Juden nach der Nazi-Katastrophe solche und ähnliche Äußerungen wörtlich nehmen. Wenn sie also anti-jüdischen Völkermord-Phantasien begegnen, die sogar, wie im heutigen Iran, in einer Staatsideologie verankert sind, dann ist es nur angemessen, dass sie solche Erklärungen ernst nehmen. Und Iran ist kein Einzelfall. Rufe wie „Juden in die Öfen“ und „zurück zu Auschwitz“, die die Straßendemonstrationen gegen Israel nach dem Gaza-Krieg vom Januar 2009 begleiteten, wurden genauso verstanden, wie sie geäußert wurden. Das Gleiche ist der Fall für Plakate, die erst im Mai 2010 in New York angebracht wurden und die einen Atompilz zeigten, der sich über der israelischen Flagge erhob und den Slogan trug „Allah bringt alle Zionisten zusammen für die ‚ENDLÖSUNG‘“. Vergleichbare Bezugnahmen auf die Erinnerung an den Holocaust als Ansporn oder Anstoß sind in den letzten Jahren sehr in den Vordergrund getreten und sind nicht nur symptomatisch für ein Wiederaufleben des Antisemitismus in weltweitem Maßstab, sondern tragen auch aktiv dazu bei. Als Reaktion auf diese beunruhigenden Entwicklungen hat sich eine ganze Anzahl heutiger Autoren veranlasst gesehen – und das ist nicht überraschend –, über die Möglichkeiten des „nächsten Holocaust“ oder eines „Zweiten Holocaust“ nachzudenken. Man würde solche albtraumhaften Szenarien lieber als undenkbar betrachten, aber angesehene Autoren argumentieren in eine andere Richtung. Ron Rosenbaum, der Autor von Explaining Hitler (Versuche, Hitler zu erklären) und anderen sehr gut aufgenommenen Büchern, ist der Auffassung, dass „die Zeit gekommen ist, über den Zweiten Holocaust nachzudenken. Er kommt früher oder später; es geht nicht um das ‚Ob‘, sondern um das Wann“. Rosenbaums furchterregende Prognose wurde durch seine Lektüre von Philip Roths Roman Operation Shylock angeregt, in dem eine der Figuren den Namen „Philip Roth“ stiehlt und von Israel aus spricht; dabei sinnt die Figur über die kommende Katastrophe in folgender Weise nach: Den Bedeutungskomplex des Holocaust … müssen wir selbst festlegen. Aber eines ist sicher: Wenn es einen zweiten Holocaust gibt und die Nachkommen der europäischen Juden, die Europa verlassen haben, um einen scheinbar sichereren Hafen zu finden, die kollektive Vernichtung im Nahen Osten erfahren, dann wird seine Bedeutung nicht weniger tragisch sein als die des ersten jetzt. Ein zweiter Holocaust wird nicht auf dem europäischen Kontinent geschehen, weil er der Schauplatz des ersten war. Aber ein zweiter Holocaust kann allzu leicht hier geschehen, und wenn 5 Der Stellenwert des Holocaust im Bewusstsein und öffentlichen Leben Israels ist von einer ganzen Reihe von Historikern untersucht worden. Zu einer detaillierten zuverlässigen Darstellung dieses Themenkomplexes siehe Dina Porat, Israeli Society, The Holocaust, and Its Survivors (London: Vallentine Mitchell, 2008). Ein „Zweiter Holocaust“?  | 245

der Konflikt zwischen Arabern und Juden immer weiter eskaliert, dann wird er, ja, dann muss er geschehen. Die Vernichtung Israels in einem nuklearen Schlagabtausch ist eine Möglichkeit, die heute viel weniger unwahrscheinlich ist, als es der Holocaust vor fünfzig Jahren war.6

Rosenbaum bemerkt: „Wenn man Herrn Roths Verwendung des Ausdrucks ‚Zweiter Holocaust‘ etwas weniger als ein Jahrzehnt später noch einmal untersucht, dann erscheinen selbst seine düstersten Vorstellungen heute optimistisch, besonders unter dem Eindruck des grellen Scheines brennender Synagogen in Frankreich“.7 Roths Roman erschien 1993 nach der ersten palästinensischen Intifada und nach dem damit einhergehenden neuen Ausbruch von Gewalt gegen Israel. Rosenbaums Essay, „‚Second Holocaust?‘ Roth’s Phrase Isn’t Necessarily Novelistic Fantasy Anymore“ („‚Zweiter Holocaust?‘ Roths Ausdruck ist nicht notwendigerweise nur mehr romanhafte Phantasie“), wurde im Frühjahr 2002 geschrieben, und zwar nach den massiven Terroranschlägen gegen Amerika und Israel; darunter waren AlQaidas entsetzliche Angriffe am 11. September 2001 auf New York und Washington und eine ganze Reihe von palästinensischen Selbstmordattentaten gegen israelische Zivilisten. Zur gleichen Zeit und auch noch Monate danach gab es Hunderte von antisemitischen Angriffen gegen Juden und jüdische Einrichtungen in Städten in Europa, Südamerika und auch anderswo. Weit entfernt davon, eine metaphorische oder historische Anspielung zu sein, hatte Rosenbaums verstörende Bezugnahme auf „die brennenden Synagogen“ plötzlich eine unmittelbare Aktualität. Überdies verwies sie nicht nur auf die Ereignisse in Frankreich; denn in großen Teilen Europas war der Antisemitismus ganz offen und häufig recht brutal wieder aufgeflammt. Die Äußerungen und Bilder mit Bezug auf den Holocaust wurden in der öffentlichen Rhetorik während dieser Jahre immer wieder in Erinnerung gerufen, aber jetzt zielten sie oft auf die Juden ab, besonders auf die Juden Israels – und das nicht zu ihren Gunsten. Während verschiedene Juden und jüdische Schulen, Synagogen, Friedhöfe, Begegnungsstätten und Holocaust-Gedenkstätten angegriffen wurden, wurden die Opfer dieser Aggressionen, oft in Nazi-Terminologie, perverserweise für die gegen sie gerichteten Gewalttaten selbst verantwortlich gemacht. Auf den Plakaten bei den Straßendemonstrationen, die wochenlang in europäischen Städten anhielten, wurde Israels Ariel Sharon für gewöhnlich mit Hitler gleichgesetzt, und der jüdische Davidsstern wurde in gemeiner Weise überall mit dem Hakenkreuz vermischt. Diese radikale Tropus-Umkehrung machte sprachlos, fand aber Anklang und verriet viel über eine neu erwachte feindselige Haltung den Juden gegenüber. Als Erklärung der Ursachen dieser Haltung dürfte Paul Bermans Verdeutlichung zutreffen: „Der palästinensische Terror [wurde] zum Maßstab der israelischen Schuld. Je grotesker der Terror, desto schwerwiegender die Schuld“. Damit, dass das endgültige Brandzeichen der Verurteilung auf die nunmehr kriminalisierten Juden gedrückt wurde, „wurde Israel nach der Rhetorik seiner Ankläger zu einem 6 Philip Roth, Operation Shylock (New York: Simon & Schuster, 1993), 43. 7 Rosenbaum, 171.

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Nazi-Gebilde – zu einem Staat, der sich so vollständig dem Bösen verschrieben hatte, der sich so weit jenseits der Grenzen menschlichen Anstandes befand, dass Selbstmord schließlich zu einer verständlichen Reaktion wurde“.8 Diese Schmähungen kann man jetzt in Europa häufig hören, und sie gehören inzwischen zum Standardrepertoire in vielen Teilen der muslimischen Welt, wo die Diffamierung der Juden und Israels oft Hand in Hand geht mit zügelloser Holocaust-Leugnung. Keine Person des öffentlichen Lebens veranschaulicht das Übermaß derartiger Feindseligkeit so leidenschaftlich und konsequent wie Irans Mahmoud Ahmadinedschad, dessen Anhänger begeistert „Tod den Juden“ rufen und die Aufrufe ihres Präsidenten nach einem Ende des jüdischen Staates lautstark begrüßen. In zwei aufeinanderfolgenden bizarren, jetzt aber allzu bekannten Aktionen verhöhnt Ahmadinedschad das Leid der Juden während der Nazi-Jahre; zum einen demonstrativ in seinem infamen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb im Februar 2006, und zum anderen auf seiner niederträchtigen Konferenz der HolocaustLeugner am 12. Dezember 2006, auf der die Tatsächlichkeit solchen Leids massiv in Frage gestellt wird. Dabei haben Ahmadinedschads wiederholte öffentliche Schmähungen Israels und seine Prophezeiungen des unmittelbar bevorstehenden Untergangs des Landes ihn strategisch als den führenden Verfechter des nächsten Holocaust positioniert. Gewandt im Versprühen von Hass, füllt der Präsident des Iran eine doppelte Rolle aus, zum einen als Holocaust-Leugner und zum anderen als Holocaust-Förderer. Matthias Küntzel, einer seiner scharfsichtigsten Kritiker, fasst das Denken Ahmadinedschads sehr genau zusammen: Ahmadinedschad „leugnet den Holocaust“ nicht so sehr, „um die Vergangenheit zu revidieren“, als vielmehr, „um die Zukunft zu gestalten, nämlich den Weg für den nächsten Holocaust freizumachen. … Auschwitz verliert seine Legitimation, um die Vernichtung Israels zu legitimieren. … Israel muss verschwinden“.9 Das Ziel eines solchen Denkens ist klar: Ein „Zweiter Holocaust“ wird, wenn er kommen sollte, sein Epizentrum in Israel haben. Nach dieser apokalyptischen Vision werden die Juden ein weiteres Mal zum Zwecke des Völkermordes herausgegriffen und in Massen ermordet werden. Während die Mittel für ihre Vernichtung von denen der Nazi-Periode verschieden sein werden, ist aber das Ziel voll erkennbar identisch mit dem Ziel Hitlers. Hier ist die Projektion des israelischen Historikers Benny Morris der künftigen Katastrophe, die Ahmadinedschad vorschwebt: Die Nazis … betrieben den Massenmord industriell. Dennoch hatten die Täter immer noch einen unmittelbaren Kontakt mit den Opfern. Sie … mussten die Männer, Frauen und Kinder aus ihren 8 Paul Berman, Terror and Liberalism (New York: W.W. Norton & Company, 2003), 134, 135– 136. 9 Küntzel, „Iran’s Obsession with the Jews“. Zur Verbreitung der Nazi-Ideologie in Teilen der muslimischen Welt siehe auch, von demselben Autor, „Iranian Anti-Semitism: Stepchild of German National Socialism“, Israel Journal of Foreign Affairs 4, Nr. 1 (2010), sowie Die Deutschen und der Iran (Berlin: WJS Verlag, 2009); und Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World (New Haven, Conn.: Yale University Press, 2009). Ein „Zweiter Holocaust“?  | 247

Häusern zusammentreiben, sie schlagen und durch die Straßen schleifen, sie in den nahegelegenen Wäldern niedermähen oder sie auf Viehwagen zwängen und sie in die Lager transportieren, wo „Arbeit frei macht“, sie mussten die noch Tauglichen von den völlig Nutzlosen selektieren und sie in „Duschräume“ locken, die mit dem Gas gefüllt wurden, die Leichen dann herausholen oder das Herausholen überwachen und schließlich die „Duschräume“ für die nächste Ladung vorbereiten. Der zweite Holocaust wird ganz anders sein. An einem hellen Morgen, in fünf oder zehn Jahren, vielleicht während einer Krise in der Region, vielleicht aber auch völlig unvermutet, einen Tag oder ein Jahr oder fünf Jahre, nachdem der Iran sich die Atombombe beschafft hat, werden die Mullahs in Ghom unter einem Portrait des Ajatollah Chomeini mit dem eiskalten Blick in geheimer Sitzung zusammenkommen und dem Präsidenten Ahmadinedschad, der jetzt in seiner zweiten oder dritten Amtszeit ist, grünes Licht geben. Die Befehle werden gegeben werden, und die Shahab III und IV-Raketen werden starten in Richtung Tel Aviv, Beersheba, Haifa und Jerusalem und wahrscheinlich auch in Richtung auf einige militärische Standorte einschließlich der etwa sechs Luftwaffenstützpunkte Israels und seiner (angeblich vorhandenen) Basen für Atomraketen. Einige der Shahab-Raketen werden mit nuklearen Sprengköpfen, vielleicht sogar mit MehrfachSprengköpfen ausgestattet sein. Andere werden Attrappen sein, angefüllt nur mit biologischen oder chemischen Wirkstoffen oder mit alten Zeitungen, um die Antiraketen-Stellungen und die Einheiten der Landesverteidigung Israels abzulenken. Bei einem Land der Größe und Form Israels (eines langgestreckten Landes von etwa 20000 Quadratkilometern) werden vermutlich vier oder fünf Schläge genügen – und es wird kein Israel mehr geben. Eine Million Israelis oder mehr werden in dem jeweiligen Großraum von Tel Aviv, Haifa und Jerusalem sofort getötet werden. Millionen von anderen werden gravierend verstrahlt sein. Israel hat etwa sieben Millionen Einwohner. Kein Iraner wird einen Israeli sehen oder berühren. Es wird alles ganz unpersönlich sein.10

Niemand hätte sich die Zukunft nach Auschwitz so vorgestellt. Angesichts der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis hatte die entschlossene Überzeugung von „nie wieder“ weithin vernehmlichen Ausdruck gefunden und war aller Wahrscheinlichkeit nach auch allgemein akzeptiert worden. Aufgrund der Annahme, dass die Erinnerung an die Toten dazu dienen würde, die Lebenden zu beschützen, war diese Formel als Schutzschild gegen zukünftige Völkermorde geprägt worden. Wie die oben erwähnte Figur in Philip Roths Operation Shylock es ausdrückt: „Wieviel Hass gegen die Juden in Europa auch existieren mag, … so gibt es doch starke Strömungen der Aufklärung und der Moral gegen diesen Bodensatz an Antisemitismus, die durch die Erinnerung an den Holocaust lebendig gehalten werden; die Erinnerung an die Schrecken bildet nun ein Bollwerk gegen den europäischen Antisemitismus, wie virulent er auch sein mag“ (pp. 44–45). Die meisten der in den Kapiteln dieses Buches untersuchten Autoren hätten diesen Gedanken im frühen Stadium ihres Werdegangs zweifellos zugestimmt. In der Tat war ja auch ein großer Teil dessen, was sie überhaupt erst zum Schreiben veranlasste, die Überzeugung, dass genaue, unwiderlegbare Beweise für die Gräueltaten, die sie selbst erlebt hatten, dazu beitragen könnten, eine Wiederholung zu verhindern. Mit der zunehmenden Verwässerung, Entstellung und der Leugnung 10 Benny Morris, „The Second Holocaust Will Not Be Like the First“, ursprünglich auf Deutsch publiziert in Die Welt (6. Januar 2007); der Artikel liegt in englischer Übersetzung auf zahlreichen Webseiten vor, so auf http://groups.yahoo.com/group/eejh/message/63915.

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der historisch gesicherten Tatsache der Nazi-Verbrechen gegen die Juden ist jedoch die Hoffnung, dass die Erinnerung an den Holocaust als „Bollwerk“ gegen ein Wiederaufflammen des Judenhasses feststehen könnte, einem Gefühl der Vergeblichkeit und in einigen Fällen sogar der Verzweiflung gewichen. Weit entfernt davon, nur als „Bodensatz“ vorhanden zu sein, ist der Antisemitismus während des letzten Jahrzehnts in Europa wieder aufgeflammt. Überdies ist das wiederholte Wachrufen des Holocaust dazu benutzt worden, die Feindschaft gegen die Juden zu schüren, statt sie einzudämmen. Die Motive für diese aggressive Entwicklung sind recht komplex und verschiedenartig; darunter sind Motive politischer, psychologischer, gesellschaftlicher und kultureller Art. Dabei kann ein „Sekundär-Antisemitismus“, hervorgerufen durch negative Reaktionen auf Erinnerungen an die Viktimisierung der Juden, eine gegen die Juden gerichtete Rückwirkung auslösen.11 Wie der in Berlin wohnende Autor Henryk Broder es ausgedrückt hat: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz niemals verzeihen“.12 Wie diese Beispiele zeigen, können durch die Erinnerung an den Holocaust – die weit entfernt davon ist, prophylaktisch zu wirken – offenbar neue Formen der Feindschaft gegen die Juden entstehen, die im Extremfall die Nazi-Todeslager als Präzedenzfall heraufbeschwören. Daher auch Imre Kertész’ Bemerkung: „Der Antisemit unserer Zeit hat keinen Hass mehr auf die Juden; er will Auschwitz“.13 Und daher auch die Projektionen eines „nächsten Holocaust“ oder eines „Zweiten Holocaust“ in den Arbeiten von Philip Roth, Ron Rosenbaum, Benny Morris, Matthias Küntzel, Nat Hentoff, Hillel Halkin, Robert Wistrich und zahlreichen anderen. Niemand hat die Dynamik, die diese neue und potenziell völkermörderische Art des Antisemitismus definiert, klarer beschrieben als Kertész: Die Aussage ist so oft wiederholt worden, dass sie fast zum Klischee geworden ist: Es ist notwendig, die Erinnerung an den Holocaust zu bewahren, so dass er nie wieder geschehen kann. Aber seit Auschwitz ist nichts geschehen, was ein neues Auschwitz unmöglich machen würde. Im Gegenteil. Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar. Das ist heute nicht mehr so. Gerade weil Auschwitz tatsächlich geschehen ist, hat es sich in unserer Vorstellung als eine reale Möglichkeit festgesetzt. Das, was wir uns vorstellen können, insbesondere weil es einmal geschehen ist, kann auch wieder geschehen.14

In weniger überreizten Zeiten könnte man diese Einsicht zwar als scharfsinnig einschätzen, sie wäre aber wohl eher von theoretischem als von praktischem Inte11 Siehe Roland Imhoff und Rainer Banse, „Ongoing Victim Suffering Increases Prejudice: The Case of Secondary Antisemitism“, Psychological Science 3, Nr. 1 (2009); auch: Yves Pallade, „Delegitimizing Jews and the Jewish State: Antisemitism and Anti-Zionism after Auschwitz“, The Israel Journal of Foreign Affairs 3, Nr. 1 (2009), 63–69. 12 Henryk Broder, Der ewige Antisemit (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1986), 125; Broder hat möglicherweise eine von dem israelischen Psychoanalytiker Zvi Rix geprägte Formulierung frei verwendet. 13 Imre Kertész, „The Holocaust as Culture“, Szombat (August 1998), 8. 14 Imre Kertész, „Über den neuen europäischen Antisemitismus“, http://print.perlentaucher.de/ artikel/3312.html; die Übersetzung stammt von mir. Ein „Zweiter Holocaust“?  | 249

resse. Wir leben aber nicht in solchen Zeiten. Ganz und gar nicht subtil, sondern offen und ohne Scham wird die Ausdrucksweise des Massenmordes wieder einmal weit verbreitet, und wer daraus die Rhetorik der Vorbereitung eines „Zweiten Holocaust“ heraushört, mag ganz richtig hören. Als der frühere iranische Präsident Hashemi Rafsandschani sich im Dezember 2001 damit brüstete, dass „die Anwendung selbst einer einzigen Atombombe in Israel alles zerstören wird“, gab es noch viel weniger Urananreicherungs-Zentrifugen in den Nuklearanlagen seines Landes, und sie konnten auch noch nicht so schnell rotieren. Heute machen sie dagegen Überstunden. Überstunden macht auch die mörderische Phantasie des jetzigen iranischen Präsidenten, Mahmoud Ahmadinedschad, der anscheinend nie müde wird, Todesurteile gegen den Staat Israel auszustoßen: „Das zionistische Regime wird ausgelöscht werden, und dann wird die Menschheit befreit sein“.15 Man ersetze „Zionisten“ durch „Juden“, und die Ankündigung, durch die Vernichtung der Juden die Welt zu befreien, wird für Historiker der Nazi-Periode allzu vertraut klingen. Nur wenige Menschen nahmen Hitler ernst, als er solche Äußerungen tat. Das Resultat war Auschwitz, eine Warnung aus der Vergangenheit und – für einige – eine ersehnte Möglichkeit für die Zukunft.

15 „Iran’s Obsession with the Jews“, The Weekly Standard, 19. Februar 2007.

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Sach- und Namensregister

Abschwächung, Herabminderung des Stellenwertes des Holocaust  32, 240 Abtreibung: Der lautlose Holocaust (Powell)  41 Agha, Yusuf  144 Ägypten 245 Ahmadinedschad, Mahmoud  243 Fn 1, 247, 248, 250 Ahrendt, Hannah  120, 121, 125 AIDS  74, 138, 146 Akademische und kulturelle Institutionen  220 Akbar, Na’im  41 Alexander, Edward  9, 43 Alexander, Jeffrey  223 Allierte Bombenangriffe, Opfer der  58 Altruistische Persönlichkeiten, Projekt über  84 Fn 51, 85 Al Qaidas Angriffe am  11. September  2001 246 Der amerikanische Holocaust: Kolumbus und die Eroberung der Neuen Welt 41 „Ein amerikanischer Holocaust“ (Brodsky)  49–51 Amerikanische Ureinwohner  146, 221–222, 230–232, 240 Amerikanisierung des Holocaust: 53–92

und: Betonung des Guten, des Optimismus, des Lebensbejahenden  61–65, 80 85, 91, 111 und: Anne Frank  63, 112 und: „Ausgewogenheit“ bei der Darstellung des Holocaust  83, 86, 89–91 und: demokratische Ideale  66 und: Erzieher  91 und: filmische Darstellungen (Schindlers Liste)  55, 64, 76–83 und: das Holocaust-Gedenkmuseum  61, 64–69 und: der Terminus „Holocaust“  59–61, 128, 147, 227 und: Tendenz zum Universalismus, zur Verallgemeinerung  61–62, 69, 126, 214

Amerikanisch-Jüdisches Komitee  53, 54 Fn 4, 75 Fn 39 Amerongen-Frankfoorder, Rachel van  131 Fn 1, 132, 135 Améry, Jean  149–165 und: über Antisemitismus  157–158 und: Ausdruck des Zweifels als Autor  182, 191–192 und: in Österreich geboren  154, 198 und: durch Leid tief verletzt  194 und: Verzweiflung  157–159, 165, 194, 241 und: die erodierenden Wirkungen der Zeit  244 und: die Haltung im Nachkriegsdeutschland  194 und: historische Entropie  21, 165 und: Verhaftungen  154, 159 und: Kertész über Améry  207 und: permanenter Charakter der tiefen Verletzung  155 und: Manipulation der Vergangenheit  244

Sach- und Namensregister  | 251

und: Rezeption Amérys und anderer Autoren in verschiedenen Ländern  198 und: über das Dritte Reich  160, 161, 162, 164 und: Normalisierung der Nazi- Vergangenheit  58, 162, 164 und: andauernde Viktimisierung  159 und: über das Leben nach Auschwitz  211 und: über Primo Levi  170 und: seine Verbitterung, sein Groll  156, 160–164 und: seine säkulare jüdische Identität  193 und: über das Leiden  161 und: sein Suizid  159, 165, 167–169, 171 und: die ihm eingebrannte Nummer  149 und: über die Tortur (auch Äußerungen anderer)  155–156, 159, 161, 167, 171, 195–196 und: Schriften, Charakter dieser  156, 196–197

Anderson, Walter Truett  243 Anne Frank  93–148

und: der Holocaust erst durch sie bekannt  63 und: die Amerikanisierung des Holocaust, Rezeption in Amerika  63, 112 und: Formen der Aneignung der  139–148 und: war sich der Gefahr bewusst  105–106 und: „ausgewogene“ Darstellung, „Ausgleich“  91 und: Bettelheim über  120, 124 und: Bitburg  111–112 und: Gedenken an, Bewunderung für  94–95, 120 und: Wissen um Anne Frank aus gängigen Darstellungsformen  55 und: Kritik an ihrer Familie  124 und: Berühmtheit  93, 104 und: Bild der Anne Frank geschaffen von ihrem Vater, Otto Frank  107–109 und: ihr Haus  105, 131 und: Idealisierung, Anne als triumphierende Figur  98–101, 136 und: starke Wirkung der  105 und: Verhaftung und Tod der  110–111, 135 und: Karikatur von ihr durch die Arabisch-Europäische Liga  141–142 und: Anne Frank über jüdische Identität und über die historisch Erfahrung der Juden  106 und: „Anne Frank-Witze“  218 und: als Metapher  46, 52 und: als Metonym für andere Kinder  93 und: Credo: „im Grunde ihres Herzens gut“  29, 63–64, 102–103, 108 und: Holocaust an ihrer Person festgemacht, Personalisierung  63, 133, 138 und: Instrumentalisierung für politische Zwecke  214 und: Popularität der  136 und: posthume Existenz, posthumes „Überleben“ der  95, 149 und: Rezeption im Deutschland der Nachkriegszeit  114–121, 126, 132 und: jüdische Rezeption der Nachkriegszeit  120–124, 132 und: ihr herausragender Platz  95 und: Reagans Kommentare zu  29 und: ihre Typhus-Erkrankung und die sanitären Verhältnisse in Bergen-Belsen, ihr Leiden dort 135 und: ihr symbolischer Status  125, 128 und: Verallgemeinerung ihres Schicksals, Generalisierung, „wir alle sind Anne Frank“  102, 105, 116, 126 und: Vergleich mit Zlatas Tagebuch  43–48

252 | 

Sach- und Namensregister

Anne Frank Center USA  95 Fn 4, 146 Anne Frank-Dorf  113 Anne-Frank-Haus  93, 113, 131–132, 140 „Anne Frank in der Welt: 1929–1945“ (Ausstellung)  94, 95, 114, 146 Anne Frank-Institut  95 Anne Frank-Jugendpreis  95 „Die Anne Frank-Serie“ (Kunstausstellung)  94 Anne Frank: Spur eines Kindes (Schnabel)  110 Anne-Frank-Stiftung (Amsterdam)  95, 108,140, 146 Anonymität des Holocaust  133 Antidiffamierungsliga  85, 217 Apologetische Ansicht einer von Hitlers Privatsekretärinnen  35 Apologetische Ansichten Reagans  28 Apologetisches Porträt (Hitler) 33 Appelfeld, Aharon  89 Arabisch-Europäische Liga  141 arabische Länder (Medien)  234 Armenier  39, 232 Arunde 180 Association of Holocaust Organizations von 2010 (Verzeichnis)  18 At the Mind’s Limits (Améry)  149 Fn 1, 153, 154–160, 164, 170 Fn 9, 193 Fn 9, 195 Fn 13 Auf der Suche nach Fatima: Eine palästinensische Geschichte (Karmi)  143–145 „Ausgewogenheit“ bei der Darstellung des Holocaust  83, 86–91 Ausschließliche Konzentration auf jüdisches Leiden, auf den Holocaust  16, 60, 221, 222 Avisar, Ilan  9, 62 Babi Jar  57, 128 Bainbridge, Beryl  34 Baltische Staaten  16 Bardèche, Maurice  216 Bauer, Yehuda  56 Fn 7, 60–61, 62, 67, 219, 227 Fn 27, 231 Bauman, Zygmunt  232–233 Becker, Israel  126 Befreier  16, 75, 78, 91 Behinderte  13, 56 Beloved (Morrison)  41 Benz, Wolfgang  56 Fn 6 Berenbaum, Michael  224 Fn 21 Berman, Paul  246 Bernstein, Michael André  83 Bettelheim, Bruno  120–121, 124–125 Birstein, Anne  100, 101 Fn 13, 107 Bitburg-Affäre  25, 27–28, 30, 32 und: Anne Frank  30, 111

und: „nachträgliche Änderung“ des Erzählens vom Holocaust  37 und: Elie Wiesel über  30, 31, 78 und: Primo Levi über  178

Bloomgarden, Kermit  123 Borowski, Tadeusz  168, 207, 210 Bosnien(-Krieg) 67 Bowman, James  81

Sach- und Namensregister  | 253

Braun, Eva  35, 138 Broder, Henryk  249 Brodsky, Louis Daniel  49–51 Brooks, Mel  33 „Bumerang“ 140–141 Camus, Albert  205 Carter, Jimmy  60 The Castle in the Forest (Mailer) (Das Schloss im Wald) 33 Celan, Paul  168, 179, 207, 209, 210 Central Park, New York  40 Chicago, Judy  69–74, 91 Christliche Kirchen  14 Christliche Retter, „Helden“  85, 87, 90 Christlicher Glaube  198 Christlicher Pfarrer  73 Christliche Symbole  82 The Chronicle of the Lodz Ghetto 151 Churchill, Ward  229 Fn 32, 230–234, 239 Clinton, Bill  80 Cochran, Johnnie L. 40 Colleges, Programme und Curricula  77, 220 Commentary 122 Committee on Conscience 67 Congress Weekly  104 Fn 22, 122–123 Conscience and Courage: Rescuers of Jews during the Holocaust (Fogelman)  83, 84, 85, 88 Fn 63 „Contract with America“ (Vertrag mit Amerika)  42 Craig, Gordon  33 „Dank an Skandinavien“  85 Darfur 67 Darstellung der Geschichte des Holocaust in der Literatur  12, 13 Davidsstern  73, 148, 246 Dawidowicz, Lucy  56 Fn 6, 78 Fn 45, 152 Fn 6, 231 Dawn (Wiesel) (Morgendämmerung)  196 De Jong, Louis  95 Demetz, Hana  47 „Demokratie“ 97 Depression  167, 185–186, 188 The Destruction of the European Jews (Hilberg) (Die Vernichtung der europäischen Juden) 55 Deutsche, die durch alliierte Bombenangriffe umkamen  58 Deutschland: und: als Verbündeter der Vereinigten Staaten  28 und: Améry über  161–163 und: Anne Frank  114–122, 126–127, 132 und: Antisemitismus in Deutschland  157, 249 und: die Bitburg-Affäre  25, 27–28, 30, 32

Dieudonné 217

254 | 

Sach- und Namensregister

Diskriminierung 146 Donskis, Leonidas  219 „Doppelter Völkermord“  16 Dworkin, Martin  121 Eichmann, Adolf  14, 85, 120, 125, 228 Einwanderer in die USA  74 Ellis, Marc  233 The End of Innocence: Anne Frank and the Holocaust (Schulcurriculum) (Das Ende der Unschuld: Anne Frank und der Holocaust) 94 „Das Ende von“, literarische Untergattung  243 Entmenschlichung  50, 155, 174–175 Environmental Protection Agency (Umweltschutzbehörde)  42 Erinnerung: und: Abschwächung der  134 und: Elie Wiesel über Erinnerung  191–192, 199–201 und: Zweifel an der Zuverlässigkeit der Erinnerung, „Gedächtnis ein trügerisches Instrument“ 182–183 und: Schulweis über  86 und: Gleichgültigkeit Holocaust- Überlebenden gegenüber  213 und: Primo Levi über „die Erinnerung an das Vergehen“  170–171, 173–174 und: als „unheilbare Verletzung“  170

Erzähler, Erzählen  187, 192, 200 Ethnische Säuberungen  43 Europäisches Parlament  219 Evron, Boas  235 Exil  154–156, 198 Explaining Hitler (Versuche, Hitler zu erklären) (Rosenbaum)  245

The Fanatic (Der Fanatiker) (Levin)  124 Farbige  41, 42, 51, 69, 138, 147, 240 Farrakhan, Louis  51 „Faschismus“, Einordnung des Holocaust in Begrifflichkeiten wie  57, 58, 158 Faschismus, Missbrauch des Holocaust im Kampf gegen den „Faschismus“  140 Fatelessness (Roman eines Schicksallosen) (Kertész)  205, 208, 209, 210 Faurisson, Robert  216 „F.D.A.-Holocaust-Museum“ 40 Felberman, Moritz  76 „Feminazis“ 41 The Feminine Mystique (Der Weiblichkeitswahn) (Friedan)  50–51 Fest, Joachim  35 Fiktionalisierung des Holocaust  36 Filipović, Zlata  43–44, 51–52 Film, Gestaltung des Holocaust-Geschehens durch Filme  12, 18, 55, 62, 83 Finkelstein, Norman: und: sein Publikum, aufmerksame Leserschaft  237–238 und: seine Attacken gegen die Juden: „Besessenheit“ vom Holocaust  228 und: über Elie Wiesel  239 und: über „Manipulation“ des Holocaust- Gedenkens  236 und: über die „Holocaust-Industrie“  221, 225, 234

Sach- und Namensregister  | 255

und: Einfluss auf andere, etwa David Leonard  221 und: über „zynische“ Benutzung des Holocaust durch Juden  233 und: Eltern des Autors  236–237 und: populistischer Erfolg des Autors  237–238

Flüchtlinge  76, 90 Fogelman, Eva  84–85, 88 The Forgotten (Die Vergessenen) (Wiesel)  196, 199–200 For Those Who Can’t Believe (Schulweis) (Für die, die nicht glauben können)  85, 86, 87, 88 Fortunoff-Videoarchiv 77 Fragments (Wilkomirski)  145 Frank, Otto: und: Kritik an, Vorwürfe gegen die Familie  124 und: Vermächtnis seiner Tochter  109, 126 und: Bild der Anne Frank geschaffen von ihm  107–109 und: Bühnenfassung des Tagebuches, Theaterstück  101, 107, 123, 126

Frankfurt (Anne Frank dort geboren)  95 Frankreich  16, 46, 53, 70, 194, 216, 217, 246 Friedan, Betty  50–51 Friedman, Thomas  232 Fuhrman, Mark  40–41 Gängige, populäre Kultur: 23–38

und: Unverständlichkeit des Holocaust  20, 62 Wandel im Erzählen vom Holocaust, Umgestaltung  24 und: Kommerzialisierung des Holocaust  36–37 und: Kenntnisse über den Holocaust, Wissen um den Holocaust  23–24, 53–56 und: abstumpfende Wirkung  24 und: Darstellung Hitlers in  32–35 und: Interesse am jüdischen Schicksal  24 und: Revisionismus, „Normalisierung“  34–38

Garber, Zev  59 Fn 12, 60 Fn 13 The Gates of the Forest (Wiesel) (Die Tore des Waldes) 196 Gaza-Krieg Januar 2009  245 Gedenkveranstaltungen in New York für Anne Frank  94 Gerechtigkeit  161, 164, 168, 173, 194, 220, Gerstenfeld, Manfred  213 Geschichte des Holocaust (akademisch):

und: Zugang durch amerikanisches Ethos  61 und: Abschwächung des Holocaust  32 und: Glaubwürdigkeit/Unglaubwürdigkeit der Berichte über den Holocaust  170 und: vermittelt durch gängige Kultur  23 und: ungenügende Kenntnis der Geschichte des Holocaust bei den Amerikanern  27 und: Quellen der  54 und: Fiktionalisierung des Holocaust, Holocaust als attraktive Unterhaltung  36 und: Gestaltung des Holocaust-Geschehens durch Filme  12, 18, 55, 62, 83 und: Historikerstreit  115, 163, 177 und: literarische Repräsentation der  12–13 und: Politisierung des Holocaust  36 und: Revisionismus  30, 35, 37, 75, 139 und: Rolle des Historikers  11–12 und: „historische Erinnerung“  55

256 | 

Sach- und Namensregister

und: Versuch der Befreiung der Geschichte von ihren negativen Inhalten  29 und: zweckentfremdende Vereinnahmungen  224

Gestapo, Beschimpfung der Umweltschutzbehörde als  42 Ghazal, Suad  144–145 Gies, Miep  79, 108, 113 Gilbert, Martin  56 Fn 6, 231 Gilson, Estelle  65 Gingrich, Newt  42 „The Girl-Child of Pompei“ („Das kleine Mädchen von Pompeji“) (Levi)  179 Glaube an die Menschheit nicht wiederzugewinnen  171 „Glaube an die Menschheit: Retter von Juden während des Holocaust“, Konferenz  85 Glaubwürdigkeit/Unglaubwürdigkeit der Berichte über den Holocaust  170 Gleichgültigkeit gegenüber Holocaust-Überlebenden  213 Gleichstellung, Gleichsetzung, Tendenzen der  16, 219–220 Goes, Albrecht  128 Goldberg, Michael  226–227, 239 Goldhagen, Daniel Jonah  115, 236 Fn 47 Goodrich, Frances:

und: eher erbaut als verstört durch das Theaterstück  63 und: Kritik an dem Bühnenstück  121 und: Schilderung der Anne Frank, als „triumphierende Figur“, Betonung der Fröhlichkeit, Sentimentalisierung, positive Sichtweise  101–102 107, 108 und: die dunkleren Passagen des Tagebuches, Anne war sich der Gefahr bewusst  105–106 und: Kanins Änderungen  107 und: Verfilmung des Theaterstückes  104

Göth, Amon  81, 82, 83 Gottes Anwesenheit in den Todeslagern, „War Adonai in Auschwitz?“  87, 194 Gräbe, Hermann  79 Graver, Lawrence  106 „The Gray Zone“ („Die Grauzone“) (Levi)  183 Green, Gerald  64 Großbritannien 217 Der Große Diktator (1940)  33, 62 Guillaume, Pierre  216 Gutman, Yisrael  231 Hackett, Albert:

und: eher erbaut als verstört durch das Theaterstück  63 und: Kritik an dem Bühnenstück  121 und: Schilderung der Anne Frank, als „triumphierende Figur“, Betonung der Fröhlichkeit, Sentimentalisierung, positive Sichtweise  101–102 107, 108 und: die dunkleren Passagen des Tagebuches, Anne war sich der Gefahr bewusst  105–106 und: Kanins Änderungen  107 und: Verfilmung des Theaterstückes  104

Halkin, Hillel  249 Halter, Marek  84 Hamzeh, Muna  143, 145 Harster, Wilhelm  113 Hayden, Robert  147–148 Helmreich, William  76, 150 Fn 4

Sach- und Namensregister  | 257

Hentoff, Nat  249 Heuss, Theodor  115 Hilberg, Raul  12, 14, 55, 56 Fn 6, 79 Hill, Kathryn  68 Hillesum, Etty  47 Himmler, Heinrich  152 Hirsch, Marianne  222, 223 Hirschbiegel, Oliver  33 Historische Entropie  21, 165 Historische Erinnerung  24 Hitler:

und: antisemitische Äußerungen: „Vernichtung der Juden“  250 und: Österreich  34, 58 und: Geburtsort und -tag  34 und: Wandel der Wahrnehmung des Holocaust  32 und: Kommerzialisierung und Popularisierung von  36 und: seine besessene Fixierung auf die Juden  13 und: politische Ikonographie  141 und: Vergleich Mark Fuhrmans mit  40–41 und: Faszination von, bezwingendste Figur zerstörerischer Macht  33 und: Darstellungen Hitlers in der gängigen Kultur, in der Literatur  32–35 und: Reagans Kommentare über Hitler, „totalitäre Diktatur eines einzigen Mannes“  28 und: revisionistische Sichtweise auf Hitler  35 und: Hitler und Stalin  205, 207, 218–220

Hitler: Ein Film aus Deutschland (Syberberg 1977) 33, 35 Hitler (Lewis)  33 Hitler’s Willing Executioners (Hitlers willige Vollstrecker) (Goldhagen)  115 „Hitler-Tagebücher“, Fälschung  35 HIV/AIDS 138 Hoberman, J. 81 Holocaust-Bewusstsein:

und: zweckentfremdende Vereinnahmungen des  224 und: Rufe nach einem „Ende von Auschwitz“  213, 241 und: als jüdisches „Konstrukt“  234 und: Entwicklung des H. in Amerika  227 und: Nachlassen der Aufmerksamkeit für das Leid anderer  16, 223 und: „Zentralisierung“ des  226 und: kein wesentlicher Faktor in der amerikanischen Kultur als solcher  228 und: „Händler“ des, „Holocaust-Fachleute“  228, 234 und: Holocaust als Symbol einer „neu erworbenen Identität“  239 und: als Bedrohung jüdischer Kultur, jüdischen Selbstverständnisses  226 und: „zionistischer“ Plan: ausschließliche Konzentration auf jüdisches Leiden  16, 19, 236, 239

Holocaust (Dokudrama)  55 Holocaust, Einmaligkeit des:

und: Kritik daran  230, 238 und: Holocaust-Bewusstsein  239–240 und: Diskussion in wissenschaftlichen Kreisen  57 und: das Holocaust-Gedenkmuseum  61, 68

Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten  61, 64–69 und: Kritik an  221 und: Retter  79

258 | 

Sach- und Namensregister

und: überlebende Aktivisten  78 und: universalistische Implikationen  61, 67

Holocaust-Gedenktag  60, 76, 219, 220 „Holocaust-Industrie“:

und: angebliche Motive dahinter  216, 221, 225, 239 und: amerikanische „Völkermorde“  221 und: Antisemitismus in Europa  236 und: Kritiker der  234 und: Verurteilung der Gruppen dahinter, „falsche Holocaust-Historiker“  236 und: Holocaust-Leugner  237 und: Ursprung der Theorie einer H., „jüdische Verschwörung“  216 und: Reaktionen auf den Vorwurf  237–238 und: „zionistische Unterstützung“ der  239

The Holocaust Industry (Die Holocaust-Industrie) Finkelstein  225–226, 234, 236–239 Holocaust-Leugnung der Rechten  216 Holocaust (Miniserie)  55, 64 „Holocaust“, NBC-Sendung im deutschen Fernsehen  113 Holocaust-Projekt (Kunstinstallation)  69–74, 90 Holocaust, Schrecken des: und: „Ausgewogenheit“ bei der Darstellung des Holocaust  83, 86, 89–91 und: Schwierigkeit, das Ausmaß zu begreifen  240 und: Abstumpfung gegenüber  20, 24 und: unbewusste Leugnung  37

„Holocausts“ nicht-jüdischer Gruppen  218–219, 231 „Holocaust“, Terminus  59–61, 128, 147, 227 Holocaust als „Unterhaltung“  36 „Homocaust“ 224 Homosexuelle  13, 56, 224 Humor in Bezug auf den Holocaust, Witze  19, 217–218 Ideologie  155, 236, 243 Imperialismus 216 Individualismus 73 Inglorious Basterds (2009) 33 Institut für gerechte Handlungen  85 Iran  245, 247, 248 The Iron Dream (Der Stählerne Traum) (Spinrad)  34 Irving, David  35 Israel:

und: angebliche „zionistische Verschwörung“, „zionistischer Plan“  16 und: Anne Frank  125, 127 und: arabische Leugnung des Holocaust, „Mythos“  16, 234 und: Kritik an, „Aggressorstaat“  232–233, 241 und: als „Völkermord“-Verbrecher, Juden als „Nazis“  16, 224, 230 und: „Helden“ des Holocaust  16 und: Holocaust-Bewusstsein  228, 241 und: israelisch-palästinensischer Konflikt, „Viktimisierung der Palästinenser“, „Unterdrückung des palästinensischen Volkes“  141–145 und: nukleare Drohung gegen  243, 247–248, 249–250 und: Gegner von, „Tod den Juden“  247, 249 und: „zweiter Holocaust“: 243–250 Sach- und Namensregister  | 259

und: als Ziel von terroristischen Angriffen  246

Jahjah, Dyab Abou  141 Jameson, Storm  128 Japan 128 Jespersen, Otto  217 Jewish Foundation for Christian Rescuers (Jüdische Stiftung für christliche Retter)  85 Jewish Frontier 121 Jewish Social Studies 122 Jewtuschenko, Jewgeni  128 Jom-Kippur-Krieg  228, 244 Judah Magnes Museum 85 „die jüdische Lobby und ihre Bestrebungen“  31 „Jüdischer Absolutheitsanspruch“  230, 231, 232, 240 Kacandes, Irene  222, 223 Kaddish for a Child Not Born (Kaddish für ein nicht geborenes Kind) (Kertész)  205, 208– 210 Kambodschaner, Völkermord an  39, 232 Kanin, Garson  102–103, 106–107, 109 Kapitalismus 216 Kaplan, Chaim  151 Karmi, Ghada  143–145 Katholische Autoren  127 Katholische Kirche  215 Katholische Website  215 Katz, Dovid  219 Katz, Steven  231 Katzenberg, Jeffrey  80 Kazin, Alfred  100, 107, 110 Kenntnisse über den Holocaust, Wissen um den Holocaust  23–24, 53–56 Kerr, Walter  101 Kertész, Imre: 204–211 und: über Antisemitismus  249 und: Auschwitz  206–209, 241, 249–250 und: seine Familie  206 und: Verhaftung, Deportation  206 und: jüdische Identität  208 und: Bedrückung im kommunistischen Ungarn  205 und: Rezeption in Ungarn  206 und: Nobelpreis  12, 205 und: Leben nach dem Kriege  207, 210–211 und: über Suizid  205, 207 und: über Überlebende  203–205 und: Holocaust ausschließlich als Literatur vorstellbar  12 und: über die Unverständlichkeit des Holocaust, seine Unzugänglichkeit  20 und: Schriften  208–211

Kesselman, Wendy  126–127 Khan, Muhammad  143–144 Kinder als Opfer (der Nazi-Ära)  93

260 | 

Sach- und Namensregister

Kohl, Helmut  29 Kollaborateure  16, 81, 184, 185 Kolonialismus 216 Komiker, Komödienautoren  35, 217 Kommerzialisierung des Holocaust  36–37, 228 Kommunismus  16, 205–207, 215, 218 Komplizenschaft 232 Konferenz „Glaube an die Menschheit“  85 Konsens über den Holocaust nicht vorhanden  23, 31, 57 Konzentrationslager Auschwitz

und: das amerikanische Erbe  62 und: Anne Frank  29 und: Antisemitismus, der Auschwitz reproduzieren will  211 und: als Metapher  39 und: Ruf nach dem „Ende von Auschwitz“  213, 241 und: christliche Symbole im  57 und: Leugnung von Auschwitz  216 und: in der Literatur  207–210 und: Imre Kertész  12, 206, 208–211, 213, 241, 249 und: Lektionen vom  39 und: als Erinnerungsstätte für Polen  57 und: Primo Levi  174–176, 181–183, 185–186, 188 und: eingebrannte Nummer  149 und: alles verändernde Auswirkung von  42 und: Schreiben über  196–197

Konzentrationslager Bergen-Belsen  29–30, 47, 49, 91, 95, 98, 110–113, 120, 125, 128, 135, 142, 144, 147, 154 Konzentrationslager Buchenwald  154, 191–192, 206–208 Konzentrationslager Dachau  25, 27, 53 Konzentrationslager Westerbork  105–106, 110, 119, 131, 135 Konzentrationslager Zeitz  206 Körperlich und geistig Behinderte  56 Kriegstagebücher  43–45, 52, 96 Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit  13 Kulaken 39 „Kult“, Holocaust als  226, 229 Kulturelle Darstellungsformen [des Holocaust] 11, 13 Der kulturelle Trend  18–19 Kundera, Milan  23 „Kunst und Kultur nach dem Holocaust“ (Wiesel)  191 Küntzel, Matthias  217, 243 Fn 1, 247, 249 Kuspit, Donald  81 Laffont, Robert  46 Lamed Waw (die 36 Gerechten)  84 Lang, Berel  224 Langer, Lawrence  77 Fn 42, 102, 104, 149, Lanzmann, Claude  12, 81, 83 Lasch, Christopher  39–40, 51 224 La Stampa 167 Sach- und Namensregister  | 261

Le Chambon (Frankreich)  79, 85, 87, 88 Legacy (Mitteilungsblatt des Anne Frank Center)  95 Fn 4, 146 The Legend and the Legacy of Anne Frank (Die Legende und das Vermächtnis der Anne Frank) (Fernsehsendung)  94 Leichenberge  114, 133, 144 Leid, Leiden  147 Leiden als moralische Identität  51 „Lektionen oder Lehren des Holocaust“  20, 39, 91, 153 Leonard, David  221 Lester, Julius  147–148 „Let’s Stop the Holocaust“ („Stoppt den Holocaust“) (Falwell)  41 Der Letzte der Gerechten (Schwarz-Bart)  84, 87 Die letzten sieben Monate der Anne Frank (Lindwer)  94, 135 Leugnung des Holocaust: und: durch Ahmadinedschad  247 und: durch die Araber, „Mythos“  16, 234 und: durch Katholiken  215 und: Wandel der Wahrnehmung des Holocaust  23–24 und: Charakter der Leugnung  215 und: Leugnung anderer „Holocausts“ durch Juden  230–232 und: Trend: Feindseligkeit bei der  246–247 und: Horror des Holocaust und unbewusste Leugnung  37 und: linke und rechte Ideologie  215–217 und: alles verändernde Auswirkung der  42

Leugnung des Holocaust durch die Linken  216 Levi, Primo  167–190

und: Améry von ihm zitiert  170 und: über Amérys Suizid  167–169, 171 und: über die Abschwächung des Holocaust-Gedenkens, Abgleiten in Vereinfachung  134, 136 und: Ausdruck des Zweifels als Autor  191 und: über die Bitburg-Affäre  177–178 und: seine Korrespondenz  185–188 und: über Entmenschlichung  174–175 und: seine Depressionen  185–186, 188 und: Verzweiflung  241 und: über Würde  172 und: über Deutschland, die Deutschen  172, 174, 176–178, 181 und: über Schuld, die die Überlebenden empfinden  183–184, 187 und: der Historikerstreit in Deutschland  177–178 und: Levi als Häftling in Auschwitz  174–176, 181–182, 185–186 und: Kertész über ihn  207 und: Unrecht, verlangt Gerechtigkeit  171, 172–173, 194 und: Lorenzo  180 und: „die Erinnerung an das Vergehen“  170–171, 173–174 und: Zweifel an der Zuverlässigkeit der Erinnerung, „Gedächtnis ein trügerisches Instrument“ 182–183 und: Rezeption in Deutschland  198 und: Leiden an der eigenen Unzulänglichkeit als überlebender Zeuge, dauernde Nachwirkung des Holocaust 185–186 und: Ozick über Levi  172 und: über das Leben nach dem Kriege, „Leben nach Auschwitz“  149, 210–211

262 | 

Sach- und Namensregister

und: Handlungen und Gedanken sollten Produkt der Vernunft sein  169 und: säkulare Identität  193 und: Selbstkritik und Selbstbeschuldigung  172–173, 183, 187 und: über Suizid  178–179 und: sein Suizid  168, 188–189 und: die „Krankheit des Überlebenden“  204–205 und: Schriften  169–171, 178–179, 181–182, 186, 188

Levin, Meyer  99–100, 109, 123 Levy, Dani (Filmproduzent)  33 Levy, Daniel (Historiker)  61, 223 Lewis, Wyndham  33 Lewisohn, Ludwig  122–124 Life Extension Foundation (Stiftung für Lebensverlängerung) 40 Limbaugh, Rush  41 Lindwer, Willy  94, 131 Fn 1 Lipstadt, Deborah  89 Fn 68, 139 Fn 8, 216, 227 Fn 27, 231 Liquidation (Kertész)  208–209, 210 A Little Matter of Genocide: Holocaust and Denial in the Americas, 1492 to the Present (Eine unbedeutende Angelegenheit des Völkermordes: Holocaust und Leugnung in der Neuen Welt, 1492 bis heute) (Churchill)  230 Lopate, Philip  227–229, 239 „Lorenzo’s Return“ („Lorenzos Rückkehr“ (Levi)  179–180 Love Letters to Adolf Hitler (Bühnenstück) (Liebesbriefe an Adolf Hitler) 33 Lustig, Branko  78 A Mad Desire to Dance (Wiesel) (Ein verrücktes Verlangen zu tanzen) 201 Mailer, Norman  33 Margalit, Avishai  234 Marrus, Michael  231 Marx, Karl  41 Maus (Spiegelman)  55 Medien und meinungsbildende Eliten  235 Meerbaum-Eisinger, Selma  47 Mein Führer – Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (Levy, 2007)  33 Mein Kampf (Hitler)  33, 40 Mendes, Aristedes de Sousa  79 Menschenrechte  220, 224 Merkin, Daphne  137 Michaels, Walter Benn  221 Miller, Judith  59 Fn 11, 133 The Minimal Self (Lasch)  39 Der Missbrauch des Holocaust-Gedenkens: Entstellungen und Reaktionen (Gerstenfeld) 214 Moment (Magazin)  84 Moments of Reprieve (Augenblicke der Atempause) (Levi) 179 The Monkey’s Wrench (Der Mutternschlüssel des Affen) (Levi)  179, 188 Morris, Benny  247–249 Morrison, Tony  41 Morse, Arthur  89–90 Moyers, Bill  94 Muhlen, Norbert  116, 121 Sach- und Namensregister  | 263

The Murderers Among Us (Die Mörder unter uns) (Wiesenthal)  170 Museum der Toleranz des Simon Wiesenthal Centers in Los Angeles  69 Muslimische Welt  16, 144, 223, 247 Naher Osten  244 Nasser, Gamal Abdel  245 National Jewish Monthly 122 National Jewish Post 123 National Rifle Association („Nationale Gewehrvereinigung“)  42 Nazi-Deutschland: und: Améry über  160, 161, 162, 164 und: Folter als Wesen des Dritten Reiches  155 und: Entmenschlichung  50, 155, 174–175 und: Unrecht, Ungerechtigkeit  171, 172–173, 194 und: extreme Rhetorik  51 und: Memorabilia  36 und: „Normalisierung“ der Nazi- Vergangenheit  162, 164 und: öffentliche Billigung, Gutheißen der Nazi-Morde  244 und: Reagans Kommentare über, historische Ignoranz  26–27 und: Vergleich Stalinismus mit Nationalsozialismus  205, 218–220 und: Paktieren der Schweiz mit  58 und: Zeugnisliteratur  159–162

Neue Kronen Zeitung 35 Neusner, Jacob  235 Newsweek  25, 46, 99, 103 New York City Audubon Society 40 New York Times Book Review  99, 100 Fn 12 Niederlande, Niederländer  16, 58, 140, 141 Nietzsche, Friedrich  200 Night (Nacht) (Wiesel)  192, 196, 200, 201, 203, 204 Night and Fog (Resnais, 1955) (Nacht und Nebel) 83 Nordkorea 142 „Normalisierung“: und: von Gräueltaten  40 und: der Nazi-Vergangenheit  58, 162, 164 und: Hitlers  34 und: des Erzählens vom Holocaust  19 und: der Viktimisierung  40

Notes from the Warsaw Ghetto (Ringelblum)  151 Novick, Peter:

und: über das Holocaust-Gedenken  240 und: „professionell mit dem Holocaust befasst“  226 und: Einfluss, „jüdischer Holocaust“  221 und: über die jüdische Identität  239 und: Holocaust als „Werkzeug jüdischer Ermächtigung“  233 und: negative Effekte des Holocaust-Bewusstseins, „Händler des Holocaust-Bewusstseins“  228

Nutzlosigkeit, Gefühle von  181, 187, 198 Obama, Barack  42 Oberski, Jona  47 O’Brien, John A. 90–91

264 | 

Sach- und Namensregister

The Obsession (Die Besessenheit) (Levin)  123–124 One, By One, By One: Facing the Holocaust (Miller) (Einer, und noch einer, und noch einer: Dem Holocaust ins Auge schauend)  59 Fn 11, 133 One Generation After (Eine Generation danach) (Wiesel) 192 Operation Shylock (Roth)  245, 246 Fn 6, 248 Opfer:

und: angeblicher Missbrauch des Opferstatus, „manipulative Verwendung“ des Holocaust  225 und: Wandel der Kategorie „Opfer“  91 und: positiver „Ausgleich“  91 und: Wandel im Erzählen vom Holocaust  15–16 und: Kinder als Opfer  93 und: Begriffserweiterung, Definition und Umfang  51, 56–61 und: Zielgruppen des Holocaust  13–14, 15–16, 56, 64, 215 und: Darstellung im Holocaust- Projekt  91 und: Zahl der jüdischen Holocaust-Opfer  13, 41, 51, 53, 56, 56 Fn 6, Fn 7, 60, 60 Fn 13, 65, 78, 93 und: Überlebende als Opfer  169–170

Orwell, George  40 Österreich, Österreicher  14, 34, 35, 58, 70, 154, 159, 217 Ozick, Cynthia  9, 172 Paiss, Naomi  68 Palästina:

und: Terroranschläge  246 und: Vereinnahmungen der Anne Frank durch Palästinenser  140–141 und: Rufe nach einem „Ende von Auschwitz“  233–234 und: Elie Wiesel  226 und: „Völkermord“ an Palästinensern  224–225, 230–231 und: israelisch-palästinensischer Konflikt, „Viktimisierung der Palästinenser“, „Unterdrückung des palästinensischen Volkes“  141–145 und: Missbrauch des Tagebuches der Anne Frank, „palästinensische Anne Frank“  142–145

Patriarchat 71–73 The Periodic Table (Levi) (Das periodische System) 176 Personalisierung des Holocaust, Festmachung an der Person der Anne Frank  63, 133, 138 Pieronek, Tadeusz  215 „A Plea for the Dead“ („Ein Plädoyer für die Toten“) (Wiesel)  48 „Plinius“ (Levi)  179 Polen  16, 57, 59, 66, 70, 91, 202, 217 Politische Gefangene  56 Politische Korrektheit  62, 73 Pornographie  24, 147 The Portage to San Cristóbal of A. H. (Steiner) (Der Transport von A. H. nach San Cristóbal) 33 „Prague Declaration on European Conscience and Communism“ („Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“)  218, 219 Fn 12 The Producers (Brooks) (Frühling für Hitler) 33 Programme von Universitäten und Instituten; Schul-Curricula  18, 220–221, 222 Prose, Francine  136, 137 Fn 6 Pseudo-Geschichte 32

Sach- und Namensregister  | 265

A Race against Time: Peter Bergson, America, and the Holocaust (Medoff und Wyman) (Ein Wettlauf gegen die Zeit: Peter Bergson, Amerika und der Holocaust) 90 Rächer  16, 75 Radius, S. H. 140 Rafferty, Terrence  80 Rafsandschani, Hashemi  243, 250 Rassinier, Paul  216 Rassismus  41, 68, 108, 132, 146, 223 Rawicz, Piotr  168 Reagan, Ronald  25–30, 32–33, 111 The Reawakening (Levi) (Das Wiedererwecken)  18 Fn 5, 169 Fn 7, 176, 177 Fn 28, 182 Fn 46 Reports from the Holocaust: The Making of an AIDS Activist (Kramer) (Berichte vom Holocaust: Der Werdegang eines AIDS-Aktivisten) 41 Resnais, Alain  83 Retter: und: amerikanische Konzentration auf  84–85 und: „Ausgewogenheit“, „Ausgleich“ im Erzählen über den Holocaust  91 und: Wandel im Erzählen vom Holocaust  15–16 und: Auftauchen von  75–80 und: filmische Darstellungen von  79, 82–83 und: Rettungsliteratur  89–90 und: Schulweis’ Anerkennung der  85–87 und: Ausmaß des Holocaust, wie entsetzlich er wirklich war  89

Revisionismus, Revisionisten  30, 35, 37, 75, 139, 141, 148, 163, 178, 216, 231 Rhetorik der „Bedrückung“  69 Ribbentrop-Molotow-Pakt 219 Riefenstahl, Leni  33 The Rime of the Ancient Mariner (Coleridge) (Die Ballade vom alten Seemann) 186 The Rise and Fall of the Third Reich (Shirer) (Aufstieg und Fall des Dritten Reiches) 55 Robertson, Pat  74 Romain, Jan  96–98 Roosevelt, Eleanor  98 Roosevelt (Präsident)  89 Fn 67, 90 Rops, Daniel  128 Rosenbaum, Ron  243, 245–246, 249 Rosenberg, David  136 Rosenfeld, Sidney  9, 158 Rotes Kreuz  14 Roth, Philip  245, 246, 248, 249 Rothberg, Michael  223 Ruanda, Völkermord in  66 Rumänien 16 Rumkowski, Mordechai Chaim  183 Russland 70 Salomon, Charlotte  47 Sarajewo 43–46 Saturday Review  99 Schiff, Stephen  80

266 | 

Sach- und Namensregister

Schindler, Oskar  79, 81, 82–84, 87, 88, 228 Fn 29 Schindlers Liste (1993)  77–83

und: Hauptakzent auf Optimismus, auf positive Figuren  64, 83 und: Kenntnis des Holocaust aus populären Quellen  55–56 und: Schilderung der Juden in  82, 91 und: Betonung des Überlebenden und des Retters  77–80, 83, 88

Schloss, Eva  47 Schnabel, Ernst  110, 113 Schriften der Holocaust-Opfer und -Überlebenden:

und: Zweifel der Autoren  182, 191–192 und: Verlängerung des Traumas, aufgewühlte Gefühle  169, 181 und: Gefühl der Nutzlosigkeit  181, 187, 198 und: Holocaust-Bewusstsein  227 und: Rezeption in den jeweiligen Heimatländern, Desillusionierung  207 und: Suizid der Autoren  169, 210 und: Zeugnisliteratur  151–152, 191–192 und: Autor als Zeuge  197

Schroeder, Christa  35 Schul-Curricula  78 Fn 45 Schuldgefühle  183–184, 187, 216 Schulweis, Harold N. 85–88, 90–91 Schütz, Anneliese  117–118 Schwarz-Bart, André  84, 87 Schweiz, Schweizer  58 Schwulenrechte  74, 147, 224 Screening the Holocaust (Avisar)  62 Sechstagekrieg  125, 228, 244 Segre, Dan Vittorio  187 Sekundär-Antisemitismus 249 Sekundäre Zeugen  152 Selbsttäuschender Effekt der Holocaust-Darstellungen  75 Self-Portrait of a Holocaust Survivor (Weinberg) (Selbstporträt eines Holocaust-Überlebenden) 213 Senesh, Hannah  47 Sensationsmache 74 „Shame“ (Levi) („Scham“)  184 Sharon, Ariel  246 Shirer, William  55 Shoah Foundation for Visual History and Education (Holocaust-Stiftung für videogestützten Geschichtsunterricht) 77 Shoah (Lanzmann, 1985)  81 Silberbauer, Karl  113 Simon, Paul  95 Simpson, O. J. 40 Sinti und Roma  13, 56 The Sixth Day and Other Tales (Levi) (Der sechste Tag und andere Erzählungen) 179 Skinhead-Subkultur 43 Sklaverei  41, 72, 222 Slawen 13 Slotke, Gertrud  113 Sach- und Namensregister  | 267

„The Social Construction of Moral Universals“ (Alexander) („Die soziale Struktur moralischer Universalien“)  223 Sophie’s Choice (Styron) (Sophies Entscheidung) 64 Sowjetunion  56 Fn 6, 219 Spanien 217 Spertus Institute of Jewish Studies 69 Spiegelman, Art  55 Spielberg, Steven: und: Academy Awards Ceremony 78 und: aufbauende Stimmungslage  64 und: Akzentverlagerung beim Erzählen vom Holocaust, Paradigmenwechsel  80 und: Schilderung der Täter  82–83

Spinrad, Norman  34 Sprache des Erzählens vom Holocaust:

und: Unzugänglichkeit, Unverständlichkeit des Holocaust  20 und: Aneignung der Sprache des Holocaust für andere Zwecke  40–41, 48–51, 138 und: Degradierung der Sprache des Holocaust  43 und: der Terminus „Holocaust“  59–61, 128, 147, 227 und: Sprache ungeeignet geworden  204 und: „Krankheit des Überlebenden“  204 und: Gebrauch und Missbrauch der, Schaffung einer eigenen Sprache, 17 rhetorische Extreme  51

Stalinismus  207, 218–220 Stannard, David  41, 229 Fn 32, 230–235 Steiner, George  33–34 Steven, George  98 „Die Stimme eines Kindes“ (Romein)  97 Stroom, Gerrold van der  94 Fn 2, 97, 109 Styron, William  64 Sugihara, Sempo  79 Suizid:

und: in fiktionalen Texten  210 und: Elie Wiesel über  199 und: Imre Kertész über  205, 210 und: Jean Amérys Suizid  159, 165, 167–169, 171 und: Andauern des Holocaust bei den Überlebenden, Fortsetzung einerqualvollen Existenz, Fortbestehen des Holocaust-Traumas  150, 159, 167 und: als philosophisches Problem, Problem der Sprache  204–205 und: Primo Levi über  178 und: Levis Suizid  168, 188–189

Survival in Auschwitz (Levi) (Überleben in Auschwitz)  169 Fn 7, 174, 176 Fn 26, 178, 180, 182 „The Survivor“ (Levi) („Der Überlebende“)  184, 186 Syberberg, Hans Jürgen  33, 35 Sznaider, Natan  61, 223 Das Tagebuch der Anne Frank (Anne Frank):

und: Änderungen daran (durch Schütz)  117–119 und: Missbrauch des Tagebuches  142–144 und: Angriffe auf die Echtheit des  139 und: größere Kenntnis aus Filmen als aus  55

268 | 

Sach- und Namensregister

und: nicht-fröhliche Passagen in  105–106 und: kritische Ausgabe von Doubleday  94 und: Berühmtheit der Autorin  93 und: starke Wirkung auf das historische Bewusstsein  105 und: Filmbearbeitungen des  62, 94, 98, 104, 121 und: Interpretationen eines romantischen Idealismus  98–101 und: anfängliche Rezeption, frühe Signale  95–100 und: in Nordkorea  142 und: Reaktion im Deutschland der Nachkriegszeit  114–116 und: jüdische Rezeption in der Nachkriegszeit  122, 125 und: gedruckte Ausgaben des  109–110, 112 und: Veröffentlichungen (frühe) des  95–96 und: Standardstellenwert des  46–47 und: Fernsehbearbeitungen des  94, 104 und: Übersetzungen des  98, 117–120 und: Vergleich mit Zlatas Tagebuch  46

Das Tagebuch der Anne Frank (The Diary of Anne Frank) (Theaterstück): 100–105 und: Anne Franks Tod  110 und: Fehlen von Passagen des Originals, und: Abweichungen vom Original  105–107 und: Berühmtheit der Anne Frank  93 und: Idealisierung der Anne Frank in, positive Sichtweise  109 und: Kesselmans Bearbeitung von  126–127 und: Credo: „im Grunde ihres Herzens gut“  29, 63 und: Aufführungen von  94, 126–127 und: Popularität von  113 und: Reaktionen im Nachkriegsdeutschland, ambivalente Einstellung  114, 116 und: jüdische Reaktion der Nachkriegszeit  122, 126 und: Rezeption von  98

Tarantino, Quentin  33 Täter:

und: „Ausgewogenheit“ der Erzählung vom Holocaust, „Ausgleich“  91 und: Wandel des Erzählens vom Holocaust  15–16 und: filmische Darstellung der Täter (Göth)  82 und: Identität der  13 und: Fehlen der Gerechtigkeit im Umgang mit  161, 164, 168, 173, 194, 220 und: Suizid der Überlebenden  167–168

Teaching the Representation of the Holocaust (Hirsch und Kacandes, Hgg.) (Die Vermittlung von Darstellungen des Holocaust) 222 The Testament (Wiesel) (Das Testament) 193 Testimony: Contemporary Writers Make the Holocaust Personal (Rosenberg) (Zeugnis: Zeitgenössische Autoren machen den Holocaust persönlich)  136–137, 138, 147, 227 Fn 27 Their Brothers’ Keepers (Friedman) (Die Hüter ihrer Brüder) 90–91 Thiernan, Thommy  217 Thion, Serge  216 Titel des vorliegenden Buches  18 „Todesfuge“ (Celan)  209 Todorov, Tzvetan  51 Tortur  155–156, 159, 161, 167, 171, 183, 196 „Tribut an die Dänen“  85 Sach- und Namensregister  | 269

Triumph des Willens (Riefenstahl, 1935)  33 Trocmé, André  79 Tzedek (Halter, 1994)  84 „Über die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit, Jude zu sein“ (Améry)  156, 157 Überlebende:

und: Wandel in der Akzeptanz der Überlebenden, kein Interesse, dann aber hochgeehrt  76–77 und: Aktivitäten der, etwa Podiumsredner  77–78 und: positive, „ausgleichende“ Darstellung  91 und: Wandel im Erzählen vom Holocaust  15–16 und: Auftauchen der  75 und: Ära der  213 und: Gefühl der Nutzlosigkeit  198, 214 und: Schuldgefühle bei den  183–184, 187 und: Gleichgültigkeit gegenüber  213 und: Sprache  204 und: Andauern des Holocaust bei den Überlebenden, Fortsetzung einerqualvollen Existenz, Fortbestehen des Holocaust-Traumas  150, 159, 167–168, 185–186 und: Beschäftigung mit Viktimisierung und Überleben  39 und: filmische Darstellungen der  77–78 und: Leben der Überlebenden in der Nachkriegszeit  149–150, 171 und: Wut der  172–173 und: Überlebende der zweiten Generation  75 und: als Geschichtenerzähler  187, 192, 199 und: „Krankheit des Überlebenden“  178, 180, 181, 204–205 und: Zeugnisliteratur  151–152 und: als Opfer  169–170 und: als Zeugen  184–185

Überlebende der zweiten Generation  75 Ukraine  16, 224 Umfang des Holocaust  54 Ungarn  16, 205–209, 217 United States Memorial Council (Gedenkstättenrat der Vereinigten Staaten)  67, 85 Universität Bielefeld  217 Unterdrückung des Intellekts  155 Der Untergang (Film 2004) 33 Die Untergegangenen und die Geretteten (The Drowned and the Saved) (Levi): und: Abschwächung des Erinnerungsvermögens  134 und: über die Glaubwürdigkeit der Geschehnisse  170 und: Zulassen der Leidenschaft, Emotion  172–173 und: über den Suizid Jean Amérys  167–168 und: Rezeption von  187 und: Selbstbeschuldigung in  183 und: zum Titel von  185 und: vorsätzliche Unwissenheit der Deutschen bezüglich der Verbrechen  177–178 und: Arbeit an dem Werk  186

Uris, Leon  77

Verallgemeinerung, universelle Sicht des Holocaust: und: amerikanischer Einfluss auf  61–62, 69 und: Anne Frank  102, 105, 116, 126

270 | 

Sach- und Namensregister

und: Verwässerung, Abschwächung durch  214, 225 und: Beispiele für  223–224 und: Norman Finkelstein  236–237

Vereinigte Staaten:

und: Betonung des Aufbauenden und Optimistischen  48, 61, 84 und: Anne Frank-Ausstellung in  146 und: Haltung der Amerikaner gegenüber dem Holocaust  198 und: Aufnahme der Geschichte des Holocaust in die Curricula  78 Fn 45 und: Tendenzen der Gleichsetzung des Holocaust mit dem Stalinismus  220 und: Idealisierung der Anne Frank in, „säkulare Heilige“  100, 112 und: Unzufriedenheit mit der ausschließlichen Konzentration auf den Holocaust in  221–223 und: jüdische Einwanderer in die  76 und: gesellschaftliche Probleme in  146 und: Betonung der Überlebenden und der Befreier  16 und: Informationen über den Holocaust hauptsächlich aus Fernsehsendungen  75 Fn 39, 88 Fn 65

Vergebung, vergeben, verzeihen  23, 25, 96, 172 Die Verlassenheit der Juden (Wyman)  89 Verlust des Bewusstseins des eigenen Ich  155–156 „Versamina“ (Levi)  179 Verschwörungstheorien  236, 237 Vertrauen  156, 168 Verwässerung, Abschwächung, Entstellung des Holocaust  214, 225, 248 Vietnam-Krieg 140 Viktimisierung: 39–52

und: innerhalb der amerikanischen Gesellschaft  69 und: Kultur der  38 und: Schwächung, Verlust des Sinngehaltes  40, 52 und: als „berechtigt“ betrachtete Opfertypen  51 und: extreme Sprache  40–42, 48, 51–52 und: Erweiterung des Begriffes, moralische „Überlegenheit“ der Opfer  40, 51–52 und: „Normalisierung“  40 und: intensive Beschäftigung mit  39–40 und: nochmalige Viktimisierung  124 und: Kriegstagebücher  43–46 und: Erweiterung des Begriffes des Opferstatus  146–147

Völkermord:

und: amerikanische „Völkermorde“, Ureinwohner  222 und: manipulative Verwendung des Terminus, „Völkermord-Rassismus“  41 und: Vergleich „Völkermord“ mit „Holocaust“  138 und: neu definiert  219 und: an den Kambodschanern  39, 232

Vorurteil  68, 139, 146, 223

Waffen-SS 30 Wallenberg, Raoul  79, 84, 88 Wandel in der gedanklichen Vorstellung des Holocaust  23–24 The Warsaw Diary of Chaim A. Kaplan 151 Weinberg, Werner  171, 173, 213 Weitz, Eric D. 222 Weizsäcker, Richard von  36–37 Westdeutschland 95 Sach- und Namensregister  | 271

Westeuropäische Länder  16 „Westward“ (Levi)  179–180 While Six Million Died: A Chronicle of American Apathy (Während sechs Millionen umkamen: Eine Chronik der Apathie in Amerika) 89 „Why I Write“ („Warum ich schreibe“) Wiesel  192 Why Should Jews Survive? (Goldberg) (Warum sollten Juden überleben?) 226 Widerstand, Widerstandskämpfer  15, 58, 64, 75, 154, 160 Wiesel, Elie: 191–212 und: amerikanischer Positivismus  84–85 und: über die Bitburg-Affäre  30–31, 78 und: Kritik an  226, 231, 239 und: kulturelle Formung von  194–195 und: über die Toten  44 und: Verzweiflung von  199, 241 und: Niedergeschlagenheit, Zweifel von  192, 199 und: Terminus „Holocaust“  59–60 und: jüdische Identität von  193, 197 und: Judy Chicago  71 und: über Erinnerung  191, 199 und: Friedensnobelpreis  198 und: über das Leben nach dem Kriege  85 Fn 54, 149, 191, 210 und: seine herausragende Stellung  198 und: Hadern mit Gott  194–195 und: über Suizid  199 und: sein Status als Überlebender  76–78 und: über die verändernde Wirkung des Holocaust  42–43 und: über sein Schreiben  152 und: Schriften  191–194, 199–204, 210

Wiesenthal, Simon  56, 60, 170 Wilkomirski, Binjamin  145 Williamson, Richard  215 Wistrich, Robert  243 Fn 1, 249 Wolf, Arnold Jacob  235, 238 Woodman, Donald  69, 70 The Works of Anne Frank (Birstein und Kazin, Hgg.)  100 Würde  154, 156, 172, 173 Wyman, David  89 Yad Vashem  66, 93, 232 Yahil, Leni  231 Yakira, Elhanan  9, 216–217 Yerushalmi, Yosef  11 Yom HaShoah (Holocaust-Gedenktag)  76 Young Adolf (Der junge Adolf) (Bainbridge)  34

Zahl der jüdischen Holocaust-Opfer  13, 41, 51, 53, 56, 56 Fn 6, Fn 7, 60, 60 Fn 13, 65, 78, 93 Zeugen des Holocaust, Zeitzeugen siehe auch unter „Überlebende“  75 Fn 39, 77, 150–152, 158, 161, 170, 182–184, 187, 191, 192, 197, 203 Zeugen Jehovas  56 Zeugnisliteratur  151–152, 191–192

272 | 

Sach- und Namensregister

Zlatas Tagebuch (Filipović)  43–48, 52 Zöpf, Wilhelm  113 Zuckerman, Bruce  59 Fn 12, 60 Fn 13 „Zuschauer“  14–15, 75, 79 „Zuschauersport“, Krieg als  46 Zweiter Holocaust  243–250

und: beschleunigte kulturelle Wandlungen  244 und: Befürworter, Förderer des  247–248 und: Wandel, „verändernde Wirkungen der Zeit“  244 und: Fiktionale Prognosen  245 und: Erinnerung an den ersten  247–248 und: potenzielles Szenario, apokalyptische Vision  247–248 und: öffentliches Gutheißen des, Anstreben einer „Endlösung“  244 und: Wiederaufflammen des Antisemitismus in Europa  246

„‚Zweiter Holocaust?‘ Roths Ausdruck ist nicht notwendigerweise nur mehr romanhafte Phantasie“ (Rosenbaum)  246 Zygielbojm, Shmuel  167

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