Das Ende der Barbarei: Essay über Europa 9783515102612

Die Kriegstoten und Massengräber sind Dispositive der europäischen Geschichte: "Es ist das Sterben am Wegesrand, in

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Das Ende der Barbarei: Essay über Europa
 9783515102612

Table of contents :
INHALT
Vorwort
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
EPILOG
ANHANG

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Jürgen Nielsen-Sikora

Das Ende der Barbarei Essay über Europa

SGEI – SHEI – EHIE

EI SGEI HEI SHEI HIE EHIE Geschichte

Franz Steiner Verlag

Jürgen Nielsen-Sikora Das Ende der Barbarei

Studien zur Geschichte der Europäischen Integration (SGEI) Studies on the History of European Integration (SHEI) Études sur l’Histoire de l’Intégration Européenne (EHIE) ––––––––––––––––––––––– Nr. 20

Herausgegeben von / Edited by / Dirigé par Jürgen Elvert In Verbindung mit / In cooperation with / En coopération avec Charles Barthel / Jan-Willem Brouwer / Eric Bussière / Antonio Costa Pinto / Desmond Dinan / Michel Dumoulin / Michael Gehler / Brian Girvin / Wolf D. Gruner / Wolfram Kaiser / Laura Kolbe / Johnny Laursen / Wilfried Loth / Piers Ludlow / Maria Grazia Melchionni / Enrique Moradiellos Garcia / Sylvain Schirmann / Antonio Varsori / Tatiana Zonova

Jürgen Nielsen-Sikora

Das Ende der Barbarei Essay über Europa

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Paul Klee, Angelus Novus 1920. Aquarellierte Zeichnung, 31,8 cm × 24,2 cm, Israel-Museum, Jerusalem

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10261-2 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany

Klaus Servene, dem unermüdlichen Europäer

INHALT Vorwort .............................................................................................................................. 7

Erster Teil I Dem Abgrund so nah. Moderne Ursprünge der europäischen Idee in den 1820er Jahren .................................................................................................... 9 II Die Wiederentdeckung des Menschen in der Zwischenkriegszeit .................... 17 1. Zur allgemeinen politischen Stimmung ......................................................... 17 2. Den Menschen wiederfinden. Walter Benjamins Lektüre der Moderne und die Frage nach dem Neubeginn europäischer Geschichte .................. 22 3. Die europäische Geschichte neu denken. Benjamins Historismus-Kritik.......................................................................... 30 III Vom Leben des Geistes nach dem Zweiten Weltkrieg ........................................ 35 1. Die historische Ausgangssituation: Europa nach dem Völkermord an den europäischen Juden .............................................................................. 35 2. Europas totalitäre Versuchungen..................................................................... 41 3. Nach dem Krieg: Die Politik Europas neu denken. Hannah Arendts philosophisches Vermächtnis .......................................................................... 46 IV Europawissenschaft .................................................................................................. 59 1. Prolog: Im Anfang war die Macht. Europa denken im Zeitalter postdemokratischer Politik............................................................................... 59 2. Wissenschaftliche Narrative ............................................................................. 65 V Europäische Kultur und Europäische Identitäten nach 1989............................... 78 1. Was ist (europäische) Kultur?........................................................................... 78 2. Die Geburt der Identität aus dem Geist der Freundschaft ........................... 85

Zweiter Teil I Europa neu denken ................................................................................................... 89 II Die Suche nach Antworten....................................................................................... 97 III Europas Verantwortung ......................................................................................... 103 IV Über Europa schreiben ........................................................................................... 106 V Kulturelle oder ökonomische Identität Europas? ............................................... 110 VI Europas Wandel mitgestalten................................................................................ 116 Epilog ............................................................................................................................ 122

Anhang Summary ........................................................................................................................ 123 Résumé ........................................................................................................................... 127 Literatur.......................................................................................................................... 131 Personenregister............................................................................................................ 143

Vorwort Der rumänische Schriftsteller Matei Viüniec suchte im Juli 2007, gut 50 Jahre nach Unterzeichnung der römischen Verträge, in der Tageszeitung România libera nach einem Fundament Europas und fand es in den übereinander liegenden Schichten der europäischen Toten.1 Wo in Europa gegraben würde, fänden sich Gebeine. Die Toten, so Viüniec, seien eine Botschaft für die nachfolgenden Generationen in Europa. Die Kriegstoten und Massengräber sind Dispositive der europäischen Geschichte: „Es ist das Sterben am Wegesrand, in der Panzerschlacht, in der Namenlosigkeit und Wegelosigkeit, in den brennenden Städten weit unten.“2 Dieser Gedanke ist diskussionswürdig. Ich werde ihn auf den folgenden Seiten aufgreifen und argumentieren, die moderne europäische Idee habe sich aus der Botschaft der europäischen Kriegstoten und aus dem Geist der unmittelbaren Nachkriegszeiten entwickelt. Diese Zeiten waren geprägt von dem Versuch, der allgemeinen Sprachlosigkeit angesichts der Barbarei auf Europas Schlachtfeldern eine zukunftsträchtige politische Vision entgegenzusetzen. Dem ewigen Kreislauf einer Vorbereitung auf den kommenden Krieg, dem Wettrüsten und Wiederaufrüsten sollte eine ernsthafte zivilgesellschaftliche und politische Alternative namens Europa Abhilfe verschaffen. Als Basis des neuen Europa galt in den Jahren nach dem Krieg der politische Dialog, mehr oder weniger erfolgreich geführt nachdem die Schlachtfelder gesäubert waren. Im Spätsommer 1933 schrieb Heinrich Mann, die Ursache der vorangegangen Kriege in Europa sei eine Verschwörung des Staates mit den Konzernen gewesen. Die Diagnose Manns war mehr als eine Ahnung dessen, was auf Europa in den Folgejahren zukam. Paradoxerweise konnte ausgerechnet eine neuerliche Verschwörung von Staaten und Wirtschaft nach 1945 für einigermaßen stabile Verhältnisse in Europa sorgen. Denn die politischen Prämissen hatten sich radikal geändert. Dies bedeutet, dass nicht die Verschwörung als solche Ursache von Kriegen ist, sondern die Qualität des Politischen, mit der die Verschwörung die gesellschaftliche Bühne betritt. Die Antwort auf den politischen Wandel gab Heinrich Mann selbst: „Es liegt an Menschen, an ihrer Bereitschaft und ihrem Willen, ob ein Zeitalter der Vernunft anbricht. Der Irrationalismus hatte sich mühelos durchgesetzt, aber die Vernunft siegt nie von selbst; keine selbsttätigen Ursachen führen sie ohne weiteres in das Geschehen ein, sie muss erkämpft werden.“3 Dass auch Vernunft erkämpft werden kann, war die große Hoffnung aller politischen Nachkriegsutopien. Utopie sei jedoch „niemals der Glaube, dass alles Vernünftige auch möglich ist. Utopie ist die Wiedererweckung des Abgelebten.“4

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Matei Viüniec (2007): Europa si cultura razboiului. In: www.romanialibera.ro/opinii/comentarii/europa-si-cultura-razboiului-100032.html. Stand: Februar 2012. Karl Schlögel (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt a.M., S. 435. Heinrich Mann (1984): Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte. Berlin und Weimar. Zuerst 1933. Ebd., S. 37.

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VORWORT

Wiedererweckung des Abgelebten: Heinrich Mann sah die Zukunft Europas schon 1933 in einem übernational verbundenen Kontinent, in einer Art europäischem Staatenbund, um den national gefärbten Hass des einen auf den anderen zu überwinden. Doch erst nach dem Kalten Krieg war die jahrzehntelange, politisch-militärische Konfrontation ganzer Weltteile einstweilen vorüber. Nichtsdestotrotz wandelt sich Europa weiter, ohne die Wunden der Geschichte vollkommen heilen zu können, und ohne klar erkennbares Ziel. Die Kriegserfahrungen der älteren Generationen, die die europäischen Erfahrungen der Nachgeborenen während des Kalten Krieges stark prägten, verblassen mit Voranschreiten des 21. Jahrhunderts zusehends. Ein belebendes Narrativ der europäischen Idee ist nicht in Sicht. Zwar gab es neben der Vorstellung vom Ende der Welt, wie wir sie kennen, nach 1989 erstmals eine begründete Hoffnung, die zukunftsorientierten Ordnungsvorstellungen eines vereinten Europa Wirklichkeit werden zu lassen. Doch unzweifelhaft ist Europa als Losung der Nachkriegszeiten selbst zum Synonym für Krisen geworden. Das sah bis zum Ausklang des kurzen 20. Jahrhunderts noch ganz anders aus. Bezeichnenderweise lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen der europäischen Idee, wie sie im Kalten Krieg entwickelt wurde, und jener, die bereits im Anschluss an Napoleons Niederlage formuliert worden war, ausmachen. Neben zahlreichen symbolischen Aspekten erschien Europa in beiden Zeitaltern als einzig denkbarer Weg, dem Schrecken des Krieges langfristig zu entkommen: Europa beruht seit dem 19. Jahrhundert auf der Idee, das durch den Krieg verursachte Schweigen politisch zu kompensieren und das Menschliche wiederzuentdecken resp. wiederzubeleben. Nicht zuletzt haben die europäischen Denkwege nach 1945 die Sprachlosigkeit, die insbesondere der Zweite Weltkrieg verursachte, zum Anlass genommen, über die Idee Europa einen Dialog der Kulturen anzubahnen, der den Frieden sichern möge. Daran schließen sich seit dem Ende des Kalten Krieges auch die Europawissenschaften an, die den Erfolg dieses Versuchs aufarbeiten und somit selbst zum Mythos Europa beitragen. Europa war insofern stets zentrales Thema politischer und intellektueller Diskurse in Krisenzeiten und Epochen der Verunsicherung. Bleibt die europäische Idee des gemeinsam gestalteten Kontinents am Ende vielleicht doch die einzig mögliche Antwort auf die Kriegserfahrungen der Moderne? Das Ende der Barbarei setzt meine Diskussion über das „Europa der Bürger“5 fort und erinnert mit Hilfe der Geschichtsphilosophien von Walter Benjamin und Hannah Arendt6 daran, dass das europäische Projekt nur dann eine Zukunft hat, wenn sich die Europäer wieder auf die Ursprünge des europäischen Gedankens konzentrieren: Die Einbeziehung des Anderen und die Rückbesinnung auf eine mentalitätsgestaltende Politik, die der voranschreitenden europaweiten Entsolidarisierung entgegentritt. Die Felder der Geschichte Europas liegen voller Steine, die nutzlos liegen geblieben sind. Der größte Stein, den es zu schleifen gilt, ist das Verhältnis von Politik und Gesellschaft in Europa. Es entscheidet über die weitere Zukunft des europäischen Hauses.

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Jürgen Nielsen-Sikora (2009): Europa der Bürger? Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung. Eine Spurensuche. Stuttgart. Dazu: Detlev Schöttker/Erdmut Wizisla (Hg.) (2006): Arendt und Benjamin: Texte Briefe Dokumente. Frankfurt a.M.

ERSTER TEIL

I Dem Abgrund so nah. Moderne Ursprünge der europäischen Idee in den 1820er Jahren Susan Rößner hat in ihrem Buch Die Geschichte Europas schreiben darauf verwiesen, dass Europavorstellungen, Europarepräsentationen und die Europahistoriographie stets zufällige und kontingente Ergebnisse zeitigen, die nicht einmal einer europäischen Idee entspringen müssen: Europa war und ist durchaus ein Modethema geschichtswissenschaftlicher Expertise gewesen, so Rößner.1 Das ist wahr, wenngleich die Utopien, die in diesen Begriff hineinprojiziert worden sind, stets verschiedene waren und insbesondere nach 1945 eine eigene Qualität erlangten. Zumindest bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges schien Europa ein nahezu selbstverständlicher, wenig hinterfragter Begriff zu sein: Gegründet auf souveräne europäische Nationalstaaten, deren ungeheures Machtpotenzial jedoch nicht dazu genutzt wurde, gemeinsame Sache zu machen, geriet der Kontinent und sein zuletzt auf dem Wiener Kongress heraufbeschworenes Gleichgewichtskonzept mit Voranschreiten kolonialer Bestrebungen, mit den zahlreichen Modernisierungsschüben und der Neuordnung der Staaten im 19. Jahrhundert zusehends ins Wanken. Nur solange die von Victor Hugo heraufbeschworenen Vereinigten Staaten von Europa eine Leerformel für nationale Politiken war, blieb Europa das — von wenigen Ausnahmen abgesehen — selten ernsthaft hinterfragte und inhaltsleere Regulativ dieser Gleichgewichtspolitik. Dies führte zu der paradoxen Situation, dass sich zwar bereits im 19. Jahrhundert so etwas wie ein europäisches Bewusstsein in breiten Bevölkerungsschichten und auch bei den Eliten nachweisen ließ, allerdings speiste sich dieses aus dem bloßen Zusammenspiel nationalstaatlicher Selbstverständnisse, die in Abgrenzung zur außereuropäischen, kolonialisierten Welt in Anschlag gebracht wurden. Eine frühe Ausnahme markiert meines Erachtens Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldek (1770-1832). Er gilt als einer der ersten, die an die Emanzipation Nordamerikas praktische Forderungen für Europa knüpften. Nach dem Wiener Kongress wollte der Kantianer und dänische Etatrat die Ordnung der europäischen Völker und der Welt durch ihre Fundierung auf rechtliche Prinzipien sichern.2 Denn die napoleonischen Kriege hätten „schwere Erschütterungen“3 hinterlassen. In der „theuer erkauften Ruhe“ stehe Europa auch nach Napoleons Tod „dem Abgrunde so nahe.“4 Die Welt blicke auf die „Trümmer der zerstörten Herrlichkeit Europas.“5 Noch immer herrschten Furcht, Besorgnis

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Susan Rößner (2009): Die Geschichte Europas schreiben. Europäische Historiker und ihr Europabild im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. Vgl. Friedrich von Schmidt-Phiseldek (1821): Der europäische Bund. Kopenhagen Ebd., S. V. Ebd. Ebd., S. VI.

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und „Grauen“6 und prägten die „Noth unserer Zeit.“7 Napoleon habe ein „Gebäude der Europäischen Autokratie“8 errichtet. Die „Gräuel dieser Revolution“ und der „Despotismus“9 müssten endgültig überwunden werden, schreibt Schmidt-Phiseldek. Der Philosoph, Historiker, Publizist, Jurist und Beamte wurde am 3. Juli 1770 in Braunschweig geboren und genoss zunächst eine häusliche Erziehung. Ab 1787 besuchte er die protestantisch geprägte Academia Julia Carolina, besser bekannt unter dem Namen: Universität Helmstedt. Die Bildungsanstalt bestand seit 1576, ehe sie auf Anordnung des jüngsten Bruder Napoleons, König Jérôme Bonaparte, 1810 geschlossen wurde. Schmidt-Phiseldek studierte dort bis 1790 Theologie und Philosophie und ging anschließend als Lehrer nach Kopenhagen, wo er bei Konstantin und Friederike Brun,10 seinerzeit eine der reichsten Familien Dänemarks, unterkam. Bereits zwei Jahre nach seiner Ankunft in Dänemarks Hauptstadt gelang Schmidt-Phiseldek mit Anfang 20 die Promotion. Darüber hinaus erlangte er 1794 auch die dänische Staatsbürgerschaft. Zwischen 1796 und 1798 erschien sein Lehrbuch über Kants theoretische Philosophie mit dem Titel „Philosophiae criticae secundum Kantium expositio systematica“11, in dem er sich darum bemühte, Kants Erkenntnistheorie einem breiten, gebildeten Publikum zugänglich zu machen. Zudem trat er als Herausgeber von Gedichten hervor, verfasste Beiträge in aufklärerischen Zeitschriften und schrieb nicht nur ein Traktat über den Begriff vom Gelde, sondern auch über die Redekunst und das Verhältnis von Europa zu Amerika: „So wie Europa durch die Folgen der Entdeckung und Kolonisierung von Amerika eine neue Gestalt erhielt, so muß sich auch durch die Emanzipation des letzteren die Gestalt desselben abermals durchaus verändern. Dieses ist der erste Satz, den wir zu entwickeln haben. Wir stützen ihn auf die Behauptung, daß Europa Amerika nicht entbehren könne, wenn es in seiner jetzigen Weise fortexistieren soll, daß ihm aber diese Entbehrung als notwendige Folge der Befreiung des neuen Kontinents unvermeidlich bevorstehe, weil Amerika nicht umgekehrt auch Europas bedarf, mithin die Verbindung mit demselben und die gegenseitige Mitteilung in dem Wege des Handels notwendig aufhören muß.“12 Insgesamt über 30 größere Schriften, die sich mit theologischen, ökonomischen, politischen und philosophisch-historischen Themen auseinandersetzen, umfasst das Œuvre jenes Mannes, der zehn Sprachen beherrschte und zahlreiche Ämter innerhalb der dänischen Staatsverwaltung innehatte. Ein „begabter und frucht-

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Ebd., S. X. Ebd., S. XXI. Ebd, S. 38. Ebd., S. 40. Vgl. Rosa Olbrich (1932): Die deutsch-dänische Dichterin Friederike Brun: Ein Beitrag zur empfindsam-klassizistischen Stilperiode. Breslau. Vgl. Paul Zimmermann (1891): Schmidt-Phiseldek, Konrad Friedrich von. In: Allgemeine Deutsche Biographie Band 32, Leipzig, S. 23 f. Zitiert nach Rolf Hellmut Foerster (1963): Die Idee Europas 1300–1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung. München, hier S. 179.

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barer, fast völlig in Vergessenheit geratener Publizist“ nennt ihn der Historiker Heinz Gollwitzer in seiner 1951 veröffentlichten Habilitationsschrift und ergänzt: „In dem merkwürdigen Mann vereinigen sich die Lehre Kants mit Herderschen Anregungen, aufklärerische mit romantischen Ansichten.“13 Im Jahre 1802 heiratete dieser merkwürdige Mann die Tochter eines Lübecker Bürgermeisters. Da gehörte er bereits zum Beraterkreis um Prinz Frederik VI., der ebenfalls ein Anhänger der Aufklärung war. Frederik ergriff 1784 die Macht und regierte als Kronprinzregent im Namen seines geisteskranken Vaters. Eine Reihe liberaler Reformen gehen auf ihn zurück. 1808 wurde er als Friedrich VI. zum König gekrönt. Von 1808 bis zu seinem Tod 1839 war er König von Dänemark sowie zwischen 1808 und 1814 auch von Norwegen; 1815 wurde er zudem Herzog von Lauenburg, das nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses als Ausgleich für den Verlust Norwegens mit Dänemark verbunden wurde. Frederik verlieh Schmidt-Phiseldek den Rittertitel 1812 und machte ihn damit zu einem Mitglied des Danebrogordens,14 einem dänischen Verdienstorden, der an treue Diener des dänischen Staates für zivile und militärische Dienste, für besondere Verdienste in der Kunst, den Wissenschaften oder dem Wirtschaftsleben oder für sonstige Verdienste um dänische Interessen, verliehen wurde. Seine Schriften zur Lage und Zukunft Europas gingen über rein dänische Interessen freilich weit hinaus. So schrieb der deutsche Schriftsteller und Historiker Rolf Hellmut Foerster in den 1960er Jahren über Schmidt-Phiseldek, er sei „einer der ersten deutschsprachigen Autoren, die in realen weltpolitischen Zusammenhängen dachten. Nordamerika bedeutet ihm eine ungeheure Herausforderung für die Alte Welt, der man nur durch die Bildung eines »Europäischen Bundes« begegnen kann. Weder die Friedenssehnsucht noch die christliche Ethik oder die aufklärerische Vernunft, sondern in erster Linie wirtschaftliche und finanzielle Erwägungen bringen ihn zu seinem Postulat.“15 Schmidt-Phiseldeks sozioökonomische Argumentation in Bezug auf Europas Zukunft war gepaart mit einer Differenzierung zwischen dem geographischen, politischen und einem idealtypischen Europa, das seines Erachtens mehr als nur die Summe nationaler Geschichtsschreibungen enthalten muss. Zwar war Europa bei ihm weiterhin ein monarchisch geprägter Föderativstaat, der auf Grund der Konkurrenz zu Amerika gezwungen sei, sich als Gesamtstaat zu organisieren, doch in erster Linie ging es ihm um den inneren Frieden zwischen den Fürsten und dem Volk, sodann um den Verzicht der europäischen Staaten auf Krieg als Basis einer gesamteuropäischen Lösung: „Schmidt-Phiseldeks gesamtes politisches Denken war dadurch geprägt, dass er die Ordnung der europäischen Völker und darüber hinaus der Welt insgesamt durch ihre Fundierung auf rechtliche Prinzipien sichern wollte. Hier

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Heinz Gollwitzer (1951): Europabild und Europagedanke. Beiträge zur deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. München, hier S. 242. Vgl. Winfried Schulze, Gerd Helm (2007): Conrad Georg Friedrich Elias von Schmidt-Phiseldek (1770-1832). In: Heinz Duchhardt et alii (Hg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Band 1. Göttingen, S. 107-128. Rolf Hellmut Foerster, a.a.O., S. 179. Vgl., Schmidt-Phiseldek (1821): Der europäische Bund. Kopenhagen, S. 46, wo er die „Gleichheit der Interessen und der politischen Rücksichten“ Amerikas betont.

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folgt er den Kantischen Kategorien, denen er sich — seit er sie rezipierte — immer verpflichtet fühlte. Die Weltpolitik benötigte seiner Meinung nach die regulierende Kraft verbindlicher Gesetze, während das Interesse der Staaten an einem freien Handel eine neue Form der Weltgesellschaft ermögliche. Seine Vorstellung einer föderal-staatlichen Ordnung Europas sollte das Muster für die Ordnung der Weltgesellschaft bilden. Schmidt-Phiseldeks Europakonzeption verband die Erfahrungen der napoleonischen Zwangseinigung Europas mit den wirtschaftstheoretischen Ansätzen eines freien Welthandels und den institutionellen Rahmenbedingungen des Völkerrechts.“16 Dem Europa-Buch aus dem Jahr 1821 steht ein Motto voran, das aus Schillers Don Carlos übernommen wurde: „Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif; ich lebe Ein Bürger derer, welche kommen werden.“17 Denn das europäische Bewusstsein war, und das hat Schmidt-Phiseldek äußerst scharf gesehen, stark eingespannt zwischen einen geistigen Monolith namens Nation und die Idee universalistischer Glasperlenspiele wie in Kants in »weltbürgerlicher Absicht« verfasstem Friedensprogramm von 1795. Wo immer die europäische Idee der Einigung umgesetzt werden soll, so Schmidt-Phiseldek, da müsse „zuvörderst gemeinschaftlicher Verkehr, und, durch diesen, Aehnlichkeit der Verhältnisse, der öffentlichen Einrichtungen und der Sitten, zuwege gebracht seyn“.18 Und soll diese Einigung Gesetzescharakter erlangen, dann „muß auch statt finden die Gleichheit der Rechte ... Es wäre demnach ferner von allen, den gesellschaftlich freien Verein beschließenden, Staten aufzugeben das positiv bestehende Recht jedes Einzelnen.“19 Schmidt-Phiseldek dachte, nachdem die napoleonischen Kriege vorüber waren, den europäischen Bund als Garanten eines neuen Rechtszustandes zwischen den Gliedern desselben. Zu diesem Zwecke sah er zugleich die Einrichtung eines europäischen Bundesgerichts als unerlässlich an. Bedingung sei ein „festbestehender Rechtszustand“ sowie eine „Berathung über das Gemeinwohl … in ihren Rechten gleicher Staten.“20 In der europäischen Bundesversammlung erblickte Schmidt-Phiseldek eine Institution zur Friedenswahrung und Rechtsüberwachung. Damit entwarf er ein Bild von der Zukunft Europas in der Hoffnung, dass diesem Bilde „dereinst eine lebendige Gegenwart wenigstens in den Hauptzügen entsprechen werde.“21 Es ging ihm um „ein besseres und dauerhafteres Gebäude der bürgerlichen Ordnung“ sowie allgemein um „bessere Zustände“22 resp. die „Idee eines besseren Seyns“23 in Europa, für das die menschliche Vernunft zu sorgen habe. Gleichwohl war ihm bewusst, dass dies „ein gewagtes Unternehmen“24 sei. Doch

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Winfried Schulze, Gerd Helm, a.a.O., S. 123. Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek, Bund. Bund, S. 44. Ebd., S. 86. Ebd., S. 285f. Ebd., S. 312. Bund, S. VI. Ebd., S. X. Ebd., S. V.

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mit dem Wiener Kongress habe „zum erstenmale … ein Statsvertrag die Absicht“ verkündet, „für ganz Europa Verfügung zu treffen.“25 Die Schlussakte vom 9. Juni 1815 hebt den Zweck hervor, „pour y ajouter les arrangements rendus nécessaires par l'état, dans lequel l´Europe étroit restée à la suite de dernière guerre.“26 Dieses Ziel sei aber erst erreicht, wenn ein Friedensbruch nicht mehr „den Krieg, sondern Urtheil und Erecution zur Folge“27 habe. Schmidt-Phiseldek versucht, dieses Ziel mit der „Idee einer Föderalvereinigung der Europäischen Völkerschaften“28 zu verbinden, um die Konstituierung „als Ein Volk nach gemeinschaftlichen Formen der Regierung“29 voranzubringen. Immerhin gäbe es hier Grund zur Hoffnung, da auf dem Gebiet des christlichen Europas bereits jetzt, zu Beginn der 1820er Jahre, „Gleichheiten im … politischen und bürgerlichen Leben“ sowie „Vorzeichen einer künftigen höheren Einigung“30 auszumachen wären. Das Christentum sei ferner ein Indiz für die „Annäherung zur Gleichheit des geistigen Culturstandes von Europa.“31 Zudem gäbe es „Familienähnlichkeiten der Europäischen Völkerstämme“ und auch ein „gemeinschaftliches Interesse.“32 Es gelte nun, die Idee der Menschheit stückweise durch eine europäische Lösung herzustellen.33 Ich komme auf diese Forderung noch eindringlicher zu sprechen. Trotz alledem: In die Volksseele drang der Europagedanke auch in der Folgezeit nur selten. Stärker durchzusetzen vermochten sich Überlegungen wie die des Jenaer Philosophieprofessors und Förderers der Burschenschaft Heinrich Luden (1780-1847), der in seiner Schrift aus dem Jahre 1814 Das Vaterland oder Volk und Staat schrieb: „Einmal könnte man die Bürger eines fremden Volkstums über die Naturmarken unseres Staates entfernen und auf diese Weise unseren Staat reinigen; zweitens könnte man versuchen … die Eigentümlichkeit der fremden Bürger in unserer Eigentümlichkeit aufzulösen.“34 Dieser auf Ausgrenzung oder bloße Assimilation angelegte, doch nicht minder europäische Diskurs sowie der volkhafte Liberalismus Ludens blieben in Europa bis weit in das 20. Jahrhundert hinein latent vorhanden. Das Wiederaufflammen des Europagedankens nach der Niederlage Napoleons und der Widerwille vieler, Frankreich als Schiedsrichter Europas zu inthronisieren, war jedoch nur folgerichtig, als auf dem Wiener Kongress nichts weniger als die Neuordnung des Tableau de l´Europe (Hardenberg) auf dem Plan stand. Dies galt auch für das alte Deutsche Reich mit seinen fast 300 Reichsständen vor 1803, von denen nach 1815 nur noch 41 Flächen- und Stadtstaaten im Deutschen Bund, unter ihnen das Königreich Preußen und das Kaiserreich der Habsburger, übrig bleiben sollten, oh-

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Ebd., S. 38. Zitiert nach ebd. Ebd., S. 40. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. Ebd., S. 66. Ebd., S. 68. Heinrich Luden (1814): Das Vaterland oder Volk und Staat, zitiert nach Karl Schlögel (2006): Planet der Nomaden. Berlin, S. 65.

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ne dass für diesen Bund auch nach 1848 Verwirklichungsmöglichkeiten bestanden, sich zu einem Nationalstaat zu entwickeln. Schmidt-Phiseldek sprengte auf Grund dieses nationalstaatlichen Dilemmas wie auch angesichts des ökonomisch aufblühenden Amerikas35 bereits sehr früh das Denken in engen nationalen Grenzen und forderte nicht nur einen festbestehenden Rechtszustand, sondern auch inneren Frieden, Ruhe und intensive Beratungen über die allgemeinen Interessen Europas. Schließlich plädiert er für „den gemeinsamen Schutz gegen äußere Feinde, durch Zusammenwirken selbstständiger und ihren Rechten gleicher Staten, welche in ihrem Inneren Niemand, in ihren allgemeinen Beziehungen auf die Außenwelt und sich selbst aber nur ihren Gesammtwillen über sich, als Gesetz, erkennen.“36 Hierbei richtete er seinen Blick besonders auf Europas Zukunft und begründet dies mit philosophisch-anthropologischen Ausführungen: „Von allen Lebendigen ist allein dem Menschen eigen, nicht blos in der Gegenwart sondern auch in der Zukunft zu leben, und in der letzteren vielleicht noch mehr, als in der ersteren, weil er aus ihr die Regel seines Wirkens in der Gegenwart hernimmt. Der Blick in die Zukunft ist das erste Erwachen der Vernunft oder des geistigen Lebens, das nichts mehr blind hin dem Zuge des Bedürfnisses oder dem Hange des Naturinstincts folgen, sondern ein Daseyn sich bilden will aus eigener Kraft…“37 Streng genommen dachte Schmidt-Phiseldek schon kurz nach dem Untergang Napoleons die grundlegenden Elemente einer europäischen Lösung vor. Beginnend mit einem gesamteuropäischen Heer über europäische Münzen bis hin zur Einrichtung eines europäischen Bundesgerichts war bereits 1821 alles in Ansätzen vorgezeichnet. Was Kant noch in abstrahierter Form den neuen europäischen Verhältnissen empfahl, konkretisierte Schmidt-Phiseldek durch einen pragmatischen Zugriff auf das europäische Thema. In diesem Zusammenhang ist nochmals sein Vorschlag der Rechtsangleichung zu betonen, der darauf schließen lässt, dass Schmidt-Phiseldek das grundsätzliche Problem einer gesamteuropäischen Lösung erkannt hatte. Und so ließ er auch nichts „außer acht, was die Notwendigkeit, ja bereits das Bestehen der europäischen Einheit beweist … Den von Fichte für die Deutschen beanspruchten Begriff des Normalvolks dehnt er auf alle Europäer aus.“38 Normalvolk? Als »Volk ohne Geschichte« hatte Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaft jene Völker vorgestellt, die keinen Staat bildeten. Das betraf eben vornehmlich »die Deutschen«, die für Fichte hingegen eine Art »Urvolk« bildeten, deren als »Weltbürgersinn« deklarierte geistige Weltherrschaft das eigentliche Ansinnen einer aufgeklärten Geschichtsphilosophie konterkarierte. In der Zeit nach dem Wiener Kongress konnte diese Auffassung zunächst weitere Zustimmung verbuchen, da sie auch die weniger gebildeten Schichten allmählich in ihren Bann zog. Grundsätzlich sollte die mit Hilfe der Erziehung

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Dazu auch: Schulze und Helm, a.a.O. Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek, Bund, hier S. 285f. Ebd., S. IX. Gollwitzer, S. 243.

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avisierte Modernisierung des Staats- und Bildungsapparates, so der Historiker Heinrich August Winkler, ganz im Sinne der preußischen Reformer durch die „Aufhebung der Erbuntertänigkeit“39 der Bauern sowie das „verbriefte Recht der städtischen Bürger zur kommunalen Selbstverwaltung“40 gestützt werden. Was auf kommunaler Ebene realistisch schien, erwies sich auf dem Feld der Außenpolitik als deutlich schwieriger, denn die auf den Prämissen des 17. und 18. Jahrhunderts beruhende europäische Gleichgewichtspolitik konnte, quot homines tot consilia, keinen durchschlagenden Erfolg verbuchen, oder gar eine stabile Staatenordnung gewährleisten. Dennoch hielten viele Zeitgenossen an einer traditionell-pragmatischen Politik fest. Zu ihrer Umsetzung gehörte, die Staatsbeziehungen so zu organisieren als stünden sie unter dem Dach einer bürgerlichen Verfassung. Nach Napoleons Niederlage im Juni 1815 bot sich hierzu die Gelegenheit, da die Vorstellung, es sei nach der levée en masse politisch möglich, dass die Fürsten Europa konföderierte Regierungen aufoktroyieren, obsolet geworden zu sein schien, auch wenn erst ein Jahr zuvor ein anderer Philosoph und Theologe, Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832),41 der lange Zeit in Vergessenheit geratene Freimaurer und einst so prominente Vertreter des Deutschen Idealismus, einen Entwurf vorlegte, der einen europäischen Staatenbund als Basis des allgemeinen Friedens vorsah. Doch konnte die Schrift des ungeliebten und nie richtig Fuß fassenden Krauses keine politische Wirkung entfalten. Der 1801 zum Doktor der Philosophie promovierte und bereits ein Jahr später habilitierte Krause knüpfte ebenfalls an Kants Erkenntnistheorie an und machte sich nicht zuletzt als einer der Mitbegründer der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache einen Namen. Der Gesellschaft ging es in erster Linie um die „wissenschaftliche Erforschung der deutschen Sprache nach ihrem ganzen Umfange“.42 Sie stand allen „wahren Freunden der Deutschheit und der Muttersprache“43 offen. Über diesen Sprachpurismus hinaus widmete sich die Gesellschaft später auch altertumswissenschaftlichen Fragestellungen, insbesondere der altdeutschen Kunst. Für seine Europavorstellungen fand Krause jedoch kaum Gehör. Dennoch nahm die Auseinandersetzung mit dem Europa-Gedanken in der post-napoleonischen Ära zunehmend an Fahrt auf. Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek war einer der engagiertesten Vertreter auf diesem Gebiete. Auf der Basis eines kulturell ausbuchstabierten Europas hob er nicht allein die Notwendigkeit der europäischen Einigung hervor, er regte über die schon genannten Symbole eine europäische Flagge, eine europäische Verfassung, eine gemeinsame europäische Bildung, eine europäische Hochschule und Frankfurt als Hauptstadt Europas an.

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Heinrich-August Winkler (2002): Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933. Bonn, hier S. 55. Ebd. Vgl. Claus Dierksmeier (2003): Der absolute Grund des Rechts. Karl Christian Friedrich Krause in Auseinandersetzung mit Fichte und Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt. Zitiert nach: www.uni-potsdam.de/u/germanistik/ls_dia/bgfds/inhalt/profilf.htm, leicht geändert. Ebd.

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DEM ABGRUND SO NAH

Im November 1832 starb der erste Europäer schließlich an den Folgen einer Gichterkrankung, noch ehe sich die Geschichtswissenschaft als eigenständige Disziplin universitär etablieren konnte. Seine Lebensdaten fallen zusammen mit einer Epoche des Umbruchs in Europa, mit der Zeit der Revolutionen, zu denen der deutsch-dänische Gelehrte ein durchaus gespaltenes Verhältnis hatte. Schmidt-Phiseldek beschreibt hinsichtlich des europäischen Selbstverständnisses nichtsdestotrotz eher die Ausnahme von der Regel. Diese Regel bestand darin, dass Europa von breiten Bevölkerungsschichten als etwas Selbstverständliches, als ein nicht weiter zu hinterfragendes, doch politisch diffuses Konstrukt angesehen wurde. Erst mit dem Ersten Weltkrieg kam es tatsächlich zu einem Bruch dieser Selbstverständlichkeiten. Dieser Bruch führte dazu, dass die Grenzen in Europa hermetischer wurden. Neben antisemitischen Strömungen, wie sie das 19. Jahrhundert hervorgebracht hatte, traten nun totalitäre Bewegungen, die auf die Erfahrung der Spaltung und Selbstentmachtung durch den Krieg mit aggressiveren politischen Parolen reagierten und eine Extremisierung der Gegensätze vorantrieben. Das war einer der Hauptgründe für die intensivierte Suche nach gesamteuropäischen Lösungen anderer Provenienz als sie noch das 19. Jahrhundert im Namen von Schmidt-Phiseldek inauguriert hatte.

II Die Wiederentdeckung des Menschen in der Zwischenkriegszeit 1. Zur allgemeinen politischen Stimmung Zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwog zunächst der politische Extremismus, dessen Ursache in erster Linie im historisch gewachsenen Widerspruch von Staatsräson und Nationalbewusstsein, im Ungleichgewicht von Staat und Gesellschaft über das gesamte zurückliegende Säkulum lag: „Während das Nationalbewusstsein der abendländischen Völker sich verhältnismäßig spät entwickelte und eigentlich erst im 19. Jahrhundert zu einem ausschlaggebenden politischen Faktor wurde“, schreibt Hannah Arendt, „hat der Nationalstaat seine staatliche Struktur einer viel längeren, älteren und langsameren Entwicklung zu verdanken.“ Dadurch sei, so Arendt weiter, „der Staat bis zu einem gewissen Grade aus einem gesetzgebenden und Gesetzlichkeit schützenden Apparat zu einem Instrument der Nation“ geworden. Die Nation habe sich an die Stelle des Gesetzes gesetzt. „Der verborgene Konflikt zwischen Staat und Nation“ heißt es in Arendts Totalitarismusbuch, sei bereits bei der Geburt des ersten modernen Nationalstaates ans Licht getreten, „als die Französische Revolution die Erklärung der Menschenrechte mit der Deklaration des souveränen Volkswissens … verband … Daß dem Staate seiner Natur nach der Schutz und die Garantie der Rechte aller Einwohner auf dem von ihm beherrschten Territorium oblag … war dem 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs noch selbstverständlich … Ganz anders war es um das Nationalgefühl der Völker bestimmt … Der völkische Nationalismus entstammt der Bodenlosigkeit [der] Völker … Dieser Mob nannte sich nicht umsonst völkisch: mit seinem »erweiterten Stammesbewusstsein« und seinem verdächtigen Mangel an Patriotismus und Gebundenheit an die heimatliche Erde glich er sehr viel eher einer Rasse als einem Volk.“1 Anti-westliche und antimoderne Ressentiments standen, begleitet und beschützt von der Hugenberg-Presse, mit dem völkischen Nationalismus auf der Tagesordnung der europäischen Politik. Eine gesamteuropäische Lösung schien nach 1918 somit mehr als je zuvor in weite Ferne gerückt; vielmehr beriefen sich vor allem völkisch-nationalistische Gruppierungen auf die Vorherrschaft des Nationalstaats als Lösung der europäischen Frage, da die traditionellen Konzepte eines europäischen Gleichgewichts längst ad acta gelegt worden waren. Mitteleuropa und Reichsgedanke traten insbesondere in Deutschland in den Vordergrund der Überlegungen, und das völkische Denken galt in Auseinandersetzung mit dem „Diktat“ von Versailles als Genesungsmittel des „in Stahlgewittern“ zerstörten Europas. Das „Rasseln der Maschinengewehre von Langemarck“ jagte, so Ernst Jüngers blumenreiches Fazit der Kriegsfolgen, „die Gerippe des XIX. Jahrhunderts … durch die Knochenmühle des Chaos.“2 Pro- und antieuropäische

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Hannah Arendt (2009): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus Imperialismus Totale Herrschaft. München, S. 488 et passim. Ernst Jünger an Ludwig Alwens, 16. September 1930, DLA Marbach, Nachlass Ernst Jünger, zitiert nach: Peter Trawny (2010): Die Autorität des Zeugen. Ernst Jüngers politisches Werk. Berlin, S. 55.

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Ideen standen sich diametral gegenüber und markierten in gerade dieser Kluft den eigentlichen Neuanfang der europäischen Idee. Europäische Konferenzen wie jene in Locarno 1925 beschäftigten sich zwar explizit mit der Zukunft Europas, konnten jedoch keine echten politischen Fortschritte verzeichnen: Eine Normalisierung der Beziehungen sowie eine Verbesserung des außenpolitischen Klimas waren, wenn überhaupt, nur von begrenzter Dauer. Schon bald erfüllten mehr als jemals zuvor nationale Mythen die politische Funktion und dienten der vorbehaltlosen Identifikation mit dem auf gemeinsamer Sprache und Ethnie basierenden Kollektiv.3 Angesichts dieser für viele unbefriedigenden Situation kam es zu einer regelrecht inflationären Beschäftigung mit dem Themenkomplex Europa. Teils war sie privater Natur und wurde für die Europaforschung jüngst zu einer wesentlichen Anlaufstelle, weil sie die fragmentierte, zerrissene Welt mit dem Zentrum Europa so eindringlich wahrnahm und nach einem Ausweg suchte.4 Doch die Auseinandersetzungen mit dem Thema Europa in der Zwischenkriegszeit vermochten es trotz der allen zugrunde liegenden Suche nach dem Gemeinsamen nicht, eine politische Grundlage Europas zu formulieren. Neben dem Paneuropa-Konzept des Grafen Coudenhove-Kalergi5 von 1923 und dem Europäischen Kulturbund von Coudenhoves Antipoden, dem ebenso elitär wie katholisch-nazistisch orientierten Karl Anton von Rohan6 sind in diesem Zusammenhang insbesondere Briands Europaplan aus dem Jahre 1929 und die Europa-Ideen der so genannten Konservativen Revolution, sprich: von völkischen Gruppierungen, Jungkonservativen und nationalrevolutionären Vertretern der zwanziger Jahre, die im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Forschung früh Aufmerksamkeit erhielten, zu nennen.7 Nicht nur Arthur Möller van den Brucks 1919 veröffentlichte Schrift „Das Recht der jungen Völker“8 scheint mir an dieser Stelle als ein Beispiel erwähnenswert, sondern gleichfalls Max Hildebert Boehms „Europa irredenta“9; eine Schrift, die nicht nur gegen das „Friedensdiktat“ polemisiert,10 sondern darüber

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Vgl. Ernst Cassirer (2002): Vom Mythus des Staates. Hamburg. Vgl. Achim Trunk (2007): Europa, ein Ausweg: Politische Eliten und europäische Identität in den 1950er Jahren. München. Vgl. Anita Ziegerhofer-Prettenthaler (2004): Botschafter Europas: Richard Nikolaus, Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger- und dreißiger Jahren. Köln und Wien. Karl Anton von Rohan (1922): Das geistige Problem Europas von heute. Wien. Vgl. Jürgen Elvert (1999): Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung 1918-1945. Stuttgart; sowie Guido Müller (2005): Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund. München. So bei Armin Mohler (1994): Die Konservative Revolution in Deutschland 1918 - 1932. Ein Handbuch. Darmstadt. Arthur Möller van den Bruck (1932): Das Recht der jungen Völker. Sammlung politischer Aufsätze. Der nahe Osten. Max Hildebert Boehm (1923): Europa irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart. Berlin. Irredentismus ist der Versuch einer Zusammenführung möglichst aller Vertreter einer bestimmten Ethnie in einem Staat, in der Regel durch Annexion von Gebieten anderer Staaten. So in Kapitel V: Europa pacata, vor allem S. 252.

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hinaus gegen den Völkerbund, das „dekorative Tribunal der Weltgerechtigkeit“.11 Boehm sieht folglich nur unterjochte „Völkersplitter im »friedlosen Europa« von Versailles“12 und resümiert: „In Frankreich wimmelt es von kleinen Mulatten. In der Heimatstadt Beethovens, in der Stadt Gutenbergs und vor dem Kölner Dom, der Porta Nigra in Trier und der Kaiserpfalz in Aachen, auf der roten Erde Westfalens tummelt sich Afrika. Das Rheinland und das Ruhrgebiet von heute sind ein Vorspuk des Europa von morgen oder übermorgen. Vom Osten schiebt sich der Bolschewismus nach Mitteleuropa vor. Der Traum der westlichen Civilisation wird unruhig. Der Morgen dämmert. Die schwarzen Legionäre recken die Muskeln. Sie warten auf die Vollendung des Untergangs des Abendlandes. Frankreich aber jubelt über die Unterjochung von Europa irredenta … Europa irredenta, das Opfer des gegenwärtig waltenden Unheils, wendet nur dann seinen Untergang, wenn es durch Selbsthilfe zur Freiheit und durch Freiheit zu neuen höheren Bindungen durchdringt.“13 Das Krisenbewusstsein war in allen politischen Lagern der Zwischenkriegszeit virulent. Die politisch-programmatischen Schriften, die Manifeste und populärwissenschaftlichen Darstellungen Europas und seiner Geschichte spiegeln allesamt die Zerrissenheit Europas wider: Angefangen von Spenglers Kulturkreismorphologie, der daran anknüpfenden Abendlandbewegung,14 aber auch Egon Friedells Kulturgeschichte, Georg Brandes Reflexionen zu „Europa jetzt“15, Christopher Dawsons „The Making of Europe“16, Walter Benjamins kritische Lektüre der Moderne in seiner Passagenarbeit17 und Paul Hazards Buch „La Crise de la conscience européenne“18 aus dem Jahre 1935, um nur einige wenige zu nennen, sind Indizes der von Valéry beschworenen Krise des Geistes in einer zusehends aus den Fugen geratenen Welt. Radikalster Ausdruck dieser Welt war ohne Zweifel Christoph Stedings 1937 erschienenes Buch „Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur.“ Steding spitzte darin die Thesen der Konservativen Revolution so zu, dass er den von Spengler und Boehm ins Spiel gebrachten Untergang des Abendlandes als „Verschweizerung“ und „Verniederländerung deutschen Geistes“19 zu interpretieren vermochte, um darin die Krankheit Europas aufscheinen zu sehen. Doch sei, so Steding, Gesundung nahe, denn das deutsche, das „Dritte Reich“ wandle

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Ebd., S. 274. Ebd., S. 308. Ebd., S. 309 und 325. Unweigerlich drängt sich der Vergleich mit den Thesen Sarrazins auf. Sieh dazu: Vanessa Conze (2005): Das Europa der Deutschen: Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstradition und Westorientierung (1920-1970). München. Georg Brandes (2007): Europa jetzt! (1925) In: Der Wahrheitshass. Über Deutschland und Europa 1880-1925. Berlin Christopher Dawson (2003): The Making of Europe: An Introduction to the History of European Unity (1932).Washington. Walter Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. 2 Bände, Konvolut D. Frankfurt a.M. Paul Hazard (1946): Die Krise des europäischen Geistes. Frankfurt a.M. Christoph Steding (1997): Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. Viöl, Eigenverlag, S. 56.

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sich in einen „Willen zum Leben, zur Tat“, da es der „Inbegriff europäischen InTakt-Seins“ sei.20 Doch intakt war Ende der 1930er Jahre weder das Reich noch Europa. Der vorangegangene Krieg und der, der Europa unmittelbar bevorstand, riefen nach anderen, neuen und friedfertigen Entwürfen, wie sie alsbald in der Résistance, und teils im Kreisauer Kreis weit oben auf der Agenda politisch-gesellschaftlicher, proeuropäischer Zukunftsvisionen zu finden waren. Aus dem Geist des Widerstandes formierte sich das neue Europa.21 Neben der Weißen Rose und der Roten Kapelle organisierte, um nur ein letztes, vielen bekanntes Beispiel anzuführen, Helmuth James von Moltke ab 1940 den deutschen Widerstand gegen Hitler. Sozialisten, Jesuiten und preußische Großgrundbesitzer trafen sich mehrfach in Kreisau, um über die Neuordnung Deutschlands und Europas nach dem Kriege nachzudenken. Als Mitglieder des Oberkommandos der Wehrmacht, dem militärischen Arbeitsstab und der höchsten Kommando- und Verwaltungsbehörde der deutschen Wehrmacht im Amt Ausland/Abwehr unter Wilhelm Canaris, reflektierten Moltke und seine Weggefährten eine gesamteuropäische Lösung für das postnazistische Deutschland. In den Jahren 1942 und 1943 fanden insgesamt drei geheime Treffen auf dem Gut Kreisau in Niederschlesien statt, um sich dem „Geist der Enge und der Gewalt“22, der in Europa herrschte, entgegenzustellen. Zu den Teilnehmern und Mitgliedern des Kreises zählten Carl Dietrich von Trotha, Adolf Reichwein, Carlo Mierendorff, Adam von Trott zu Solz, Harald Poelchau, Alfred Delp, Julius Leber und Eugen Gerstenmaier. Christlich-ethische und sozialreformerische Aspekte standen im Vordergrund der Nachkriegsvisionen. Einige Kreisauer beteiligten sich zudem an den Plänen des Attentats vom 20. Juli 1944. Moltke hingegen wurde bereits im Januar 1944 verhaftet und vom Volksgerichtshof unter Roland Freisler am 10. Januar 1945 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung erfolgte am 23. Januar.23 In seinen Grundfesten erschüttert, war Europa jedoch schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zweifellos auf der Suche nach sich selbst. Zunächst vom neuen Nationalismus, dann vom Totalitarismus vereinnahmt, gelang es nicht, ein gemeinsames zukunftsweisendes politisches Konzept auszuarbeiten. Davon zeugt nicht zuletzt einer der ehrgeizigsten Versuche der Zwischenkriegszeit, Walter Benjamins Bemühen, in chaotischer Zeit eine Rückbesinnung auf die menschliche Würde anzuregen und dadurch ein neues Europaverständnis, das den Menschen und das Soziale in den Blick nimmt, zu initiieren. Warum war genau das so wichtig? „Der Krieg aller Kriege war ausgefochten“, schreibt Eliot Weinberger. „Nun galt es eine neue Welt zu erschaffen.“24 Europa war von diesem Gedanken elektrifiziert. Zugleich verschüttete die Unmenge an neuen Errungenschaften alte

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Ebd., s. 50. Frank Niess (2001): Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands. Frankfurt a.M. Sieh Caspar und Ulrike von Moltke (Hg.) (2011): Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel: September 1944 - Januar 1945. München, S. 78. Ebd., S. 537ff. Eliot Weinberger (2011): Orangen! Erdnüsse! Berlin, S. 21.

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Traditionen. Europa war bestrebt, „Neues aus dem Neuen zu schaffen“25 und zugleich die alte Welt in ihre Einzelteile zu zerlegen. Walter Benjamin fragt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zunächst, wo die menschliche Erfahrung hin sei. Seine bedrückende Antwort: Sie sei „im Kurse gefallen und das in einer Generation, die 1914-1918 eine der ungeheuersten Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat.“26 Die Soldaten kamen sprachlos heim vom Krieg, und auf echte Erfahrungen konnten sie nicht zurückgreifen. Nie seien „Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch die Machthaber.“27 In den Städten: „karnevalistisch verstummte Spießbürger, mehlbetäubte verzerrte Masken, Flitterkronen über der Stirne, wälzen sich unabsehbar die Gassen entlang.“28 Benjamin erblickt darin aber auch eine „Art von neuem Barbarentum.“29 Es böte die Chance, tabula rasa zu machen und einen Neuanfang zu wagen, denn sonst könnte es sein, dass sich die Menschen darauf vorbereiteten, „die Kultur, wenn es sein muss, zu überleben.“30 Das ist meines Erachtens genau der Sinn, den Lucien Febvre in einen Satz legt, der zum Programm einer Schule geworden ist, die die Geschichte in einer Zeit der politischen und gesellschaftlich-kulturellen Orientierungslosigkeit gegen den Strich zu bürsten beabsichtigte. Febvres Satz lautet: „Die Felder der Geschichte liegen voller Steine, die von wackeren Steinmetzen geklopft wurden und dann nutzlos liegenblieben.“31 Mit diesen Worten kritisierte er 1933 in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France32 nicht nur die neue Welt, sondern in erster Linie Historiker vorangegangener Epochen und ihren Glauben an die historische Tatsache an sich, „das vermeintliche Atom der Geschichte“.33 Febvre deutete die europäische Historiografie selbst als eine Welt der Ruinen. Dem vom naturwissenschaftlichen Geist beherrschten Geschichtslabor, das trotz Einsturzgefahr weiterhin bloß Faktengeschichte betreibe, warf er vor, in Aschen zu stochern, „von denen die einen längst erkaltet, die anderen noch warm sind – aber Asche allemal, erloschener Rest verzehrter Existenzen.“34 Dem erloschenen Rest stellte er die Geschichte als eine Wissenschaft vom Menschen gegenüber und warb für einen kompletten Neubau der historischen Forschung. Es sei, so Febvre, die Aufgabe des Historikers, den Menschen wiederzufinden.35

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Ebd. Walter Benjamin (1977): Erfahrung und Armut. In: Illuminationen. Frankfurt a.M., S. 291. Ebd. Ebd., S. 292. Ebd. Ebd., S. 296. Lucien Febvre (1988): Das Gewissen des Historikers. Berlin, S. 13f. Die Vorlesung trug den Titel: „Ein Historiker prüft sein Gewissen.“ Ebd., 12. Ebd., 16. Ebd., 18.

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2. Den Menschen wiederfinden. Walter Benjamins Lektüre der Moderne und die Frage nach dem Neubeginn europäischer Geschichte „Ich würde es zunächst machen ... wie Benjamin. Den Schauplatz aufsuchen, den Tatort inspizieren, die Verhältnisse ausleuchten, die Spuren sichern, Zeugen befragen.“ (Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit) Den Menschen wiederfinden – dieses Losungswort der Annales-Schule galt seinerzeit ebenso für die am bonum humanum ausgerichtete Geschichtsphilosophie Walter Benjamins. Sein Werk, insbesondere die Passagenarbeit36 und die Thesen der 1930er Jahre versuchen, diesem Anspruch einer anderen Geschichtsschreibung gerecht zu werden. Seine Skizzen zum Begriff der Geschichte sollen im Folgenden betrachtet werden, um das darin enthaltene kritische Ferment im Hinblick auf die europäische Geschichte des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts freizulegen. Dabei sollen Benjamins geschichtsphilosophische Arbeiten der 1930er Jahre im Mittelpunkt stehen, weil sie für die Frage nach den Anforderungen an eine neue, die Kriegserfahrungen berücksichtigende, europäisch ausgerichtete Historiografie maßgeblich sind. Denn sie zielen nicht allein auf das 19. Jahrhundert mit seinem Epizentrum Paris, sondern müssen gleichsam als zeit- und methodenkritische Arbeiten gelesen werden. In ihnen verwirft Walter Benjamin den seinerzeit vorherrschenden Glauben an einen homogen verlaufenden Fortschritt in der europäischen Geschichte und exemplifiziert dies zunächst anhand seiner Darstellung der Stadt Paris. Paris galt als die Hauptstadt Europas im 19. Jahrhundert; einem Jahrhundert, in welchem die Passagen und Boulevards, die Panoramen und Katakomben, die Barrieren und Faubourgs die Rückstände einer Traumwelt bildeten.37 Es war das Paris der Weltausstellung und der Barrikaden, der Fotografie und der Reklame, geprägt von Georges-Eugène Haussmanns klassizistischer Boulevardisierung, die Benjamins Interesse weckte. In Paris entstanden die Strukturen und Gesetzmäßigkeiten, bildeten sich jene Phänomene und Charakteristika heraus, die das Wesen Europas damals ausmachten: Urbanisierung, Migration und Schnelllebigkeit. Paris war der Mittelpunkt eines Jahrhunderts, in dem sich Luxus und Gafferei ebenso entwickelten wie die kapitalistische Ökonomie, die Technisierung, das allgemeine Lesevermögen, die Daguerreotypie, der Film, neue Formen der Kriegsführung, Röntgenstrahlen, die Zerstreuung, der Asphalt und die Bürgersteige, die Gasbeleuchtung, die Nationalstaaten und eine radikale Abkehr von der klassischen Malerei. Das 19. Jahrhundert blieb nichtsdestotrotz gefangen im mythischen Glauben an eine Industriegesellschaft, die das stürmische Wachstum in der Schwerindustrie, dem Maschinenbau, der Chemie, der Elektroindustrie und der Wissenschaft mit einem neuen Machtstreben der europäischen Staatenwelt verquickte.38

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Vgl. Walter Benjamin, GS V.I und V.II. Vgl. die Einleitung in die Passagenarbeit. Dazu zuletzt: Jürgen Osterhammel (2009): Die Verwandlung der Welt. München.

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Der Flaneur als paradigmatischer Anti-Held dieser Welt erblickte „eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war“, um nun unter freiem Himmel zu stehen, „in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“39 Benjamin schildert seine Eindrücke der Großstädte und des modernen Lebens von 1933 an. Von Selbstmordplänen ergriffen, war er bald aus Deutschland geflohen, zunächst nach Ibiza, dann – endlich – nach Paris. Von dort ging zu jener Zeit ein erheblicher Teil der politischen und kulturellen Mobilisierung gegen den Nationalsozialismus aus. Der von Ehrenburg, Malraux, Gide und anderen einberufene europäische Kongreß zur Verteidigung der Kultur etwa versammelte Autoren aus allen Enden der Welt. Doch Benjamin selber beteiligt sich kaum an solchen kultur-politischen Maßnahmen. Er bleibt seiner Überzeugung treu, ein Intellektueller zwischen allen Fronten zu sein, obwohl er in einem Brief an Werner Kraft im Oktober 1935 schreibt, die Einleitung in seine Passagenarbeit sei ein „eminent politisches Werk, das ganz und gar auf die Gegenwart bezogen“ sei, auch wenn es den „Blutnebel des 19. Jahrhunderts“ untersucht. Er bemühe sich, so schreibt er weiter, sein Teleskop durch diesen Nebel hindurch „auf eine Luftspiegelung des neunzehnten Jahrhunderts zu richten, welches ich nach den Zügen mich abzumalen bemühe, die es in einem zukünftigen, von Magie befreiten Weltzustand zeigen wird. Natürlich muß ich mir zunächst dieses Teleskop selber bauen.“40 Warum richtet Benjamin von 1933 bis 1940, in jenen entscheidenden Jahren, in denen ihm der Boden unter den Füßen brennt, sein Fernglas mit solcher Hartnäckigkeit auf den blutigen Nebel eines Jahrhunderts, das sich allmählich entfernt? Es geht ihm darum, die Spitze des historischen Blickes so zu stählen, dass diese Zeit auf die Tagesordnung der aktuellen (auch politischen) Diskussionen kommt, sowie darum, die Gegenwart Europas „um so sicherer mitten ins Herz“41 zu treffen. Denn besagter Blutnebel wird im Februar 1939 immer dichter. Für Benjamin wird durch die Gestapo die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft mit der Begründung beantragt, er sei für die 1936 von Bert Brecht, Willi Bredel und Lion Feuchtwanger in Moskau gegründete Monatsschrift „Das Wort“ als Mitarbeiter tätig gewesen und befinde sich derzeit in Paris, „wohin er aus Palma di Mallorca geflüchtet“42 sei. Tatsächlich war seine Mitarbeit an der Zeitschrift äußerst problematisch, denn er hatte größte Schwierigkeiten, seine Arbeiten dort unterzubringen, weil sie bei der Redaktion auf heftige Kritik stießen. Kurz nach der Aktion der Gestapo teilt auch Max Horkheimer seinem Mitarbeiter mit, die bislang in regelmäßigen Abständen eingegangenen Geldzahlungen, die Benjamin für seine Arbeiten für das Institut für Sozialforschung erhalten hatte, endgültig einstellen zu müssen. Benjamin, der in diesen Tagen nicht nur an

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Walter Benjamin (1977): Erfahrung und Armut. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, hg. von T.W. Adorno. Frankfurt a. M., S. 291. Ders. (2000): Gesammelte Briefe, hg. von Chr. Gödde und Henri Lönitz. Frankfurt a. M., 193. Ebd. Aktenblatt der Gestapo vom 23. 2. 1939, zitiert nach: Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte. Walter Benjamin, Theoretiker der Moderne. Ausstellungsmagazin des Werkbund-Archivs, Berlin 1990, S. 36.

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den Passagen, sondern auch an einer Neufassung der Berliner Kindheit arbeitet, quälen zusätzlich gesundheitliche Probleme und der Ärger mit der Bürokratie bei dem Versuch, sich in Frankreich einbürgern zu lassen.43 In diese Zeit fällt schließlich der in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939 in Moskau von dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare Wjatscheslaw Molotow unter den Augen des Generalsekretärs der KPdSU, Josef Stalin, unterzeichnete und unter dem Begriff „Hitler-Stalin-Pakt“ bekannt gewordene deutsch-sowjetische Nichtangriffs-Vertrag. In der Folge veröffentlichte die Moskau-orientierte KPD, die ihr Zentrum in Paris aufgeschlagen hatte, einen Aufruf an die Deutsche Arbeiterschaft, mit dem Hitler-Staat zusammenzuarbeiten. Der Schock, der seit den letzten Augusttagen 1939 überall in Europa allgemeine Wurzeln schlug, erfasste auch den damals 47-jährigen Benjamin, Mitglied des von Georges Bataille gegründeten Collège de Sociologie und freier Mitarbeiter des von Horkheimer und Adorno genannten Instituts. Sein letzter Text, den er in jenen Pariser Tagen beginnt, bevor er Ende September 1940 an der französischspanischen Grenze in Portbou stirbt, trägt den Titel „Über den Begriff der Geschichte“,44 eine in loser Abfolge von Thesen formulierte Arbeit, in der sein gesamtes Geschichtsverständnis kulminiert. Benjamin arbeitet die Winter- und Frühjahrsmonate des Jahres 1940 an dem als eine Art konzeptionelles Vorwort der Passagenarbeit gedachten Traktats, das die Geschichte Europas auf den Kopf zu stellen gedachte. Es sollte das Schweigen brechen, mit dem man die Unterdrückten und Opfer aller bisherigen Kriege Lügen strafte. Doch auch Benjamins Traktat fällt letzten Endes den Nazis zum Opfer, ehe es in der Nachkriegszeit einen wundersamen Aufstieg als geschichtsphilosophisches Manifest feiern kann. Das philosophische Fundament der Thesen bildet der historische Materialismus mit seinem Ahnherrn Karl Marx. Marx definiert als Programm des Histomat,45 die Philosophie müsse die Welt aus dem Traume über sich selbst aufwecken. Nicht nur Benjamins geschichtsphilosophische Thesen, auch die Passagenarbeit nehmen Marx und seine politische Ökonomie in Beschlag. Der Histomat bildet hierbei den Hafen, von dem aus Benjamin die Torpedoboote seiner Gesellschaftskritik in See stechen lässt: Das Buch X der Passagenarbeit hat den Gründervater des Kommunismus zum Thema und hebt an mit Zitaten über die Industrie, die Armut, die kapitalistische Wirtschaft und das falsche Bewusstsein. Am Ende schlägt das Kapitel einen Bogen zum Wesen der Ware, die ihren Herstellungsprozess deshalb verschweigt, weil sie nur so zum Fetisch aufsteigen kann. Benjamin stellt sodann als die Erfahrung seiner eigenen Generation heraus, „daß der Kapitalismus keines natürlichen Todes sterben wird.“46 Er ist und bleibt das ewig Junge, das sich stets neu reproduziert. Der Kapitalismus, so Benjamin, habe die mythischen Kräfte in Europa reaktiviert. Nur die müßigen Götter, die Kapitalisten können es sich noch leisten, nicht allein für ihren Bedarf, sondern

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Zur Biografie vgl. vor allem: Jean-Michel Palmier (2009): Walter Benjamin. Frankfurt a.M.; sowie Willem van Reijen und Herman van Doorn (2001): Aufenthalte und Passagen. Frankfurt a.M. Werke und Nachlaß (WuN). Kritische Gesamtausgabe Bd. 19. Vgl. Wolfgang von Kempelens „Schachtürken“. Passagen, Konvolut X 11a, 3.

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auch für den Profit Waren zu produzieren. Sie leiden bloß noch, wie Marx wusste, am toten Mammon, in dessen Innerem die Hölle tobt. Benjamin versucht, diesen vom Kapitalismus getragenen Glauben an Fortschritt und Entwicklung als Kehrseite der Geschichte Europas zu entlarven. Sein Versuch gipfelt in dem Satz: „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos.“47 Europa hat demnach ein Bild vom Menschen gezeitigt, das durch ein Ineinander von Mythos und Progression geprägt ist. Die europäische Moderne – hier tritt ihr allegorisches Wesen zutage – überblendet den Mythos und legt sich wie eine Holzlasur über alles Archaische. Sie ist eine Art Palimpsest der Geschichte, in welchem sich die Schichten gegenseitig durchdringen. Benjamin aber bleibt nicht bei Marx stehen. Denn dem Marxismus stellt er die Theologie beiseite. Nur im Verbund der beiden, so Benjamin, sei es möglich, die Welt aus dem Traume über sich selbst zu erwecken. In den geschichtsphilosophischen Thesen präsentiert er die Theologie als den Zwerg an der Seite des Histomat. Dieser Zwerg, dessen Tod im 19. Jahrhundert bereits proklamiert worden war, und den Benjamin nun revitalisiert, bildet bei ihm den Garant für einen wirklichen Umsturz der herrschenden Verhältnisse in Europa, könne die Geschichte doch nicht atheologisch begriffen werden. Denn nur weil Gott im Europa des 19. Jahrhundert für tot erklärt worden war, schien es überhaupt möglich, dass Europa auf eine von Benjamin so apostrophierte „Zeit der Hölle“ zusteuerte: „Das Moderne, die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diesem Gebiete gibt. Es handelt sich … darum, daß das Gesicht der Welt … gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert … Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle und die Neuerungslust des Sadisten. Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen dies »Moderne« sich ausprägt, heißt die Hölle darstellen.“48 Sein dringendstes Anliegen ist es, diese Zeit zu beenden. Doch wie und mit Hilfe welcher theoretischen Mittel? – Schon die Mitte der 1920er Jahre entstandene, seiner Liebe Asja Lacis gewidmete und 1928 erschienene „Einbahnstraße“49 führt die Bemerkung mit sich, alle entscheidenden Schläge müssten mit der linken Hand, d. i. marxistisch, geführt werden. Nun, in den Thesen, stellt Benjamin seiner Maxime, die Geschichte gegen den Strich bürsten zu wollen, die jüdische Mystik beiseite, die letzten Endes die Last der Legitimation für einen Neuanfang in Europa trägt. Vorbereitet hat er diese theoretische Grundlage schon in seinen Reflexionen zur Aufgabe des Übersetzers sowie in dem von Adorno so genannten theologischpolitischen Fragment der frühen 1920er Jahre.50 Sichtlich beeinflusst von Franz Rosenzweigs Schrift Der Stern der Erlösung51, die 1921 erschien, heißt es in dem

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Ebd., K6, 4. Vgl. auch: S1, 4 und 1, 5. Go, 17. WuN, Band 8 (2009). Vgl. Walter Benjamin (1992): Sprache und Geschichte. Philosophische Essays. Stuttgart, S. 132133. Siehe zur Theologie auch: Sigrid Weigel (2008): Walter Benjamin. Die Kreatur, das Heilige, die Bilder. Frankfurt a.M. Franz Rosenzweig (1996): Der Stern der Erlösung. Frankfurt a.M.

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Fragment, erst der Messias vollende alles historische Geschehen wie er zudem die Beziehung des historischen Geschehens zur Erlösung selbst initiiere. Die Geschichte, so Benjamin gegen den universalhistorischen Anspruch, sei keineswegs in der Lage, sich auf den Messias zu beziehen, weil sie endlich und Teil der Naturgeschichte des Menschen sei. Eine Beziehung kann allein der Messias stiften. Erlösung und Vollendung innerhalb der Geschichte sind aus diesem Grunde zu denken unmöglich. Somit fällt auch die paulinische Erwartung auf die Ankunft des Messias weg und das Reich Gottes ist nicht länger Telos historischer Dynamik, bricht doch der Messias die Geschichte ein für alle Male ab.52 Benjamin geht es also bereits in dem zweiseitigen Fragment vor der Folie der Marxschen Philosophie in erster Linie um die Mobilmachung des Glaubens in einer profanen Welt: „Mein Denken“, schreibt er, „verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts, was geschrieben ist, übrig bleiben.“53 Ging es den Europaideen des 19. Jahrhunderts noch um die Rettung der Zukunft eines befriedeten Kontinents, so geht es Benjamin um die Rettung dessen, was anders für immer verloren wäre; um eine Kritik an der permanenten Katastrophe, an der Verstümmelung und Deprivation des Lebens und der Gesellschaft Europas. Die Zukunft Europas kann nur retten, wer seine Geschichte zu retten wagt. Doch diese Bergung des Vergessenen kann nur gelingen, wenn der Kritiker das gleichgültig dahinfließende Kontinuum der Zeit aufsprengt und in Bildern und Fragmenten aufscheinende Wahrheiten gegen eine falsche Totalität verteidigt.54 Das Bild vom „Engel der Geschichte“ aus den geschichtsphilosophischen Thesen bringt ein solches Geschichtsverständnis plastisch zum Ausdruck. In der bekannten neunten These heißt es: „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“55 Wie ist dieses Bild zu deuten?

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Vgl. die Ausführungen von Heinrich Kaulen: Rettung. In: Benjamins Begriffe, hg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla. Frankfurt a.M., S. 619-664. Passagen N7a, 7. Paraphrasiert nach Goedart Palm (o.J.): Walter Benjamin. Der Denker zwischen Saturn und Mickey Mouse. In: www.goedartpalm.de/walter_benjamin.htm.Palm. WuN, Bd. 19, IX.

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Nach Aussagen des Talmuds werden die Engel von Gott geschaffen. Vor ihm singen sie ihren Hymnus und vergehen anschließend im Nichts. Der Engel ist aber auch Bote. Im Judentum besitzt ein jeder Mensch einen persönlichen Engel, der das geheime Selbst symbolisiert.56 Walter Benjamin verbannt diesen Engel nun in ein Bild, in dem es diesem unmöglich wird, seinen Hymnus abzusingen und zu vergehen. Der Blick des Engels kann deshalb nicht loslassen von dem, was war. Damit jedoch bleibt auch seine angelische Mission letzten Endes unerfüllt. Auf der anderen Seite eröffnet die Situation des Engels auch neue Perspektiven auf die europäische Geschichte als Katastrophengeschichte.57 Denn für Benjamin hat der Begriff des Fortschritts sein Fundament in der Katastrophe. Diese abzuwenden muss der Engel scheitern. So gilt der Fortschritt schlussendlich als Ursache des angelischen Scheiterns: Der Engel versagt an der Aufgabe, dem Trümmerberg, den Moderne und Fortschritt mit sich bringen, Einhalt zu gebieten. Er kann die Flügel nicht mehr schließen, weil eine solche Tat die Ankunft des Messias erfordern würde.58 Der Engel dient Benjamin als Allegorie der Kritik an der Idee von Kontinuität, Kausalität und Fortschritt in der Geschichte, insbesondere im Prozess der Moderne. Durch ihn verweist er auf die Krisen, die Brüche und Risse dieser Moderne. Das Bild einer homogen verlaufenden Entwicklung sowie die Idee einer geschichtsimmanenten Vernunft werden mit Hilfe dieser allegorischen Darstellung dekonstruiert. Denn es genügt nun nicht mehr, die Masse der Fakten zu rekonstruieren. Im Gegenteil: Sie bilden nur noch die Last der ersten Schale auf der Waage der Geschichte Europas. Die andere Schale birgt die Erkenntnis der Gegenwart. „Während auf der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und nicht zahlreich genug versammelt sein können, dürfen auf der zweiten nur einige wenige schwere, massive Gewichte liegen.“59 Es reicht deshalb auch nicht hin, sich bloß in die Sieger einzufühlen. Die Geschichte der Besiegten muss einer anderen Logik folgen als alle traditionelle Historiografie. Ihr geht es nämlich um Frakturen, Leerräume und Zäsuren, um den »Abfall der Geschichte«60, sowie um das dialektische Spannungsverhältnis von Vergangenheit einerseits und Gegenwart/Zukunft andererseits. Die Situation des Engels der Geschichte bringt hierbei der von Benjamin hoch geschätzte Franz Kafka mit seiner Parabel „Er“ sehr gut zum Ausdruck: „Er hat zwei Gegner: Der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem Zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem

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Vgl. die Ausführungen zum Agesilaus Santander sowie Gershom Sholem (1972): Walter Benjamin und sein Engel. In: Zur Aktualität Walter Benjamins, hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a.M. 1972, S. 87-138. Vgl. Passagen N9a, 1. Vgl. hierzu Jeanne Marie Gagnebin (2006): Über den Begriff der Geschichte. In: BenjaminHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Burkhardt Lindner. Stuttgart und Weimar, S. 284300. Passagen, N6, 5. Vgl. N2, 6 und 7.

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ersten; denn er treibt ihn doch zurück. So ist es aber nur theoretisch. Denn es sind ja nicht nur die zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Absichten? Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Augenblick — dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war — aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner erhoben wird.“61 Er, nämlich der Engel, ist der emblematische Prototyp des Entsetzens, welches mit dem neuen Geschichtsverständnis einhergeht. Die Trümmer, auf die er blickt, erhalten ihren Sinn aber erst durch unser gegenwärtiges Bewusstsein. Denn alle Geschichte, so Benjamin, wie in einem Brennpunkt gesammelt, ruht in der Gegenwart als eines latent vollkommenen Zustands. Benjamin spitzt insofern Johann Gustav Droysens Gedanken einer politischen Gegenwart der Geschichte weiter zu. Die weit aufgerissenen Augen des Engels bilden hierbei das Oneiroskop, dessen Brennweite auf das 19. Jahrhundert eingestellt ist. Die unbewältigte Vergangenheit prägt die unmittelbare Gegenwart Europas. Sie birgt den Sprengstoff, der zur Entzündung gebracht werden will, soll nicht nur der Dämmerzustand vorangegangener Generationen beendet, sondern auch die Gegenwart verändert werden. Die Jetzt-Zeit, so nennt sie Benjamin in seinen Thesen, ist die Schwelle, auf der wir innehalten müssen, um nichts verloren zu geben, um die Namenlosen nicht zu vergessen, das Unsagbare auszusprechen, das Anonyme, und um das Schweigen zu beenden. Dies aber hat paradoxerweise nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingt, eine Stillstellung der Gegenwart herbeizuführen; um das, was er in Auseinandersetzung mit Brechts Vorstellung eines „Epischen Theaters“ als „Eingedenken“62 bezeichnet. Dessen Intention ist ein geschärftes Bewusstsein für die Kriege und Krisen, in die die Subjekte der Geschichte vor allem durch den Prozess der Moderne eingetreten sind. Eingedenken hebt in diesem Sinne ab auf eine die Gegenwart transformierende, sozialkritische Erinnerung: „Dieses Theater ist auf ganz andere Art mit dem Zeitverlaufe im Bund als das tragische. Weil die Spannung weniger dem Ausgang gilt als den Begebenheiten im einzelnen, kann es die weitesten Zeiträume überspannen.“63 Und so wird der Vergangenheit sich zugewandt, um ihr ein Mahl zu rüsten und die Gegenwart zu befreien. Im Eingedenken verschmelzen, wie Giorgio Agamben zu Recht feststellt, das paulinische ho nyn kairos mit der Apokatastasis pantou, der Wiederherstellung aller Dinge am Ende der Zeiten, die Clemens von Alexandrien und Origines als Erste durchbuchstabiert haben.64 Das heißt nichts anderes als dass mit Hilfe der Technik des Eingedenkens die Jetzt-Zeit herangeführt wird an die Wiederversöhnung des Menschen mit Gott. So ist die Idee der Apokatastasis zielführend bei dem Versuch Benjamins, die Überlieferung dem Konformismus abzugewinnen. Denn gerade der Konfor-

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Franz Kafka (1989): Er. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1920. In: Beschreibung eines Kampfes. Sämtliche Erzählungen. Hamburg, S. 216-222, hier S. 222. Vgl. Passagen, Konvolut K. Walter Benjamin (1988): Was ist das epische Theater? In: Ders.: Ausgewählte Schriften 2. Angelus Novus. Frankfurt a. M. 1988, S. 345. Vgl. Giorgio Agamben (2003): Die kommende Gemeinschaft. Berlin.

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mismus steht für Benjamin im Begriff, die Überlieferung zu überwältigen. Er spricht in diesem Zusammenhang von dem unwiederbringlichen Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu schwinden drohe. Daraus ergibt sich für ihn die Forderung, die Siege der Herrschenden infrage zu stellen: „Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist diese: man hielt für den fixen Punkt das »Gewesene« und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll dieses Verhältnis umgekehrt, und das Gewesene zum dialektischen Umschlag, zum Einfall des erwachten Bewusstseins werden. Die Politik erhält den Primat über die Geschichte. Die Fakten werden etwas, was uns soeben erst zustieß, sie festzustellen ist Sache der Erinnerung. Und in der Tat ist Erwachen der exemplarische Fall des Erinnerns: der Fall, in welchem es uns glückt, des Nächsten, Banalsten, Naheliegendsten uns zu erinnern. … Es gibt Noch-nichtbewusstes-Wissen vom Gewesenen, dessen Förderung die Struktur des Erwachens hat.“65 Die Forderung, den Dämmerzustand der Erkenntnis zu überwinden und tiefer einzudringen in die Geschichte des Menschen, um ihn auf diese Weise wiederzuentdecken, ist auf wissenschaftstheoretischer Ebene gegen den Historismus des 19. Jahrhunderts und seine wirkungsmächtigen deutschen Vertreter gerichtet. Denn Empathie mit den Siegern bedeute Einwilligung in die herrschenden Zustände, die ihre Beute als Triumphzug mit sich führen. Jene Beute ist nichts anderes als die europäische Kultur, welche nicht ohne Grauen bedacht werden könne, seien die Dokumente der Kultur doch auch immer, so Benjamin: Dokumente der Barbarei. Und so lehre die Tradition der Unterdrückten, dass der Ausnahmezustand die Regel ist. Es sei nun – so Benjamin im Anschluss an die Schule der Annales, insbesondere Marc Blochs „regressive Methode“66, die vorsieht, die Geschichte rückwärts zu lesen – es sei die Aufgabe historischer Arbeiten, zu einem Begriff der Geschichte zu kommen, der diesem Zustand gerecht werde: „Hören wir doch endlich damit auf, uns ewig von Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte zu unterhalten, ohne uns gegenseitig zu verstehen.“67 Dieser Dialog der Schwerhörigen, bei dem der eine nicht auf die Fragen des Anderen antwortet, müsse beendet werden, fordert Bloch. Und Aleida Assmann ergänzt: „Die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts hat die europäischen Nationen gespalten, die dialogische Erinnerung könnte sie an den verbliebenen spannungsvollen Grenzen enger zusammenführen. In dem Maße, wie die Europäer Bewohner ihrer gemeinsamen Geschichte werden, festigt sich das Haus Europa. Genau das ist die unvollendete Utopie Europas.“68

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Passagen K1, 2. Vgl. dazu Peter Burke (2004): Die Geschichte der „Annales“. Die Entstehung der neuen Geschichtsschreibung. Berlin, S. 19-42. Marc Bloch, zitiert nach Aleida Assmann (2012): Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur? Wien, S. 56. Assmann, ebd., S. 69.

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In eine ähnliche Richtung gehen auch Benjamins Gedanken über Europa. Ob das gemeinsame Haus jedoch durch eine namenlose Geschichtsschreibung zu erreichen sein mag, oder ob es gilt, den Namenlosen zu ihrem Recht zu verhelfen – beide Forderungen grenzen sich radikal von jeder historischen Gepflogenheit der 1930er Jahre ab und fragen, wie zuletzt Pierre Nora mit seinem Konzept der Erinnerungsorte,69 welchen Gebrauch die Gegenwart denn eigentlich von der Geschichte macht. 3. Die europäische Geschichte neu denken. Benjamins Historismus-Kritik Walter Benjamin selbst trägt seine Kritik mehr oder weniger als Pauschalangriff gegen eine Denkrichtung vor, die in dieser Einheitlichkeit nie existiert, und von Herder bis Droysen nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch äußerst heterogene Charaktere gezeitigt hat. Er nutzt diesen Generalangriff in erster Linie, um seine Forderung zu stützen, es gelte, aus dem höllischen 19. Jahrhundert, das viele seiner Zeitgenossen für modern hielten, aufzuwachen. Zugleich sieht er eine untrennbare Verbindungslinie zwischen dem 19. Jahrhundert und seiner eigenen Zeit. Die schicksalhafte Moderne, und mit ihr der Historismus, blieben letztlich Traumformen, Projektionen auf Immergleiches, Uraltes, Archaisches und Mythisches. Darin erblickt Benjamin die »Urgeschichte der Moderne«. Sie sei aber nichts anderes als das phantasieloseste, wenn auch faszinierendste Zeitalter Europas bis dato gewesen. Diesem Zeitalter stellt er in seiner eigenen Philosophie ein kommendes Erwachen gegenüber, das „wie das Holzpferd der Griechen im Troja des Traums“70 stehe. Benjamin nutzt solche Metaphern als Denkbilder; als eine Verknüpfung sprachlicher und bildlicher Ausdrucksform vergangenen und vergegenwärtigten Denkens; ein Denk-Prozess, der in sich nicht abschließbar ist und für den er häufig den Begriff „dialektisches Bild“71 benutzt ohne seine Vorliebe für bildliches Denken explizit, geschweige denn erkenntnistheoretisch zu erörtern. Am ehesten wird sein Bild-Konzept an einer Stelle der Passagenarbeit deutlich, in der er davon spricht, im dialektischen Bild „steckt die Zeit. Sie steckt schon bei Hegel in der Dialektik. Diese Hegelsche Dialektik kennt aber die Zeit nur als eigentlich historische, wenn nicht psychologische, Denkzeit. Das Zeitdifferential, in dem allein das dialektische Bild wirklich ist, ist ihm noch nicht bekannt. Versuch, es an der Mode aufzuzeigen. Die reale Zeit geht in das dialektische Bild nicht in natürlicher Größe – geschweige denn psychologisch – sondern in ihrer kleinsten Gestalt ein.“72 Noch deutlicher wird dies an einer anderen Stelle der Passagenarbeit, in der Benjamin schreibt: „Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten

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Pierre Nora (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. München. Passagen, K2, 4. Vgl. Ansgar Hillach (2000): Dialektisches Bild. In: Benjamins Begriffe, hg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla. Frankfurt a.M., S. 186-229. Passagen, Pariser Passagen I Qo, 21.

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Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung.“73 Das dialektische Bild ist ein Paradoxon der Erkenntnis. Denn Bildlichkeit setzt Abgeschlossenheit und Materialität voraus; Dialektik ist ein kommunikativer Prozess, der grundsätzlich unabgeschlossen bleiben muss, wenn anders er nicht zur Doktrin werden will.74 Benjamin geht es im Oxymoron des dialektischen Bildes um die „Umgestaltung der phantasmagorischen Welt zur menschlichen Wirklichkeit, deren initiativer Ort die Jetztzeit, der Akt der Bewußtwerdung sein muß … Ganz offenbar sucht Benjamin das Problem historischer Differenz im Gegenwärtigen … mit der Ereignisstruktur der Wahrnehmung zu verklammern. Wirklichkeit, die Wirklichkeit der dialektischen Geschichts- als Gegenwartserkenntnis, findet Benjamin … in der kleinsten, blitzhaft erhellenden Zeitdifferenz des Jetzt von dem Jetzt, das aufscheint in einem Zitat oder Zeugnis der Vergangenheit.“75 Die Dialektik durchwühle die Dinge und revolutioniere sie, schreibt Benjamin in den Passagen; sie wälze das Oberste zu unterst und stürze alles um. Die neu gewonnene Aktualität des Geschichtlichen führt zu neuen Entscheidungskompetenzen, und das dialektische Bild geriert in diesem Sinne zum Gerichtshof der europäischen Geschichte, der das Verlorengegangene erinnert und sich dadurch gegen die Siege alles Bestehenden wendet. Jürgen Habermas ist insofern zuzustimmen, wenn er behauptet, es gehe Benjamin über das bloße Auffinden dialektischer Bilder hinaus darum, diese sogleich zu dechiffrieren und die zerstörerische Repetition durch Rekurs auf Ursprünglichkeit zu unterbinden, um letztlich die herrschende Geschichtsschreibung zu dekonstruieren und das Denken (über die Vergangenheit Europas) zum Stillstand zu bringen.76 Mit diesem geschichtstheoretischen Unterfangen stellt er sich sowohl gegen den Determinismus der historistischen Fortschrittsideologie als auch gegen das Ideal des scheinbar interesselosen Charakters des Historikers. Benjamin will sowohl die Beziehung der historischen Subjekte zu ihrer Gegenwart neu denken als auch die Beziehung der gegenwärtigen Subjekte in Bezug auf ihre Geschichte. Dieses dialektische Geschichtsverständnis nimmt zwar auf der einen Seite erneut die hegelsche Philosophie in sich auf, verwirft sie aber dort, wo es dem Historismus bloß um Vergegenwärtigung geht, das heißt um den Beutezug des Historikers, der die Geschichte als kanonisiertes Inventar des Menschen allenthalben zur Schau stellt. Siegfried Kracauer wird dies Ende der 1960er Jahre in Anlehnung an seinen Freund als Versuch deuten, das Selbstverständnis des Historikers als bloßem, positivistisch vereinnahmten „Aufzeichnungsinstrument“77, das eine Masse aus Daten und Fakten passiv und leidenschaftslos schlicht registriere, zu diskreditieren.

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Passagen N10a, 3. Vgl. Hillach, Dialektisches Bild, S. 186-229. Ebd., 188ff. Jürgen Habermas (1972): Bewußtmachende oder rettende Kritik — die Aktualität Walter Benjamins. In: Zur Aktualität Walter Benjamins, hg. von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M., S. 173224. So Siegfried Kracauer (2009): Geschichte. Vor den letzten Dingen. (=Werke Band 4). Frankfurt a.M.

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Gegen Historismus und Positivismus erklärt Benjamin den Historiker zum Richter über die Vergangenheit einer Menschheit, die sich nicht, wie noch bei Hegel, von der Geschichte richten lässt. Auch gegenüber der Einfühlung in vergangene Epochen inklusive ihrer kritiklosen Bestätigung sowie die nicht weiter hinterfragte Fortschreibung der europäischen Geschichte richtet sich Benjamins Ansatz. Nicht Handlanger der herrschenden Verhältnisse, sondern Erfinder einer besseren Zukunft und Erneuerer politisch sinngeronnener Zustände soll der Historiker in den Augen Benjamins sein. Insofern sind die Thesen, in schwierigsten persönlichen und gesellschaftlichen Zeiten verfasst, nicht zuletzt die Skizze einer politischen Theorie, deren ethisches Implikat lautet, die Namenlosen als herausragende Geschichtssubjekte nicht der Vergessenheit und dem Verschweigen preiszugeben. Wer hingegen nur Fakten rekonstruiert, erkläre sein Einverständnis mit dem historischen Verlauf. Bei Benjamin ist die Auflehnung gegen dieses Einverständnis im Zuge seiner „Penelopearbeit des Eingedenkens“78 überall zu spüren: Er setzt zum Sprung an, sprengt und rettet, kurz, er ist mit aller Kraft bemüht, den Weg zum vergessenen Denken wieder frei zu legen. So regt sich etwa in ihm gegen Droysens Idee, Denkmäler als historische Quellen zu betrachten, Widerwille. Denn es geht ihm vielmehr um die Risse in diesen Denkmälern, um die Läsionen der Welt, um die unsicheren Orte, um das Unabgeschlossene, das die Institutionen der Macht nicht verbürgen können. Es sind das Barockmotiv des Verfalls wie auch die messianische Wiederherstellung des Zerstörten, die Benjamin hierbei fokussiert und sie gegen die Schule des Historismus als Trumpf im Ärmel des Historikers ausspielt. Benjamins Angriff zielt in erster Linie auf Leopold von Ranke und seinen Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl, Heinrich von Treitschke. Dahingegen ist er von Johann Gustav Droysen in einigen Punkten seiner Überlegungen nicht allzu weit entfernt. So geht Droysen in seiner „Historik“79 zunächst von einem steten Werden allen Seins aus. Die Geschichte wird zur Bedingung dessen, was ist, und die gegenwärtige Welt führt alles Vorangegangene fort und weist zugleich auf Folgendes hin. So wird die Vergangenheit zum Indize der Zukunft. Droysen legt dem Menschheitsprozess hierbei ein Kontinuitätsprinzip zugrunde. Das, was ist, ergänzt alles Gewesene durch neuere Entwicklung. Hieraus ergibt sich eine unendliche Folge historischer Abläufe, die sich in der Gegenwart als rastloses Nebeneinander präsentiert. Geschichte ist dementsprechend die Gesamtheit der Erscheinungen des Werdens. Mit Hegel unterstellt er der Geschichte ein stetes Streben nach Vollkommenheit. Geschichte ist ihm in erster Linie Bewegung der sittlichen Welt zur Absolutheit. Die sittliche Welt ist die Welt des Menschen, ein endloses Durcheinander von Zuständen, Interessen und Konflikten inklusive aller technischen, religiösen, politischen, sozialen und rechtlichen Gesichtspunkte. Der sittliche Kosmos, diese von Menschen gemachte Welt ist das Material, aus dem Geschichte gemacht wird. Das Wesen dieser Welt ist geprägt durch den Willen und das Wollen der verschiedenen Epochen, die es zu verstehen gilt, will Geschichtsschreibung dem

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Zu Benjamins Terminus sieh auch Anja Lemke (2005): Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Würzburg. Johann Gustav Droysen (2008): Historik. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Peter Leyh und Horst W. Blanke. Stuttgart-Bad Cannstatt.

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Anspruch der Wissenschaftlichkeit genügen. Hierbei geht es Droysen nicht darum, die Vergangenheit wieder herzustellen, sondern vielmehr darum, gegenwärtige Vorstellungen über sie zu begründen, zu erweitern und gegebenenfalls zu korrigieren, sprich: Welt zu bilden. Doch nur all jene Dinge, die von der Vergangenheit im Hier und Jetzt noch empirisch fassbar sind, können eine Antwort auf die Frage nach dem, was war, geben. Geschichtsschreibung ist somit empirische Wissenschaft, deren Material das ist, was noch „unvergangen“ genannt werden darf. So sollte das historische Wissen auf sichere empirische Grundlagen gestellt und von Spekulationen und Mutmaßungen unabhängig gemacht werden. Der Historismus verabschiedet insofern die „Kunstlehre des Schreibens“ zugunsten einer „Methodenlehre des Erkennens“,80 in der größtmögliche Unparteilichkeit ein regulatives Ideal historischer Forschung markiert. Droysen geht es aber auch um die Wirkungen und Entwicklungen der analysierten Ereignisse, denn die Bedeutsamkeit der Dinge sei erst durch ihre Folgen und Einflüsse wirklich verstehbar. Einen absoluten Anfang zu finden, an dem es in Bezug auf ein bestimmtes Thema anzusetzen gelte, gibt es jedoch ebenso wenig wie ein absolutes Ende der Geschichte. Zumindest hat die Geschichtswissenschaft als empirische Forschung keine Möglichkeiten, zu einem originären Punkt durchzudringen. So bleiben allerdings notgedrungen blinde Flecken in allen Vorstellungen über die Vergangenheit bestehen. Diese Vorstellungen sind niemals absolut kongruent mit den Inhalten, den die Dinge einst hatten, als sie noch nicht Geschichte, sondern tatsächlich lebendige Gegenwart waren. Droysen sucht dementsprechend nach relativen Anfängen, das heißt als Historiker setzt und konstruiert er, ähnlich wie bei Benjamins „Tigersprung ins Vergangene“, den Beginn einer historischen Erzählung ohne auf einen wahren Ursprung stoßen zu können. Als Historiker interpretiert Droysen von dort ausgehend die historischen Materialien, die ihm zur Verfügung stehen, die historischen Bedingungen, unter denen das Ereignis stattfand, den Willen und das Wollen der in das Ereignis involvierten Protagonisten sowie die Ideen, die ihrem Handeln zugrunde lagen. Schließlich fragt Droysen nach dem Einfluss des historischen Materials auf die Gegenwart als Summe der Geschichte. Die Fülle des historischen Materials dient also letztlich der Aufklärung der Gegenwart, die wiederum den Blick auf das Material bestimmt. Droysens Blick richtet sich hierbei nicht allein auf das Tun und Leiden bestimmter Personen, sondern er ist bemüht, die Motive vieler Einzelner zu analysieren und zu beurteilen. Denn es sei seine Aufgabe, die sittliche Welt in Bewegung zu erforschen. Und Veränderungen dieser Welt vollzögen sich nun einmal durch Willensakte, die es zu bestimmen gelte. Jedoch rechnet der Historismus in der Lesart Droysens jenseits einer bloßen Fortschrittsgläubigkeit mit einer Lücke im Prozess historischen Verstehens. Droysens historisch-anthropologischer Zusatz hebt deshalb hervor, der Mensch werde erst Mensch durch sein Bemühen, den Anderen zu verstehen sowie durch das Verstandenwerden durch Andere. Im Menschen spiegele sich – eine typische

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Vgl. zum Folgenden Friedrich Jäger/Jörn Rüsen (1992): Geschichte des Historismus. München. Sieh auch Jörg Baberowski (2005): Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault. München. Hier Kapitel 3 über Ranke und Droysen.

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Überzeugung für das 19. Jahrhundert – die ganze Menschheit, die der Einzelne durch sein Leben fortschreibt: Epidosis eis hauto, Zuwachs ins Selbe nennt er dies, und konstatiert mit Aristoteles und Augustin, jeder Mensch sei insofern sowohl ein Neuanfang als auch die Summe der bisherigen Geschichte. Dieses Menschenbild Droysens kann Benjamin nicht ganz fremd sein. Auch er sieht in der Vergangenheit Europas nicht etwas ein für allemal Gegebenes, sondern vielmehr etwas Unvollkommenes, eine nicht verwirklichte Utopie, die er mit Franz Kafka und Marc Bloch als historische Kategorie, und mit Heinrich Mann als Wiedererweckung des Abgelebten fasst. Eine europäische Hoffnung; eine Hoffnung, die als Funke vergraben der Geschichte immanent ist. Es gelte, so Benjamin, sie inmitten der Gegenwart wie Zitate im Text zu entzünden. „Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben“ heißt es in Goethes Wahlverwandtschaften.81 Sein historischer Ansatz, der den Sturm der Geschichte zwecks Wiederentdeckung des Menschen ein letztes Mal aufzusprengen sich müht, ist immer auch Kritik an den sozialen Umständen der Zeit und ein bewegendes Zeugnis jüdischer, und somit europäischer Geschichtsbetrachtung, wie sie in der Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit auf eine Zukunft hin selbst die jüdische synagogale Predigt bestimmte.82 Und so bleibt Benjamin gerade deshalb bis heute hochaktuell, weil die Felder der europäischen Geschichte noch immer voller Steine liegen, die es beiseite zu räumen gilt.

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Walter Benjamin: Illuminationen, S. 63-135, hier: S. 135. Vgl. Habermas, a.a.O.

III Vom Leben des Geistes nach dem Zweiten Weltkrieg 1. Die historische Ausgangssituation: Europa nach dem Völkermord an den europäischen Juden Der Zweite Weltkrieg und die Gräueltaten des Nationalsozialismus hatten in Europa einen Traditionsbruch herbeigeführt: Die überlieferten Vorstellungen von Mensch und Welt schienen auf einmal obsolet geworden zu sein. Denn auch die Berufung auf den europäischen Humanismus konnte die Barbarei in Europa nicht verhindern. Nach 1945 galt es, neue Denkwege zu erproben: „Die wirklich anständigen Menschen“, schrieb Heinrich Mann schon zu Beginn des Naziterrors, ertrügen das Leben nicht mehr in einem Deutschland, das in die Hände der Unterwelt gefallen sei. Deutschland war bloß noch „ein Leichenhaufen“1 und roch dank der nazistischen „Menschenfresser“ (Mann) auch so. Die Auseinandersetzung mit den von Menschenfressern hinterlassenen Leichenbergen vollzog sich zunächst politisch, vor allem durch die auf Jean Monnet zurückzuführende Etablierung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, mit der die Idee einer europäischen politischen Union eng verbunden war, sowie die Entmilitarisierungspolitik der Alliierten.2 Doch die angestrebte politische Union ist bis heute nicht wirklich zustande gekommen. Andererseits musste auch die politische Theorie auf den Völkermord an den Juden reagieren, und fragen, wie ein Europa, dessen Bewohner überall hin verstreut und aus ihrer Heimat getrieben wurden, neu gedacht werden muss, um den Kontinent wieder zu jener Bühne werden zu lassen, auf der die Menschen erscheinen, um sich über die Welt und ihre Geschichte zu verständigen. Flucht, Vertreibung und Migration veranlassten Joseph Roth schon 1927 zu der Feststellung: „Ach! die gemeine Welt denkt in herkömmlichen, faulen, abgegriffenen Schablonen. Sie fragt einen Wanderer nicht nach dem Wohin, sondern nach dem Woher. Indessen ist einem Wanderer doch das Ziel wichtig, und nicht der Ausgangspunkt.“3 Mit diesen Worten aus der 1937 verfassten Vorrede zur geplanten Neuauflage seines Essays Juden auf Wanderschaft skizziert Joseph Roth die jüdische Diaspora, deren Geschichte lang ist, ab 1933 aber besondere Bedeutung für die Geschichte Europas bekommt, denn die Geschichte der europäischen Idee nach 1945 ist ohne die Erfahrung der Diaspora sowie ohne den Völkermord an den europäischen Juden nicht denkbar. Der Ursprung dieser Geschichte liegt selbstverständlich viel weiter zurück, und zwar in der Brandschatzung des Herodianischen Tempels, eines großen und prachtvollen Baus in Jerusalem, im Jahre 70 n. Chr.4 Damals

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Beide Zitate bei Mann, Der Hass, a.a.O., S. 86. Vgl. Wolfram Wette (2008): Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Frankfurt a.M. Joseph Roth (2010): Juden auf Wanderschaft. Wien, S. 138. Erstausgabe 1927 im Verlag Die Schmiede. Vgl. Hans Küng (2007): Das Judentum. Wesen und Geschichte. München.

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stürmten und zerstörten römische Legionäre die Heilige Stadt und zwangen viele der dort lebenden Juden zur Flucht. Der Jerusalemer Tempel war von nun an nicht länger Mittelpunkt der jüdischen Identität. Eine Generation später wurde auch der von Simon bar Kochba gegen das Römische Reich unter Kaiser Hadrian geführte Aufstand niedergeschlagen.5 Jerusalem war nun endgültig römische Garnisonsstadt. Eine zweite große Auswanderungswelle war die Folge. Über Jahrhunderte hinweg blieb Jerusalem für die Juden ein utopischer Ort, die Tempelzerstörung wegweisend für das vertriebene Judentum. Die Diaspora (Verbannung) wurde fortan zum Charakteristikum der europäisch-jüdischen Geschichte. Verstreut in alle Welt waren die Juden zur Wanderschaft gezwungen. Und nachdem im frühen 4. Jahrhundert durch die Wende der konstantinischen Religionspolitik der Weg zum allmählichen Aufstieg des Christentums geebnet wurde, etablierte sich auch ein zunehmend negatives Judenbild unter den Christen.6 Da die Kirche überzeugt war, das Heil sei von den Juden auf die Christen übergegangen, entwickelte sich als Teil der christlichen Theologie der Antijudaismus. Die Darstellung der Juden als Gottesmörder war ohnehin schon seit Langem präsent. Dieses Bild der Juden hatte seinen vorläufigen Höhepunkt im 11. Jahrhundert. Unter Papst Urban II. eskalierte der Hass auf die Juden. Das Oberhaupt der Kirche rief zum Kreuzzug auf und behauptete, jede Zeile des Alten und Neuen Testamentes zeige, Jerusalem sei als Sitz aller Heiligtümer und Geheimnisse von der Befleckung anderer Religionen rein zu halten.7 Das richtete sich nicht nur gegen die Muslime, sondern gleichsam gegen die Juden, die in der Folge unter dem christlichen Mob zu leiden hatten. Antijüdische Exzesse, Beschimpfungen, Ghettoisierung, Stigmatisierung und Massenmorde nahmen überhand. Hinzu kam das rasche Bevölkerungswachstum im Westen, das die Juden erneut veranlasste, in den Osten Europas auszuwandern. Bald entstand so das christlich geprägte Bild vom ewig wandernden Juden „Ahasver“.8 Als dann die Pest ausbrach, fand man den Sündenbock wiederum im Juden, verfolgte und vertrieb ihn wie auch ein weiteres Mal nach dem Ende der Reconquista. In Kastilien, Aragon und Granada standen die Juden vor der Wahl, sich taufen zu lassen oder abermals eine Flucht ohne Ende9 auf sich zu nehmen. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich im Nachgang der französischen Aufklärung ein Reformjudentum. Es träumte von einem Ende des Ghettojudentums in den europäischen Staaten und Gesellschaften und lehnte nicht nur die

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Vgl. ebd. Wolfgang Benz (2008) (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Berlin. Hingegen betont Jacob Katz (1989): Vom Vorurteil bis zu Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933. München sehr viel stärker die Schuld des Christentums am Judenhass. Aufruf zum 1. Kreuzzug beim Konzil von Clermont 1095. Sieh: Martin Kaufhold (2007): Die Kreuzzüge. Wiesbaden. Vgl. Alfred Bodenheimer (2002): Wandernde Schatten. Ahasver, Moses und die Authentizität der jüdischen Moderne. Göttingen. So der Titel von Roths gleichnamigem Roman.

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jüdische Tradition ab, sondern verzichtete ebenso auf die jüdischen Rituale. Doch was blieb dann noch übrig vom Judentum? — Die Juden sollten Bürger der reformierten Nationalstaaten werden. Diese Möglichkeit hatten sie erstmalig 1867 in der k.u.k. Doppelmonarchie, die alle Juden gleichstellte. Das Deutsche Reich zog 1871 nach. Auf Grund der justiziellen, wirtschaftlichen und militärischen Gleichstellung eröffneten sich den Juden neue Karrierewege; ein jüdischer Nationalpatriotismus keimte vorübergehend auf. Vor allem die assimilierten Westjuden wurden zu Schrittmachern der europäischen Moderne. Die Ostjuden hingegen hielten an ihrer jüdischen Tradition fest. Mit dem sozialen Aufstieg der assimilierten Juden wuchs zugleich auch der Neid ihnen gegenüber. Bereits der Gründerkrach 1873 schürte neue Ressentiments, und Heinrich von Treitschke sah in den Juden während des Berliner Antisemitismusstreits gar ein Unglück für die deutsche Kultur. Ihre Emanzipation sei ein offenbares Unrecht, „ein Abfall von den guten Traditionen unseres Staates.“10 Aber auch die Ostjuden traf das Schicksal in diesen Jahren hart. Sie mussten aus Russland vor den antisemitischen Pogromen unter Zar Alexander III. fliehen. Joseph Roth geht auf diesen Tatbestand in seinem letzten Essay über „Die Lage der Juden in Sowjetrussland“ kurz ein. Die fliehenden Ostjuden waren verarmt, strenggläubig und nirgends daheim. Viele von ihnen wanderten nach Palästina aus, das damals noch ein Teil des untergehenden osmanischen Reiches war. Es war die Zeit der Dreyfus-Affäre, die für Theodor Herzl Anlass bot, über einen „Judenstaat“ nachzudenken. Herzl plädierte am Ende des 19. Jahrhunderts dafür, auf den Berg Zion zurückzukehren und dort einen eigenen jüdischen Staat zu gründen. Diese Idee des Zionismus (Nathan Birnbaum), die bei den Ostjuden durchaus auf Sympathie stieß, war seit dem 17. Jahrhundert virulent. Nun endlich sollte sie Wirklichkeit werden. Denn Baron Edmund de Rothschild finanzierte den Erwerb von Teilen des Heiligen Landes, während in Europa verschiedenste Rassentheorien von Wilhelm Marr bis Arthur de Gobineau die Juden als minderwertige Wesen diffamierten. Mit der Gründung Tel Avivs, dem „Frühlingshügel“, im Jahre 1909 schien es jedoch zunächst so, als gäbe es eine Lösung der Judenfrage und die Hoffnung auf eine neue Heimat. Hingegen spitzte sich für die Westjuden die Lage nach dem Krieg dramatisch zu. Die von vielen verachtete erste deutsche Demokratie werde von Juden dominiert, hieß es. Sie seien Schuld an der Schmach von Versailles. Es war diese Weimarer „Judenrepublik“11, in der nicht einmal 1% der Gesamtbevölkerung Juden waren, in der Joseph Roth seine beinahe nostalgischen Reflexionen 1925 begann und 1927 mit der Publikation Juden auf Wanderschaft abschloss. Der Essay erschien als Band 4 der Reihe Berichte aus der Wirklichkeit beim Verlag „Die Schmiede“, der zwischen 1921 und 1929 existierte und in dieser Zeit auch Roths Romane Hotel Savoy und Die Rebellion12 publizierte. Der Essay von 1927 kann als Kritik an den Westjuden sowie an der zionistischen Bewegung gelesen werden. Begleitet wird diese Kritik von einer Idealisierung des Ostjudentums, für das er selber als Verräter an der jüdischen Idee gel-

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Heinrich von Treitschke (1879): Unsere Aussichten. In: Preußische Jahrbücher 44, S. 575. Vgl. auch Michael Ley (2003): Kleine Geschichte des Antisemitismus. München. Vgl. Ursula Büttner (2010): Weimar - die überforderte Republik 1919-1933. Stuttgart, S. 183ff. Joseph Roth (2003): Hotel Savoy. München; ders. (2010): Die Rebellion. Köln.

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ten musste. Durchzogen ist Roths Buch von seiner Klage über die Verlorenheit des Jüdischen und der wehmütigen Erinnerung an dessen Tradition. Seine Heimatstadt Brody, das jüdische Städtchen im Osten, einst wichtiger Handelsplatz in Galizien und Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärung, ist nicht nur Zentrum seiner Reflexionen — es bildet in Roths Beschreibungen gleichsam den konzeptionellen Ausgangspunkt für seine folgenden Romane. Darüber hinaus steht es paradigmatisch für das ostjüdische Schicksal: Die bürokratische Unterdrückung, die Armut und den Zerfall des religiösen Zusammenhalts. Über den Ostjuden heißt es: „Man verbot ihm, in Dörfern zu leben, aber auch in großen Städten. In schmutzigen Straßen, in verfallenen Häusern leben die Juden. Der christliche Nachbar bedroht sie. Der Herr schlägt sie. Der Beamte läßt sie einsperren. Der Offizier schießt auf sie, ohne bestraft zu werden … In dunklen Chedern werden sie erzogen. Die schmerzliche Aussichtslosigkeit des jüdischen Gebets lernen sie im frühesten Kindesalter kennen.“13 Roth skizziert diese Aussichtslosigkeit des jüdischen Lebens in Berlin, Wien und Paris. In Frankreich spricht er mit einem jüdischen Artisten aus Radziwillow, einem russisch-österreichischen Grenzort. Dieser Artist ist das Symbol eines Balanceakts zwischen West- und Ostjudentum und die damit einhergehende Identitätskrise des Jüdischen: „In Paris erst fangen die Ostjuden an, Westeuropäer zu werden. Sie werden Franzosen. Sie werden sogar Patrioten.“14 Ein ideales Bild, das er hier von Frankreichs Hauptstadt zeichnet. Dahingegen müssen die Ostjuden in Wien „in den kältesten Wintertagen, in den frühesten Nachtstunden anstehen. Alle: Greise, Kranke, Frauen, Kinder … Man sperrte sie in Österreich ein, weil sie nichtrationierte Lebensmittel ins Land brachten. Sie erleichterten den Wienern das Leben. Man sperrte sie ein.“15 Die wandernden Juden in Europa werden zum Sinnbild dafür, dass auch die Heimat keinen Bestand hat. Roths Nachwort von 1937 ergänzt: „Zum Wandern verurteilt sind auch die Juden, die in Deutschland geblieben sind. Aus den ganz kleinen Städten müssen sie in größere ziehen, aus den größten in große und, hier und dort aus den großen ausgewiesen, wieder zurück in kleinere. Aber selbst, wenn sie faktisch seßhaft bleiben, welch eine Wanderung vollzieht sich mit ihnen, in ihnen, um sie herum! Man wandert von Freunden fort, vom gewohnten Gruß, vom vertrauten Wort … es ist eine Wanderung in eine gelogene, gewollte falsche Nacht. Man wandert vom Schrecken, den man eben erfahren hat, in die Furcht … und man versucht, sich in ihr, der unheimlichen, behaglich und wohlig zu fühlen … Man wandert von einem Nürnberger Gesetz zum andern. Man wandert von einem Zeitungsstand zum andern, als hoffe man, eines Tages würden doch die Wahrheiten feilgeboten … Man bleibt und wandert dennoch: eine Art Akrobatie,

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Juden auf Wanderschaft, a.a.O., S. 10. Ebd., S. 106. Ebd., S. 92.

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derer nur die Unglücklichsten fähig sind, die Sträflinge von Bagno. Es ist das Bagno der Juden.“16 Die Wanderung der europäischen Juden als ewige Strafanstalt, die nur die Unglücklichsten aller Europäer in sich aufnimmt. Wie ließe sich nach 1945 so etwas überhaupt weiterdenken? Es ist zweifellos die Frage nach dem politischen Neubeginn ohne die Entwicklung Europas seit dem 19. Jahrhundert mit Fokussierung auf den Antisemitismus, der Europa seit Arthur de Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines aus den 1850er Jahren, vor allem aber seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Bann hielt, aufzugeben. Denn der Antisemitismus war nicht zuletzt Katalysator und wütende „Reaktion auf die Emanzipation und Assimilation des Judentums,“17 das sich als zerstreutes Volk mehr und mehr darum bemühte, in die europäische Gesellschaft aufgenommen zu werden. Wo ihm das nicht gelang, folgte oftmals die Auswanderung nach Palästina. Sein Überleben jedoch hing seit der Zerstörung des Tempels nach wie vor von nicht-jüdischen Mächten ab.18 Ende des 19. Jahrhunderts war es insbesondere das aufsässige, liberale Bürgertum, das sich antisemitisch äußerte, um seine stereotypen Denkweisen sowie die eigene Mittelmäßigkeit mit Hilfe des chauvinistischen Vokabulars zu vertuschen.19 Hannah Arendt, die 1951 mit der Reflexion auf die Ursprünge des Judenhasses beginnt, greift diese frühe Phase des Antisemitismus auf. Sie erzählt, dass mit Heraufkunft antisemitischer, international ausgerichteter Parteien in Europa seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die Gewalt gegen das jüdische Volk insgesamt zunahm. Ihren Höhepunkt erreichte sie jedoch erst, „als die Juden ihre Funktion im öffentlichen Leben und ihren Einfluss eingebüßt hatten und nichts mehr besaßen als ihren Reichtum.“20 Es handelte sich demnach um die „Verfolgung von machtlosen Gruppen.“21 Machtlos, weil die Juden weder eine Regierung besaßen noch Land noch eine eigene Sprache. Sie waren aber auch klassenunabhängig und zugleich, wie Hannah Arendt feststellt, „das an Erfahrungen ärmste Volk Europas.“22 Politisch inaktiv, waren die Juden von der Politik der Anderen abhängig ohne gegen diese Politik in Europa inklusive der Ideologieanfälligkeit der Massen je etwas ausrichten zu können.23 Die Massen aber ließen sich am leichtesten und erfolgreichsten beeinflussen und organisieren durch antisemitische Schlagworte „zum Zwecke der Expansion und Zertrümmerung der überlieferten Staatsformen.“24 Die auf Grund ihrer Expansionspolitik finanzhungrigen europäischen Nationalstaaten hingegen waren bestrebt, die Juden als gesonderte Gruppierung innerhalb der europäischen Gesellschaften zu konservieren, da die besitzenden

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Juden auf Wanderschaft, S. 140. Arendt, Elemente, a.a.O., S. 21. Vgl. ebd., S. 23. So Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung. Arendt, Elemente, S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 41. Ebd., S. 42.

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Klassen anders als die Juden den Staaten Kredite verweigerten. Unter diesen Umständen die Juden in eine Gesellschaft zu integrieren, die sich abseits der ökonomischen Belange des Staates hielt, lag nicht im Interesse europäischer Regierungen.25 Wenn überhaupt, so war Emanzipation nur insoweit erwünscht, wie sich Privilegien bestimmter Gruppen innerhalb der Judenschaft auf die gesamte Gruppe der europäischen Juden ausdehnen ließ, und genau damit einmal mehr das Sonderschicksal der Juden in Europa manifestierte.26 Dieses Schicksal nahm nach dem Ersten Weltkrieg dramatische Züge an: „Der rapide Niedergang Europas nach dem Ersten Weltkrieg fand bereits ein aller Macht entkleidetes Judentum vor, in dem es noch viele reiche jüdische Individuen gab, aber keine jüdische Gruppe, kein Kollektiv in irgendeinem Sinne … In einem Europa, dessen Kräftegleichgewicht für immer erschüttert und dessen innereuropäischer Solidaritätssinn von einem Nationalismus ersetzt worden war, der den Streit zwischen den Nationen eines Konkurrenzkampfes zwischen Riesenkonzernen auffasste, konnte das national nicht gebundene, intereuropäische jüdische Element nur Gegenstand allgemeinen Hasses werden wegen seines nutzlosen Reichtums und Gegenstand allgemeiner Verachtung wegen seiner offenbaren Machtlosigkeit.“27 Offenbar war diese Machtlosigkeit, weil die Juden die einzige internationale, nicht-nationalstaatlich organisierte Gruppe in einer Zeit war, in der nicht nur die gesamte innereuropäische Solidarität zerstört war — die Juden als transnationales Volk blieben auch nach 1918 ein „Fremdkörper in der europäischen Völkerfamilie.“28 Im Grunde war diese Völkerfamilie aber längst keine Familie mehr. Zudem kehrte sie sich von staatsbürgerlichen Gesinnungen mehr und mehr ab, was totalitären Bewegungen letztlich Tür und Tor öffnete. Die politische Unerfahrenheit der Juden, die sich weiterhin aus den Angelegenheiten der europäischen Staaten heraushielten, führte dazu, dass sie die Gefahr des Totalitarismus auch dann noch falsch einschätzten als antisemitische Elemente der Weimarer Republik ihnen vorwarfen, sie seien am Ausbruch des Ersten Weltkrieges schuld.29 Diese angebliche Schuld galt als unwiderlegbar und ging nach und nach in eine Schuld Jude zu sein über.30 Die Juden hatten viel zu leiden: „Wenn das ein Trost sein kann, möchte ich ihnen sagen“, so Heinrich Mann 1933, „dass sie nicht mehr zu erdulden haben als der deutsche Geist und die deutsche Seele selbst, die ihnen immer lieb gewesen sind. Die Juden nahmen geistigen, seelischen Anteil und vermittelten ihn weiter. Sie waren einer der empfänglichsten Teile des Volkes, sie begegneten den geistigen Schöpfern mit wahrer Achtung, sie bemühten sich um sie, sie waren hilfsbereit … Jedes andere Volk außer dem deutschen, jeder Staat, außer diesem, würde hieraus den größten Nutzen ziehen. Deutschland will nicht … Man darf sie ermorden oder zugrunde

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So Arendt, ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 49. Ebd., S. 56f. Arendt, Elemente, S. 71. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 209.

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richten, wenn man nicht grade gut gelaunt ist und sich damit begnügt, sie auf öffentlichem Platz mit ihren Zähnen das Gras ausreißen zu lassen.“31 Auch dies war eine Strafe für ihre „Schuld“, die keine war, und die in der versuchten Ausrottung des jüdischen Volkes ihren Höhepunkt fand. Eine Ausrottung war deshalb möglich, weil „rassische Vorstellungen und Weltanschauungen überall in der öffentlichen Meinung … vorherrschend waren.“32 2. Europas totalitäre Versuchungen In mancher Weltanschauung der damaligen Zeit herrschte nicht zuletzt der Glaube vor, Europas prominentester Judenhasser, Adolf Hitler, sei eine Art Erlöser des deutschen Volkes. Zumindest hat Fritz Stern den Nationalsozialismus insgesamt als eine solche Versuchung gedeutet.33 Über die Figur des Führers glaubten viele an eine nationale Wiedergeburt des deutschen Volkes. Auch das in Weimar verloren gegangene Zusammengehörigkeitsgefühl wurde über die Rassenterminologie und das Versprechen, eine neue Ordnung zu etablieren, reaktiviert. Der Nationalsozialismus, so Stern, erfuhr auf diese Weise einen bemerkenswerten Aufstieg zu einer Ersatzreligion mit einem Diktator als vermeintlichem Heilsbringer an der Spitze des wieder erstarkten Deutschland. Diesen Gedankengang griff zuletzt Ralf Dahrendorf in seinem Buch über die Quellen des liberalen Geistes auf.34 Stern hatte gezeigt, dass die Bestimmung des Menschlichen gerade im Zeitalter der Barbarei notwendiger denn je ist. Genau diesem Phänomen des »bonum humanum« spürt Dahrendorf nach. Er portraitiert jene Intellektuellen, die sich von den so genannten »Versuchungen der Unfreiheit«, sprich Faschismus und Kommunismus, nicht haben verführen lassen. Dahrendorf beschränkt sich auf die zwischen 1900 und 1910 Geborenen – aus informierter Willkür, wie er sagt, die er damit begründet, dass rund 60 Prozent aller Akteure des Reichssicherheitshauptamtes – eine von Himmler gegründete zentrale Behörde der SS – in diesem Zeitraum geboren wurden. Ein weiterer Grund für Dahrendorfs Wahl dieser Kohorte ist die Tatsache, dass sie zur Zeit des Nationalsozialismus ein Alter erreicht hatte, das sie bevorzugt in entsprechende Positionen hätte bringen können. Alle waren zwischen Mitte 20 und Mitte 30: „Diese Menschen waren alt genug, um engagiert am Geschehen der Zeit teilzunehmen, aber noch nicht so gefestigt in ihren Positionen, um unversuchbar zu sein.“35 Seine Ausgangsfrage lautet dementsprechend, welche charakterlichen Qualitäten jene Menschen aus seiner Elterngeneration aufwiesen, die für die Verbrechen und die Propaganda à la Hitler und Stalin unempfänglich waren. Mit der Tugend der Unempfänglichkeit geht ein weltoffener Humanismus, eine offene Kommunikation, die stete Erneuerung der Bildung, die Versöhnung von Ge-

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Mann, Der Hass, a.a.O., S. 100. Vgl. Elemente, S. 351. Fritz Stern (1999): Dreams and Delusions: The Drama of German History. YUP. Vgl. Jürgen Nielsen-Sikora/Jürgen Elvert (2009): Kulturwissenschaften und Nationalsozialismus. Stuttgart. Ralf Dahrendorf (2006): Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung. München. Dahrendorf, Versuchungen, S. 100.

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gensätzen, Verhandlung und Gesprächsbereitschaft einher. Zu ihr gehören aber auch der Disput, der Reformwille, der Einsatz für den Frieden und ein Leben als Spectateur Engagé, welcher zur Formung einer pluralistischen Gesellschaft und zum Zusammenhalt, zur Ligatur konträrer Lebensformen beitragen soll. Dahrendorf entwirft also, wenn man so will, eine Art republique des lettres im Miniformat. Zu einer Liebe zur Freiheit und der Absage an den Dienst innerhalb einer Partei waren jedoch die Wenigsten bereit. Vielmehr übten der organisierte Rassismus und der Antisemitismus äußerst starke Anziehungskraft aus. Und sie konnten sich auf den völkischen Rassebegriff der politischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts berufen, der sich überall dort verbreitete, „wo europäischen Völkern eine nationale Emanzipation gar nicht oder nur halb gelungen war.“36 Die Völkerwanderungen nach dem Ersten Weltkrieg erschwerten ebendiese nationale Emanzipation. Und das Scheitern war der Vorbote der Katastrophe: „Die Atmosphäre des Zerfalls lag zwischen den beiden Weltkriegen über ganz Europa.“37 Es zerfielen in erster Linie die traditionelle Klassengesellschaft und das plurale Parteiensystem. Hannah Arendt fragt aus diesem Grund zu Recht, was geschehen war und warum. Ihr Versuch zu verstehen gipfelt letztlich in der Analyse totalitärer Systeme: Diese Analyse war ein „Frontalangriff auf das europäische neunzehnte Jahrhundert, das Jahrhundert der Bourgeoisie, das die Elemente hervorgebracht hatte, aus denen sich die totale Herrschaft in Deutschland herauskristallisierte.“38 Wie Faschismus und Nationalsozialismus, so gehört zu den totalitären Systemen auch der aus der Französischen Revolution seinen Ursprung nehmende Kommunismus: Bereits im Jahre 1793 und in Anspielung auf das Septembermassaker des Vorjahres gab Georges Jacques Danton bei der Inauguration des Revolutionstribunals, dem Herzstück der Terrorherrschaft, die Maxime aus: „Seien wir schrecklich, damit das Volk nicht schrecklich sein muss!“39 Dantons Devise zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der kommunistischen Utopie von der Gleichheit der Menschen – einer Idee, die 1789 mit ihren Versuchen einer sozialen und politisch-rechtlichen Egalität aller Menschen anhob und 200 Jahre später mit dem Fall der Berliner Mauer ad acta gelegt wurde. Was zeichnete diese Idee aus? Nach Friedrich Engels war der Kommunismus die „Lehre von den Bedingungen der Befreiung des Proletariats“.40 Schon zu Lebzeiten von Marx und Engels gab es jedoch zahlreiche Spielarten dieser Lehre. Der Bund der Gerechten mit Karl Schapper und Wilhelm Weitling ist hier zu nennen. Oder der Anarchist Michail Bakunin. Aber auch der britische Unternehmer Robert Owen und die Frühsozialisten Henri de Saint-Simon, Pierre-Joseph Proudhon und Charles Fou-

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Arendt, Elemente, S. 483. Ebd., S. 561 Young-Bruehl, Elisabeth (1986): Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt a.M., S. 285. Zum Folgenden sieh: Jürgen Nielsen-Sikora (2009): „Seien wir schrecklich, damit das Volk nicht schrecklich sein muss!“ In: Glanz und Elend. Magazin für Literatur und Zeitkritik. Februar 2010. Zu finden im Netz unter: www.glanzundelend.de/Artikel/priestland.htm. Friedrich Engels (1974): Grundsätze des Kommunismus. Marx-Engels Werke, Band 4. Berlin, S. 361.

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rier. Auf die SPD – vor allem auf Karl Kautsky und Eduard Bernstein – und die Turnvereine übten ihre Gesellschaftsanalysen ebenso starken Einfluss aus wie auf die marxistische Theoretikerin und Antimilitaristin Rosa Luxemburg. Was in der Theorie dieser Vordenker ganz vernünftig klang, sah in der Praxis spätestens seit der russischen Oktoberrevolution ganz anders aus: Die politischen Abarten des Kommunismus von Lenin bis Kim Il-Sung waren geprägt von Mangelwirtschaft, Militarismus, Gewaltherrschaft, Unterdrückung des eigenen Volkes, Bodenreformen, Kollektivierungskampagnen und brutalen Klassenunterschieden innerhalb des sozialistischen Systems, in dem die einen ein Leben in der Datscha, die anderen ihres im Gulag führten. Die Entwicklung kommunistischen Gedankenguts schritt unaufhörlich gen Osten voran – vom revolutionären Frankreich unter dem Juristen Maximilian de Robespierre über Stalin und den saarländischen, arbeitslosen Dachdecker Erich Honecker bis hin zu Pol Pot und den Roten Khmer. Vom radikal-romantischen Antikapitalisten bis hin zum blutsaugenden Bolschewisten, von der Schreckensherrschaft des Comité de salut public, über den Gulag, die Hinrichtungsstätten in Leipzig, das S-21-Foltergefängnis oder die Killing Fields in Kambodscha – untrennbar hängt die Geschichte des Kommunismus41 mit der Barbarei sozialistischer Diktaturen zusammen. Zum Wesen des Kommunismus gesellen sich des Weiteren Parteidisziplin, Leistung und Ordnung. Dass sich vor allem Leistung wieder lohnen müsse, ist nicht nur ein parteipolitischer Slogan dieser Tage. Schon Stalin führte 1935 das so genannte Stachanow-System zur Steigerung der Arbeitsproduktivität ein, das durch Prämienzahlungen Spitzenleistungen vergütete. Die Anhebung eines solchen Leistungs-Solls war dann auch einer der Gründe für den Aufstand des 17. Juni in der DDR. In der Sowjetunion standen für dieses Prinzip insbesondere die Komwas, die kommunistischen Hochschulen, ein. Aber auch Misstrauen und Verdächtigungen spielten innerhalb der Beziehungen zwischen kommunistischen Staaten eine Rolle. Zu vielschichtig waren die nationalen Interessen und damit auch die jeweiligen Spielarten der Befreiungsideologie. Viele nationalistische Staatschefs waren bestrebt, den Sozialismus mit lokalpatriotischen Traditionen zu verbinden, wie Pandit Nehru in Indien und Sukarno in Indonesien. Mao hingegen trat in den offenen Konkurrenzkampf mit der UdSSR und gewann großen Einfluss, auch durch militärische Unterstützung kleinerer sozialistischer Länder, in Asien. Im Westen gab es erst seit John F. Kennedy ein wirkliches Bewusstsein dafür, dass der Kommunismus als Ideologie eine Folge von politischen und ökonomischen Ungleichheiten war. Kommunismus in dieser Lesart ist auch die Besessenheit von Orden und Medaillen, Militärparaden und Inszenierungen der Macht, von Schauprozessen, Willkürherrschaft (nicht nur 1793 und 1937 – wie sehr sich die Zahlen gleichen…) und permanenter Überwachung. Im Zuge einer solch tödlichen Besessenheit, der Millionen Unschuldiger zum Opfer fielen, kam es im Kalten Krieg immer wieder zum Showdown mit dem Westen: Auf Kuba, in Viet-

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Vgl. David Priestland (2009): Weltgeschichte des Kommunismus. Von der Französischen Revolution bis heute. München. Sieh auch: Orlando Figes (2008): Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Berlin.

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nam oder Afghanistan, das den allmählichen Zerfall des Ostblocks und damit auch des Kommunismus anbahnte. Was also waren die Charakteristika totalitärer Systeme? Zunächst einmal: Unbeständigkeit, Bewegungssucht, Kontinuitätsverlust und Massenbewegung.42 Nur aus der permanenten Veränderung und Umwälzung alles Bestehenden, aus der permanenten Revolution (Mao) schöpfen totalitäre Systeme ihre Kraft: „Wenn der Hass seine Grenzen erreicht hat und kein Genügen mehr findet, artet er in Furcht aus … Terror und wieder Terror, nur darin sind sie sich einig. Da er seinem Wahlvaterland so oft das Hängen versprochen hat, das bis zu ihm hier unbekannt war, zeichnet Hitler, die Künstlernatur in der Bande, Galgen hin. Sein junger, rühriger Propagandaminister aber gibt ihm an, wo die Apparate aufgestellt werden sollen, um den Hinrichtungsfilm zu drehen. So ist der Hass auf seinem Gipfel. Zu erreichen bleibt ihm nichts mehr. Jetzt merkt er, dass es drüben steil abwärts geht — und aus Hass wird Furcht.“43 Was Bestand hat, gefährdet das Antriebsmoment totalitärer Politik, die sich überflüssig machen würde, wenn bestimmte politische und gesellschaftliche Strukturen fester Bestandteil der Herrschaft werden würden. Deshalb taugen auch nur allgemeine Parolen und Propaganda, die keiner konkreten politischen Situation entsprechen, als Losung des Totalitarismus.44 Zugleich setzten sie auf die totale Vermassung verzweifelter und hasserfüllter Individuen, denen nicht allein die gemeinsame Welt, sondern auch der Ausweg in die fremden, kolonialen Länder nach dem Ersten Weltkrieg abhanden gekommen war.45 Im Käfig der Weimarer Republik sah die Situation freilich ein wenig anders aus als in der Sowjetunion. Hier vermied man es, die Judenfrage zu diskutieren. Antisemitische Verschwörungstheorien waren die Folge. Die Juden galten als Repräsentanten der herrschenden Gewalt. Die deutsche Weltherrschaft könne nur über die Ausrottung der Juden gelingen. Als Beleg ihrer Verschwörungstheorien nutzten die Nazis die Protokolle der Weisen von Zion.46 Der Antisemitismus wurde zu einer Frage der inneren Einstellung und der persönlichen Existenz. Judenhass war in Weimar das Mittel zur Selbstidentifizierung aller Heimatlosen des Krieges geworden. Antisemitismus war das Betäubungsmittel jener Menschen, „die sich vor nichts so sehr fürchteten wie vor dem Fortbestand des Bestehenden.“47 Das Prinzip, auf dem die antisemitische Weltanschauung beruhte, war die dauernde Instabilität der gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse als Herrschaftsform ohne konkretes und näher zu spezifizierendes politisches Ziel. Denn totalitäre Systeme — gleich welcher Provenienz — dürfen nicht zur Ruhe kommen, da sie sich sonst auflösen müssten. Das galt für Hitler ebenso wie für Stalin. Arendt schreibt hierzu:

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Vgl. Arendt, Elemente, S. 658. Mann, Der Hass, a.a.O., S. 58f. Vgl. Elemente., S. 658 und 675. Vgl. ebd., S. 672, 677 und 679 sowie 710. Vgl. ebd., S. 750. Ebd., S. 754.

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„Betrachtet man die letzten Jahre der Naziherrschaft und ergänzt man die Sprache der vollendeten Tatsachen, die in diesen Jahren geschaffen wurden, mit den zahllosen Plänen, die aus Zeitmangel nicht mehr oder nur ansatzweise ausgeführt werden konnten ... so drängt sich der Vergleich mit der totalitären Diktatur Stalins, die im Jahre 1929 ebenfalls mit einem Fünfjahresplans begann, unweigerlich auf.“48 Arendts Diagnose aus den frühen 1950er Jahren nimmt damit im Grunde die innerdeutsche Debatte des Sommers 1986 bereits vorweg. Dieser öffentliche Schlagabtausch um den Stellenwert des Holocaust war bekanntlich geprägt von Habermas´ Kritik an seinen Kollegen aus der Geschichtswissenschaft, denen er eine Verzerrung der historischen und politischen Vergangenheit vorhielt, weil sie die Exklusivität des nazistischen Terrors in den Vernichtungslagern infrage stellten und einer Relativierung des Massenmords an den europäischen Juden zuarbeiteten. Darin sah Habermas „apologetische Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“49 aufscheinen. Konnte man, wie Arendt sagen, dass es sich bei Hitler und Stalin um parallele Leben zweier Barbaren handelte, wie es auch der Untertitel von Alan Bullocks 1991 erschienener Studie zu Hitler und Stalin suggeriert? Oder ging es doch eher um ein „Schlachtfeld der Diktatoren“?50 Zuletzt hat Timothy Snyder die Diskussion in seinem Buch mit dem ein wenig manierierten Titel Bloodlands erneut aufgegriffen. Doch verlagert er zugleich den Blickwinkel: „NS- und Stalin-Regime müssen verglichen werden, weniger, um das eine oder das andere zu verstehen, sondern um unser Zeitalter und uns selbst zu verstehen.“ Das wiederum bedeute zu verstehen, „was im Holocaust und in den Bloodlands allgemein geschah.“51 Zu den Bloodlands zählt Snyder den wesentlichen Teil Polens in den Grenzen von heute, die baltischen Staaten, Weißrussland und die Ukraine sowie den Westrand Russlands, sprich das Gebiet von Sankt Petersburg bis Odessa und von Posen bis Kursk. In Anbetracht der Gräuel in diesem Gebiet sei, so wirft er gegen Arendt ein, „Europas Epoche des Massenmords übertheoretisiert und missverstanden“.52 Denn allein derjenige, der bereit sei, die Ähnlichkeiten zwischen beiden Diktaturen anzuerkennen, könne auch ihre Differenzen verstehen. Und nur das Zusammenspiel von Nazismus und Stalinismus habe für das Elend und den Tod von etlichen Millionen Menschen, in der Hauptsache Zivilisten, in den Bloodlands gesorgt. Eine Interaktion beider menschenverachtenden Systeme und der kriegerische Zusammenstoß der deutschen und sowjetischen Gesellschaft seien maßgeblich verantwortlich für die Barbarei und den Vernichtungswahn, der bereits Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat.

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Ebd., S. 853. Jürgen Habermas (1986): Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. (Die Zeit, 11. Juli 1986) In: Ernst Reinhard Piper (Hg.): Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. München/Zürich 1987 S. 62-68. Alan Bullock (1991): Hitler und Stalin. Parallele Leben. Siedler, Berlin; Dietrich Beyrau (2000): Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin. Göttingen. Timothy Snyder (2011): Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. München. Ebd., S. 385.

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Snyder präsentiert dem Leser auf rund 500 Seiten und profunder Quellenlage einen gut recherchierten Bericht über die Verbrechen Hitlers und Stalins im Zeitraum zwischen 1933 und 1945 in Europa und der Welt. Wir lesen noch einmal über die Aktionen von NKWD und SS, über den Hunger in der Ukraine und die Massaker an der polnischen Bevölkerung. Snyder stellt den Antisemitismus beider Systeme vor, rekapituliert die Gewalt an Kindern und Säuglingen, den Großer Terror 1937/38, den Generalplan Ost und die Ausweglosigkeit im Warschauer Ghetto. Bloodlands ist ein Bericht über die Todesfabriken und Massengräber, den Hitler-Stalin-Pakt, und ebenso über die Verbrechen der Soldaten und der Einsatzgruppen im Osten Europas. Snyder schreibt über Häutungen, Erschießungen, Vergewaltigungen, Verbrennungen, Vernichtungen und Vergasungen; über Kannibalismus und das Blut, die Exkremente, die schwarzen Gesichter, das Urin der ineinander verkeilten Leichen in den Gaskammern, die Desinfektionen für die nächste Gruppe von Juden, die nicht wissen soll, dass nichts als ein grausamer Tod auf sie wartet. Es ist ein Buch über das immer noch kaum Verstehbare, über Treblinka, Auschwitz und Babi Jar. Nicht zuletzt bietet Snyder eine gut geschriebene Zusammenschau jahrzehntelanger Forschungen zu den Geschehnissen zwischen 1933 und 1945, die in einer neuen europäischen Erinnerungskultur münden soll. Hannah Arendts ehrgeizige Reflexionen auf die politische Situation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehen jedoch weit über Snyder hinaus, da sie nicht allein die Geschichte des Totalitarismus, sondern auch ein Psychogramm des nazistischen Terrors liefert. Sie verlangt darüber hinaus, und das ist das entscheidende Moment, einen neuen Legitimationsgrund politischen Handelns. Denn bald schon drohte die „revolutionäre Verheißung“ der Freiheit nach 1945 im Kalten Krieg „zu verschwinden.“53 3. Nach dem Krieg: Die Politik Europas neu denken. Hannah Arendts philosophisches Vermächtnis Alles, was sich an Worten und Sätzen seit Jahren wie tote Materie in mir angestaut hatte, musste ich vergessen, um von Neuem und frisch mit den Sätzen anzufangen… (Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung des Lebens) Das Wissen um die Gefahr des Verlusts der Freiheit wie auch der Versuch zu verstehen, was geschehen war, bilden den Ausgangspunkt von Hannah Arendts Reflexionen zur europäischen Nachkriegspolitik. Ihre eigene politische Motivation lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Das Europa der Aufklärung, Vernunft und der Menschenrechte“ lag „in Stücken, die Tradition“ war „zusammengebrochen. Um diese »Botschaft« sich und den Menschen in der Fremde zu bedenken aufzugeben, rührte Arendt wieder intellektuelle Geschichten an: Sie verfasste …

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Marie Luise Knott (2011): Verlernen. Denkwege bei Hannah Arendt. Berlin, S. 81.

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ihr großes historisches Werk, in dem sie versuchte, sich selbst die Botschaft ins Denken zu übersetzen.“54 Zwei Zitate sind in diesem Zusammenhang nennenswert. Sie schmücken das Titelblatt der unvollendet gebliebenen Abhandlung Das Urteilen: Einem Spruch aus dem Pharsalia-Epos des römischen Dichters Lukan folgt der entscheidende Vers aus dem Faust: „Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stünd ich, Natur, vor Dir, ein Mann allein, Da wär´s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“55 Die Magie von jenem Pfad entfernen, auf dem man sich irrtümlich befindet; die Zaubersprüche verlernen, um wirklich Mensch zu werden: Hannah Arendt hat wohlüberlegt Goethes Vers als Motto für den letzten Teil ihrer Trilogie Vom Leben des Geistes ausgesucht, denn es trifft exakt den Kern ihrer eigenen Politischen Theorie, die um die Bedingungen der Möglichkeit einer humanen Gesellschaft kreist und das „Faktum menschlicher Pluralität“56 nach Kriegsende fokussiert. Die „grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens“, sagt Arendt, manifestiere sich unter den Menschen „auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit.“57 In ihrer Schrift Vita activa, erstmals 1958 auf Englisch erschienen, heißt es hierzu erläuternd: „Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit … bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung.“58 Die Welt, die wir bewohnen, so Arendt weiter, sei deshalb nur in der Vielfalt der Perspektiven überlebensfähig. Die Mehrzahl sei „das Gesetz der Erde“.59 Von dieser Prämisse ausgehend fordert Hannah Arendt in ihren Schriften auch immer wieder eine pluralistische Diskussion im politischen Raum, die sie in Anschluss an Edmund Burke »acting in concert« nennt. Einer solchen Diskussion liegt die Idee der Homonoia zu Grunde, die Idee einer Gemeinschaft der Vernunft. Die Homonoia bildet zugleich den kritischen Maßstab für Arendts politische Theorie, in der sie vor allem mit dem modernen Mensch ins Gericht geht. Denn das Ausmaß an Krieg und Gewalt im Europa des 20. Jahrhunderts wurde in ihren Augen nur möglich durch einen besonderen Typus: den weltlosen Menschen, der den Bezug zu der von Menschen bewohnten Welt, als deren Teil er geboren ist, verloren hat. Ein Menschentypus, der den Anderen zum Material degradiert und die Grundlagen des Gemeinwesens angegriffen hat. Zu diesen Grundlagen gehören insbesondere die Urteils- und Handlungsfähigkeit. Arendt

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Ebd., S. 40. Hannah Arendt (1998): Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. München, S. 6. Dies. (1999): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, S. 213. Vita activa, ebd. Ebd. Hannah Arendt (1998): Vom Leben des Geistes. Das Denken. München, S. 29.

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bezeichnet diese Art von Weltverlust als »Banalität des Bösen«60, die sie an Adolf Eichmann, dem Organisator der Judendeportationen, exemplifiziert. Eichmann, der nach 1945 unter verschiedenen Pseudonymen in Deutschland und Argentinien zunächst unbehelligt lebte, wurde im Mai 1960 vom israelischen Geheimdienst entführt und bald darauf in Jerusalem der Prozess gemacht. Rund zwei Jahre nach seiner Festnahme wurde er verurteilt und hingerichtet. Die Banalität des Bösen, die Eichmann verkörpere, so Arendt in ihrem Prozessbericht, zeichne sich durch Realitätsferne und Gedankenlosigkeit aus. Arendt bemerkt darüber hinaus, grundsätzlich sehe der Mensch des 20. Jahrhunderts im Akt des Herstellens die höchste Stufe seiner Möglichkeiten aufscheinen.61 Sein Vertrauen in Maschinen, die reine Zweck-Nutzen-Kalkulation sind Charakteristika dieses neuen Menschentyps. Gegenstände und die Natur behandelt er als bloßes Material, als ein „großes Stück Stoff“62, aus dem man vermeintlich herausschneiden dürfe, was man wolle, und das man wieder zusammenflicken könne, wie man möchte. Mit Arendts Kritik am Mensch der Moderne geht eine Kritik an der europäischen Gesellschaft einher, die allenthalben noch das reine Funktionieren goutiert. Gerade Anforderungen dieser Art aber beraubten den Mensch seiner Fähigkeit, eine Sache auch vom Standpunkt eines Anderen zu betrachten;63 es beraubte ihn der Fähigkeit, sich die Folgen seines Tuns überhaupt vorstellen zu können. So kannte Eichmann bloß noch den »Kadavergehorsam«64, das unhinterfragte Ausführen von Befehlen, gleich, wie absurd und bestialisch diese auch sein mochten. Arendt kommt in der Analyse Eichmanns zu der Auffassung, dass uns nur das Denken und Nachdenken davon abhält, Böses zu tun. Nur indem wir selber denken und nicht bloß gehorchen, können wir es vermeiden, böse zu sein, Kriege zu führen und Verbrechen zu begehen.65 Denken hat für sie eine diskursive Struktur — es ist auf Andere angewiesen.66 Ein Mensch, der nicht denkt ist wie ein Schlafwandler. Er wird nie eine verantwortungsvolle Rolle als Bürger innerhalb der Gemeinschaft einnehmen, geschweige denn Welt gestalten können. Für Arendt ist es diese kommunikative Macht des Menschen, der vor allem in der Politik eine herausragende Rolle zukommt: Politik ist gemeinsames Sprechen und Abgleichen von Interessen, weil die Welt in erster Linie ein Gebilde von Menschenhand ist.67 Wo kein Diskurs stattfindet, wo im Gegenteil alles daran gesetzt wird, zu unterdrücken und zu knechten, dort ist den Säulen der Hölle der Weg geebnet. Das 20. Jahrhundert hat sie auf perfide Weise errichtet: Antisemitismus, Imperialismus und Rassismus sind ihre Namen, verwirklicht durch die totalitären Bewegungen des Nationalso-

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Dies. (1986): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München. Vita activa, S. 161ff. Ebd., S. 389. Arendt nutzt eine Formulierung aus Henri Bergson (1939): L´évolution Créatice. Paris. Vgl. Eichmann, S. 124. Ebd., S. 231. Das Denken, S. 131ff. Das Denken, 184ff. und 197. Ebd., S. 191.

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zialismus und des Stalinismus. Vorbereitet wurden sie allerdings schon durch die Ideologien des 19. Jahrhunderts.68 Arendt wirft vor allem diesem Jahrhundert Geschichtsbesessenheit und Ideologieverschworenheit, Nationalismus, bürgerliche Wissenschaftsgläubigkeit und geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus vor.69 Elemente des Totalitarismus sind Arendt zufolge die Überbevölkerung, die Expansion, der wirtschaftliche Überfluss, die soziale Wurzellosigkeit sowie der Verfall des Politischen. Die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts hingegen symbolisieren das Gesellschaftsideal der totalen Herrschaft, wobei sich totalitäre Bewegungen grundsätzlich jeder Weltanschauung und Ideologie bemächtigen und sie mit Hilfe von Terror in eine neue Staatsform überführen können. So waren Verbrechen und Massenmorde im Nationalsozialismus und den Gulags keine Ausnahmen, sondern die Regel.70 Der Totalitarismus, so Arendt, degradiere den Mensch zur Sache. Die Politik der Vernichtung eliminiere jegliches politische Handeln; die Pluralität der Menschen und ihrer Weltbezüge werde auf diese Weise ausgelöscht. Der Terror totalitaristischer Systeme verfolge hierbei das Ziel, den Menschen so zu organisieren als gäbe es ihn nicht im Plural, sondern nur im Singular.71 Menschsein bedeutet für sie insofern, in der von Menschen geteilten Welt zu erscheinen, von Anderen wahrgenommen zu werden, sich mit ihnen zu verständigen. Ohne ein Verstehenwollen kann es keine Verschiedenheit geben; ohne Verstehen und Verständigung ist der Mensch unfähig, sich in der Welt zu orientieren. Und wenn er auf der Erde zu Hause sein will, muss er versuchen, sich an dem nicht endenden Dialog der Menschen zu beteiligen.72 Handeln ist in diesem fortwährenden Dialog die Bedingung für eine Kontinuität der Generationen sowie für Erinnerung und Geschichte; zu handeln und die Kompetenz, Verschiedenheit zu artikulieren, sei ein Vorrecht des Menschen, meint Arendt. Gefahr für die Gemeinschaft drohe vor allem dann, wenn das (politische) Handeln durch ein bloßes Sich-Verhalten ersetzt werde, sprich: wenn die »Herrschaft des Niemand« um sich greife.73 Vernünftiges politisches Handeln sei dagegen die Antwort auf das Geborensein des Menschen. Die menschliche Natalität – so Arendt im Anschluss an Augustinus – bezeuge, dass der Mensch ein Anfang sei und immer wieder einen Neuanfang machen könne. Arendt spricht von »gefrorenen Gedanken«, die das Denken auftauen müsse. In ihrem Ringen um eine Neudefinition politischer Begriffe hat sie gezeigt, dass „die in Floskeln, Klischees und Redewendungen verwaltete Sprache durch die Erfahrung der Menschen neu aufgebrochen werden muss, und dass es darum geht, die Dimension des Handelns wieder in die Vorstellung der Lesenden zurückzuholen … Durch eine derartige Rückkehr zu den Quellen, durch eine Neulektüre des alten Textes also, kann die (ursprüngliche) Erfahrung hinter dem

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Vgl. Hannah Arendt, Elemente, a.a.O. Vgl. ebd. Ebd., S. 907ff. Vgl. Eichmann, S. 231ff. Vgl. Vita activa und Vom Leben des Geistes, a.a.O. Vgl. Vita activa, 165ff.

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Begriff reaktualisiert und zurückgewonnen werden.“74 Es geht Arendt letztlich darum, scheinbar Selbstverständliches zu verlernen, das heißt die ausgetrampelten Pfade der Sprache zu verlassen, die Sprache von ihren Verkrustungen zu befreien. Dann ist der Weg für ein neues Denken in Europa bereitet. Radikal geht Arendt diesen Weg im Eichmann-Buch. Darin heißt es: „In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch.“75 Etwa dann, wenn er sich auf Kants kategorischen Imperativ beruft und ihn sich, so Arendt, „für den Hausgebrauch des kleinen Mannes“76 zurechtbiegt. Komisch muss Eichmann auf Arendt aber auch deshalb gewirkt haben, weil er sich in einem Umfeld artikulierte, das ihm völlig fremd war: Mit dem Ethos eines „SS-Obersturmbannführers“ und Leiters des „Referats für Juden- und Räumungsangelegenheiten“ hatte das israelische Gericht eben nichts gemein, im Gegenteil musste er sich zum ersten Mal in seinem Leben rechtfertigen. Das war mehr als ungewohnt für einen, der nie selber gedacht hat. Die Geistestätigkeit, so Arendt, sei als solche durch einen Rückzug von der Welt der Erscheinungen gekennzeichnet.77 Der menschliche Geist vergegenwärtige, was die Sinne auf Grund mangelnder Synthesisleistung nicht vergegenwärtigen könnten: Der Geist stellt (sich) die Dinge vor. Diese Vor-Stellung nennt Arendt mit Kant auch »Einbildungskraft«. Es ist das Vermögen der Anschauungen auch ohne die Anwesenheit des Reflexionsobjektes. Damit wird Denken durch Vor-Stellen vorrangig ein Nach-Denken, ein kritisch-reflexiver Akt.78 Die Vergegenwärtigung des nicht sinnlich Gegebenen kann sich nun entweder auf das Nicht-mehr oder aber auf das Noch-nicht des Seienden beziehen. Im ersten Fall sprechen wir von Erinnerung (des Vergangenen), im zweiten von Antizipation. Alle geistigen Tätigkeiten sind selbstständig, autark und unbedingt, da die geistige Tätigkeit Ermöglichungsgrund alles Seienden ist in dem Sinne, dass nur durch die Vor-Stellung »etwas« ist. Die Haupteigenschaft des Geistes ist seine Unsichtbarkeit; er erscheint nicht in Welt, sondern zeigt sich allenthalben dem denkenden, wollenden und urteilenden Ich selbst, und zwar durch einen Akt der bewussten Reflexion auf die Welt der Erscheinungen.79 Die Auseinandersetzung mit Adolf Eichmann als Berichterstatterin für William Shawn und den New Yorker 1960/61 hat ihr Denken selbst nachhaltig geprägt. Sie schrieb damals, nicht Dummheit habe Eichmann dazu veranlasst zum Organisator der Judenvernichtung zu werden, sondern seine Weigerung, über sein Tun nachzudenken.80 Gedankenlosigkeit sieht sie auch in ihrer Zeit vorherrschen. Denn der Mensch nähme sich kaum noch Zeit zu reflektieren. Arendts Kernfrage lautet diesbezüglich, ob unsere Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden,

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Marie Luise Knott, Denkwege, S. 75. Arendt, Eichmann, a.a.O., S. 124. Ebd., S. 232. Vgl. Das Denken, a.a.O. Vgl. ebd., S. 84 und 92. Ebd., S. 193ff. Vgl. Eichmann, a.a.O.

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mit unserem Denkvermögen zusammenhängt. Anlass für diese Überlegung war zunächst die Beschäftigung mit dem tätigen Leben, das sie dazu führte, sich auch dem contemplativen Aspekt der menschlichen Tätigkeit zu widmen: Warum wurde der Begriff des tätigen Lebens gerade von Menschen geprägt, die sich nahezu ausschließlich dem räsonierenden Leben zuwandten und alles Seiende aus dieser Haltung heraus beurteilten? Was tun wir eigentlich, wenn wir denken? Und wo sind wir, wenn wir denken?81 Nicht Denkfähigkeit als solche steht dabei zur Disposition – denn der Mensch ist ein denkendes Wesen –, vielmehr fragt Arendt, ob das Denken und NachDenken uns davon abhalten könne, Böses zu tun. Sapere aude sagte Kant: Wir müssen uns unseres eigenen Verstandes bedienen, um tradierte Gedanken und Ideen zu verlernen und somit allererst das Denken erlernen zu können.82 Für Arendt bedeutet dies den Verzicht auf die üblichen Tätigkeiten des menschlichen Alltags, es meint den Rückzug aus der Welt des Offensichtlichen, meint Einlassen in die innere Welt der Gedanken, die für sie schlechthin die Bedingung für das Verstehen von Sinn ist: Alles Denken ist ein Nach-Sinn-Streben des Menschen, ein Bedürfnis der Vernunft. Denken wird für Arendt somit zur ausgezeichneten Möglichkeit, hinter die Erscheinungen zu dringen, sie als Schein überhaupt erst entlarven zu können. Das ist vornehmlich das Geschäft der Philosophie: In der Geistestätigkeit des Philosophen wird alles Gegenwärtige abwesend. Der Denkende ist im Vollzug seines Denkens mit sich allein ohne einsam zu sein. Denn er verkehrt mit sich wie mit einem Anderen: Denken heißt, sich selbst Gesellschaft leisten. Das Denken ist geprägt von Reflexion und Dualität, von einem Rückbezug auf das Selbst. Heißt es bei Platon noch, Denken sei das Gespräch der Seele mit sich selbst, so sagt Arendt, Denken sei das Gespräch des Geistes mit sich selbst: Es ist ein Gespräch im Diesseits, weil ein Leben ohne Denken sinnlos bliebe. Das Gespräch, der Dialog mit Anderen ist die Voraussetzung für das Selberdenken. Ohne das Gespräch mit dem Anderen komme ich nicht zur Sprache. Mein Zuhause ist die mit Anderen geteilte Welt. Geistige Tätigkeit wird also nur offenbar im Sich-Aussprechen. Deshalb habe der Mensch, so Arendt, auch den Drang, sich mitzuteilen. In diesem Drang sieht sie zugleich ein Streben nach Sinn eingelassen. Denken wird für sie zur Sinnsuche: Das Bedürfnis der Vernunft ist ein diskursives Denken, ein Rechenschaftsbericht des Denkens über das Gedachte – eben: logon didonai. Die Sprache ist hierbei die Brücke über dem Abgrund zwischen mir und dem Anderen, zwischen der Welt des nicht sichtbaren Geistes und der Welt der Erscheinungen.83 Auch die bereits beherrschte Sprache muss verlernt werden, um ihr neuen Sinn abzugewinnen. Arendt will, so Marie-Luise Knott, einen „neuen Pakt der Sprache mit dem Leben.“84 Denn schließlich sprechen wir, um zu überleben, schreiben wir, um nicht zu sterben. Sprechen und Schreiben sind existenzielle

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Sieh Das Denken, Kapitel IV. Vgl. Immanuel Kant (1784): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift 4, S. 481-494. Vgl. Das Denken, S. 163ff. Knott, a.a.O., S. 10.

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Aufgaben des Menschen. Als sprachbegabtes und schreibendes Wesen, als homo loquens und homo scriptor weiß der Mensch: Was er ist, das ist er nur durch Sprache, durch ein schier unerschöpfliches System der Zeichen, der Wörter und Symbole. Die Grenzen des Sprachsystems bilden zugleich die Grenzen seines Weltverständnisses.85 Wer wie Hannah Arendt, die fast zwei Jahrzehnte lang Staatenlose, diese Grenzen immer wieder überschreitet, der wird sich selbst neu erfinden, ja der wird das Land hinter sich abbrechen und Grenzen überschreiben müssen. Arendt kannte beide Arten von Grenzüberschreitungen – die territoriale und die sprachliche. Und sie wusste, dass Migration die Welt ein wenig aus dem Gleichgewicht bringt: „Zu den kulturellen Leistungen, die ein Exilant in der Fremde absolvieren muss“, schreibt Knott, „gehört das schrittweise Hineingelangen in Sprache, Kultur und Politik des neuen Landes, eine Anpassungsleistung, die nicht mit Assimilation zu verwechseln ist.“86 Der indische Kulturtheoretiker Homi Bhabha glaubt gar, es wären die transnationalen Räume der Migranten und der Flüchtlinge sowie ihre Vorstellungswelten, die die Wiege der europäischen Kultur bilden.87 Das stimmt zumindest dann, wenn Kultur die Organisation der Dinge in Bewegung ist. Genau dann bilden Flüchtlinge wie Hannah Arendt das Salz der Erde, das die ansonsten so fest am Boden klebende Kultur über den Planeten verbreitet. Wer es auf sich nimmt, die gewohnte Sprache wieder zu verlernen und Grenzen zu überschreiten, dem fallen unzählige Bibliotheken entgegen; Bücher, deren Sprache zu verstehen eine große und ehrfürchtige Herausforderung bedeutet. Denn im Anfang jeder Grenzüberschreitung ist das Wort: Nomina ante res. Und es gilt hierbei zu bedenken, dass wir die Grenzen mitnehmen, die wir überschreiten, das heißt die Zäsur, den Schock, den Schnitt in unserer Biografie. Mit uns und in uns wandern die Grenzen selbst. Marie Luise Knott schreibt: „Arendts Texte verausgaben sich nicht, sie entfalten sich mit jedem Wiederlesen. In dem Maße, in dem sich unsere Gegenwart von den ursprünglichen Zeitumständen und Denkanstößen entfernt … stellt sich heraus, dass Arendts Werk ganz andere neuartige Dinge zu sagen hat.“88 In ihrem Werk zeigt sich die Sprache, eine neu durchdachte Sprache, als das einzige Medium für die Tätigkeit des Geistes. Durch Sprache »zeigt« sich der Geist des Menschen. Sich-Zeigen ist eine Form der Selbstdarstellung: Ich entscheide, was erscheinen soll und wie ich als »Jemand« erscheinen will. Ich bringe mich durch mein Erscheinen allererst zur Geltung. In der Welt sind Sein und Erscheinen dasselbe. Mein Erscheinen in Welt setzt jedoch einen Zuschauer voraus, der mich als Erscheinenden wahrnimmt. Erinnern wir uns: Pluralität ist das Gesetz der Erde. 89 Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, das jedoch wie kein anderes die Geburt der europäischen Idee aus dem Geist der Nachkriegszeiten verkörpert.

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Ludwig Wittgenstein, Tractatus, a.a.O. Knott, a.a.O., S. 40. Vgl. Homi Bhabha (2000): Die Verortung der Kultur. Tübingen. Knott, a.a.O., S. 98 et passim. Vgl. Vita activa, S. 213 und 220.

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Den Gedanken des Erscheinens aus »Vita activa« aufgreifend, konstatiert sie, dass die »res cogitans«, die Sphäre des reinen Denkens, nicht erscheine, doch müssen die cogitationes, wenn sie sich in und als Sprache äußern, Hörer und Zuschauer voraussetzen: Der Mensch ist somit Wahrnehmender und Wahrgenommener zugleich, er ist erscheinend in einer erscheinenden Welt, wobei Welt das tertium comparationis des Menschseins bildet. Der Mensch hat den Drang zur Selbstdarstellung — eine Reaktion auf sein Erscheinen in der Welt. So haben alle Lebewesen ihren Auftritt. Da der Mensch in einer erscheinenden Welt »haust«, sind Sinn und Bedeutung allem voran in dieser zu suchen. Die Sinnsuche des Denkens bezieht sich damit unweigerlich auf die erscheinende Welt als dem Aufenthaltsraum des Menschen. Nun wird nicht das, was ist, sondern das, was erscheint zum vorrangigen Forschungsproblem. Für sie ist das Sich-Zeigen-Wollen genuin menschlich. Das philosophische Problem hierbei: Der Schein gehört unleugbar zur Welt der Erscheinungen. Das Denken kann diesen Schein entlarven. Als Grund der Erscheinung erscheint es selber jedoch nicht, kann aber durch Sprache ans Licht gebracht werden. Das Denken kann kein reines Ding an sich bleiben, sondern zeigt sich als Gespräch in Welt, wenngleich der Akt des Denkens unsichtbar bleibt. Denn aus dem reinen Denken kann nur auf die Existenz der cogitationes selbst geschlossen werden.90 Arendt unterscheidet des Weiteren mit Kant zwischen Vernunft und Verstand. Welche Eigenschaften kommen in diesem Zusammenhang dem Verstand zu, was trennt ihn von der Vernunft? Zunächst zieht sie Thomas´ Idee eines »sensus communis«91 heran. Darunter versteht der Aquiner einen alle Sinne übergreifenden Sinn des Menschen. Arendt spricht vom »Kontext«, in dem uns etwas überhaupt erst erscheinen kann. Der Kontext, in dem uns etwas als etwas erscheine, sei für alle Menschen derselbe, wenn auch aus je unterschiedlicher Perspektive wahrgenommen.92 Sie entdeckt hier eine dreifache Gemeinsamkeit des Menschen, die sich durch Wahrnehmung, Beobachtung und Kommunikation als Kontext konstituiert. Wahrnehmung bezieht sich auf Innenweltliches, Beobachtung auf Außenweltliches, Kommunikation auf Mitweltliches. Innen-, Außen- und Mitwelt bilden das, was Arendt »Intersubjektivität«93 nennt. Intersubjektivität verleiht dem Gegenstand unter einer je eigenen Perspektive eine besondere Bedeutung. Diese besondere Bedeutung heißt bei ihr »Wirklichkeitsempfindung«.94 In diesen »Kontext« eingebettet vollziehen sich Denken und Erkenntnis, Sinnsuche und Erkenntnisstreben. Der sensus communis oder Gemeinschaftssinn ist ein »innerer Sinn« und bezieht sich im Gegensatz zur Vernunft (als Denkvermögen) auf das Erkenntnisvermögen des Menschen. Er dient dem Verstehen der Wahrnehmungen im Gegensatz zum Begreifen der Frage nach Sinn und Bedeutung des Denkvermögens. Da die Vernunft noch bei Kant die je spezifischen Verstandesleistungen bündeln musste, so wie der Verstand die Sinne bündelte, geriet sie in Antinomien und Pa-

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Vgl. Das Denken, a.a.O. Ebd., S. 59 und 344ff. Vgl. Das Denken, S. 59. Ebd. Ebd.

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ralogismen, weil Erkenntnis eine Sache des Verstandes, Sinn eine Sache der Vernunft war, diese Sinnsuche aber zugleich ihre eigenen Grenzen übersteigen musste. Nur weil für Kant aus diesem Grunde auch die Wahrheit und eben nicht der Sinn das letzte Kriterium der Erkenntnis war, geriet die Vernunft in Widerstreit mit sich selbst.95 Damit herrschte schon im Denken des Philosophen selbst ein Widerstreit zwischen gemeinem Verstand (sensus communis) und spekulativem Denken vor. Denken und Erkennen seien nicht dasselbe, meint aus diesem Grunde Hannah Arendt. Denken manifestiere sich in aller großen Philosophie, während Erkennen Wissen vermittele, Gewusstes ansammele und ordne. Erkennen schlüge sich deshalb in erster Linie in den Wissenschaften nieder, heißt es in ihrem Buch über das Denken. Für Arendt entspricht dem Erkenntnisvorgang dann auch primär das, was in der praktischen Tätigkeit unter die Sphäre des Herstellens fällt, während Vernunftdenken auf Verstehen (Handeln) ausgerichtet ist. Um es kurz zu fassen: Dem Verstand korrespondiert das Selberdenken, der Vernunft das mit sich selbst in Übereinstimmung denken. Arendt hat bezüglich der Sphäre des Denkens klargemacht, inwieweit wir im Denken nicht dort sind, wo wir eigentlich sind, weil das Denken die raumzeitliche Dimension des Menschen und dessen Erfahrungen gewissermaßen aufhebt. Heidegger nannte dies Seinsvergessenheit.96 Der topos noetos deckt sich damit in gewisser Weise mit dem, was schon die Griechen mit lathe biosas forderten – ein Leben im Verborgenen, das nur Heideggers Zugwind des Denkens an sich vorübereilen lässt. Europa zu denken wäre in diesem Sinne nur dann möglich, wenn Europa der utopische Ort ist, der die realen politischen Zustände in sich aufhebt. Wer aber wollte wirklich ein solch nicht greifbares Europa? Es gilt deshalb, Europa auch zu leben, es zu verwirklichen, es zu wollen. Das Wollen/der Wille — so der zweite Teil des Doppelbandes Vom Leben des Geistes — hat weitaus mehr Freiheiten, zumal er nicht den streng logischen Maßstäben des Denkens (Widerspruchsfreiheit etc.) unterworfen ist. Arendt fasst den Willen zunächst – mit Aristoteles – als Prüfstein einer freien Handlung, als Wissen um das Unterlassen und Tun-Können von etwas. Diese Wahlfreiheit verbürgt allererst den größeren Freiheitsraum des Wollens. Da wir grundsätzlich frei sind zu wählen, was wir tun (liberum arbitrium) – und das selbst in scheinbar ausweglosen Situationen – nennt Arendt den Vollzug, sich für eine bestimmte Handlung zu entscheiden auch das Wagnis des Neuanfangs. Mit Augustinus: Initium ut esset creatus est homo.97 Der Mensch schafft einen Neubeginn, und nur er. Wie nie zuvor muss diese anthropologische Prämisse auf die politische Situation nach 1945 (nicht zuletzt auf 1968 und 1989) angewendet werden: Ohne die Fähigkeit, Neues in die Wege zu leiten, wäre kein Fortschritt möglich. Wie dieser Neubeginn aussieht, steht den Menschen frei und muss im Dialog ausgehandelt werden, wenn das Neue nicht schon bald wieder im Chaos und der Barbarei enden soll.

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Vgl. Das Denken, S. 50ff. Vgl. Martin Heidegger (2001): Sein und Zeit. Tübingen. Arendt, Elemente, S. 979; vgl. Arendt, Vita activa, S. 215.

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Wahlfreiheit wird zur Frage der Entscheidungslegitimation. Arendt greift hierbei auf die aristotelische prohairesis zurück, die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten (bei Aristoteles insbesondere zwischen Vernunft und Begierde). Anders als bei Kant, für den der Wille weder geistige Fähigkeit noch liberum arbitrium, sondern praktische Vernunft ist, wird der Mensch qua Wahlvermögen und dem Vermögen neu anzufangen selber zu einem Neuanfang. Für diesen Neuanfang antizipiert der Wille Zukünftiges, er ist das »Organ der Zukunft« – so wie andererseits das Gedächtnis das »Organ der Vergangenheit« ist. Der Wille will etwas, was noch nicht ist; er bezieht sich somit nicht auf konkrete Objekte, sondern auf Unsicheres, auf Projekte, an die er bestimmte Erwartungen heranträgt (und die von Hoffnung oder Furcht begleitet werden). Eines dieser Projekte, das politisch bedeutendste, nach 1945 hieß: Europa. Doch wie stark ist der Wille der Europäer, Europa zu verwirklichen? Die Erwartungshaltung des Willens ist eine, wie Arendt behauptet, neue Errungenschaft des philosophischen Denkens. So gab es ihr zufolge in der griechischen Literatur keinen äquivalenten Begriff für das, was wir als »Wille« bezeichnen. Erst mit Kant, heißt es ferner, konnte es zu einer Gleichsetzung von Wollen und Sein (Kants »guter Wille«) kommen. Damit erst habe sich dem Menschen die Zukunft eröffnet. Von nun an sei es geradezu fatalistisch und töricht gewesen, dem eigenen Willen nichts zuzutrauen, ihn wie Eichmann einschläfern zu lassen, weil man sich dadurch auch seiner eigenen Handlungsoptionen beraubte. Mag dies eingedenk aktueller neurobiologischer Theorien altmodisch klingen, doch: So sehr der Wille als Motor des Handelns betrachtet wurde, so sehr musste nach Arendt auch klar sein, dass der Willensakt sein eigenes Ende in sich trägt, und zwar genau dann, wenn das Wollen ins Tun übergeht. Denn dort, wo eine Handlung vollzogen würde, erlösche der Wille automatisch, da er nur prospektiv orientiert sei und dementsprechend agiere. Damit aber nichte er gewissermaßen die Gegenwart. Die Stimmung des wollenden Ichs sei vornehmlich Ungeduld, Unruhe und Sorge. So setze nämlich der Plan des Willens ein Ich kann voraus, das keinesfalls gesichert sei. Unruhe sei mithin der Grund allen Seins; der Wille »lebe« in steter Anspannung. Das Heilmittel dieser Anspannung heißt bei Arendt: Versprechen. Denn ich kann die Sorge und Unruhe durch meine Macht, ein Versprechen zu geben, lindern, indem ich sie in Absehbares oder Voraussagbares verwandle.98 Hier zeigt sich umso deutlicher, dass der Wille Zukunftsbezug hat. Mein Versprechen verhindert, dass meine private Welt zur Hölle wird. Das Versprechen 1945 trug den Namen Europa und war die Zusage an die Völker Europas, dauerhaft für Frieden zu sorgen. Wie stark ist dieses Versprechen heute noch? Das Pendant des Versprechens in Bezug auf die Vergangenheit ist das Verzeihen, welches darin mündet, dem anderen die Freiheit zu seinem eigenen Neuanfang zu gewähren. Was aber ist überhaupt verzeihbar? Die Barbarei etwa auch? Kann es ohne Verzeihen eigentlich eine gemeinsame Zukunft geben? Wo sind die Grenzen des Verzeihens?

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Vgl. Vita activa, S. 301.

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Die Vernichtung der Juden überschritt diese Grenzen, weil sie ein absoluter, unverjährbarer Kulturbruch war.99 Es wäre widersprüchlich und absurd, hier um Verzeihung zu bitten. Dazu Vladimir Jankélévitch: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind unverjährbar, das heißt sie können nicht abgebüßt werden; die Zeit hat keinen Einfluss auf sie. Nicht, weil eine Verlängerung von zehn Jahren nötig wäre, um die letzten Schuldigen zu bestrafen. Es ist überhaupt unverständlich, dass die Zeit, ein natürlicher Vorgang ohne normativen Wert, eine mildernde Wirkung auf das unerträgliche Grauen von Auschwitz ausüben könnte … Die Verzeihung ist in den Todeslagern gestorben.“100 Hannah Arendt hingegen hat in Vita activa das Verzeihen als Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit ausgegeben und erklärt: „Verzeihen ist die einzige Reaktion, auf die man nicht gefasst sein kann, die unerwartet ist, und die daher, wiewohl ein Reagieren, selber ein dem ursprünglichen Handeln ebenbürtiges Tun ist“101, das in der Liebe des Menschen seinen Urgrund habe. Dem stehe das „Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten“ gegenüber.102 Diese Versprechen schafften Inseln „in einem Meer der Ungewissheit.“103 Für Arendt stand fest, dass wir vor allem wegen dieser Ungewissheit in Bezug auf unsere Zukunft, ja wegen der Ruhelosigkeit unseres Willens unseren Geist lebendig halten: Der Wille ist der eigentliche Motor des Geisteslebens. Um Zukunft zu wollen, so Arendt gegen Benjamin, müsse allerdings Vergangenes auch zerstört werden; wir müssten Vergangenes auch vergessen und verlernen können, um Raum für Neues zu schaffen.104 Martin Heidegger und Friedrich Nietzsche sprachen dieshinsichtlich von der »Verwüstung«. Nur eine Verwüstung des Althergebrachten ermögliche es, dass wir uns als die entgegenkommen, die wir sind. Das Wollen schafft den Freiraum für dieses Sich-zu-sich-selbst-Bringen (Heidegger). Nichts ist schwieriger als zu vergessen. Das Unbewusste ist ein Workaholic. Um Denken und Wollen als geistige Tätigkeiten zu vereinen, d.h. den Rückzug vom Lärm der Welt auf die innere Stimme und das Sich-selbst-zur-GeltungBringen des Willens miteinander in Einklang zu bringen, wollte Arendt – angelehnt an Kants dritte Kritik – einen letzten Teil ihres Werkes vorlegen. Dieser ist auf Grund ihres vorzeitigen Todes 1975 nur Fragment geblieben. In diesem Fragment, dessen Titelblatt ich eingangs zitierte, handelt sie hauptsächlich von Kants Kritik der Urteilskraft. Wie grob skizziert stellte Kant als Maximen des Urteilsvermögens das Selberdenken, die erweiterte Denkungsart und die Widerspruchsfreiheit heraus. Behandelt das Denken das Allgemeine, so handeln Wollen und Urteilen vom Besonderen.

99 100 101 102 103 104

Vgl. Vladimir Jankélévitch (2003): Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie. Frankfurt a.M. Ebd., S. 250 und 271. Vita activa, S. 301. Ebd., S. 313. Ebd. Vgl. Knott, a.a.O., S89.

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Arendt hält mit Kant fest, dass das Urteil das Besondere unter einem allgemeinen Begriff denkt. Dabei meint Urteilskraft nicht bloß den Vollzug logischer Operationen; vielmehr ist es für Arendt die Suche nach dem »stummen Sinn« und dem, was Kant »Geschmack« nannte. Im ersten Teil der Kritik der Urteilskraft ist dieser insbesondere unter ästhetischen Gesichtspunkten abgehandelt (das Schöne etc.), weniger geht es dabei um moralische und rechtliche Probleme, über die zu entscheiden allein der Vernunft vorbehalten bleibt, die der Urteilskraft als solche beiseite zu treten hat. Doch auch in Sachen des Geschmacks müssen wir uns gleichwohl anderen zu gefallen entsagen, so dass bereits im Geschmack der reine Egoismus überwunden wird, und zwar durch Bezug auf andere Meinungen und Gefühle: Das pure Gewissen urteilt nicht; es vermittelt uns allenthalben ein Gefühl, was zu tun sein könnte. Dagegen müssen wir im Geschmacksurteil unseren eigenen subjektiven Standpunkt zu Gunsten des Gemeinwillens überwinden, weshalb Arendt davon spricht, Geschmack sei intersubjektiv vermittelt, wiewohl das Urteil bei Kant aus »contemplativer Lust« und »unthätigem Wohlgefallen« entsteht.105 Für Arendt bedeutet Urteilen Rechenschaft ablegen über das, was man denkt; es heißt, eine Brücke zwischen Contemplation und Praxis zu schlagen und zu sagen, welche Gründe unserer Meinung zu Grunde liegen; es bedeutet eine Pflicht zur Antwort, und besagt, kritische Maßstäbe auch auf das eigene Denken anzuwenden. Das Urteilen erfordert ein Interesse an Mitmenschen und das Vermögen, Recht und Unrecht zu trennen. Darum auch ist die Urteilskraft gewissermaßen ein Regulativ des geistigen Lebens, nicht zuletzt, weil sie als Synthese von Denken und Wollen konzipiert ist — auch wenn Arendt freilich manchmal dazu neigt, ein Urteilsvermögen nur dem zurückgezogenen Beobachter zuzusprechen. Dennoch will sie dem contemplativen keine grundsätzliche Priorität vor dem aktiven Leben einräumen. Sowohl geistiges als praktisches Leben gehören gleichursprünglich zum Menschsein. Damit kehrt sie sich freilich von ihrem „Lehrer“ Aristoteles ab, der in der Nikomachischen Ethik (X, 7) feststellte, dass das contemplative Leben in Bezug auf Autarkie und Selbstgenügsamkeit höherwertig sei. Da aber für Arendt das Dasein einen pluralen Charakter besitzt, wird das tätige Leben ebenso zentral wie das contemplative. Hierbei unterscheidet sie wie schon in der Sphäre des Geistes drei Modi des Tätigseins im aktiven Leben: Arbeit, Herstellen und Handeln. Man muss auch sie vor der Folie der Geschichte des Nationalsozialismus lesen. Das Handeln ist als einzige Tätigkeit auf Pluralität angewiesen. Es ist ein Vorrecht des Menschen, denn Tiere handeln nicht, sie verhalten sich allenfalls. So heißt Handeln vor allem Frei-sein (von den Zwängen unserer Umwelt). Tragisches Kennzeichen unserer heutigen Welt aber ist gerade das uniforme und berechenbare Sich-Verhalten, welches das Handeln außer Kraft setzt; es ist die totale Bürokratie und das bloße Verwalten sowie die Steigerung der Arbeitsproduktivität zu Ungunsten der Muße und des Miteinander-Handelns. Das Handeln hat einen Anfang, ist aber endlos. Es läutet den Verstehensprozess ein, und ist aktives In-Erscheinung-Treten. Handeln erschließt sich letztlich im Miteinanderspre-

105 Vgl. Immanuel Kant (1974): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe in 12 Bänden, X. Frankfurt a.M.

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chen. Freilich schafft das Handeln nicht nur einen Erscheinungsraum für den Menschen, es ist zugleich von Machtbeziehungen zwischen den Menschen subvertiert. Aber erst diese Machtstrukturen vermögen es, eine Gruppe von Menschen auch zusammenzuhalten. Gleichzeitig begrenzt die Pluralität die totale Ausdehnung von Macht. Erst wenn an ihre Stelle Allmacht und Gewalt treten, ist es um den Menschen schlecht bestellt. Handeln wird somit zur zentralen politischen Kategorie im Nachkriegseuropa, weil es plural, offen und dialogisch strukturiert ist. Arbeit meint demgegenüber vorrangig das Sich-Kümmern um den biologischen Prozess des menschlichen Körpers und die Lebensnotwendigkeiten. Arbeit behandelt die Welt des Verschleißes und des Gebrauchs. Kennzeichen der Arbeit ist, dass sie nie an ein Ende kommt. In philosophisch-anthropologischer Sicht ist der Mensch als arbeitendes Wesen das animal laborans, das sich in engem Bezug zu der Welt des Verbrauchs und des Überflusses weiß. Arendt meint, das animal laborans beherrsche die Öffentlichkeit, in der es statt Vielfalt (Handeln) nur um Vervielfältigung gehe. Das aber sei die Zeit des arbeitenden Tieres, des Wirtschaftswunderlandes, der kapitalistischen Ökonomie. Herstellen schließlich meint Produktion einer künstlichen Welt von Dingen. Diese Dinge sind jedoch zugleich das Zuhause des Menschen geworden – durch Schaffen einer zweiten Natur. Das Herstellen hat einen definierbaren Anfang und ein definitives Ende. Der Herstellungsprozess ist irgendwann abgeschlossen. Der Markt ermöglicht, das Werk der Hände zur Schau zu stellen. Der Mensch gelangt dadurch zur Anerkennung des von ihm Gemachten. Der Prototyp des Herstellens ist aus philosophisch-anthropologischer Sicht der homo faber, der sich im reinen Herstellungsprozess der Welt von seiner Mitwelt isoliert, und die Welt bloß, wie eingangs erwähnt, als das Stück Stoff, das auseinandergeschnitten und wieder zusammengeflickt werden darf, betrachtet. Dieser Sichtweise hat Hannah Arendt ihr eigenes Denken nach 1945 entgegengesetzt und zu zeigen versucht, warum es der Mühe wert ist, wieder ein Mensch zu sein. Sie hat, wie Marie Luise Knott zu Recht konstatiert, verlernt, die gemeine Sichtweise zu ihrer eigenen zu machen: „Mit den Begriffen“, schreibt Knott weiter, „die wir uns von der Welt machen, leben wir; sie ermöglichen einem Autor den Übergang von der Erschütterung zur Beobachtung und schaffen schließlich einen Raum für das Handeln — für Schreiben und Sprechen. Wie erst die Gesetze den öffentlichen Raum, das Gehege für freies politisches Handeln garantieren, so gewährleistet das begriffliche Denken den Raum … für die Urteilskraft … Neben ihrer Arbeit am begrifflichen Fundament, mit der sie im Labyrinth der Gegenwart den Ariadnefaden spann, nutzte Arendt eine besondere, ihr naheliegende Qualität der englischen Poesie: die Fähigkeit, äußerst prosaischen Worten und idiomatischen Wendungen neues Leben einzuhauchen.“106 Arendt entkleidet die Begriffe ihren Selbstverständlichkeiten. Sie will die politischen Zaubersprüche verlernen, um an ihre Stelle Dialogizität und Intersubjektivität zu setzen, die allein eine verantwortungsvolle Zukunft Europas und der Welt ermöglichen können. Europa denken heißt für Hannah Arendt insofern immer: Acting in concert.

106 Knott, a.a.O., S. 52.

IV Europawissenschaft 1. Prolog: Im Anfang war die Macht. Europa denken im Zeitalter postdemokratischer Politik Arendts Diktum des Acting in concert war die erste Theorie kommunikativen Handelns. Acting in concert hieß über Jahre auch die politische Leitidee Europas nach 1945. Im Gegensatz zum Versailler „Friedensdiktat“ sollten die Kriegstreiber in den Wiederaufbau Europas so eingebunden werden, dass sie zugleich besser kontrolliert werden konnten. Acting in concert bedeutete die Fokussierung auf Gemeinwohl, Solidarität und Friedenssicherung. Bis in die späten 1960er Jahre hinein vollzog sich dieses politische Konzert weitestgehend hinter verschlossenen Türen. Der wirtschaftliche Erfolg der europäischen Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg bedurfte kaum der Rechtfertigung der supranationalen Ebene. Dann aber löste eine Krise die nächste ab. Die 68er und der innerstaatliche Terror waren nur der Auftakt, die Währungskrisen, die Arbeitslosenzahlen, Umweltzerstörung und die Frage nach nationalen Identitäten in einer zusehends globalisierten wie zeitgleich geteilten Welt folgten auf dem Fuße. An ein Acting in concert, das Hannah Arendt mit ihrer politischen Theorie beschwor, war kaum zu denken. Als Arendt Ende 1975 starb, war die Tinte auf der Schlussakte von Helsinki noch nicht richtig trocken und das G6-Gipfeltreffen von Rambouillet gerade erst vorüber. Es war die Hochphase des Kalten Krieges und seiner wechselnden Machtkonstellationen. Und es war die Realität gewordene Apokalypse, zumindest dem Gefühl nach (und wer sie fühlt, der will sie auch …): Microsoft wurde gegründet und Pasolini drehte die 120 Tage von Sodom. Wer damals die Feuilletons las, wusste, dass das europäische Projekt als so gut wie gescheitert galt. Die Nationalstaaten waren „europamüde“.1 Europa war bloß noch ein „kostspieliger Verein“, und seit seinen Tagen als Finanzminister inszenierte sich Helmut Schmidt als gestandener Europagegner. Was war Europas Einheit? Sie war allenthalben eine „Phrase“2 zwischen den Jahren nach dem Auschwitz-Prozess und jenen, die die Weizsäcker-Rede zum Kriegsende 40 Jahre zuvor vorbereiteten. Wer in den 1970er Jahre zur Welt kam, wuchs auf im Zeitalter der Zweiten Aufklärung, zwischen den Attentaten der RAF und dem Nato-Doppelbeschluss, zwischen „Türken-Gettos“3 und kommunistischen „Verfassungsfeinden“, zwischen Radikalen-Erlass, Deep Throat und Watergate. Fests Hitler-Biografie sorgte für öffentliche Aufregung, Buchheims Kriegsroman ebenso.4 Das portugiesische Massaker in Mosambique war ein zentrales Thema der Titelblätter, wie auch der Nahost– und die Sinnlosigkeit des Vietnamkrieges. Honecker, Stoph und Sindermann folgten auf Ulbricht. Die Neue Ostpolitik nahm an Fahrt auf, während verschiedene Giftskandale Vorbo-

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So der Spiegel am 23. Juli 1973, S. 17. Alle Aussagen ebd. So der Spiegel vom 30. Juli 1973, S. 24: „Die Türken kommen – rette sich, wer kann.“ Joachim Fest (1973): Hitler. Eine Biographie. Frankfurt a.M.; Lothar-Günther Buchheim (1973): Das Boot. München.

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ten einer neuen Angst-Kultur waren: Seveso, Bhopal, Harrisburg. Die Kinder des Wirtschaftswunderlandes wuchsen mit dem „Waldsterben“, mit Umweltzerstörung und Arbeitslosigkeit heran: „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ schrieb der Schriftsteller Gerhard Zwerenz damals.5 Der Kontinent war zwar erwachsen geworden. Aber wohl nicht wirklich reif. Die Emanzipation steckte in den Kinderschuhen, die Diskussion über den § 218 hatte gerade erst begonnen und die Selbstverständlichkeit, mit der bis dato die Atompolitik betrieben wurde, zerbrach zumindest damals schon ein wenig. Überall in den Geschäften und kleinen Läden, die es noch an jeder Straßenecke gab, hingen Fahndungsfotos von Terroristen. Die Kinder hatten Angst beim Anblick der gesuchten Frauen und Männer, die sie auf dem Weg zur Schule als diffuse Bedrohung ihrer heilen Welt wahrnahmen. Es war die Zeit nach dem Ölpreisschock, auch Ölkonflikt, Ölkrise oder Ölkrieg genannt. Der Europäische Rat nahm Gestalt an, die Medien debattierten über Gewalt im Fernsehen und das Ende der Kindheit. Papillon, der Exorzist und Lacombe Lucien erschienen und thematisierten erneut das Böse und den Krieg. Syberbergs „Hitler“ hatte in London seine Uraufführung, Klaus Theweleit veröffentlichte seine „Männerphantasien“6, Alice Miller analysierte das Drama der Erziehung im 20. Jahrhundert7, auf das auch Morton Schatzman in seinem Freudkritischen Buch „Die Angst vor dem Vater“ eingeht8 und darin Freuds bekannten Fall Schreber9 wieder aufgreift: Kinderverfolgung, Dressur und ein Wille zur Regierung über das Kind werden in dem Buch als jene Faktoren vorgestellt, die unmittelbar in autoritäre Gesellschaften führen. Mitte der 1970er war die Jugend scheinbar weit entfernt von Verführungen dieser Art. Der Spiegel erblickte in ihr bloß noch eine„verfressene Generation“.10 Tatsächlich zeitigte die Konsumgesellschaft ihre logischen Folgen und Nebenwirkungen. Die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit nach der 68er-Revolte schritt voran. Apokalypse Now rekurrierte auf den Vietnam-Krieg, Gerald Green drehte seine US-Fernsehserie „Holocaust“, Claude Lanzmann einige Jahre später „Shoah“. Der Massenmord an den Juden etablierte sich als zentraler Gedächtnisort Europas.11 Die langen 70er Jahre und das „rote Jahrzehnt“ (Koenen) machten es möglich. Die Protestbewegung erlebte ihre Hochphase und fokussierte erstmals den Nationalsozialismus als zentrales politisches Thema der Gegenwart: Rolf Hochhuth enttarnte Filbinger als „furchtbaren Juristen“ der NS-Zeit in seinem Stück

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Gerhard Zwerenz (1973): Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond. Frankfurt a.M. Klaus Theweleit (1977): Männerphantasien. 2 Bde. Frankfurt a.M. Alice Miller (1979) Das Drama des begabten Kindes und (1980): Am Anfang war Erziehung. Beide Frankfurt a.M. Morton Schatzman (1984): Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Reinbek. Zuerst 1973. Daniel Paul Schreber (1903): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Leipzig; dazu: Sigmund Freud (1911): Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. III. Leipzig und Wien. Der Spiegel, Titel vom 19.12. 1977. Vgl. Assmann, a.a.O., S. 32.

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„Eine Liebe in Deutschland“.12 Es war eine weitere „Deutschstunde“, wie überhaupt sich vieles in öffentlichen Diskussionen weiterhin um Deutschland und das „Ausland“ drehte, weniger um Europa, das seine erste große und lang anhaltende Krise erlebte, da die europäischen Nationalstaaten ihre Lust an der Einigung verloren hatten. „Eurosklerose“ lautete das Stichwort in dieser Zeit, die geprägt war von Kurzarbeit, Staatsverschuldung, einer perspektivenlosen Jugend, Inflation und dem Ende der Zuversicht. Schließlich suchte auch Brüssel vergebens nach einer Europäischen Union und einem Europa der Bürger.13 Zu allem Überfluss stand das Orwell-Jahr unmittelbar bevor. Die Jugend überlebte es abseits der eingeleiteten „geistig-moralischen Wende“ ohne größere Störfälle. Mathias Rust landete in der Nähe des Roten Platzes, die Grünen etablierten sich. Selbst der deutsche Wald erholte sich mit der Zeit. Das erste wirklich einschneidende Ereignis aber war das Reaktor-Unglück von Tschernobyl. Als Karl-Heinz Köpcke im April 1986 den Super-Gau verkündete, waren viele sich sicher, dass die Welt am Abgrund stand. Und dieser Abgrund bot einer Miszelle Paul Valérys zufolge Platz für alle. Die Risikogesellschaft14 war geboren und in der Schule malten man düstere Vorstellungen vom Millenium in die Schreibhefte: Die Welt hatte die Kontrolle über ein Gleichgewicht der Macht endgültig verloren. Es war die Zeit, in der die Chaostage aus der Taufe gehoben wurden, es war die Zeit der Jenninger–Rede, von Null Bock, Beach Head und RTLplus. Die Jugend lauschte den Klängen von Band Aid, NDW und Acid, Fehlfarben, Einstürzende Neubauten und Tote Hosen. Sie las Morton Rhues The Wave und Gudrun Pausewangs Kinder von Schewenborn,15 sah Filme wie Platoon und Top Gun, Rambo, Indiana Jones und Star Wars: Der europäische Krieg war gebändigt, doch allerorten präsent. Gerade die Star Wars-Trilogie war das Sinnbild des Kalten Krieges. Bis heute zieht sie ihre Zuschauer in den Bann. Und sie führte nicht nur die Karl May-Euphorie an ein Ende, sondern wirkt gerade wegen ihres Themas, der Frage nach Gut und Böse, nach. Wer damals schon Zeuge des Kinospektakels war, erinnert sich auch Jahrzehnte später noch an die bekannte Losung der Jedi-Ritter, der weisen Krieger für Frieden und Gerechtigkeit in der Galaxis: May the force be with you. Wie hätte man Hannah Arendts politische Ideen besser übersetzen können? Sie selbst schrieb zur Gewaltfrage: „Allgemein gesprochen, erwächst Gewalt immer aus Ohnmacht. Sie ist die Hoffnung derjenigen, die keine Macht haben …, einen Ersatz dafür zu finden — und diese Hoffnung ist meiner Meinung nach vergebens. Aus dem gleichen Grund ist es eine gefährliche Täuschung, die Macht eines Landes an seinem Gewaltarsenal zu messen. Dass ein Übermaß an Gewalt eine der großen

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Rolf Hochhuth (1978): Eine Liebe in Deutschland. Reinbek. Vgl. Jürgen Nielsen-Sikora (2009): Europa der Bürger. Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung. Stuttgart. Ulrich Beck (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. Gudrun Pausewang (1983): Die letzten Kinder von Schewenborn. Ravensburg; Morton Rhue/ Todd Strasser (1981): The Wave. New York.

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Gefahren für die Macht von Gemeinwesen … darstellt, ist eine der ältesten Einsichten der politischen Wissenschaft.“16 Das war nicht zuletzt auch die Einsicht der Jedi: Mit einer nicht näher zu bestimmenden Macht getauft, schwärmten sie aus und vollbrachten Gutes, indem sie ihren eigenen Willen auch gegen Widerstreben anderer Mächte durchsetzten. Und der Mensch im Gefühl der Macht — das wissen Philosophen und Theologen spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, die Kinder des Kalten Krieges seit den 1980er Jahren — heißt sich gerne »gut«. Im Anfang aller politischen Diskurse steht die Macht: Der Glaube der Mächtigen, mit ihrem Arsenal an Möglichkeiten, ihrem schier unbändigen Einfluss, ihren Netzwerken und Geldquellen das Gute vollbringen zu können,17 prägte viele der jüngeren Generation. Rasch begriffen sie, dass sich Macht und Ohnmacht wie siamesische Zwillinge verhalten: Sie sind am Kopf zusammengewachsen und weichen einander nie von der Seite. Bereits die erste Staffel der Star Wars Ende der 70er Jahre, in der Hochphase des Kalten Krieges, zeigte: Auch die Existenz des Raumschiffs Erde ist nicht ohne globale Saurier möglich. Noch vor ein paar Jahren, kurz nach Ende der Blockkonfrontation und inmitten eines bestialisch geführten neuen Krieges in Europa, haben solche Saurier texanischer Provenienz einigen Wüstensand aufgewirbelt. Denn so wie in den Science-Fiction-Abenteuern der Jedi galt es, die Achse des Bösen auch in der Realität, das heißt jenseits des 24. Längengrads, zu zerschlagen. Verkörperte Darth Vader im Film die dunkle Seite dieser Macht und wird von dem für das Gute kämpfenden Luke Skywalker mit dem Laserschwert der Gerechtigkeit zur Rechenschaft gezogen, so wollten die US-Jedi mitsamt ihrer Administration zunächst den Apparatschiks, dann den Mudschaheddins und Husseins zu Leibe rücken, weil die Welt nun einmal überschaubarer wird, teilt man sie in gut und böse ein. (Und wo schon kein Jabba the Hutt, da lauert heute wenigstens ein Ahmadinejad.) Europa blickte einmal mehr nach Amerika und vergaß rasch die Unmenschlichkeit daheim. Das Credo US-amerikanischer Außenpolitik, mit Hilfe einer Koalition der Willigen und in einem Desert Storm das Gute herbeizuschießen, zog letztlich Konsequenzen nach sich, die bis in den europäischen Lebensalltag des 21. Jahrhunderts hinein spürbar sind: Anti-Terror-Dateien, Sicherheitspakete und Flugabwehr sind nicht zuletzt Ausdruck einer Ohnmacht der Macht. Die Macht einer solchen Ohnmacht entflammt vor allem dort, wo sich Machtspiralen bilden und in einem grenzenlosen Steigerungsspiel der Macht implodieren. Im Irak wurde uns dies seinerzeit recht anschaulich vorgeführt. Zumindest zeigte sich, dass sich die Menschenrechte weder mit B2-Bombern importieren ließen, noch, dass sich antidemokratische Staaten linkerhand zu Demokratien erziehen lassen wollten – zu hartnäckig erwiesen sich die Horden gewaltbereiter, angriffslustiger junger Männer, die der scheinbaren Übermacht auf selbstzerstörerische Art und Weise beibrachten, wie ohnmächtig selbst imperiale Akteure in den Wüsten des Wahn-

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Hannah Arendt, On Revolution, zitiert nach Young-Bruehl, a.a.O., S. 564. Vg. Joseph Nye (2011): Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter. München.

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sinns wirken und walten müssen. Die Folge: Mächte, oder zumindest besondere Machtkonstellationen, brechen zusammen, neue entstehen. In dem Vorhaben, die eigene Macht auszuweiten, das Böse zu besiegen und die Welt mit dem wohlverdienten Guten zu bombardieren, stößt jede Macht an ihre eigenen Grenzen. Die Detonationen verschiedener Weltsichten, ob nun im Nahen Osten, auf dem Balkan oder anderswo, zeigen: Der Wille, den eigenen Machtradius immerfort auszudehnen führt letztlich in einen Prozess, an dessen Ende Ohnmachtskulturen, ein neues Regiment der Untertanen und ein Tohuwabohu der Hörigen entstehen. Es kommt zu einer politisch heiklen Konstellation, in der das militärische Höher, Schneller, Weiter und Genauer nicht länger funktionieren kann: Trotz immer neuer Kriegsstrategien, Sicherheitsvorkehrungen, trotz stets aktualisierter Datenbanken, trotz des Ausbaus eines Überwachungsstaates samt dazugehöriger Machtzentralen, die selbst Bentham und Foucault in Aufregung versetzt hätten, gelingt es nicht, absolute Macht über andere Mächte – über Terror, Gewalt, Massenvernichtungswaffen und Kriegsgegner – zu erlangen. Der Krieg ist ein Krebsgeschwür, dessen Metastasen manchmal erst Jahre oder Jahrzehnte später diagnostiziert werden können. Was in der Theologie seit Längerem bekannt zu sein scheint und im Kontext der Theodizee von Voltaire bis Johann Baptist Metz eindringlich befragt worden ist, muss in der Politik allererst noch entdeckt werden: Die Tatsache, dass kein Mächtiger so mächtig ist, dass er das Schicksal der Welt allein aus seiner Macht heraus zu lenken imstande ist. Ein Bruce Allmächtig der Weltpolitik, ein God of Governance ist nicht zu haben. Ohnehin ist in der Kampfkunst der Globalisierung etwas Macht nichts. Warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts – diese alte philosophische Frage erhält in den sich neu herausbildenden Ohnmachtskulturen der Weltgesellschaft eine völlig neue Bedeutung. Das Erstaunliche: Auch etwas mehr Macht bedeutet nichts. Im Gegenteil: Je größer die Macht, die wir erlangen, desto größer die Ohnmacht, die damit einhergeht. Diese bittere Wahrheit mussten nicht nur die Jedi-Ritter, sondern auch die europäischen Nationalstaaten wie schließlich die texanischen Ölindustrieellen und Gouverneure erfahren. Dabei spielt es nur eine Nebenrolle, ob die Macht den Todesstern des Imperators oder bloß die Statue eines irakischen Diktators zerstört, ob sie den Verbrechen von ein paar serbischen Massenmördern oder einer deobandistischen Miliz Einhalt gebietet. Die großen und kleinen Machthaber auf dem Planeten Erde haben selten verstanden, dass ihr Drang nach Macht eigene Ohnmächte erzeugt. Viele der Weltverbesserer im Kostüm von Präsidenten haben sich zum Untertan ihres eigenen Machtstrebens über andere gemacht. Sie wollten das Ganze und bekamen nicht einmal mehr einen Teil dessen. Sie vergaßen, dass die Macht ihren siamesischen Zwilling, die Ohnmacht, immer an ihrer Seite hat. Das hat seit den 1970er Jahren unweigerlich zu einer Transformation der europäischen Demokratie geführt, in der das Demokratieverständnis sich zusehends der politischen Wirklichkeit angepasst hat. Im Endeffekt führte dies gar zu einer Verformung der politischen Ordnung in Europa, die jedoch nicht hinterfragt worden ist.18 Die Herrschaft des Volkes offenbart sich heute zwar als liberale, doch kontingente Regierungsform ohne tiefgreifende normative Implikationen,

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Vgl. Colin Crouch (2008): Postdemokratie. Frankfurt a.M., S. 9.

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weil sich die demokratischen Staaten inzwischen als Gemeinwesen zeigen, in denen Wahlen in der Hauptsache von PR-Beratern organisiert und von Lobbyisten kontrolliert werden.19 Politik ist in dieser so genannten Postdemokratie allenthalben noch ein mediales Spektakel, in dem gesellschaftsrelevante Diskussionen von Experten vorgegeben und die Bürger als passive Politik-Konsumenten betrachtet werden. Zwar sind die demokratischen Institutionen in Europa weiterhin intakt, aber die politischen Verfahren und europäischen Regierungen zeigen verstärkt Züge vordemokratischer Zeiten.20 Der begrenzten Macht einer europäischen Regierung steht zusehends die unbegrenzte Macht der kapitalistischen Wirtschaft gegenüber. Man spricht hier von der »Entropie der Demokratie«, die verhindert, dass das Gleichgewicht von positiven und negativen Rechten in Europa aufrechterhalten werden kann. Negative Rechte erlangen in dieser Form der Demokratie ein viel stärkeres Gewicht, zumal die europäische Politik weiterhin als Angelegenheit von Eliten angesehen wird, bei der Einzelpersonen zurücktreten, wenn Fehler begangen wurden und geglaubt wird, das Problem sei damit behoben. Ein weiterer wichtiger Faktor für das Schwinden volldemokratischer Strukturen und damit einhergehend einer bedenklichen Verlagerung der Macht liegt in der Tatsache, dass sich der Staat aus der öffentlichen Daseinsfürsorge immer mehr zurückzieht.21 Dies führt zu einer Apathie der Bürger, die begleitet wird von einer neuen Art der Fürsorge. Dieser bemächtigt sich die Ökonomie und bietet auf dem freien Markt Güter an, die über Jahrzehnte den europäischen Wohlfahrtsstaat auszeichneten. Gefordert ist mehr Transparenz. Doch gerade diese Forderung führt zu einer Degradierung der politischen Personen – müssen diese sich doch darauf einstellen, was die Wähler als Kunden der Politik wollen.22 In ihren Reaktionen auf die politischen Vorstellungswelten der Bürger greifen sie zu Manipulationen der politischen Inhalte, zu Showbiz und raffiniertem Marketing. Parteiprogramme überall in Europa werden deshalb inhaltlich immer ähnlicher und zugleich arm an Profil. Denn die Sorge der Politiker um ihr Verhältnis zur Wählerschaft dominiert ihr parteistrategisches Verhalten. In Kombination mit mangelhaften binnendemokratischen Mechanismen, lassen sie sich zu unfertigen Meinungen verleiten, „von denen die eigene Massenpartei behaupten mag, sie seien die Stimme des Volkes.“23 Werbung wird nach ´89 zur neuen politischen Strategie. Sie aber ist keine Form des rationalen Dialogs.24 Werbung ist argumentationslos und erwartet keine Antworten. Sie bleibt somit in letzter Konsequenz verantwortungslos. Wenn aber nicht Diskussion und Deliberation, sondern Kauf und Verkauf die Ziele politischen Handelns in Europa sind, wenn Werbung als politische Kommunikation mit einem Massenpublikum zur gängigen Praxis des Dialogs zwischen europäischen Institutionen und europäischer Bürgergesellschaft wird, führt dies nicht

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Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S.13. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Vgl. ebd.

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nur zur Inkompetenz der Bürger, Eigeninteressen zu artikulieren,25 sondern es schwindet zudem auch das Vertrauen in demokratische Institutionen und ihre Protagonisten. Ohnehin verleitet die Demokratie dazu, sich in ihr auszuruhen, weil alles in den Händen der Bürgervertreter, der durch Wahlen legitimierten, politischen Elite, wenig aber in den Händen der Bürger selbst liegt. In dieser Situation stößt die Abwanderungsdrohung der Unternehmenselite gegenüber der europäischen Politik auf wenig Gegenwehr.26 Entweder gilt es, die Maximen der Ökonomie umzusetzen, oder es droht die nächste Standortdebatte. In der politischen Kommunikation werden diese Drohungen dann als notwendige Reformen reinterpretiert. Die Wähler geben schlussendlich den Parteien ihre Stimmen, die diese »Reformen« bewilligt haben und willigen somit selbst in die Strategien der Wirtschaft ein: Ein Mangel an Geist und mangelhaft ausgebildete Demokratie gehen Hand in Hand. Diese »Kommodifizierung des Staates«, bei der an die Stelle totalitärer Systeme ein absolutes System, der Katastrophen-Kapitalismus getreten ist, darf nicht zum alleinigen Prinzip einer europäischen Staatsregierung werden,27 weil der Markt, so auch Colin Crouch, immer nur Mittel zum Zweck, nie Zweck an sich selbst sein kann, soll die Demokratie in Europa zumindest im Kern gesichert werden: „Je mehr Aufgaben man privatisiert und je stärker sich der öffentliche Dienst – insbesondere auf kommunaler Ebene – der Marktlogik unterwerfen muß, desto größer ist die Notwendigkeit, eine zentralistische Demokratie nach jakobinischem Modell zu installieren, in dem es im Verhältnis von Regierung und Bürgern keine vermittelnden Ebenen des politischen Handelns gibt.“28 Darüber hinaus, und das wirkte besonders problematisch im europäischen Kontext, waren die europäischen Regierungen mit Ende des Kalten Krieges wenig daran interessiert, die EU so stark zu demokratisieren wie die jeweiligen Nationalstaaten. Nicht allen politischen Institutionen und politischen Entscheidungsträgern ist eine solch tief greifende Transformation der Demokratie vollauf bewusst geworden. Das hängt mit der oben geschilderten Paradoxie dieser Transformation zusammen, denn zugleich wurde sowohl mehr als auch weniger Demokratie zutage gefördert – eine Situation, die nicht zuletzt eine neuerliche Krise des Geistes nach sich zog. 2. Wissenschaftliche Narrative Europa funktioniert im postdemokratischen Nachkriegszeitalter wie der oben beschriebene siamesische Zwilling: Machtstreben und Ohnmachtsgefühle gehen Hand in Hand. Der Erfolg der Europapolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat diese Ambivalenz weiter manifestiert und dazu geführt, dass nicht nur die Zahl der Publikationen zum Thema Europa immens angestiegen ist, sondern dass auch innerhalb der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Euro-

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Vgl. ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 108. Ebd., S. 128.

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pa eine recht ambivalente Analyse des Konstrukts der Europäischen Union auszumachen ist. Das Ende des Kalten Krieges beflügelte zunächst die Hoffnung auf ein friedlicheres Europa, doch der Jugoslawienkrieg begrub diese Hoffnung schnell. Ein Krieg mehr, der durch seine Kriegsbiografien in die Gegenwart Europas hineinwirkt; ein Krieg mehr, der die alten Utopien, den Mythos Europa als Antwort auf den Krieg beflügelte, so schizophren es auch sein mochte. Erfolge wie Misserfolge des europäischen Projekts ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten für eine nie da gewesene Zahl an wissenschaftlicher Prosa über die europäische Idee. Ich kann nur über die Geschichtswissenschaften sprechen. Dort sticht inzwischen die immense Zahl an Publikationen zur Europäischen Integrationsgeschichte hervor,29 die es notwendig werden lässt, die so facettenreiche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Politikbereichen, mit Macht und Ohnmacht politischer Richtungsentscheidungen, die die Europäische Einigung gezeitigt hat, zu untersuchen.30 Hierbei wird virulent, dass Europa ohne Zweifel mehr bedeutet als das Europa der EU, wenngleich die EU seit ihrer Gründung unbestritten das Herzstück des neuen Europa ausmacht. Ein wesentlicher Grund für die wahre Flut an geschichtswissenschaftlichen Publikationen in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu Europa im Allgemeinen, zur EU im Besonderen scheint mir des Weiteren die Tatsache, dass neben den Verträgen zur Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft nach 1945 die nationale Außenpolitik der europäischen Staaten zusehends in eine neue Europapolitik mündet. Nichtsdestotrotz dominiert der Blick der jeweiligen Nationalstaaten auf den Prozess der europäischen Integration, so dass der Weg zum heutigen Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitestgehend über die nationale Selbstbefragung erfolgte, an deren vorläufigem Ende jedoch – und das mag überraschen – so etwas wie ein im Hinblick auf den Vergemeinschaftungsprozess zeitlich verzögertes europäisches Bewusstsein, und d.i. in erster Linie die Identifikation bzw. emotionale Signifikanz mit dem europäischen Projekt, wie es sich in den letzten Dekaden herauskristallisiert hat, aufscheint: „Bezogen auf das Beispiel Europa hieße dies, dass die Person sich als Europäer fühlt und in der Zugehörigkeit zu Europa eine Bedeutung zu erkennen vermag“, wobei angenommen wird, „dass emotionale Signifikanz nicht nur für positive Einstellungen steht.“31 Kritische bis ablehnende Einstellungen sind durchaus denkbar. Und sie waren alle Zeit virulent. Eine der bekanntesten und bis in die Gegenwart nachwirkenden Versionen der Ablehnung des Europa-Vokabulars stammt von Oswald Spengler, der in seiner Untergangsschrift vorschlug, das Wort Europa aus der Geschichte zu streichen, denn es gäbe keinen Europäer als historischen Typus.32

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Exemplarisch Trunk, a.a.O.; Jens Kreutzfeldt (2010): „Point of return“. Großbritannien und die Politische Union Europas 1969-1975; Jürgen Nielsen-Sikora, a.a.O. Exemplarisch: Guido Thiemeyer (1999): Vom 'Pool Vert' zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. München. Vgl. Rößner, a.a.O., S. 27f. Oswald Spengler (1998): Der Untergang des Abendlandes – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München.

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Nichtsdestotrotz machten auf die Notwendigkeit eines solchen Typus und eines veränderten Bewusstseins nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche Jugendverbände und Presseorgane aufmerksam, um einen Europadiskurs in Gang zu bringen. Möglich wurde ein europäisches Bewusstsein jedoch erst durch ein Narrativ, welches einerseits im Zuge der Entwicklung der europäischen Institutionen und ihrer Symbolik Schritt für Schritt fortentwickelt, andererseits durch Reisen, Medien, Kulturaustauschprogramme und Fremdsprachenerwerb forciert wurde. Hinzu kamen Geistesgrößen wie Julien Benda und Marcel Raymond, die bereits früh, auf einer Genfer Tagung im September 1946, auf der europäische Dichter und Denker dem Wesen Europas auf die Spur zu kommen versuchten, wegweisende Impulse in Bezug auf ein solches Narrativ gaben. Es gebe zwar, so ihr Fazit, noch kein europäisches Bewusstsein, doch sei dieses sehr wohl die Voraussetzung für das Fortbestehen Europas. Zu einem solchen Bewusstsein gehörten, so die Teilnehmer, der Drang nach Freiheit und Wahrheit, die Verteidigung des Humanismus, die Leidenschaft des Denkens und die Schaffung einer geistigen Einheit Europas.33 Das hieß in der Konsequenz, dass nur die „geistige“ Einheit Europas dessen Fortbestand garantieren könne. Im Nachgang dieser und der Europäischen Kultur-Konferenz 1949 in Lausanne begann aus diesem Grunde auch die intensivierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem europäischen Themenkomplex. Einer der eifrigsten Verfechter der europäischen Idee war ohne Zweifel der Schweizer Schriftsteller Denis de Rougemont: „Mit zehn Büchern und zahllosen Artikeln suchte er zwischen 1949 und 1985 seine Überzeugungen über die Zukunft Europas unter verschiedenen Blickwinkeln immer wieder in die öffentliche Debatte zu bringen … Im Wesentlichen blieb er seinen lange gereiften Grundüberzeugungen, die seit den fünfziger Jahren zunehmend in Konkurrenz zum französischen Existentialismus standen, treu: Im Zentrum aller europäischen Konstruktionen muss als absolute Referenzgröße die menschliche Person stehen. Die Einheit Europas muss die Vielfalt seiner Völker respektieren, also föderalistisch strukturiert sein … Er wurde zum intellektuellen Begleiter und Förderer einer Bewusstwerdung Europas.“34 Die Arbeiten aus den Jahren, die unmittelbar auf den Krieg folgten, bilden das Fundament zum Verständnis der europäischen Bewusstseinsbildung nach 1945.35 Dies gilt insbesondere für den deutschen Europadiskurs des 20. Jahrhunderts. Obwohl viele Historiker von damals nicht-deutscher Herkunft sind, haben sie den deutschen Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich

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Vgl. Alfred Andersch (1947): Eine Konferenz des jungen Europa. Bericht über eine Konferenz von europäischen Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern. In: Der Ruf 1 (1946/47), Nr. 6, S. 13. Franz Knipping (2007): Denis de Rougemont (1906-1985). In: Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch, hg. von Heinz Duchhardt et alii. Göttingen, S. 157-176, hier S. 172f. Vgl. insbesondere: Denis des Rougemont (1962): Europa – vom Mythos zur Wirklichkeit. München; Heinz Gollwitzer, a.a.O.; Friedrich Heer (1964): Europa – Mutter der Revolutionen. Stuttgart; ders. (1960): Die Dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters. Frankfurt a.M.; Oskar Halecki (1957): Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. Darmstadt; ders. (1966): Das europäische Jahrtausend. Salzburg.

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geprägt. Denn indem sie wie etwa Denis de Rougemont die Entwicklung der Europa-Idee bis in die Gegenwart der 1950er Jahre nachzeichneten, setzten sie im selben Atemzug und in einer Zeit, in der die ersten politischen Anstrengungen hinsichtlich eines vereinten Europas bereits angelaufen waren, das Thema Europa ganz oben auf die Agenda geschichtswissenschaftlicher Expertise und verteidigten es nicht zuletzt auch gegen eher skeptische Stimmen der eigenen Disziplin. Unter anderem auch gegen Geoffrey Barraclough, der Mitte der 1950er Jahre36 der Föderation Europas kaum Chancen der Verwirklichung einräumte — und mit dieser Einschätzung letzten Endes auch Recht behalten sollte. Die Idee Europa37 blieb im Grunde ein Glasperlenspiel ohne Anbindung an die Realität jener Zeit, in der der Humanismus von unheilvollen globalen Gegensätzen gefährdet schien und zudem rechtskonservative Kräfte der jungen Bundesrepublik wieder eine zentrale Stellung innerhalb Europas zuzusprechen wagten.38 Und so konnte in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg von einem europäischen Bewusstsein breiter Teile der Bevölkerung nicht wirklich gesprochen werden. Zwar gab es die Weg-mit-den-Schlagbäumen-Aktionen und eine allgemeine Aufbruchstimmung, mitunter sogar fachte gerade bei der jungen Generation die Idee Europa neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft an,39 doch stand all dies in keinem echten Zusammenhang mit dem politisch-ökonomischen Vorgehen auf der Ebene multilateraler Verhandlungen.40 Zur Überwindung des Schweigens, das zwischen Politik und Bürgergesellschaft herrschte, bedurfte es vielmehr jener paradoxen Situation der 1970er und 80er Jahre. Was genau war passiert? Je weiter die europäische Integration voranschritt, weitere Staaten der Gemeinschaft Anfang der 1970er Jahre beitraten und die Konturen des neuen Europa immer deutlicher ablesbar waren; je stärker die Ökonomien der europäischen Nationalstaaten schwächelten, desto stärker manifestierte sich Unbehagen bei den Völkern Europas. Es ist dieses wohl als negativ zu beschreibende Bewusstsein während der „Eurosklerose“, das einen Mentalitätswandel in Sachen Europa entscheidend mitgeprägt hat. Mit der Zunahme an Nichtregierungsorganisationen, die sich politisch engagieren, schreibt sich diese Skepsis seit dem Vertrag von Maastricht parallel zu der wachsenden Zahl an wissenschaftlicher Prosa ungehindert fort. Der Tatbestand eines veränderten, kritischen Bewusstseins gegenüber den Errungenschaften des Integrationsprozesses veranlasste Anfang der 1980er Jahre einige Historiker die Groupe de liaison, den Forschungsverbund Europäischer Identitäten im 20. Jahrhundert ins Leben zu rufen. Schon 1977 erschien ein Buch mit dem

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Geoffrey Barraclough (1955): History in a Changing World. Oxford. Rolf Hellmut Foerster, a.a.O. Vgl. dazu Rößner, a.a.O., S. 143ff. Vgl. Wilfried Loth (1990): Die Europa-Bewegung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik. In: Ludolf Herbst et alii (Hg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die westliche Welt. München, S. 63-77. Nicht zuletzt der permissive consensus verhinderte dies. Dazu: Jürgen Nielsen-Sikora, Bürger, a.a.O. Sieh auch: Barraclough, a.a.O.

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Titel Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik41, das gemeinhin als Ursprung der geschichtswissenschaftlichen Integrationsforschung bezeichnet wird und die weitere Forschung massiv beeinflusst hat. Seither ist in Deutschland die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fragenkomplex, der aus der vorangeschrittenen Einigung Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewonnen wurde, stetig forciert und damit implizit auch eine „Europäisierung“ der Geschichtswissenschaft42 geschaffen worden. Damit meine ich im Besonderen die – durchaus disparate und heterogene –Erforschung des institutionell verdichteten, politischökonomischen Integrationsprozesses, sowie die Erforschung der europäischen Moderne im Allgemeinen. Ein Maastrichter Kollege hat kürzlich gezeigt, dass dieser Zweig der Forschung sich mittlerweile in einer doppelten Neuorientierungsphase befindet, da er zum einen eine Anbindung an herrschende Tendenzen der Geschichtswissenschaft und andererseits seinen Ort innerhalb der interdisziplinär ausgerichteten EU-Studies suche.43 Die Herausforderung in diesem Zusammenhang scheint, multilaterale und multiarchivalische Aufgaben zu einer gemeinsamen europäischen Erzählung, zu einer politischen Kulturgeschichte zusammen zu führen und dabei auch transnationale Netzwerke sowie die institutionelle Komplexität der EU und die kulturelle Vielfalt der beteiligten Akteure im Auge zu behalten. Dies lässt die Geschichte Europas im Allgemeinen und der EU im Besonderen zu einem hochinteressanten und spannenden Experimentierfeld werden, das lange und in der Hauptsache auf männliche Eliten konzentriert gewesen war, und bis heute nur rudimentär an disziplinbestimmende, nationale Diskurse angebunden ist. Zum wachsenden Konglomerat historischer Thesen zur Europäischen Geschichte haben last not least der Fall der Mauer und das schon einige Male zitierte Ende des Kalten Krieges beigetragen.44 Beide Ereignisse haben die Frage nach einem europäischen Sonderweg aufgeworfen, weil nach 1989 die politischmilitärische Konfrontation ganzer Weltteile unter anderen außenpolitischen Vorzeichen stand. Darüber hinaus aber ging dieser „Krieg“ anders zu Ende als viele geglaubt hatten. Denn die apokalyptischen Szenarien, die seit Jahrzehnten kursierten und das politische Handeln in West und Ost prägten, fanden anders als erwartet nicht statt. Zukunftsorientierte Ordnungsvorstellungen mit positiver Erwartungshaltung waren an ihre Stelle getreten. Darunter befand sich insbe-

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Walter Lipgens (1977), a.a.O.; vgl. auch: Wilfried Loth (1996): Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939 – 1957. Göttingen. Vgl. Silvio Vietta, Michael Gehler (Hg.), a.a.O. Vgl. auch Pierre Gerbet (2007): La construction de l'Europe. Paris; René Girault/Robert Frank (2004): Turbulente Europe et nouveaux mondes (19141941): Histoire des relations internationales contemporaines. Paris; dies./Jaques Thobie (2005): La Loi des Géants, 1941-1964 : Histoire des relations internationales contemporaines. Paris. Kiran Klaus Patel (2010): Europäische Integrationsgeschichte auf dem Weg zur doppelten Neuorientierung: Ein Forschungsbericht. In: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010). Ders., Ulrike von Hirschhausen (2010): Europäisierung. Docupedia-Zeitgeschichte, 29.11.2010. Zum Folgenden vgl. Jens Ruppenthal/Jürgen Nielsen-Sikora (2011): Von der Notwendigkeit, sich neu zu erfinden. Die Neuordnung der EU nach dem Ende des Kalten Krieges. Zur Einführung. In: HMRG 23 (2011), S. 16-21, paraphrasiert.

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sondere die Idee des nun vollends vereinten Europas. Wollte man die offen gehaltenen Konzeptionen europäischer Einigung als Utopien im Sinne „der Fiktion eines idealen Gemeinwesens“45 verstehen, wäre der Ost-West-Konflikt jene negative Gegenfolie, „auf die das utopische Denken mit seinen Konstruktionen idealer Gegenwelten oder schwarzer Schreckensvisionen reagiert.“46 Der Ost-West-Gegensatz hat zwar bereits früher die Frage nach der Identität Europas resp. der europäischen Identität evoziert. Doch nach ´89 rückte dieses Thema wie kaum ein anderes in den Fokus auch der öffentlichen Diskussionen und hält dieser Tage als Anti-Islamismus auch vermehrt Eingang ins europäische Feuilleton. Hierbei fällt auf, dass die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund „jeder Differenz abschwören [sollen], die auf eine fremde Kultur verweist, während diese Differenz gleichzeitig durch ihre diskriminierende Behandlung unablässig hervorgehoben wird.“47 So rekurriert die Präambel des Lissabon-Vertrags auf das Thema Identität auch vorsichtig und nur in Verbindung mit der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der EU. Die Frage nach der Identität Europas zeugt nicht zuletzt von der Dialektik der europäischen Integration als Problem der Ein- und Ausschließung des Anderen/Fremden oder NichtEuropäischen und markiert gewissermaßen die Sollbruchstelle gegenwärtiger Europaforschungen. Neu für die Forschungslandschaft ist hierbei, dass, bedingt durch das facettenreiche Thema, eine zunehmend transdisziplinär ausgerichtete Europawissenschaft entsteht, die das so genannte „postromantische Europa“ der Migration und kulturellen Vielfalt in Augenschein nimmt. Schon in den 1970er Jahren hatten sich die Linguistik und die Politikwissenschaft, seit den späten 1980er Jahren dann auch zunächst zaghaft die Geschichtswissenschaft, Europa verschrieben und eine Institutionalisierung europäischer Geschichte vorangetrieben.48 Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur EU und zu Europa stützt sich hierbei auf eine enge Kooperation Europäischer Institutionen, Schulen und Hochschulen, wobei sowohl diachrone Studien zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte, synchrone Studien wie national gefärbte Europadiskurse, aber auch die Erforschung der Europäischen Kolonialgeschichte, vor allem die transnationale Vernetzung verschiedener Rassismen, also das Weißwerden Europas im Spannungsbogen von Eigenem und Fremdem im Vordergrund stehen.49 Damit verbunden ist immer wieder das kritische Hinterfragen des eurozentristischen Standpunkts, sprich der so genannten europäischen Meistererzählungen,50 die durch ihren Versuch, eine diachrone Sicht auf Europa zu gewinnen, nationale Mythen verdrängen, ergänzen oder variieren. In diesem Zusammenhang sind wohlgemerkt verschiedenste Aspekte der so ge-

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Richard Saage (1991): Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt, S. 5. Ebd. Robert Castel (2011): Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburg, S. 319. Vgl. z.B. http://www.europa.clio-online.de/site/lang__de/40208769/Default.aspx. Vgl. Patel, a.a.O., sowie: Etienne Balibar (2003): Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg. Z.B. Sebastian Conrad/Shalini Randeria (2002): Jenseits des Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.

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nannten „europäischen“ Geschichte im jeweiligen Untersuchungszeitraum oft gar nicht als „europäisch“ verstanden worden. Did Europe exist before 1700?, fragte einst Peter Burke.51 Gehen wir einen Schritt weiter und fragen: Ist das Adjektiv europäisch als Schmuckstein der Geschichte heute nicht bloß ein wissenschaftliches Konstrukt, das auf eine hybride und verflüssigte Moderne52 einigermaßen hilflos reagiert, dabei gleichwohl die Fixpunkte dieser Erzählung in den jeweiligen Nationalstaaten sucht? — Europa bliebe in diesem Fall schlichtweg „the future that never was“53, der Überrest eines früheren Glaubens und die Zukunft einer längst entsorgten Vergangenheit. Doch ich will Alan S. Milwards prophetische These nicht zu sehr überstrapazieren und skizziere nur in groben Umrissen weitere, gegenwärtige Forschungs- und Interpretationsansätze. Schnittstellen der jeweiligen Bereiche unberücksichtigt, sind das für die Debatte in Deutschland insbesondere die weiter oben bereits angesprochene, auf die Groupe de liaison54 zurückgehende Europa-Forschung. Sie untersuchte insbesondere die Anfänge der Einigungsbemühungen unter den Vorzeichen der Ideengeschichte und der verschiedenen Leitbilder.55 In den Kultur- und Geisteswissenschaften werden Leitbilder unterschiedlich verwendet. Nicht selten wird der Begriff Leitbild dabei als ein „Ideal“ missverstanden. Etwa dann, wenn der Begriff im Sinne eines kontrafaktisch antizipierten Regulativs jeder Realisierung im politischen Handlungsbereich voraus bleibt.56 Jenseits eines solchen semantischen Missverständnisses ist jedoch zumindest davon auszugehen, dass Leitbilder zu Orientierungsleistungen fähig sind. Das Ideal bildet dementsprechend einen approximativen Fixpunkt in der Auseinandersetzung mit historischen Prozessen. Andererseits wird die Leitbildfunktion nicht selten als Realisierungsmöglichkeit eines besseren Zustands gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden. So wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Das heißt, der Stellenwert eines Leitbilds wandelt sich, je nachdem, ob es der gelebten Wirklichkeit – zumindest teilweise – entspricht, oder vielmehr zu ihr in Kontrast steht. Was schließlich die Faktizität der Lebenswelt betrifft, so existieren darüber hinaus Leitbilder, denen ein Element idealer oder gradueller Verbesserungen gänzlich fehlt. Leitbilder dieser Provenienz werden gleichgestellt mit typischen Verhaltensmustern oder prägenden Vorstellungen der Gesellschaft. In der Regel werden sie auf das bezogen, was faktisch gilt und nicht länger auf das, was wün-

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Peter Burke (1980): Did Europe exist before 1700? In: History of European ideas. Vol. 1, Nr. 1, Elsevier Science. Amsterdam. Vgl. Zygmunt Baumann (2000): Liquid Modernity. Cambridge; ders. (2004): Europe: An Unfinished Adventure. Cambridge; sowie Hans-Ulrich Gumbrecht (2010): Unsere breite Gegenwart. Frankfurt a.M. So eigentlich die Umschreibung des Themenparks „Tomorrowland“, des ältesten Disneylandparks in Kalifornien. Exemplarisch: Wilfried Loth (1996), a.a.O. Zum Folgenden siehe Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (2009) (Hg.): Einführung. In: Dies.: Leitbild Europa. Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit. Stuttgart, S. 5ff. Sieh auch: Claus Leggewie et alii (Hg.) (2010): Bilder von Europa. Innen- und Außenansichten von der Antike bis zur Gegenwart. Bielefeld. Sieh Heinrich Schneider (1977): Leitbilder der Europapolitik 1. Der Weg zur Integration. Bonn, S. 10ff. Zum Teil paraphrasiert.

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schenswert sein mag. Derart geltende Leitbilder regulieren allenthalben die Einstellung zur Gegenstandswelt. Sie können die Orientierung der Menschen in den Situationen ihres Lebens entweder überhaupt erst ermöglichen oder jedoch zumindest erleichtern. Grundsätzlich gehen die Kultur- und Geisteswissenschaften davon aus, dass das menschliche Bewusstsein von der Lebenswelt sich in Leitbildern dessen, was ist, und dessen, was aufgegeben ist, konstituiert. Menschliches Verhalten richtet sich nach Leitbildern im Sinne orientierender Realitätsdeutungen, die auf eigener Erfahrung und auf der Vermittlung fremder Erfahrungen beruhen. Was in der Lebenswelt an Ansprüchen und Zumutungen, an Sinngehalten und Widerfahrnissen vorkommt, wird indessen nicht immer einfach nur hingenommen. Dem puren Widerfahrnis57 ließe sich wenigstens handlungspolitisch stets auch ein Leitbild dessen, was die Lebenswelt an Alternativen aufzubieten hat, entgegenstellen. Leitbilder haben also, das bestätigt der Blick auf die Geschichte Europas, entweder eine Orientierungsfunktion, die jedoch nur in Grenzen nachvollziehbar ist, da Leitbilder auch als Ausdruck eines nicht immer bis in alle Facetten lesbaren Prozesses interpretiert werden können, oder sie haben eine Koordinierungsfunktion, die dahingehend relativiert werden muss, dass sie nur dann trägt, wenn die alternativen Denkmuster grundsätzlich alternativ sind. Und das heißt letzten Endes: Echte Koordinierung funktioniert allenfalls von faktisch anerkannten Alternativen, nicht aber bei – auf die Systemgrenze bezogenen – Basiskonflikten. Leitbilder haben schließlich eine Motivationsfunktion. Das besagt, dass appellativ-rhetorische Strategien, insbesondere in der Politik,58 auf eine gewisse Resonanz in der Bevölkerung stoßen können. Zuletzt wurde, den Einfluss von Leitbildern im europäischen Integrationsraum untersuchend, ein Phasenmodell der europäischen Einigung entworfen. Es geht aus von der Gründungsphase zwischen 1950 und 1969, der Konsolidierungsphase 1970-1993, und der so genannten Europäisierungsphase ab 1993, die mit Verwirklichung der Europäischen Union eine neue Dimension bei der Etablierung eines europäischen Bewusstseins geschaffen hat.59 Die Europäisierungsphase ist zugleich mitverantwortlich für den geschichtswissenschaftlichen Hype in Bezug auf die europäische Geschichte im Allgemeinen, die Moderne im Besonderen. Ein weiterer wichtiger Forschungsansatz mit Fokus auf die europäische Zeitgeschichte blickt aus externer Perspektive auf den europäischen Einigungsprozess und liest ihn durch die Brille der Geschichte des Kalten Krieges, die nicht weniger stark durch verschiedene Leitbilder zwischen Ost und West geprägt

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Sieh Wilhelm Kamlah (1972): Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim. Vgl. Heinrich Schneider (1972): Leitbilder in der Politik. Wien. Vgl. dazu auch meine Ausführungen im Europa der Bürger von 2009. Wolfgang Schmale (2008): Geschichte und Zukunft der europäischen Identität. Stuttgart; Michael Gehler, a.a.O.; Franz Knipping (2004): Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas. München und Gerhard Brunn (2002): Die europäische Einigung von 1945 bis heute. Stuttgart; Jürgen Elvert, Integration, a.a.O.

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ist.60 Hingegen ist der von Alan S. Milward propagierte Ansatz eine spezifisch britische Sichtweise vor der Folie nationalstaatlicher und politökonomischer Prämissen. Milward betont, der Integrationsprozess habe letztlich zur Stärkung der Nationalstaaten beigetragen.61 Es ist die wohl stärkste und meist diskutierte These innerhalb der Europawissenschaft. Darüber hinaus untersuchen Historiker seit einigen Jahren unterhalb der politischen Leitbilder Europas seit 1945 bestimmte Politikfelder der Integration wie z.B. die Agrar- oder Währungspolitik.62 Oder sie widmen sich der Institutionengeschichte einzelner EU-Organe und betrachten somit insbesondere das Europa der Projekte.63 Die EU- resp. die Europawissenschaft ist jedoch auch selbst inzwischen Forschungsgegenstand, wenn auch bislang nur in Ansätzen und Überblicksdarstellungen.64 Ein neuer Ansatz behandelt vorrangig NGOs und zivilgesellschaftliche Akteure im Kontext europäischer Einigung. Zu würdigen ist hierbei vor allem die europäische Sozialgeschichte; auch meine eigene Arbeit zum Europa der Bürger ließe sich hier einordnen.65 Denn das Europa der Bürger ist erst seit Mitte der 1970er Jahre im Nachgang zum Pariser Gipfel von 1974 im Umlauf. Seit dem Amsterdamer Vertrag (1997) wird damit insbesondere die Herausbildung des so genannten Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts charakterisiert:66 Freier Personenverkehr bei gleichzeitiger Kontrolle der Außengrenzen der Gemeinschaft (Asyl, Einwanderung) und Kriminalitätsbekämpfung stehen seither im Fokus gemeinschaftlicher Politik. Der Europäische Rat verabschiedete auf der Basis des Amsterdamer Vertrags und der Citizens First-Initiative des Jahres 1997 zwei Jahre darauf in Tampere ein Arbeitsprogramm, das, ergänzt durch das Haager Programm 2004, die in Amsterdam festgelegten Ziele umsetzen sollte.67 Die menschenrechtskonforme und durch demokratische Institutionen und Rechtsstaatlichkeit garantierte Verpflichtung zur Freiheit, schon zu Beginn der

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Tony Judt, a.a.O.; Charles Maier (Hg.) (1978): The Origins of the Cold War and Contemporary Europe. London; Jost Dülffer (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1990. München. Alan S. Milward (1992): The European Rescue of the Nation State. Berkley CA. Exemplarisch: Thiemeyer, a.a.O.; vgl. ders. (2010): Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen. Köln; Andrew Martin/George Ross (2004): Euros and Europeans: Monetary Integration and the European Model of Society. Cambridge. Kiran Klaus Patel (2009): Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1955-1973. München. Zum Beispiel Jürgen Mittag (2007): Chance oder Chimäre? Die grenzüberschreitende Interaktion politischer Parteien in Europa. In: Ders. (Hg.): Politische Parteien und europäische Integration. Entwicklung und Perspektiven transnationaler Parteienkooperation in Europa. Essen. Wilfried Loth/Wolfgang Wessels (2001) (Hg.): Theorien europäischer Integration. Opladen; Heinz Duchhardt et alii (Hg.) (2006): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Göttingen; Jürgen Mittag, a.a.O.; Guido Thiemeyer, a.a.O.; Gabriele Clemens und Alexander Reinfeldt (Hg.) (2008): Geschichte der europäischen Integration: Ein Lehrbuch. Paderborn; Patel, a.a.O. Hartmut Kaelble (2007): Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart. Bonn; Jürgen Nielsen-Sikora, a.a.O. Vertrag zur Gründung der Europäischen Union idF VvA, Art. 29ff. www.consilium.europa.eu, sowie KOM (2004) 401 endgültig.

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1960er Jahre angemahnt,68 galt nun auch als Garant der Friedenssicherung und der Förderung des Wohlstands.69 Basierend auf den Grundsätzen der Transparenz und der demokratischen Kontrolle sollte ferner die Bürgergesellschaft in einen offenen Dialog über Ziele und Grundsätze der EU-Politik einbezogen werden. Denn nur Akzeptanz und Unterstützung seitens der Bürger, so das politische Credo, lasse die Union lebendig werden.70 Wenn gegenwärtig im Kontext der europäischen Einigung vom »Europa der Bürger« gesprochen wird, sind damit jedoch vorrangig verschiedenste gemeinschaftspolitische Maßnahmen zur Stärkung der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem europäischen Integrationsprojekt gemeint.71 Diese Maßnahmen finden nicht zuletzt ihren Niederschlag in den Definitionen und Zielen der Union.72 Auch die Freizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit sowie diplomatischer und konsularischer Schutz gehören zur konkreten Ausbuchstabierung eines »Europa der Bürger«.73 Darüber hinaus besitzen die Bürger der Europäischen Union elementare Rechte,74 die sie in Anspruch nehmen können. Hierunter fallen das Petitionsrecht, das kommunale Wahlrecht und seit 1979 auch das Recht, das Europäische Parlament direkt zu wählen, sowie die Grundrechte, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergeschrieben sind.75 Schließlich hat die Europäische Union (EU) zahlreiche Symbole geschaffen, die die Identifikation mit Europa, genauer: mit der EU anregen sollen. Die Europahymne (der letzte Satz aus Beethovens 9. Symphonie), die Europaflagge, die gemeinsame Währung (Euro), der Europatag (9. Mai) und schließlich das Motto der EU „In Vielfalt geeint“76 füllen die schon von Schmidt-Phiseldek in die Debatte eingeführte symbolische Ebene aus. Europa sei Vielfalt, Harmonie und Gegen-

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ACDP, Konrad Adenauer-Stiftung 6/695, Europäische Gemeinschaften Oktober 1959November 1967, Europa-Union Deutschland, Erklärung zur europäischen Einigungspolitik, hg. von der EUD. Vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, ABl. C 127/69 vom 21. Mai 1979: Entschließung zum Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Exemplarisch das MEMO 06/252 vom 28. Juni 2006: „Strengthening freedom, security and justice in the European Union: report on the implementation of The Hague Programme for 2005“ („the Hague scoreboard plus“). Brüssel. Dazu einführend: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (2003): Europäische Integration. Wiesbaden; sowie Jürgen Elvert (2006): Die europäische Integration. Darmstadt. Vgl. EUV, Titel I, Artikel A und B. Vgl. Art. 39 EGV (alt: Art. 8, 48 EGV); Art. 43 EGV (alt: Art. 52 EGV); KOM (2006), 712 endgültig; ABl. L 314 vom 28.12.1995, S. 73–76; Art. 20 EGV sowie 95/553/EG: Beschluß der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 19. Dezember 1995 über den Schutz der Bürger der Europäischen Union durch die diplomatischen und konsularischen Vertretungen. Siehe dazu auch: Christian Storost (2005): Diplomatischer Schutz durch EG und EU? Die Berücksichtigung von Individualinteressen in der europäischen Außenpolitik. Berlin. Allgemein: Stephan Hobe (2006): Europarecht. Köln (3. Auflage). Vgl. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, ABl. C 364/01 vom 18.12. 2000. Hinweis: „L“ steht für Rechtsvorschriften, „C“ für Mitteilungen und Bekanntmachungen, J. N.-S. „In varietate concordia“: Die jeweiligen nationalstaatlichen Übersetzungen sind hierbei ebenso vielfältig. Sie reichen von Verschiedenheit (NL) über Polymorphie (GR) bis hin zu Mannigfaltigkeit (SWE und DK).

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satz, „der Widerstreit der Ideen in der Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit, … die Suche nach dem Urgrund des Seins, das Streben nach Wissenschaft … vielfältig und ohne Ende. Europa, das ist die Suche nach Geist und Erkenntnis, nach Ordnung und Recht, nach Freiheit und Menschenwürde.“77 Neben diesen noch eher abstrakten Idealen kann auch das Europa ohne Binnengrenzen und Grenzkontrollen symbolischen Mehrwert für sich beanspruchen. Schließlich unterstützen diverse Agenturen der Europäischen Union die Mitgliedstaaten und ihre Bürger. Die spezialisierten und dezentralen Agenturen zwischen Thessaloniki und Stockholm, Warschau und Lissabon, sollen sowohl die Standortdiversifizierung als auch rechtliche, technische und wissenschaftliche Aufgaben koordinieren. Neben den Gemeinschaftsagenturen existieren mittlerweile auch Agenturen für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, für die polizeilich-justizielle Zusammenarbeit, sowie auch so genannte Exekutivagenturen mit bestimmten Aufgaben bei der Verwaltung von Gemeinschaftsprogrammen mit Sitz in Brüssel oder Luxemburg. Im Jahre 2007 wurde mit Blick auf die Implementierung der Grundrechtecharta eine entsprechende Agentur mit Sitz in Wien ins Leben gerufen. Die ersten Gemeinschaftsagenturen entstanden Mitte der 1970-er Jahre (Cedefop und Eurofound). In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe neuer Agenturen hinzugekommen (FRA, EASA, ECHA und andere).78 Auch die Oral History erfährt derzeit neuen Aufschwung und wird durch einige länderübergreifende Projekte beflügelt. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die inzwischen recht gut erforschten Anfangsjahre der Europäischen Einigung. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung interessant, die die Geschichtsschreibung parallel zur politischen Entwicklung in Europa genommen hat. An die Stelle der Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die trotz eines nachweisbaren Europadiskurses vornehmlich den Nationalstaaten huldigte, ist im 20. Jahrhundert eine europäische Geschichtsschreibung getreten, die auf das veränderte Bewusstsein, das der politische Prozess der Nachkriegszeit mit sich brachte, mit einem Paradigmenwechsel reagiert hat. Wollte man dem inflationären Gebrauch des Begriffs „turn“ die Ehre erweisen, so müsste wohl von European turn gesprochen werden. Jedoch bleibt auch dann offen, inwiefern diese Art der Geschichtsschreibung nicht auch Globalgeschichte, Politische Geschichte oder Transnationale Geschichte ist. Ich will mich an dieser Stelle mit dem Hinweis begnügen, dass im Lichte einer europäischen Perspektive nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Interpretationsmatrix selbst europäisiert und einst als Nationalgeschichte interpretierte Kontexte nun im Fokus der europäischen Einigung beleuchtet werden (müssen). Für das Zeitalter Victor Hugos und das Jahrhundert der Nationalstaaten ließen sich dann möglicherweise doch Nachweise erbringen, dass der Europa-Diskurs der jüngsten Vergangenheit seine Wiege letzten Endes im 19. Jahrhundert hat.

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Claus Schöndube (1964): Eine Idee setzt sich durch. Der Weg zum vereinigten Europa. Bonn, S. 22. Quelle: Persönliche Gespräche, u.a. mit Vertretern der EASA in Köln. Vgl. die Internetseite http://europa.eu/agencies.

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Es geht hierbei weniger um eine scheinbar beliebige Neu-Interpretation oder Umdichtung der Vergangenheit im Sinne Hayden Whites79 als vielmehr um die Verlagerung des Blickwinkels auf ebendiese unter den Bedingungen gegenwartspolitischer Phänomene und ihrer Strukturen. Darin scheint der Wunsch auf, Chronologie und Kontinuität als Prinzipien historischer Betrachtung wahren zu wollen. Zudem wird gezwungenermaßen auf nationale Semantiken rekurriert, obwohl das Thema „Europäische Geschichte“ als solches nach einer transnationalen Perspektive verlangt. In die entgegengesetzte Richtung zielt der Blick des Historikers, wenn es darum geht, zu welchem Ende man Europäische Geschichte im Allgemeinen, die Geschichte der europäischen Einigung im Besonderen studiert, und fragt, wie das vorläufige Ergebnis des europäischen Projekts bildungswissenschaftlich interpretiert werden mag. Man muss hier nicht Schlegels »rückwärtsgewandten Propheten« bemühen, auch nicht, um zu sagen, dass angesichts der Geschwindigkeit von Vertiefungs- und Erweiterungsprozessen im EU-System zumindest die Frage nach der Finalität des Integrationsprozesses, wohl weniger nach dessen Telos, mehrfach gestellt worden ist. Doch da Europapläne allgemein Sollvorstellungen prägen und Teilaspekte dieser Pläne inzwischen Schul- und Hochschulpolitik beeinflussen, liegt die weiterhin offene Frage auf der Hand. So haben sich speziell politikwissenschaftliche Theorieansätze bemüht, die Praktikabilität von EU-Institutionen zu testen und weiterzuentwickeln. Der Forschungsstand der Geschichtswissenschaft weist hier ein zwar durchaus differenziertes, teils aber auch unübersichtliches und diffuses, jedenfalls begrifflich und normativ unpräzises Spektrum an theoretischer Literatur und vertiefenden Einzelstudien auf. Das hängt damit zusammen, dass die Quellenlage zeithistorischer Forschungen immer problematisch ist und sich viele Historiker deshalb mit der Konstituierungs- und dem Beginn der Konsolidierungsphase beschäftigt haben. Sie griffen Aspekte des Einigungsprozesses heraus, die zeitlich begrenzt und in sich geschlossen waren, oder aber in prosopographischer Absicht Persönlichkeiten und deren Lebensdaten, die den Rahmen für die Beschäftigung mit dem Einigungsprozess bildeten.80 Nicht zuletzt müssen sich Historiker mit dem Vokabular der Politik- und Rechtswissenschaften auseinandersetzen, die das Thema Europa über mehrere Jahrzehnte hinweg begrifflich vorgeprägt haben. Und schließlich fällt auf, dass mit Ausnahme der oben skizzierten ersten Forschungslinie weitestgehend auf eine Einordnung des europäischen Projekts in die europäische Geschichte zugunsten der Beschäftigung mit vertikalen Strukturen innerhalb eines kleinen Zeitfensters aus Sicht einer bestimmten nationalen Perspektive verzichtet worden ist. Wo dies der Fall war, ging es beispielsweise um die Europapolitik der Großen Koalition81 und Ähnliches. Hinzu kommen – wie gesagt – seit einigen Jahren mehrere zeitgenössische Diskussionen über das Wesen der Europäischen Union und ihre – wie auch

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Hayden White (1991): Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart. Z.B. Michel Dumoulin (1999): Spaak. Brüssel; sowie Ziegerhofer-Prettenthaler, a.a.O. Henning Türk (2006): Die Europapolitik der Großen Koalition 1966-1969. München.

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immer geartete – Identität.82 Solche Diskussionen spiegeln sich in den in einzelnen Mitgliedstaaten deutlich voneinander abweichenden Ansichten über den gewünschten Integrationsgrad der europäischen Staatenwelt. Hierbei bildet der Prozess der Konstitutionalisierung, sprich: die seit der Nachkriegszeit zu beobachtende und weiter voranschreitende institutionalisierte »Verfasstheit« Europas einen zentralen Orientierungs- und Kulminationspunkt. Steht die Geschichtswissenschaft also tatsächlich vor so etwas wie einem European turn? Die Erforschung der Geschichte der Ideen und Institutionen in genuin europäischer Perspektive ist nicht mehr zu übersehen. Die Forschungsnetzwerke zur Erfassung des historisch gewachsenen europäischen Raums gedeihen; an die Stelle der bloßen Addition nationalstaatlicher Forschungsergebnisse ist eine Forschung mit europäischem Duktus getreten. Sind wir, so können wir also fragen, unterwegs zu einer multiarchivalischen, multiperspektivischen Europawissenschaft? Ins Auge fällt hierbei nicht zuletzt die Theorieoffenheit der Ansätze, wobei virulent sein dürfte, dass die Geschichtswissenschaft kein Lieferant von Elementen zur Herstellung einer europäischen Identität sein kann. Auch wird sie wohl nur begrenzt zu der Frage nach dem Wesen Europas beitragen können. Die Frage, was Europa ist, kann allerdings genau dann ins Interessengebiet der historischen Forschung rücken, wenn es darum geht, zu ergründen, wie das Wesen Europas in verschiedenen Epochen durchbuchstabiert worden ist. Werden Grenzen, Kulturen, Werte, Räume Europas ideengeschichtlich untersucht, neigen die verschiedenen Europadiskurse nicht selten dazu, eine Art zeitgenössische Ontologie zu betreiben, indem sie selbst den Sinn des Seienden, den Sinn Europas, des europäischen Projekts befragen. Das Problem, das sich hierbei auftut, ist, dass kollektive Identitäten keine Gattung im aristotelischen Sinne sind.83 Gattung als anerkanntes Kriterium der Differenzierung hinsichtlich Eigenschaften, Merkmalen und Bestimmungen scheint kaum auf gemischte Gemeinschaften übertragbar zu sein. Die Antwort auf dieses Problem wird derzeit vielmehr in der Rede vom kosmopolitischen Europa als einem Europa der Differenzen gesucht. Dieses Europa wäre nicht bloß – wie in den vergangenen Jahren – europazentriert nach innen, sondern verlöre, wie Ulrich Beck hervorhob, endlich seine »Krämerseele« angesichts des Zeitalters globaler Gefahren und übernähme Verantwortung in der Welt von heute:84 nicht Instrumentalisierung der Gefahren, sondern Durchsetzung der europäischen Integration gegen den Nationalismus im Inneren.

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Vgl. exemplarisch: Thomas Meyer (2004): Die Identität Europas. Frankfurt/Main; Claus Leggewie/Anne Lang (2011): Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München; Gudrun Quenzel (2005): Konstruktionen von Europa: Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld. Christian Stadler: Europäische Identität und ihre geistig-philosophischen Grundlagen. In: Michael Gehler, Silvio Vietta, a.a.O., S. 271-186. Ulrich Beck/Edgar Grande (2004): Das kosmopolitische Europa. Frankfurt am Main.

V Europäische Kultur und Europäische Identitäten nach 1989 „Du weißt wovon wir sprechen.“ (Falco, Europa) Wir sahen, wie sehr in Sachen Europa geschichtswissenschaftliche, soziologische, rechtswissenschaftliche und philosophische Aspekte zusammenhängen und danach verlangen, dass die entsprechenden Disziplinen auch zusammen arbeiten. So verweist Seyla Benhabib zu Recht auf einen kosmopolitischen Teilerfolg, da sich das internationale, zwischenstaatliche Recht seit dem Zweiten Weltkrieg in ein kosmopolitisches Recht, d.i. ein internationales, öffentliches Recht verwandelt habe, welches die Macht souveräner Nationalstaaten binde und unterordne.1 Dabei gilt es nichtsdestotrotz zu berücksichtigen, dass die Ermächtigung der supranationalen Akteure immer auch eine Entmächtigung der Bürger Europas nach sich gezogen hat, weil die 1993 etablierte Europäische Union ein dezentrales, territorial differenziertes und zunehmend von Eliten dominiertes transnationales Verhandlungssystem darstellt. Dies scheint mir zugleich einer der Hauptgründe für das zusehends institutionelle Paradox der heutigen EU zu sein: Die Diskussion über die Einbeziehung des Eigenen, nämlich die Hinwendung zu den Bürgerinnen und Bürgern Europas, trug zur Herausbildung der Kluft zwischen Europas Bürgern und politischer Elite resp. europäischen Institutionen bei. Juri Lewada nannte das schlicht und treffend: „Zuschauerdemokratie“. Eine Form der Demokratie, die den Ansprüchen und Anforderungen an das europäische Projekt, wie wir sie durch Walter Benjamin und Hannah Arendt skizziert haben, diametral entgegenstehen: Kein acting in concert weit und breit. Diese Zuschauerdemokratie wird nicht zuletzt virulent, wenn man sich die zahlreichen Kulturprogramme der Europäischen Union in den vergangenen drei Jahrzehnten einmal näher ansieht. Ich will hier nur einen Baustein des kulturellen Europas herausgreifen und kritisch hinterfragen — das Projekt „Kulturhauptstadt Europa“.2 1. Was ist (europäische) Kultur? Zunächst einmal ist Kultur schlicht die Überwindung der Barbarei. Insofern ist Europa nach 1945 in erster Linie ein kulturelles Projekt. Die subtilste Definition von Kultur, die ich kenne, stammt aus der Feder des Schriftstellers Michael Ende: „Aus einem Rokoko-Teelöffel“, sagt Ende, ließe sich „im Grunde ganz Versailles

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Seyla Benhabib (2008): Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte. Frankfurt a.M. Vgl. Jürgen Mittag (2008): Die Idee der Kulturhauptstadt Europas: Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik. Göttingen. Zum Folgenden sieh: Jürgen Nielsen-Sikora (2011): Bruchstück 2020. Über Kultur, Stadt und das Kap Europa. In: Klaus Servene (Hg.): Grenzenlos. Europabrevier 1. Mannheim, S. 192-207.

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rekonstruieren … Wenn Sie eine Kultur haben, haben Sie immer dieses Prinzip der Wiederholung des Ganzen noch einmal im Detail.“3 Über die Qualität einer Epoche informiert uns das Bruchstück: Michael Ende greift mit seinen Worten eine Überzeugung des 19. Jahrhunderts auf, die nicht nur bei Droysen, Burckhardt und Herder zu finden ist. Es handelt sich um die Vorstellung, im Individuum spiegle sich die ganze Menschheit wider, und der Einzelne schreibe die Geschichte durch sein Leben fort. Noch in den Erläuterungen des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Fredric Jamesons zur Logik der Kultur heute taucht diese Idee auf. Jameson erzählt von dem Hotel Bonaventure in Los Angeles, das sich dem Verfall der Stadt widersetzt und einen totalen Raum erschafft, der Los Angeles als Utopie en miniature reproduziert.4 Reizvoll ist die Vorstellung, einzelne Menschen und Dinge seien das große Ganze im ganz Kleinen allemal dann, wenn man Walter Benjamins Deutung ernst nimmt und in den Dokumenten der Kultur nach denen der Barbarei sucht. Die Idee, aus der Ruhr 2010 GmbH das ganze Elend der europäischen Kultur zu rekonstruieren, drängt sich mir unweigerlich auf. Ist das möglich? Ich denke hierbei nicht zuletzt an „Kulturaktionen“ wie die Loveparade. Sie gehörte 2010 zum tödlichen Programm im Rahmen der Initiative Kulturhauptstadt Europas. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte wenige Tage nach der Katastrophe von Duisburg: „Die Loveparade kam unter das Dach der Europäischen Kulturhauptstadt, weil diese so gut wie alle auch nur irgendwie als kulturell geltenden oder einzustufenden Ereignisse, die in diesem Jahr zwischen Duisburg und Dortmund, Hamm und Hamminkeln, Wesel und Witten stattfinden, unter ihr Dach genommen hat: Nicht nur die mehr als dreihundert Veranstaltungen, die sie selbst angeregt, ausgewählt und ausgerichtet hat, sondern selbstverständlich auch die hier jährlich stattfindenden Festivals wie Ruhrfestspiele und Ruhrtriennale, Mülheimer Theatertage und Oberhausener Kurzfilmtage, Duisburger Akzente, Klavierfestival Ruhr oder Extraschicht der Industriekultur und schließlich auch Treffen, die jedes Jahr die Stadt wechseln und wegen der Kulturhauptstadt 2010 im Revier Station machten, darunter die Deutschen Meisterschaften im Poetry Slam oder Kongresse von Architekten, Ingenieuren und Denkmalpflegern.“5 Jede Pommes- und Bierbude, jede Spaßmeile und jeder Raver werden somit zu den Details, in denen sich, wie Michael Ende sagt, das Ganze der Kultur wiederholt. Und es wiederholt sich auch der Ausverkauf der Devotionalien nach der Show: Ob Zuckertütchen, Rücksäcke, Fußbälle, T-Shirts: Der Kulturabfall, der Ramsch, wird irgendwann verscherbelt. Man sieht schnell ein, dass eine so geartete Kultur seit dem Ende des Kalten Krieges unter einem radikalen Verwertungsinteresse steht, das der „kognitive

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Michael Ende im Gespräch mit Christian Linder. In. Christian Linder (2011): Noten an den Rand des Lebens. Portraits und Perspektiven. Berlin, S. 529. Frederic Jameson (1991): Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham. Andreas Rossmann (2010): Nach der Loveparade-Katastrophe — So wollte niemand Recht bekommen. FAZ vom 26. Juli 2010. Zitiert nach: www.faz.net/themenarchiv/2.1187/nach-derloveparade-katastrophe-so-wollte-niemand-recht-bekommen-11008992.html.

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Kapitalismus“6, besser: die Kulturindustrie in Form von Merchandising und Branding, diktiert. Denn die Städte erhoffen sich vom Tragen des Titels einer europäischen Kulturhauptstadt für ein Jahr in erster Linie „erhöhte Aufmerksamkeit und zahlreiche Besucher“7, sprich: mehr Tourismus, während parallel hierzu die Grenzsicherungen auf die Staaten vor die Tore der EU verlagert und Internierungslager für Flüchtlinge — die human cargos eines als negativ deklarierten, unheilvollen Tourismus — eingerichtet werden. An Europas Kultur partizipieren darf schließlich nur derjenige, der zum Kapital der Kultur bzw. zur Kultur des Kapitals beiträgt. Was ist geblieben von der Idee Europa als Antwort auf die Bruderkriege des 20. Jahrhunderts? Was ist geblieben von dem Anspruch Europas als historische Gedenkstätte, als Ort der Erinnerung an den Völkermord an den Juden, von Europa als Ort einer gemeinsamen Zukunft, eines friedliebenden Kontinents, der als Garant sozialer Rechte und multilateraler Politiken für das europäische Gemeinwohl sorgt? Was ist geblieben von der Verpflichtung zur Rechenschaft, von der Verantwortung gegenüber dem Anderen. Die Antwort ist so einfach wie traurig: Es ist die „Entwicklung eines hochwertigen und innovativen Kulturtourismus.“8 Dieser sei inzwischen notwendig, so das Diktum der EU-Institutionen, wobei „die Wünsche der Besucher mit denen der örtlichen Bevölkerung in Einklang zu bringen“9 seien. Durften aus diesem Grunde — nur kurz nachgefragt —, durften deshalb einst die Säcke mit den Leichen der Flüchtlinge in Absprache mit Libyens Ex-Diktator Gaddafi aus Italien zurück nach Nordafrika geschickt werden?10 Welchen Beitrag leistet so ein Leichensack eigentlich zur Kulturgeschichte Europas? Und zum Ende der europäischen Idee, wie sie aus dem Geist der Nachkriegszeiten entstanden ist? Muss man die 20 000 Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahrzehnten an Europas Stränden und im Mittelmeer ertrunken sind, nicht den Leichenbergen der Weltkriege wie auch den 21 verstorbenen Ravern beiseite stellen, um sich das wahre Ausmaß der europäischen Kultur und des nackten Lebens11 vorstellen zu können? Wäre es nicht angebracht, einmal Tarifa, Lampedusa oder Santa Cruz de Tenerife als Kulturhauptstadt Europas anzudenken? Denn ohne sie ist die europäische Kultur des 21. Jahrhunderts kaum verstehbar: „Kultur ist das, was der menschlichen Existenz und den Beziehungen zwischen den Menschen einen Sinn gibt. Sie ist nicht nur ein Erbe, das es zu bewahren gilt, sondern eine gemeinsame Art zu leben und schöpferisch zu sein, auf der Grundlage eines allgemeinen Bil-

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Hanno Pahl/Lars Meyer (Hg.) (2007): Kognitiver Kapitalismus. Soziologische Beiträge zur Theorie der Wissensökonomie. Marburg. Zitiert nach: www.kultur2010.de; sieh auch: http://ec.europa.eu/culture/our-programmesand-actions/doc433_de.htm Ebd. ABl. L 166 vom 1.7.1999, S. 1–5. Vgl. Judith Kopp (2011): Europa verliert seine Torwächter. In: http://www.migrationboell.de/web/migration/46_2933.asp. Giorgio Agamben (2002): Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M.

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des vom Menschen, von seiner Würde und seiner Bestimmung“12 sagte Denis de Rougemont im Jahre 1949 auf der schon erwähnten europäischen Konferenz in Lausanne. Was ist heute noch übrig von diesem Anspruch, dem allgemeinen Bild des Menschen, seiner Würde, da es doch vorrangig nur darum geht, so die EU-Kommission, den „Reichtum, die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten des kulturellen Erbes in Europa“ sowie „ein besseres Verständnis der Bürger Europas füreinander zu ermöglichen?“13 Wer sind diese Bürger Europas? Die Kulturwissenschaftler meinen, ehe man die Orte des »guten Lebens« betreten dürfe, müsse man heutzutage „seine Berechtigung, Kreditwürdigkeit und Unbescholtenheit nachgewiesen haben. Dies geschieht an der Grenze, am Ticketschalter des Flughafens, beim Einchecken im Hotel, bei der Benutzung des Geldautomaten, aber auch indirekter, durch Überwachung und Verdächtigung von Sozialverhalten, Kleidung, Hautfarbe. Nur wer diese Kontrollen passiert, genießt Bürgerrecht in der tourist city.“14 Der Tourist wird auf diese Weise zum Modell des Bürgers schlechthin. Aber eben nur der Tourist, das heißt der mobile, flexible, anpassungsfähige und gut situierte Mensch ist ein Mensch der Kultur, wie er Europa vor Augen schwebt. Dieser Mensch ist jemand, „der kommt, um nicht allzu lange zu bleiben; der sein Geld mitbringt, der konsumiert … Der Tourist ist der perfekte postpolitische citoyen, für den Städte gebaut werden, aus denen jede Spur der Polis getilgt ist.“15 Tilgung der Polis durch modernen Städtebau: Diese viel sagende These zur europäischen Kultur unterstreicht auch die EU-Kommission, indem sie hervorhebt, wissenschaftliche Studien belegten, dass die Veranstaltungen rund um das Label Kulturhauptstadt „eine wertvolle Gelegenheit“ biete, „Städte umzugestalten.“16 Inzwischen sind seit Mitte der 1980er Jahre mehr als vierzig Städte im Namen der europäischen Kultur umgestaltet worden. Das Prinzip, das dieser Umgestaltung zugrunde liegt, heißt im Fachjargon Gentrifizierung und meint „die Maschinerie, die die Teilhabe an der Stadt über Geld und Herkunft regelt.“17 Am Ende der Kultur stehen die Image Cities, die Marken-Städte,18 die bewachten Wohnkomplexe der Kontrollgesellschaften, stehen fragmentierte, erbeutete, unwirtliche Städte, kaum bezahlbarer Wohnraum und die Flucht ohne Ende in neue urbane Räume, nachdem die alten zu Business Improvement Districts erklärt und komplett restrukturiert wurden. Von der Kultur bleiben pulsierende Metropolen wie Athen, Genua, Liverpool, das Ruhrgebiet oder demnächst vielleicht Leipzig und das Rhein-Neckar-Dreieck, das heißt: ehemals öffentlicher Grund und Boden, der in die Hände von Immobilienhaien und Finanzbehörden gegeben wor-

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Zitiert nach: Nielsen-Sikora, Bruchstück 2020, S. 196. Sieh: http://ec.europa.eu/culture/our-programmes-and-actions/doc433_de.htm. Tom Holert/Mark Terkessidis (2006): Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung. Köln, S. 213. Ebd., S. 262. http://ec.europa.eu/culture/our-programmes-and-actions/capitals/european-capitals-ofculture_de.htm. Christoph Twickel (2010): Gentrifidingsbums oder Eine Stadt für alle. Hamburg, Vorwort. Fritz Pleitgen et alii (Hg.) (2010): RUHR. Vom Mythos zur Marke: Marketing und PR für die Kulturhauptstadt Europas RUHR. Göttingen.

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den ist. Die Städte Europas haben „ihren utopischen Charakter verloren“, sie sind „aus nichts geworden“ und wollen „nichts werden als eine Maschine der Differenzierungen.“19 Freilich ist die EU-Kulturpolitik nur ein Baustein in diesem perfiden Finanzpuzzle, bei dem an die Stelle der politischen Willensbildung finanzökonomische Mechanismen getreten sind.20 Jürgen Habermas hat in diesem Zusammenhang unlängst den Konstruktionsfehler der Währungsunion beklagt, der dazu geführt hat, das Politik bloß noch „unter Strafandrohung Mehrheiten“21 organisiert. Die tragende Säule der EU-Politik, der Intergouvernementalismus bedinge geradezu eine postdemokratische Machtausübung. Eine mentalitätsgestaltende Politik sei im System des europäischen Exekutivföderalismus nicht sichtbar.22 Stattdessen herrsche eine wirtschaftliche Blickverengung vor, die zum Auseinanderdriften der Nationalökonomien führe, zugleich fehlten die Kompetenzen zur Harmonisierung der Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU, so Habermas.23 Eine „europaweite Entsolidarisierung“, begleitet durch die „Imperative von Großbanken und Ratingagenturen“, gebiert europamüde „frustrierte Bevölkerungen,“24 eine „normativ abgerüstete Generation“25 sowie eine „normativ entkernte Politik.“26 Eine Stabilisierung der EU sei, so Habermas weiter, nur durch „hinreichende demokratische Verrechtlichung“27 und durch die Rückbesinnung auf die Menschenwürde als Quelle, „aus der sich die Gehalte aller Grundrechte speisen“28, möglich. Immerhin stehe das Verhältnis von Politik und Gesellschaft zur Diskussion.29 Angesichts der Tatsache, dass die entsprechenden Instrumente für eine Erfolg versprechende gemeinsame Wirtschaftspolitik fehlen,30 ist dies kein unerheblicher Aspekt für die Fortsetzung eines gemeinschaftlich organisierten Europas, dessen weitere Existenz für Habermas nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Weltgesellschaft sein kann. Seine Hoffnung auf die Etablierung eines damit einhergehenden Weltparlamentes teile ich angesichts der Wirtschafts-, Finanzund Städte- und Kulturpolitik der EU nicht. Die jüngsten politischen Entwicklungen geben wenig Anlass zur Hoffnung auf einen Zustand, der gegenüber den gegenwärtigen Errungenschaften als Fortschritt bezeichnet werden könnte. Zwar konstatierte die Hauptstadt-Jury 2010: „Die Kultur Europas ist eine Kultur der Städte.“31 Wo aber sind diese Städte? Was ist von ihnen übrig geblieben, nachdem die Architekten und der Stadtentwicklungsausschuss, das OrgaTeam und die politischen Repräsentanten sie ausgehöhlt und bis zur Unkennt-

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Markus Metz/Georg Seeßlen (2012): Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science und Pulp Fiction. Berlin, S. 119. Jürgen Habermas (2011): Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Frankfurt a.M., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd S. 9. Ebd S. 40. Ebd S. 41. Ebd S. 116. Ebd S. 129. Ebd S. 55. Ebd S. 16. Ebd S. 84. Vgl. S. 121. Vgl. www.ccp-deutschland.de.

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lichkeit ausgestopft haben? Man tut ja gerade so, als unterstützten die Städte Europas die europäische Kultur. Dabei machen sie sie seit Jahrzehnten nur kaputt. Bedeuten wirtschaftliche und kulturelle Dynamik einer Metropole nicht auch immer Verdrängung, Ausgrenzung und ungleich verteilte Teilhabe? Wer kümmert sich um diese Unkultur im Namen der Kultur? Kein geschriebenes Wort ersetzt in diesem Fall die Notwendigkeit, verantwortungsvoll zu handeln. Was aber passiert? — Die Hauptstadt-Jury 2010 kam einstimmig zu der Entscheidung, „dass nur eine gemeinsame Bereisung eine angemessene Beurteilung und Würdigung der einzelnen Kandidaturen“32 verspreche. Dies impliziert die Vorstellung, nur der Tourist besitzt die nötige Urteilskraft, um in „die Gesichter einer realen Stadt zu blicken.“ Dazu gehörte auch, den Dialog mit Repräsentanten der Städte, vom Oberbürgermeister bis zur ansässigen Künstlerschaft, zu führen, sowie „eine halbe Stunde Präsentation des Projekts durch seine maßgeblichen Vertreter in einem repräsentativen Gebäude.“33 Repräsentation der Maß gebenden Menschen, das heißt der souveränen Macht, die Kultur allererst definiert und sie zugleich auf weniger als eine Schulstunde zusammenkürzt. Auch an diesem Detail lässt sich leicht ablesen, wie es um das Ganze der Kultur im 21. Jahrhundert bestellt ist: Kultur als reiner Wirtschaftsfaktor. Es geht darum, so die Jury, „Schlüsselpunkte und besondere Orte des Wachstums“34 aufzusuchen, um sich ein Urteil zu bilden, begleitet von einem „stets freundlichen Abschied.“35 Muss ich erwähnen, dass einer der prominentesten Schriftsteller der Gegenwart Mitglied dieser Jury war, deren maßgebliche Frage im Vorfeld der Hauptstadtentscheidung lautete, wie sehr die Bewerberstadt „den Titel (und das Label)“ braucht, „um Investoren und Touristen anzuziehen und sich aus der kommunalen Misere zu ziehen“?36 Es gehe ferner um die „mediale Verbreitung und touristische Wirkung der Bewerbung.“37 Die Auswahl der innerstaatlichen Städtekandidaturen in Deutschland erfolgte sodann „nach einem zwischen dem Bundesrat, der Kultusministerkonferenz und dem Auswärtigen Amt einvernehmlich festgelegten Verfahren.“38 „Verfahren“ gehört zur Terminologie der Technokraten. Verfahren sind alles, was von der europäischen Idee, geboren aus der existenziellen Not der Menschen, noch übrig geblieben ist. Doch was ist mit den Menschen heute? Und der Kultur der Gegenwart? „Nein, nein, ich bin nicht da, wo Ihr mich vermutet, sondern ich stehe hier, von wo aus ich Euch lachend ansehe“39, möchte ich mit Michel Foucault den Protagonisten solcher „Verfahren“ zurufen und fragen: Und die Kunst, die sich nicht einspannen lässt, die Literatur, die Beulen verursacht, das freie Theater, das kri-

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Die Empfehlungen finden sich unter der Adresse: kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/JuryEmpfehlungen_1.pdf. Stand Frühjahr 2012. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Michel Foucault (1990): Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M., S. 30.

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tisch bleibt, auch wenn es schmerzt? Und vor allem: Die Würde? Wer baut mit an einem Schiff der Kultur, auf dem Platz ist für alle? Ist es zu spät? Denn zurück bleiben die Bruchstücke, die man irgendwie zusammenbringen muss. Irgendwie. Weniger laut, bedachter, vernünftiger. Wie, wenn wir wieder leiser und diskursiver Europas Kultur feierten? 2020 zum Beispiel böte einen Anlass, einmal kritisch Europas Kulturbegriff zu hinterfragen. Mannheim als Kulturhauptstadt im Jahre 2020 wäre zum Beispiel ein geeigneter Ort, eine Einladung an die Ausgeschlossenen auszusprechen; ein geeigneter Ort, über den Konflikt zwischen Gesetz und Freiheit nachzudenken — in der Politik, in der Literatur, auf der Bühne. Über jenen Konflikt, der Thema der Uraufführung von Schillers Räuber war, eben in Mannheim im Jahre 1782. Geld, das für kulturelle Veranstaltungen im Rahmen der Hauptstadt-Initiative zur Verfügung steht, könnte eingesetzt werden, um einen anderen Kurs, einen Kurs jenseits der lauten, tobenden und zerstörerischen Events einzuschlagen. Das Schiff der Kultur könnte Kurs nehmen auf das, was der französische Philosoph Jacques Derrida einst Das andere Kap nannte. Dabei geht es darum zu erkennen, dass es keine kulturelle Identität Europas ohne Differenz zu sich selbst geben kann. Europa muss in die Lage versetzt werden, eingeschlagene Richtungen ändern zu können, den politischen und gesellschaftlichen Kurs neu zu bestimmen und die Zielvorstellungen zu wechseln: „Wie, wenn Europa nichts anderes wäre als die Eröffnung, Auftakt einer Geschichte, für die die Kursänderung, der Wechsel der Kaps, der Bezug zum anderen Kap oder zum anderen des Kaps sich als eine fortwährend bestehende Möglichkeit erweist? Könnte Europa in gewisser Hinsicht die Verantwortung tragen für diese Öffnung, die das Gegenteil des Ausschlusses ist? Könnte Europa auf konstitutive Art die Verantwortung für diese Öffnung sein? So, als stünde der Begriff der Verantwortung im Zuge seiner eigenen Befreiung noch für eine europäische Geburtsurkunde ein?“40 Europa als Kap, als geistige Geografie. Daran ließe sich nicht nur 2020 arbeiten. An jenem Kap, das Spitze, Haupt und Kapitän ist und den Ausgangspunkt für Entdeckungsreisen bildet. Europa wäre so gesehen das Kap des Anderen, vor dem es sich zu verantworten hätte. Zugleich muss sich Europa dem Kap des Anderen in Erinnerung rufen. Die Verantwortung, die damit einherginge, wäre nicht frei gewählt, sie wäre vielmehr auferlegt: Die kapitale Pflicht zur Rechenschaft, eine Antwort auf aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen. Die Europäer müssen sich samt ihrer Kultur, ihrer Politik, Literatur und Kunst auf jene zubewegen, die sie nicht sind, auf das andere Kap. Das Kapital Europas gehorcht somit nicht allein dem Gesetz der Ökonomie, es ist zugleich das kulturelle Kapital, das auf dem Spiel steht. Mit dieser Art Kapital geht zugleich die Verantwortungspflicht Europas einher, die uns nicht nur zwingt, „den Fremden aufzunehmen, um ihn einzugliedern, sondern auch, ihn aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen.“41

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Jacques Derrida (1992): Das andere Kap. Zwei Essays. Frankfurt a.M., S. 17. Ebd., S. 55.

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Die Andersheit annehmen: Die Kulturhauptstadt Europas 2020 steht vor einer gewaltigen politischen Aufgabe. Ohne eine neu durchdachte Kultur der Verständigung wird sie sie nicht bewältigen. Und ohne eine Literatur, die zum Verständnis und zur Verständigung beiträgt, gleicht das Kap Europa einmal mehr einem x-beliebigen Rokoko-Teelöffel, der das Ganze lediglich im Detail wiederholt. 2. Die Geburt der Identität aus dem Geist der Freundschaft Um dies zu verhindern, muss man sich vor allem die psychopolitischen Dynamiken der vergangenen Jahrzehnte im Herzen Europas anschauen, die geistigen Anstrengungen, im Katastrophenschatten Freundschaften neu zu definieren. Mir scheint die politische Neudefinition von Freundschaft, wie sie vor allem der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk im Jahr 2008 vorgelegt hat,42 in der Tat wesentlich sowohl für das Verständnis Europas als auch für seine Nachbetrachtungen, sprich: für den Part der Geschichtswissenschaft, der sich mit dem Geschehen auf europäischem Boden beschäftigt. Zum Thema Freundschaft ist zu sagen: Wer sich um die Kennzeichen oder gar das Wesen von Freundschaft bemüht, wird rasch einsehen, dass Freunde grundsätzlich keine Verträge schließen, sondern auf Sympathie, Worte und Gesten vertrauen, oder — wie die Freundschaft zwischen Achill und Patroklos eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat — den bedingungslosen Einsatz und die Aufopferung für den Anderen leben. Dort aber, wo Protagonisten der Geschichte dazu tendieren, Freundschaften mit Tinte und Papier zu besiegeln, handelt es sich um Beziehungen eigener Qualität, die von symbolischen Handlungen und Kontrollzwängen gleichermaßen durchdrungen sind. Freundschaftsverträge berufen sich auf eine Ästhetik des Verzichts. Denn im Gegensatz zu Nichtsangriffspakten sind sie von militärischen Ambitionen in der Tat gänzlich befreit. Die deutsch-französische Freundschaft steht paradigmatisch für diese Ambition, Freundschaft mit Hilfe von Ratifizierungsmaßnahmen zu vertiefen. Stimmt es, wie so oft behauptet wird, dass Marianne und Michel das motorisierte Tandem der europäischen Einigung bilden, so hat diese Art der Freundschaft weit reichende Konsequenzen für das Verständnis der Geschichte Europas. Diese Vermutung, mehr scheint es im Moment noch nicht zu sein, deckt sich im Kern mit einer der wohl ambitioniertesten Theorien zur Nachkriegszeit, in der der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk beobachtet haben will, dass sich Franzosen und Deutsche seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer weiter voneinander entfernt, wohingegen sich die politischen Beziehungen einer „heilsamen Freundschaft“ angenähert hätten.43 Adenauer und de Gaulle seien unter den Bögen von Reims, wo einst, am 7. Mai 1945, die deutsche Kapitulation unter-

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Zum Folgenden vgl. Peter Sloterdijk (2008): Theorie der Nachkriegszeiten: Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Frankfurt a.M. Ebd., S. 64.

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zeichnet worden war, zu einer Politik der Entflechtung vorgestoßen, die den Kontinent nachhaltig geprägt habe. Waren beide Nationen seit den napoleonischen Kriegen, vielleicht gar seit der Kanonade von Valmy 179244 politisch, militärisch und kulturell ineinander verhakt und von einer gegenseitigen pathogenen Faszination geprägt, so sei der 8. Juli 1962 der Beginn des Loslösungsprozesses gewesen, in dessen Zentrum ein gegenseitig wachsendes Desinteresse stünde. Dahinter steht die Annahme, dass die unheilvollen Verstrickungen durch den Elyssée-Vertrag zwar aufgelöst worden sind, der Vertrag jedoch kein neues Strickmuster außer sich selbst bereithält. Er bietet ein Entflechtungsprogramm, dessen Knoten er ist, ohne etwas Verbindendes/Verbindliches zu schaffen. Denkt man sich die europäische Nachkriegsgeschichte als Geschichte der kontrollierten Symbolfreundschaften und fragt, welche Antworten von der Geschichtswissenschaft als Reflexionsinstrument dieses Prozesses auf europäischem Boden zu erwarten, respektive, welche Erzählstränge im Hinblick auf die europäische Nachkriegszeit bis dato verfolgt worden sind, so trifft man diesbezüglich doch weitgehend auf blinde Flecken, obwohl de Gaulle und Adenauer in Reims ihre Nationen entnapoleonisiert und für ein Ende der, so Sloterdijk, „mimetischen Reizungen“45 gesorgt haben. Mit Adenauers Besuch schien tatsächlich ein Jahrhunderte währendes Zeitalter der Kriegsvorbereitungen und Kriegsdurchführungen, der Beziehungsdeformationen und Gewaltexzesse ad acta gelegt. Was folgte, war, glaubt man dem Philosophen, eine Phase der Tiefenerholung der Nachkriegszivilisation. Der Beschluss der Deutschen, sich mit den Siegern „in einer Friedensordnung höherer Stufe zusammenzuschließen“46 ist allgemein bekannt unter dem Stichwort Westintegration. Sloterdijk spricht an dieser Stelle von Metanoia, von einem Umlernen „im Dienste erhöhter Zivilisationstauglichkeit“47, deren Früchte allmählich geerntet werden könnten. Damit stellt sich gleichsam die Frage der Nachbearbeitungen und Nachbetrachtungen dieser metanoetischen Kehre ein, sprich: Welche Bedeutung der Europäischen Geschichte im Sinne eines Teilaspekts der Geschichtswissenschaft der Gegenwart angesichts der Entflechtungsdynamiken auf europäischen Boden zukommt, und in welchem Verhältnis diese zu anderen Teildisziplinen, etwa zur Globalgeschichte und ihrer gegenläufigen Verflechtungsthese, steht. Selbst Teil der Europäischen Geschichte der Nachkriegszeit und insofern wenigstens implizit Gegenstand ihrer eigenen Analysen, ist die Europawissenschaft wie keine andere Disziplin von institutionalisierten Erinnerungsarbeiten durchdrungen. Hat sie die Entflechtungsgeschichte mittels Symbol- und Kontrollpraktiken zum Gegenstand, so leidet sie gerade in ihrer wissenschaftlichen Analyse an Verflechtungstendenzen auf mehreren Ebenen. Zum einen ist es die geforderte Selbstreflexivität, da sie Teil ihres eigenen Untersuchungsgegenstandes in einem unabgeschlossenen Prozess ist.

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Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 69. Ebd., S. 18 Ebd.

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Andererseits dringen Theorien anderer Disziplinen wie der Rechtswissenschaft, der Volkswirtschaft und der Politikwissenschaft in ihre eigenen Betrachtungen ein. Schließlich muss sich die Europawissenschaft zu Konkurrenzmodellen wie der Globalgeschichte abgrenzen, um ein eigenes Profil und somit eine Legitimationsbasis entwickeln zu können. Schließlich steht die Debatte über die politischen Fundamente der europäischen Einigung wie auch die Frage nach ihrer Legitimation streng genommen immer noch aus. Das meint die Frage, nach welchen Maßstäben und Kriterien politische Entscheidungen auf dem Weg der europäischen Einigung angelegt worden sind, und inwiefern diese sich im 21. Jahrhundert noch verteidigen lassen. Gibt es ein übergreifendes Moment, das wie eine Klammer all die politischen Meilensteine umschließt, und das dem europäischen Projekt auch im 21. Jahrhundert auf lange Sicht Sinn zu verleihen vermag?

ZWEITER TEIL

I Europa neu denken Lässt sich angesichts der oben beschriebenen Entwicklung Europa neu denken? Lässt es sich überhaupt noch denken? Ich will ganz bewusst eine persönliche Antwort wagen; eine Antwort, die sich vom akademischen Ton des ersten Teils ein klein wenig abhebt und die eigene Betroffenheit mit reflektiert, wohl wissend, dass ich mich damit in der universitären Welt viel stärker angreifbar mache. Diesem Versuch stelle ich vorab einen Satz aus Primo Levis AuschwitzBericht voran: „Ehe die Leichen in die Öfen geschoben wurden, schnitten spezielle Einsatzkräfte denen, die noch welche hatten, die Haare ab, d.h. allen, die gleich bei der Ankunft ihres Transportes zur Schlachtbank geführt worden und erst gar nicht in die Lager gelangt waren; auch Goldzähne, sofern vorhanden, brachen sie heraus. Die Asche wurde dann bekanntlich in den Lagern und in den Gärten als Düngemittel verstreut.“1 Es sind Sätze wie diese, die den eingangs zitierten Matei Viüniec veranlasst haben, das Fundament Europas in den übereinander liegenden Schichten der Kriegstoten zu sehen. Die toten Soldaten und Zivilisten, die unschuldigen Frauen und Kinder und die europäischen Juden halten eine Botschaft für die nachfolgenden Generationen in Europa bereit. Sie lautet: Europa ist, mit allen Höhen und Tiefen, die es in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat, stets ein politischer Antwortversuch auf die Barbarei gewesen, ein Friedensprojekt, das den Katastrophen der Geschichte eine Absage erteilen möchte. Doch auf einem Friedhof baut man keine Häuser. Deshalb sollte der europäische Traum, in dem Europas Einheit von Menschen getragen wird, die den Frieden lieben, einen neuartigen historisch-politischen Bezugsrahmen offerieren, in dem sich die Menschen von ihren nationalen, modernen Ideologien befreien und zusammen an einer gemeinsamen Geschichte arbeiten konnten: Der Katastrophengeschichte Europas sollte ein Acting in concert folgen. Der französische Schriftsteller Paul Valéry betonte unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg,2 es seien Träume, die den Menschen von allen anderen Lebewesen absondere, und Europa brauche wieder Träume, um zu sich selbst zu finden nach all den Wirren und dem Chaos des Krieges. Mit dem europäischen Traum nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein neuer Abschnitt der Geschichte begonnen. Seit Walter Benjamins Lektüre der Moderne konnte sich dieser Abschnitt der Geschichte jedoch nie wieder dem Blick zurück auf die Katastrophengeschichte Europas entziehen. Gerade der Blick zurück trug

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Primo Levi (2006): Bericht über Auschwitz. Berlin, S. 94. Paul Valéry (1919): La crise de l´Esprit. Paris 1924, hier S. 25.

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EUROPA NEU DENKEN

mit dazu bei, dass Lebensqualität, Nachhaltigkeit und Gemeinsamkeit zu den Grundfesten der Europäer trotz der Blockkonfrontation wurden. Von diesen Grundfesten träumten viele Europäer trotz der unübersehbaren Vorzeichen des ideologischen Auseinanderklaffens von Ost und West schon früh. Bereits im Februar 1945 erhielten ihre Träume erstmals politisch Auftrieb. So heißt es in der Dreimächtedeklaration verheißungsvoll, die Wiederherstellung der Ordnung in Europa müsse „in einer Weise zuwege gebracht werden, die es den betreffenden Völkern gestattet, … demokratische Einrichtungen nach eigener Wahl zu schaffen.“3 Demokratische Einrichtungen eigener Wahl: Zwar waren die faschistischen und nationalsozialistischen Spielarten des Totalitarismus überwunden, doch ging eine weitere aus dem Krieg gestärkt hervor: Der Kommunismus konnte, ausgehend von der Sowjetunion, seinen Einflussbereich nicht zuletzt dank der Konferenzen von Potsdam und Jalta erheblich vergrößern. Das Baltikum, Polen und Ungarn und der gesamte Osten Europas waren für die West-Alliierten verloren, die Aufteilung Europas in Ost und West einstweilen besiegelt. Fortan gab es eine östliche und eine westliche Sphäre Europas, die durch die Aufteilung Deutschlands nur noch bekräftigt wurde. Im Grunde war schnell offensichtlich, dass das Konzept des europäischen Nationalstaats als Fundament einer europäischen Friedensordnung nicht tragfähig war: „Die Epoche machenden Friedensschlüsse in Europa haben … immer kürzer werdende Wirksamkeit entfaltet. In ihnen steckte immer der Keim zu neuen Konflikten. Jalta und Potsdam waren noch klassische Neuordnungen nach altem Muster. Mit diesen Namen verbindet sich kein wirklicher Frieden, sondern der Übergang zur Teilung Europas und Deutschlands und zum Kalten Krieg.“4 Der Geist von Jalta wurde erst mit dem Beitritt der Ostblockstaaten zur Europäischen Union überwunden. Gleichwohl trug gerade diese Erweiterung nicht nur zu einer Wiederbelebung der europäischen Idee bei, sondern ebenso zu gewaltigen Friktionen innerhalb der EU, weil die neuen Mitglieder aus den MOEStaaten nicht bereit zu sein schienen, ihre eben erst gewonnene Souveränität nach jahrzehntelanger Gefangenschaft im sowjetischen System im Zuge der europäischen Vergemeinschaftung wieder einschränken zu lassen.5 Seither beflügelt eine innereuropäische Krise das Friedensprojekt, deren sichtbarste Zeichen der Streit über den Verfassungsvertrag sowie die Debatten über den europäischen Rettungsschirm darstellen.

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Dreimächtedeklaration über das befreite Europa, Jalta, den 11. Februar 1945, zit. nach Gasteyger, Europa, S. 40. Vgl. hierzu auch: Jost Dülffer (1998): Jalta, 4. Februar 1945. Der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt. 20 Tage im 20. Jahrhundert. München; Ders. (2004): Europa im Ost-West-Konflikt 1945-1990. München. Günter Verheugen (2005): Europa in der Krise. Für eine Neubegründung der europäischen Idee. Köln, S. 16. Siehe Jürgen Habermas (2003): Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas. In: FAZ vom 31.Mai 2003, S. 33. Vgl. Ralf Dahrendorf (1975): Plädoyer für die Europäische Union. München, insbesondere zum Thema Europa-USA S. 178ff.

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Europa ist als Antwort auf krisenhafte Situationen selbst zu einem Krisenprojekt geworden; zu einem Projekt, das von keinem soeben überwundenen Krieg mehr beflügelt wird. Das Ausbleiben von Kriegen ist zwar tröstlich. Doch wenn die narrative Rahmung fehlt, löst sich das Bild Europas zusehends auf. Es geht nur noch darum, die Krise irgendwie eine Zeitlang zu verwalten. Ich will deshalb zunächst den Krieg neu denken, einen Krieg, den meine Generation zu unserem großen Glück nicht kennengelernt hat. Was bedeutet er den Nachgeborenen heute eigentlich? Vielleicht lässt sich auf diese Frage in der Tat nur eine persönliche Antwort finden, die für einen wissenschaftlichen Essay unorthodox anmuten mag. Dennoch scheint es mir an dieser Stelle der einzig sinnvolle, einzig mögliche Zugriff auf ein schwieriges Thema. Ich frage mich, was ich eigentlich wirklich vom Krieg in Europa weiß. Gewiss: In alten Zeiten nannten die Philosophen ihn den Vater aller Dinge. Für meine Generation6 hingegen war der Krieg ein bisschen Borchert und Böll, der obligatorische Dachautrip während der Abschlussfahrt nach München und das farbig illustrierte Kapitel in den Schulbüchern der Mittelstufe. Der Krieg, den wir kannten, war eine nachkolorierte TV-Doku, mit der sowohl die öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten als auch unsere Geschichtslehrer ihrem Bildungsauftrag in knapp 45 Minuten nachkamen. Wir holten uns den Krieg noch nicht als Blue-ray bei Amazon, sondern über den legendären Commodore 64 und das Multiscreen-Ballerspiel Beach Head in die Kinderzimmer. Der Vorläufer der Ego-Shooter-Serien à la Black Ops ließ den Krieg zweieinhalb tausend Jahre nach den ionischen Naturphilosophen zu einem Puzzle aus verschiedenen Features und Levels werden. Die miserable Grafik war ebenso leicht zu verschmerzen wie die während des Spiels tief über die Felder fliegenden Düsenjets, die doch bloß die Fensterscheiben unserer Wohnstuben für einen kurzen Moment im Kalten Krieg erzittern ließen, um im Nirwana eines strahlenden Sommernachmittages wieder zu verschwinden. Im Grunde war alles, was wir wirklich über den Krieg wussten, dass er nie wieder kommen durfte, obgleich er bei uns zu Hause immer auf geheimnisvolle Weise präsent blieb: „Unter dem Vorwand, dass die alten Zustände nicht wiederkommen dürften, wurde die Erinnerung an die zeitlosen Werte ausgelöscht und die Barbarei hoffähig gemacht.“7 Streng genommen waren all die Medien, die uns den Krieg auf so unterschiedliche Weise darboten, nur Ablenkungsmanöver gewesen, die zusätzliche Distanz zum historischen Geschehen schafften. In Wirklichkeit kenne ich den Krieg allein vom Schweigen meiner Vorfahren: Vom Schweigen meiner mitten im Ersten Weltkrieg geborenen Großmutter, die während des Zweiten Weltkriegs mit vier Kindern durch halb Europa flüchtete; vom Schweigen meines Großvaters, über dessen russische Kriegsgefangenschaft nie Genaueres in Erfahrung zu bringen war. Ich kenne den Krieg auch vom Schweigen meines Vaters, dessen Geburtsschrei rasch von der Bombardierung Polens übertönt wurde. Sein Trauma aus Lärm und Chaos hütet er bis heute wie

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Ich wurde 1973 geboren. Friedrich Sieburg (2010): Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene. Frankfurt a.M., S. 126.

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den Heiligen Gral. Für mich wurde so das kollektive Schweigen meiner Familie zum Synonym für Krieg. Bereits am 1. September 1946 schrieb Hans Werner Richter in der Zeitschrift Der Ruf: „Eine Generation schweigt! Sie schweigt, weil man sie nicht verstehen will; sie schweigt, weil sie nicht verstehen kann. Zwischen dem Nichtverstehenwollen und dem Nichtverstehenkönnen liegt eine Welt, liegt das Erlebnis, liegt der Krieg, liegt jene vom Grauen umwitterte Frage nach der brüchig gewordenen Existenz des Menschen, die aus der Erfahrung lebendig geworden ist und die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts alle geistigen Bindungen des Abendlandes erneut in Fluss zu bringen scheint … Dies aber ist der Mensch unserer Zeit, ist der Mensch, der in sich selbst die Gefährdung seiner eigenen Existenz zutiefst erlebt hat. Es ist das Bild jenes Menschen, das aus dem Lebensgefühl der jungen Generation geboren werden muss, wenn er nicht erneut vor dem Ansturm irrationaler Gewalt zerfallen soll … Über das Erlebnis der Propagandafreiheit verfügt die junge Generation. Aus diesem Erlebnis heraus schweigt die junge Generation. Mit dem Erlebnis der wirklichen Freiheit wird sie eines Tages zu reden und zu arbeiten beginnen.“8 Das Beschweigen einer brüchig gewordenen Existenz, das Heinrich Böll 1955 so treffend durch die Tätigkeit des Doktor Murke9 zum Ausdruck gebracht hat, war zugleich jener Hohlraum, in dem die Transformation der Nazi-Gesellschaft zur westlichen Demokratie vonstatten gehen konnte.10 Wenn Doktor Murke das aus Tonbändern extrahierte Schweigen eines Alt-Nazi sammelt, um nicht zuletzt der Geschwätzigkeit seiner Zeit zu entfliehen, reagiert er damit ebenso auf die Atmosphäre der ersten Jahre des Kalten Krieges, die Aleida Assmann als „Eiszeit der Erinnerung“ treffend11 charakterisiert hat. Das Schweigen ist Signum dieser Eiszeit, die sich mittels des Europagedankens auf die Suche nach der verloren gegangenen Sprache macht: „Wir dürfen nicht vergessen, dass im Kern des Europagedankens die traumatische Erfahrung einer über ihre Grenzen expandierenden, ganz Europa kolonisierenden deutschen Großmacht steht.“12 So verstanden war Europa die „Therapie gegen deutschen Größenwahn.“13 Die Diskussion über Europa bildete ein politisches Mittel um zu vergessen. Doch abseits des großen Schweigens weiter Teile der Bevölkerung gab es jene Stimmen, die mit dem Schrecken umzugehen verstanden und ihre Geschichten als Leitfaden, wenn nicht zur Bewältigung so doch wenigstens als Anstiftung zum Nachdenken, einem breiten Publikum darboten. Die deutsche Nachkriegsliteratur kreist im Kern um das Thema Krieg und Aufarbeitung des Holocaust.

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Hans Werner Richter (1962): Warum schweigt die junge Generation? In: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. München, S. 30 et passim. Erstveröffentlichung in Der Ruf, Heft 2, 1.9. 1946. Heinrich Böll (1964): Doktor Murkes gesammeltes Schweigen. Köln Vgl. Aleida Assmann, a.a.O. Assmann, ebd., S. 27. Sieh auch: Jung, Dietrich et alii (2003): Kriege in der Weltgesellschaft. Strukturgeschichtliche Erklärung kriegerischer Gewalt (1945-2002). Wiesbaden. Assmann, ebd., S. 26. Ebd.

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Angefangen bei Ernst Jünger, über die Todesfuge (1948) und die Blechtrommel (1959). Auch die Deutschstunde (1968) ist in diesem Zusammenhang zu nennen.14 Es ist die Literatur mit ihrem Zentrum, der Gruppe 47, die sich in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten intensiv mit dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzte. Die Literatur zeichnete sich dadurch aus, dass sie einmal mehr Deutschland beziehungsweise deutsche Befindlichkeiten fokussierte, um das Schweigen aufzubrechen. Die politische und philosophische Literatur im selben Land dachte hingegen stärker in europäischen Kategorien und versuchte, die Geschichte des Kontinents grundsätzlich neu zu schreiben. Beides war vonnöten: Der Blick zurück, der das Grauen literarisch aufbereitete, um es auch nur annähernd verstehen zu können, als auch der Blick nach vorn in die Zukunft, die, wie konnte dies auch anders sein, Europa hieß, obwohl keiner so recht zu sagen vermochte, was man sich darunter eigentlich vorzustellen habe und wie der Kontinent politisch zu gestalten wäre. Jenseits der Literatur aber schwieg eine ganze Generation, und trotz ´68 folgte eine weitere, und nach ihr wohl noch eine. Zu dieser letzten gehöre auch ich. Ich kenne den Krieg insofern auch als einen Vater aller Dinge. Ich kenne ihn als jene Nachwehe, die in der Sprachlosigkeit über den Schrecken und das Unvorstellbare neue Wirkung entfaltete.15 Ich kenne den Krieg als sozialen Riss, dessen Bruchlinie sich über die Generationen hinweg fortgepflanzt hat, und der mit seinen haarfeinen Verästelungen auch in die Biografien all der Generationen eindrang, die ihn selbst nie erleben mussten. Dieser Riss ist mitunter haarfein und manchmal kaum wahrnehmbar, wächst aber zu einem Graben an, wenn er erst einmal entdeckt ist. Er hat seinen Ursprung im Menschen selbst und pflanzt sich quer durchs Universum fort. Ist der Riss, den der Krieg verursacht hat, einmal entdeckt, wird ihn niemand mehr los. Der Eiserne Vorhang hat Gesellschaften und Staaten geteilt, der Riss, von dem ich hier als Nebenwirkung des Krieges spreche, trennt den Menschen von sich selbst. Zweifellos ging zeitlebens eine gewisse Faszination von den Geschichten des Krieges, die man uns Kindern erzählte, aus. In einem Seminar, das ich vor einiger Zeit an der Universität Hildesheim gab, und das prägende Bilder des 20. Jahrhunderts zum Thema hatte, wählten acht von neun studentischen Gruppen eine Fotografie aus, die den Krieg unmittelbar thematisierte. Von Robert Capas Foto des fallenden republikanischen Soldaten im spanischen Bürgerkrieg über die von dem Hitlerfotografen Walter Frentz aufgenommenen Bilder der zerstörten Stadt Dresden bis hin zu einer Steinigungsszene aus Ruanda und Richard Drews Fotografie des Falling Man — jenes Mannes, der sich am 11. September 2001 vom World Trade Center in die Tiefe stürzte, um den Flammeninferno zu entgehen. Woher kommt heute noch diese Faszination für Kriegsbilder?

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Paul Celan (2003): Werke. Historisch-kritische Ausgabe. I. Abteilung: Lyrik und Prosa: Band 2/3: Der Sand aus den Urnen. Mohn und Gedächtnis. Frankfurt a.M.; Günter Grass (1993): Die Blechtrommel. München; Siegfried Lenz (1995): Deutschstunde. München. Das ist, wenn ich sie recht verstehe, auch die These von Sabine Bode (2009): Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. München. Sieh auch: Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich (2007): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München (Erstauflage 1967).

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Der Krieg ist ein emotionales Ereignis sondergleichen. Und die Flucht vor seinen Gräueln währte auch nach 1945 und wurde in den Spielzimmern des Wirtschaftswunderlandes mit anderen Mitteln fortgesetzt. Denn man schwieg geflissentlich über das, wovon man nicht sprechen konnte. Die Schwarz-WeißFotografien eines zurückgelassenen Lebens blieben die einzigen Bilder, die wir vom Krieg unserer Vorfahren besaßen. Ihre Tabus wurden unsere größten Erzieher. Der Krieg blieb zeitlebens jene Leerstelle, die von uns Kindern wenn schon nicht ausgefüllt, so doch wenigstens respektiert werden musste. Es war diese Leerstelle, die dafür sorgte, dass die zwischen 1945 und 1980 Geborenen sich alle auf mysteriöse Art mitschuldig fühlten und an eben dieser Mitschuld litten. Friedrich Sieburg schrieb: „Wer da glaubte, dass mit dem Sturz der blutigen Unterdrücker eine Zeit angebrochen sei, in der der Mensch sich nach seinem eigenen Gesetz bewegen könne, der hat nicht gewusst, dass auch die verdammenswerteste Einrichtung nie ganz zu zerstören ist. In die Wohnstätten der neuen Geschlechter sind die Steine abgebrochener Kerker eingebaut und leben ihr tückisches Leben weiter. Auch die Unfreiheit kann zur Gewohnheit werden, nach der das Geringe in uns sich heimlich zurücksehnt … Die Zwingherren in Stiefeln sind nicht mehr zu fürchten. Sie sind fort. Der Teufel hat sie geholt. Aber der Teufel selbst ist noch da, denn er ist kein gerechter Helfer und freut sich, dass wir nie wieder ganz frei sein werden.“16 Der Teufel verschlägt uns die Sprache. Das Los, die Sprache verloren zu haben, und ebenso die Erfahrungsarmut, von der Walter Benjamin schon nach dem Ersten Weltkrieg sprach,17 und die viele Kriegsteilnehmer wie auch uns Jüngere, die wir unter ehemaligen Soldaten und traumatisierten Kindern aufwuchsen, auf so unterschiedliche Weise getroffen hat, sind meines Erachtens das prägende Moment der Biografien des 20. Jahrhunderts in Europa: Dem Reichtum an Sensationen korrespondiert eine innere Leere. Die Ursprünge dieser Erfahrungsarmut liegen im 19. Jahrhundert begraben. Denn der kollektive Erfahrungshorizont jener Zeit, glaubt man den Kulturhistorikern, bildet das Panorama, jenes imposante und gleichsam täuschende, von einem zentralen Punkt aus zu betrachtende Rundbild.18 Anton von Werners Panorama der Schlacht bei Sedan, das 1883 in Gegenwart des Kaisers in Berlin feierlich eröffnet wurde, gehört zu den bekanntesten. Walter Benjamin bezieht sich auf dieses Panorama im Konvolut D seiner Passagenarbeit und schildert das Gespräch einer Mutter mit ihrem Kind, das von dem Panorama begeistert scheint, doch dann feststellt, es sei schade, dass der Himmel so trübe sei, woraufhin die Mutter antwortet: So sei das Wetter nun einmal im Krieg.19 Das moderne Panorama verkörpert wie sonst nichts die Illusion des Krieges. Eine Illusion, die lange unbemerkt blieb und geradewegs in den nächsten Krieg

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Sieburg, Lust, a.a.O., S. 100. Walter Benjamin (1977): Erfahrung und Armut. In: Illuminationen. Frankfurt a.M. Vgl. Dolf Sternberger (1981): Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert. Schriften V. Frankfurt a.M. Vgl. Walter Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. 2 Bände, Konvolut D. Frankfurt a.M.

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führte. Den Weg hierzu ebnete der taumelnde Kontinent in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts:20 Europa befand sich bereits im Sog der Massen, im Gefühl des Niedergangs, der Nervosität, der Hysterie und des Schwindels. Eine Welt in Stücken, von rapiden Veränderungen heimgesucht, dabei ungleich phlegmatisch. Mitten hinein in diesen taumelnden Kontinent wurden meine Großeltern geboren, in ein Europa, das nichts weiter war als ein Flickenteppich verschiedener Bündnisse. Ein Europa der Doppelmoral und sozialen Fassaden, eugenischer und sadistischer Gewalt, ein verlogenes und sensationsgeiles Europa. Eine Welt der Außenseiter und der Experimente in allen gesellschaftlichen Bereichen. Eine relative Welt, homophob und aufgeladen mit politischen Radikalismen, voller Ekstase. Futuristische Kriegsverherrlichung und Wettrüsten gingen Hand in Hand mit Männlichkeitswahn und Maschinenverehrung. Eine okkulte Welt, besessen vom Rausch und der Geschwindigkeit. Eine illusionistische Welt, in der sich der menschliche Charakter ebenso wandelte wie die sozialen Beziehungen, abzulesen an der zerstörten Grammatik, am Verfall der Syntax, einer fragmentarisierten Kunst. Wer in dieser Zeit heranwuchs, nahm die Ordnungsprinzipien von damals mit auf seine Reise durch ein Jahrhundert der Extreme und übertrug seine menschlichen Ideale auf die nun folgenden Generationen. Es war „eine bewegte Zeit“ schrieb der große Dichter Robert Musil.21 Und man muss seinen epochalen Satz wohl in der doppelten Bedeutung des Wortes „bewegt“ lesen. Erst nachdem diese schrecklich bewegte Zeit zu Ende war, begann allmählich die Suche nach einem neuen politischen Ordnungsmodell. Damit ging seit den 1920er Jahren ein ungeahnt starkes Interesse an gesellschaftspolitischen Fragestellungen einher. Die zunehmende Politisierung der Bevölkerungsschichten, die schon um die Jahrhundertwende spürbar war, gepaart mit politischer Unzufriedenheit, der Forderung nach Reformen und einem fortgeführten Kulturkampf mit immer härteren Bandagen, führte geradezu in bürgerkriegsähnliche Zustände. Eine weit verbreitete Armut, soziales Elend und Wohnungsnöte stürzten nicht nur Deutschland, sondern nahezu ganz Europa in eine tiefe gesellschaftliche Krise. Gleichwohl setzte ab 1924 eine anhaltende Konjunktur ein, die eine kurze Phase der technologischen Innovation begleitete und bis zur Weltwirtschaftskrise anhielt. Insbesondere dieses wirtschaftliche und politische Klima der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1929 schien innovative und kreative Kräfte freizusetzen: Dada, Neue Sachlichkeit oder Fritz Langs Metropolis aus dem Jahr 1927. In Berlin, seinerzeit eine der größten europäischen Städte der Welt, seit 1900 ein Labor der Moderne, blühte das kulturelle Leben in Form von Parallelgesellschaften auf. Gleichzeitig boten die zahlreichen Krisen in allen Bereichen des täglichen Lebens einen nahezu idealen Nährboden für den langsamen Aufstieg des Nationalsozialismus. Europa war von nun an ein utopischer Anker. Sodann, nach 1945, ein Anker, mit den Traumata des Krieges und der Barbarei der Nazis irgendwie umzugehen; es schien die einzige Möglichkeit, sich der ewigen Wiederkunft der erfahrenen Gräuel auf legitime Art und Weise zu entziehen:

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Philipp Blom (2009): Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. München. Zitiert nach ebd., S. 476.

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„1945 ist ein Europa gestorben. Es starb in den Ruinen von Nationen, die von Siegern und Befreiern befreit worden waren … Nun ist der Moment gekommen, in dem die Europaidee aus dem Dunkel … heraustritt und sich allmählich und in begrenztem Maße zu materialisieren beginnt. Das Europa der Neuzeit musste erst sterben, bevor es einen ersten Willen zu Europa geben konnte. Diese erste Gestaltwerdung einer meta-nationalen Europaidee entspringt dem entschlossenen Willen, sowohl das Gespenst der alten Bedrohung als auch das der neuen Bedrohung zu bannen.“22 Europa wandelte sich dergestalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom taumelnden Kontinent in eine zuvor nie für möglich gehaltene Chance, die politische Zukunft traumatisierter Gesellschaften gruppentherapeutisch zu bewältigen. Nichtsdestotrotz blieb Europa ein schizophrenes Konstrukt: Zeitlebens ein Krisendiskurs, den die Älteren führten, wenn sich der erste Schock über die unmenschlich gewordenen Menschen ein wenig gelegt hatte. Zugleich aber war Europa selbst die Krise, die es irgendwie zu meistern galt.

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Edgar Morin (1988): Europa denken. Frankfurt a.M., S. 134.

II Die Suche nach Antworten „Das Unfertige, ja Verstümmelte, das von jeher zum Schicksal unserer Nation gehörte, droht eine Art von Endgültigkeit anzunehmen. Schlimm ist es, dass viele unter uns sich mit dieser Lage abzufinden beginnen. Noch schlimmer ist es, dass wir ihnen nicht sagen können, was sie an die Stelle der Resignation setzen sollen. Kein menschliches Wesen, aber auch kein Volk kann ewig im Schwebezustand verharren. Nur die Bildung eines echten Europas, so heißt es, kann dieses Provisorium in eine höhere Form der Dauer überführen.“1 Wie ließen sich auch anders zwei furchtbar geführte Weltkriege mit Worten, mit Sprache bewältigen? War es nicht nachvollziehbar, dass man über das Grauen Stillschweigen bewahren und die neue Zeit mit einem alten Begriff beginnen wollte, den man wiederum mit neuen Inhalten zu füllen gedachte? Mir fällt zur Frage der Verschwiegenheit, die ich mir oft gestellt habe, ein prominentes Beispiel ein, das anders als die anderen Väter und Großväter gerne vom Krieg redete. Ich meine den Kriegsteilnehmer und Schriftsteller Ernst Jünger, der Sprache selbst als Kampf zelebrierte. Jedes seiner Worte diente dem Überleben auf dem getaumelten Kontinent, diente der Überwindung fragmentarisierter Zeiten. Und doch war immer ein Stück Krieg seinen Worten eigen. Dulce et decorum est pro patria mori: Von fast nichts anderem berichtete er so enthusiastisch wie von der Schlacht und vom Kampf und vom Blut, und mit jeder Zeile schrieb er an der Begeisterung der Kriegsfreiwilligen von 1914 weiter. Ein Jahrhundertleben lang. Seine Prosa hatte aus diesem Grund kathartische Wirkung auf ein Land, dessen Familienleben nach den Kriegen vom Schweigen beherrscht wurden. Ich spreche von der Katharsis-Wirkung seines Schrifttums, weil sich an ihm, dem Kompanieführer der Deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, zeitlebens die Geister schieden; auch, weil an ihm die bundesrepublikanischen Aggressionen ausgelebt werden durften. Jünger rief heftigste Reaktionen hervor, die ein Licht auf seine Kritiker werfen: Warum ließ sie nicht kalt, was er schrieb? Warum zog er ausgerechnet mich, der den Krieg der Väter nicht kannte, den überzeugten Kriegsdienstverweigerer, ebenfalls in seinen Bann? Wohl, weil er in mir als seinem Leser etwas ansprach, das nicht einfach konsumiert werden konnte wie das Brot der frühen Jahre. Seine Texte forderten das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik und ihrer Bürger heraus. Niemand war nach der Lektüre mehr derselbe. Als ich ihn das erste Mal las war ich bereits Mitte 20, Ernst Jünger seit ein paar Wochen tot. Mir wurde vieles verständlicher damals, weil meine dunklen Ahnungen während der Lektüre in ein helles Licht tauchten. Etwa, als ich las, wie er in Eumeswil2 über die Deponie als Symbol des geschichtslosen Raumes philosophiert und betont, der Schutt könne nicht mehr bewältigt werden. Der Schutt, das war der Krieg. Und dieser Krieg wütete, gezähmt und dressiert, in uns weiter.

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Sieburg, Lust, a.a.O., S. 144. Ernst Jünger (1977): Eumeswil. Stuttgart.

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Obwohl es mir anfänglich schwer fiel, in die Hintergründe seiner Sprache einzudringen, merkte ich endlich, dass die Dinge dort nicht schwieriger, sondern einfacher wurden. Denn hier gab es einen, der das Schweigen über den Krieg brach und aus der Mitte des Unheils, aus den Katakomben des 20. Jahrhunderts heraus Zeugnis ablegte, insbesondere in den Strahlungen und in den Stahlgewittern. Obwohl ein einziger Stellungskrieg, eine endlose Wiederholung tumber Worte, schockten mich die Bücher mehr als der Besuch im KZ-Museum, die ZDFDoku oder später die Fronten des Kalten Krieges in den virtuellen Weiten von Black Ops. Denn Jüngers Bücher waren das Dokument eines in meinen Augen absolut authentischen Prototyps von Ego-Shootern — mit ungeahnten Nebenwirkungen bei mir als seinem Leser. Möglich, dass er die Wirkung seiner Tagebücher und Fronterlebnisse antizipiert hat als er in Strahlungen II schrieb, er bewege sich durch verschiedene Schichten der Wahrheit.3 Möglich, dass er sich bereits früher, als er 1922 den Kampf als inneres Erlebnis4 deutete, der Wirkkraft seiner Worte bewusst war; als er den Krieg als eine Achse bezeichnete, um die das Leben schwirre. Auch unser Leben heute gleicht einmal mehr dieser Achse. Für mich war es jedoch keine Frage: Schon der Erste Weltkrieg war ein falscher Krieg,5 ein Krieg, mit dem mein vierjähriger Großvater aufwachsen musste. Ein Krieg, der den Soldaten unheilvolle Unruhe brachte, zu Nervenzusammenbrüchen und Kriegsneurosen führte, die Menschen mit dauerhaften Zitterzuständen und schlimmen Erinnerungen an ein globales Gemetzel mit vielen Kriegsverbrechen zurückließ. Dieser Krieg war tatsächlich die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts; eines Jahrhunderts, in das hinein wir alle geboren wurden. Ich persönlich betrachtete den Krieg als solchen, rückblickend auf die Biografien meiner Familie, als ein Verbrechen: Bereits 1918 zählte man mehrere Millionen Tote, Kriegsversehrte, verstümmelte, entstellte Menschen. Gesichtslose Krüppel, Elendsgestalten mit kaputter Psyche. Die Soldaten waren körperliche und seelische Wracks. Kriegsmüde bis hin zur Selbstverstümmelung, um dem Kriegsalltag zu entkommen. Angstbesetzt, selbstmordgefährdet, auch nach einem Krieg, der wie alle Kriege Familien zerstörte und unzählige Kinder vaterlos aufwachsen ließ. Die moralische Neuerung, die manch einer im Krieg zunächst erblickte, war er gewiss nicht, auch wenn Heldentod und Opferstatus prominente Parolen der Kriegspropaganda waren. Ein neues Zeitalter hatte trotz alledem begonnen. Denn es war ein Krieg, der Generationen zum Kämpfen erzog. In diesem wichtigen Gedanken liegt die Geschichte ganzer Kriegsgenerationen begraben: Der Krieg ist die Achse, um die das Leben kreist. Der Dramatiker Heiner Müller hat das gesehen als er in seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“6 am Ende seines Kapitels über Jünger schrieb, am Anfang, noch vor der Bekanntschaft mit Frauen, stünde bei diesem Autor der Krieg. Zuerst also kam das Töten, dann kam der Sex. Anders formuliert: Als Eros eintraf, war Thanatos bereits da.

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Ernst Jünger (1979): Strahlungen II. Stuttgart. Ernst Jünger (1922): Der Kampf als inneres Erlebnis. Berlin. So Niall Ferguson (1999): Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert. München. Heiner Müller (1992): Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln.

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Wir werden uns hundert Jahre später noch einmal fragen müssen, ob wir uns mit dieser Rangfolge einverstanden erklären; ob wir tatsächlich Kämpfer bleiben wollen, Ego-Shooter einer völlig zerfaserten und durch abertausend Kleinkriege parzellierten Gegenwart? Sind wir wirklich gewillt, den Kampf, den unsere Vorfahren vor so langer Zeit begonnen haben, ewig weiter zu führen? Gleich ob in den Unternehmensetagen, der Politik, den Schulen und Hochschulen oder Werkhallen. Wäre es nicht allmählich an der Zeit, einmal inne zu halten? Was mich persönlich betrifft, so bin ich des Kämpfens inzwischen müde. Ich möchte keine Opfer bringen. Ich möchte mich nicht wie die Soldaten der Weltkriege oder die ebenso kampfbreite 68er-Generation immer wieder aufopfern müssen. Der Kampf geht nicht weiter. Er ist einstweilen vorbei. Das „Rasseln der Maschinengewehre von Langemarck“7 ist uns fremd geworden, obwohl es dies Rasseln war, das mir und meiner Generation als Wiegenlied gespielt wurde — als Echo einer gestohlenen Kindheit und Jugend der Elterngenerationen. Wenn Jünger in den Maschinengewehren Sätze einer Prosa sieht, die beherrscht werden müssen, macht mich das auch heute noch einigermaßen ratlos. Wer muss solche Sätze wirklich beherrschen? Legen wir unsere Waffen, wie immer sie auch aussehen mögen, nieder. Ich bin der Überzeugung, das Maschinengewehr — und mit ihm das Schweigen der Wörter8 — ist widerlegbar. Jedes Eingedenken, jede Erinnerung an die Toten von Langemarck und die vielen anderen Schlachthäuser der Welt ist eine solche Widerlegung: Die Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg macht hinsichtlich eines solchen Eingedenkens Mut. Jünger selbst hat den Weg zu seiner eigenen Entwaffnung geebnet, indem er den Krieg durch die Ordnung der Sprache strukturierte. Gleichwohl bietet er lediglich das Material an, mit und an dem wir weiter arbeiten müssen, wollen wir die entstandenen Leerstellen der Kommunikation nach 1945 wieder mit Sinn füllen. Hierzu bedarf es jedoch des eigenen Vokabulars, um zur Sprache zu kommen. Jüngers Prosa könnte einen Anlass bieten, eine Ouvertüre zur kritischen Reflexion eines Jahrhunderts sein; eines Jahrhunderts, dessen Extreme noch immer nicht richtig durchdrungen worden sind. Damit geht nicht zuletzt die Überwindung von Jüngers Andeutungsprosa einher, die Überwindung auch des Kriegspathos, der Steifheit seiner Syntax und der semantischen Antiquiertheit seiner Texte sowie die Absage an die Zelebrierung des pulsierenden Blutes in unseren Wörtern. Es ist denkbar, dass dies Arbeit am Abgrund9 bedeutet, die schwierig genug sein wird, weil ein Gespräch mit der Kriegsgeneration kaum mehr möglich ist. Es bedeutet aber vor allem, eine Antwort auf die großen Fragen unserer Gegenwart zu finden. Sie lauten: Wie viel Krieg wütet noch heute in uns? Wie viel Begeisterung für die Zerstörung? Wie viel Kampfeslust treibt uns noch immer um und stachelt uns an? Wie sehr sind wir selber noch Kompanie? Wie gern lassen wir uns führen und finden Gefallen am Befehlen? Wie gern verabsolutieren wir in permanenter Todesbereitschaft die Arbeit? Und vergessen wir in eben dieser Willfährigkeit auch nicht, miteinander zu sprechen?

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Ernst Jünger (1982): Der Arbeiter. Stuttgart, S. 137. Vgl. Ulrich Beck (2002): Das Schweigen der Wörter. Über Terror und Krieg. Frankfurt a.M. Stephan Schlak et alii (Hg.): Ernst Jünger — Arbeiter am Abgrund. Marbach.

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Jünger lesen hieße dann, uns zu fragen, was wir uns selber nicht einzugestehen vermögen; zu reflektieren, warum wir die Leerstellen, die der Krieg hinterlassen hat, trotz der imposant vorangeschrittenen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa nach 1945 nicht mit einem neuen politischen Sinn gefüllt haben. Schließlich wäre zu bedenken, ob wir uns kontinuierlich — wie Jünger dies getan hat — inszenieren müssen, um die verschiedenen Schichten der Wahrheit zu durchdringen, oder auch einfach nur, um etwas zu gelten in dieser geltungslosen Zeit. Das hieße wahrlich: Europa neu denken, es wäre in der Tat eine Arbeit am Abgrund des Selbst. Arbeit am Abgrund: Nicht zufällig rückt gerade in diesen Tagen Jüngers Arbeiter wieder in den Fokus seiner Leserschaft. Als visionärer Text, politisches Manifest, ästhetische Theorie und philosophisches Traktat ist er bereits vor geraumer Zeit skizziert worden. Die zentralen Thesen des Buches, dass alles, auch der Müßiggang Arbeit sei, und nur der Arbeiter ein Aristokrat der technischen Welt sowie Vertreter einer neuen Elite sein könne, sind gleichfalls seit Erscheinen des Buches im Herbst 1932 virulent gewesen und müssen, wie auch Jüngers damit zusammenhängender Abgesang auf das Bürgertum, eigentlich nicht wiederholt werden. Das Versagen des Menschen an der Technik des 20. Jahrhunderts als Grund für Kriege und Traumata bildet allerdings ein Desiderat. In Erinnerung an meinen Großvater und die Sprachlosigkeit meines Vaters, die aus dem Kriege rührt, in Erinnerung aber auch an die blumenreichen Schilderungen Ernst Jüngers habe ich mich schon als Kind oft gefragt: Was war eigentlich passiert? Wir lebten bis zum Ende des letzten Jahrhunderts in einem Haus, das drei Generationen beherbergte. Im Erdgeschoss wohnten meine Großeltern, die beiden Etagen darüber gehörten meinen Eltern. Unter dem Dach befanden sich die Schlafzimmer. Wenn sich alle Verwandten an Feiertagen in unserem Haus einfanden, kursierten nicht selten Erzählungen über den Krieg, insbesondere über Strohrum trinkende russische Soldaten, über Kriegslieder und Vertreibungen. Die Geschichten waren mir nie wirklich zureichend. Ich wollte vielmehr wissen. Ich wollte damals wissen, was Soldaten eigentlich tun, wenn Krieg ist, das heißt, wenn sie selbst im Krieg sind, in Aktion, im Gefecht. Was sie fühlen, wenn sie auf Andere schießen. Ich habe es aus dem Munde meiner Vorfahren nie erfahren. Worüber damals geschwiegen wurde und was ich persönlich aus der Lektüre von Ernst Jünger trotz der eindringlichen Schilderungen nur schwach erahnen konnte: Soldaten töten. Sie reden über den Kampf, nicht jedoch über das, was sie dabei emotional durchmachen. Sie vergewaltigen und prahlen mit ihrer Manneskraft. Sie gehorchen und rechtfertigen ihren unbedingten Gehorsam. Sie üben Gewalt aus, verbreiten Chaos und Schrecken und ersetzen Moral durch blutigen Terror, der alles Menschliche nur noch so hinter sich herschleift. Und ist der Krieg vorbei, ist Vergessen scheinbar die beste Bewältigung des Schreckens, den man selbst mit verursacht hat. Ich zog aus den Erzählungen der Kriegsteilnehmer meine Schlüsse. Mir wurde mehr und mehr bewusst: Nur Soldaten, die töten, sind, zumindest in der Logik des Krieges, gute Soldaten. Und ich frage mich bis heute, beinahe beschämt, ob mein Großvater ein solcher Soldat war. Einer, der ein Maß an Grobheit und Abgestumpftheit entwickelt hatte, dessen man zur Ausübung des Kriegshandwerks bedarf. Einer derer, die die von Jünger skizzierte Ästhetik des

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Schreckens in die Welt brachten, ihr eigenes Leben um einer diffusen höheren Sache willen riskierten und sich im Grauen einrichteten, weil die Totalität des Grauens das Wesen aller Kriege ist; eines Grauens, das auch nicht Halt macht vor der Tötung von Frauen, Kindern, Säuglingen. Der Krieg kennt keine politischen Regeln, keine Konventionen und auch keine Menschenwürde.10 Im Krieg sehen alle Jäger gleich aus. Aber davon war bei uns zu Hause freilich nie die Rede. Wer angesichts der Sinnlosigkeit des Daseins zu Kriegszeiten nicht verrückt werden wollte, durfte die Realität des Grauens nicht allzu nah an sich heranlassen. Emotionale Belastungsfaktoren mussten ausgeblendet oder auf reine Logik reduziert werden, um Gefühlskonflikte zu kontrollieren; Wertvorstellungen und Normen Vorgesetzter wurden bis hin zur völligen moralischen Regression fraglos übernommen. War die Extremsituation vorüber, kam es nicht selten vor, dass Tatsachen verleugnet, beschönigt oder dramatisiert, bedrohliche oder emotional unerträgliche Situationen verneint und komplett geblockt, tabuisiert wurden. Wahrnehmungsverzerrungen und Realitätsverlust waren Begleiterscheinungen vieler Kriegshandlungen. Wenngleich Soldaten nicht nur Opfergeist und Fanatismus besaßen, sondern sie auch große Lust am Töten überkam und sie zum Beispiel der „Einladung zum Judenschießen“11 im Zweiten Weltkrieg gerne gefolgt sind, so sind andere an ihrer Aufgabe, den als Feind definierten Anderen zu vernichten, zerbrochen. Sie blieben — wie mein 1910 geborener Großvater und mein im Sommer 1939 geborener Vater — nicht nur in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts relativ sprachlos zurück. Selbst Ernst Jünger gelang es meines Erachtens nie, diese Sprachlosigkeit vollends zu überwinden. War das überhaupt möglich? Die Suche nach Wörtern, nach dem richtigen, erlösenden Wort, ist den europäischen Biografien des 20. Jahrhunderts inhärent. Die Sprachlosigkeit, die nach dem Krieg einsetzte, strafte eine alte Wahrheit Lügen. Diese Wahrheit hieß seit je, alles sei durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. Und in diesem Wort sei das Leben, und das Leben sei das Licht der Menschen.12 Denn es gab keine Worte mehr für das, was geschehen war. Und so blieb die Reaktion vieler Soldaten, sich in Schweigen zu hüllen, die vielleicht konsequenteste Art, mit dem Krieg umzugehen. Alles war durch das Wort geworden, lehrte man auch uns. Doch spätestens in den Kriegs- und Nachkriegszeiten des 19. und 20. Jahrhunderts, sind die Worte verloren gegangen. Da ist nichts mehr, was selbstverständlich hätte ausgesprochen werden können. Ich habe lange Zeit gebraucht, um zu verstehen, warum die Älteren nicht zur Sprache fanden, warum etwas, das sich nicht aussprechen ließ, ihren Alltag auch

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Vgl. die Debatte über die Verbrechen der Wehrmacht: Hannes Heer et alii (Hg.) (1996): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944. Ausstellungskatalog. Hamburger Institut für Sozialforschung. Hamburg. Vgl. Sönke Neitzel/Harald Welzer (2011): Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt a.M. sowie Christopher Browning (1993): Ganz normale Männer: Das ReservePolizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Hamburg. Sieh: Johannesevangelium, Kapitel 1, Verse 3 und 4.

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Jahrzehnte nach dem Krieg bestimmte. Es dauerte noch länger, ehe ich begriff, dass ich ihnen ihre Sprachlosigkeit nicht zum Vorwurf machen konnte. Und erst vor einigen Jahren war ich in der Lage, zu meiner eigenen Sprache zu finden, die um die Lücke der Worte kreist, die der Krieg hinterließ. Um es vorweg zu nehmen: Ich glaube, dass das Wort, aus dem für meine Generation, die Nachgeborenen, alles, einschließlich unserer Identitäten, hervorgegangen ist, Europa lautet. Mit Europa füllten wir die Leerstelle, die der Krieg im Vokabular unserer Väter hinterlassen hatte. Europa war gleich bedeutend mit dem Ende der Barbarei. Es gibt ein wundervolles Kinderbuch mit dem Titel „Die große Wörterfabrik“,13 das den biblischen Gedanken über die Macht des Wortes wieder aufgreift. Das Buch erzählt von einem Land, in dem die Menschen fast gar nicht reden. Man muss die Wörter kaufen und sie schlucken. Erst dann kann man sie aussprechen. Ein kleiner Junge namens Paul braucht dringend Wörter, um seiner Freundin Marie sein Herz öffnen zu können. Doch für all das, was er ihr gerne sagen würde, bräuchte er ein Vermögen. Es geht um den Wert der Wörter, um die Wiederentdeckung der Sprache, um das Wort Gottes, dessen Macht sich in den Wörtern der Menschen fortsetzt. Genau an dieser Stelle setzt die Geschichte der Wörterfabrik an. Die Kernbotschaft ist auch hier die nämliche: Alles ist durch das Wort geworden. Selbst die Katastrophe schafft neue Wörter, gibt den Worten neue Bedeutung. Das Schweigen der Wörter ist nie von Dauer. Ein bemerkenswerter Satz, über den nachzudenken lohnt: Da ist nichts ohne das Wort. Das Wort ist Leben. Leben entsteht nur durch Sprache. Anders formuliert: Sprache ist die Grundvoraussetzung für eine lebendige Welt, denn da ist nichts ohne das Wort. Meine Frage in diesem Kontext lautet, ob Europa wirklich das Wort sein kann, das uns eine Antwort auf die Sprachlosigkeit, die allen Kriegen folgt, gibt? Könnte Europa tatsächlich jener Ort sein, von dem aus sich die Verantwortung des Menschen nach den Kriegen neu stellt? Es müsste sich um ein friedliches Europa handeln, dass den sinnlosen Kriegstod in der Erinnerung wach hält, die Toten weckt und das Zerschlagene wieder zusammenfügt.

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Agnès de Lestrade (2010): Die große Wörterfabrik. München.

III Europas Verantwortung Wer über Europa auf diese Weise nachdenkt, das heißt: wer nach der politischen Verantwortung Europas in Nachkriegszeiten fragt, muss eine grundlegendere Frage vorwegschicken: Was ist eigentlich Verantwortung, und was heißt sich verantworten? Ich möchte zunächst einmal auf den engen sprachlichen Zusammenhang von Verantwortung und Wort beziehungsweise Antwortgeben hinweisen und ein weiteres Mal den alten Griechen das Wort erteilen. Denn für sie ist nicht nur der Krieg der Vater aller Dinge, auf sie geht auch die etymologische Verwandtschaft von antworten (apokrinomai) und entscheiden (krinein) zurück. Die deutschen Wörter Krise und Kritik entstammen ebenfalls dieser Sprachfamilie. Verantwortung bedeutet in diesem Zusammenhang einerseits das Ringen um eine Antwort, und zwar die Antwort eines Individuums gegenüber einem Anderen in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt. Darüber hinaus umschreiben wir mit dem Begriff Verantwortung eine argumentativ begründete Kritik angesichts einer krisenhaften Situation. Argumente fallen uns natürlich nicht einfach zu. Wir müssen sie suchen und sie verständlich machen. Dann zeichnen wir für sie auch verantwortlich. Es bedarf des Mutes, auf Grundlage eigener Kritik eine Entscheidung zu treffen, ein Urteil zu fällen, sich Rechenschaft abzulegen über sich selbst: Eine Kritik, die, wie der französische Philosoph Jacques Derrida sagt, „aufmerksam ist für alles, was noch in der bestlegitimierten, mit allen Vollmachten ausgestatteten Strategie … das Politische mit dem Metaphysischen, mit den kapitalistischen Spekulationen, mit den Perversionen des religiösen oder nationalistischen Affekts, mit dem Phantasma der Souveränität verschweißt.“1 Sprachfähigkeit verlangt Aufmerksamkeit; sie verlangt, wachsam zu sein im Hinblick auf alles, was durch das Wort geworden ist. Ein Urteil, eine Kritik, eine politische Entscheidung sind ohne Worte nicht möglich. Ein Urteil ist das Zugeständnis, kritische Maßstäbe auch auf das eigene Denken anzuwenden. Ein Urteil, eine Beurteilung erfordert ein grundsätzliches Interesse an Mitmenschen; es ist das Vermögen, Recht und Unrecht voneinander trennen zu können. Ohne den Anspruch, von diesem Vermögen auch Gebrauch zu machen, würde alles der Beliebigkeit und der Willkür anheim gegeben: Miteinandersprechen ist praktisches Handeln par excellence. Ohne das Wort bin ich nicht zur Verantwortung fähig. Und wenn dieses Wort, das mit den Krisen der Nachkriegszeiten Ernst macht, nun tatsächlich Europa hieße? Wenn alles durch das Wort geworden ist, heißt das: Die Welt, wie wir sie heute kennen, kennen wir allein auf Grund der Tatsache, dass wir imstande sind, die Dinge zu benennen. Denken wir an den kleinen Jungen, dem das Geld fehlt, sich die Wörter zu kaufen, um zu sagen, wie sehr er das kleine Mädchen liebt. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sagt in diesem Zusammenhang: Die Gren-

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Jacques Derrida (2003): Fichus. Wien, S. 37.

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zen der Sprache markieren die Grenzen der Welt.2 Und er ergänzt, die Bedeutung eines Wortes sei sein Gebrauch in der Sprache.3 Wie trostlos wäre eine Welt, in der nicht mehr gesprochen würde. Wie trostlos Europa bliebe, wenn die Welt dauerhaft in allgemeine Sprachlosigkeit verfiele. Mit dem Sprachgebrauch aber schwindet zugleich jede strikt festgelegte Bedeutung der Wörter. Sprache fließt, und mit ihr jede einzelne Silbe. Ihr Sinn erschließt sich allein durch ihre Verwendung im Miteinandersprechen, im Dialog, der seine Wurzeln in der Kindheit hat, und damit auch in der Differenz der Sprachen und ihrer Rettung. Gleichwohl haben sprachliche Differenzen ihre eigenen Gesetze: Missverständnisse, Unklarheiten, Sprachunterschiede und Sprachzerstörungen,4 wie sie auch mein Vater erfuhr. Schließlich gibt es das, was Theodor Adorno einst den metaphysischen Überschuss der deutschen Sprache, kurz Schwindel genannt hat.5 Hinzu kommen sprachlich bedingte Phänomene wie Dissens und Aporien, die unvermeidbar scheinen, sowie Kulturdifferenzen, die sich in Sprachvarianzen ausdrücken, und schließlich verschiedene Vorstellungswelten der Menschen, die das Babel moderner Sprechakte charakterisieren. Eine gravierende Folge des modernen Babels und somit unserer hochkomplexen, technisierten, von Fremd- und Fachvokabular und unzähligen Teilsystemen durchsetzten Welt ist die viel beschworene Orientierungslosigkeit: Die Überforderung des Menschen durch die Dinge und die Krise des Ich angesichts einer Neuen Unübersichtlichkeit.6 Aber Orientierungslosigkeit ist selbstverständlich kein völlig neues Phänomen. Bereits Wilhelm von Humboldt beklagte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der moderne Mensch überlasse sich nur den Zufällen, sein Tun gliche Spielwerk und ihn zeichne eine Geistvergessenheit sowie eine Krise der Selbst-Verständlichkeit aus. Der Mensch, so lautete Humboldts Fazit, ist sich angesichts der Innovationsschübe durch die moderne Technik selbst unverständlich geworden; er könne sich die Frage, was ihn zum Menschen mache, gar nicht mehr beantworten.7 Seither stehen wir vor einem gravierenden Problem: Wenn alles durch das Wort geworden ist, die Fülle der Welt aber dazu beiträgt, dass sie sich nicht mehr im Detail erklären lässt, dann trägt das Wort zu seiner eigenen Verschleierung bei. Was deshalb nottut, sagt Humboldt, seien Koordination, Vernetzung und Interdisziplinarität, um das multiple Feld konfliktvoll konkurrierender NichtWissenssysteme zu verstehen. Nicht ein einzelner, sondern nur die Gemein-

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Ludwig Wittgenstein (2001): Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Frankfurt a.M. Absatz 5.61: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Vgl. zur Wirkungsweise des Zeichenhandelns auch: Karl-Otto Apel (1975): Der Denkweg von Charles S. Peirce. Eine Einführung in den amerikanischen Pragmatismus. Frankfurt a.M.; Hans Joas (1989): Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werkes von G.H. Mead. Frankfurt a.M. Alfred Lorenzer (1970): Sprachzerstörung und Rekonstruktion: Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. Theodor W. Adorno (1965): Stichworte. Kritische Modelle 2. GS 10/ 1. Frankfurt a.M., S. 696. Exemplarisch hierzu: Jürgen Habermas (1985): Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt a.M.; Wilhelm Heitmeyer (2011): Deutsche Zustände 10. Frankfurt a.M. Wilhelm von Humboldt (1968): Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts. Bonn.

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schaft, nur der Diskurs, sind in der Lage, die Klarheit der Sprache wiederherzustellen. Gegen den Nebel, den die Sprache auf die Dinge legt, hilft nur, miteinander zu sprechen, besser: in einen Diskurs über die Welt, in der wir leben, einzutreten. Die Berührung mit der Welt war für Humboldt der elektrische Schlag, aus dem die Sprache hervorgeht. Er schreibt, Denken und Handeln seien nur möglich durch ein Drittes, „nur vermöge des Vorstellens und des Bearbeitens von etwas …, dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist, NichtMensch, d.i. Welt zu seyn.“ Und so suche der Mensch „soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.“8 Weltaneignung, Weltbearbeitung und Weltgestaltung, letzten Endes auch Weltveränderung markieren das pädagogische Viereck, in den Humboldts Bildungsbegriff eingelassen ist.9 Es geht darum, die geistigen Kräfte des Menschen zu einem Ganzen auszubilden. Niemand schafft dies aus sich selbst heraus. Immer ist der Mensch auf andere angewiesen, die ihn fördern und fordern, und die selbstverständlich auch Antworten auf ihr Engagement erwarten. Es geht dabei weniger um den Einzelnen, als vielmehr um ein Projekt namens Menschheit: Alles ist nichts ohne das Wort, und das Wort ist Antwort, ist Verantwortung in einer Welt, in die hinein jeder Einzelne von uns gestellt ist. Worum geht es des Weiteren in diesem Wort, das wir selber sind? Es geht um ein menschenwürdiges und humanes Leben. Das Medium, mit dem wir dies zu erreichen suchen, ist die Vernunft. Was ist damit gemeint? Zunächst einmal nichts anderes als die Absage an Zufälligkeiten und Willkür. Im gesamtgesellschaftlichen Gefüge ebenso wie im zwischenmenschlichen Umgang. Die menschliche Vernunft strukturiert die Welt, hilft, ihre Gesetzmäßigkeiten zu verinnerlichen und macht sie planbar. Auch wenn Planbarkeit zunächst ein wenig abschreckend klingen mag. Weil kaum jemand in einer vollends durchgeplanten Welt leben möchte, geht es vor allem darum, die Welt aus dem Chaos, das uns sonst beherrschen würde, zu befreien und ihre Prozesse und Dynamiken zu verstehen, sprich: sie wieder mit Sinn zu füllen. Das europäische Projekt nach 1945 ist auch der Versuch, die erkaltete, getaumelte Welt mit Sinn wiederzubeleben. Es ist der Versuch, wieder zur Sprache zu kommen. Die europäische Politik hat, indem sie in den Dialog mit den Anderen eingetreten ist, die Welt aus dem (nationalsozialistischen) Chaos des Krieges und der Unmenschlichkeit befreit. Wenn der Krieg stets jenes Chaos gewesen ist, aus dem es sich zu befreien galt, so war Europa in der Moderne das Wort, das eine Lösung anbahnen sollte. Europa war die stets vorläufige Antwort auf Kriege und Krisen in der Moderne. Und als Europäer stellten sich die Menschen ihrer Verantwortung für ein friedliches Europa.

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Wilhelm von Humboldt (1969): Werke in fünf Bänden, hg. von Andreas Flitner. Darmstadt. Band I, S. 235. Vgl. ders. (1997): Bildung und Sprache. Paderborn.

IV Über Europa schreiben Wer sich einmal die Mühe macht, das Schlagwort „Europa“ in die Datenbank des Deutschen Buchhandels einzugeben, wird feststellen, dass die Suche nach rund 5000 Treffern abgebrochen wird.1 Die Publikationen zum Thema Europa sind kaum noch zu zählen. Europa ist vom Wort der Hoffnung zur Idee geworden. Mehr noch: Zu einem kaum überschaubaren Mehrebenensystem, auch zu einem Sinnbild der Missstände moderner Nationalstaaten im 21. Jahrhundert, und schließlich zum Synonym für Wirtschaftskrise und Bürokratie. Europa ist ein Sujet moderner Romane, weiterer politischer Entwürfe und kritischer Analysen. In jüngster Vergangenheit ist Europa zunehmend auch Untersuchungsgegenstand wissenschaftlicher Expertisen, die mich als Historiker in besonderer Weise interessieren. Wenn ich in diesem Zusammenhang nach dem Stichwort „Europawissenschaft“ suche, liefert mir die Datenbank lediglich drei Anzeigen, die der Mediävistik, der Justiz- und Politikwissenschaft zuzuordnen sind.2 Diese Diskrepanz lässt in meinen Augen darauf schließen, dass trotz der thematischen Verwandtschaft verschiedener Forschungszweige bis dato nur in Ansätzen ein disziplinübergreifendes Erkenntnisinteresse in Sachen Europa existiert. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei geisteswissenschaftliche Arbeiten ansprechen, die mich und meine Sicht besonders beeindruckt haben bei der langjährigen Lektüre in Sachen Europa. Es handelt sich neben einem Buch zur Europäistik3 um einen Quellen- und Materialband zur Europäischen Geschichte,4 der auf knapp 1300 Seiten mit einer Vielfalt an rechtlichen Kommentaren, philosophischen Ideen und politisch inspirierten Gestaltungshinweisen zu Europa von der Antike bis in die Gegenwart aufwartet. Die Weltkarte des ionischen Historiographen Hekataios von Milet, Jean Bodins Klimatheorie und die Charta von Paris für ein neues Europa aus dem Jahre 1990 sind nur drei prominente Beispiele für die vielen handlungstheoretischen Reflexionen über Europa. Beide Bücher spiegeln die Erkenntnis wider, dass Europa als Gegenstand intellektueller Auseinandersetzungen durchaus eine lange und von großen Namen getragene Tradition besitzt, die sich gegenwärtig in ungezählten Sammelbänden, Dokumentationen, Lexika, Biografien, Schul- und Lehrbüchern sowie im Internet fortschreibt, ohne dass eine transdisziplinär konzipierte Wissenschaft diesem Tatbestand wirklich Rechnung trägt. Vielmehr stehen der Kontinuität der Beschäftigung mit Europa seit der griechischen Antike weiterhin recht unterschied-

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Stand: Dezember 2011. Peter Jurczek/Matthias Niedobitek (Hg.) (2008): Europäische Forschungsperspektiven. Elemente einer Europawissenschaft. Berlin; Joachim J. Hesse/Florian Grotz (Hg.) (2005). Europa professionalisieren. Kompetenzordnung und institutionelle Reform im Rahmen der Europäischen Union. Berlin; Michael Borgolte et alii (Hg.) (2008): Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft. Berlin. Silvio Vietta, Michael Gehler (Hg.) (2010): Europa – Europäisierung – Europäistik: Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte. Wien. Das Buch knüpft an Harald Haarmanns Ideen an und führt sie weiter fort. Hagen Schulze, Ina Ulrike Paul (Hg.) (1994): Europäische Geschichte. Quellen und Materialien. München.

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liche Assoziationen einzelner Disziplinen gegenüber, die dem Begriff entspringen. Treffend bemerkte einst der französische Historiker und Essayist Paul Hazard, Europa sei das Denken, das sich nie zufrieden gebe.5 Europa denken würde dann bedeuten, das unzufriedene Denken denken. Die Unzufriedenheit bezieht sich mithin nicht zuletzt auf das Thema selbst und mag einer der Gründe sein, weshalb eine systematische Aufarbeitung der unterschiedlichen Denkansätze kaum möglich scheint. Die Unzufriedenheit des Denkens, das Europa ausmacht, rührt aber auch von der Tatsache her, dass die Antwort auf den Krieg nie befriedigend sein kann, weil der Krieg mit dem Friedensschluss nicht wirklich zu Ende ist. Erst müssen wir wieder zu einer gemeinsamen Sprache finden. Das dauert, bedenkt man nur, dass eine dezidiert geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der Idee Europa6, sprich eine über Einzelstudien hinausgehende Analyse dessen, was zu unterschiedlicher Zeit unter dem Stichwort Europa firmierte, zumindest in Deutschland, von wenigen Ausnahmen abgesehen,7 erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eingesetzt hat. Das ist verständlich, weil der Fall der Mauer zum ersten Mal in der Geschichte das Gefühl vermittelte, der Krieg sei nun tatsächlich beendet. Gleichwohl kennen schon das 18. und 19. Jahrhundert europäische Meistererzählungen inklusive der Abwertung nicht-westlicher Gesellschaften. Zahlreiche Bücher über Europas Zukunft wurden auch zu diesen Zeiten verfasst. Ich persönlich vertrete hier dennoch die Auffassung, dass erst der Erste Weltkrieg mit seinen europäischen Schlachtfeldern eine Zäsur in dieser Hinsicht markierte. Die Herausbildung geschichtswissenschaftlicher Europaexpertise ist ein junges Phänomen, zu dem der Erfolg der Europäischen Union, insbesondere die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht Anfang der 1990er Jahre beigetragen hat. Seither stieg die Zahl der Publikationen mit historischem Europabezug sprunghaft. Ausgehend vom friedlichen Zusammenwachsen nach 1945 wird die Geschichte Europas seither neu und teils auch selbstkritisch gelesen.8 Der Analyse politischer Gegenwart wie auch Zukunftsentwürfen wurde die Geschichtsschreibung Europas in einer neuen Dimension beiseite gestellt. So füllt das von Historikern aufbereitete Material zur europäischen Geschichte der Moderne inzwischen ganze Bibliotheken. Doch die Suche nach einer Antwort auf die Frage, was wir unter Europa denn nun eigentlich verstehen, ist bis heute trotz intensiver Recherche nicht wirklich zu beantworten. Das hängt mit der Tatsache zusammen, dass mit dem Fortschreiten des europäischen Integrationsprozesses und der Zunahme wissenschaftlicher Diskurse zur Vergangenheit Europas die europäische Geschichte immer wieder neu gele-

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Paul Hazard, Krise, a.a.O. Vgl. vor allem: Michael Gehler (2010): Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung. München. Ich denke hierbei etwa an Rolf Hellmut Foerster, a.a.O.; sowie an Walter Lipgens (1977): Die Anfänge der europäischen Einigungspolitik 1945-1950. Stuttgart. So jüngst beispielsweise in den zahlreichen Publikationen zur Kolonialgeschichte, aber auch bei Timothy G. Ash (2009): Freie Welt: Europa, Amerika und die Chance der Krise. München; Wolfgang Schmale (2001): Geschichte Europas. Stuttgart; Michael Gehler, a.a.O.; ders. (2008): Geschichte der europäischen Identität. Stuttgart; Peter Krüger (2006): Das unberechenbare Europa: Epochen des Integrationsprozesses vom späten 18. Jahrhundert bis zur Europäischen Union. Stuttgart; Tony Judt (2009): Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M.

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sen, interpretiert und konstruiert wird. Darüber hinaus melden sich im Spiegel gegenwärtiger Staatskrisen im europäischen Raum vermehrt kritische Stimmen nicht nur in Bezug auf die Geschichte der Moderne, sondern auch mit Blick auf die vorläufigen ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Resultate, die das europäische Projekt zeitigt.9 Bei meiner Lektüre einschlägiger Literatur stieß ich auf ein vermeintliches Zitat von Brigitte Sauzay, das die Situation exemplifiziert: Sauzay soll gesagt haben, sie müsse weinen, wenn sie Reden über Europa höre. Denn nichts sei trauriger als eine Rede, die überhaupt nicht zum Träumen anrege.10 Wie wahr: Europa regt noch immer nicht zum Träumen an. Oder müsste ich sagen: Europa regt nun nicht mehr zum Träumen an? Dass Europa wenig Anlass bietet zu träumen, mag im nüchternen Pragmatismus der Brüsseler Bürokratie liegen; einer Bürokratie, die die europäische Kunst und Literatur überschattet, um nicht zu sagen: unter sich begräbt. Deshalb war der europäische Traum, den Jeremy Rifkin vor ein paar Jahren noch heraufbeschwor,11 für Sauzay, die Gründerin der Stiftung Genshagen und Beraterin für die deutsch-französischen Beziehungen unter Gerhard Schröder, nicht mehr als eine emotionslose Phrase. Das Wort Europa taugt im 21. Jahrhundert scheinbar kaum mehr als Antwort auf politische, gesellschaftliche und soziale Krisen. Es ist vielmehr selbst Synonym für die Krise. Das aber hieße zugleich, Europa ist nicht länger die Antwort auf die Gräuel der Kriege, nicht länger die Antwort auf die sprachlos gewordene Generation der Soldaten, und nicht länger der politische Platzhalter zur Gestaltung der Zukunft auf dem Kontinent. Die Erfahrungen des Krieges sind nicht mehr lebendig, so dass das Interesse an Europa als Losung des Neuanfangs an Attraktivität verloren hat. In der Konsequenz kann dies nur heißen, nach Alternativen zur Idee Europa zu suchen oder warten, bis der nächste Krieg vorüber ist. Beide Optionen stoßen bei mir nicht unbedingt auf Zuneigung. Gibt es einen dritten Weg? Sauzay monierte seinerzeit das von Realpolitik dominierte Ringen um das gemeinsame Haus. Willy Brandt pointierte dieses Ringen einst, als er die EuropaVerhandlungen mit dem Liebesspiel von Elefanten verglich: „Alles“, so Brandt „spielt sich auf hoher Ebene ab, wirbelt viel Staub auf — und es dauert sehr lange, bis etwas dabei herauskommt.“12 Eine Applikation dieses bitteren Bonmots auf die geistigen Ergüsse der Europahistoriker ist meines Erachtens, wenn auch nur bedingt, möglich. Denn die Tatsache, dass der europäische Kontinent trotz des Jahrhunderte langen Ringens um begriffliche Klärung erst nach Beenden des Ersten Weltkriegs ins Zentrum einer breiten, öffentlichen, das ist wissenschaftlich, gesellschaftlich und politisch getragenen Diskussion rückte und sich eine dezidiert als solche zu bezeichnende, interdisziplinär ausgerichtete „Europawissenschaft“ gar erst in diesen Tagen

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Populär wurde insbesondere: Jochen Bittner (2010): So nicht, Europa! Die drei großen Fehler der EU. München. So auch bei Norbert Lammert (2006): Europäisches Bewusstsein — europäische Identität. Zitiert nach: http://www.kas.de/upload/Publikationen/lammert14.3.2006.pdf. Jeremy Rifkin (2006): Der europäische Traum: Die Vision einer leisen Supermacht. Frankfurt a.M. Zitiert nach: Das Parlament, Europawahl 2009, Themenausgabe Nr. 12/2009.

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herausbildet, deutet an, dass der in den Archiven aufgewirbelte Staub zumindest noch eine Zeitlang eine klare Sicht auf die „Idee Europa“ im Kontext der Moderne und ihrer kriegerischen Auseinandersetzungen verhindert. Wenn ich behaupte, Europa als Problem und Gegenstand kritischer, interdisziplinär aufgearbeiteter Reflexion wurde vor dem Ersten Weltkrieg nicht wirklich virulent, so muss und will ich dies zumindest kurz erläutern: In den Jahren nach 1918 galt es, den gesamten Kontinent nach der so genannten Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts neu zu ordnen und mit dem europäischen Gedanken einmal wirklich ernst zu machen. Und obwohl viele Autoren aus nationaler Perspektive über Europa als Antwort auf den Bruderkrieg schrieben, so war dieser Krieg nichtsdestotrotz jener gewaltsame Einschnitt, der nicht nur zu einer Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft führte, sondern auch ein politisch substantielles Nachdenken über Europa und die Frage nach dem Sinn des Friedens heraufbeschwor, ohne diesen Sinn wirklich systematisch darlegen zu können. Zu frisch war der Bruch traditioneller Bündnissysteme der europäischen Großmächte „durch den Blitzschlag“ in die „aufgeschreckte Welt“, wie Stefan Zweig es damals formulierte.13 Der Niedergang kosmopolitischer Weltbilder auf den Schlachtfeldern Europas brachte eine Vielzahl weiterer Konflikte mit sich, auf die die damaligen Europapläne scheinbar ohnmächtig reagierten: „Auf den Gassen jauchzte die Menge, und die geistigen Führer, die Dichter, die Professoren, die Künstler … jauchzten mit ihnen,“14 schrieb Zweig im Rückblick auf die schlaflose Welt. Es darf in diesem Zusammenhang dennoch nicht verschwiegen werden, dass schon das 19. Jahrhundert einige prominente Autoren und nicht wenige bemerkenswerte Publikationen zu Europa nachweisen konnte.15 Allerdings setzte erst nach der von Paul Valéry im Jahre 1919 so titulierten Krise des Geistes16 das intensive Räsonnieren über einen Neuanfang des Projekts Europa ein. Obwohl dieser Neuanfang durch den Totalitarismus und Faschismus der 1930er Jahre rasch und auf barbarische Weise zunichte gemacht worden war, nahmen die Europapläne der Zwischenkriegszeit massiv Einfluss auf die Gestaltung Europas nach 1945. In der Rückschau ist das Europa des Interbellums eine Art Durchlauferhitzer der nachfolgenden Projekte auf europäischem Boden.

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Stefan Zweig (1990): Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge 1909-1941. Frankfurt a.M., S. 77. Ebd. Vgl. Jürgen Nielsen-Sikora (2009): Europa der Bürger? Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung. Stuttgart. Paul Valéry (1956): Die Krise des Geistes. Frankfurt a.M.

V Kulturelle oder ökonomische Identität Europas? Zu einem der zentralen Projekte der jüngsten Vergangenheit zählt ohne Zweifel die Frage nach der Identität/den Identitäten Europas. Der von mir im Zusammenhang mit dem Projekt der Kulturhauptstadt kritisierte Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg meint in diesem Zusammenhang, die Qualität der europäischen Idee zeige sich in erster Linie darin, wie Europa seine Krisen bearbeitet und bewältigt.1 Zumindest offenbare sich Europa in der Krisenbewältigung als kulturelles Projekt oder aber es scheitere genau daran. Um Europa als kulturelles Projekt lebendig werden zu lassen, bedürfe es jedoch einer Restauration der Politik, die an Differenzen wachse. Mit Voltaires Diktum »Ich bin nicht seiner Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, daß er sie äußern kann«2 erarbeitet Muschg eine Philosophie der Grenzen, an denen europäische Kultur allererst entstehe. Wie jede Zelle, die sich teilen müsse, um zu überleben, und wie jede Membran, die man als durchlässige Grenze interpretieren kann, muss auch Europa immer wieder seine Grenzen erneuern, weil „ohne Grenzen … das Leben ins Beliebige“3 diffundiere. Das bloße Festhalten am Tradierten und Altbekannten aber mache Europa statisch. Diese Statik gilt es mit Hilfe der Gastfreundschaft zu überwinden. Denn was die Membran im Organismus, ist für Muschg die an Kant erinnernde Gastfreundschaft (Hospitalität) der Gesellschaft, die für den „unentbehrlichen Stoffwechsel des geschlossenen Systems“4 sorge. Europa also ist der Ort der Gastfreundschaft, der durchlässigen Grenzen, ein Ort, der wieder und wieder eine „Kunst der Teilung“ – so der Titel einer seiner Reden – vollbringen muss. In einem Wechselspiel von Argumentation, Analyse und Erzählung, die übrigens in absolutem Widerspruch zu den Empfehlungen der KulturhauptstadtJury steht, geht Muschg der Frage nach, was unter dem Begriff europäisch zu verstehen ist. Er vertritt hierbei die These, das Primat des Europäischen sei weder religiöser noch genuin politischer, sondern vielmehr kultureller Natur, wobei er Kultur im strengen Sinne der cultura, der Pflege des Gemeinsinns, versteht. Im Fokus dessen definiert er Politik schließlich als „Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit der … in seiner Mündigkeit bedrohten Weltbürger.“5 Insofern sei Europa ein kulturelles Projekt, dessen Kultur sich darin zeige, wie es Krisensituationen meistere. Muschg betont im Zuge möglicher Bewältigungsstrategien die kulturelle Differenz der europäischen Bürger sowie die Pluralität von Lebensformen. Diese knüpft er an die Unhaltbarkeit absoluter Normen, an der die Europäer wachsen müssten. Wenngleich eine solche Forderung selbst nur als unbedingte und unhintergehbare Norm Sinn hat, sind seine Argumente für die Notwendigkeit der Wiederherstellung des politischen Raums in Europa sprachlich beeindruckend untermauert. Dies gilt vor allem für das schon erwähnte Kapitel über die „Kunst der Teilung“, die Europa wie kein anderer

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Adolf Muschg (2005): Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. München, hier S. 57. Siehe auch: Thomas Meyer (2004): Die Identität Europas. Frankfurt a.M. Zit. nach Muschg, ebd., S. 58. Ebd.,, S. 90. Ebd., S. 91. Ebd, S. 55.

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Erdteil beherrscht: „Europa hat sich immer dann geteilt, wenn eine bestimmte Grenze erreicht war.“6 Aus dieser Einschätzung folgert Muschg ein natürliches Fassungsvermögen, das keine grenzenlos offenen Räume vertrage, wenn anders der »Regenbogen der Versöhnung« nicht verspielt werden will. Mit dieser Interpretation attestiert er Europa zugleich ein dialektisches Moment seines Wesens: Teilung und Integration, Krise und ihre Überwindung, und immer wieder die Suche der Europäer nach dem, was europäisch sein könnte – diese Suche selbst ist ein wesentliches Stück der Identität und des Geistes Europas, für die Muschg ein Pendant in der Geschichte und Konstitution seines Heimatlandes selbst sieht. Kultur als Überwindung der europäischen Krise? In diesem Zusammenhang stellt Jürgen Habermas fest, dass in „der klassischen Ästhetik von Aristoteles bis Hegel“ eine Krise „den Wendepunkt eines schicksalhaften Prozesses, der bei aller Objektivität nicht einfach von außen hereinbricht“7, meint. Auch bleibe dieser Wendepunkt „der Identität der in ihm befangenen Personen äußerlich. Der Widerspruch, der sich in der katastrophischen Zuspitzung eines Handlungskonflikts ausdrückt, ist in der Struktur des Handlungssystems und in den Persönlichkeitssystemen der Helden selbst angelegt. Das Schicksal erfüllt sich in der Enthüllung widerstreitender Normen, an denen die Identität der Beteiligten zerbricht, wenn diese nicht ihrerseits die Kraft aufbringen, ihre Freiheit dadurch zurückzugewinnen, daß sie die mythische Gewalt des Schicksals zerbrechen, indem sie eine neue Identität ausbilden.“8 Die mythische Gewalt des Schicksals zerbrechen und eine neue Identität herstellen, wenn die alte in und an der Krise zerbricht. Wie ließe sich treffender formulieren, vor welcher Aufgabe die Europäer heute stehen? Denn selbst nach 1989, nach Mauerfall, nach Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht und nach dem Jugoslawien-Krieg, scheint ein Friede zwischen den europäischen Staaten zwar gesichert, der soziale Frieden hingegen durch die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich mehr denn je gefährdet. Ein Blick auf Griechenland genügt, um zu sehen, dass der endgültige Erfolg des Friedensprojekts bis heute aussteht, da die Vorboten einer neuen ernst zu nehmenden politisch-wirtschaftlichen Krise inzwischen unübersehbar sind. Begünstigt wird dies durch die Verteidigung des freien Marktes gegen alles und jeden, denn der Markt sei zur Verbesserung der Moral da: „Der Kommerz als Erholung nach dem mörderischen Abschlachten, der freie Handel als Anleitung für die Liebe. Das Reden der etwas jüngeren, unserer Eltern, klang traurig und desillusioniert. Das war keine reine Familienangelegenheit.“9 Die wirtschaftliche Problemlage,10 mit der sich Europa zurzeit auseinander zu setzen hat, sind seit der Blütezeit des Kapitalismus im 19. Jahrhundert virulent. Und wer die Krise des 21. Jahrhunderts verstehen will, muss die Entwicklung

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Ebd., S. 85. Jürgen Habermas (1975): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a.M., S. 10. Ebd. Camille de Toledo (2005): Goodbye Tristesse. Berlin, S. 25. Paul Lafargue (2010): Die Religion des Kapitals. Berlin.

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nachvollziehen, die die kapitalistische Logik, das heißt die Religion des Kapitals, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts genommen hat. Hannah Arendt stellte die Bedeutung des Handelns gegenüber der Arbeit und dem Herstellen heraus. Wir aber leben in einer Zeit des kognitiven Kapitalismus, der einerseits auf den Prozess der Arbeit fixiert ist, der den homo faber und das animal laborans huldigt, zugleich jedoch nicht gewillt ist, Arbeit auch entsprechend zu belohnen. Wir leben einmal mehr in einer Zeit, in der das Kapital zur neuen Religion avanciert ist. Und wir leben vor allem in dem Glauben, diese neue Religion könne die Barbarei endgültig hinter sich lassen. Welch ein Irrtum. Die Religion des Kapitals hat Paul Lafargue bereits 1886 durchbuchstabiert, und man staunt noch immer, wie aktuell sie in Zeiten der europäischen Finanzund Wirtschaftskrise ist. Die Streitschrift beginnt mit einem fiktiven Kongress, an dem allerdings ganz reale Zeitgenossen teilnehmen. Dieser Kongress ist bemüht, im säkularen Zeitalter die Religion zu reanimieren, um das gesellschaftliche Chaos zu überwinden, das überall Einzug gehalten hat. Wie auf Kongressen üblich, wird lange debattiert und gestritten, bis Robert Giffen das Wort ergreift und feststellt, die einzige Religion, die die Bedürfnisse der Zeit befriedige, sei die Religion des Kapitals. Es ist kein Zufall, das Lafargue Giffen auswählt, um diese Überzeugung kundzutun. Der weltbekannte Ökonom beschrieb einst ein marktwirtschaftliches Paradoxon, das erklärt, warum am Existenzminimum lebende Haushalte auf eine Brotpreiserhöhung mit steigender Nachfrage reagieren. Giffen betonte, steigende Preise für Nahrungsmittel ließen die zur Verfügung stehenden Finanzen für sekundäre Lebensmittel so stark sinken, dass, um eine Ernährungsgrundlage überhaupt sicherstellen zu können, das im Preis gestiegene Grundnahrungsmittel vermehrt gekauft würde.11 Der Kongress endet einvernehmlich mit der Gründung von Gremien, die dieser von Giffen ins Spiel gebrachten neuen Religion einen theoretischen Unterbau beschaffen sollen. Lafargues schmales Buch dokumentiert im Anschluss daran einige Papiere, die in diesen Gremien entstanden sind. Im Groben kommen drei Positionen zu Sprache: Die des Arbeiters im kapitalistischen System, die Kurtisane als Verkörperung von Glanz und Elend der kapitalistischen Gesellschaft sowie der Kapitalist in Person der Rothschilds. Altbekannte religiöse Überzeugungen werden nun in die Sprache des Kapitalismus als omnipräsentem und omnipotentem neuem Gott, dem einzigen, der noch auf keinen Atheisten gestoßen ist, übersetzt. Der Arbeiter hat bereits die Dogmen des neuen Glaubens, den Katechismus des Kapitalismus inhaliert und ihn zu seiner eigenen Überzeugung werden lassen. Er weiß, dass Entsagung, Entbehrung und Unterdrückung Teil der neuen Religion sind, und dass er ein wichtiges Element ihrer Funktionalität ist. Der Knecht muss dem Herrn, zu Lafargues Zeiten nicht anders als heute, auch seine Ersparnisse zur Verfügung halten. Auf die Frage, ob dies nicht ungerecht sei, antwortet der Arbeiter, das Kapital sei die Gerechtigkeit selbst.

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Robert Giffen (1884): The Progress of the Working Class in the last half century. London.

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Wie wahr ist dieser Satz auch heute noch, wie viel Selbstironie, aber auch Zynismus steckt darin. Es ist der Preis der Freiheit, den Europa zahlt.12 Und es ist der Glaube des Arbeiters, der neue Gott Kapital gestatte es, den Hunger allein dadurch zu stillen, indem man sich an den Auslagen der Schaufenster weidet, ohne diese jemals erwerben zu können. Die Kälte erträgt der Arbeiter bei Lafargue allein durch den Anblick der Pelzwaren in den Kaufhäusern. Gegen die soziale Kälte aber vermag er nichts auszurichten. So wird dem Arbeiter auch eines Tages bewusst, dass die Reichen oftmals gar nicht die eigentlichen Leistungsträger sind, da sie durch bloßes Nichtstun zu ihrem Vermögen kamen. Armut und Reichtum bilden in seinen Augen nur eine Laune Gottes. Doch dieser Gott ist sehr lebendig, anders als alle anderen Götter vor ihm haust er in den Dingen und ergreift auch Besitz von den Menschen und ihren Gedanken. Alles dreht sich nur noch um ihn, jede Kleinigkeit wird auf ihn zurückgeführt. Nichts existiert ohne dass er im Spiel ist. Die Arbeit kann nun, da das Kapital der einzige lebendige Gott ist, als Gebet verstanden werden. Der Arbeiter stellt fest: „Wir müssen uns bei unserem Chef bedanken wenn er die Gehälter kürzt und die Arbeitszeiten verlängert, denn alles, was er macht, ist gerecht und zu unserem Besten. Wir müssen uns geehrt fühlen, wenn der Chef und seine Vorarbeiter unsere Frauen und unsere Töchter verführen, denn unser Gott, das Kapital, hat ihnen das Recht über Leben und Tod der Arbeiter übertragen, ebenso wie das Recht mit jeder Frischvermählten seiner Arbeitnehmer die erste Nacht zu verbringen. Bevor eine Klage unseren Lippen entweicht, bevor unser Blut vor Wut überkocht und bevor wir in Streik treten, bevor wir uns erheben, müssen wir all diese Leiden erdulden, unser Blut mit Speichel bedeckt hinunterwürgen, unser vor Schmutz und Schlamm getrübtes Wasser trinken, denn für den Fall unserer Unduldsamkeit hat das Kapital die Chefs mit Kanonen und Säbeln, mit Gefängnissen und Arbeitslagern, mit Guillotinen und Exekutionskommandos ausgestattet.“13 Nachdem der Arbeiter zu dieser ernüchternden Einsicht gelangt ist, betritt die Kurtisane Eliza Crouch (Cora Pearl) die Bühne. Auch dies kein Zufall, blieb Frauen im 19. Jahrhundert doch in der Hauptsache nur die Möglichkeit, durch enorm geistige Anstrengung oder eben durch den Einsatz ihres Körpers eine nennenswerte Stellung in einer von Männern dominierten Welt zu erklimmen. Kurtisanen waren anders als die Prostituierten der großen Städte äußerlich sehr gepflegt, verstanden, sich auf gehobenem Parkett zu bewegen, suchten sich ihre Liebhaber in der Wohlstandsgesellschaft selbst aus und verdienten entsprechend gut. Die Reichen genossen zwar ihre Gegenwart, akzeptierten sie jedoch nicht als Teil ihres Milieus, weshalb die Kurtisanen demimonde lebten. Die Kurtisane bildet das Bindeglied der neuen Religion, sie ist die Menschwerdung Gottes, die sowohl Verkäuferin als auch Ware ist. Doch nicht nur Brot und Körper werden gekauft und so dem neuen Gott zum Opfer gebracht. Die Politik ist von nun an käuflich wie die Liebe und das Wissen. Und was käuflich ist, wird gekauft. Das sehen wir dieser Tage deutlich.

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Vgl. Andreas Wirsching (2012): Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit. München. Lafargue, ebd., S. 27.

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Geld ist der Polarstern der Moral, wie Lafargue treffend sagt und das Kapital und seinen Vertreter auf Erden, den Kapitalisten, abschließend zu Wort kommen lässt. Das Kapital stellt sich als unendliches Rätsel vor. Denn es ist ewige Substanz und vergängliches Fleisch in einem. Es ist Gewinn und Verlust, da und fort, nicht hier, sondern nur woanders. Die Allmacht des Kapitals ist die Schwäche des Menschen. Der Mensch aber ist wie die Elster. Er nimmt alles mit, was glänzt und wirft alles andere hinfort. Das Kapital aber bleibt stets lebendig, weil es von allem, von den Toten und den Lebenden Besitz ergriffen hat. Alles hat einen Preis, wenn auch nicht alles einen Wert. Das Kapital ist Alpha und Omega, sein Geist ist der Kredit. Es verwandelt, wie Lafargue schreibt, schweres Metall und auch brüllende Herden in Aktien. Nur das Profane ist dem Tode geweiht. Das Kapital gibt sich den Kapitalisten hin teilt sich unter ihnen auf. Es spricht: „Ich bereichere den Ruchlosen, obwohl er ruchlos ist, ich stürze den Gerechten in Armut, obwohl er gerecht ist, ich auserwähle, wie es mir gefällt.“14 Es ist nicht die Intelligenz, die das Kapital an den Kapitalisten fasziniert, eher schon ihre Dummheit, vor allem aber ihre Laster. Der Kapitalist ist der Missionar des Kapitals, seine Mission: der Profit. Das Kapital handelt und wählt willkürlich. Damit bezeugt es seine Macht und seine fatale Strategie: Die Herrschaft des Objekts über das Subjekt. Damit geht das Verschwinden von klassischen Mechanismen der Ökonomie und Politik einher: „Heute ziehen sich die Delegationen der G8-Treffen auf ein riesiges Boot auf dem Genfer See zurück, um sich ja nicht mit den Massen anlegen zu müssen. Die WTO ist in Katar verschwunden, einem nahezu unzugänglichen Land. Die Organisatoren der zukünftigen Gipfeltreffen überlegen bereits, sich im Internet zu verabreden. Der vollendete Rückzug führt in ein Universum aus Spiegelglas, in dem die Macht sitzt und mit den Attributen Gottes spielt.“15 Der Hass richtet sich insbesondere auf die Drohung, aus dem fahrenden Karussell des Kapitalismus hinausgeschleudert zu werden bei dem gleichzeitigen Versprechen, andere bei voller Fahrt aufzunehmen. Diese Schizophrenie wird nur akzeptiert, weil in allen Religionen das Sakrale einen höheren Stellenwert besitzt als das Profane. So auch in der Religion des Kapitals, die auch die Politik zur obszönen, totalen Halluzination werden lässt, wohingegen die Demokratie schon einmal den Kranz für ihr eigenes Begräbnis bestellt. In diesem System noch an Politik zu glauben, heißt Werbung für die Wirklichkeit zu halten. Denn das Kapital herrscht über die Inhalte und Werte des Politischen. So sind letztlich ein zunehmend in die Katastrophe schreitender Kapitalismus und auch eine von Dogmen verkrustete Religion nur schwer vereinbar mit einer starken Demokratie. Die Menschen müssen sich zwischen beiden entscheiden solange noch Zeit ist. Lafargue gibt die Hoffnung auf eine gerechte Welt nicht auf und plädiert dafür, die Gelder anders, gerechter zu verteilen und nur die Parteien in die Parla-

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Ebd., S. 49. Toledo, a.a.O., S. 48f.

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mente zu wählen, die ein echtes Interesse am Gemeinwohl haben. Der allzu lebendige Gott Kapital muss gebändigt werden, wenn uns weiterhin an demokratischen Strukturen gelegen ist. Es bleibt die Entscheidung für ein Europa der totalen Kapitalisierung und einem der radikalen Demokratie, in der sich die Europäer wieder demokratische Einrichtungen eigener Wahl schaffen. Ich stelle die These auf, dass die europäische Idee erst mit der zweiten Alternative wirklich vollendet, die Barbarei tatsächlich überwunden wäre.

VI Europas Wandel mitgestalten Die Vorstellung, Europa müsse noch vollendet werden, führt mich einmal mehr zurück zu Peter Sloterdijk und dessen Ansicht, die Menschheit habe, „von dem Begriff der Schöpfung, also des fertigen Werks, umgestellt auf den Begriff der graduellen Entwicklung – vom vollendeten Sein zum relativen Werden.“1 Ähnlich sprach auch schon der französische Philosoph Edgar Morin anlässlich des 40. Jahrestags der Gründung des Europarates von der „metamorphotischen Identität“ Europas.2 Wie sieht eine europäische Identität angesichts der Metamorphosen eines politischen Konstrukts aus? Antworten finden sich möglicherweise am ehesten in der europäischen Literatur. Ein kurzer Ausblick. Europa ist in oben genannter Lesart zunächst einmal in statu nescendi. So wird der Kontinent zwar von Wandlungen und Verwandlungen heimgesucht, die die Wunden der Geschichte nicht heilen, doch ihre Schmerzen lindern können. In diesem Prozess permanenter Wandlung und Veränderung zeigt sich Europa als politische Larve innerhalb einer neuen Weltordnung. Einst könnte es eine Vorreiterrolle einnehmen – vorausgesetzt es meistert die großen Herausforderungen seiner eigenen Zukunft: Den demographischen Wandel, die Wiederbelebung der Bildung, die Überwindung der Schere zwischen Arm und Reich, die Wiederherstellung des Gleichgewichts von Kapital und Politik sowie endlich die Integration seiner Migranten, den Pfadfindern der interkulturellen Gegenwart. Denn vergessen wir nicht, dass es die Europäer waren, die in den vergangenen Jahrhunderten überall in der Welt ihre Festungen errichtet, ihre Grenzen gezogen, ihre Territorien geschaffen, ihre Spuren hinterlassen haben.3 Mit welchem Recht verweigern wir den Anderen, ihre eigenen Spuren zu legen? Europäische Identität im Zeitalter globaler Herausforderungen, im Zeitalter einer radikalkapitalistischen, postdemokratischen und damit wohl auch posthumanistischen Welt muss sich zudem mit dem Widerstreit der Zukunftsideen Europas auseinandersetzen. Eine vielsagende Metapher für diesen Widerstreit stammt aus der Feder von Mark Twain, der in seinem Buch „Bummel durch Europa“4 den Kampf von zwei Ameisen schildert, die das Bein eines Grashüpfers mit aller Kraft in entgegengesetzte Richtungen zerren.5 Twain erzählt von der Rast, die die beiden Kontrahentinnen einlegen sowie von ihren Beratungen darüber, wie weiter fortzufahren sei, da es mit der bis dahin angewandten Strategie nicht gelungen sei, einen gangbaren Weg zu finden. Die Ameisen merken zwar, dass etwas nicht stimmt, finden aber keine Lösung. Sie beginnen ihre Arbeit von neuem und enden dort, wo sie das letzte Mal aufgehört haben. Immer wieder kommen sie zu dem gleichen Ergebnis. Die Beratungen der Ameisen weichen Anschuldigungen und körperliche Auseinandersetzung. Es folgt die Versöh-

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Peter Sloterdijk (2006): Die Atemlosigkeit der Moderne. In. Cicero. Magazin für politische Kultur 10/2006, S. 118. ACDP, Konrad Adenauer-Stiftung, 81/70, Staaten Europas vom 07.04. 1975-31.10. 1989, SZ vom 5.5. 1989. Vgl. Schlögel, a.a.O., S. 217. Mark Twain (1997): Bummel durch Europa. Frankfurt. Ebd., Kapitel 8: Die Ameise.

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nung, bis die ganze Prozedur von vorn beginnt und schließlich das eroberte Objekt an der Stelle fallen und liegen gelassen wird, wo es einst aufgesammelt worden war. Warum spielt diese merkwürdige Szene ausgerechnet in Europa?6 Eine mögliche Antwort: Der Schriftsteller Twain hielt das Bemühen um eine Lösung, mit der alle leben können, ebenso wie die Diskussionsbereitschaft, den Kampf und schließlich die tragische Tatsache, immer wieder von vorn beginnen zu müssen trotz des aufkeimenden Imperialismus und Antisemitismus sowie des zunehmenden technischen Fortschritts, der tiefe Einschnitte in gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten nach sich zog, für etwas typisch Europäisches. Könnte es sein, dass Europa auch heute noch für solche Auseinandersetzungen wie die der beiden Ameisen prädestiniert ist? Könnte es sein, dass die Situation, die Mark Twain 1880 schilderte, nichts von ihrer Gültigkeit verloren hat – setzt man an die Stelle der beiden Kämpferinnen nur zwei Protagonisten des europäischen Hauses? Was unterscheidet das Gezerre der Ameisen von dem politischen Gezerre um den richtigen Kurs in Europa? Und was unterscheidet das Grashüpferbein von den politischen Projekten, die von der EU verfolgt wurden und verfolgt werden? Ich möchte die Frage nach dem richtigen Kurs Europas mit einem Modell der griechischen Mythologie, genauer: der Argonautensage, beantworten. Das mag antiquiert klingen. Doch die Argonauten machen meines Erachtens deutlich, worum es tatsächlich geht. Der Mythos ist zudem ein wesentlicher Bestandteil der europäischen Literaturgeschichte, der gegenwärtige Probleme der politischen Kultur in Europa eindrucksvoll zu reflektieren hilft7 und die Forderung nach einer radikalen Demokratie unterstreicht. Zum Inhalt dieser Geschichte: Jason erhält von seinem Onkel, einem thessalischen Herrscher, den Auftrag, das Vlies des sprachbegabten Widders, auf welchem die Geschwister Phrixos und Helle vor den Mordplänen ihrer Schwiegermutter geflohen waren, aus dem Ares-Hain auf Kolchis zu rauben. Zwecks dieser Fahrt lässt Jason von Argos, dem Sohn des Phrixos, die mit 50 Rudern bestückte Argo bauen und fordert die berühmtesten Helden Griechenlands zur Teilnahme an dem Unternehmen auf. Jenseits der Welt der Sterblichen oder in Kolchis am Schwarzen Meer, wo es im Hain des Ares von einem Drachen bewacht wurde, sollen die Argonauten das Goldene Vlies finden. Während ihrer zahlreichen Abenteuer hören die Argonauten unter anderem an der Bosporosmündung am Schwarzen Meer das Getöse von zwei Felsen, die unaufhörlich zusammenprallen und den Schiffen die Durchfahrt unmöglich machen. Die Göttin Athene verleiht der Argos den notwendigen Antrieb, um das Felsentor zu durchfahren. Von da an stellen die in Erstaunen geratenen Felsen ihre tödlichen Bewegungen ein. Dann kommt das Schiff unter anderem zu den Kabiren nach Samothrake, jenen Göttern, die als Beschützer der Seefahrer und Schiffbrüchigen galten. Jason und die Argonauten fahren sodann durch den Hellespontos. An der nach Helle benannten Meerenge, die das Ägäische Meer mit dem Marmarameer verbindet, erhebt sich die unwegsame Bäreninsel. Dort werden die Argonauten

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Tatsächlich spielt sie im Neckargebiet. Paul Dräger (2002): Die Fahrt der Argonauten, griechisch/deutsch. Stuttgart.

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von Kyzikos, dem jungen König der Dolionen, freundlich aufgenommen. Im Mythos ist von thrakischen Winden die Rede, die das Schiff in die Nähe der phrygischen Küste treiben, wo sechsarmige, wilde Riesen und die friedlebenden Dolionen nebeneinander wohnen. Die Dolionen stammen vom Meeresgott ab, der sie vor den Ungeheuern beschützt. Kyzikos ist ihr frommer König. Er überredet sie, „noch weiter zu rudern und das Schiff im Hafen der Stadt vor Anker zu legen. Der König hatte längst einen Orakelspruch erhalten: Wenn die göttliche Schar der Heroen käme, so sollte er sie liebreich aufnehmen und ja nicht bekriegen. Er versah sie deswegen reichlich mit Wein und Schlachtvieh.“8 Die Widrigkeiten und die Umstände, den Gefahren und Witterungen, denen die Argonauten ausgesetzt sind, gehen auch an der Argo nicht spurlos vorüber. Ihre in Mitleidenschaft gezogenen Einzelteile werden nach und nach ersetzt, bis am Ende ihrer Fahrt ein völlig neues Schiff entstanden ist, ohne dass der Name – Argo – oder die Form des Schiffes sich geändert haben. Auf den ersten Blick betrachtet, ist es dasselbe Schiff, das in Thessalien losfuhr. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es sich bei der Argo als Sujet der antiken Mythologie um eine Allegorie handelt. Der französische Kulturwissenschaftler Roland Barthes interpretiert die Argo als eine Allegorie „für einen zuhöchst strukturalen Gegenstand“9, der nicht bloß durch Genie, Eingebung oder Entschlossenheit geschaffen worden sei, sondern durch zwei bescheidene Taten. Einerseits durch Substitution, indem ein Stück dem anderen folgt, das heißt Teile der Argo werden nach und nach ersetzt, und andererseits durch Nomination, das heißt, der Name – Argo – ist nicht an die Stabilität der Einzelteile gebunden. So verändert sich nicht zuletzt ihre Herkunft, denn die Argo, so Barthes, sei ein Gegenstand „mit keiner anderen Ursache als sein Name“ und sie habe „keine andere Identität als seine Form.“10 So viel zum Mythos. Aber was hat das Schicksal der Argonauten, was hat die Geschichte der Argo mit der Kultur der modernen Städte Europas zu tun? Eine kurze Antwort: Teile der kulturellen Wirklichkeit moderner Gesellschaften werden nach und nach ersetzt, ein Kulturbaustein folgt dem nächsten ohne dass das Ganze – nennen wir es das »europäische Kulturschiff« – die Form geändert hat, auch wenn es inzwischen ein völlig neues Schiff ist. Kultur ist so verstanden jenes Deck, auf dem sich verschiedene Zivilisationen mitsamt ihren spezifischen Ausprägungen im Rahmen einer gemeinsamen, modernen gesellschaftlichen Infrastruktur näher kommen. Kultur meint mithin die Pflege der Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen oder auch der Symbolgehalte einer Gesellschaft. Diese Gesamtheit und damit auch ihre Pflege werden zwangsläufig durch Generationenwechsel, Migration, Korrektur an tradierten Wertvorstellungen und so weiter einem ständigen Wandel unterzogen. Kultur ist die Gesamtheit friedliebender, toleranter und freiheitlich organisierter Menschen und Gesellschaften. Auf dem Schiff selbst müssen aus diesem Grunde keine Brücken mehr gebaut werden. Denn das Schiff fährt, weil alle an ihm mitbauen. Die Betonung liegt auf dem Wort „alle“. Denn das Schiff ist eben-

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Gustav Schwab (1956): Die Argonautensage. Wien und Heidelberg, S. 19. Roland Barthes (2010): Über mich selbst. Berlin, S. 51. Ebd.

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so wenig wie eine europäische Stadt bloß eine Marke. Und keine Stadt ist bloß ein „Unternehmen. Eine Stadt ist ein Gemeinwesen. Wir stellen die soziale Frage, die in den Städten heute auch eine Frage von Territorialkämpfen ist. Es geht darum, Orte zu erobern und zu verteidigen“11, die das Leben in der Stadt auch für die lebenswert macht, die nicht primär als Zielgruppe pulsierender Metropolen taugen. Genau das verdeutlicht die Sage der Argonauten. Zwar ließe sich in einer zweiten Übertragung der antiken Allegorie zunächst festhalten, dass der Name Kultur nicht an die Stabilität seiner Einzelteile gebunden ist (so verändert sich zwangsweise die Herkunft der kulturellen Sphäre moderner Gesellschaften, denn Kultur ist ein Phänomen mit keiner anderen Ursache als ihr Name, und sie hat ebenfalls keine andere Identität als ihre Form. Teile der Kultur unterliegen, wie uns die Argonautensage zeigt, dem Wandel. Damit unterliegt das Ganze, unterliegt Kultur ebenfalls dem Wandel. Wandel ist notwendig, um die Kultur lebendig zu halten). Entscheidend aber ist, dass der Wandel einzelner Bausteine der Kultur so vollzogen wird, dass das Gesamtgefüge nicht auseinander bricht. Wenn das Schiff ein Leck bekommt, sind alle Seeleute aufgefordert, es zu flicken, weil sonst das Schiff sinkt, das heißt die Kultur untergeht. (Doch was geschieht in Europa? Es werden nur einige Yachten der Kultur gebaut, während woanders die Menschen in maroden Kähnen ertrinken … ) Die nicht minder dringende Frage, die wir uns selbstkritisch stellen müssen, wenn wir von einer europäischen Idee und vom Dialog der Kulturen in Europa sprechen möchten, lautet: Gegen was oder wen kämpft dieser Dialog eigentlich, oder: Wer sind die Feinde des Dialogs? Kultur kämpft schließlich nicht gegen Kultur, sondern nur gegen die Unkultur, gegen die Barbarei und die Intoleranz. Genau dort lauern die Feinde des Dialogs, die das Schiff zum Sinken bringen wollen. Gewiss kann es einen echten Kulturdialog nur auf einem Schiff geben, das durch unsichere Gewässer fährt. Es gilt jedoch, gegen die Bedrohungen des Untergangs von Kultur all jene Kräfte zu mobilisieren, die das Schiff sicher über das Meer der Gefahren lenken. Andernfalls droht allen eine Kultur der Vernichtung, die immer auch eine Vernichtung von Kultur, und das heißt der Pluralität der Menschen und ihrer Weltbezüge ist. An dieser Vernichtung wird gegenwärtig massiv gearbeitet. Vor allem dort, wo die Städte ihre Kultur scheinbar fördern. Letztlich subventionieren sie vorrangig die eigene Mediokrität, weil das Subversive, die Kunst, selten massenkompatibel ist. Aber auch in den Medien, seitens der Politik, bei Meinungsmachern: Europas Kultur wird von Thersites und seinesgleichen beherrscht. Die Städte zeigen ihr hässlichstes Gesicht, wenn sie Fassaden der Kultur errichten, hinter denen eine Kultur des Abgeschmackten, Missgestalteten, Fratzenhaften lauert. Kultur lebt nur, wenn sie mit Muße und nicht mit Profit einhergeht. Und sie stirbt, wenn Bürokraten sie organisieren; wenn aus der Stadt »Passagen« herausgeschnitten werden; wenn »Vernetzung« die Wege des Esels wie ein virtuelles Palimpsest überzieht, und Zukunft »gestaltet« wird. Die Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs in Europa, die bislang erfolglose Suche nach dem Kap Europas, aber auch der zweifelhafte Aktionismus

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Twickel, a.a.O., S. 120.

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im Rahmen der Kulturhauptstadtplanungen deuten an, dass Europa tatsächlich ein Projekt mit offenem Ausgang, ein Projekt im Werden zu sein scheint: „Um nur eine Aufgabe zu nennen, an der die Größe des zu Leistenden deutlich wird: Daß Europa werde, setzt voraus, dass jede seiner Nationen ihre Geschichte umdenke; dass sie ihre Vergangenheit auf das Werden dieser großen Lebensgestalt hin verstehe. Welches Maß an Selbstüberwindung und Selbstvertiefung aber bedeutet das!“12 Die Geschichte Europas umdenken bedeutet, die metamorphotische Gestalt Europas in den Blick zu nehmen. Ovid hat in seinen Metamorphosen, einem der wichtigsten antiken, europäischen Texte die Verwandlungen verschiedener Protagonisten geschildert, die die Wendepunkte des Schicksals auch von Menschen beschreiben, die zur Reflexion auf ihr Tun genötigt werden. Narziss, Orpheus, Pygmalion und andere durchleben auf verschiedenste Art und Weise die Konsequenzen ihrer Hybris. Die Verwandlung ihrer selbst ist ein notwendiger Prozess zur Erlangung eines neuen Reifestadiums. Das Charakteristikum Europas ist mithin Verwandlung. Ohne Verwandlung unseres Selbst als Europäer gelingt es nicht, die europäische Idee lebendig zu halten. Nicht Brüssel, sondern die Bürger Europas sind das Gesetz, aus dem sich die europäische Idee speist. Nur das gelebte Europa, das gemeinsam gestaltete, demokratisierte Europa vermag es, endgültig Schluss mit dem Barbarentum zu machen. Es gilt, sich nicht als Opfer des europäischen Gesetzes zu sehen, sondern als Mitgestalter. Es gilt, der gefühlten Ohnmacht etwas entgegenzusetzen. Es gilt, sich grundsätzlich anders zu verhalten als Kafkas Mann vom Lande, dem ein mysteriöser Türhüter den Zugang zum Gesetz verwehrt. Er versichert dem Mann immerzu, er könne ihm den Eintritt im Augenblick nicht gewähren. Der Mann wundert sich, weil er glaubt, das Gesetz sei jedem und immer zugänglich. So wartet er bis an sein Lebensende vor der Tür, die nur die erste von vielen auf dem Weg in das Gesetz ist, wie der Türhüter beteuert. Kurz vor seinem Tode sammeln sich im Kopf des Mannes vom Lande seine Erfahrungen mit dem Türhüter zu einer letzten Frage, die er in all der Zeit nicht gestellt hat. Noch einmal wendet er sich dem Türhüter zu und sagt, alle Menschen strebten nach dem Gesetz, und er wundere sich, wieso in den vielen Jahren, die er nun auf den Eintritt in das Gesetz warte, niemand außer ihm Eintritt verlangt habe. Der Türhüter antwortet, dass sonst niemand hätte Einlass erhalten können, da der Eingang nur für den Mann selbst bestimmt gewesen sei. Er, der Türhüter, ginge nun und schließe diesen Eingang.13 Diesen Türhüter gibt es nur, weil der Mann vom Lande nicht an sich als Mitgestalter des Gesetzes glaubt. Genauso verhält es sich mit dem Gesetz Europas, mit der europäischen Idee. Der Mann vom Lande geht davon aus, dass ihm ein Anderer den Zugang verweigere und ihm so die Partizipation am Gesetz verwehre. Er fühlt sich der Gerechtigkeit beraubt. Freilich ist Kafkas Text nur eine Parabel, ein Gleichnis für das subjektive Empfinden, des Rechts beraubt worden zu sein. Europa hingegen „kann man nicht rauben. Genauer gesagt: sollte es ge-

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Romano Guardini (2003): Damit Europa werde. Wirklichkeit und Aufgabe eines zusammenwachsenden Kontinents. Kevelaer, S. 32. Vgl. Franz Kafka (2005): Der Prozess. Frankfurt a.M.

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raubt worden sein, dann ist das, was an seiner Stelle geblieben ist, Europa … Europa ist, was es ist. Es gibt keine Klammern und Anführungsstriche. Da ist nicht etwas, was wir erreichen könnten, sondern da ist das Ganze, und darin sind wir, und die Frage ist …, was dieses Ganze ist.“14 Das bedeutet, Europa ist jenes Gesetz, das es nur gibt, weil es Europäer gibt, ein Konstrukt, von dem man noch (immer) nicht weiß, was aus ihm wird, ein Stück politisierter Raum ohne spezifische Kultur, stets im Werden begriffen, doch nichtsdestoweniger »das Ganze«. Möglicherweise ist es die wichtigste Aufgabe, über das nachzudenken, was die europäische Idee auszeichnet, was eine europäische Identität ist,15 und europäische Verantwortung und echte europäische Integration, eine Integration aller Betroffenen, eine Erneuerung des europäischen Ethos. Demnach wäre das Werden, wäre die anhaltende Metamorphose Europas eine zutiefst politische Aufgabe, die eine andere Art der Identität schafft, indem sie eine Identität ohne Stimme im Plural ablehnt. Acting in concert und die Wiederentdeckung des Menschen jenseits der unreflektierten Religion des Kapitals sind in diesem Kontext nach wie vor die beiden zentralen Aufgaben, um die europäische Idee lebendig zu halten. Andernfalls droht Europa erneut in Sprachlosigkeit und Barbarei zu verfallen.

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Péter Esterházy in: Ingrid Kruse (1992): Europa beim Wort genommen. 115 PortraitPhotographien. München, S. 92. Sieh die Rede des Staatspräsidenten der Tschechischen Republik, Václav Havel, am 8. März 1994 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg, nachzulesen auf den Internetseiten der Europa-Union. Stand: Februar 2011.

EPILOG Wann ist Frieden, endlich Frieden und das Ende der Barbarei! (Reinhard May) „Auf welcher Seite stehst du? Das Gesetz der Leistung oder der Selbstverrat, der Verrat an allem, was uns getragen, umarmt und ernährt hat? Muss man sich verantwortlich fühlen, bloß weil man vom selben Blut ist? Ich habe nur eine Antwort darauf: Wenn man nicht am großen Gemetzel teilnehmen will und ernsthaft wünscht, nicht zum Rückzug gezwungen zu werden, muss man desertieren, die Macht verweigern, zurücktreten, bevor der Moment kommt, an dem die Maschinen einen in die Pflicht nehmen. Man muss sich dem Gehorsam verweigern, seinen Job hinschmeißen, sich selbst entlassen.“ (Camille de Toledo)

Die Kriegstoten, die Massengräber, hieß es eingangs, seien Dispositive der europäischen Geschichte. Die Dokumente der europäischen Kultur zeigten sich nicht zuletzt als Dokumente der Barbarei. Es sind die negativen Elemente der Geschichte, ohne die der Aufstieg Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht denkbar ist. Denn nach dem Zivilisationsbruch galt es, Europa als Gegenpol zur Unmenschlichkeit totalitärer Systeme zu etablieren. Welche gesellschaftspolitischen Aspekte waren es wert, bewahrt zu werden? Wie ließ sich auf den Feldern der europäischen Katastrophengeschichte eine neue demokratische Staatenordnung errichten? Acting in concert lautete eine der politischen Losungen der Nachkriegszeit. Internationalität und Intersubjektivität sollten an die Stelle der Erfahrungen von Weltlosigkeit und Barbarei treten. Das gelebte, miteinander kommunizierende Europa wurde zum Leitbild nach 1945. Die Utopie: Sich nicht von der Vergangenheit richten zu lassen, sondern Bewohner einer gemeinsamen europäischen Geschichte zu werden. Doch nicht nur der Eiserne Vorhang verhinderte die Verwirklichung dieses Anspruchs. Europa blieb the future that never was. Eine Zukunft, die geprägt war von einem Dialog der Schwerhörigen, die neben dem Marktmodell des kognitiven Kapitalismus eine bloße Zuschauerdemokratie in Europa schufen. Der militärischen Aufrüstung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnete die Gesellschaft der Zuschauer mit der Abrüstung ihrer normativen Wertvorstellungen. Ich habe versucht, mit Hilfe der Geschichtsphilosophien von Walter Benjamin und Hannah Arendt daran zu erinnern, dass das europäische Projekt nur dann eine Zukunft hat, wenn sich die Europäer wieder auf die Ursprünge des europäischen Gedankens konzentrieren: Die Einbeziehung des Anderen, die Rückbesinnung auf eine mentalitätsgestaltende Politik, die der voranschreitenden europaweiten Entsolidarisierung entgegentritt. Dazu gehören die demokratische Verrechtlichung sowie die Würde des Menschen als Quelle aller Grundrechte. Die Felder der Geschichte Europas liegen weiterhin voller Steine, die nutzlos liegen geblieben sind. Der größte Stein, den es zu schleifen gilt, ist das Verhältnis von Politik und Gesellschaft in Europa. Er entscheidet über die weitere Zukunft des europäischen Hauses.

Summary In July 2007, somewhat more than 50 years after the Treaties of Rome had been signed, in the daily newspaper România libera Romanian author Matei Visniec was looking for a foundation for Europe, and he found it among the various layers of European dead.1 Wherever in Europe somebody was digging, there were bones. The dead, said Visniec, were a message to the later generations in Europe. The war dead and the mass burials are dispositives of European history: “It is dying along the road, in the tank battle, without name and escape, far below in the burning cities.”2 This idea is worth being discussed. I will take it up on the following pages, and I will argue that the modern idea of Europe developed from the message of Europe´s war dead and the spirit of the immediate post-war period. This period was characterized by the attempt to counter the general speechlessness given the barbarianism on Europe´s battlefields by a promising political vision. The eternal vicious cycle of preparing for the coming war, arms race and rearmament was supposed to be broken by establishing a serious civil society and political alternative called Europe. In the years following the war, the political dialogue, in which one engaged more or less successfully after the battlefields had been cleaned, was considered the foundation of new Europe. In the late summer of 1933 Heinrich Mann wrote that the cause for the previous wars in Europe had been a conspiracy of the state and the trusts. Mann´s diagnosis was more than prescience of what was to come in Europe in the following years. Paradoxically, it was precisely a new conspiracy between states and business what was to secure somewhat stable conditions in Europe after 1945. For the political premises had changed radically. This is meant to say that not the conspiracy as such is the cause of war but the quality of the political which makes the conspiracy enter the stage of society. It was Mann himself who gave the answer to this political change: “It depends on the responsibility of humans, on their readiness and willingness, if an age of reason will begin. Irrationalism had pushed through effortlessly; reason, however, will never be automatically victorious; no self-active causes will easily introduce it into what is going on, it must be fought for.”3 The idea that also reason could be fought for, that was the great hope of all political utopias of the post-war period. However utopia, says Mann, was “never the belief in everything reasonable being thus possible. Utopia is the revival of the archaic.”4 Revival of the archaic: already in 1933 Heinrich Mann envisioned the future of Europe as a transnationally connected Europe, as a kind of European confederacy, in order of overcoming one´s national hatred of the other. However, only after the Cold War the decades-long political and military confrontation of entire

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Matei Viüniec (2007): Europa si cultura razboiului. In: www.romanialibera.ro/opinii/comentarii/europa-si-cultura-razboiului-100032.html. February 2012. Karl Schlögel (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. Frankfurt a.M., p. 435. Heinrich Mann (1984): Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte. Berlin und Weimar. Original edition: 1933. Ibid. p. 37.

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continents was temporarily over. Nevertheless, the change of Europe is going on, without being able to completely heal the wounds of history and without any clearly identifiable goal. With the 21st century progressing, increasingly the war experiences of the older generations, which decisively influenced the political experiences during the Cold War of those having been born later, are increasingly fading. No stimulating narrative of the idea of Europe is in sight. Indeed, apart from the idea of the world as we know it, after 1989 for the first time there was reason to hope that the future-oriented idea of a political order in the context of a united Europe might become reality. However, doubtlessly Europe as a slogan of the post-war periods has itself become synonymous for crises. Until the end of the short 20th century things had been looking quite differently. Typically, we can identify a number of parallels between the idea of Europe as it was developed during the Cold War and that which had been formulated already shortly after Napoleon´s defeat. Apart from many symbolic aspects, in both periods Europe seemed to be the only possibility to lastingly excape the horrors of war: since the 19th century Europe has been based on the idea of politically compensating the silence caused by war and of rediscovering or reviving humanity. The Europe-oriented ways of thought after 1945 took the speechlessness caused particularly by the Second World War as an opportunity to start a dialogue of cultures via the idea of Europe, hoping that this would secure peace. Since the end of the Cold War, also European studies have been connecting to this, working out the successes of this attempt, thus themselves contributing to the myth of Europe. Europe has always been the essential topic of political and intellectual discourses in times of crisis and periods of insecurity. Which aspects of social policy were worth keeping? How could a new democratic system of states be established on the fields of the history of European desasters? “Acting in concert” was one of the political slogans of the post-war period: internationality and intersubjectivity were supposed to replace the experiences of worldlessness and barbarianism. A lived, communicating Europe became the guiding model after 1945. The utopia: not to be judged by the past but to become inhabitants of a common European history. But not only the Iron Curtain prevented this demand from being realized. Europe stayed to be “the future that never was”. A future, characterized by a dialogue among the deaf who, apart from the market model of cognitive capitalism, created a sheer spectators´ democracy in Europe. The company of spectators reacted to the military rearmament of the second half of the 20th century by a disarmamant of their normative values. By employing Walter Benjamin´s and Hannah Arendt´s philosophies of history5, The End of Barbarianism reminds us that the project of Europe will have a future only if once again the Europeans concentrate on the origins of the idea of Europe: the inclusion of the other, the return to mentality-creating politics which works against the ongoing, Europe-wide erosion of solidarity. Among this there

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On this: Detlev Schöttker/Erdmut Wizisla (Hg.) (2006): Arendt und Benjamin: Texte Briefe Dokumente. Frankfurt a.M.

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count democratic juridification and human dignity as the source of all basic rights. The debates on the right course for Europe, the for the time being futile search for Cape Europe, but also the doubtful activist pose of planning Capitals of Culture indicate that indeed Europe seems to be an open-ended project. This requires that Europe´s nations will rethink their histories and question their own national histories about their European dimensions.6 Not at last, rethinking the history of Europe means taking Europe´s metamorphoses into consideration. In his Metamorphoses, one of the most important ancient European texts, Ovid described the change of a variety of protagonists, thus describing the turning points of the fates also of humans who are forced to reflect on what they were doing. In the most different ways, Narcissus, Orpheus, Pygmalion and others experience the consequences of their hubris. Changing themselves is a necessary process for them to achieve another stage of maturity. What is typical for Europe is such a change. Without changing ourselves as Europeans we will not succeed with keeping the idea of Europe alive. Not Brussels but the citizens of Europe are the law from which there comes the idea of Europe. Only a lived Europe, a commonly organized, democratized Europe will be capable of finally putting an end to barbarianism. We must no longer consider ourselves victims of European law but contributors. We need something to counter our perceived powerlessness. We must act fundamentally different from Kafka´s man from the country who is prevented access to the law by a mysterious gatekeeper. All the time the latter tells the man that currently he cannot grant him access. The man is wondering, because he believes that the law is accessible to anybody at all times. Thus, until his death he keeps waiting at the door which, as the gatekeeper tells him, is only the first one out of many ones leading to the law. Immediately before his death, in the head of the man from the country all the experiences he has made with the gatekeeper form into one last question which all the time he has not asked. Once again he turns to the gatekeeper, saying that all humans were striving for the law and that he was wondering why during the many years he has been waiting to be granted access to the law nobody else had been demanded access. The gatekeeper answers that nobody else had been granted access because this entrance had been meant just for the man himself. He, the gatekeeper, would now go and close this entrance.7 This gatekeeper exists only because the man from the country does not believe in himself as a contributor to the law. It is the same with the law of Europe, with the idea of Europe. The man from the country assumes that somebody else is preventing him from access, thus preventing him from participating in the law. He believes to be bereaved of justice. Granted, Kafka´s text is just a parable, an allegory for the subjective perception of being bereaved of justice. Europe, on the other hand, “cannot be robbed. More precisely: if it has been robbed, then that what is left is Europe ... Europe is what it is. There are no brackets and quotation

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See Romano Guardini (2003): Damit Europa werde. Wirklichkeit und Aufgabe eines zusammenwachsenden Kontinents. Kevelaer, p. 32. See Franz Kafka (2005): Der Prozess. Frankfurt a.M.

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marks. There is nothing we might achieve but there is the entirety, and within that it is us, and the question is ... what this entirety is.”8 This means that Europe is that law which exists only because there are Europeans, a construct of which (still) we do not know how it will develop, a piece of politicized space without a specific culture, always in the making, but nevertheless “the entirety”. Maybe the most important task is reasoning about what makes the idea of Europe unique, what makes a European identity9, and what makes European responsibility and true European integration, an integration of all those concerned, a renewal of the European ethos. According to this, the growing, the ongoing metamorphosis of Europe is a deeply political task, creating a different kind of identity by rejecting an identity without plural voice. The fields of the history of Europe are strewn with stones which have been left useless. The biggest stone which must be cut is the attitude of politics and society towards Europe. This will decide about the further future of the European House which, after all, is the only possible answer to the experiences of war in modernity.10

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Péter Esterházy in: Ingrid Kruse (1992): Europa beim Wort genommen. 115 PortraitPhotographien. München, p. 92. See the speech by the President of the Czech Republic, Vaclav Havel, at the European Parliament in Strasbourg on March 8th, 1994, found on the Internet pages of Europa-Union, February 2011. Translation: Mirko Wittwar.

Résumé En juillet 2007, plus de 50 ans après la signature du traité de Rome, l’écrivain roumain Matei Viüniec cherchait un des fondements de l’Europe dans le quotidien România libera et le trouva dans les tas de cadavres européens empilés les uns sur les autres.1 Peu importe où l’on creuse en Europe, on trouve des ossements. Les morts sont, selon Viüniec, un message pour les générations suivantes en Europe. Les morts de la guerre et les fosses communes sont des dispositifs de l’histoire européenne : « C’est l’agonie au bord du chemin, dans la bataille des chars, dans l’anonymat et l’absence d’issue dans les villes enflammées. »2 Cette pensée vaut la peine d’être discutée. Je la reprendrai sur les pages suivantes et argumenterai que l’idée européenne moderne s’est développée à partir du message des morts de la guerre et de l’esprit qui régnait tout juste après la guerre. Ces temps étaient marqués par la tentative d’opposer une vision politique tournée vers l’avenir à la stupeur générale face à la barbarie sur les champs de guerre européens. Une vraie alternative politique et sociale nommée « Europe» devait remédier au cycle éternel de la préparation à la prochaine guerre, à la course aux armements et au réarmement. Après que les champs de bataille aient été nettoyés le dialogue politique devait être la base de la nouvelle Europe des années suivantes. Cette stratégie connut plus ou moins de succès. A la fin de l’été 1933 Heinrich Mann écrivait que la cause des guerres précédentes en Europe avait été une conspiration de l’Etat avec les industries. Le diagnostic de Mann était plus qu’un pressentiment de ce qui attendait l’Europe dans les années suivantes. Paradoxalement, c’était justement une nouvelle conspiration des Etats et de l’économie qui provoqua après 1945 des conditions relativement stables en Europe. Car, les conditions politiques avaient changées de manière radicale. Cela signifie que la conspiration en tant que telle n’était plus la cause des guerres mais bien la nature de la politique, avec qui la conspiration entre sur le devant de la scène sociétale. Heinrich Mann lui-même donna la réponse au changement politique: « Cela dépend des hommes, de leur bonne volonté et de leurs dispositions, qu’une époque de la raison commence ou non. L’irrationalisme s’était imposé sans peine mais la raison ne vainc jamais d’elle-même, il n’y a pas d’enchaînements automatiques qui introduisent la raison dans les événements, elle doit être conquise. »3 C’était le grand espoir de toutes les utopies politiques de l’après-guerre que l’on puisse aussi conquérir la raison. Pourtant, l’utopie n’était « jamais la croyance que tout ce qui est raisonnable est également possible. L’utopie est la résurrection de ce qui est décédé. »4 La résurrection de ce qui est décédé : déjà en 1933 Heinrich Mann voyait l’avenir de l’Europe dans un continent supranational uni, comme une sorte de

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Matei Viüniec, Europa si cultura razboiului, 2007, Adresse: www.romanialibera.ro/opinii/comentarii/europa-si-cultura-razboiului-100032.html, consulté en février 2012. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a.M., 2003, p. 435. Heinrich Mann, Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte, Berlin et Weimar, 1984 (1933). Id., p. 37.

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fédération d’Etats européenne ayant pour but de surmonter la haine, empreinte de nationalisme, de l’un envers l’autre. Ce n’était qu’après la Guerre Froide que la confrontation politique et militante de pans entier du monde, qui avait duré plusieurs décennies, s’était temporairement finie. Néanmoins l’Europe continue à changer, sans pouvoir complètement guérir les blessures de l’histoire et sans avoir de but clairement visible. Les expériences des anciens qui avaient fortement marqué les expériences européennes des générations suivantes pendant la Guerre Froide s’estompent à vue d’œil, avec la progression du XXIe siècle. Une narration stimulante de l’idée européenne n’est pas en vue. A part l’impression que le monde que nous connaissions prenait fin, il y avait après 1989 pour la première fois un espoir fondé que devienne réalité une Europe unie orientée vers l’avenir. Mais l’Europe, mot d’ordre de l’après-guerre, est incontestablement devenue le synonyme de crises. Jusqu’à la fin du court XXe siècle cela n ‘était pas le cas. Il est frappant que l’on puisse trouver de nombreuses parallèles entre l’idée européenne comme on l’a développée pendant la Guerre Froide et celle-là qui a été déjà formulée après la défaite de Napoléon. Outre les nombreux aspects symboliques, l’Europe semblait être aux deux époques le seul chemin pensable pour échapper aux horreurs de la guerre sur le long terme: Depuis le XIXe siècle l’Europe repose sur l’idée de compenser politiquement le mutisme causé par la guerre et de redécouvrir ou faire revivre l’humanité. C’est notamment après 1945 que la pensée européenne a profité du mutisme qui a été surtout provoqué par la deuxième guerre mondiale pour amorcer un dialogue entre les cultures sur l’Europe qui devrait assurer la paix. Depuis la fin de la Guerre Froide les études européennes prennent le relais, assumant le succès de cet essai et par conséquent contribuant elles-mêmes au mythe Europe. Pendant les périodes de crises et d’incertitude l’Europe a constamment été le sujet central des débats politiques et intellectuels. Quels aspects en matière de politique sociale valait-il la peine de préserver ? Comment a-t-on réussi à construire sur les champs de l’histoire des catastrophes européennes un nouvel ordre d’Etats démocratique ? Un des mots d’ordre politique de l’après-guerre est acting in concert (agir en entente) : L’internationalité et l’intersubjectivité doivent remplacer les expériences d’égoïsme et de barbarie. L’Europe vécue qui communique entre elle devient le modèle après 1945. L’utopie : Ne pas se laisser diriger par le passé mais devenir des habitants d’une histoire européenne commune. Mais ce n’est pas seulement le rideau de fer qui empêcha la réalisation de ces prétentions. L’Europe resta the future that never was (l’avenir qui n’existait jamais). Un avenir qui a été marqué par un dialogue de sourds qui outre le modèle de marché du capitalisme cognitif créèrent une pure démocratie de spectateurs en Europe. La société des spectateurs accueillit l’armement de la deuxième moitié du XXe siècle par le désarmement de ses valeurs normatives. A l’aide des philosophies de l’histoire de Walter Benjamin et Hannah Arendt5 La fin de la barbarie nous rappelle que le projet européen n’a qu’un avenir si les Européens se concentrent sur les racines de la pensée européenne :

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A ce sujet cf.: Detlev Schöttker et Erdmut Wizisla (éd.), Arendt und Benjamin: Texte Briefe Dokumente, Frankfurt a.M., 2006.

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L’implication de l’autre, le retour à une politique créant des mentalités, luttant contre la désolidarisation progressive dans l’Europe entière dont font partie la judiciarisation démocrate et la dignité humaine comme la source de tous les droits fondamentaux. Les discussions pour trouver la bonne voie en Europe, la recherche du cap de l’Europe jusqu’à présent infructueuse mais aussi l’activisme douteux dans le cadre de la planification de la capitale culturelle montrent que l’Europe semble effectivement être un projet au dénouement ouvert. Cela réclame que les nations d’Europe s’approchent différemment à leur histoire et interrogent leur propre histoire nationale en vue de sa dimension européenne.6 Repenser l’histoire de l’Europe veut notamment dire d’examiner la métamorphose de l’Europe. Dans ses Métamorphoses, un des plus importants textes antiques et européens, Ovide a décrit les métamorphoses de divers protagonistes qui reflètent également les tournants du destin des Hommes qui sont alors forcés à la réflexion sur leurs actes. Narcisse, Orphée, Pygmalion et d’autres vivent les conséquences de leur hybris différemment. Leur propre métamorphose est un processus nécessaire pour accéder à une nouvelle phase de maturité. La caractéristique de l’Europe est une telle métamorphose. Sans notre propre métamorphose en tant qu’Européens nous ne réussirons pas à maintenir l’idée européenne en vie. Non pas Bruxelles mais les habitants de l’Europe sont la loi à partir de laquelle l’idée européenne se restaure. Seulement l’Europe que l’on vit, l’Europe démocrate, organisée en commun est à même d’arrêter définitivement la barbarie. Il ne s’agit plus de se voir en tant que victime de la loi européenne mais en tant que son cocréateur. Il s’agit d’opposer quelque chose au sentiment d’impuissance. Il s’agit de se comporter d’une façon fondamentalement différente à l’homme de la campagne de Kafka auquel un gardien proscrit l’accès à la loi. Il assure l’homme continuellement qu’il ne peut pas lui accorder l’entrée en ce moment. L’homme est étonné parce qu’il croit que la loi est toujours accessible à tout le monde. Donc il attend jusqu'à sa mort devant la porte qui n’est que la première d’un grand nombre de portes sur le chemin de la loi, lui assure le gardien. Peu de temps avant la mort de l’homme de la campagne, ses expériences avec le gardien s’accumulent dans sa tête et forment une grande question qu’il n’a pas posée pendant tout ce temps. Encore une fois il s’adresse au gardien et dit que tous les hommes aspirent à la loi et qu’il s’étonne pourquoi pendant toutes ces années-là qu’il attend l’entrée dans la loi, personne à part lui n’a demandé à entrer. Le gardien répond que personne d’autre sauf lui n’aurait pu obtenir l’accès car l’entrée n’était destinée qu’à lui en personne. Lui, le gardien, s’en ira maintenant et fermera cette entrée.7 Ce gardien n’existe que parce que l’homme de la campagne ne se voit pas en tant que cocréateur de la loi. Il en est de même pour l’idée européenne. L’homme de la campagne part du principe qu’un autre lui refuse l’accès et ainsi lui proscrit la participation à la loi. Il se sent dépouillé de justice. Bien sûr que le texte de Kafka n’est qu’une parabole, une parabole pour l’impression subjective d’avoir été dépouillé du droit. Mais en revanche « on ne peut pas enlever [l’Europe]. Pour être plus précis : Si elle avait été enlevée, ce qui reste à sa place, c’est

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Cf. Romano Guardini, Damit Europa werde. Wirklichkeit und Aufgabe eines zusammenwachsenden Kontinents, Kevelaer, 2003, p. 32. Cf. Franz Kafka, Der Prozess, Frankfurt a.M., 2005.

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l’Europe… l’Europe est ce qui est. Il n’y a pas de parenthèse ni de guillemets. Il n’y a rien que nous pourrions atteindre mais il y a l’ensemble et nous sommes làdedans et la question est... ce que c’est l’ensemble. »8 Cela veut dire que l’Europe est cette loi-là qui n’existe que parce qu’il y a des Européens, c’est une construction dont on ne sait pas encore, ce qu’elle va devenir, un morceau d’espace politisé sans culture spécifique toujours en cours de réalisation mais néanmoins il est « l’ensemble ». Peut-être que c’est le devoir le plus important de réfléchir à ce que c’est l’idée européenne, l’identité européenne9 et la responsabilité européenne, la vraie intégration européenne, une intégration de toutes les personnes concernées, un renouvellement de l’éthique européenne. Il en ressort que la réalisation était la métamorphose persistante de l’Europe, un devoir politique au plus haut point qui crée une autre sorte d’identité en refusant, au pluriel, une identité sans voix. Les champs de l’histoire de l’Europe sont pleins de pierres qui y ont été laissées, inutiles. La plus grande pierre à tailler est la relation entre la politique et la société en Europe. Elle décide de l’avenir de la maison européenne qui représente finalement bien la seule réponse possible aux expériences de la guerre de l’époque moderne.10

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Péter Esterházy, dans Ingrid Kruse, Europa beim Wort genommen. 115 Portrait-Photographien, München, 1992, p. 92. Comparez avec le discours du Président de la République Tchèque, Václav Havel, le 8 mars 1994 devant le Parlement Européen à Strasbourg, à vérifier sur le site Internet www.europaunion.de, consulté en février 2011. Translation: Kristina Weiss.

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PERSONENREGISTER Adenauer, Konrad 85f. Adorno, Theodor W. 24f., 104 Agamben, Giorgio 29 Ahmadinejad, Mahmud 62 Alexander III. 37 Arendt, Hannah 8, 17, 39, 42, 45-61, 79, 112, 122, 124, 129 Aristoteles 34, 54f., 57, 111 Assmann, Aleida 29, 92 Augustin 34, 54, 49

Bakunin, Michail 42 Barraclough, Geoffrey 68 Barthes, Roland 118 Bataille, Georges 24 Beck, Ulrich 77 Beethoven, Ludwig von 19 Benda, Julien 67 Benhabib, Seyla 78 Benjamin, Walter 8, 19-34, 56, 79, 89, 94, 122, 124, 128 Bentham, Jeremy 63 Bernstein, Eduard 43 Bhabha, Homi 52 Birnbaum, Nathan 37 Bloch, Marc 29, 34 Bodin, Jean 106 Boehm, Max Hildebert 18f. Böll, Heinrich 91f. Bonaparte, Jérôme 10 Bonaparte, Napoleon 8ff., 13ff., 124, 128 Borchert, Wolfgang 91 Brandes, Georg 19 Brandt, Willy 108 Brecht, Bertolt 23, 28 Bredel, Willi 23 Briand, Aristide 18 Bruck, Arthur Möller van den 18 Brun, Friederike 10 Brun, Konstantin 10 Bullock, Alan 45 Burckhardt, Jakob 79

Burke, Edmund 47 Burke, Peter 71

Canaris, Wilhelm 20 Capa, Robert 13 Coudenhove-Kalergi, R. Nikolaus 18 Crouch, Colin 65 Crouch, Eliza 113

Dahrendorf, Ralf 41f. Danton, Georges, Jacques 42 Dawson, Christopher 19 Delp, Alfred 20 Derrida, Jacques 84, 103 Drews, Richard 93 Droysen, Johann Gustav 28, 30, 32ff., 79

Ehrenburg, Ilja Grigorjewitsch 23 Eichmann, Adolf 48ff., 55 Ende, Michael 78f. Engels, Friedrich 42 Falco 78 Febvre, Lucien 21 Feuchtwanger, Lion 23 Fichte, Johann Gottlieb 14 Filbinger, Hans Karl 60 Foerster, Rolf Hellmut 11 Foucault, Michel 63, 83 Fourier, Charles, 42f. Frederik VI. 11 Freisler, Roland 20 Frentz, Walter 93 Freud, Sigmund 60 Friedell, Egon 19

Gaddafi, Muammar al 80 Gaulle, Charles de 85f. Gerstenmaier, Eugen 20 Gide, André 23 Giffen, Robert 112

PERSONENREGISTER

144 Gobineau, Arthur de 37, 39 Goethe, Johann Wolfgang von 34, 47 Gollwitzer, Heinz 11 Green, Gerald 60 Gutenberg, Johannes 19

Habermas, Jürgen 31, 45, 82, 111 Hardenberg, Georg Philipp Friedrich Freiherr von 13 Haussmann, Georges-Eugène 22 Hazard, Paul 19, 107 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 30, 32, 111 Heidegger, Martin 54 Hekataios von Milet 106 Herder, Johann Gottfried von 11, 30, 79 Herzl, Theodor 37 Himmler, Heinrich 41 Hochhuth, Rolf 60 Honecker, Erich 43 Horkheimer, Max 23f. Hugo, Victor 75 Humboldt, Wilhelm von 104f.

Lang, Fritz 95 Lanzmann, Claude 60 Leber, Julius 20 Lenin 43 Levi, Primo 89 Lewada, Juri 78 Luden, Heinrich 13 Lukan 47 Luxemburg, Rosa 43

Malraux, André 23

Jameson, Fredric 79

Mann, Heinrich 7f., 34f., 40, 123, 127 Mao 43 Marr, Wilhelm 37 Marx, Karl 24ff., 42 Metz, Johann Baptist 63 Mierendorff, Carlo 20 Miller, Alice 60 Milward, Alan S. 71, 73 Molotow, Wjatscheslaw 24 Moltke, Helmuth James von 20 Monnet, Jean 35 Morin, Edgar 116 Müller, Heiner 98 Muschg, Adolf 110 Musil, Robert 95

Jankélévitch, Vladimir 56 Jünger, Ernst 17, 93, 95, 97ff.

Nehru, Pandit 43

Kafka, Franz 27, 34, 120, 125, 129

Nietzsche, Friedrich 56 Nora, Pierre 30

Kant, Immanuel 10ff., 14f., 50f., 53ff. Kautsky, Karl 43 Kennedy, John F. 43 Kim Il-Sung 43 Klee, Paul 26 Knott, Marie-Luise 51f., 58 Kochba, Simon bar 36 Koenen, Gerd 60 Köpcke, Karl-Heinz 61 Kracauer, Siegfried 31 Kraft, Werner 23 Krause, Karl Christian Friedrich 15

Lacis, Asja 25 Lafargue, Paul 112ff.

Ortheil, Hanns-Josef 46 Ovid 120 Owen, Robert 42

Pasolini, Pierre Paolo 59 Pausewang, Gudrun 61 Pearl, Cora (s. E. Crouch) Poelchau, Harald 20 Pol Pot 43 Proudhon, Pierre-Joseph 42

Ranke, Leopold von 32 Raymond, Marcel 67 Reichwein, Adolf 20

PERSONENREGISTER

145

Rhue, Morton 61 Ribbentrop, Joachim von 24 Richter, Hans Werner 92 Rifkin, Jeremy 108 Robespierre, Maximilian de 43 Rohan, Karl Anton von 18 Rosenzweig, Franz 25 Rößner, Susan 9 Roth, Joseph 35, 37f. Rothschild, Edmund de 37, 112 Rougemont, Denis de 67f., 81 Rust, Mathias 61

Steding, Christoph 19 Stern, Fritz 41 Stoph, Willi 59 Sukarno 43 Syberberg, Hans-Jürgen 60

Saint-Simon, Henri de 42 Sauzay, Brigitte 108 Schapper, Karl 42 Schatzman, Morton 60 Schiller, Friedrich 12, 84 Schlegel, August Wilhelm von 76 Schlögel, Karl 22 Schmidt, Helmut 59 Schmidt, Phiseldek, Conrad von 916, 74 Schröder, Gerhard 108 Shawn, William 50 Sieburg, Friedrich 94 Sindermann, Horst 59 Sloterdijk, Peter 85f., 116 Snyder, Timothy 45f. Spengler, Oswald 19, 66 Stalin, Josef 24, 41, 43ff., 49

Ulbricht, Walter 59

Theweleit, Klaus 60 Thomas von Aquin 53 Treitschke, Heinrich von 32, 37 Trotha, Carl Dietrich von 20 Trott zu Solz, Adam von 20 Twain, Mark 116f. Urban II. 36

Valéry, Paul 19, 61, 89, 109 Viüniec, Matei 7, 89, 123, 127 Voltaire 63, 110

Weinberg, Eliot 20 Weitling, Wilhelm 42 Werner, Anton von 94 White, Hayden 76 Winkler, Heinrich August 15 Wittgenstein, Ludwig 103

Zweig, Stefan 25, 109 Zwerenz, Gerhard 60

ZUR REIHE „STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION“ Mit zunehmendem Abstand zum Beginn des europäischen Integrationsprozesses nimmt die Bedeutung der Geschichtswissenschaften im Spektrum der wissenschaftlichen Erforschung des Europäischen Integrationsprozesses zu. Auch wenn die übliche dreißigjährige Sperrfrist für Archivmaterial weiterhin ein Hindernis für die Erforschung der jüngeren Integrationsgeschichte darstellt, werden die Zeiträume, die für die Wissenschaft zugänglich sind, kontinuierlich größer. Heute können die Archive zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl bis hin zur ersten Erweiterung eingesehen werden; in einem Jahrzehnt wird ein aktengestütztes Studium der Rahmenbedingungen der Mittelmeererweiterung und der Entstehung der Einheitlichen Europäischen Akte möglich sein. Darüber hinaus ist der Beitrag der Geschichtswissenschaften auch heute schon Rahmen der Erforschung der jüngsten Integrationsgeschichte nicht mehr zu übersehen. Ihre Methodenvielfalt hilft dabei, die durch Sperrfristen der Archive entstandenen Probleme auszugleichen. Allerdings findet der einschlägige geschichtswissenschaftliche Diskurs in der Regel immer noch im nationalstaatlichen Kontext statt und stellt damit, so gesehen, gerade in Bezug auf die europäische Geschichte einen Anachronismus dar. Vor diesem Hintergrund haben sich Forscherinnen und Forscher aus ganz Europa und darüber hinaus dazu entschlossen, eine Schriftenreihe ins Leben zu rufen, die die Geschichte der Europäischen Integration nicht nur aus einer europäischen Perspektive beleuchtet, sondern auch einem europäischen Publikum vorlegen möchte. Gemeinsam mit dem Verlag Franz Steiner wurde deshalb die Schriftenreihe Studien zur Geschichte der Europäischen Integration (SGEI) gegründet. Ein herausragendes Merkmal dieser Reihe ist ihre Dreisprachigkeit – Deutsch, Englisch und Französisch. Zu jedem Beitrag gibt es mehrsprachige ausführliche und aussagekräftige Zusammenfassungen des jeweiligen Inhalts. Damit bieten die Studien zur Geschichte der Europäischen Integration interessierten Leserinnen und Lesern erstmals einen wirklich europäischen Zugang zu neuesten geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Geschichte der Europäischen Integration.

CONCERNANT LA SÉRIE „ETUDES SUR L’HISTOIRE DE L’INTeGRATION EUROPÉENNE“ L’importance des recherches historiques ne cesse d’augmenter au sein de l’éventail qu’offrent les recherches scientifiques sur le processus d’intégration européenne, et ce à mesure que le recul par rapport au début du processus d’intégration européenne se fait de plus en plus grand. Même si le délai d’attente habituel de trente ans pour la consultation des archives constitue encore un obstacle pour les recherches sur l’histoire récente de l’intégration, les périodes accessibles à la recherche se révèlent de plus en plus étendues. A l’heure actuelle, les archives datant de la fondation de la Communauté Européenne du Charbon et de l’Acier jusqu’au premier élargissement peuvent être consultées ; d’ici dix ans, une étude documentée des conditions générales de l’élargissement méditerranéen et de la conception de l’Acte unique européen sera possible. La contribution des recherches historiques dans le cadre de la recherche sur l’histoire toute proche de l’intégration est dès à présent remarquable. La diversité de méthodes utilisées permet en effet de régler des problèmes engendrés par le délai de blocage des archives. Toutefois, le débat historique s’y rapportant s’inscrit encore généralement dans le contexte de l’Etat-nation et représente, de ce point de vue, un anachronisme par rapport à l’histoire européenne. C’est dans ce contexte que des chercheuses et chercheurs de toute l’Europe et au-delà ont décidé de lancer une série d’ouvrages qui mettent en lumière l’histoire de l’intégration européenne non seulement dans une perspective européenne, mais qui se veut également accessible à un large public européen. Cette série d’ouvrages, intitulée Etudes sur l’Histoire de l’Intégration Européenne (EHIE), a été créée en collaboration avec la maison d’édition Franz Steiner. Le caractère trilingue de cette série – allemand, anglais et français – constitue une particularité exceptionnelle. Chaque contribution est accompagnée de résumés plurilingues, détaillés et éloquents sur le contenu s’y rapportant. Les Etudes sur l’Histoire de l’Intégration Européenne offrent pour la première fois aux lectrices et lecteurs intéressés un accès réellement européen aux avancées historiques les plus récentes dans le domaine de l’histoire de l’intégration européenne.

ABOUT THE SERIES “STUDIES ON THE HISTORY OF EUROPEAN INTEGRATION” With increasing distance to the process of European integration, there is a growing significance of the historical sciences within the range of the scientific research on the European integration process. Even if the usual blocking period for archive sources is still an obstacle for researching the more recent history of integration, the periods which are accessible for the sciences are continuously becoming more extended. Today, the archives on the foundation of the European Coal and Steel Community are accessible as far as to the first extension; in one decade it will be possible to gain access to the appropriate files for studying the history of the prerequisites of the Mediterranean extension and the development of the Single European Act. Furthermore, already today the contribution of historic sciences in the context of researching the most recent history of integration cannot be overlooked. Their variety of methods helps with balancing problems resulting from the blocking periods for archives. However, usually the relevant historic discourse still happens in the context of national states and is thus, if we like to see things this way, rather an anachronism in respect of European history. Against this background, researchers from all over Europe and beyond have decided to found a series of publications which intends not only to shed light on the history of European integration from a European point of view but also to present this to a European audience. For this reason, together with the Franz Steiner Publishing House the series of publications Studies on the History of European Integration (SHEI) was founded. One outstanding feature of this series will be its trilingualism – German, English and French. For every contribution there will be extensive and telling summaries of the respective contents in several languages. Thus, by Studies on the History of European Integration interested readers will for the first time be offered a really European approach at most resent historic insights in the field of the history of European integration.

STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION STUDIES ON THE HISTORY OF EUROPEAN INTEGRATION ÉTUDES SUR L ’ HISTOIRE DE L ’ INTEGRATION EUROPÉENNE

Herausgegeben von / Edited by / Dirigé par Jürgen Elvert.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1868–6214

Marie-Thérèse Bitsch (Hg.) Cinquante ans de traité de Rome 1957–2007 Regards sur la construction européenne 2009. 365 S. mit 5 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09313-2 Michel Dumoulin / Jürgen Elvert / Sylvain Schirmann (Hg.) Ces chers voisins L’ Allemagne, la Belgique et la France en Europe du XIXe au XXIe siècles 2010. 309 S. mit 14 Tab., 4 s/w- und 11 Farbabb., kt. ISBN 978-3-515-09807-6 in Vorbereitung Jürgen Nielsen-Sikora Europa der Bürger? Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung – eine Spurensuche 2009. 451 S. mit 1 Tab. und 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09424-5 Birte Wassenberg (Hg.) Vivre et penser la coopération transfrontaliére. Vol. 1: Les régions frontalière françaises Contributions du cycle de recherche sur la coopération transfrontalière de l’ Université de Strasbourg et de l’ EuroInstitut de Kehl 2010.416 S. mit 29 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09630-0 Urban Vahsen Eurafrikanische Entwicklungskooperation Die Assoziierungspolitik der EWG gegenüber dem subsaharischen Afrika in den 1960er Jahren 2010. 424 S., kt. ISBN 978-3-515-09667-6 in Vorbereitung Arnd Bauerkämper / Hartmut Kaelble (Hg.) Gesellschaft in der europäischen Integration seit den 1950er Jahren Migration – Konsum – Sozialpolitik – Repräsentationen 2012. 192 S., kt.

ISBN 978-3-515-10045-8 Jens Kreutzfeldt „Point of return“ Großbritannien und die Politische Union Europas, 1969–1975 2010. 650 S., kt. ISBN 978-3-515-09722-2 10. Jan-Henrik Meyer The European Public Sphere Media and Transnational Communication in European Integration 1969–1991 2010. 361 S. mit 41 Tab. und 26 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09649-2 11. Birte Wassenberg / Frédéric Clavert / Philippe Hamman (Hg.) Contre l’Europe? Anti-européisme, euroscepticisme et alter-européisme dans la construction européenne de 1945 à nos jours. Vol. 1: Les concepts Contributions dans le cadre du programme junior de la Maison interuniversitaire des sciences de l’homme d’ Alsace MISHA (2009–2010) 2010. 496 S. mit 4 Tab., 5 Abb., 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-09784-0 12. Joachim Beck / Birte Wassenberg (Hg.) Grenzüberschreitende Zusammenarbeit leben und erforschen. Bd. 2: Governance in deutschen Grenzregionen Beiträge aus dem Forschungszyklus zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit der Universität Straßburg und des EuroInstitutes 2011. 367 S. mit 11 Tab. und 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09829-8 13. Birte Wassenberg / Joachim Beck (Hg.) Living and Researching Cross-Border Cooperation. Vol. 3: The European Dimension Contributions from the research programme on cross-border cooperation of the University Strasbourg and the Euro-Institute 2011. 343 S. mit 5 Tab. und 11 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09863-2 9.

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Birte Wassenberg / Joachim Beck (Hg.) Vivre et penser la coopération transfrontalière. Vol. 4: Les régions frontalières sensibles Contributions du cycle de recherche sur la coopération transfrontalière de l’Université de Strasbourg et de l’Euro-Institut de Kehl 2011. 323 S. mit 21 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09896-0 15. Philip Bajon Europapolitik „am Abgrund“ Die Krise des „leeren Stuhls“ 1965–66 2011. 415 S., kt. ISBN 978-3-515-10071-7 16. Oliver Reinert An Awkward Issue Das Thema Europa in den Wahlkämpfen und wahlpolitischen Planungen der britischen Parteien, 1959–1974

2012. 430 S. mit 3 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10112-7 17. Christian Henrich-Franke Gescheiterte Integration im Vergleich Der Verkehr – ein Problemsektor gemeinsamer Rechtsetzung im Deutschen Reich (1871–1879) und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958–1972) 2012. 434 S. mit 3 Abb. und 12 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10176-9 18. Sven Leif Ragnar de Roode Seeing Europe through the Nation The Role of National Self-Images in the Perception of European Integration in the English, German, and Dutch Press in the 1950s and 1990s 2012. 272 S., kt. ISBN 978-3-515-10202-5

Die Kriegstoten und Massengräber sind Dispositive der europäischen Geschichte: „Es ist das Sterben am Wegesrand, in der Panzerschlacht, in der Namenlosigkeit und Wegelosigkeit, in den brennenden Städten weit unten.“ Der Essay greift diesen von Karl Schlögel formulierten Gedanken auf und argumentiert, die moderne europäische Idee habe sich aus der Botschaft der europäischen Kriegstoten und aus dem Geist der unmittelbaren Nachkriegszeiten entwickelt. Diese Zeiten waren geprägt von dem Versuch, der allgemeinen Sprachlosigkeit angesichts der Barbarei auf Europas Schlachtfeldern

eine zukunftsträchtige politische Vision entgegenzusetzen: eine zivilgesellschaftliche und politische Alternative namens Europa. Der Essay erinnert mit Hilfe der Geschichtsphilosophien von Walter Benjamin und Hannah Arendt daran, dass das europäische Projekt nur dann eine Zukunft hat, wenn sich die Europäer wieder auf die Ursprünge dieses europäischen Gedankens konzentrieren: Die Einbeziehung des Anderen, die Rückbesinnung auf eine mentalitätsgestaltende Politik, die der voranschreitenden europaweiten Entsolidarisierung entgegentritt.

SGEI SG SHEI SH EHIE E www.steiner-verlag.de

Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10261-2