Das eigene Leben verstehen: Zur Relevanz des Standpunkts der ersten Person für Theorien personaler Identität 3110332809, 9783110332803

Der Begriff der Identität von Personen spielt sowohl in unserem Alltag als auch in zahlreichen Kontexten der praktischen

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Das eigene Leben verstehen: Zur Relevanz des Standpunkts der ersten Person für Theorien personaler Identität
 3110332809, 9783110332803

Table of contents :
Danksagung
Teil I: Personale Identität
1 Die Frage nach personaler Identität
2 Biologischer Reduktionismus
3 Psychologischer Reduktionismus
4 Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus
Teil II: Die Perspektive der ersten Person
5 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen
5.1 Das Problem
5.2 Das Beobachtungsmodell und alternative Vorschläge
6 Der Standpunkt des rationalen Akteurs
6.1 Der deliberative Standpunkt (Moran)
6.2 Netzwerke von Gründen (Burge)
7 Verständlichkeit und Identifikation
7.1 Internalismus vs. Transparenz
7.2 Kohärenz vs. Verständlichkeit
7.3 Identifikation
Teil III: Normative Identität
8 Die eigene Vergangenheit
8.1 Raumzeitliche Wege
8.2 Vergangene Handlungen
8.3 Erinnern im Kontext
9 Die eigene Zukunft
9.1 Die Perspektive der ersten Person und Handeln
9.2 Psychologische Theorien und Naturalismus
10 Normative Identität und personale Identität
Fazit
Literatur

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Christian Budnik Das eigene Leben verstehen

Practical Philosophy

Edited by Herlinde Pauer-Studer, Neil Roughley, Peter Schaber and Ralf Stoecker

Volume 17

Christian Budnik

Das eigene Leben verstehen Zur Relevanz des Standpunkts der ersten Person für Theorien personaler Identität

ONTOS

ISBN 978-3-11-033280-3 e-ISBN 978-3-11-033290-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Man kann ja sein eigenes Leben nicht verstehen, sie versuchte es trotzdem. P. O. Enquist

Danksagung Der vorliegende Text stellt die leicht redigierte Version der Arbeit dar, die im Zuge eines Promotionsverfahrens von der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern angenommen wurde. Die Arbeit wäre ohne die Unterstützung von Monika Betzler, die mich in der zweiten Hälfte meiner Promotionszeit betreut hat, niemals fertiggeworden. Ihre konstruktiven Kommentare, die beständige Aufmunterung und Hilfsbereitschaft, sowie die Geduld, die sie mit mir hatte, haben mir entscheidend dabei geholfen, ein Thema, das mir über die Zeit abhanden gekommen war, für mich wiederzuentdecken und es wieder als mein Thema zu begreifen. Ob im Rahmen der Seminare, die ich während meines Studiums bei ihr besucht habe, oder in den zahlreichen Gesprächen, die wir in den folgenden Jahren miteinander führen konnten – fast alles, was ich von den Themen der Rationalität, der Handlungstheorie und der Moralpsychologie verstehe, habe ich von ihr gelernt. Ohne die Unterstützung von Wolfgang Carl, der mich in der ersten Hälfte meiner Promotionszeit betreut hat, hätte diese Arbeit gar nicht erst den Status einer Projektskizze erreicht. Seine hilfreichen Kommentare zu Teilen der im Entstehen begriffenen Arbeit sowie die vielen Gespräche, die ich mit ihm führen konnte, haben meine Art philosophisch zu denken ebenso entscheidend geprägt, wie die Veranstaltungen, die ich im Verlaufe meines Studiums bei ihm besuchen durfte. Den Gedanken, dass der Standpunkt der ersten Person von zentraler Bedeutung für die philosophische Auseinandersetzung mit Personen sein könnte, hätte ich ohne seine Ausführungen zu diesem Thema früher oder später deprimiert aufgegeben. Meine Beschäftigung mit dem Thema der Identität von Personen geht auf eine Veranstaltung zurück, die ich bei Peter Schaber besucht habe. Es waren die Argumente, die in der Diskussion von McDowells Position zur Sprache kamen, die mir den Anstoß dafür gegeben haben, darüber nachzudenken, worum es sich bei der Perspektive der ersten Person überhaupt handeln könnte. Philosophie lebt vom Dialog. In diesem Sinn haben mir die Gespräche mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Kolloquien von Monika Betzler, Peter Bieri und Wolfgang Carl ebenso entscheidend dabei geholfen, mit meinem Thema voranzukommen, wie die Diskussionen im Rahmen von Autoren-Workshops mit J. David Velleman und Tyler Burge in Göttingen, sowie Michael E. Bratman, Samuel Scheffler und R. Jay Wallace in Bern. In zahllosen kritischen Situationen haben mir Susanne Boshammer und Fritz Krämer philosophischen Beistand beim Nachdenken über mein Thema geleistet. Die Herausgeber der Ontos-Reihe Practical Philosophy haben mir mit hilfreichen Kommentaren die Arbeit an der Druckfassung dieses Textes erleichtert.

VIII 

 Danksagung

Ohne die Förderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können. Es würde den Rahmen eines Vorworts sprengen, all die Hinsichten aufzuzählen, in denen mir mein Freund und Kollege Holger Baumann geholfen hat. Wie ich feststellen musste, kostet Schreiben Kraft. Ich hatte sie von meinen Eltern, meinem Bruder und Sabine Dändliker. Allen Genannten gehört mein Dank. Bern, im März 2013

Inhaltsverzeichnis Danksagung 

 VII

Teil I: Personale Identität 

 1  6

1

Die Frage nach personaler Identität 

2

Biologischer Reduktionismus 

3

Psychologischer Reduktionismus 

4

Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus 

Teil II: Die Perspektive der ersten Person 

 20  31  46

 53

5 5.1 5.2

 56 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen      Das Problem 58 Das Beobachtungsmodell und alternative Vorschläge 

6 6.1 6.2

 72 Der Standpunkt des rationalen Akteurs     73 Der deliberative Standpunkt (Moran)     Netzwerke von Gründen (Burge) 86

 101 7 Verständlichkeit und Identifikation      7.1 Internalismus vs. Transparenz 102  105 7.2 Kohärenz vs. Verständlichkeit   108 7.3 Identifikation  Teil III: Normative Identität  8 8.1 8.2 8.3

 117

 121 Die eigene Vergangenheit   124 Raumzeitliche Wege   134 Vergangene Handlungen      Erinnern im Kontext 136

 66

X 

 Inhaltsverzeichnis

9 9.1 9.2

 143 Die eigene Zukunft   144 Die Perspektive der ersten Person und Handeln   155 Psychologische Theorien und Naturalismus 

10

Normative Identität und personale Identität 

Fazit 

 180

Literatur 

 184

 170

Teil I: Personale Identität

2 

 Teil I: Personale Identität

Der Begriff der Person und noch mehr derjenige der Identität sind zwar Fachtermini mit einer langen philosophischen Tradition, sie spielen aber auch in unserem nichtphilosophischen Alltag eine unverzichtbare Rolle. Wir alle sind Personen und haben als solche mit vielen anderen Personen zu tun. Sich selbst und Andere als Personen zu verstehen, beinhaltet, sich selbst und Andere als Träger von bestimmten Eigenschaften bzw. als mit bestimmten Fähigkeiten ausgestattete Wesen zu begreifen. Zu solchen Merkmalen der Personalität, die uns von Nicht-Personen unterscheiden, werden, je nach der Position, die man hinsichtlich der Personalitätsfrage bezieht, Intentionalität, Bewusstsein, Sprache, Rationalität, Wissen von den eigenen mentalen Zuständen oder eben auch Wissen um die eigene diachrone Identität gezählt. Zudem ist es ‘qua Person’, dass wir Subjekte von zahlreichen unser Miteinander strukturierenden Einstellungen werden. Ob ich für eine bestimmte Handlung verantwortlich gemacht oder als autonomes Handlungssubjekt respektiert werde, ob man mich lobt oder tadelt, sich mir gegenüber schuldig fühlt oder Ansprüche an mich stellt, mit mir Freundschaften eingeht oder mich in abstraktere Rechenschaftsbeziehungen stellt – all dies geschieht mir als Person und hat unausweichlich mit dem moralischen Status zu tun, von dem angenommen wird, dass er sich mit dem Personenbegriff verbindet. Es verwundert nicht, dass ein Begriff, dem diese Relevanz zukommt, von philosophischer Warte aus als besonders explikationsbedürftig angesehen wurde. Eine Weise, unsere im Alltag problemlose Praxis seiner Verwendung auf eine philosophisch sichere Grundlage zu stellen, klang schon in der Frage nach Kriterien für Personalität an, d.h. der Frage nach notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen, die ein Wesen erfüllen muss, um unter den Begriff der Person zu fallen.1 Eine andere Weise, den Personenbegriff auf ein philosophisch sicheres Fundament zu stellen, besteht – gemäß der Überzeugung, dass „zum Verständnis der Rede von Gegenständen [...] wesentlich ein Verständnis von Identität und Nichtidentität [gehört] und dass man über Identitätskriterien verfügt,“2 – in der Suche nach Kriterien für die Identität von Personen. Die Frage nach den Kriterien der diachronen Identität von Personen stellt den Gegenstand einer inzwischen uferlosen Debatte dar, mit der ich mich im vorliegenden ersten Teil der Arbeit auseinandersetzen werde. Mein Vorgehen wird hierbei darin bestehen, zunächst möglichst klar zu bestimmen, wonach eigentlich gefragt wird, wenn nach personaler Identität gefragt wird. In einem zweiten Schritt werde ich mit dem biologischen Reduktionismus einen Theorietyp vorstellen, der davon ausgeht, dass sich unsere diachrone Existenz auf das Vorliegen

1 Zur Frage nach Kriterien der Personalität vgl. etwa Dennett (1976) oder Rovane (1994). 2 Tugendhat (1976), S. 371.



Teil I: Personale Identität 

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von rein biologischen Kontinuitäten zurückführen lässt, sowie auf den zentralen Einwand eingehen, der gegen biologische Reduktionisten vorgebracht werden kann, indem darauf hingewiesen wird, dass personales Leben ganz wesentlich einen ‘inneren Aspekt’ hat. In einem dritten Schritt werde ich die Schlussfolgerungen thematisieren, die Theorien des psychologischen Reduktionismus aus dem Befund ziehen, dass personales Leben einen ‘inneren’ oder erstpersonalen Aspekt hat. Die Rekonstruktion der einflussreichen und im Zusammenhang der Frage nach personaler Identität immer noch dominierenden Position von Derek Parfit wird mich zu der Bestimmung von vier Problemkontexten führen, mit denen sich Vertreter des psychologischen Reduktionismus konfrontiert sehen. Die Überzeugung, dass beide Formen des Reduktionismus letztlich keine befriedigende Antwort auf die Frage nach der Identität von Personen formulieren können, stellt hierbei die Motivation für meinen Versuch dar, im Rahmen des Hauptteils dieser Arbeit eine nicht-reduktionistische Antwort auf die Frage nach personaler Identität zu verteidigen. In diesem Zusammenhang werde ich davon ausgehen, dass der psychologische Reduktionismus dem biologischen Reduktionismus insofern überlegen ist, als er die wichtige Tatsache, dass Personen den Standpunkt der ersten Person einnehmen können, überhaupt berücksichtigt, gleichzeitig aber dafür argumentieren, dass er dies auf eine unangemessene Weise tut. Anstatt mich allerdings darauf zu beschränken, einen weiteren gegen den psychologischen Reduktionismus gerichteten Kritikpunkt zu formulieren, werde ich im zweiten Teil der Arbeit einen konstruktiven Vorschlag zur Beantwortung der Frage entwickeln, was es denn heißt, den Standpunkt der ersten Person auf angemessene Weise zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck werde ich mich an der Debatte um den Status des Wissens, das Personen von den eigenen mentalen Zuständen haben, orientieren und in diesem Zusammenhang im Detail zwei Positionen rekonstruieren, von denen ich glaube, dass sie wichtige Aspekte dessen, was sich mit dem Einnehmen des Standpunkts der ersten Person verbindet, im Blick haben. Wenn wir den Standpunkt der ersten Person einnehmen – so das Argumentationsziel des zweiten Teils – dann verhalten wir uns im Hinblick auf unsere mentalen Zustände auf eine spezifische Weise aktiv, indem wir ihnen gegenüber in ein rationales Verhältnis treten, das darin besteht, dass wir unsere Einstellungen im Zuge eines um Verständlichkeit und Kohärenz bemühten Prozesses der Abwägung von Gründen ausbilden oder revidieren. Der psychologische Reduktionismus kann dieser Dimension des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person nicht gerecht werden und bleibt stattdessen einer drittpersonalen Auffassung des Mentalen verhaftet. Im dritten Teil der Arbeit werde ich die Ergebnisse meiner Interpretation dessen, was es heißt, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, auf die

4 

 Teil I: Personale Identität

explizit diachrone Dimension personalen Lebens anwenden, indem ich der Frage nachgehe, was es bedeutet, sich erstpersonal auf die eigene Vergangenheit und Zukunft zu beziehen. Sowohl im Zusammenhang mit dem Fall, in dem ich mich an die eigene Vergangenheit erinnere, als auch im Kontext derjenigen Form der Bezugnahme auf die eigene Zukunft, die in dem Fassen von Absichten besteht, werde ich zu zeigen versuchen, dass das charakteristische Merkmal des Standpunkts der ersten Person darin besteht, eine verständliche Vorstellung vom eigenen Leben zu gewinnen. Die entscheidende Pointe meines Vorgehens wird dann darin bestehen, dass ich zeigen werde, inwiefern das Bemühen um eine solche verständliche Vorstellung – oder, wie ich mich auch ausdrücken werde, normative Identität – zur Voraussetzung hat, dass Personen sich als Wesen verstehen, deren diachrone Existenz sich weder auf psychologische noch auf biologische Kontinuitäten reduzieren lässt. In diesem Sinne lässt sich mein Vorgehen im Rahmen dieser Arbeit als der Versuch verstehen, auf dem Weg der Analyse der strukturellen Merkmale dessen, was es bedeutet, die Perspektive der ersten Person einzunehmen, für eine nicht-reduktionistische Auffassung von Personen als rationalen Lebewesen zu argumentieren. Gleichzeitig wird die systematische Relevanz meines Vorgehens darin bestehen, das Manöver der Trennung der metaphysischen Frage nach der numerischen Identität von Personen von der normativen Frage nach Identität auf einen soliden argumentativen Boden zu stellen. Dieses Manöver ist in der jüngeren Debatte um personale Identität sehr beliebt, und es hat eine Reihe von Positionen motiviert, die sich in der Folge mit der Frage nach der sog. narrativen oder praktischen Identität beschäftigt haben.3 Die positive Bestimmung von narrativer bzw. praktischer Identität, die im Rahmen solcher Ansätze vorgenommen wird, finde ich zum Teil plausibel; allerdings mangelt es diesen Ansätzen an einer philosophischen Rechtfertigung dafür, die beiden Identitätsbegriffe überhaupt erst zu trennen. Eines der Ziele der vorliegenden Arbeit besteht deshalb in dem Nachweis, dass sich die Trennung der beiden Identitätsbegriffe – des metaphysischen und des normativen Identitätsbegriffs – aus der Struktur des erstpersonalen Selbstbezugs motivieren lässt. Dass ich dabei im Gegensatz zu der in der Debatte üblichen Terminologie nicht von narrativer oder praktischer sondern von normativer Identität reden werde, hat nicht mit Originalitätsdrang zu tun. Zum einen ist der Begriff der normativen Identität, wie ich ihn im Hauptteil dieser Arbeit entwickle, abstrakter als der Begriff der narrativen Identität; zum anderen glaube ich, dass

3 Für eine prominente Vertreterin dieser Strategie vgl. Schechtman (1996); zum Begriff der praktischen Identität vgl. Korsgaard (1989) und (1999) sowie West (2008); zur Trennung der beiden Identitätsbegriffe vgl. auch Quante (2007) und Mackenzie (2008).



Teil I: Personale Identität 

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die Frage nach Identität nicht nur Relevanz für die Handlungen von Personen hat, sondern auch im Zusammenhang mit ihren Überzeugungen relevant wird. Eine Identität zu haben – so die Grobfassung der in dieser Arbeit vertretenen Position – bedeutet nicht nur, eine verständliche Vorstellung vom eigenen Leben zu haben, sondern auch von der Welt, in der dieses Leben stattfindet. Eine solche verständliche Vorstellung generiert aber Gründe – sowohl Handlungsgründe, als auch Gründe für Überzeugungen. Deshalb werde ich mich darauf mit dem Terminus der normativen Identität beziehen.

1 Die Frage nach personaler Identität Wenn es stimmt, dass der Begriff der Person fest in unserem Verständnis von uns selbst und der Welt um uns herum verankert ist, so gilt das für den Begriff der Identität in einem noch stärkeren Maße. Es ließe sich wohl ziemlich aussichtsreich dafür argumentieren, dass Identität eine der fundamentalen Relationen darstellt, mit der wir uns einen Zugang zur Welt schaffen. Die Identität von etwas zu kennen oder präziser, über die Kriterien seiner Identität zu verfügen, heißt nichts anderes, als es als das Ding zu begreifen, das es ist, unterschieden von anderen Dingen, auch anderen Dingen derselben Art. Und das gilt nicht nur für Personen, sondern für alle materiellen Gegenstände um uns herum. „Diesen Tennisschläger habe ich vor vier Wochen in Berlin gekauft.“ „In unserem Club sind acht Sandplätze bespielbar.“ „Das ist nicht meine Trainingshose.“ – All diese alltäglichen Äußerungen sind von Identitätsannahmen durchwoben und setzen ein zumindest implizites Verfügen über Kriterien der Identität bzw. Nichtidentität und Individuation voraus, seien es Kriterien für Tennisschläger, Sandplätze oder Trainingshosen. Identität wird hier im Sinne von numerischer Identität verstanden. Der Begriff der numerischen Identität wird von demjenigen der qualitativen Identität unterschieden. Während man von zwei einander gleichenden Wassergläsern sagen kann, dass sie qualitativ mehr oder weniger identisch sind, impliziert die Tatsache, dass es sich um zwei Wassergläser handelt, dass sie nicht numerisch identisch, d.h. nicht ein und derselbe Gegenstand sind. Im Gegensatz zum Begriff der qualitativen Identität erlaubt der Begriff der numerischen Identität auch keine graduellen Abstufungen: Entweder etwas ist ein und dasselbe Ding, oder es ist ein anderes Ding. Gegeben dass es sich bei numerischer Identität um eine derart einfache und fundamentale – oder wie ich mich in diesem Zusammenhang auch manchmal ausdrücken werde, um eine metaphysische – Relation handelt, scheint es zunächst aussichtslos, eine interessante Frage nach Identität zu formulieren, ganz unabhängig davon, ob es sich um die Identität von Personen oder die Identität von anderen Objekten handelt.4 Zum einen handelt es sich bei der Relation, die wir meinen, wenn wir Identitätssätze formulieren, nicht um eine Relation, die empirisch in dem Sinne wäre, dass man ihr Vorliegen beobachten könnte, so wie man etwa das Vorliegen von Relationen beobachten kann, die durch Prädikate wie ‘ist größer als’ oder ‘berührt’ ausgedrückt werden: Die Frage, ob Roger größer ist als Marie, lässt sich einfach entscheiden, indem man beide nebenein-

4 Vgl. dazu etwa Lewis (1986), 192: „Identity is utterly simple and unproblematic. Everything is identical to itself; nothing is ever identical to anything else except itself.“



Die Frage nach personaler Identität 

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ander stellt und schaut, ob Roger größer ist als Marie. Die Frage, ob eine Person identisch mit einer anderen Person ist, lässt sich dagegen nicht auf diese Weise entscheiden: Wir wüssten nicht, wohin wir in diesem Zusammenhang schauen sollten. Zum anderen taucht ein Problem auf, das mit den Relata der Identitätsrelation zusammenhängt. Dieses Problem wird deutlich, wenn man versucht, die Frage nach personaler Identität so voraussetzungslos wie möglich zu formulieren. Es bieten sich hier zwei Möglichkeiten an: (i) Wann ist etwas identisch mit etwas anderem? (ii) Wann ist etwas identisch mit sich selbst?

Diese Fragen scheinen allerdings dem Interesse nicht gerecht zu werden, das man gewöhnlich mit Fragen nach Identität verbindet. Die einzige Antwort, die man auf (i) geben kann, lautet: ‘niemals’. Die einzige Antwort, die man auf (ii) geben kann, lautet: ‘immer’. Das kann nicht gemeint sein, wenn man nach Identität fragt. Frage (i) ließe sich auch folgendermaßen formulieren: ‘Wann ist etwas mit bestimmten Eigenschaften identisch mit etwas, das andere Eigenschaften hat?’. Frage (ii) würde dementsprechend lauten: ‘Wann ist etwas mit bestimmten Eigenschaften identisch mit etwas, das dieselben Eigenschaften hat?’. Beide Formulierungen lösen das Problem nicht. Aus dem Gesetz von der Nicht-Unterscheidbarkeit des Identischen folgt, dass nichts identisch sein kann, wenn es nicht dieselben Eigenschaften hat. Aus dem Gesetz von der Identität des NichtUnterscheidbaren folgt wiederum, dass alles identisch mit sich selbst sein muss, wenn es dieselben Eigenschaften hat. Erneut lauten die Antworten auf (i) und (ii): ‘niemals’ und ‘immer’. Die Fragen nach Identität müssen demnach anders lauten. Die naheliegende Reaktion auf die oben formulierten Probleme besteht darin, die Frage nach Identität zunächst in eine Frage nach der Wahrheit von Identitätssätzen umzuwandeln. Die problematischen, weil trivial zu beantwortenden Fragen (i) und (ii) lauten nach der Umformulierung: (1) Worin besteht die Wahrheit eines Identitätsurteils der Form ‘a=b’? (2) Worin besteht die Wahrheit eines Identitätsurteils der Form ‘a=a’?

Wie leicht zu sehen ist, wird Frage (ii) durch die Umformulierung zu (2) kaum interessanter. Jeder Satz der Form ‘a=a’ ist a priori wahr: Er lässt sich aus dem Identitätsaxiom gewinnen, indem man die Variablen durch Konstanten ersetzt. Frage (1) entspricht dagegen schon eher dem, was man für eine ‘interessante’ Frage nach Identität halten könnte. Die Konstanten des darin auftauchenden Identitätsurteils sind singuläre Terme, die auf einen und denselben Gegenstand referieren, dies aber so, dass den singulären Termen jeweils ein unterschiedli-

8 

 Die Frage nach personaler Identität

cher epistemischer Zugang zu ihren Referenzobjekten zugeordnet ist. Ein einfaches Beispiel mag illustrieren, wie sich die Rede vom ‘unterschiedlichen epistemischen Zugang’ im Kontext von singulären Termen verstehen lässt. Nehmen wir an, es geht um ein Identitätsurteil im Hinblick auf einen Tennisschläger. Eine Umschreibung von (i) könnte folgendermaßen lauten: ‘Ist dieser Tennisschläger derselbe Tennisschläger wie jener Tennisschläger?’ Die entsprechende Umformulierung dieser Frage im Sinne von (1) wäre: ‘Worin besteht die Wahrheit des Identitätsurteils ‘dieser Tennisschläger = jener Tennisschläger?’’ Die beiden singulären Terme des Identitätsurteils, das in dieser Frage formuliert ist, bezeichnen denselben Gegenstand, nämlich einen bestimmten Tennisschläger. Gleichzeitig kann ein Sprecher mit diesen singulären Termen das betreffende Objekt identifizieren, d.h. einen Hörer erkennen lassen, von welchem Gegenstand in seinem Satz der generelle Terminus ‘Tennisschläger’ ausgesagt wird. Dies wiederum bedeutet, dass mit einem singulären Terminus wie ‘dieser Tennisschläger’ ein bestimmter Tennisschläger von anderen Objekten eines ausgewählten Bereichs, auch von anderen Tennisschlägern, unterschieden werden kann. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, dass die Weise, in der man sich mit einer singulären Kennzeichnung wie ‘dieser Tennisschläger’ auf etwas bezieht, kontextabhängig ist. Das heißt, dass diese Kennzeichnung nicht jederzeit denselben Gegenstand, sondern jeweils einen Gegenstand in einer bestimmten Wahrnehmungssituation bezeichnet – der Wahrnehmungssituation des Sprechers zu dem Zeitpunkt der Äußerung eines Satzes, dessen Bestandteil diese Kennzeichnung ist. Das Pronomen ‘jenes’, das in der zweiten Kennzeichnung auftaucht, verweist dagegen auf eine Wahrnehmungssituation, die von der Wahrnehmungssituation, auf welche die erste Kennzeichnung verweist, unterschieden ist. In dem Beispiel, das ich an dieser Stelle betrachte, ist diese Wahrnehmungssituation nicht genau genug spezifiziert. Allerdings würden wir es im Normalfall nicht dabei belassen, eine Kennzeichnung wie ‘jener Tennisschläger’ zu verwenden. Stattdessen würden wir diese Kennzeichnung entweder mit einer ostensiven Geste begleiten oder aber eine Kennzeichnung wie etwa ‘jener Tennisschläger, der zu dieser bestimmten Zeit an dieser bestimmten Stelle zu sehen war’ verwenden. In so einem Fall würden wir eine Kennzeichnung benutzen, die unter der Voraussetzung eines festen raumzeitlichen Koordinatensystems den betreffenden Gegenstand objektiv lokalisiert, und mit der eine Identifizierung stattfinden kann, auch ohne dass sich der Sprecher und der Hörer in einer entsprechenden Wahrnehmungssituation befinden.5

5 Vgl. hier und zum Folgenden Tugendhat/Wolf (1983), 158ff.



Die Frage nach personaler Identität 

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Die Lehre aus dieser Betrachtung ist, dass die Kennzeichnungen, die in dem fraglichen Identitätsurteil auftauchen, denselben Gegenstand in Wahrnehmungssituationen bezeichnen, die insofern voneinander unterschieden sind, als sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattfinden. Eine Frage wie (i) lässt sich somit als die Frage danach verstehen, worin die Wahrheit eines Satzes besteht, in dem behauptet wird, dass es sich bei einer Person zu einer zeitlich fixierten Wahrnehmungssituation und einer Person zu einer anderen zeitlich fixierten Wahrnehmungssituation um dieselbe Person handelt. Im Hintergrund steht hier die Idee, dass Personen – wie andere materielle Objekte – kontinuierlich in der Zeit existieren und Wandel unterworfen sein können, so dass sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Existenz jeweils unterschiedliche Eigenschaften aufweisen können.6 Wir können nun die Frage (1) präzisieren: (I) Worin besteht die Wahrheit eines Satzes der Form ‘X zu t1 ist dasselbe Objekt wie Y zu t2’, wobei gilt, dass t1 und t2 zwei voneinander unterschiedene Zeitpunkte einer Wahrnehmungssituation bzw. zwei voneinander unterschiedene Zeitpunkte der Existenz eines Objekts bezeichnen?

Ein Urteil, wie es in (I) formuliert ist, wird als Wiedererkennungsurteil bezeichnet. Von jemandem, der ein solches Urteil fällt, wird gesagt, dass er etwas re­iden­ tifiziert. Das, was eine Frage wie (I) im Gegensatz zu (i) interessant macht, ist die Tatsache, dass unsere Urteilspraxis im Hinblick auf Identität zeitlich fixierte Identifikationen von kontinuierlich existierenden Objekten impliziert. Wenn man sinnvoll nach Identität fragt, dann wird es sich dabei um die Frage nach der Identität eines zu einer bestimmten Zeit identifzierten Objekts mit einem zu einer anderen Zeit identifizierten Objekt – oder, wie manchmal gesagt wird, um die Frage nach diachroner Identität7 – handeln. An dieser Stelle steht man auch keinesfalls im Widerspruch zum Gesetz von der Nicht-Unterscheidbarkeit des

6 In der identitätstheoretischen Diskussion ist das Thema des qualitativen Wandels umstritten; vgl. etwa Lewis (1986), 202ff. oder Armstrong (1980). 7 Wenn man bereit ist, die Unterscheidung zwischen diachroner Identität und synchroner Identität zu akzeptieren, dann versteht man unter synchroner Identität meist die Frage nach den Kriterien dafür, dass es sich bei einem Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt um ein einzelnes Objekt handelt. In diesem Sinne geht es bei der Frage nach synchroner Identität darum, was ich weiter unten als die Frage nach der räumlichen Abgrenzung eines Objekts bezeichne (vgl. S. 15). Wie zu sehen sein wird, stellt diese Frage eine Vorbedingung dafür dar, dass überhaupt sinnvoll nach diachroner Identität gefragt werden kann; insofern ließe sich plausibel dafür argumentieren, dass es sich bei synchroner Identität und bei diachroner Identität um verschiedene Facetten desselben Phänomens und nicht etwa um zwei unterschiedliche Identitätsbegriffe handelt; vgl. etwa Wiggins (2001).

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 Die Frage nach personaler Identität

Identischen: Die singulären prädikativen Urteile, die wir fällen, wenn wir einen Tennisschläger identifizieren, schreiben diesem Tennisschläger jeweils unterschiedliche Eigenschaften zu, allerdings sind diese Eigenschaften an bestimmte Zeitpunkte der Existenz dieses Schlägers gebunden. Ein Identitätsurteil wie ‘Der Tennisschläger, der jetzt einen dunkelblauen Griff hat, ist identisch mit dem Tennisschläger, der einen hellblauen Griff hat’ verletzt das Gesetz nicht, wenn sein zweiter Teil – ebenso wie der erste – nicht zeitlos gelesen wird, etwa: ‘Der Tennisschläger, der jetzt einen dunkelblauen Griff hat, ist identisch mit dem Tennisschläger, der vor zwei Monaten einen hellblauen Griff hatte’.8 Bei (I), der Frage nach den Bedingungen unter denen Identitätsurteile wahr sind, handelt es sich also um die gesuchte Frage, die sich sinnvoll stellen lässt, wenn man an der Identität von Objekten einer bestimmten Klasse interessiert ist. Diese Frage bzw. die Antwort, die man darauf geben kann, erlaubt allerdings zwei fundamental unterschiedliche Lesarten, die gerade im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit von entscheidender Bedeutung sind. Vertreter einer Auffassung, die im Hinblick auf die Identität von Objekten einer bestimmten Klasse nicht-reduktionistisch ist, verstehen (I) nicht als die Frage danach, wann Objekte einer bestimmten Klasse identisch sind, sondern eher als die Frage danach, von welchen Überlegungen wir uns leiten lassen, wenn wir entscheiden wollen, ob einzelne Objekte dieser Klasse miteinander identisch sind. Eine Antwort auf so eine Frage wird die Form „‘a ist dasselbe F wie b’ gdw. ...“ annehmen. Sie gibt konstitutive Kriterien für die Wahrheit von Identitätssätzen an. Was Identität angeht, formuliert die nicht-reduktionistische Antwort jedoch lediglich epistemische Kriterien. Identität ist dieser Auffassung zufolge eine nicht-beobachtbare Relation, so dass sich dem nicht-reduktionistischen Ansatz zufolge kein empirisches Kriterium für das Vorliegen von Identität formulieren lässt. Dennoch fällen wir aber Identitätsurteile, und die Frage nach Identität kann informativ beantwortet werden, indem angegeben wird, wie diese Urteile zustande kommen. Dem nicht-reduktionistischen Ansatz zufolge kann es nicht darum gehen, notwendige und hinreichende Bedingungen für das Vorliegen von Identität zu formulieren, und deswegen ist es im Rahmen dieses Ansatzes unbedenklich, Bedingungen zu formulieren, die ihrerseits den Begriff von Identität voraussetzen. Ganz anders sieht die Situation von der Warte einer reduktionistischen Theorie aus. Ein Reduktionist würde etwa folgendermaßen argumentieren: Es stimmt zwar, dass wir Identitätssätze formulieren und diese Sätze auf eine bestimmte Weise zu rechtfertigen bereit sind. Insofern ist Identität auch ein sprachliches oder

8 Oder wenn beide Teile zeitlos gelesen werden; vgl. Wiggins (2001), 29f.



Die Frage nach personaler Identität 

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epistemisches Problem. Dieses Problem ist aber nicht das eigentlich interessante. Was uns eigentlich interessiert, wenn wir nach Identität fragen, ist, was in der Welt der Fall ist, wenn Identität vorliegt.9 Dabei kann der Reduktionist durchaus die im Rahmen von (I) implizierte Annahme aufgreifen, nach der eine Frage wie (i) genau deshalb interessant ist, weil Objekte zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Sowohl für den reduktionistischen als auch für den nicht-reduktionistischen Ansatz wird die Frage nach Identität dadurch interessant, dass davon ausgegangen wird, dass Objekte sich mit der Zeit ändern können, ohne dass sie deshalb zu existieren aufhören. Der Unterschied besteht aber darin, dass ein Reduktionist im Hinblick auf Identität gleichzeitig davon ausgeht, dass er empirische Bedingungen dafür angeben kann, welches Ausmaß an Veränderung mit dem Weiterexistieren eines Objekts kompatibel ist bzw. welche Veränderungen dazu führen, dass das betreffende Objekt nicht mehr weiter existiert. Die reduktionistische Interpretation einer Frage wie (i) nimmt also ebenso wie ihre nicht-reduktionistische Lesart die temporale Dimension von Identität in den Blick, allerdings geht sie dabei auf eine Weise vor, die sich nicht von einem Interesse an unserer epistemischen Praxis des Fällens von Identitätsurteilen leiten lässt, sondern den Versuch unternimmt, Bedingungen für das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen von Identität direkt zu bestimmen. Auf diese Weise wird ein Reduktionist eine Lesart von (I) bevorzugen, nach der eine angemessene Antwort auf diese Frage notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für das Vorliegen der Identität eines Objekts über die Zeit oder, anders ausgedrückt, ein Kriterium für das Vorliegen von Identität formuliert. Entscheidend ist nun, dass es sich dabei – im Gegensatz zur nicht-reduktionistischen Lesart – um ein konstitutives Kriterium handelt. Die Bedingungen, die in einer solchen Antwort formuliert werden, müssen deshalb so beschaffen sein, dass sie Identität nicht voraussetzen, ansonsten würde das vorgeschlagene Identitätskriterium zirkulär sein, und der Reduktionist hätte keine befriedigende Antwort auf die Identitätsfrage geliefert. Die Tatsachen, auf die der Reduktionist bei der Beantwortung der Identitätsfrage Bezug nimmt, müssen in gewisser Hinsicht basaler als die Identitätsrelation selbst sein. Wie ist diese Redeweise von ‘basal’ genauer zu verstehen? Diese Frage wird mich im Folgenden weiter beschäftigen, wenn es darum gehen wird, welche substantiellen Antworten auf die Frage nach Identität und insbesondere auf die Frage nach der Identität von Personen formuliert werden können. Fürs Erste mag aber eine Analogie zu zwei anderen Relationen hilfreich sein, um ein intuitives Gespür für die Unterschei-

9 Vgl. zu meiner Rekonstruktion einer reduktionistischen Position Parfit (1984), 202. Für eine umfassende Diskussion reduktionistischer Identitätstheorien vgl. Hirsch (1982).

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 Die Frage nach personaler Identität

dung zu bekommen. Eine Relation, von der die meisten von uns glauben, dass sie reduzierbar ist, ist etwa die Relation ‘ist die biologische Schwester von’. Das Vorliegen dieser Relation erschöpft sich im Vorliegen der folgenden Bedingungen: X ist die biologische Schwester von Y gdw. (1) X ist eine Person; (2) X ist weiblich; (3) Y ist eine Person; (4) die biologische Mutter von X ist dasselbe menschliche Lebewesen wie die biologische Mutter von Y; (5) der biologische Vater von X ist dasselbe menschliche Lebewesen wie der biologische Vater von Y.

Keine dieser notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen der Relation ‘ist die biologische Schwester von’ setzt den Begriff der biologischen Schwester voraus. Jede dieser Bedingungen ist für sich genommen kompatibel mit dem Vorliegen einer Relation, in der X und Y zueinander stehen, ohne dass X die biologische Schwester von Y ist. Zusammengenommen garantieren diese Bedingungen allerdings, dass die in Frage stehende Relation vorliegt. Eine Schwester von jemandem zu sein, bedeutet nichts anderes, als dass eine Relation vorliegt, für die gilt, dass (1)‒(5) erfüllt sind. Sobald diese Bedingungen erfüllt sind, ist kein weiterer Schritt nötig, um aus X die biologische Schwester von Y zu machen. Im Prinzip könnten wir sogar darauf verzichten, den Ausdruck zu verwenden, der diese Relation bezeichnet, ohne dass etwas Entscheidendes verloren gehen würde. Was heißt es aber, dass ‘ein weiterer Schritt’ nötig sein könnte? Schauen wir uns zur Beantwortung dieser Frage eine Relation an, von der wir – im Gegensatz zu der eben betrachteten Relation – intuitiv sagen würden, dass sie nicht-reduzierbar ist. Die meisten von uns würden etwa ‘ist ein Freund von’ für so eine Relation halten.10 Das sieht man, sobald man ganz voraussetzungslos den Versuch unternimmt, notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für das Vorliegen dieser Relation zu formulieren, etwa: X ist ein Freund von Y gdw. (1) X ist eine Person; (2) X ist männlich; (3) Y ist eine Person; (4) X verbringt einen bestimmten Teil seiner Zeit mit Y; (5) X kennt Y besser als viele andere Menschen; (6) X ist am Wohlergehen von Y interessiert.

Es ist schnell zu sehen, dass die Liste der Bedingungen für das Vorliegen der Freundschaft-Relation nicht bei (6) aufhören kann, dass es also alles andere als einfach ist, zusammen hinreichende Bedingungen für ihr Vorliegen zu formulieren.11 Selbst wenn man sich die Liste der in Frage kommenden Bedingungen

10 Mit diesem Beispiel möchte ich mich selbstverständlich nicht auf eine philosophische Position der Nicht-Reduzierbarkeit der Freundschaftsrelation festlegen. 11 Genau genommen stellt sich sogar die Frage, ob alle der hier vorgeschlagenen Bedingungen



Die Frage nach personaler Identität 

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weiterdenken würde, scheinen intuitiv die Aussichten eher schlecht zu stehen, dass man den Kern dessen trifft, was mit der Freundschaft-Relation gemeint ist. Schließlich lassen sich Verhältnisse vorstellen, in denen (1)‒(6) und noch ganz viele andere Bedingungen erfüllt sind, ohne dass man das vorliegende Verhältnis zwangsläufig als das Vorliegen der Freundschaft-Relation bezeichnen müsste, sondern etwa als ein familiäres Verhältnis oder eine in einer engen Solidargemeinschaft vorliegende Beziehung. Im Gegensatz zu der soeben betrachteten Relation könnten wir nicht einfach auf den Begriff des Befreundetseins verzichten, weil das, was wir mit ihm zum Ausdruck bringen wollen, nur unvollständig dadurch beschrieben ist, dass Bedingungen, welche den Begriff des Befreundetseins nicht voraussetzen, erfüllt sind. Die Situation würde sich ganz anders darstellen, sobald man Bedingungen wie etwa ‘Y denkt, dass X ihr Freund ist’ oder ‘X hat freundschaftliche Gefühle Y gegenüber’ einführen würde. Solche Bedingungen setzen allerdings den Begriff des Befreundetseins voraus. Ihre Einführung im Rahmen einer kriteriellen Analyse der Freundschaft-Relation würde diese Analyse zirkulär machen. Das muss nicht schlimm sein, zumindest wenn man der Auffassung ist, dass Freundschaft keine reduzierbare Relation ist. Gemäß einer nicht-reduktionistischen Analyse der Freundschaft-Relation könnte es durchaus informativ sein, zu behaupten, dass eine Person nur dann als ein Freund oder eine Freundin einer anderen Person betrachtet werden kann, wenn sie ihr gegenüber freundschaftliche Gefühle empfindet. In einem weiteren Schritt könnte man dann etwa genauer zu beschreiben versuchen, welcher Art diese Gefühle sind, mit welchen anderen Gefühlen sie zusammenhängen oder Ähnliches. Die Zirkularität wäre dadurch zwar nicht unbedingt beseitigt, aber sie wäre auch harmlos, denn es ginge einem nicht darum, das Vorliegen der Freundschaft-Relation auf das Erfülltsein von notwendigen und hinreichenden Bedingungen zurückzuführen. Ein NichtReduktionist im Hinblick auf Freundschaft würde behaupten, dass man im Sinne von (1)‒(6) möglicherweise ganz viele Bedingungen formulieren kann, welche die Freundschaft-Relation nicht voraussetzen, dass es aber am Ende immer noch eines Schrittes – etwa im Sinne einer oder mehreren weiteren notwendigen Bedingungen, die allerdings die Freundschaft-Relation voraussetzen – bedürfen wird, damit die formulierten Bedingungen zusammen hinreichend sind. Genau diesen Punkt würde ein Reduktionist bestreiten. Im Hinblick auf die Relation der

überhaupt notwendig sind; (4) ist in diesem Zusammenhang sicher ganz besonders problematisch, aber auch über den Status von (5) und (6) als notwendige Bedingungen ließe sich streiten. An dieser Stelle geht es mir allerdings, wie gesagt, nicht darum, die Behauptung zu verteidigen, dass Freundschaft tatsächlich irreduzibel ist.

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Identität eines Objekts geht ein nicht-reduktionistischer Ansatz demnach davon aus, dass es nicht möglich ist, ein nicht-zirkuläres konstitutives Kriterium für das Vorliegen der Identität-Relation zu formulieren, während ein Reduktionist die Formulierung eines solchen Kriteriums gerade als seine Aufgabe versteht. Wie sieht das weitere Vorgehen beider Theorietypen aus? Betrachten wir an dieser Stelle als Beispiel für einen Identitätssatz etwa ‘Diese Katze (zu t2) ist identisch mit der Katze an r zu t1’. Wie eingangs festgestellt wurde, ist die Frage nach der Wahrheit dieses Satzes gerade dadurch interessant, dass die beiden singulären Terme, die darin auftauchen, zwei unterschiedliche Identifizierungsweisen eines bestimmten Objekts darstellen. Wesentlich dafür, dass mit den singulären Termen überhaupt ein Objekt identifiziert werden kann, ist allerdings das Prädikat, das jeweils ein Bestandteil dieser singulären Terme ist (im vorliegenden Fall also ‘Katze’). Den Terminus ‘identifizieren’ habe ich oben so eingeführt, dass er einen sprachlichen Vorgang bezeichnet, mit dem ein Sprecher einem Hörer eindeutig anzeigt, von welchem Gegenstand bzw. von welchen Gegenständen aus einer bestimmen Menge von Gegenständen ein Prädikat – bzw. in unserem Fall das zweistellige Prädikat ‘ist identisch mit’ – ausgesagt wird. Das bedeutet, dass der Hörer in der Lage sein muss, die beiden durch die singulären Terme bezeichneten Gegenstände von allen anderen Gegenständen des ausgewählten Bereichs zu unterscheiden. Wie leicht zu sehen ist, kann man alleine unter Zuhilfenahme des Demonstrativpronomens ‘diese’ oder einer raumzeitlichen Spezifizierung wie ‘das, was an r zu t war’ keinen Gegenstand identifizieren. Angenommen Sprecher und Hörer befinden sich in einem Zimmer voller Katzen, und der Sprecher verwendet den Ausdruck ‘dies da’, begleitet von einer ostensiven Geste. In so einer Situation ist nicht klar, ob der Ausdruck sich auf eine einzelne Katze, auf zwei Katzen, die sehr dicht beieinander sitzen, möglicherweise auf alle Katzen im Raum oder aber auch nur auf einen willkürlichen Ausschnitt einer bestimmten Katze beziehen soll. Sobald das Demonstrativpronomen allerdings um das Prädikat ‘Katze’ ergänzt wird, ist eine eindeutige Ausgrenzung des gemeinten Gegenstandes und damit eine Identifizierung für den Hörer möglich. Sowohl der Sprecher als auch der Hörer müssen demnach über bestimmte Begriffe verfügen, damit eine Identifizierung zustande kommt. Über einen Begriff zu verfügen, heißt die Kriterien seiner Anwendung zu kennen. Man muss wissen, worin die Wahrheit eines singulären prädikativen Satzes der Form ‘x ist ein F’ besteht, d.h. welche Bedingungen notwendig dafür sind, dass eine Entität zur Extension von F gehört. Bestimmte Begriffe führen als Kriterium der Zugehörigkeit zu ihrer Extension Bedingungen mit sich, die auf die räumliche Konfiguration der unter sie fallenden Objekte verweisen. Um unter so einen Begriff zu fallen, muss etwas bestimmte Teile in einer bestimmten räumlichen



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Anordnung haben. Solche Begriffe werden Sortalbegriffe genannt.12 Beispiele für sortale Prädikate sind Substantive wie ‘Fahrrad’ oder eben ‘Katze’. Sie sind von Adjektiven wie ‘blau’, von Massentermen wie ‘Sand’ oder ‘Milch’, sowie von Begriffen für Ereignisse wie ‘Sonnenuntergang’ oder ‘Blitz’ zu unterscheiden. Dasjenige, worauf das sortale Prädikat zutrifft, wird – im Zusammenspiel mit einem Demonstrativpronomen oder im Rahmen einer objektiv lokalisierenden Kennzeichnung – durch dieses Prädikat in seiner Umgebung isoliert. Das Sortal gibt die räumlichen Grenzen des betreffenden Objekts vor und erlaubt so eine Unterscheidung dieses Objekts von anderen Objekten, auch Objekten derselben Klasse. Gleichzeitig erlaubt es das sortale Prädikat nicht, einen Teil des so unterschiedenen Objektes als dieses Objekt selbst anzusehen. Dies ist bei Prädikaten wie ‘blau’ oder ‘Meer’ der Fall: Auch ein Teil dessen, was blau ist, ist blau, und auch ein Ausschnitt eines Meeres gilt noch als Meer. Den Teil einer Möwe würde man dagegen nicht als eine Möwe bezeichnen. Sortale Begriffe lassen sich in zwei Klassen einteilen: Einerseits in Sortalbegriffe, unter die eine Entität zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz fällt, andererseits in Sortalbegriffe, für die dies nicht gilt. Die ersten werden im Anschluss an die Terminologie, die Wiggins im Rahmen seiner Theorie der Identität entwickelt, Substanz-Sortale genannt, die letzteren Phasen-Sortale.13 Ein Begriff S ist genau dann ein Substanz-Sortal, wenn gilt, dass man aus der Tatsache, dass etwas kein S mehr ist, schließen kann, dass es nicht mehr existiert. Für ein Phasen-Sortal gilt dies nicht. Beispiele für Phasen-Sortale sind Titelbezeichnungen wie ‘General’ oder ‘Kanzlerin’. Wenn etwas nicht mehr ein General ist, dann folgt daraus nicht, dass es nicht mehr existiert. Das obige Beispiel ‘Katze’ erfüllt dagegen das Kriterium für Substanz-Sortale: Wenn eine Katze ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Katze mehr ist, dann kann das nur heißen, dass die betreffende Katze zu existieren aufgehört hat. Substanz-Sortale führen aber nicht nur Kriterien der räumlichen Abgrenzung identischer Mitglieder ihrer Extension, sondern auch Kriterien für ihre kontinuierliche Weiterexistenz mit sich. Genau genommen weisen Substanz-Sortale darauf hin, was für identische Mitglieder ihrer Extension als die übliche Art zu existieren zu gelten hat und was davon ausgenommen ist. Über einen solchen Begriff zu verfügen, heißt also nicht nur, zu wissen, wie die unter ihn fallenden Entitäten räumlich

12 Zu Sortalen vgl. Tugendhat (1976), 453ff. Zum Folgenden vgl. Wiggins (1980), ch. 2, insbes. 62ff. 13 Vgl. Wiggins (2001), 56ff. und 77ff. Die Art und Weise, wie Wiggins die Unterscheidung bestimmt, steht allerdings im Unterschied zu den vorliegenden Ausführungen im Kontext seiner aristotelisch geprägten Theorie darüber, was es heißt, dass etwas eine Substanz ist; vgl. dazu auch Wiggins (1995).

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auszusehen haben, sondern auch, auf welche Weise sie typischerweise in der Zeit existieren bzw. unter welchen Bedingungen man nicht mehr von ihrer Weiterexistenz reden kann. Eine in diesem Kontext wichtige Unterscheidung ist die Unterscheidung zwischen Substanz-Sortalen, welche für Artefakte wie Tennisschläger, Uhren oder Schiffe stehen, und Substanz-Sortalen, die für natürliche Arten wie Tannenbäume, Katzen oder menschliche Lebewesen stehen. Mit Artefakten verbindet sich eine ganze Reihe von weitreichenden identitätstheoretischen Probleme, deren Diskussion zum Teil eine lange Geschichte in der Philosophie hat.14 An dieser Stelle kann es mir nicht darum gehen, diesen Debattenkontext zu thematisieren, allerdings möchte ich – gerade im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Arbeit – darauf hinweisen, inwiefern im Falle von Substanz-Sortalen für natürliche Arten die Spezifizierung der arttypischen Kontinuitäts- und Erhaltensbedingungen im Gegensatz zum Fall von Artefakten besonders zuverlässig ist.15 Dies liegt daran, dass das Kriterium der Zugehörigkeit zur Extension eines Sortals N, das für eine natürliche Art steht, diesem im Sinne einer ‘realen Definition’ der Form ‘x ist ein N gdw. x relevant ähnlich zu diesem N ist’ zugeordnet ist, während dies bei Sortalen, die für Artefakte stehen, nicht der Fall ist.16 Die Kriterien der relevanten Ähnlichkeit werden im Falle der natürlichen Arten über das Prinzip der Aktivität, d.h. die für die betreffende Art typische Weise, über die Zeit zu existieren, expliziert. Die besondere Pointe dieses Vorgehens besteht darin, dass die Einsichten, die auf diese Weise in die Definition des Sortalbegriffs einfließen, eine nomologische Verankerung haben. Das bedeutet, dass es von bestimmten, den Naturgesetzen unterworfenen Prozessen abhängt, ob ein Objekt, das zu einer natürlichen Art gehört, zu einer bestimmten Zeit weiterexistiert oder nicht. Gleichzeitig ist stets ausgeschlossen, dass ein Mitglied einer natürlichen Art zu einem bestimmten Zeitpunkt zu existieren aufhört und zu einem späteren Zeitpunkt als das-

14 An dieser Stelle meine ich etwa die Debatte um das berühmte von Hobbes mit einer entscheidenden Wendung in die Diskussion gebrachte Beispiel des Schiffs von Theseus; vgl. etwa Wiggins (2001), 91ff. und Lowe (2002), 25ff. 15 Vgl. zum Folgenden Wiggins (2001), Ch. 3. Wiggins greift hier die semantische Theorie auf, die Hilary Putnam für die natürlichen Arten entwickelt hat; vgl. Putnam (1970) und Putnam (1980). Wiggins’ Behandlung des Themas steht im Kontext seiner eigenen Realismus-Position und seiner von Kripke (1972) beeinflussten Essentialismus-Position, auf die ich hier nicht eingehen kann. 16 Im Falle von Artefakten handelt es sich um ‘nominale Definitionen’, die in einer Funktionsbeschreibung bestehen und etwa folgendermaßen aussehen: ‘x ist ein Füller gdw. x ein Gegenstand ist, der Schreiben mit Tinte ermöglicht’. Wiggins selbst hält die Grenze zwischen nominaler und realer Definition im Fall von natürlichen Arten für fließend; vgl. Wiggins (2001), 83.



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selbe Objekt weiterexistiert. Das Wissen um solche Prozesse ist im Grunde ein auf mikroskopischer Ebene angesiedeltes Expertenwissen, und die Kriterien der räumlichen Abgrenzung bzw. der relativen Ähnlichkeit, die wir im Alltag bei der Zuschreibung von Sortalprädikaten anwenden, entsprechen nur einer äußerst primitiven, rudimentären Form eines solchen Expertenwissens. Aber auch wenn wir nicht immer über Expertenwissen hinsichtlich der Kontinuitäts- und Erhaltensbedingungen bestimmter Arten verfügen, steht uns doch ein solches Wissen prinzipiell zur Verfügung bzw. wir gehen bei unserer Praxis der Reidentifizierung von Objekten, die zu den natürlichen Arten gehören, davon aus, dass es vorliegt, falls unsere primitiveren Kriterien bestimmte Problemfälle nicht lösen können. Im Falle von Artefakten ist dem nicht so. Die Erhaltensbedingungen, die z.B. für Uhren gelten, schließen nicht aus, dass eine Uhr zu einem bestimmten Zeitpunkt auseinander genommen und zu einem späteren Zeitpunkt zusammengesetzt werden kann, um danach als dieselbe Uhr weiterzuexistieren. Die Tatsache, dass wir über Sortalbegriffe verfügen, impliziert demnach, dass wir einerseits über Kriterien der räumlichen Abgrenzung für die unter sie fallenden Entitäten und andererseits über Kriterien der Erhaltung bzw. Kriterien der kontinuierlichen Existenz der unter sie fallenden Entitäten verfügen. Wenn wir uns im Sinn von (I) eine Identitätsfrage stellen, müssen wir demnach die spezifische Weise in den Blick nehmen, auf die das jeweils einschlägige Substanz-Sortal die Kontinuitäts- und Erhaltungsbedingungen für die unter dieses Sortal fallenden Entitäten bestimmt. Das bedeutet wiederum, dass wir uns in einem ersten Schritt erst klar machen müssen, unter welches Substanz-Sortal das Objekt, nach dessen Identität gefragt werden soll, überhaupt fällt. Im Hinblick auf die Frage nach Identität wäre einem etwa nicht dadurch weiter geholfen, dass man ein Objekt durch das Phasen-Sortal identifiziert, unter das dieses Objekt fällt. Das liegt daran, dass Phasen-Sortale im Gegensatz zu Substanz-Sortalen keine Kontinuitäts- und Erhaltensbedingungen mit sich führen – es sind aber genau diese Bedingungen, die eine Antwort auf die Frage nach Identität darstellen. Vertreter einer reduktionistischen Position würden in diesem Zusammenhang behaupten, dass wir ein konstitutives Kriterium für die Identität von Objekten einer bestimmten Klasse spezifizieren können, indem wir herausfinden, welche Bedingungen von dem Substanz-Sortal spezifiziert werden, unter das diese Objekte fallen.17 Ver-

17 Eine extreme Form des Reduktionismus im Hinblick auf Identität, die ich in diesem Abschnitt nicht thematisiert habe, geht ganz grundsätzlich davon aus, dass nicht-reduktionistische Ansätze eine falsche Auffassung davon haben, was materielle Objekte sind und wie sie in der Zeit existieren. Vertreter eines solchen ‘ontologischen Reduktionismus’ würden nicht bezweifeln, dass materielle Objekte in der Zeit existieren, d.h. dass sie zu mehr als nur einem Zeitpunkt existieren:

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treter nicht-reduktionistischer Positionen würden zwar sagen, dass das Verfügen über ein bestimmtes Substanz-Sortal uns zwar in die Lage versetzt, die Objekte, die unter dieses Sortal fallen, zu identifizieren und zuverlässige Urteile im Hinblick auf ihre Identität zu fällen, gleichzeitig aber bestreiten, dass sich durch die Betrachtung des jeweiligen Substanz-Sortals Bedingungen für das Vorliegen von Identität spezifizieren lassen, welche im Sinn eines nicht-zirkulären Identitätskriteriums verstanden werden können. Eine sinnvolle Frage nach Identität setzt demnach voraus, dass man sie im Zusammenhang mit der durch ein Substanz-Sortal spezifizierten Klasse von Objekten stellt, nach deren Identität gefragt werden soll. Im Kontext des Themas der vorliegenden Arbeit kann diese Voraussetzung leicht erfüllt werden, weil es um die Identität von Personen geht. In diesem Sinne werde ich im Folgenden davon ausgehen, dass die einschlägige Frage nach der Identität von Personen entweder in der nicht-reduktionistischen Frage nach der Wahrheit eines Satzes der Form ‘X zu t1 ist dieselbe Person wie Y zu t2’ besteht oder aber in der reduktionistischen Frage nach einem konstitutiven Kriterium für das Vorliegen der Tatsache, dass X zu t1 dieselbe Person wie Y zu t2 ist.18 Wenn nach der Identität von Personen gefragt wird, dann wird nach einer Relation gefragt, in der auch andere Entitäten zueinander stehen können; allerdings hat die Frage nach personaler Identität einer ganze Reihe von Problemen aufgeworfen, die sich nicht als allgemeine identitätstheoretische Probleme verstehen lassen. Dies ist darin begrün-

Das Phänomen der sog. Persistenz ist, wie angedeutet, der gemeinsame Ausgangspunkt von reduktionistischen und nicht-reduktionistischen Theorien, die den Versuch unternehmen, einer Frage wie (i) einen Sinn abzugewinnen. Allerdings würde der ontologische Reduktionist darauf hinweisen, dass die Art des Persistierens von Objekten seiner Ansicht nach im Sinne dessen charakterisiert werden muss, was in der Terminologie von David Lewis ‘perdurance’ heißen würde (vgl. Lewis (1986), 202). Dieser Ansicht nach haben materielle Objekte sowohl räumliche als auch zeitliche Teile. Zu jedem Zeitpunkt der Existenz eines materiellen Objekts existiert nur ein zeitlicher Teil dieses Objekts, und kein zeitlicher Teil dieses Objekts existiert zu zwei verschiedenen Zeitpunkten. In dieser Hinsicht wären materielle Objekte nicht von Ereignissen zu unterscheiden, die ebenfalls sowohl räumliche als auch zeitliche Teile haben. Ein materielles Objekt setzt sich dieser Ansicht nach aus einzelnen zeitlichen Teilen zusammen. Es stellt in diesem Sinne ein besonders langwieriges Ereignis dar, das sich als eine Sequenz von Teilen verstehen lässt, die ihrerseits eine zeitliche Ausdehnung haben und Ereignisse sind. In der Debatte um personale Identität spielt eine Variante solcher Überlegungen im Zusammenhang mit psychologischen Theorien eine wichtige Rolle, und ich werde weiter unten darauf zurückkommen (vgl. S. 42f.). 18 Allerdings muss im Einzelfall daran gedacht werden, dass mit diesen Formulierungen nicht bereits in dem Sinn eine substantielle Vorentscheidung getroffen wird, als Positionen zugelassen werden, in deren Rahmen bestritten wird, dass es sich bei ‘Person’ um ein Substanz-Sortal handelt. Dies gilt insbesondere für reduktionistische Fassungen des biologischen Kriteriums, wie ich sie im folgenden Kapitel diskutiere.



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det, dass Personen im Gegensatz zu anderen Objekten nicht nur materielle bzw. biologische, sondern auch psychologische Eigenschaften aufweisen. Beiden Typen von Eigenschaften kann im Rahmen einer Theorie personaler Identität jeweils eine besondere Relevanz beigemessen werden. Zur Strukturierung meiner Rekonstruktion der Debatte um personale Identität werde ich deshalb neben der im Rahmen dieses Kapitels eingeführten Unterscheidung zwischen reduktionistischen und nicht-reduktionistischen Ansätzen auch zwischen Ansätzen unterscheiden, die ihren Schwerpunkt auf psychologische oder aber auf biologische Aspekte der Existenz von Personen legen. Den Anfang werden dabei reduktionistische Ansätze bilden, wobei ich im folgenden Kapitel zunächst auf die Position eines biologischen Reduktionismus hinweisen möchte.

2 Biologischer Reduktionismus Wie ich im vorangegangenen Kapitel angedeutet habe, ist die Frage nach Identität nur unter der Voraussetzung sinnvoll zu stellen, dass man das Substanz-Sortal bestimmt, unter das diejenigen Objekte fallen, um deren Identität es gehen soll. Der Ansatz, den ich im Rahmen dieses Kapitels vorstellen möchte, geht davon aus, dass ‘Person’ nicht als ein solches Substanz-Sortal betrachtet werden kann. Wie ist diese Behauptung zu verstehen? Ich habe Substanz-Sortale als diejenigen Begriffe eingeführt, unter die ein Objekt fallen muss, solange (und nur solange) es weiterexistiert. Wenn ‘Person’ kein solches Sortal ist, dann bedeutet das also, dass etwas aufhören kann, eine Person zu sein, ohne dass es selbst zu existieren aufhört, und es bedeutet auch, dass etwas, das keine Person ist und existiert, zu einer Person werden kann. In diesem Sinn wird ‘Person’ als ein Phasen-Sortal wie etwa ‘General’ verstanden: Von einem General, der aufhört, ein General zu sein, würden wir nicht sagen, dass er zu existieren aufhört bzw. stirbt. Umgekehrt ist nichts außergewöhnlich daran, dass etwas, das schon eine zeitlang existiert hat, erst zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnt, ein General zu sein. Interessiert man sich für die Identität eines bestimmten Generals wäre es auf diese Weise witzlos, nach spezifischen Erhaltens- und Kontinuitätsbedingungen zu fragen, die für Generäle einschlägig sind. Die Situation ist allerdings insofern nicht besonders problematisch, als von jedem Objekt, das unter ein Phasen-Sortal fällt, gilt, dass es auch unter ein Substanz-Sortal fallen muss. Im Fall des Generals, für dessen Identität man sich interessiert, müsste man demnach nur überlegen, unter welches Substanz-Sortal er fällt, um einen geeigneten Kandidaten für eine Begriffsanalyse zu finden, die zur Bestimmung des einschlägigen Identitätskriteriums führt. Eine andere Weise, diesen Punkt zu formulieren, besteht in dem Hinweis darauf, dass es sich bei ‘General’ nicht um den fundamentalen Begriff handelt, unter den etwas fallen kann. Generäle sind – grundlegend betrachtet – nicht Generäle, sondern etwas anderes, z.B. Personen. Genau dasselbe wird an dieser Stelle vom Begriff der Person behauptet: Wenn man etwas als Person identifiziert, dann identifiziert man es nicht in seiner grundlegenden Hinsicht.19 Ebenso wie im Fall eines Generals muss – um eine sinnvolle Frage nach der Identität der Wesen, die Personen sind, formulieren zu können – das Substanz-Sortal identifiziert werden, unter das diejenigen Wesen fallen, die unter das Phasen-Sortal ‘Person’ fallen. Welches Substanz-Sortal kommt hier in Frage? Die naheliegende und auf den ersten Blick besonders attraktive Option, die sich hier anbietet,

19 Vgl. etwa Gunnarsson (2008), 535ff.



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besteht in der Annahme, dass Personen unter das Substanz-Sortal ‘menschliches Wesen’ bzw. ‘Mitglied der Spezies Homo sapiens’ fallen. Naheliegend ist diese Option, weil es sich bei den meisten Personen, die wir kennen, tatsächlich um Mitglieder der Spezies Homo sapiens handelt, und weil die meisten Mitglieder der Spezies Homo sapiens auch Personen sind. Attraktiv ist dieser Vorschlag aus Gründen, die ich im Rahmen des ersten Kapitels angesprochen habe. Immerhin handelt es sich bei ‘Mitglied der Spezies Homo sapiens’ um ein Substanz-Sortal, von dem behauptet werden kann, dass es ein Substanz-Sortal ist, das für eine natürliche Art steht, und wie ich im vorangegangenem Kapitel angedeutet habe und im Folgenden genauer ausführen werde, handelt es sich bei solchen Sortalen um Begriffe, die auf eine besonders unkomplizierte Weise die Identitätsbedingungen für die unter sie fallenden Entitäten spezifizieren. Zudem erlaubt der Hinweis auf biologische Kontinuität eine nicht-zirkuläre Antwort auf die Frage nach einem Identitätskriterium und eignet sich auf diese Weise besonders gut im Rahmen einer reduktionistischen Strategie. Die klarste Formulierung eines Ansatzes, der auf die skizzierte Weise davon ausgeht, dass es sich bei Personen grundlegend um menschliche Lebewesen handelt, findet sich bei Eric Oslon.20

20 Vgl. Olson (1997); als weitere Vertreter der – aus Gründen, die im Rahmen dieser Arbeit deutlich werden sollen, nicht gerade besonders beliebten – Position des biologischen Reduktionismus werden Ayers, Snowdon und Wiggins gerechnet; vgl. Ayers (1990), 278ff.; Snowdon (1996), Wiggins (1980), ch. 6 und Wiggins (2001), ch. 7. Zumindest bei Wiggins sind allerdings Zweifel angebracht, ob er tatsächlich ein biologischer Reduktionist ist. Im weiteren Verlauf der Arbeit werde ich dafür argumentieren, dass seine Position als nicht-reduktionistische Position verstanden werden muss.  Der biologische Ansatz weist eine gewisse Ähnlichkeit mit Positionen auf, die in der Debatte um personale Identität eine Zeitlang unter dem Schlagwort des ‘Körperkriteriums’ diskutiert wurden (vgl. Thompson (1997) sowie Williams (1970) und Williams (1973c)), und in manchen Hinsichten lassen sich diese Positionen tatsächlich auf eine Weise verstehen, die durchaus kompatibel mit dem biologischen Reduktionismus ist. Moderne Vertreter des biologischen Reduktionismus grenzen sich allerdings von Vertretern des Körperkriteriums ab, meist mit dem Hinweis, dass der Bezug auf einen Körper – im Gegensatz zum Bezug auf einen funktionierenden Organismus – notorisch mehrdeutig ist und zu unnötigen Problemen führt; vgl. etwa Olson (1997), 142ff.  Ein Theorietyp, von dem man ebenfalls denken könnte, dass er eine Variante des biologischen Reduktionismus darstellt, besteht aus Ansätzen, die ein sog. ‘Gehrinkriterium’ formulieren (vgl. Nagel (1971), Noonan (1989) und mit Abstrichen Unger (1990)), indem sie die Identität von Personen an die Identität relevanter Teile des Gehirns knüpfen; im Vordergrund steht hier allerdings die Überlegung, dass es sich beim Gehirn um den Träger relevanter psychologischer Eigenschaften handelt, weswegen solche Theorien im Grunde Varianten des psychologischen Reduktionismus darstellen.

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Wenn wir grundlegend menschliche Lebewesen sind – so die Überlegung – dann bedeutet das, dass die Kontinuitäts- und Erhaltensbedingungen, die für menschliche Lebewesen einschlägig sind, die gesuchte Antwort auf die Frage nach personaler Identität darstellen, auch wenn diese Frage insofern missverständlich formuliert ist, als es letztlich nicht um die Frage nach der Identität von Personen geht. Da es sich bei menschlichen Lebewesen um biologische Entitäten handelt, wird es sich bei dem Kriterium für ihre Identität um ein Kriterium handeln müssen, das auf biologische Kontinuität Bezug nimmt.21 Die angedeutete Attraktivität eines solchen Ansatzes besteht nun in der Tatsache, dass Kontinuität, die rein biologisch zu verstehen ist, auf die im ersten Kapitel angesprochene Weise eine nomologische Verankerung hat, empirisch zu fassen ist und von den einschlägigen Experten für menschliche Lebewesen im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Theorie vom menschlichen Organismus bestimmt werden kann. Die Fragen, was ein menschlicher Organismus ist, welchen Veränderungen er unterworfen werden kann, ohne dass er zu existieren aufhört, unter welchen Bedingungen er zu existieren beginnt und welche Mechanismen letztlich dafür sorgen, dass er am Leben bleibt, können auf diese Weise als empirische Fragen betrachtet werden, deren genaue Ausarbeitung keine Aufgabe für die Philosophie darstellt.22 In diesem Sinn wird angenommen werden können, dass biologische Kontinuität etwa darin besteht, dass in einem menschlichen Organismus Stoffwechsel stattfindet, dass ein Blutkreislauf vorliegt, dass die Zellen, aus denen der Organismus besteht, sich auf die übliche Weise erneuern und Ähnliches mehr.23 Solange solche ‘vegetativen’ Abläufe im menschlichen Organismus nicht unterbrochen werden, wird dieser Organismus am Leben bleiben; setzen sie für längere Zeit aus, wird das betreffende menschliche Lebewesen zu existieren aufhören, und zwar für immer. Es ist dieser Umstand, der die Identitätsfrage im Zusammenhang mit Entitäten, die unter Begriffe für natürliche Arten fallen, so unproblematisch im Vergleich zu Identitätsfragen macht, die im Zusammenhang mit Artefakten auftauchen, wo zumindest strittig ist, ob bzw. in welchem Sinne Fälle einer ‘intermittent existence’ möglich sind.24 Weil die vegetativen Funktionen, von denen die Identität des menschlichen Lebewesens auf diese Weise abhängig gemacht

21 Vgl. Olson (1997), 16: „What it takes for us to persist through time is what I have called biological continuity: one survives just in case one’s purely animal functions – metabolism, the capacity to breathe and circulate one’s blood, and the like – continue.“ 22 Vgl. etwa die etwas lapidare Bemerkung von Olson: „What is an organism? Ultimately it is the business of biologists to answer this question: it is roughly the same project as explaining the nature of life. They have had a great deal to say about the matter.“ (Olson (1997), 126f.) 23 Vgl. etwa Olsons Aufzählung der ‘life-giving features’ in Olson (1997), 127ff. 24 Vgl. etwa Lowe (2002), 33f.; man denke etwa an das klassische Beispiel einer Uhr, die zu



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wird, ihrerseits davon abhängen, dass relevante Teile des menschlichen Gehirns intakt bleiben, wird ein menschlicher Organismus einer ganzen Reihe von zum Teil auch drastischen Veränderungen unterworfen sein können, ohne dass das betreffende menschliche Lebewesen zu existieren aufhört. Die für die philosophische Beschäftigung mit Personen besonders interessante Extremform solcher Veränderungen, die mit dem Weiterexistieren des menschlichen Lebewesens kompatibel sind, liegt in Fällen vor, in denen die für psychologische Eigenschaften relevanten Teile des Großhirns irreparabel zerstört worden sind, in denen aber diejenigen Gehirnteile, die für die Aufrechterhaltung der vegetativen Funktionen zuständig sind, weiterhin intakt sind. Weil in solchen Fällen das Kriterium der biologischen Kontinuität immer noch erfüllt ist, sind Vertreter des biologischen Kriteriums wie Olson darauf festgelegt, solche Fälle als Fälle zu interpretieren, in denen Identität vorliegt, auch wenn das betreffende menschliche Lebewesen einer bestimmten Interpretation zufolge aufgehört hat, eine Person zu sein.25 Mit dem Hinweis auf psychologische Eigenschaften und die Möglichkeit von Situationen, in denen es zu einem Auseinanderfallen von biologischer Kontinuität und psychologischem Funktionieren kommt, eröffnet sich das eigentliche argumentative Aufgabenfeld für biologische Reduktionisten. Wie angedeutet, haben solche Positionen im Hinblick auf die genaue Formulierung eines Identitätskriterium keine eigenständige Aufgabe, weil es an empirischen Wissenschaften wie der Humanbiologie ist, die genauen Bedingungen zu ermitteln, die erfüllt sein müssen, damit ein menschlicher Organismus am Leben bleibt. Die philosophische Aufgabe für einen biologischen Reduktionisten wie Olson besteht darin, das biologische Kriterium gegen Einwände zu verteidigen, die gegen dieses Kriterium von der Warte psychologischer Theorien formuliert werden. An dieser Stelle wende ich mich deshalb einem Einwand zu, der stan-

einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort auseinander genommen wird, um später an einem ganz anderen Ort wieder zusammengesetzt zu werden. 25 Vgl. Olsons Diskussion des ‘vegetable case’ in Olson (1997), 7ff. und 111ff.; an dieser Stelle könnte man daran festhalten, dass das in so einem Zustand vorliegende Wesen immer noch eine Person ist; in so einem Fall würde man dafür argumentieren, dass ‘Person’ und ‘menschliches Lebewesen’ dieselben Begriffe sind; für den Status eines menschlichen Lebewesens, das noch über die relevanten mentalen Fähigkeiten verfügt, müsste man dann ein neues Wort einführen, aber es würde sich dadurch nichts an der argumentativen Situation geändert haben. Für den Fall des Lebensbeginns sind biologische Reduktionisten analog dazu auf die Behauptung festgelegt, dass wir zu existieren beginnen, sobald die relevanten vegetativen Funktionen einsetzen, auch wenn wir zu diesem Zeitpunkt noch keine nennenswerten mentalen Eigenschaften aufweisen; vgl. Olson (1997), 73ff.

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dardmäßig gegen biologische Ansätze vorgebracht wird und die wichtigste philosophische Herausforderung darstellt, mit der diese umzugehen haben. Wenn wir von Personen und ihrer Identität reden, so der Einwand, dann haben wir mehr im Sinn als lediglich das kontinuierliche Weiterbestehen eines lebenden menschlichen Organismus. Personales Leben hat diesem Einwand zufolge einen ‘inneren Aspekt’, der darin besteht, dass Personen denken und fühlen, sich erinnern und wünschen, Pläne schmieden, Reue empfinden, sich um die eigene Zukunft sorgen und Ähnliches. Dass diese erstpersonale Dimension des Lebens von Personen in einem direkten Zusammenhang mit der Frage nach ihrer Identität steht, wird dann unter Zuhilfenahme kontrafaktischer Szenarien plausibel zu machen versucht, die seit den Überlegungen, die Locke in dem in der zweiten Auflage seines Essay Concerning Human Understanding eingefügten Kapitel ‘Über Identität und Verschiedenheit’ angestellt hat, immer wieder dieselbe Struktur aufweisen.26 Aus diesem Grund werde ich im Folgenden im Zusammenhang mit diesen Szenarien von der Locke-Herausforderung an biologische Theorien reden.27

26 Locke entwirft hier das folgende Szenario: „[S]hould the Soul of a Prince, carrying with it the consciousness of the Prince’s past Life, enter and inform the Body of a Cobbler as soon as deserted by his own Soul“ und bewertet es folgendermaßen: „every one sees, he would be the same Person with the Prince, accountable only for the Prince’s Actions.“ (Locke (1694), 340). Die Betrachtung des Schuster-Fürst-Szenarios führt Locke zu einer positiven Bestimmung des Identitätskriteriums für Personen: „That with which the consciousness of this present thinking thing can join it self, makes the same Person, and is one self with it, and with nothing else; and so attributes to it self, and owns all the Actions of that thing, as its own, as far as that consciousness reaches, and no farther; as every one who reflects will perceive.“ (Locke (1694), 341).      Moderne Vertreter psychologischer Theorien personaler Identität sehen sich in der geistigen Nachfolge von Locke, sie machen in ihren argumentativen Strategien allerdings keinen Gebrauch mehr vom fiktiven Szenario des Seelentauschs. (Vgl. etwa den für die Debatte besonders einflussreichen ‘Brownson-Fall’ in Shoemaker (1963), 23ff. und die Diskussion in Wiggins (1967)). Die Einsicht darin, dass mentale Zustände in den Zuständen des menschlichen Gehirns realisiert sind, macht solch antiquierte Konstruktionen unnötig. Die Struktur der modernen Gedankenexperimente entspricht aber immer noch derjenigen von Lockes Szenario. So wird entweder davon gesprochen, dass ein ganzer Gehirntausch stattfindet oder aber eine Situation imaginiert, in der alle Erinnerungsspuren, die in dem Gehirn einer Person realisiert sind, auf das Gehirn einer anderen Person und umgekehrt übertragen werden. Die Version des Gedankenexperiments, mit der Oslon sich explizit auseinandersetzt, ist insofern raffinierter, als er in seinem ‘transplant case’ keinen ganzen Gehirntausch stattfinden lässt, sondern lediglich von der Verpflanzung relevanter Regionen des Großhirns spricht; im Folgenden vernachlässige ich dieses Detail; vgl. Olson (1997), 42ff. 27 Ohne in eine detaillierte Exegese des Vorgehens von Locke einzusteigen, sei an dieser Stelle lediglich darauf hingewiesen, dass die Art und Weise, wie Vertreter eines psychologischen Kri-



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Es handelt sich dabei um Szenarien, in denen biologische Kontinuität und psychologische Kontinuität voneinander abweichen, d.h. Szenarien, in denen biologische Kontinuität und psychologische Diskontinuität oder umgekehrt biologische Diskontinuität und psychologische Kontinuität oder beides gleichzeitig vorliegt, wie etwa in dem folgenden Szenario: Der Tennisspieler Roger und die Evolutionsbiologin Marie werden einer Prozedur unterworfen, bei der der gesamte mentale Haushalt von Roger auf den biologisch kontinuierlich weiterexistierenden Körper von Marie übertragen wird, während umgekehrt Maries gesamter mentaler Haushalt auf den biologisch kontinuierlich weiterexistierenden Körper von Roger transferiert wird. Nach dem Eingriff liegen zwei menschliche Lebewesen vor, die jeweils mit Marie und Roger, wie sie vor dem Eingriff existiert haben, biologisch kontinuierlich sind. Während aber das Wesen, das mit Marie biologisch kontinuierlich ist, sich an all das erinnert, was Roger erlebt hat, Rogers Wünsche, Pläne, Absichten und Charakterzüge hat, ist das Wesen, das nach dem Eingriff in der Relation der biologischen Kontinuität zu Roger vor dem Eingriff steht, mit den Erinnerungen, Wünschen, Absichten, Charakterzügen und anderem Mentalen von Marie ausgestattet. Mit der Situation, wie sie sich nach dem Eingriff darstellt, konfrontiert, würden wir – so die Kritiker biologischer Theorien – intuitiv urteilen, dass das Wesen, das vor dem Eingriff den Körper von Roger hatte und das Wesen, das nach dem Eingriff den Körper von Marie hat, ein und dieselbe Person – nämlich Roger – ist und umgekehrt. Wenn dieses Urteil richtig ist, dann folgt daraus, dass die Identität des lebenden menschlichen Organismus nicht notwendig für personale Identität ist. Gleichzeitig würden wir auch urteilen, dass das Lebewesen, das vor dem Eingriff und nach dem Eingriff den Körper von Marie hat, nicht ein und dieselbe Person ist.28 Wenn das richtig ist, dann folgt daraus, dass ein und derselbe kontinuierlich existierende biologische Organismus unter besonderen aber in relevanter Hinsicht vorstellbaren Umständen der Körper von zwei Personen sein kann – dass es sich bei biologischer Kontinuität mithin um keine hinreichende Bedingung für die Identität von Personen handeln kann. Wenn etwas weder notwendig noch hinreichend für die Identität von Personen ist, dann kann es kein Kriterium dafür sein. Deshalb muss das biologische Kriterium dieser Kritik zufolge falsch sein.

teriums Lockes Ausführungen interpretieren, durchaus nicht unumstritten ist und den theoretischen Kontext, in dem Locke das Problem der personalen Identität diskutiert, weitesgehend ausblendet; besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Michael Ayers’ Rekon­ struk­tion, nach der Locke als Vertreter eines biologischen Kriteriums verstanden werden muss; vgl. Ayers (1990), pt. 2. 28 Snowdon spricht in diesem Zusammenhang von den ‘restrictive intuitions’ und den ‘permissive intuitions’; vgl. Snowdon (1996), S. 33f.

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Wie kann diesem Einwand von der Warte des biologischen Reduktionismus begegnet werden? Zunächst ist festzuhalten, dass wir im Hinblick auf die Identität von Personen keine direkten Intuitionen haben. Deswegen appellieren Vertreter psychologischer Theorien, wenn sie die Locke-Herausforderung formulieren, immer auf eine spezifische Weise an unsere Intuitionen. So wird etwa gefragt, welches der beiden nach dem oben beschriebenen Eingriff vorliegenden Wesen wir für Rogers Wimbledon-Sieg verantwortlich halten würden – das Wesen mit dem kontinuierlich existierenden Körper von Roger und dem mentalen Haushalt von Marie oder das Wesen, das zwar den mentalen Haushalt von Roger aufweist, aber inzwischen den Körper von Marie hat. Oder es wird gefragt, für welches der beiden nach dem Eingriff vorliegenden Wesen es rational wäre, sich um den Ausgang einer bestimmten wissenschaftlichen Studie zu sorgen. Oder es wird der Vorschlag gemacht, sich in eines der beiden vor dem Eingriff vorliegenden Wesen hineinzuversetzen und sich die Frage zu stellen, als welches der beiden nach dem Eingriff vorliegenden Wesen man den Eingriff zu überleben glaubt. Im Hinblick auf solche Fragen scheinen viele von uns tatsächlich Intuitionen zu haben, und diese Intuitionen laufen in der Regel darauf hinaus, dass wir dasjenige Wesen eher verantwortlich für Rogers Leistung beim Wimbledon-Finale halten würden, das nach dem Eingriff in der Relation der psychologischen Kontinuität zu Roger zum Zeitpunkt des Finales steht.29 Entsprechend würden auch die meisten von uns denken, dass es eher für dasjenige Wesen rational wäre, sich um den Ausgang der Forschungsergebnisse zu kümmern, das in der Relation der psychologischen Kontinuität zu Marie vor dem beschriebenen Eingriff steht, auch wenn dieses Wesen nach dem Eingriff den Körper eines Tennisspielers hat. Und es sieht auch ganz danach aus, als ob wir, wenn wir uns etwa in die Perspektive von Marie vor dem Eingriff hineinversetzen, davon ausgehen würden, dass wir nach dem Eingriff als das Wesen überleben, welches den Körper von Roger hat. Vertreter biologischer Theorien können an dieser Stelle zugestehen, dass man diese intuitiven Urteile ernst nehmen sollte, gleichzeitig aber daran festhalten, dass sie keinesfalls selbstevident sind, sondern bestimmte Annahmen enthalten,

29 Allerdings wird von Seiten der Vertreter psychologischer Theorien oft unterschätzt, wie unklar diese Intuitionen ausfallen, sobald man sich die konstruierten Szenarien nur detailliert genug vorzustellen versucht. Schon im Hinblick auf das vorliegende Beispiel ließe sich einwenden, dass es keinesweges klar ist, dass Roger der Wimbledon-Sieg zuzuschreiben ist, wenn er nicht biologisch kontinuierlich mit dem Lebewesen ist, das auf dem Rasen von Wimbledon die durchaus auch körperliche Leistung eines Matchsieges im Finale erbracht hat. Zur Problematik des Einsatzes von Gedankenexperimenten und Intuitionen in der Debatte um personale Identität vgl. Wilkes (1988); zu der damit verbundenen allgemeinen Problematik für das Vorgehen der Philosophie vgl. etwa Williamson (2007).



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die es eigens zu überprüfen gilt.30 Im Hintergrund scheint hier etwa die Annahme zu stehen, dass wir Personen nur dann rationalerweise für Handlungen moralisch verantwortlich machen können, wenn sie identisch mit den Personen sind, welche diese Handlungen ausgeführt haben. Entsprechend glauben wir, dass es nur dann rational ist, sich auf besondere Weise um das Wohlergehen einer in der Zukunft existierenden Person zu kümmern, wenn man zu dieser Person in der Relation der numerischen Identität steht. Die dritte Annahme lautet, dass das Überleben eines bestimmten Ereignisses eine Frage davon ist, ob die Person, die vor dem betreffenden Ereignis vorgelegen hat, identisch mit einer nach dem Eingriff vorliegenden Person ist. Ein genauerer Blick hinter die Locke-Herausforderung zeigt uns also Folgendes: Mit dem metaphysischen Begriff der Identität von Personen scheinen wir praktische Interessen zu verbinden,31 und es ist genau diese direkte begriffliche Verbindung zwischen bestimmten praktischen Interessen und metaphysischer Identität, die Vertreter der Locke-Herausforderung fruchtbar zu machen versuchen, um biologische Theorien in Misskredit zu bringen. Praktische Interessen scheinen nun mal von psychologischen Eigenschaften der betreffenden Personen abzuhängen, und sollte diese Abhängigkeit tatsächlich eine Identitätsimplikation mit sich führen, wäre nicht einzusehen, wie man ein biologisches Kriterium vertreten sollte, ohne sich gleichzeitig auf einen theoretischen Standpunkt zu stellen, von dem aus man völlig absurde Zuschreibungen von Verantwortlichkeit und rationalem Eigeninteresse machen bzw. Situationen als Fälle von Überleben beschreiben müsste, von denen niemand denken würde, dass es sich tatsächlich um Fälle von Überleben handelt.

30 Vgl. Olson (1997), 44: „So I won’t simply dismiss the Transplant Intuition. Instead, I shall argue that it is based on principles that may very well be true, but which my own account, the Biological Approach, can accommodate.“ 31 Zu diesen praktischen Interessen gehört etwa auch die Frage nach angemessener Behandlung, die ich an dieser Stelle allerdings nicht weiter thematisiere: Wenn ich mich frage, ob ich einer Person 50 Franken wiedergeben soll, dann frage ich mich, ob die Person, die 50 Franken von mir zurückhaben möchte, identisch mit der Person ist, die mir vor zwei Tagen 50 Franken geliehen hat; vgl. dazu Olson (1997), 63ff. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Strategie von Olson und der weiter unten thematisierten Strategie von Schechtman besteht darin, dass Olson die Frage nach dem Überleben im Gegensatz zu Schechtman nicht zu den praktischen Kontexten zählen würde, die von der Identitätsimplikation befreit werden können; anders gesagt: wenn Olson davon redet, dass jemand ein Ereignis überlebt hat, dann hat er einen Fall im Sinn, in dem nach dem betreffenden Ereignis ein Wesen vorliegt, das identisch mit dem vor dem Ereignis vorliegenden Wesen ist. Schechtman würde dies anders sehen (vgl. Schechtman (1996), 151ff.). David Shoemaker unterscheidet insgesamt neun verschiedene praktische Kontexte, in denen Identitätsannahmen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Shoemaker (2007)).

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In dem skizzierten Szenario müsste ein Vertreter des biologischen Kriteriums, der an die praktische Relevanz der metaphysischen Identitätsrelation glaubt, von dem Wesen, das in der Relation der biologischen Kontinuität zu Roger vor dem Eingriff steht, sagen, dass dieses Wesen für Rogers Wimbledon-Sieg verantwortlich ist, obwohl sich dieses Wesen an eine Kindheit in einem kleinen katholischen Dorf und das Studium der Evolutionsbiologie erinnert, während der Gedanke an Tennis es völlig kalt lässt. Umgekehrt müsste von dem nach dem Eingriff vorliegenden Wesen, das in der Relation der biologischen Kontinuität zu Marie vor dem Eingriff steht, gesagt werden, dass es für dieses Wesen rational ist, sich um den Ausgang bestimmter Forschungsergebnisse zu kümmern, auch wenn das ganze Trachten dieses Wesens auf weitere Erfolge bei Tennisturnieren gerichtet ist. Schließlich wären Vertreter biologischer Theorien zu der Behauptung gezwungen, dass Marie vor dem Eingriff denken sollte, dass sie den Eingriff als ein Wesen überleben wird, welches keinerlei Interessen für die Pläne und Projekte hat, die Marie zu dem Zeitpunkt vor dem Eingriff verfolgt. Einen solchen Preis sollten Vertreter des biologischen Kriteriums nicht zahlen. Die offensichtliche Strategie, die sich ihnen an dieser Stelle anbietet, besteht darin, Fragen wie diejenigen nach Verantwortlichkeit, prudentieller Rationalität oder dem Überleben von der Frage nach Identität abzukoppeln.32 Die Plausibilität des biologischen Reduktionismus hängt an dieser Stelle daran, dass gezeigt werden kann, auf welche Weise diese Trennung der Identitätsrelation von praktischen Interessen vonstatten gehen kann. Ich möchte an dieser Stelle zwei Strategien andeuten, indem ich mich an dem Fall orientiere, in dem eine Person für etwas verantwortlich gehalten wird. Olson versucht in seiner Reaktion auf die Locke-Herausforderung zu zeigen, dass man die Frage nach Verantwortlichkeit von der Identitätsrelation trennen kann, indem er auf die Möglichkeit von Fällen hinweist, in denen wir urteilen würden, dass eine Person für eine Handlung verantwortlich ist, die von einer Person ausgeführt wurde, welche nicht mit ihr identisch ist. Die Fälle, die er hierbei im Blick hat, stammen erstaunlicherweise aus dem Kontext der Verteidigung einer bestimmten Interpretation des psychologischen Kriteriums: Olson bezieht sich hier auf Parfits Diskussion von Teilungsfällen, d.h. Fällen, in denen der mentale Haushalt einer Person ‘dupliziert’ und auf zwei Körper ‘übertragen’ wird.33 Die Betrachtung

32 Vgl. Olson (1997), 44: „[T]he Transplant Intuition is based on practical concerns that may be perfectly valid but that do not necessarily coincide with numerical identity.“ Eine analoge Strategie verfolgt Schechtman im Zusammenhang mit der Kritik an Parfits Theorie (vgl. Schechtman (2002), 60ff.). 33 Vgl. Parfit (1984), 253ff.



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solcher Fälle führt Parfit zu dem Schluss, dass keine der nach dem imaginierten Eingriff vorliegenden Personen identisch mit der vor dem Eingriff vorliegenden Person ist; gleichzeitig würden wir aber beide der nach dem Eingriff vorliegenden Personen für verantwortlich für die Handlungen der vor dem Eingriff vorliegenden Person halten. Solche Situationen zeigen Olson zufolge, dass Zuschreibungen von Verantwortlichkeit von der Identitätsimplikation befreit werden können. Wenn das stimmt, ließe sich in dem von mir skizzierten Szenario behaupten, dass das Wesen, das nach dem Eingriff den Körper von Marie hat, dafür verantwortlich ist, das Turnier in Wimbledon gewonnen zu haben, ohne gleichzeitig auf die für biologische Theorien fatale Schlussfolgerung festgelegt zu sein, dass es sich bei Marie vor dem Eingriff und dem Wesen, das nach dem Eingriff in der Relation der biologischen Kontinuität zu Marie vor dem Eingriff und steht, um zwei verschiedene Wesen handelt.34 Einen ähnlichen Vorschlag macht Schechtman im Rahmen ihrer Kritik an Parfits Theorie personaler Identität.35 Sie trennt hierbei zunächst die Frage nach der Identität von Personen von der ‘characterization question’, bei der es sich nach Schechtman um die Frage danach handelt, in welchem Ausmaß eine Person mit einem bestimmten Vorkommnis ihres Lebens identifiziert werden kann.36 Nach der Entwicklung eines Ansatzes zur Beantwortung der Frage, auf welcher Grundlage von dem Vorkommnis des Lebens einer Person gesagt werden kann, dass es ein Vorkommnis ist, das in einem besonderen Ausmaß zu dem Leben dieser Person gehört, schlägt Schechtman vor, Fragen wie diejenige nach moralischer Verantwortlichkeit in Zusammenhang mit dieser Charakterisierungsfrage anstatt mit der Identitätsfrage zu bringen. Eine Person ist demzufolge in dem Maße für Handlungen verantwortlich zu machen, in dem diese Handlungen einen Aspekt ihres Lebens darstellen, mit dem sie sich besonders identifizieren kann. In dem von mir bemühten Szenario würde man demzufolge das Lebewesen, das nach dem Eingriff in der Relation der biologischen Kontinuität zu Marie vor dem Eingriff steht, für den Sieg beim Turnier in Wimbledon verantwortlich machen, weil

34 Vgl. Olson (1997), 57‒62. 35 Vgl. Schechtman (1996), 80ff. und 148ff. 36 Vgl. Schechtman (1996), 73: „[C]haracterization theorists ask what it means to say that a particular characteristic is that of a given person.“ Der Begriff normativer Identität, den ich im Hauptteil der Arbeit entwickle, weist große Parallelen zu Schechtmans ‘characterization question’ auf, allerdings ziehe ich aus seiner Interpretation einen anderen Schluss als sie, indem ich nicht für den biologischen Reduktionismus argumentiere. Eine Position, die – ähnlich wie der Ansatz von Schechtman – für eine Trennung des Identitätsbegriffs von einem normativen Begriff der ‘Persönlichkeit’ plädiert, um für einen biologischen Ansatz zu argumentieren, findet sich in Quante (2007).

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es sich dabei um ein Vorkommnis handelt, mit welchem dieses Wesen besonders identifiziert werden kann.37 Weil aber die Frage nach dem Ausmaß, in dem jemand mit einer bestimmten Handlung identifiziert werden kann, Schechtman zufolge von der Frage nach Identität zu trennen ist, führt dies wiederum nicht zwangsläufig dazu, dass man biologische Kontinuität als Identitätskriterium verwerfen muss. Die Reaktionen auf die Locke-Herausforderung, die von Olson und Schechtman formuliert werden, sind im Detail weitaus subtiler; an dieser Stelle geht es mir aber lediglich darum, die Strategie anzudeuten, die sich verfolgen lässt, um den biologischen Reduktionismus zu verteidigen. Diese Strategie steht ganz im Einklang mit dem zu Beginn des Abschnitts erwähnten Manöver, den Begriff der Person als ein Phasen-Sortal zu verstehen. Vertreter des biologischen Kriteriums verzichten auf diese Weise sowohl auf die Verwendung des Personenbegriffs als auch auf die praktischen Interessen, die sich mit ihm verbinden, um an ihrer These festhalten zu können, dass wir grundlegend menschliche Lebewesen sind. Abgesehen davon, dass die skizzierte Verteidigungsstrategie sowohl im Fall von Olson als auch im Fall von Schechtman problematisch erscheint,38 lässt sich an dieser Stelle nachfragen, was wir überhaupt noch mit einem Identitätskriterium anfangen können, das auf diese Weise unabhängig von allen Aspekten ist, die den Grund dafür dargestellt haben, dass die Frage nach personaler Identität überhaupt erst als eine besonders relevante Frage betrachtet wurde. Die Intuition, dass die Frage nach Identität eine praktische Relevanz hat, scheint auch angesichts der skizzierten Verteidigungsstrategien der Vertreter biologischer Theorien eine ziemlich starke Intuition zu sein, die man ernst nehmen sollte. Umgekehrt wirkt die völlige Loslösung der biologischen Dimension personalen Lebens von praktischen Fragestellungen künstlich. Es ist gerade dieser letzte Aspekt, der mich in der Verteidigung meines eigenen Vorschlags beschäftigen wird. Zunächst möchte ich mich aber den Schlussfolgerungen widmen, die Vertreter psychologischer Theorien aus der Betrachtung von Locke-Szenarien ziehen.

37 Vgl. etwa Schechtman (1996), 158: „On the narrative self-constitution view, saying that the person who committed the crime is the one who is punished for it is saying that the crime and punishment occur in the same narrative.“ (Meine Herv.) 38 So kann man Olson zum Vorwurf machen, dass die Plausibilität der Gedankenexperimente, die er bemüht, die Richtigkeit eines psychologischen Kriteriums personaler Identität voraussetzt, während man bei Schechtman etwa darauf hinweisen könnte, dass sie mit ihrer Strategie weniger den Begriff der moralischen Verantwortlichkeit als den Begriff der Zuschreibbarkeit von Handlungen von der Identitätsimplikation befreit.

3 Psychologischer Reduktionismus Die Betrachtung der Locke-Szenarien macht Vertretern psychologischer Theorien zufolge nicht nur deutlich, dass die Identität des lebenden menschlichen Organismus weder notwendig noch hinreichend für personale Identität ist, gleichzeitig weisen die Fälle ihrer Ansicht nach darauf hin, was notwendig und hinreichend für personale Identität sein muss, nämlich die Erinnerungen einer Person bzw. andere psychologische Zustände wie Absichten, Hoffnungen oder Wünsche. Die einflussreichste Theorie, die auf der Grundlage dieser Einsichten eine Antwort auf die Frage nach der Identität von Personen formuliert, findet sich bei Derek Parfit.39 Sein Vorgehen besteht zunächst darin, die von den Locke-Szenarien nahegelegte Ansicht, dass die Identität einer Person etwas mit ihren mentalen Zuständen zu tun haben könnte, in ein plausibles Identitätskriterium zu überführen. Bei der folgenden Rekonstruktion beschränke ich mich zunächst auf den Fall von Erinnerungen. Eine Bestimmung des Identitätskriteriums wie: ‘Eine Person X ist identisch mit einer Person Y gdw. X sich an etwas erinnert’ ist hierbei offensichtlich unvollständig und falsch. Wie muss sie spezifiziert werden? Die naheliegende Präzisierung besteht darin, den für personale Identität relevanten Anwendungsfall von ‘Sich-Erinnern’ auf Erfahrungserinnerungen zu beschränken.40 In diesem Sinn geht es im relevanten Fall von Erinnern nicht darum, dass eine Person sich etwa daran erinnert, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist, sondern darum, sich daran zu erinnern, etwas getan oder erlebt zu haben.41 Diese Einschränkung ist insofern wichtig, als nur im zweiten Fall der Gehalt der Erinnerung eine Bezugnahme auf eine Person enthält, welche überhaupt erst möglich macht, dass Erinnerungen als relevant für die Identitätsfrage betrachtet werden. Entscheidend ist demnach, dass eine Person, die eine Erfahrungserinnerung hat, sich so an ein vergangenes Ereignis oder eine Tatsache erinnert, dass diese Erinnerung beinhaltet, dass diese Person selbst auf eine bestimmte Weise Zeuge des erinnerten Ereignisses war. Worauf es bei der Frage nach personaler Identität ankommt, sind demnach Erfahrungserinnerungen. Was heißt es aber genauer, dass eine Person sich an eine vergangene Erfahrung erinnert? Parfit führt an dieser Stelle drei Bedingungen für das Vorliegen von Erfahrungserinnerungen an. Die erste notwendige

39 Vgl. Parfit (1971) und Parfit (1984), pt. 3. 40 Vgl. Parfit (1984), 205. 41 Vgl. Noonan (1989), 11: „But there is also the memory of events witnessed or participated in, typically reported in the form: ‘I remember X’s F-ing’ (as opposed to the typical report of factual memory: ‘I remember that X F-ed’).”

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Bedingung dafür, dass eine Person sich an eine vergangene Erfahrung E erinnert, ist dass sie sich in einem spezifischen mentalen Zustand befindet, so dass sie glaubt, sich an E zu erinnern.42 Diese Bedingung scheint nahezu trivial.43 Wir würden nicht davon reden, dass eine Person sich überhaupt an etwas erinnert, wenn diese Person selbst nicht glauben würde, dass sie sich an etwas erinnert. Dass diese Bedingung allerdings nicht hinreichend ist, sieht man daran, dass wir üblicherweise zwischen scheinbaren Erfahrungserinnerungen und echten Erfahrungserinnerungen unterscheiden: Eine Person hat eine lediglich scheinbare Erfahrungserinnerung, wenn sie sich in einem spezifischen mentalen Zustand befindet, so dass sie glaubt, sich an eine Erfahrung zu erinnern, ohne dass sie selbst diese Erfahrung gehabt hat. So kann Roger sich etwa äußerst lebhaft daran ‘erinnern’, wie er vor der Freiheitsstatue gestanden hat, ohne jemals in New York gewesen zu sein, etwa wenn er fälschlicherweise denkt, dass er als Kind in New York gewesen ist, während der Gehalt seiner Erinnerung tatsächlich lediglich darauf zurückzuführen ist, dass er viele Postkartenbilder und Filmaufnahmen von der Freiheitsstatue gesehen hat. Bloß scheinbare Erfahrungserinnerungen können keine Relevanz für die Frage nach personaler Identität haben. Um sie auszuschließen, muss der Definition von Erfahrungserinnerung eine weitere Bedingung hinzugefügt werden. Eine Person P hat demzufolge dann eine ‘echte’ Erinnerung an eine Erfahrung E, wenn P sich in einem spezifischen mentalen Zustand befindet, so dass sie glaubt, sich an E zu erinnern und wenn P tatsächlich E gehabt hat.44 Aber auch diese beiden Bedingungen zusammen sind noch nicht hinreichend für das Vorliegen von Erfahrungserinnerung, wie Parfit an einem Beispiel zeigt.45 Es sind nämlich Fälle denkbar, in denen eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Erfahrung hat, diese Erfahrung zu einem späteren Zeitpunkt vergisst, noch später aus anderer Quelle (z.B. von einer anderen Person, die in der Situation der ursprünglichen Erfahrung auch anwesend war) erfährt und auf diese Weise zu dem Glauben verleitet wird, dass sie sich an die ursprüngliche Erfahrung

42 Vgl. zum Folgenden Parfit (1984), 207. 43 Dass sie es nicht ist, werde ich im Rahmen meiner Bestimmung erstpersonalen Vergangenheitsbezugs im dritten Teil der Arbeit zeigen. 44 Diese Bedingung ist das, was Shoemaker die „condition of previous awareness“ nennt; vgl. Shoemaker (1970), 269f. 45 Parfit (1984), 207: „Suppose that I am knocked unconscious in a climbing accident. After I recover, my fellow-climber tells me what he shouted just before I fell. In some later year, when my memories are less clear, I might seem to remember the experience of hearing my companion shout just before I fell. And it might be true that I did have just such experience. But though conditions (1) and (2) are met, we should not believe that I am remembering that past experience.“



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erinnert. Obwohl hier die beiden erwähnten Bedingungen vorliegen, würden wir einen solchen Fall nicht als einen Fall von ‘echter’ Erinnerung beschreiben. Dies liegt daran, dass wir Erfahrungserinnerungen üblicherweise als eine besondere Quelle von Wissen betrachten, das eine Person hinsichtlich der von ihr gemachten Erfahrungen hat, und dies scheint wiederum darin begründet zu sein, dass eine Erfahrungserinnerung in bestimmter Weise an die Erfahrung, deren Erinnerung sie ist, gekoppelt sein muss. Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, muss die bisherige Bestimmung von Erfahrungserinnerung um eine weitere Bedingung ergänzt werden. Eine Person hat dementsprechend genau dann eine ‘echte’ Erfahrungserinnerung, wenn die beiden genannten Bedingungen erfüllt sind und wenn zusätzlich gilt, dass die Erfahrungserinnerung, die ich zu haben glaube, auf angemessene Art und Weise kausal abhängig von derjenigen vergangenen Erfahrung ist, deren Erinnerung sie zu sein scheint. Die drei genannten Bedingungen sind notwendig und zusammen hinreichend für das Vorliegen von Erfahrungserinnerungen. Kann Erfahrungserinnerung unter der Voraussetzung dieser Definition ein Kriterium für personale Identität darstellen? Ein Problem besteht darin, dass Identität eine symmetrische Relation ist, während dies für Erfahrungserinnerung – verstanden als eine psychologische Relation – nicht gilt: Wenn X identisch mit Y ist, dann ist Y auch identisch mit X. Dagegen stimmt es nicht, dass wenn X sich an die Erfahrung von Y erinnert, Y sich an die Erfahrung von X erinnert. Dieses Problem lässt sich leicht lösen, indem man eine symmetrische Relation einführt, die auf der Relation der Erinnerung basiert. Bei Parfit heißt diese Relation ‘direct memory connection.’46 Dementsprechend ist die Person X mit der Person Y psychologisch verbunden, wenn X sich an die Erfahrung von Y erinnert.47 Eine Person kann sich zu einer gegebenen Zeit an viele verschiedene Erfahrungen einer Person zu einer davon unterschiedenen Zeit erinnern. In so einem Fall liegen viele verschiedene direkte psychologische Verbindungen vor. Parfit nennt eine solche Relation ‘psychological connectedness.’48 Psychologische Verbundenheit zwischen Personenstadien ist eine graduelle Relation: „Between X today and Y yesterday there might be several thousand direct psychological connections, or only a single

46 Vgl. Parfit (1984), 205. 47 Ich formuliere Erfahrungserinnerung an dieser Stelle als lediglich notwendig für psychologische Verbundenheit. Dies ist darin begründet, dass die Relation der psychologischen Verbundenheit und die auf dieser Relation aufbauenden Relationen im Rahmen von Parfits Theorie – wie oben erwähnt – nicht nur auf den Fall der Erinnerung beschränkt sind, sondern auch die von mir zurückgestellten Fälle anderer mentaler Zustände umfassen. 48 Vgl. Parfit (1984), 206.

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connection.“49 Wenn nur wenige dieser Verbindungen vorliegen – d.h. wenn die Relation der psychologischen Verbundenheit schwach ist – würden wir nicht mehr davon reden, dass dieselbe Person vorliegt: Es reicht nicht, dass Roger sich daran erinnert, gestern Fahrrad gefahren zu sein, wenn er ansonsten alles andere vergessen hat, was er gestern erlebt hat. Damit von einem Vorliegen von Identität die Rede sein kann, muss psychologische Verbundenheit in einem ausreichendem Maße vorliegen. Wenn dies der Fall ist, dann liegt das vor, was Parfit ‘strong connectedness’ nennt.50 An dieser Stelle kommt aber eine letzte Komplikation ins Spiel. Zu den logischen Eigenschaften von Identität gehört auch die Transitivität. Dass personale Identität eine transitive Relation sein muss, sieht man an dem folgenden Beispiel: Wenn ich weiß, dass Maria Skłodowska dieselbe Person ist wie Marie Curie, und wenn ich gleichzeitig weiß, dass Marie Curie dieselbe Person ist wie die Person, die Radium entdeckt hat, dann kann ich mühelos (und das heißt in diesem Fall ohne Rücksicht auf weitere empirische Details) darauf schließen, dass Maria Skłodowska dieselbe Person ist wie die Entdeckerin von Radium. Starke Verbundenheit ist allerdings keine in diesem Sinne transitive Relation, und das macht sie zu einem ungeeigneten Kandidaten für ein Kriterium personaler Identität. Nichts ist beispielsweise an der folgenden Situation ungewöhnlich: Im Alter von 65 Jahren ist eine Person stark verbunden mit der Person, die sie im Alter von 45 Jahren gewesen ist; im Alter von 45 war die Person stark verbunden mit der Person, die sie im Alter von 25 Jahren gewesen ist; es liegt allerdings keine starke Verbundenheit zwischen der Person im Alter von 65 Jahren und der Person im Alter von 25 Jahren vor.51 Solche mentalen Biographien gibt es, und dennoch würden wir nicht bestreiten, dass die Person im Rentenalter identisch mit der

49 Parfit (1984), 206. 50 Für das Vorliegen von starker Verbundenheit im Gegensatz zu einer Verbundenheit, die nicht stark ist, gibt es Parfit zufolge kein scharfes Unterscheidungskriterium. Im Hintergrund scheint hier die – wie ich meine plausible – Ansicht zu stehen, dass dies eine empirische Frage darstellt. Parfit schlägt vor, immer dann von starker Verbundenheit zu reden, wenn die Zahl der direkten Verbindungen in einem Zeitraum von einem Tag zumindest halb so groß ist, wie die durchschnittliche Anzahl der direkten Verbindungen, die in einem Zeitraum von einem Tag im gewöhnlichen Leben von Personen vorliegen; vgl. Parfit (1984), 206. 51 Dieselbe Struktur hat Reids berühmtes, als Gegenbeispiel zu Lockes Theorie gedachtes Szenario: „Suppose a brave officer to have been flogged when a boy at school for robbing an orchard, to have taken a standard from the enemy in his first campaign, and to have been made a general in his advanced life; suppose also, which must be admitted to be possible, that, when he took the standard, he was conscious of his having been flogged at school, and that, when made a general, he was conscious of his taking the standard, but had absolutely lost the consciousness of his flogging.“ (Reid (1785), 114.)



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Person zur Zeit des Studiums ist. Anders gesagt: Es scheint keine Beeinträchtigung von Identität darin zu liegen, dass wir vom Anfang bis zum Ende unseres Lebens nicht zu jedem Zeitpunkt stark verbunden mit den Stadien unseres Selbst zu jedem beliebigen anderen Zeitpunkt sind. Notwendig für Identität ist lediglich, dass sich die Zeitabschnitte, in denen starke Verbundenheit vorliegt, kontinuierlich überlappen. Ist das der Fall, so liegt, in der Terminologie von Parfit, psychologische Kontinuität vor. Psychologische Kontinuität ist im Gegensatz zu psychologischer Verbundenheit eine transitive Relation, und sie ist es auch, die im Kern Parfits psychologisches Kriterium für personale Identität ausmacht.52 Parfits Ansatz lässt sich insofern als eine reduktionistische Antwort auf die Identitätsfrage verstehen, als psychologische Kontinuität nicht lediglich eine Evidenz dafür darstellt, dass eine Person identisch ist, sondern vielmehr dasjenige ist, worin diese Identität besteht. Die Existenz einer Person besteht der Auffassung des psychologischen Reduktionismus zufolge lediglich in dem Vorliegen eines Körpers und eines Gehirns, die in der Relation der kausalen Verknüpfung zu einer Reihe mentaler Zustände stehen, welche ihrerseits letztlich nur über kausale Relationen miteinander verbunden sind.53 Die kausale Verknüpfung zwischen einer bestimmten auf diese Weise verbundenen Sequenz von mentalen Zuständen und einem bestimmten Gehirn bzw. einem bestimmten Körper und einem Gehirn ist lediglich kontingent. Deshalb kann den Vertretern des psychologischen Reduktionismus zufolge die Kontinuität eines lebenden biologischen Organismus oder eines bestimmten Gehirns keine notwendige Bedingung für das Vorliegen von personaler Identität darstellen. Der psychologische Reduktionismus – und Parfits Theorie der personalen Identität im Speziellen – hat eine ganze Reihe von Erwiderungen provoziert, die wiederum zu den entsprechenden Reaktionen von Seiten der psychologischen Reduktionisten geführt haben. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit geht es mir allerdings nicht darum, diese Debatte im Detail nachzuzeichnen. Im Folgenden

52 Vgl. Parfit (1984), 206. Das Kriterium wird durch zwei wichtige Klauseln ergänzt, die besagen, dass personale Identität nur dann vorliegt, wenn die psychologische Kontinuität auf angemessene Weise verursacht wurde und wenn sie keine sich verzweigende Form annimmt. Wie Parfit in der Folge zu zeigen versucht, sind diese beiden Zusatzbedingungen lediglich kontingenterweise in der Welt, wie wir sie kennen, erfüllt. Sobald sie aber nicht erfüllt sind – so Parfits weitergehende Argumentation auf engstem Raum – kann zwar von Identität keine Rede mehr sein, allerdings ohne dass dies schlimm wäre: Worauf es ankommt, ist gar nicht Identität, sondern das, was davon übrig bleibt – psychologische Kontinuität. Vgl. Parfit (1984), 281ff. 53 Dass der psychologische Reduktionismus auf diese im Rahmen der vorliegenden Arbeit zentrale Annahme festgelegt ist, lässt sich gut an seiner Reaktion auf das Zirkularitätsproblem sehen, die ich im Folgenden thematisiere.

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werde ich mich darauf beschränken, vier Kontexte anzudeuten, in denen psychologische Theorien mit Einwänden und Kritikpunkten konfrontiert werden können. Den größten Raum nimmt hierbei gleich der erste Kontext ein, der insofern von besonderer Relevanz für das Thema meiner Arbeit ist, als in seinem Zusammenhang im Ansatz deutlich wird, auf welche Weise psychologische Reduktionisten der Dimension des Standpunkts der ersten Person nicht gerecht zu werden vermögen, obwohl ihre Kritik am biologischen Reduktionismus genau von der Beobachtung ausgeht, dass die diachrone Existenz von Personen einen erstpersonalen Aspekt hat. Wie zu sehen war, führt diese Beobachtung dazu, dass im Rahmen der Formulierung eines reduktionistischen Identitätskriteriums bestimmten mentalen Zuständen die alles entscheidende Rolle zugewiesen wird. Gerade weil es sich bei diesen mentalen Zuständen um die ‘Objekte der Reduktion’ von Identität handelt, ist man bei der Formulierung eines psychologischen Kriteriums gezwungen, sie auf eine Weise aufzufassen, die das reduktionistische Projekt insgesamt nicht dadurch gefährdet, dass dasjenige, was reduziert werden soll, darin, worauf reduziert wird, bereits vorausgesetzt wird. Hier kommt das Problem der Zirkularität ins Spiel.54 Dass die Gefahr der Zirkularität im Zusammenhang mit einem psychologischen Kriterium, wie ich es anhand von Parfits Theorie rekonstruiert habe, tatsächlich gegeben ist, sieht man gut, wenn man an die Definition eines für das Identitätskriterium relevanten mentalen Zustandes denkt, wie ich sie weiter oben für den Fall von Erfahrungserinnerungen skizziert habe. Wie dort zu sehen war, ist es möglich, zwischen echten und bloß scheinbaren Erfahrungserinnerungen zu unterscheiden, und nur erstere können eine Relevanz für die Frage nach personaler Identität haben: Die Tatsache, dass Roger glaubt, sich daran zu erinnern, wie er das Wimbledon-Finale 1976 gewonnen hat, macht ihn nicht zu Björn Borg, dem tatsächlichen Wimbledon-Gewinner von 1976. Wenn Erfahrungserinnerungen eine hinreichende Bedingung für personale Identität darstellen sollen, muss also sichergestellt sein, dass es sich um echte Erfahrungserinnerungen handelt. Wie ich oben ausgeführt habe, wird zu diesem Zweck die Bedingung eingeführt, nach der eine Person sich nur dann an eine Erfahrung erinnert, wenn diese Erfahrung von ihr tatsächlich gehabt wurde. Das heißt aber nichts anderes, als dass man – um entscheiden zu können, ob ein Fall von echter Erfahrungserinnerung

54 Einwände dieser Art werden meistens mit historischem Bezug auf Butlers berühmte Kritik an Lockes Theorie der personalen Identität formuliert: „And one should really think it self-evident, that consciousness of personal identity presupposes, and therefore cannot constitute, personal identity, any more than knowledge, in any other case, can constitute truth, which it presupposes.“ (Butler (1736), 100)



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vorliegt – bereits wissen muss, ob die Person, die sich an eine bestimmte Erfahrung erinnert, und die Person, von der diese Erfahrung gehabt wurde, identisch sind. Das kann man allerdings erst, wenn man weiß, worin personale Identität besteht, d.h. wenn man bereits über den Begriff der personalen Identität verfügt und ihn anwenden kann. Das aber ist genau die Aufgabe, die am Anfang der Argumentation von psychologischen Reduktionisten steht und das Zirkularitätsproblem erst nach sich zieht. In diesem Sinne scheint zu gelten, dass personale Identität von Erfahrungserinnerung nicht nur impliziert wird, sondern eine Präsupposition von Erfahrungserinnerung darstellt.55 Dies wiederum stellt das gesamte Projekt einer Reduktion der Identitätsrelation auf einen Begriff von psychologischer Kontinuität, der auch Erfahrungserinnerungen umfasst, unter massiven Zirkularitätsverdacht. Dieser Verdacht kann nicht einfach dadurch ausgeräumt werden, dass der psychologische Reduktionist auf Erfahrungserinnerungen als Bestandteil seines Kriteriums verzichtet. Die Aussichten darauf, die relevante psychologische Relation nicht auf Erinnerungen, sondern beispielsweise auf Absichten basieren zu lassen, stehen ähnlich schlecht. Auch hier scheint eine Identitätsimplikation begrifflich verankert zu sein: Meine Absicht etwas zu tun, ist nur dann eine Absicht, wenn gilt, dass die Person, die in Zukunft etwas tun wird und die Person, die ich jetzt, da ich die Absicht etwas zu tun fasse, identisch sind. Das Manöver, das an dieser Stelle eingeschlagen wird, stellt in meinen Augen den wichtigsten Argumentationsschritt dar, der im Rahmen des psychologischen Reduktionismus gemacht wird. Dieser Schritt besteht darin, die problematische, weil zum Zirkularitätseinwand führende Bedingung, nach der eine Person sich nur dann an eine Erfahrung erinnert, wenn sie diese Erfahrung auch selbst gehabt hat, aufzugeben und durch die schwächere, von der Identitätsimplikation befreite Bedingung zu ersetzen, nach der eine Person sich nur dann an eine Erfahrung erinnert, wenn diese Erfahrung von irgendeiner Person gehabt wurde.56 Die Bedingung, welche die Identitätsimplikation mit sich führt, wurde eingeführt, um Fälle von echter und falscher Erinnerung unterscheiden zu können. Kann die abgeschwächte Bedingung diese Aufgabe ebensogut erfüllen wie die zum Zirkularitätseinwand führende Bedingung?

55 Zum Begriff der Präsupposition vgl. Strawson (1952), 175; zum Zirkularitätsvorwurf vgl. Parfit (1984), 219ff. und Noonan (1989), 171ff. 56 Vgl. zur Einführung des Begriffs der Quasi-Erinnerung Shoemaker (1970) und Parfit (1984), 220ff. Wie angedeutet, soll das Manöver nicht nur für den Fall der Erfahrungserinnerung gelten, sondern auch für die anderen identitätsrelevanten mentalen Zustände, so dass etwa von QuasiAbsichten oder Quasi-Wünschen die Rede sein kann.

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Der Witz besteht an dieser Stelle darin, dass der psychologische Reduktionist alles, was die Identitätsimplikation leisten sollte, von der Kausalbedingung tragen lässt, nach der ich nur dann eine Erinnerung an eine Erfahrung habe, wenn diese Erinnerung auf angemessene Weise von der Erfahrung kausal verursacht wurde.57 Will man etwa bestreiten, dass Roger sich in der oben erwähnten Situation tatsächlich daran erinnert, die Freiheitsstatue gesehen zu haben, sollte man dies dem Reduktionisten zufolge nicht mit dem Hinweis auf die nicht vorliegende Identität tun, sondern stattdessen darauf hinweisen, dass die scheinbare Erinnerung die Roger hat, auf unangemessene Weise verursacht wurde – etwa durch Fernsehaufnahmen von New York, die Roger einmal gesehen hat. Besonders wichtig ist dieses Manöver, weil genau an dieser Stelle die eigentliche Reduktion der Identitätsrelation stattfindet: Der Begriff einer Quasi-Erinnerung, der auf die skizzierte Weise ins Spiel gebracht wird – d.h. einer Erinnerung, an eine Erfahrung, die nicht notwendig von mir gehabt wurde – soll im Rahmen des konstitutiven Identitätskriterium verwendet werden; diese Aufgabe kann er allerdings nur unter der Voraussetzung erfüllen, dass sich die Relation der diachronen Identität auf die Kausalrelation zwischen der Quasi-Erinnerung und der Erfahrung, an die sich quasi-erinnert wird, reduziert werden kann. Nicht nur, dass auf diese Weise das Vorliegen der Identitätsrelation auf das Vorliegen einer Kausalrelation zurückgeführt wird – die Einführung des Begriffs der Quasi-Erinnerung hat zudem zur Folge, dass das relevante Verhältnis, in dem wir zu den eigenen mentalen Zuständen stehen, als ein kausales Verhältnis betrachtet wird.58 Dass es sich bei dem Begriff der Quasi-Erinnerung um einen verständlichen Begriff handelt, versucht Parfit in der Folge zu zeigen, indem er auf kontrafaktische Szenarien hinweist, in denen wir davon reden würden, dass eine Person sich an eine Erfahrung erinnert, die nicht von ihr gehabt wurde. Ein solches Szenario liegt etwa im Fall der ‘Erinnerungstransfusion’ vor.59 Parfit diskutiert hier den

57 Vgl. Parfit (1984), 220: „The causes of long-term memories are memory-traces.“ Eine Kausalkette, die auf solch angemessene Weise eine Erinnerung mit der Erfahrung verbindet, von der sie eine Erinnerung ist, nennt Shoemaker eine „M-type causal chain“ (Shoemaker (1970), 278) und bemerkt, es sei „easier to decide in particular cases whether the causal connection is ‘of the right kind’ than to give a general account of what it is for the causal connection to be of the right kind, i.e., what it is for there to be an M-type causal chain.“ (Fn.18); für eine elaborierte Fassung der kausalen Analyse von Erinnerung vgl. Martin/Deutscher (1966). 58 In diesem Zusammenhang ist der weitere Kontext von Parfits Projekt einschlägig, eine ‘unpersönliche Beschreibung’ des Mentalen zu geben; vgl. Parfit (1984), 223ff. 59 Vgl. den Fall der ‘Venetian Memories’ (Parfit (1984), 220f.). Andere in diesem Kontext einschlägige Szenarien sind die sog. Teilungsfälle, auf die ich zum Schluss dieses Kapitels zu sprechen komme; vgl. Parfit (1984), 245ff.



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Fall, in dem Pauls Erinnerung daran, in Venedig gesehen zu haben, wie ein Blitz in eine Kirche einschlägt, in den mentalen Haushalt von Jane ‘verpflanzt’ wird. Diese Situation beschreibt er als eine Situation, in der eine Quasi-Erinnerung, die keine Erinnerung ist,60 vorliegt, weil Jane sich an eine Erfahrung quasi-erinnert, die nicht von ihr, sondern von Paul gehabt wurde. Der mentale Zustand, in dem Jane sich auf diese Weise befindet, wird Parfit zufolge alle relevanten Charakteristika aufweisen, die auch der mentale Zustand aufweist, in dem Paul sich befindet, wenn er sich an den Blitzeinschlag erinnert; so kann es sein, dass Jane eine besonders ‘lebhafte’ Vorstellung davon haben wird, wie der Blitz in die Kuppel einschlägt, und es ist zu erwarten, dass das ‘mentale Bild’, das sich ihr ‘präsentiert’ eine perspektivische Ausrichtung haben wird, die der perspektivischen Ausrichtung des ‘mentalen Bildes’ entspricht, das sich Paul zum Zeitpunkt der entsprechenden Erfahrung ‘präsentiert’ hat.61 Aus diesen Gründen glaubt Parfit, dass Jane den betreffenden mentalen Zustand nicht einfach als eine Täuschung klassifizieren sollte. Was er damit meint, ist dass die Quasi-Erinnerung von Jane immer noch eine epistemisch relevante Form des Bezugs auf die Vergangenheit darstellen wird; und das muss er auch meinen, weil sich sonst gar nicht verstehen ließe, wie personale Identität auf mentale Zustände reduzierbar sein sollte, bei denen es sich um Zustände handelt, für die gilt, dass die Personen, die sich in ihnen befinden, einem systematischen Irrtum unterliegen. Dass die Situation keinesfalls so einfach ist, wie Parfit behauptet, sieht man, sobald man sich das von ihm bemühte Szenario nur detailliert genug vorzustellen versucht. Ein Punkt, den ich im dritten Teil der Arbeit aufgreifen werde, besteht in dem Hinweis darauf, dass es einfach nicht einzusehen ist, wie Jane den mentalen Zustand, in dem sie sich befindet, nicht für eine Täuschung oder eine Einbildung halten soll, wenn ihr nicht klar ist, dass ihr eine von Pauls Erinnerungen eingepflanzt worden ist. Selbst wenn Jane mitgeteilt wird, dass ihr eine von Pauls Erinnerungen eingepflanzt worden ist, wird sie die Quasi-Erinnerung solange für eine Täuschung halten, bis man ihr mitteilt, welche von Pauls Erinnerungen ihr eingepflanzt worden ist. In so einer Situation würde es sich aber nicht mehr um eine nicht-inferentielle Form des Bezugs auf die Vergangenheit handeln. Es ist aber gerade charakteristisch für Erinnerungen, dass sie eine nicht-inferen­

60 ‘Normale’ Erinnerungen, d.h. Erinnerungen, welche die Identitätsimplikation mit sich führen, sind eine Teilklasse von Quasi-Erinnerungen; vgl. Parfit (1984), 220: „On this definition, ordinary memories are a sub-class of quasi-memories. They are quasi-memories of our own past experiences.“ 61 Vgl. Parfit (1984): „Thus, when she seems to remember walking across the Piazza, she might seem to remember seeing a child running towards her.“

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tielle Form des Vergangenheitswissens darstellen. Müsste Jane eigens erläutert werden, welcher der mentalen Zustände, in denen sie sich befindet, die von Paul verpflanzte Erinnerung darstellt, würden Quasi-Erinnerungen keine Erinnerungen sein, sondern epistemisch etwa auf einer Stufe mit Urlaubsfotos stehen, die man anderen Personen zeigen kann. Ein anderer Punkt, der mich im weiteren Verlauf dieser Arbeit beschäftigen wird, betrifft die Tatsache, dass eine Erinnerung in der Regel nicht nur eine isolierte Erinnerung an eine isolierte Erfahrung ist; so ist vorstellbar, dass Paul in der Situation, an die er sich erinnert, eine Reihe von Emotionen gehabt hat – z.B. weil er ein Liebhaber von Kirchen in Venedig ist – an die er sich erinnern kann, und die im Zustand des Erinnerns eine Reihe von weiteren Einstellungen erforderlich machen – etwa den Schrecken, mit dem er sich an den Blitzeinschlag erinnert; dieser Kontext-Charakter von Erinnerungen ist allerdings in der Situation, in der Jane sich an das betreffende Ereignis quasierinnert, nicht verständlich zu machen. An dieser Stelle geht es mir nicht darum, eine erschöpfende Kritik an der Strategie der Einführung des Begriffs der QuasiErinnerung vorzulegen,62 sondern im Hinblick auf die Themen, die mich vor allem im dritten Teil dieser Arbeit beschäftigen werden, anzudeuten, inwiefern die Tatsache, dass psychologische Reduktionisten als Reaktion auf den Zirkularitätseinwand ein Bild des Mentalen zeichnen, welches das Subjekt der mentalen Zustände nicht berücksichtigt, neben epistemischen Problemen auch zu Schwierigkeiten führen kann, die sich bereits auf der Ebene des intuitiven Verstehens der von ihnen bemühten Szenarien bewegen. Letzteres hat unmittelbar mit dem zweiten Kontext zu tun, in dem Theorien des psychologischen Reduktionismus als problematisch betrachtet werden können. Hier kann auf der Ebene einer grundsätzlichen methodischen Kritik der Einsatz von Gedankenexperimenten wie dem Szenario der Erinnerungstransfusion in Frage gestellt werden. Wenn wir uns über den Begriff der Identität von Personen verständigen wollen, so die Kritik, dürfen wir uns nicht von hypothetischen Szenarien leiten lassen, die nichts mehr mit unserem tatsächlichen Leben zu tun haben.63 Das ist tatsächlich insofern ein berechtigter Punkt, als wir die Frage nach der Identität von Personen, wie ich sie im ersten Kapitel formuliert habe, offenbar nicht lediglich aus metaphysischem Spleen für interessant halten, sondern weil der Begriff der Person eine wichtige Rolle in unserem Alltag spielt, und dieser hat nun mal nichts mit Gehirntransplantationen oder dem Transfer von Erinnerungen zu tun. Allerdings kann ein Vertreter des psychologischen Reduktionismus

62 Zu einflussreichen Kritiken am Konzept der Quasi-Erinnerung vgl. Evans (1982), 245f., McDowell (1997), 238ff , Wiggins (2001), 212ff oder Wollheim (1984), 111ff. 63 Vgl. insb. Wilkes (1988).



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sich hier auf den folgenden Standpunkt stellen: Gerade die erwähnte praktische Relevanz, die sich mit dem Begriff personaler Identität verbindet, spricht dafür, diesen Begriff zu analysieren, und philosophische Begriffsanalyse funktioniert eben so, dass man notwendige und hinreichende Bedingungen für das Vorliegen dessen, was unter den zu analysierenden Begriff fällt, herauszufinden versucht. Der klassische Weg, um dieses Ziel zu erreichen, besteht darin, dass man kontrafaktische Annahmen macht, mit denen dann unsere begrifflichen Intuitionen getestet werden. ‘Kontrafaktisch’ heißt in diesem Zusammenhang, dass die bemühten Szenarien nicht tatsächlich eintreten müssen – sie müssen lediglich vorstellbar sein.64 Und Szenarien wie sie in der Locke-Herausforderung bemüht werden, sind durchaus vorstellbar, denn es spricht – nach allem, was wir heutzutage über den Zusammenhang von Mentalem und Gehirnzuständen wissen – nichts prinzipiell dagegen, dass sie tatsächlich eintreten könnten. Anders gesagt: Wenn wir Begriffe analysieren, sind kontingente Faktoren der technischen Durchführbarkeit von Eingriffen ins menschliche Gehirn ebenso wenig von Interesse wie die tatsächliche Existenz eines genius malignus für Descartes’ Analyse des Wissensbegriffs. Darauf könnte man wiederum entgegen, dass Begriffsanalyse nicht immer nur in der Reduktion auf notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen bestehen muss. Eine Begriffsbestimmung kann unter Umständen auch dann informativ sein, wenn sie nicht den Anspruch auf Reduktion mit sich führt, sondern stattdessen auf Abhängigkeiten zwischen Begriffen hinweist, die sich gegenseitig beleuchten.65 Der dritte Kritik-Kontext, auf den ich hinweisen möchte, betrifft sog. Teilungsfälle: Hier spielen wiederum fiktive Szenarien eine Rolle, in denen der mentale Haushalt einer Person dupliziert und auf zwei Körper übertragen wird. Gemäß dem vom psychologischen Reduktionismus vorgeschlagenen Kriterium66 müsste

64 Vgl. Parfit (1984), 200 und 219. 65 Vgl. Wiggins (2001): „No reduction of the identity relation has ever succeeded. [...] Nor yet is it called for, once we realize how much can be achieved in philosophy by means of elucidations that put a concept to use without attempting to reduce it but, in using the concept, exhibit its connexions with other concepts that are established, genuinely coeval or collateral, and independently intelligible.“; zum Begriff der nicht-reduktionistischen ‘elucidation’ siehe auch Wiggins (2001), 59f.; zum Aspekt des ‘wechselseitigen Beleuchtens’ von Begriffen vgl. Gunnarsson (2008), 546f; zur Frage der ‘harmlosen’ Zirkularität vgl. Humberstone (1997). 66 Diese Bemerkung ist insofern wichtig, als Teilungsfälle und die Problematik, die sich mit ihnen verbindet, erst unter der Voraussetzung sinnvoll zu diskutieren sind, dass eine plausible Formulierung des psychologischen Kriteriums vorliegt; wie zu sehen war, ist diese allerdings vom Zirkularitätseinwand bedroht. In gewissem Sinn könnte man deswegen sagen, dass die Probleme, die sich mit Teilungsfällen verbinden, insofern keine echten Probleme sind, als der psychologische Reduktionismus bereits an einer früheren Stelle scheitert.

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man sagen, dass sowohl die eine als auch die andere der nach dem Eingriff vorliegenden Personen identisch mit der vor dem Eingriff vorliegenden Person ist, weil zwischen der ursprünglich vorliegenden Person und den beiden nach dem Eingriff vorliegenden Personen jeweils in gleichem Ausmaß psychologische Kontinuität vorliegt; dies ist allerdings aus Gründen, welche die Logik der Identitätsrelation betreffen, nicht möglich. Da Identität eine transitive Relation ist, würde aus der Annahme, dass die ursprünglich vorliegende Person mit beiden der nach dem Eingriff vorliegenden Personen identisch ist, folgen, dass die beiden nach dem Eingriff vorliegenden Personen miteinander identisch sind. Aber es sind offensichtlich zwei Personen – sie könnten miteinander Tennis spielen oder für unterschiedliche Parteien gegeneinander um ein Amt kandidieren. An dieser Stelle scheint das psychologische Kriterium zu einem absurden Resultat zu führen. Für sich genommen müsste die begriffliche Möglichkeit von Teilungsfällen dazu führen, das psychologische Kriterium abzulehnen. Die Vertreter eines psychologischen Kriteriums haben allerdings einige Mühen darauf verwendet, diese Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen, und die Diskussion der Teilungsfälle hat sich auf diese Weise zu einer eigenständigen Teildebatte innerhalb des Lagers der Vertreter psychologischer Theorien entwickelt. Im Wesentlichen bieten sich hier zwei Reaktionsmöglichkeiten an. Der erste Vorschlag stammt von David Lewis.67 Lewis zufolge haben wir im Hinblick auf Personen eine falsche Vorstellung davon, was es heißt, diachron zu existieren. Gewöhnlich denken wir, dass eine Person zu jedem Zeitpunkt ihrer Existenz vollständig vorliegt. Diese Denkweise ist Lewis zufolge falsch. Personen haben nicht nur räumliche Teile wie Hände und Füße, sondern auch zeitliche Teile. In dieser Hinsicht sind sie ontologisch auf einer Stufe mit Ereignissen. Die Konsequenz daraus ist, dass wir keine philosophische Rechtfertigung dafür haben, dass wir es jemals mit ‘ganzen’ Personen zu tun haben, wenn wir mit Personen zu tun haben; alles, was sich sagen lässt, ist dass wir es mit ‘Personen-Phasen’ zu tun haben. Sobald man diese vierdimensionale Auffassung von Personen akzeptiert, stellen Teilungsfälle kein Problem mehr dar, weil im Fall von unterschiedlichen PhasenSequenzen im Gegensatz zur diachronen Existenz von materiellen Gegenständen in Raum und Zeit nichts gegen die Annahme gemeinsamer Phasen spricht.68 In dem imaginierten Szenario des Teilungsfalls kann man von den beiden nach dem Eingriff vorliegenden Personen-Phasen behaupten, dass es sich bei ihnen zwar

67 Vgl. Lewis (1976); eine analoge Strategie verfolgt Perry in Perry (1975) und vor allem Perry (1976). 68 Man stelle sich etwa die Geschichte von Frankreich und Deutschland vor, die sich als unterschiedliche Geschichten verstehen lassen, obwohl sie sich irgendwann mal überlappt haben.



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um unterschiedliche Personen-Phasen handelt, dass aber die durch psychologische Kontinuität verbundene Abfolge von Stadien, der sie jeweils angehören, sich in der Zeit vor dem Eingriff überlappt hat.69 Die Frage, die sich hier unmittelbar stellt, lautet, warum wir tatsächlich eine Ereignis-Ontologie im Hinblick auf Personen akzeptieren sollten. Man kann hier entweder argumentieren, dass diese Annahme die bestmögliche Weise darstellt, mit den Teilungsfällen umzugehen; in diesem Fall lässt sich aber wiederum fragen, ob die Tatsache, dass ein Problem sich nur mit derart drastischen ontologischen Revisionen lösen lässt, nicht eher dafür spricht, dass mit den Annahmen, die zu diesem Problem geführt haben – nämlich mit dem psychologischen Kriterium – etwas nicht in Ordnung sein kann. Oder man vertritt – wie Lewis es tatsächlich tut – ganz generell eine vierdimensionale Ontologie, in der für materielle Objekte in Raum und Zeit sowie das zugehörige Verständnis von Identität kein Raum mehr ist. In diesem Fall diskutiert man allerdings wiederum nicht mehr über das spezifische Problem der Identität von Personen, sondern verlagert das Problem ins weite Feld der Metaphysik zeitlicher Teile.70 Die zweite Strategie, wie man auf Teilungsfälle reagieren kann, stammt von Parfit selbst.71 Sie führt mich zu dem vierten Problemkontext, mit dem der psychologische Reduktionismus konfrontiert ist. Dieser Kontext betrifft die massiven revisionären Schlussfolgerungen im Hinblick auf Fragen der Rationalität und Moral, die man aus einer reduktionistischen Theorie ziehen kann. Die Einsicht in den transitiven Charakter der Identitätsrelation führt Parfit dazu, zuzugestehen, dass sich in den Teilungsfällen nicht mehr von Identität reden lässt. Gleichzeitig macht er aber darauf aufmerksam, dass wir das, was in diesen Szenarien pas-

69 In gewisser Hinsicht könnte man also sagen, dass vor dem Eingriff schon immer zwei Personen vorgelegen haben; damit würde man allerdings die Stoßrichtung von Lewis missverstehen, dem es darum geht, genau die gewöhnliche Auffassung von Identität, die hinter einer solchen Interpretation der Situation stehen würde, durch seine vierdimensionalistische Auffassung von Identität zu ersetzen. 70 Vgl. Lewis (1986); für eine prägnante Formulierung der vierdimensionalistischen Grundidee vgl. Quine (1976), 859: „Consider my broad conception of a physical object: the material content of any portion of space-time, however scattered and discontinuous. Equivalently: any sum or aggregate of point-events. The world’s water is for me a physical object, comprising all the molecules of H2O anywhere ever. There is a physical object part of which is a momentary stage of a silver dollar now in my pocket and the rest of which is a temporal segment of the Eiffel Tower through its third decade.“; zur Debatte um den Vierdimensionalismus vgl. die Beiträge in Haslanger/Kurtz (2006). 71 Vgl. Parfit (1984), 255ff.; eine Strategie, die ich an dieser Stelle nicht eigens erwähne, stellt Nozicks ‘closest continuer theory’ dar; vgl. Nozick (1981), 655ff.; im Hinblick auf Teilungsfälle vgl. auch die wichtigen Diskussionen in Nida-Rümelin (2006) und Gunnarsson (2008).

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siert, keinesfalls als das Sterben der ursprünglich vorliegenden Person beschreiben würden.72 Das zeigt Parfits Ansicht nach, dass es bei wichtigen Fragen wie der Frage nach dem Überleben eines Ereignisses nicht darauf ankommt, dass nach dem Ereignis eine Person vorliegt, die mit einem selbst identisch ist. Hier findet sich die eigentliche Pointe des Vorgehens von Parfit: Identität wird zu einer irrelevanten Relation erklärt. Alles, worauf es uns ankommt, wenn wir nach Identität fragen, wird Parfits Argumentation nach von der Relation der psychologischen Kontinuität abgedeckt, die in dem Sinn schwächer als die Identitätsrelation ist, als sie graduelle Abstufungen erlaubt und Teilungsfälle zulässt. Im Alltag reden wir zwar so, als ob es uns auf Identität ankäme, so Parfit, aber die Lehre, die man aus den Teilungsfällen zu ziehen hat, ist dass wir keine rationale Grundlage dafür haben, auf diese Weise von der praktischen Relevanz der Identitätsrelation auszugehen:73 Es sei irrational, zu glauben, dass man besondere Gründe hat, sich um das Wohlergehen einer in der Zukunft vorliegenden Person zu kümmern, nur weil man glaubt, diese Person sei identisch mit einem selbst; es sei irrational, sich für die Handlungen einer in der Vergangenheit vorliegenden Person verantwortlich zu fühlen, nur weil man glaubt, sie sei identisch mit einem selbst; es sei irrational, sich vor dem eigenen Tod zu fürchten, nur weil man glaubt, dass es in der Zukunft keine Person geben wird, die identisch mit einem selbst sein wird. Worauf es Parfits Ansicht nach ankommt, ist psychologische Kontinuität, und in dieser Relation kann ich in unterschiedlichem Ausmaß zu ‘unterschiedlichen Personen’ in der Vergangenheit und Zukunft stehen. Der physische Tod einer Person ist demzufolge beispielsweise weniger schlimm als wir üblicherweise denken, weil es nach dem Tod dieser Person immer noch ‘andere Personen’ geben wird, die psychologisch kontinuierlich mit der ‘gestorbenen’ Person sind.74 Parfits Ansicht nach überlebt man also immer mehr oder weniger, je nachdem, wie viele psychologische Spuren man in der Welt hinterlässt. Wie eingangs angedeutet, gehört der Begriff der personalen Identität zu den wichtigsten Begriffen, die den Alltag, den wir als Personen unter anderen Personen zubringen, strukturieren. Darauf zu verzichten, kommt nicht nur einer Korrektur des begrifflichen Systems gleich, mit dem wir uns einen Zugang zur Welt schaffen, es stellt dieses System in gewisser Hinsicht auf eine völlig neue Grundlage. Für sich genommen ist das natürlich kein Einwand gegen Parfits Vorgehen. Allerdings stellt sich angesichts des revisionären Charakters von Parfits Schlussfolgerungen wiederum die Frage, was wir eigentlich von einer Begriffs-

72 Vgl. Parfit (1984), S. 256: „How could a double success be a failure?“ 73 Vgl. Parfit (1984), ch. 14 und 15. 74 Vgl. die Bemerkungen zur ‘liberation from the self’ in Parfit (1984), 281f.



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analyse erwarten: Sollten wir grundsätzlich von der Angemessenheit des Begriffssystems ausgehen, das uns zur Verfügung steht, und Begriffsanalyse lediglich als ein Korrekturwerkzeug betrachten, mit dem sich die diesem Begriffssystem innewohnenden Inkohärenzen beseitigen lassen? Oder lassen wir zu, dass eine philosophische Analyse uns dazu zwingt, fundamentale Begriffe wie den der Identität von Personen auf eine Weise zu verstehen, die nichts mehr damit zu tun hat, wie wir uns selbst und Andere betrachten? Parfit selbst gesteht bereitwillig zu, dass er revisionäre Metaphysik betreibt; die Argumente, die gegen das Projekt einer deskriptiven Metaphysik wie es etwa von Strawson verfolgt wird,75 sprechen, liefert er nicht nach.76

75 Vgl. Strawson (1959). 76 Vgl. Parfit (1984), x: „I have great respect for descriptive philosophy. But, by temperament, I am a revisionist. [...] I try to challenge what we assume. Philosophers should not only interpret our beliefs; when they are false, they should change them.“ Letzteres ist sicher richtig. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das Ausmaß, in dem unsere Alltagsüberzeugungen geändert werden, von dem Temperament des jeweiligen Philosophen abhängen sollte.

4 Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus Die Betrachtung der Positionen des biologischen und des psychologischen Reduktionismus in den vorangegangenen zwei Kapiteln legt nahe, dass beide Theorietypen zwar Vorteile für sich beanspruchen können, in entscheidender Hinsicht aber mit Problemen belastet sind, die man nicht leicht akzeptieren kann: Während das Identitätskriterium, das von Seiten des biologischen Reduktionismus vorgeschlagen wird, durch die Tatsache seiner nomologischen Verankerung besonders resistent im Hinblick auf etwaige die Identitätsrelation betreffende Schwierigkeiten ist,77 wie sie im Rahmen des psychologischen Reduktionismus auftauchen, befremdet seine Tendenz, sowohl alle psychologischen Aspekte personalen Lebens, als auch die praktischen Interessen, die wir mit dem Personenbegriff verbinden, zugunsten einer metaphysisch unproblematischen Theorie aufzugeben; zudem ist nicht einzusehen, inwiefern der Personenbegriff auf die von biologischen Reduktionisten vorgeschlagene Weise von allen biologischen Aspekten des Lebens von Personen isoliert werden kann. Umgekehrt schaffen es Theorien des psychologischen Reduktionismus zwar auf eine bessere Weise, dasjenige zum Thema zu machen, was uns offenbar an der Frage nach personaler Identität besonders interessiert, indem sie mentalen Aspekten die zentrale Rolle in der Formulierung ihres Identitätskriteriums zuweisen, gleichzeitig führt aber die Weise, in der sie dabei vorgehen, sowohl zu einem verzerrten Bild des Mentalen als auch zu Problemen, welche die Identitätsrelation betreffen. Es ist genau dieser Befund, der meine Motivation darstellt, im Rahmen dieser Arbeit den Versuch zu unternehmen, eine nicht-reduktionistische Antwort auf die Frage nach der Identität von Personen zu geben. Wie kann eine solche nicht-reduktionistische Position beschaffen sein? Das Problem, dass sich mit einer Antwort auf diese Frage verbindet, besteht darin, dass nicht-reduktionistische Positionen – wie die Bezeichnung es schon nahe legt – sich im Kern dadurch definieren, dass sie einen reduktionistischen Ansatz ablehnen. Das führt dazu, dass man angesichts der Positionen, die sich als nicht-reduktionistisch verstehen, oft den Eindruck gewinnen kann, dass sie letztlich keine eigene Antwort auf die Frage nach personaler Identität formu-

77 So können etwa im Rahmen einer Theorie, welche die Identitätsbedingungen für Dinge formuliert, die zu einer natürlichen Art gehören, keine Teilungsfälle auftreten; vgl. Wiggins (1980), 170: „If person is akin to a natural kind concept sufficing for the articulation and individuation of genuine continuant substances, then the spontaneous occurrence of delta formations in the stream of consciousness under the conditions presupposed to the individuation of persons will be nomologically excluded.“



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lieren, sondern lediglich Argumente ins Feld führen, warum andere Positionen falsch sein müssen. Dieser Eindruck täuscht meiner Ansicht nach insofern, als sich bei nicht-reduktionistischen Ansätzen neben einer Kritik am Reduktionismus – in der Hauptsache in seiner psychologischen Variante – immer auch zumindest die Andeutung einer positiven Bestimmung finden lässt. Die ausführlichste Ausarbeitung einer positiven Bestimmung der Identität von Personen, die nicht-reduktionistisch bleibt, findet sich bei Wiggins. Er geht hierbei zunächst auf eine Weise vor, die der Vorgehensweise eines biologischen Reduktionisten ähnelt,78 indem er dafür argumentiert, dass der Begriff der Person in relevanter Hinsicht einen Begriff für eine natürliche Art darstellt, weil er mit dem Begriff des menschlichen Lebewesens koextensiv ist. In einem zweiten – und in meinen Augen entscheidenden – Schritt wird diese Koextensivitätsbehauptung mit einer zusätzlichen Spezifikation der natürlichen Art, zu der Personen gehören, versehen, und zwar über eine nicht abgeschlossene Liste von psychologischen Merkmalen, die menschliche Lebewesen typischerweise aufweisen: Perhaps x is a person if and only if x is an animal falling under the extension of a kind whose typical members perceive, feel, remember, imagine, desire, make projects, move themselves at will, speak, carry out projects, acquire a character as they age, are happy or miserable, are suspectible to concern for members of their own species, conceive of themselves as perceiving, feeling, remembering, imagining, desiring, making projects, speaking, have, and conceive of themselves as having, a past accessible in experience memory and a future accessible in intention, etc.79

Der Witz an dem Vorgehen von Wiggins besteht darin, dass er im Gegensatz zum Vorgehen des psychologischen Reduktionisten nicht bereit ist, den Begriff der Person als ein Phasen-Sortal zu interpretieren; indem er aber in seiner Spezifikation dessen, was zu einem als Substanz-Sortal verstandenen Begriff der Person gehört, neben der Bestimmung als menschliches Lebewesen auch die zitierten Merkmale zählt, legt er sich auf eine Position fest, nach der die Kontinuitäts- und Erhaltensbedingungen, die von dem Begriff der Person bestimmt werden, sich nicht entweder auf psychologische oder aber auf biologische Kontinuitäten reduzieren lassen. Das ‘Prinzip der Aktivität’, das für Personen charakteristisch ist, weist seiner Auffassung nach stattdessen darauf hin, dass die Identität des leben-

78 Dass diese Vorgehensweise der Vorgehensweise der biologischen Reduktionisten ähnelt, ist insofern missverständlich, als sich biologische Reduktionisten wie Olson hauptsächlich auf Wiggins und seine einflussreiche Identitätstheorie beziehen; vgl. Olson (1997), 27ff. 79 Wiggins (1980), 171; Wiggins selbst bezeichnet seinen Ansatz in Wiggins (1980) als ‘animal attribute view’.

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 Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus

den menschlichen Organismus – also das, was biologische Reduktionisten als angemessene Antwort auf das Identitätsproblem betrachten – zwar notwendig und hinreichend für die Identität von Personen ist, dass aber in einem spezifischen Sinn zusätzlich dazu noch die Dimension der für Personen charakteristischen mentalen Kontinuität berücksichtigt werden muss.80 Die auf den ersten Blick befremdliche Ansicht, die darin zum Ausdruck kommt, ist dass die Identität des menschlichen Lebewesens ‘nicht richtig’ notwendig und hinrechend für die Identität der Person ist; diese Bezugnahme auf ‘nicht richtig’ notwendige und hinreichende Identitätsbedingungen wird von Wiggins durch den Hinweis darauf gerechtfertigt, dass eine Person zwar von einem menschlichen Lebewesen konstituiert wird, aber nicht mit diesem Lebewesen identifiziert werden kann.81 Das Problem, das sich für den Ansatz von Wiggins stellt, besteht darin, dass Vertreter des biologischen Reduktionismus, vor allem aber die des psychologischen Reduktionismus ihn mit Szenarien konfrontieren können, in denen biologische Kontinuität und psychologische Kontinuität auseinander fallen. In einem Fall wie dem von ihm selbst diskutierten Fall einer Person, die an totaler Amnesie leidet,82 kann er weder im Sinne des psychologischen Reduktionismus behaupten, dass das betreffende Wesen aufgehört hat zu existieren, noch die Interpretation des biologischen Reduktionismus vertreten, nach der es weiterhin existiert. Stattdessen ist er als Nicht-Reduktionist auf die zunächst merkwürdig klingende Behauptung festgelegt, dass in der betreffenden Situation ‘etwas nicht in Ordnung’ ist.83 Die Strategie, die Wiggins an dieser Stelle verfolgen müsste – und die ich im Hauptteil der Arbeit verfolgen werde – um

80 In diesem Sinn kann Wiggins’ Position als ‘aristotelisch’ bezeichnet werden; vgl. seine Bestimmung von Person als einer „persisting material entity essentially endowed with the biological potentiality for the excercise of all the faculties and capacities conceptually constitutive of personhood – sentience, desire, belief, motion, memory, and the various other elements which are involved in the particular mode of activity that marks the extension of the concept of person.“ (Wiggins (1980), 160) 81 Vgl. Wiggins (2001), 39ff; zur Diskussion dieses nicht unproblematischen Manövers vgl. Baker (2000). 82 Vgl. Wiggins (1980), 176ff. 83 Vgl. etwa die Bestimmung der Relevanz von Erinnerung für personale Identität in Wiggins (1980), 188: „Memory is not then irrelevant to personal identity, but the way it is relevant is simply that it is one highly important element among others, both in itself and in association with other components, in the account of what it is for a person to be still there, fully alive. It plays its part in determining the continuity principle for persons, as opposed to bodies or cadavera, but [...] it will scarcely furnish a necessary or sufficient condition of identity, survival or persistence.“ Ein Ziel meiner Überlegungen in der Folge lässt sich in diesem Sinne so verstehen, dass ich zeigen möchte, was es heißt, dass eine Person ‘fully alive’ ist.



Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus 

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die scheinbare Merkwürdigkeit dieser Behauptung zu beseitigen, besteht in der Argumentation dafür, dass eine organische Einheit von biologischer und psychologische Kontinuität im Leben von Personen zwar nicht garantiert ist, aber eine Art Anspruch darstellt, der nicht einfach aufgegeben werden kann. Wie kann ein solcher Anspruch aber begründet werden? Die Antwort, die ich in den folgenden Kapiteln der Arbeit auf diese Fragen geben werde, geht davon aus, dass eine Theorie der Identität von Personen den Standpunkt der ersten Person auf eine angemessene Weise zu berücksichtigen hat. Dieser Standpunkt ist im Rahmen des psychologischen Reduktionismus – so mein Argumentationsziel im folgenden Teil der Arbeit – nur unzureichend charakterisiert, indem sich die Vertreter psychologisch-reduktionistischer Positionen wie Parfit letztlich auf eine drittpersonale Interpretation des Mentalen festlegen, welche lediglich die kausal-kontingenten Relationen zwischen mentalen Zuständen in den Blick nimmt, um die Einheit des Mentalen zu bestimmen. Den Standpunkt der ersten Person auf angemessene Weise zu berücksichtigen, besteht aber darin, diese Einheit auch als Leistung der Person zu betrachten, um deren mentales Leben es sich handelt. Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen – so die These, die ich in den folgenden Kapiteln ausführen möchte – dann haben wir mehr zu tun, als nur passive Subjekte unserer mentalen Zustände zu sein, indem es an uns ist, diese Zustände im Zuge rationaler Prozesse auszubilden. Indem wir das tun, beziehen wir uns aber keinesfalls auf diese mentalen Zustände, sondern auf das, was jeweils ihr Gegenstand ist. In diesem Sinne beziehen wir uns auch in Situationen, in denen wir uns – etwa erinnernd – auf unsere eigene diachrone Existenz beziehen, auf einen objektiven Aspekt der Welt. Die Weise unseres Selbstbezugs – so der entscheidende Schritt zur Verteidigung eines nicht-reduktionistischen Ansatzes – impliziert aber, dass wir uns als Wesen verstehen, deren biologische Kontinuität nicht von der Einheit ihres mentalen Lebens zu trennen ist: Unser Selbstverständnis als diachron existierende Wesen ist ein Selbstverständnis als rationale Lebewesen. In diesem Sinn wird es sich bei dem konstruktiven Teil meiner Arbeit um eine Ausarbeitung der Einsichten handeln, die McDowell in seiner Kritik am psychologischen Reduktionismus andeutet. Psychologische Reduktionisten wie Parfit scheitern seiner Ansicht nach daran, dem Zirkularitätseinwand angemessen zu begegnen, weil ihre ‘entpersönlichte’ und von der Identitätsimplikation befreite Interpretation mentaler Zustände unverständlich bleibt. Wenn eine Person sich an etwas erinnert – so McDowell – dann führt kein Weg daran vorbei, diese Erinnerung als eine Erinnerung an eine Erfahrung zu betrachten, die von der sich erinnernden Person gehabt wurde: Es ist gerade vom Standpunkt der ersten Person, dass ich voraussetzen muss, dass ich identisch mit dem Subjekt der Erfahrung bin, an die ich mich erinnere. Gleichzeitig hält McDowell aber daran fest, dass

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 Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus

mentale Zustände wie Erinnerungen wichtig für die Identität der Person sind, die jeweils Subjekt dieser mentalen Zustände ist. Der psychologische Reduktionist behauptet McDowell zufolge, dass beide Behauptungen nur unter der Annahme einer immateriellen Substanz zu verstehen sind.84 Genau diesen Punkt möchte McDowell aber bestreiten, indem er auf eine Alternative hinweist. Diese Alternative besteht in einem Vorschlag, nach dem die vorauszusetzende Identität vom Standpunkt der ersten Person dadurch gewährleistet werden kann, dass ein Selbstbezug stattfindet, der als ein Bezug auf eine kontinuierlich existierende ‘objektive Entität’ verstanden werden muss: The alternative is to leave in place the idea that continuity of ‘consciousness’ constiututes awareness of an identity through time, but reject the assumption that this fact needs to be provided for within a self-contained conception of the continuity of ‘consciousness’. On the contrary, we can say: continuous ‘consciousness’ is intelligible (even more ‘from within’) only as a subjective angle on something that has more to it than the subjective angle reveals: namely, the career of an objective continuant with which the subject of the continuous ‘consciousness’ identifies itself.85

Die Idee, die ich im Rahmen des Hauptteils verfolgen möchte, besteht darin, diese Einsicht von McDowell in einen Zusammenhang mit der nicht-reduktionistischen Theorie von Wiggins zu bringen. Wenn McDowell mit seiner Diagnose des Scheiterns psychologischer Ansätze Recht hat, läßt sich tatsächlich Folgendes behaupten: Eine angemessene Berücksichtigung des Standpunkts der ersten Person hat zur Voraussetzung, dass wir uns als ‘objective continuants’ verstehen, und wenn diese ‘objective continuants’ im Sinne von Wiggins’ rationalen Lebewesen verstanden werden müssten, dann wäre jede Theorie, die den Standpunkt der ersten Person berücksichtigen möchte, auf seine nicht-reduktionistische Position festgelegt. Inwiefern kann man aber behaupten, dass eine angemessene Berücksichtigung der Perspektive der ersten Person tatsächlich die Annahme nach sich

84 Vgl.: McDowell (1997), 231: „Locke’s thesis is that a person is a continuant of a special kind, special in that ‘consciousness’ gives it an ‘inner’ perspective on its own persistence. Does this import any reason to press for a reduction? Only on the basis of what seems to me to be a mistaken thought: that there is no alternative to reduction except to commit ourselves to continuants whose persistence through time would consist in nothing but the continuity of ‘consciousness’ itself. Such continuants would be items whose activity is purely mental: items like the one Descartes convinced himself he referred to in first-person thought.“ Tatsächlich stellt die Annahme immaterieller Substanzen eine nicht-reduktionistische Alternativposition zu den von mir bevorzugten nicht-reduktionistischen Ansätzen dar, die ich an dieser Stelle diskutiere; ein moderner Ansatz eines solchen ‘immateriellen Nicht-Reduktionismus’ findet sich in Swinburne (1974). 85 McDowell (1997), 233.



Ausblick auf den Nicht-Reduktionismus 

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zieht, dass wir rationale Lebewesen im Sinn von Wiggins sind? Und was heißt es überhaupt, den Standpunkt der ersten Person angemessen zu berücksichtigen? Im folgenden Teil werde ich zunächst der zweiten dieser Fragen nachgehen, indem ich herauszuarbeiten versuche, worin das Einnehmen der Perspektive der ersten Person im Gegensatz zum Einnehmen der Perspektive der dritten Person besteht.86

86 Weil ich dafür argumentieren werde, dass Personen, die den Standpunkt der ersten Person einnehmen, insofern darauf festgelegt sind, sich als rationale Akteure zu verstehen, als sie nicht umhin können, sich um ein einheitliches Selbstverständnis zu bemühen, indem sie ihre Einstellungen gemäß der Einsicht in Gründe ausbilden bzw. revidieren, hat meine Version des NichtReduktionismus auch eine große Nähe zu der nicht-reduktionistischen Kritik an Parfit, die von Korsgaard formuliert wird; vgl. Korsgaard (1989), 109ff. Auf Korsgaards positive Bestimmung von personaler Identität werde ich ganz zum Schluss dieses Buches noch zurückkommen (vgl. S. 170f.)

Teil II: Die Perspektive der ersten Person

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 Teil II: Die Perspektive der ersten Person

Im ersten Teil der Arbeit habe ich auf die Probleme hingewiesen, die sich mit reduktionistischen Antworten auf die Frage nach der Identität von Personen verbinden. Während das Hauptproblem des biologischen Reduktionismus darin besteht, dass er die praktische Relevanz des Begriffs der Identität von Personen nicht erfasst, kann der psychologische Reduktionismus zwar die Idee aufgreifen, dass personales Leben einen ‘inneren Aspekt’ hat, aber das Kriterium, das er als Antwort auf die Frage nach personaler Identität formuliert, ist mit einer ganzen Reihe von Problemen behaftet, welche die Position des psychologischen Reduktionismus letztlich kaum attraktiver als die Position des biologischen Reduktionismus erscheinen lassen. Die Betrachtung der nicht-reduktionistischen Kritik von McDowell an Parfit hat mich zu der Vermutung geführt, dass die Probleme, mit denen psychologische Theorien konfrontiert sind, in den wesentlichen Zügen darauf zurückzuführen sind, dass die Vertreter solcher Theorien in gewisser Hinsicht ihrer eigenen Einsicht untreu werden, indem sie die erstpersonale Dimension des Lebens von Personen falsch verorten. Was das genau heisst, bleibt bei McDowell unklar. Meine Arbeitshypothese für die folgenden Kapitel lautet deshalb, dass psychologische Theorien personaler Identität zwar das Faktum des Standpunkts der ersten Person berücksichtigen, indem sie die mentalen Zustände, in denen eine Person sich im Verlaufe ihres Lebens befindet, zum Thema machen, in der Art und Weise, wie sie ihre Antwort auf die Frage nach der Identität von Personen formulieren, allerdings der Perspektive der dritten Person verhaftet bleiben und auf diese Weise den relevanten Aspekten dessen, was es heisst, einen erstpersonalen Zugang zum eigenen Leben zu haben, nicht gerecht werden können. Mein Ziel wird im Rahmen dieses Teils der Arbeit darin bestehen, genau zu bestimmen, worin die eigentliche Pointe des Einnehmens der Perspektive der ersten Person besteht; im Rahmen des dritten Teils werde ich die gewonnenen Einsichten dann auf die temporale Dimension des Lebens von Personen anwenden, um für die Angemessenheit einer nichtreduktionistischen Position zu argumentieren, nach der es sich bei Personen wesentlich um rationale Lebewesen handelt. Was soll es aber heißen, dass jemand, der sich auf mentale Zustände bezieht, der erstpersonalen Dimension des Lebens von Personen nicht gerecht wird? Ist der Standpunkt der ersten Person nicht gerade der Standpunkt, von dem aus Personen glauben, wünschen, beabsichtigen, erinnern oder hoffen? Das stimmt zwar, aber an dieser Stelle ist es besonders wichtig, zu beachten, dass die Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person weder identisch noch koextensiv mit der Unterscheidung zwischen mentalen und nicht-mentalen bzw. biologischen Aspekten personalen Lebens ist. Zugegebenermaßen habe ich bislang noch gar nichts dazu gesagt, wie man die Unterscheidung zwischen beiden Perspektiven genau zu verstehen hat



Teil II: Die Perspektive der ersten Person 

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und mich stattdessen dem intuitiven Gebrauch angeschlossen, den Vertreter der Locke-Herausforderung von ihr machen, wenn sie auf den ‘inneren’ Aspekt des Lebens von Personen aufmerksam machen. Es wäre aber verfehlt, die Perspektive der ersten Person mit der ‘inneren’ bzw. psychologischen Dimension von Personen zu identifizieren und die Perspektive der dritten Person für die ‘äussere’ bzw. biologische Dimension zu reservieren, denn es gibt ein wichtiges Verständnis der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person, nach dem es durchaus möglich ist, im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände die Perspektive der dritten Person einzunehmen.87 Ein Ziel des vorliegenden Kapitels besteht darin, die Unterscheidung zwischen beiden Perspektiven in dieser und anderen entscheidenden Hinsichten zu präzisieren. Zu diesem Zweck werde ich zunächst einen philosophischen Debattenkontext rekonstruieren, in dem die Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person traditionell eine große Rolle gespielt hat – die Frage nach dem Status des Wissens, das wir von den eigenen mentalen Zuständen haben. Mein Vorgehen wird darin bestehen, zwei Positionen aus dieser Debatte zu rekonstruieren, von denen ich glaube, dass sie die Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der dritten Person auf angemessene Weise ernst nehmen und jeweils plausible Aspekte dessen formulieren, was es heisst, sich erstpersonal auf die eigenen mentalen Zustände zu beziehen. Ich hoffe, auf diesem Wege zeigen zu können, inwiefern psychologische Theorien personaler Identität auf Annahmen festgelegt sind, die es ihnen unmöglich machen, diesen erstpersonalen Bezug zu berücksichtigen, um schließlich dafür argumentieren zu können, dass dieser Mangel dazu führt, dass sie auf eine ähnliche Weise unbefriedigend bleiben wie Theorien, die gar nicht erst den Versuch machen, erstpersonale Aspekte menschlichen Lebens in den Blick zu bekommen.

87 Dafür, dass die biologische Dimension des Lebens von Personen eine entscheidende Rolle vom Standpunkt der ersten Person spielt, werde ich im dritten Teil der Arbeit argumentieren.

5 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen Traditionellerweise wird die Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person in epistemischen Kontexten bemüht.88 Wenn Sätze der Form ‘x nimmt die Perspektive der ersten bzw. dritten Person im Hinblick auf y ein’ tatsächlich im weitesten Sinne epistemische Relationen ausdrücken, dann müssen diese Sätze im Sinne von ‘x weiss auf eine für die Perspektive der ersten bzw. der dritten Person charakteristische Weise, dass p’89 verstanden werden. Welche Kandidaten kommen für die Interpretation der beiden Variablen in Frage? Relativ unproblematisch ist die Antwort im Fall der ersten Variable. Wenn die gemeinte Relation eine epistemische Relation sein soll, dann können hier nur singuläre Termini, die auf Personen Bezug nehmen, eingesetzt werden, da nur Personen epistemische Subjekte sein können. Die Perspektive der ersten bzw. der dritten Person ist demnach etwas, was nur von Personen eingenommen werden kann: Genauso wenig, wie es Sinn macht, davon zu reden, dass ein Baum oder ein Schreibtisch von etwas Wissen hat, macht es keinen Sinn zu sagen, dass ein Baum oder ein Schreibtisch die Perspektive der ersten oder der dritten Person einnimmt. Etwas schwieriger ist die Interpretation der zweiten Variable, d.h. eine Antwort auf die Frage nach dem möglichen Gehalt des Wissens, das man aus der

88 Ein anderer Kontext, in dem diese Unterscheidung eine zentrale Rolle spielt, ist der Kontext semantischer Fragestellungen, in dem etwa nach der Referenz des Personalpronomens der ersten Person gefragt und die Rolle untersucht wird, die es im Zusammenhang mit anderen indexikalischen Ausdrücken wie ‘hier’ und ‘jetzt’ spielt. Ein Grossteil der modernen Diskussion kreist etwa um die in Anscombe (1975) angestossene Frage, ob ‘ich’ ein referierender Ausdruck ist; vgl. auch die einflussreichen Positionen in Castañeda (1966), Kaplan (1989) und Perry (1979). 89 Ich vernachlässige an dieser Stelle die Möglichkeit, dass es Formen des Wissens gibt, die nicht propositional sind. Gerade die Möglichkeit phänomenalen bzw. qualitativen Wissens, d.h. des Wissens ‘wie es ist’, in einem bestimmten Zustand zu sein, trägt Implikationen mit sich, die aufs engste mit der Perspektive der ersten Person zu tun haben; allerdings sind diese Implikationen insofern unabhängig von der Fragestellung, die ich im Verlaufe dieses Kapitels verfolge, als sie im besten Fall zeigen würden, dass eine Beschreibung des Mentalen unvollständig ist, wenn sie seinen ‘subjektiven Charakter’ vernachlässigt. Auf dieser Grundlage ließe sich unter Umständen ein erneuter Einwand gegen die Strategie psychologischer Theorien personaler Identität formulieren, die darauf festgelegt sind, eine ‘subjektlose’ Beschreibung mentaler Zustände zu formulieren; aber es wäre wenig im Hinblick auf eine positive Bestimmung dessen gewonnen, was es heißt, sich erstpersonal auf die eigene Vergangenheit oder Zukunft zu beziehen – es ist noch nicht einmal klar, worin der phänomenale Charakter von mentalen Zuständen wie Erinnerungen oder Absichten überhaupt bestehen sollte. Zur Relevanz von Überlegungen, die sich mit der Möglichkeit von Qualia beschäftigen, für die Debatte um die Identität von Personen vgl. Nida-Rümelin (2006), insb. Abschn. 3.13.



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Perspektive der ersten Person bzw. aus der Perspektive der dritten Person haben kann. Zunächst ist nicht einzusehen, inwiefern es sich bei dieser Frage überhaupt um eine problematische Frage handeln könnte. Aus der Perspektive der ersten bzw. der dritten Person, so die Überlegung, kann man alles Mögliche wissen, d.h. jedenfalls all das, was man auch sonst wissen kann, wenn man sich nicht die Mühe macht, die Unterscheidung überhaupt ins Spiel zu bringen. Nach dieser Lesart kämen als Propositionen, die aus der Perspektive der ersten bzw. dritten Person für wahr gehalten werden können, auch solche in Frage, die weder einen Bezug zu derjenigen Person herstellen, die diese Proposition für wahr hält, noch zu einer anderen beliebigen Person – Propositionen also wie z.B., dass 2+2=4 oder dass Rom die Hauptstadt von Italien ist. Nach einem naiven Verständnis der in Frage stehenden Unterscheidung würde etwa die Proposition, dass 2+2=4 für eine Proposition gehalten werden, die aus der Perspektive der dritten Person für wahr gehalten bzw. gewusst werden kann.90 Wo von der Perspektive der dritten Person die Rede ist, muss auch die sinnvolle Möglichkeit des Einnehmens der Perspektive der ersten Person gegeben sein. Es ist aber alles andere als klar, inwiefern ich aus der Perspektive der ersten Person im Gegensatz zur Perspektive der dritten Person davon wissen kann, dass 2+2=4, oder dass Rom die Hauptstadt von Italien ist. Offenbar kommt nicht alles als Kandidat für den Gehalt des Wissens, das man aus der einen oder der anderen Perspektive haben kann, in Frage. Ein in dieser Situation naheliegender Vorschlag ist, dass aus beiden Perspektiven Wissen über Personen gehabt werden kann. Wenn wir von Personen und ihrem Leben reden, haben wir aber, wie ich bereits in der Einleitung angedeutet habe, oft ganz Unterschiedliches im Sinn. Die Komplexität des Lebens von Personen hat ihre Entsprechung in der Mannigfaltigkeit dessen, worüber wir reden können, wenn wir uns auf Personen beziehen. Und diese Mannigfaltigkeit entspricht der Vielzahl dessen, was aus der Perspektive der ersten oder dritten Person gewusst werden kann. So kann ich aus einer bestimmten Perspektive feststellen, dass eine Person wütend ist oder dass sie ihre Beine übereinander geschlagen hat, dass sie ein Eis kaufen geht oder dass sie dieselbe Person ist, die gestern im Kino war, dass sie phlegmatisch ist oder dass sie Astronaut werden möchte, dass sie moralisch falsch gehandelt hat oder ihr Leben nicht in den Griff kriegt. Für die meisten dieser Feststellungen wird es wichtige und empfindliche Unterschiede

90 Das liegt daran, dass man mit der Perspektive der dritten Person im Gegensatz zur Perspektive der ersten Person oft den Aspekt des Objektiven verbindet. Die Unterscheidung zwischen den Perspektiven der ersten und der dritten Person ist allerdings nicht deckungsgleich mit der Unterscheidung von ‘objektiv’ und ‘subjektiv’.

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 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen

geben, je nachdem, ob die Feststellung aus der Perspektive der ersten oder der dritten Person erfolgt ist. Allerdings ist es nicht einfach, klar zu sehen, worin diese Unterschiede bestehen.

5.1 Das Problem Die wohl größte Aufmerksamkeit, die solchen Unterschieden zuteil geworden ist, betrifft das Wissen von den mentalen Zuständen, in denen Personen sich befinden können.91 Als paradigmatisch werden in diesem Zusammenhang diejenigen mentalen Zustände betrachtet, die gewöhnlich als propositionale Einstellungen bezeichnet werden, Einstellungen also, die über einen längeren Zeitraum bestehen können und eine propositionale Komponente enthalten, die sich in Form von ‘dass’-Sätzen artikulieren lässt. Innerhalb dieser Gruppe wird der Fall der Meinungen bzw. Überzeugungen92 oft als das Paradigma der mentalen Zustände aufgefasst, von denen ich aus der Perspektive der ersten Person im Gegensatz zur Perspektive der dritten Person Wissen haben kann. Im Folgenden werde ich mich zunächst dieser Sicht der Dinge anschließen, indem ich die Rekonstruktion der im Rahmen der zu thematisierenden Debatte vertretenen Positionen anhand von Meinungen durchführe. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass die meisten der Ansätze, die in der Folge eine Rolle spielen werden, mit dem Anspruch auftreten, auch das erstpersonale Verhältnis zu anderen propositionalen Einstellungen wie Wünschen, Hoffnungen oder Absichten zum Thema zu machen. Im Zusammenhang mit den von mir bevorzugten Theorien wird deshalb zu fragen sein, inwiefern sie diesem Anspruch auch gerecht werden können. Im Folgenden möchte ich einen ersten Schritt zur Beantwortung der Frage machen, was die Perspektive der ersten Person von der Perspektive der dritten Person unterscheidet. Dies soll passieren, indem ich auf zwei Phänomene aufmerksam mache, die bei einer theoretisch voraussetzungslosen Betrachtung des Themas sofort einleuchten.93 Ich kann von den mentalen Zuständen wissen, in denen sich eine von mir unterschiedene Person befindet, und ich weiß von meinen eigenen mentalen Zuständen. Beides weiß ich allerdings auf unterschiedliche Weise. Mein Wissen

91 Für Zusammenstellungen der wichtigsten zeitgenössischen Positionen zu diesem Thema und den damit verwandten Fragestellungen aus der Debatte um ‘Self-Knowledge’ vgl. Cassam (1994), Wright (1998) und Gertler (2003). 92 Im Folgenden werde ich keinen Unterschied zwischen dem Begriff der Meinung und dem Begriff der Überzeugung machen. 93 Bei der folgenden Rekonstruktion der Problemstellung orientiere ich mich an Moran (2001), insbes. 10ff.



Das Problem 

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von den mentalen Zuständen, in denen sich eine von mir unterschiedene Person befindet, beruht darauf, dass ich das Verhalten dieser Person beobachte bzw. dass ich diese Person beobachte und bestimmte Schlussfolgerungen aus diesen Beobachtungen ziehe. So kann ich zum Beispiel wissen, dass Roger traurig ist, weil ich sehe, dass er ein trauriges Gesicht hat; oder ich kann wissen, dass Marie sich Sorgen um den Ausgang einer Bundestagswahl macht, weil ich mit ihr Gespräche geführt habe und viele ihrer Äußerungen unter Zuhilfenahme von zahlreichen Zusatzannahmen als ernsthaften Ausdruck eines teilnehmenden und parteilichen Interesses am Ausgang der Wahlen interpretieren kann. Dass ich selbst traurig bin oder besorgt, dass ich eine bestimmte Meinung habe oder Wünsche und Absichten verschiedener Art – das alles weiß ich gewöhnlich, ohne die Person, um deren mentale Zustände es sich handelt – nämlich mich selbst – beobachten zu müssen oder unter Zuhilfenahme von Zusatzannahmen Schlüsse aus gegenwärtigen oder vergangenen Beobachtungen dieser Person zu ziehen. Das Wissen, das ich von meinen eigenen mentalen Zuständen habe – Wissen von diesen mentalen Zuständen aus der Perspektive der ersten Person – ist im Gegensatz zu dem Wissen von mentalen Zuständen aus der Perspektive der dritten Person in dem Sinne unmittelbar, dass es nicht auf Beobachtung von Verhalten beruht und nicht-inferentiell ist. Der Aspekt der Unmittelbarkeit kann auch folgendermaßen formuliert werden: Aus der Perspektive der ersten Person gelangen wir zu dem Wissen von unseren mentalen Zuständen nicht auf dem Weg der Berücksichtigung und Abwägung von Gründen, während die Abhängigkeit von Gründen gerade ein charakteristisches Merkmal des Wissens von mentalen Zuständen ist, das uns aus der Perspektive der dritten Person zur Verfügung steht. Und obwohl die Weisen, wie wir aus beiden Perspektiven von mentalen Zuständen wissen können, sich in diesem Sinne fundamental voneinander unterscheiden, sind wir gewöhnlich keinesfalls der Ansicht, dass wir, je nachdem, ob wir die Perspektive der ersten oder der dritten Person einnehmen, Wissen von Verschiedenem haben. In beiden Fällen scheint es sich in dem Sinne um Wissen von Gleichem zu handeln, dass es sich jeweils um Wissen von mentalen Zuständen handelt.94 Für gewöhnlich genießen Zuschreibungen von mentalen Zuständen, die vom Standpunkt der ersten Person gemacht werden, eine besondere Autorität, die Zuschreibungen vom Standpunkt der dritten Person nicht zukommt. Als Reaktion auf die Äußerung der Zuschreibung eines mentalen Zustandes, von der angenommen wird, das sie ernsthaft und aufrichtig ist, hören wir nur selten Sätze wie:

94 Das heißt, es ist Wissen, und der Inhalt des Wissens ist in dem Sinne derselbe, dass eine Identität der Wahrheitsbedingungen vorliegt.

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 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen

‘Du bist nicht traurig’ oder ‘Du irrst dich, wenn du glaubst, besorgt zu sein’. Das heißt keinesfalls, dass solche Zuschreibungen vom Standpunkt der ersten Person nicht korrigierbar sind, dass ich mich niemals darin täuschen kann oder dass es mir unmöglich ist, daran zu zweifeln, dass ich mich in einem bestimmten mentalen Zustand befinde. Irrtum oder Zweifel sind auch hier möglich und – zumindest was eine Reihe von mentalen Zuständen betrifft – nicht unwahrscheinlich. Zuschreibungen von komplexen emotionalen Zuständen wie Glück oder Liebe sind klassische Beispiele für einen Bereich, in dem der Zugriff vom Standpunkt der ersten Person nicht garantiert, dass diese Zuschreibungen auch zutreffen. Für eine ganze Reihe von mentalen Zuständen scheint dennoch zu gelten, dass ihre Zuschreibung vom Standpunkt der ersten Person in dem Sinne eine Autorität genießt, dass es keinen Sinn macht, diese Zuschreibung anzuzweifeln oder die betreffende Person danach zu fragen, woher sie denn weiß, dass sie sich in dem selbstzugeschriebenen Zustand befindet. Mit Unmittelbarkeit und Autorität sind zwei Merkmale benannt, die eine Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person im Hinblick auf mentale Zustände ermöglichen. Diese beiden Merkmale zeichnen ein zumindest intuitiv plausibles Bild der in Frage stehenden Unterscheidung. Bislang habe ich von beiden Perspektiven allerdings auf eine Weise gesprochen, die nahelegt, dass ich die Perspektive der ersten Person nur im Hinblick auf mich bzw. meine eigenen mentalen Zustände einnehme, während die Perspektive der dritten Person von mir nur im Hinblick auf von mir unterschiedene Personen eingenommen werden kann. Dem ist, wie eingangs angedeutet, nicht so. Auch was meine eigenen mentalen Zustände angeht, kann ich die Perspektive der dritten Person einnehmen. Dass ich gerade traurig bin, werde ich vielleicht erst feststellen, nachdem ich mein trauriges Gesicht im Schaufenster eines Geschäfts gesehen und den entsprechenden Schluß aus dieser Beobachtung gezogen habe. Andere Beispiele betreffen mentale Zustände, die uns über lange Zeiträume hinweg verborgen bleiben können, etwa unterdrückte Wünsche, von denen wir erst nach aufrichtiger Selbstbeobachtung und unter Zuhilfenahme therapeutischer Hilfe Kenntnis erlangen können. Das Wissen, das ich von meinen eigenen mentalen Zuständen habe, beschränkt sich demnach keinesfalls darauf, was ich vom Standpunkt der ersten Person weiß. Dies gilt auch für zahlreiche mentale Zustände, in denen ich mich in der Vergangenheit befunden habe. Ob ich vor fünf Jahren der Meinung war, dass Tsunami-Wellen ungefährlich sind oder ob ich vor zwei Wochen den Wunsch hatte, zu einem Bundesligaspiel zu fahren, werde ich auf eine Weise wissen, die sich deutlich von der Weise unterscheidet, wie ich vom Standpunkt der ersten Person, d.h. in einer Situation, in der ich diese Meinung oder diesen Wunsch



Das Problem 

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immer noch habe, von diesen Zuständen weiß.95 Zwar kann ich mich in einem mentalen Zustand über einen mehr oder weniger langen Zeitraum hinweg befinden – etwa wenn ich monatelang einer bestimmten Meinung bin oder einen bestimmten Wunsch hege – und insofern kann ich in einem bestimmten Sinne auch aus der Perspektive der ersten Person Wissen von mentalen Zuständen haben, die in meiner Vergangenheit vorgelegen haben. Aber sobald ich mich nicht mehr in diesen Zuständen befinde, beispielsweise weil ich festgestellt habe, dass ich mich in einer bestimmten Meinung geirrt habe oder weil die Gelegenheit zur Erfüllung eines bestimmten Wunsches verstrichen ist, wird mein Wissen davon, dass ich mich in diesen mentalen Zuständen befunden habe, ein für die Perspektive der dritten Person charakteristisches Wissen sein. Entsprechend gilt, dass die Phänomene, die weiter oben als charakteristische Merkmale der Perspektive der ersten Person formuliert wurden, sich auf Situationen der Selbstzuschreibung derjeniger mentaler Zustände beziehen, die zum Zeitpunkt der Selbstzuschreibung vorliegen. Mit der Perspektive der ersten Person verbinden sich im Hinblick auf mentale Zustände die Phänomene der Unmittelbarkeit und Autorität. Was ist daran problematisch? Was ist erklärungsbedürftig an Autorität und Unmittelbarkeit? Beginnen wir mit dem Aspekt der Autorität. Ohne weiteres leuchtet nicht ein, warum die Zuschreibungen unserer eigenen mentalen Zustände eine solche Autorität genießen sollten. Das ist kein Problem, das sich speziell mit den hier in Frage stehenden Zuschreibungen von mentalen Zuständen aus der Perspektive der ersten Person verbindet – es taucht immer auf, wenn einer Person bzw. den Zuschreibungen, die sie macht, Autorität zugesprochen wird. Angenommen eine bestimmte Person genießt in einer Gesellschaft Autorität im Hinblick auf die Bewertung von Werken der Literatur. Typischerweise werden die anderen Gesellschaftsmitglieder der Person die Autorität nur dann zugestehen, wenn es gute Gründe dafür gibt. Und ein angemessenes Verständnis dieser ästhetischen Autorität wird auf solche Gründe Bezug nehmen müssen. So wird man beispielsweise geltend machen, dass die betreffende Person sehr viele Werke der Literatur gelesen hat, dass sie sich intensiv mit einzelnen Autoren auseinander gesetzt hat oder dass sie zutreffende Prognosen darüber getroffen hat, welche Werke oder

95 An dieser Stelle muss allerdings die folgende Einschränkung gemacht werden: Ich werde von diesen mentalen Zuständen auf eine Weise wissen, die charakteristisch für den Standpunkt der dritten Person ist, sofern es nicht der Fall ist, dass ich mich daran erinnere. Zum Begriff der Erinnerung wird im dritten Teil dieser Arbeit mehr zu sagen sein; fürs Erste kann aber davon ausgegangen werden, dass der unmittelbare Charakter des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen aus der Perspektive der ersten Person in der Erinnerung über die Zeit erhalten bleibt.

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 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen

Autoren sich als literarische Eintagsfliegen herausstellen werden. Zuschreibungen von Autorität sind begründungsbedürftig. Sie sind nicht zu verstehen, ohne dass man die Gründe kennt, die es für sie gibt. Was könnte die Autorität von Zuschreibungen mentaler Zustände vom Standpunkt der ersten Person begründen bzw. erklären? Ein schlechter Antwortvorschlag lautet, dass es gerade die oben erwähnte Unmittelbarkeit der Selbstzuschreibung mentaler Zustände vom Standpunkt der ersten Person ist, welche die Autorität, die solchen Zuschreibungen zukommt, erklärt. Diesem Vorschlag zufolge genießen die Zuschreibungen von mentalen Zuständen vom Standpunkt der ersten Person eine besondere Autorität verglichen mit Zuschreibungen vom Standpunkt der dritten Person, weil sie nicht auf Beobachtungen und Schlußfolgerungen aus diesen Beobachtungen angewiesen sind bzw. nicht auf der Basis der Abwägung von Gründen zustandekommen. Wenn Autorität – so das Argument – in unserem Zusammenhang heißt, dass es keinen Sinn macht, eine Person, die von sich ernsthaft und aufrichtig behauptet, sie sei traurig, zu fragen, woher sie denn weiß, dass sie traurig ist, dann liegt das daran, dass diese Zuschreibung nicht auf der Basis von Gründen zustandegekommen ist. Hätte die betreffende Person Gründe erwogen, die für oder gegen die Tatsache sprechen, dass sie traurig ist, dann könnte man ihr die Frage stellen, woher sie weiß, dass sie traurig ist. In einem solchen Fall könnte die traurige Person dann die ausschlaggebenden Gründe für ihre Meinung, dass sie traurig ist, nennen, und wir könnten diese Gründe teilen oder der Person widersprechen, indem wir bessere Gründe für eine andere Sicht der Dinge geltend machen. Die Situation sieht allerdings ganz anders aus. Die traurige Person ist zu der Meinung, sie sei traurig, gerade nicht auf dem Wege der Abwägung von Gründen gelangt, sie hat nichts beobachtet und keine Überlegungen angestellt, und das macht es unmöglich, ihr ernsthaft die Frage danach zu stellen, woher sie von ihrer Traurigkeit weiß, oder ihre Selbstzuschreibung anzuzweifeln. Autorität und Unmittelbarkeit auf diese Weise in einen explanatorischen Zusammenhang zu stellen, heißt allerdings das Unverständliche durch das Rätselhafte zu erklären. Das liegt daran, dass nicht einzusehen ist, inwiefern Behauptungen, die nicht auf der Basis von Gründen zustandegekommen sind, überhaupt einen Anspruch auf Wahrheit, geschweige denn besondere Autorität genießen sollten. Eine Meinung, die ich nicht rechtfertigen kann, ist zumindest auf den ersten Blick eine schlechte Meinung. Der Verweis auf die Unmittelbarkeit, mit der mentale Zustände vom Standpunkt der ersten Person zugeschrieben werden, eignet sich demnach nicht zur Erklärung der Autorität, die solchen Zuschreibungen beigemessen wird – sie ist Teil des Problems, indem nicht klar ist, inwiefern überhaupt von Wissen über die eigenen mentalen Zustände die Rede sein kann. Das Problem, das sich auf diese Weise mit dem Wissen von unseren eigenen mentalen Zuständen aus der



Das Problem 

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Perspektive der ersten Person verbindet, betrifft die Erklärung der folgenden Thesen: 1. Aus der Perspektive der ersten Person wissen wir von unseren gegenwärtig vorliegenden mentalen Zuständen auf eine Weise, die sich insofern von dem Wissen unterscheidet, das uns aus der Perspektive der dritten Person zur Verfügung steht, als das Wissen, das uns aus der Perspektive der ersten Person zur Verfügung steht, in dem Sinne ohne Rückgriff auf Gründe zustande kommt, dass es sich nicht auf Beobachtungen von Verhalten und eventuelle Schlußfolgerungen aus diesen Beobachtungen stützt. 2. Sprachliche Zuschreibungen mentaler Zustände vom Standpunkt der ersten Person im Tempus Präsens genießen eine besondere Autorität, verglichen mit Zuschreibungen mentaler Zustände vom Standpunkt der dritten Person. Im Zusammenhang mit (1) werde ich vom Rechtfertigungsproblem sprechen, im Zusammenhang mit (2) vom Autoritätsproblem. Ich möchte nicht bestreiten, dass beide Probleme eng miteinander zusammenhängen, allerdings glaube ich, dass es sinnvoll ist, sie getrennt voneinander zu betrachten. Während (2) eine These über Sprache, bzw. über Behauptungen, die von Sprechern gemacht werden, ist, handelt es sich bei (1) um eine epistemische These. Im Zusammenhang mit (1), dem Rechtfertigungsproblem, leuchtet es zwar nicht ein, inwiefern es einen interessanten Unterschied zwischen der epistemischen Ebene und der Ebene der Sprache geben sollte: Wenn ich aus der Perspektive der ersten Person von mentalen Zuständen weiß, ohne dass sich dieses Wissen auf Gründe stützt, dann werde ich mir diese mentalen Zustände auch ohne Rekurs auf Gründe zuschreiben können;96 umgekehrt müsste ein Ansatz, der erklären kann, inwiefern ich mir vom Standpunkt der ersten Person mentale Zustände zuschreiben kann, ohne auf Gründe zu rekurrieren, implizit voraussetzen, dass ich in so einer Situation auch weiß, dass ich mich in den betreffenden mentalen Zuständen befinde, auch wenn ich sie mir ohne Rekurs auf Gründe zugeschrieben habe. Im Hinblick auf (2), die These, dass unsere sprachlichen Zuschreibungen des Mentalen eine besondere Autorität genießen, ist es allerdings problematischer, ein epistemisches Gegenstück zu fomulieren. Das liegt daran, dass es, wie weiter unten zu sehen sein wird, Positionen gibt, die das Problem des Wissens

96 Hier und im Folgenden meine ich selbstverständlich eine zutreffende sprachliche Selbstzuschreibung, d.h. eine Zuschreibung, die Audruck von Wissen ist, das ich von einem eigenen mentalen Zustand habe. Damit soll wiederum nicht bestritten werden, dass es im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände auch zu Fällen von Irrtum, d.h nicht zutreffenden Selbstzuschreibungen solcher Zustände kommen kann.

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 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen

von den eigenen mentalen Zuständen ausschließlich im Bereich der sprachlichen Zuschreibungen ansiedeln und mindestens neutral im Hinblick auf etwaige epistemische Konsequenzen bleiben. Anders ausgedrückt: Es besteht die theoretische Option, der Auffassung zu sein, dass sprachliche Zuschreibungen mentaler Zustände vom Standpunkt der ersten Person eine besondere Autorität genießen, ohne gleichzeitig die These zu vertreten, dass dies daran liegt, dass wir in einem besonderen epistemischen Verhältnis zu den eigenen mentalen Zuständen stehen, wenn wir diesen Standpunkt einnehmen. Diese Präzisierung im Hinterkopf, werde ich im Rahmen der Formulierung der folgenden Rekonstruktion – außer dort, wo es explizit notwendig ist – keinen Unterschied zwischen der Ebene der sprachlichen Zuschreibung und der epi­ stemischen Ebene machen. Im folgenden soll also gelten, dass eine Person sich genau dann auf zutreffende Weise einen mentalen Zustand selbst zuschreibt, wenn sie Wissen von diesem mentalen Zustand hat. Für die Selbstzuschreibung eines mentalen Zustandes im Tempus Präsens, die auf die für die Perspektive der ersten Person charakteristische Weise erfolgt, d.h. die Aspekte der Unmittelbarkeit und der Autorität aufweist, werde ich den Terminus erstpersonale Zuschreibung verwenden. Für Selbstzuschreibungen mentaler Zustände, für die dies nicht gilt, d.h. für Selbstzuschreibungen aus der Perspektive der dritten Person, werde ich den Terminus drittpersonale Zuschreibungen verwenden. Die Klasse der Zuschreibungen von mentalen Zuständen wird schließlich durch Fremdzuschreibungen komplettiert, die wie drittpersonale Zuschreibungen vom Standpunkt der dritten Person erfolgen, bei denen aber keine Identität zwischen der Person, der ein mentaler Zustand zugeschrieben wird, und der zuschreibenden Person besteht. Eine Person, die sich einen gegenwärtig vorliegenden mentalen Zustand erstpersonal zuschreibt, hat erstpersonales Wissen von diesem mentalen Zustand. Eine Person, die von einem gegenwärtig vorliegenden mentalen Zustand auf erstpersonale Weise weiß, hat eine wahre Meinung über diesen mentalen Zustand, die sich als eine erstpersonale Einstellung zweiter Stufe verstehen lässt, deren Inhalt eine Einstellung erster Stufe ist. Entsprechendes soll für den Zusammenhang von drittpersonalen Zuschreibungen, drittpersonalem Wissen und drittpersonalen Einstellungen zweiter Stufe gelten. Die Herangehensweise an diese Fragen, die ich stark machen möchte, macht darauf aufmerksam, dass das in (1) angesprochene Verhältnis sich nicht hinreichend dadurch charakterisieren lässt, dass man es im Sinne einer konventionellen Wissensanalyse zu bestimmen versucht. Die im Rahmen dieses Teils der Arbeit zu explizierende These geht davon aus, dass ich zu meinen Einstellungen erster Stufe nicht nur in einem epistemischen Verhältnis stehe, sondern darüber hinaus in einem davon unterschiedenen Verhältnis, das zudem hilfreich dabei ist, das epistemische Verhältnis, in dem ich zu meinen Einstellungen erster Stufe



Das Problem 

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stehe, zu verstehen. Wie dieses alternative Verhältnis, in dem ich zu meinen Einstellungen stehe, wenn ich sie auf erstpersonale Weise zuschreiben kann, genauer zu verstehen ist, soll anhand der kritischen Rekonstruktion der Theorien von Richard Moran und Tyler Burge gezeigt werden. Bevor ich dazu übergehe, möchte ich allerdings mögliche Alternativreaktionen auf die Herausforderung von (1) und (2) skizzieren. Meine Motivation besteht dabei zum einen darin, die zentrale Einsicht der von mir bevorzugten Ansätze deutlicher abzugrenzen, und zum anderen darin, eine Idee davon zu gewinnen, wie eine Position beschaffen sein müsste, die in dem Sinn kompatibel mit Parfits Theorie der personalen Identität ist, als sie die Perspektive der ersten Person unberücksichtigt lässt. Erinnern wir uns an einige der Ergebnisse der Parfit-Rekonstruktion des vorangegangenen Kapitels. Wie dort zu sehen war, ist Parfit auf eine Auffassung des Mentalen festgelegt, die mindestens die folgenden drei miteianander zusammenhängenden Merkmale aufweist: Zum einen muss die Beschreibung eines mentalen Zustands im Rahmen seiner Theorie so ausfallen, dass die Tatsache, dass ich mich in einem mentalen Zustand befinde, nicht automatisch impliziert, dass es sich dabei um meinen mentalen Zustand handelt. Zum anderen – und weitaus wichtiger – muss die Relation, in der ich zu meinen mentalen Zuständen stehe, im Rahmen von Parfits Theorie als eine kontingente Relation verstanden werden; dies ist darin begründet, dass ansonsten nicht einzusehen wäre, wie die im Rahmen von Parfits Gedankenexperimenten standardmässig eingesetzte Idee verstanden werden soll, nach der es möglich ist, dass eine von mir unterschiedene Person in demselben epistemischen Verhältnis zu meinen mentalen Zuständen stehen kann wie ich, sobald ihr diese mentalen Zustände ‘verpflanzt’ werden. Drittens müssen meine mentale Zustände als isolierte oder zumindest voneinander isolierbare Vorkommnisse des mentalen Haushaltes von Personen betrachtet werden; anders ist nicht zu vestehen, was es beispielsweise heißen soll, dass Jane eine Quasi-Erinnerung an eine Erfahrung hat, die Paul in Venedig gemacht hat. Das Bild des Mentalen, das auf diese Weise im Hintergrund der Argumentation von Parfit zu stehen scheint, deckt sich mit der Auffassung des Mentalen einer bestimmten Position, die man im Hinblick auf das oben formulierte Rechtfertigungsproblem vertreten kann. Es handelt sich um das sog. Beobachtungsmodell des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen.97 Im folgenden Abschnitt soll es mir darum gehen, dieses Modell zu skizzieren, sowie kursorisch auf diejenigen Alternativen zum Beobachtungsmodell aufmerksam zu machen, die meiner

97 Die Annäherung der Theorie von Parfit an das Beobachtungsmodell ist weder originell noch überraschend. Immerhin handelt es sich bei dem klassischen Vertreter des Beobachtungsmodells um Locke, an dessen Theorie personaler Identität Parfits Ansatz modelliert ist.

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Ansicht nach zwar darin Recht haben, dass sie das Beobachtungsmodell ablehnen, dennoch aber in bestimmter Hinsicht den zentralen Aspekt dessen, was es heißt, die Perspektive der ersten Person auf die eigenen mentalen Zustände einzunehmen, nicht erfassen.

5.2 Das Beobachtungsmodell und alternative Vorschläge Eine der philosophiehistorisch wichtigsten Reaktionen auf das Rechtfertigungsproblem besteht darin, die Annahme aufzugeben, dass die betreffenden mentalen Zustände nicht beobachtet werden.98 Ein solches Vorgehen wird von der Überlegung motiviert, dass die Weise, wie ich von meinen eigenen mentalen Zuständen weiß, wenn ich ihnen gegenüber den Standpunkt der ersten Person einnehme, analog zum Fall der gewöhnlichen Wahrnehmung von Objekten der Außenwelt modelliert werden muss. Den Vertretern eines solchen ‘Wahrnehmungs-’ oder ‘Beobachtungsmodells’ unseres Wissens von den eigenen mentalen Zuständen zufolge besteht die Analogie zwischen den beiden Fällen von Wissen auf zweierlei Weise: Zum einen kann in beiden Fällen auf die Existenzunabhängigkeit zwischen dem, was gewußt wird, und dem Wissen davon, verwiesen werden: Ebenso wie ein Tisch unabhängig von seiner Wahrnehmung durch mich existiert, scheint für mentale Zustände zu gelten, dass ich mich in einem mentalen Zustand befinden kann, unabhängig davon, dass ich erstpersonales Wissen davon habe, in diesem mentalen Zustand zu sein. Aus der Tatsache, dass ich den Wunsch habe, ein Eis zu essen, folgt zumindest logisch nicht, dass ich auch erstpersonal

98 Eine Position, die ich in der Folge komplett übergehen werde, hat in der Philosophiegeschichte eine wohl noch wichtigere Rolle gespielt als der Ansatz, den ich als das Beobachtungsmodell bezeichne – der Ansatz von Descartes, demzufolge wir in einem Verhältnis zu unserem Mentalen stehen, das epistemisch und metaphysisch direkt ist, und dafür sorgt, dass wir uns nicht in der Frage täuschen können, was wir denken. Auch wenn man dafür argumentieren kann, das Descartes’ Theorie den philosophischen Grundstein dessen darstellt, was man mit der Perspektive der ersten Person meinen kann, glaube ich, dass es legitim ist, diese Theorie im Rahmen dieser Arbeit zu vernachlässigen. Zum einen ist der Cartesianische Ansatz im Verlaufe der Philosophiegeschichte von verschiedenen Seiten mit umfassender Kritik konfrontiert worden – man denke etwa nur an Wittgensteins Bedenken hinsichtlich der Möglichkeit von Privatsprachen. Zum anderen werden im Rahmen von Ansätzen, die im Ergebnis auf eine cartesianisch orientierte Position hinauslaufen, in der Regel Aspekte des Mentalen thematisiert, die weder meine Argumentation noch die Theorien personaler Identität betreffen, die den Gegenstand der vorliegenden Arbeit darstellen. (Vgl. etwa den Ansatz zum Wissen von den eigenen phänomenalen Zuständen in Chalmers (2003); die wohl bekannteste Version eines cartesianisch inspirierten Ansatzes in der Debatte um ‘Self-Knowledge’ findet sich in Chisholm (1981)).



Das Beobachtungsmodell und alternative Vorschläge 

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weiß, dass ich den Wunsch habe, ein Eis zu essen. Mein erstpersonales Wissen davon, dass ich mich in einem bestimmten mentalen Zustand befinde, so die Vertreter des Beobachtungsmodells,99 stellt eine kontingente Tatsache dar, indem zwischen der erstpersonalen Einstellung zweiter Stufe und der entsprechenden Einstellung erster Stufe lediglich eine kausale Verbindung vorliegt. Zum anderen ist es gerade die weiter oben erwähnte Komponente der Unmittelbarkeit, mit der mentale Zustände auf erstpersonale Weise zugeschrieben werden, die aus der Sicht der Vertreter des Beobachtungsmodells eine analoge Behandlung dieses Falls und des Falls der gewöhnlichen Wahrnehmung nahelegt. Denn dass vor mir ein Tisch steht, weiß ich auf eine Weise, die ebenso nicht-inferentiell ist, wie die Weise, mit der ich von meinem Wunsch, ein Eis zu essen, auf erstpersonale Weise weiß: Ebenso wie im ersteren Fall muss ich im letzteren Fall die kausale Verbindung, die zwischen dem, was ich wahrnehme, und meiner Wahrnehmung vorliegt, nicht kennen, um Wissen von dem Wahrgenommenen zu haben. Ein solches Vorgehen macht es allerdings nötig zu spezifizieren, inwiefern es sich im Fall meiner eigenen mentalen Zustände um etwas handelt, das von mir auf eine ähnliche Weise wahrgenommen werden kann wie ein Tisch. Sinneswahrnehmung kann immerhin keine Rolle spielen, wenn ich auf erstpersonale Weise weiß, dass ich der Meinung bin, dass Rom die Hauptstadt von Italien ist oder die Absicht habe, morgen Tennis zu spielen. Ein Problem dieser Art mag die Einführung eines Begriffs motiviert haben, der die traditionelle Diskussion um das Wissen von eigenen mentalen Zuständen seit Locke bestimmt hat – des Begriffs eines ‘inneren Sinns’. Unter Rekurs auf das Vermögen, das er bezeichnet, wird es möglich, eine Antwort als Reaktion auf (1) zu geben, die an den epistemischen Bedingungen unseres Zugangs zu Objekten unserer Umgebung modelliert ist. Akzeptiert man diese Antwort, so scheint auch einer angemessenen Behandlung von (2) nichts mehr im Wege zu stehen: Der Mechanismus des ‘inneren Sinns’ bringt es mit sich, dass nur ich meine eigenen mentalen Zustände

99 Die wichtigste zeitgenössische Version des Beobachtungsmodells findet sich in den Arbeiten in Armstrong (1981). Armstrongs Auffassung nach besteht das Wissen, das wir von den eigenen mentalen Zuständen haben, in einem ‘self-scanning process’ des Gehirns, der in einem höherstufigem Gewahrsein eines tieferstufigen Gehirnzustandes besteht. Armstrong zufolge muss es sich bei dem Verhältnis zwischen dem ‘scannenden’ und dem ‘gescannten’ Zustand um ein kontingentes bzw. kausales Verhältnis handeln; auf diese Weise wird es mir möglich sein, Zustände von Personen wahrzunehmen, die von mir unterschieden sind, sobald meine ‘Scan-Fähigkeiten’ auf angemessene Weise mit ihren tieferstufigen Gehirnzuständen verknüpft werden. Es ist leicht zu sehen, dass diese Auffassung ganz auf der Linie dessen liegt, was ich weiter oben als die Merkmale der Auffassung vom Mentalen bestimmt habe, wie sie von Parfits Theorie impliziert wird. Für eine weitere moderne Version des Bobachtungsmodells vgl. Lycan (1996).

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auf eine Weise ‘wahrnehmen’ kann, die für erstpersonales Wissen notwendig und hinreichend ist, und insofern werden meine erstpersonalen Zuschreibungen eine Autorität genießen, die Fremdzuschreibungen dieser mentalen Zustände nicht zukommt. Das Beobachtungsmodell hat demzufolge alle Vorteile, die man von einer Theorie, die auf (1) und (2) reagieren soll, erwartet. Der Nachteil dieses Modells ist, dass es falsch ist. Viele der seit Wittgenstein vertretenen Positionen zum Thema des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen bemühen sich zu zeigen, warum dieses Urteil zutrifft.100 An dieser Stelle geht es mir allerdings nicht darum, die einzelnen Argumente, die man gegen das Beobachtungsmodell ins Feld führen kann, systematisch nachzuvollziehen.101 Dieses Vorgehen mag überraschen. Habe ich nicht weiter oben behauptet, dass im Hintergrund von Parfits Theorie Annahmen stehen, die sich mit der Kernauffassung des Beobachtungsmodells decken? Und wäre es insofern nicht wichtig, eine möglichst erschöpfende Rekonstruktion der Argumente, die gegen das Beobachtungsmodell sprechen, vorzulegen, um auf die Schwächen von Parfits Theorie hinzuweisen? Ein solches Vorgehen mag tatsächlich seinen philosophischen Reiz haben, allerdings halte ich es an dieser Stelle meiner Argumentation nicht für besonders fruchtbar. Würde man auf die Probleme hinweisen, die sich mit dem Beobachtungsmodell verbinden, wäre alles, was man im Hinblick auf Parfits Theorie gewonnen hätte, dass man der im vorangegangenen Kapitel formulierten Liste von Problemen, die sich mit Parfits Theorie verbinden, ein weiteres Problem hinzufügt. Es geht mir an dieser Stelle aber längst nicht mehr nur darum, zu zeigen, was mit Parfits Theorie nicht stimmen kann. Die Überlegungen des vorliegenden Kapitels sollen stattdessen einen ersten Schritt zu einer positiven Bestimmung einer Alternativposition zu psychologischen Theorien personaler Identität darstellen. Die Ablehnung des Beobachtungsmodells stellt dabei einen notwendigen, aber nicht hinreichenden Aspekt dessen dar, was als eine Interpretation des Lebens von Personen betrachtet werden kann, die der genuin erstpersonalen Dimension personalen Lebens gerecht wird. Das liegt daran, dass man Argumente gegen das Beobachtungsmodell ins Feld führen und zugleich als positive Bestimmung eine Antwort auf das Rechtfertigungs- bzw. das Autoritätsproblem formulieren kann, die entscheidende Aspekte erstpersonalen Selbstbezugs außen vor lässt. So bietet sich als Alternative zum Beobachtungsmodell eine

100 Für eine ausführliche Behandlung von Argumenten gegen das Beobachtungsmodell vgl. etwa Shoemaker (1994), 201ff. 101 Ein wichtiges Argument gegen das Beobachtungsmodell wird allerdings weiter unten im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Position von Burge zum Thema werden (vgl. S. 90ff.).



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ganze Reihe von Theorien des Wissen von den eigenen mentalen Zuständen an, die aus ihrer Kritik am Beobachtungsmodell Schlüsse ziehen, welche ihrerseits entweder darauf hinauslaufen, dass das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person eigentlich nur eine Weise ist, den Standpunkt der dritten Person einzunehmen; dazu führen, dass ich von meinen eigenen mentalen Zuständen weniger wissen kann als andere Personen; oder sich aber darin erschöpfen, dass meine Zuschreibungen des Mentalen in Kommunikationssituationen von meinen Kommunikationspartnern standardmässig für wahr gehalten werden. Wie solche Theorien, von denen ich glaube, dass sie in ihrer Interpretation des Standpunkts der ersten Person auf jeweils spezifische Weise nicht weit genug gehen, beschaffen sind, möchte ich im Folgenden in drei Schritten andeuten. (i) Die erste mögliche Alternative zum Beobachtungsmodell besteht darin, dass man das Phänomen des erstpersonalen Wissens einzufangen versucht, indem man es am Fall von Fremdzuschreibungen modelliert. Hier kann die These vertreten werden, dass wir im Fall unserer eigenen mentalen Zustände ebenso auf Beobachtungen von Verhalten und Schlußfolgerungen aus diesen Beobachtungen angewiesen sind wie im Fall des Wissens, das wir von den mentalen Zuständen anderer Personen haben – im Fall unserer eigenen mentalen Zustände sind wir lediglich in einer günstigeren Position, diese Beobachtungen anzustellen.102 Als eine Reaktion auf das Rechtfertigungsproblem konstruiert ein solches Modell das Verhältnis zwischen der erstpersonalen Einstellung zweiter Stufe und der entsprechenden Einstellung erster Stufe – ähnlich wie das Beobachtungsmodell – im Sinne einer kontingenten, kausalen Verbindung. Der Nachteil dieses Modells besteht darin, dass es sowohl das Rechtfertigungsproblem als auch das Autoritätsproblem nicht im eigentlichen Sinne löst, indem es sowohl die Besonderheit unseres Zugangs zu den eigenen mentalen Zuständen als auch die damit verbundene Autorität, verstanden als grundsätzliche epistemische Asymmetrie, einfach in Frage stellt. Der ‘epistemische Vorsprung’, den ich hinsichtlich meiner eigenen mentalen Zustände gegenüber einer von mir unterschiedenen Person habe, ist diesem Modell zufolge lediglich gradueller Natur. Das hat zur Folge, dass alle erstpersonalen Zuschreibungen als drittpersonale Zuschreibungen verstanden werden, so dass die zu explizierende Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten und der Perspektive der dritten Person nicht erklärt, sondern schlicht bestritten wird.

102 Vgl. etwa Ryle (1949), 155: „The sort of things that I can find out about myself are the same as the sort of things that I can find out about other people, and the methods of finding them out are much the same.“

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 Wissen von den eigenen mentalen Zuständen

(ii) Auch andere Alternativen zum Beobachtungsmodell haben zur Folge, dass ein Teil des ursprünglichen Problems, wie ich es weiter oben formuliert habe, aus dem Blick gerät. Dies betrifft insbesondere den kognitiven Status von erstpersonalen Zuschreibungen, die auf verschiedene Weise nicht im Sinne eines genuinen Ausdrucks des Wissens über die Einstellungen, auf die sie sich beziehen, verstanden werden. So kann geltend gemacht werden, dass gerade weil für unseren Zugang zu den eigenen mentalen Zuständen aus der Perspektive der ersten Person die Komponente der Unmittelbarkeit charakteristisch ist, d.h. weil wir zu erstpersonalen Zuschreibungen mentaler Zustände nicht auf der Basis von Gründen gelangen, diese Zuschreibungen nicht im Sinne eines ‘substantiellen Wissens’ verstanden werden dürfen.103 Zum anderen kann die These vertreten werden, dass es sich bei der erstpersonalen Zuschreibung eines mentalen Zustandes lediglich um den Ausdruck des mentalen Zustands selbst handelt.104 Der kognitive Status einer Behauptung wie ‘Ich glaube, dass es draußen regnet’ würde einem solchen Ansatz zufolge entsprechend dem kognitiven Status einer Schmerzäußerung interpretiert werden müssen, die als nicht propositional verfasst und nicht wahrheitswertfähig aufgefasst wird. Anstatt das Verhältnis zwischen erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe und den Einstellungen, auf die sie sich beziehen, im Sinne einer Lösung des Rechtfertigungsproblems zu bestimmen, bestreiten solche Theorien, dass erstpersonale Einstellungen zweiter Stufe überhaupt vorliegen. Das hat zur Folge, dass Personen von den eigenen mentalen Zuständen aus der Perspektive der ersten Person überhaupt nicht wissen können, während dies in allen anderen Fällen möglich ist. Wie unbefriedigend diese Konsequenz ist, lässt sich am besten erkennen, wenn man Fälle betrachtet, in denen aus einer drittpersonalen Einstellung zweiter Stufe eine erstpersonale Einstellung zweiter Stufe oder umgekehrt wird: Von einem Patienten, der im Rahmen einer psychoanalytischen Therapie von einem seiner unterdrückten Wünsche Wissen erlangt hat, müsste man sagen, dass er aufhört, Wissen von diesem Wunsch zu haben, sobald er ihn auf eine Weise internalisiert, die unmittelbaren Zugriff auf diesen Wunsch erlaubt. Im umgekehrten Fall, in dem ich beispielsweise aufgrund der Lektüre meines Tagebuchs zu der Einsicht gelange, dass ich vor fünf Jahren Tsunami-Wellen für ungefährlich hielt, müsste man sagen, dass ich jetzt, da ich zu dieser Einsicht gelangt bin, Wissen von einer meiner vergangenen Meinungen habe, während ich von dieser Meinung zu dem Zeitpunkt, als ich sie noch hatte, nicht wusste.

103 Vgl. Boghossian (1989). 104 Eine solche expressivistische Position wird in der Regel Wittgenstein zugeschrieben, wobei nicht klar ist, ob diese Zuschreibung eine philosophiehistorische Berechtigung hat. Ein ‘neoexpressivistischer’ Ansatz findet sich in Bar-On/Long (2001).



Das Beobachtungsmodell und alternative Vorschläge 

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(iii) Der dritte Theorietyp, der in Abgrenzung zum Beobachtungsmodell vertreten werden kann, situiert das Problem, das sich mit der Frage nach unserem Verhältnis zu den eigenen mentalen Zuständen verbindet, explizit im Kontext der Praxis der Selbstzuschreibung mentaler Zustände durch einen Sprecher und ihrer Auffassung als autoritative Zuschreibungen durch einen Interpreten. Davidson zufolge reduziert sich beispielsweise die Autorität, welche die erstpersonale Zuschreibung eines mentalen Zustandes durch einen Sprecher hat, auf die Tatsache, dass der Sprecher weiß, was er meint, wenn er sich z.B. eine Meinung zuschreibt. Dieses Wissen wird als eine Bedingung für die Interpretierbarkeit des Sprechers verstanden, die wiederum als eine Bedingung dafür aufgefasst wird, dass der Sprecher überhaupt etwas meint, wenn er sich eine Meinung auf erstpersonale Weise zuschreibt. Anders gesagt: Die epistemischen Randbedingungen der Kommunikationssituation bringen es mit sich, dass zwischen der erstpersonalen Zuschreibung eines mentalen Zustandes und diesem mentalen Zustand selbst der folgende begriffliche Zusammenhang vorliegt: Wenn ein Sprecher sich in einem mentalen Zustand befindet (z.B. wenn er etwas meint), dann weiß er auch, dass er sich in diesem mentalen Zustand befindet (z.B. weiß er, was er meint).105 Die Überzeugung, dass sich die Frage nach der Autorität, mit der Sprecher sich Einstellungen zuschreiben, nicht mit Rekurs auf eine besondere Weise, von diesen Einstellungen zu wissen, explizieren lässt, teilt ein solcher Ansatz mit einem davon unterschiedenen Versuch, einen engen Zusammenhang zwischen erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe und den entsprechenden Einstellungen erster Stufe herzustellen. Konstitutivistischen Ansätzen zufolge stellt die Tatsache, dass ich Wissen davon habe, mich in einem bestimmten mentalen Zustand zu befinden, sowohl eine notwendige als auch eine hinreichende Bedingung dafür dar, dass ich mich tatsächlich in diesem mentalen Zustand befinde. Dieser bikonditionale Zusammenhang wiederum kann im Rahmen von konstitutivistischen Ansätzen als ein soziales Zugeständnis interpretiert werden, das wir implizit all den Personen gegenüber machen, die wir als rationale Subjekte ernst nehmen.106 Die Gemeinsamkeit der an dieser Stelle thematisierten Ansätze besteht darin, dass sie – im Gegensatz zu dem Theorietyp, den ich unter (i) skizziert habe – zwar davon ausgehen, dass es zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person einen nicht-graduellen Unterschied gibt, aber – ähnlich wie die Theorien, die ich unter (ii) angeführt habe – Zweifel daran anmelden, dass das Einnehmen der Perspektive der ersten Person bezüglich der eigenen mentalen Zustände eine echte kognitive Leistung darstellt.

105 Vgl. Davidson (1987). 106 Vgl. Wright (1989).

6 Der Standpunkt des rationalen Akteurs Sowohl Burge als auch Moran teilen zwar mit den Theorien, wie ich sie unter (i)‒(iii) skizziert habe, die Ablehnung des Beobachtungsmodells, gleichzeitig lehnen sie aber die positive Bestimmung des Standpunkts der ersten Person, wie sie von diesen Theorien vorgenommen wird, mehr oder weniger explizit ab.107 Im Folgenden soll es mir wiederum nicht darum gehen, welche Gründe man im Einzelnen gegen Theorien vorbringen kann, wie sie unter (i)‒(iii) dargestellt wurden; mein Ziel besteht stattdessen darin, bestimmte Aspekte der positiven Ausführungen von Moran und Burge zu rekonstruieren, um, wie ich glaube, entscheidende Aspekte der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person herauszuarbeiten, die weder im Rahmen des Beobachtungsmodells noch im Rahmen der unter (i)‒(iii) erwähnten Theorien erfasst werden können. Beide Ansätze gehen von der Überzeugung aus, dass sich das Verhältnis zwischen Personen und den mentalen Zuständen, in denen sie sich befinden, nicht darin erschöpft, dass von den mentalen Zuständen auf eine spezielle Weise gewußt wird oder dass den Selbstzuschreibungen dieser mentalen Zustände besondere Autorität zukommt. In gewisser Hinsicht lassen sich die Ansätze von Moran und Burge deshalb auch als Versuche verstehen, meine beiden Ausgangsprobleme – das Rechtfertigungsproblem und das Autoritätsproblem – um eine weitere Dimension zu ergänzen, indem man die allgemeinere Frage danach stellt, in welchem Verhältnis wir zu unseren eigenen mentalen Zuständen stehen, wenn wir ihnen gegenüber die Perspektive der ersten Person einnehmen. Diese Frage ist insofern allgemeiner, als sie eine Antwort erlaubt, nach der sich das Verhältnis, in dem Personen zu ihren mentalen Zuständen stehen, wenn sie die Perspektive der ersten Person einnehmen, nicht in einem – wie auch immer speziell gearteteten – epistemischen Verhältnis erschöpft.108 Obwohl sich beide Autoren in den

107 So befassen sich etwa weite Teile von Moran (2001) mit der Widerlegung von Boghossians These, erstpersonales Wissen sei nicht substantiell, von Wrights Modell der ‘social concessions’ und von expressivistischen Ansätzen; vgl. Moran (2001), 16ff., 22ff. und 70ff. 108 Aus diesem Grund halte ich auch mein Vorgehen im Rahmen dieses Teils der vorliegenden Arbeit für legitim; immerhin mag man die kritische Nachfrage stellen, weshalb ich mich ausgerechnet mit den Theorien von Moran und Burge ausführlicher beschäftige, wo doch die Debatte um ‘Self-Knowledge’ eine ganze Armada an Positionen aufzubieten hat. Im Zusammenhang mit dem Thema der vorliegenden Arbeit, d.h. mit Rücksicht auf die Frage nach der Identität von Personen, kommt es mir allerdings gerade auf die Aspekte des Standpunkts der ersten Person an, die von Moran und Burge in den Vordergrund gerückt werden, und weniger auf eine angemessene und erschöpfende Lösung der epistemischen Probleme, die den Ausgangspunkt beider



Der deliberative Standpunkt (Moran) 

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Details ihrer Argumentation zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, eint sie die Überzeugung, dass das Verhältnis, in dem Personen zu den eigenen mentalen Zuständen stehen, ‘aktiver’ als in den hergebrachten Ansätzen konstruiert werden muss, um den Besonderheiten des Standpunkts der ersten Person gerecht zu werden. Wenn wir den Standpunkt der ersten Person gegenüber unseren mentalen Zuständen einnehmen, so die Kernidee, dann haben wir mehr zu tun, als lediglich die Zustände, in denen wir uns befinden, zu registrieren oder auszudrücken.109 Wie dieses ‘Aktivsein’ hinsichtlich der eigenen mentalen Zustände zu verstehen ist, stellt einen entscheidenden Schritt in der argumentativen Struktur dieser Arbeit dar und wird mich in diesem und dem folgenden Kapitel beschäftigen.

6.1 Der deliberative Standpunkt (Moran) Morans Grundidee lässt sich in einem ersten Schritt folgendermaßen formulieren: Von bestimmten Einstellungen habe ich erstpersonales Wissen, indem ich an der Entstehung dieser Einstellungen beteiligt bin; danach gefragt, welcher Meinung ich bin oder welche Absicht ich habe, muss ich im Gegensatz zu dem Fall, in dem ich herauszufinden versuche, welcher Meinung eine von mir unterschiedene Person ist oder welche Absicht sie hat, keine besonderen Anstrengungen unternehmen, weil es an mir ist, mich auf die eine oder andere Einstellung festzulegen. Anders gesagt: Meine mentalen Einstellungen sind in dem Sinne „up to me,“110 dass ich ihnen gegenüber einen deliberativen Standpunkt einnehme. Wie lässt sich die Behauptung verstehen, es sei ‘an mir’, in welchem mentalen

Ansätze darstellen. Anders gesagt: Selbst wenn Moran und Burge darin scheitern sollten, im Rahmen ihrer Ansätze auf befriedigende Weise mit dem Rechtfertigungsproblem und dem Autoritätsproblem fertig zu werden, lässt sich immer noch daran festhalten, dass sie Recht damit haben, dass das Verhältnis, in dem wir zu unseren eigenen mentalen Zuständen stehen, wenn wir ihnen gegenüber den Standpunkt der ersten Person einnehmen, nicht lediglich ein epistemisches Verhältnis ist. Sie hätten in diesem Fall das ‘Thema verfehlt’, solange es um die Frage nach Rechtfertigung und Autorität geht, aber es ließe sich immer noch argumentieren, dass sie zurecht darauf hinweisen, dass wir, abgesehen von epistemischen Problemen, in dem besonderen Verhältnis zu unseren eigenen mentalen Zuständen stehen können, das mich im weiteren Verlauf meiner Argumentation beschäftigen wird. 109 Vgl. etwa Moran (2001), 32: „The special features of first-person awareness cannot be understood by thinking of it purely in terms of epistemic access (whether quasi-perceptual or not) to a special realm to which only one person has entry. Rather, we must think of it in terms of the special responsibilities the person has in virtue of the mental life in question being his own.“ 110 Vgl. Moran (2001), 66ff.

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 Der Standpunkt des rationalen Akteurs

Zustand ich mich befinde? In diesem Zusammenhang ist Morans Interpretation davon, was es heißt, eine Einstellung auf erstpersonale Weise zuzuschreiben, von zentraler Bedeutung. Bislang war von der erstpersonalen Zuschreibung einer Einstellung als der für den Standpunkt der ersten Person charakteristischen Weise der Bezugnahme auf die eigenen mentalen Zustände die Rede, und diese wurde durch die erklärungsbedürftigen Phänomene der Unmittelbarkeit und Autorität charakterisiert. Moran stellt nun einen neuen, von den Phänomenen der Unmittelbarkeit und Autorität unabhängigen und insofern explanatorisch vielversprechenden Aspekt von erstpersonalen Zuschreibungen in den Vordergrund. Eine erstpersonale Zuschreibung wird von ihm als die Behauptung einer eigenen Einstellung definiert, welche die Transparenzbedingung erfüllt.111 Die Idee der Transparenz geht auf Wittgensteins gegen das Beobachtungsmodell des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen gerichtete Bemerkungen zurück und wurde von Evans folgendermaßen aufgegriffen: In making a self-ascription of belief, one’s eyes are, so to speak, or occasionally literally, directed outward – upon the world. If someone asks me „Do you think there is going to be a third world war?,“ I must attend, in answering him, to precisely the same outward phenomena as I would attend to if I were answering the question „Will there be a third world war?“112

Evans’ Formulierung bezieht sich auf den Spezialfall des erstpersonalen Wissens von einer Meinung. Dies ist zunächst auch die Weise, wie die Idee der Transparenz von Moran eingeführt wird. Inwiefern lässt sich sagen, dass die erstpersonale Zuschreibung einer Meinung, d.h. der Ausdruck einer erstpersonalen Einstellung zweiter Stufe, die Transparenzbedingung erfüllt? Die Metapher der Transparenz meint hier, dass die einen mentalen Zustand betreffende Frage danach, welcher Meinung ich bin, in denjenigen Fällen, in denen die Transparenzbedingung erfüllt ist, direkt auf die Frage danach verweist, wie es sich in der Welt verhält.113 Bei Erfüllung der Transparenzbedingung werden Fragen der ersten Sorte auf dieselbe Weise beantwortet wie Fragen der zweiten Sorte. Das gilt nicht für alle Fragen danach, ob eine Person einer bestimmten Meinung ist. Wenn ich wissen möchte, ob Marie der Meinung ist, dass es draußen regnet, werde ich sie beobachten müssen. Vielleicht sehe ich, dass sie vor dem

111 Moran (2001), 101: „An avowal is a statement of one’s belief which obeys the Transparency Condition.“ 112 Evans (1982), 255. 113 Vgl. Moran (2001), 62: „The claim, then, is that a first-person present-tense question about one’s belief is answered by reference to (or consideration of) the same reasons that would justify an answer to the corresponding question about the world.“



Der deliberative Standpunkt (Moran) 

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Rausgehen nach einem Regenschirm greift und ziehe daraus den Schluss, dass sie der Meinung ist, dass es draußen regnet. Oder ich rede mit ihr über das Wetter und gelange aufgrund dieses Gesprächs zu dem Schluß, dass sie glaubt, dass es draußen regnet. Meine Zuschreibung ‘Marie ist der Meinung, dass es draußen regnet’ erfüllt in diesen Fällen nicht die Transparenzbedingung, weil ich mich mit den Gründen beschäftige, die dafür sprechen, dass Marie sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, ohne dass der Gegenstand von Maries mentalem Zustand eine Rolle spielen würde. In meinem eigenen Fall dagegen ist die Transparenzbedingung erfüllt, wenn mein Wissen davon, dass ich der Meinung bin, dass es draußen regnet, auf der Grundlage von epistemischen Prozessen zustande kommt, die das Wetter draußen betreffen. Dass ich der Meinung bin, dass es draußen regnet, so die Überlegung, weiß ich, indem ich weiß, dass es draußen regnet. Mein Wissen davon, dass es draußen regnet, ist im Unterschied dazu völlig irrelevant für die Frage, ob Marie der Meinung ist, dass es draußen regnet, denn es kann sein, dass es zwar regnet, Marie aber keinesfalls der Meinung ist, dass es regnet, ganz einfach weil sie sich darin täuscht, dass es nicht regnet. Ebensowenig nützt mir das Wissen davon, dass es vor zwei Jahren geregnet hat, im Hinblick auf die Frage, ob ich vor zwei Jahren der Meinung war, dass es regnet. Auch hier kann es sein, dass ich zwar heute gute Gründe dafür habe, davon überzeugt sein, dass es vor zwei Jahren geregnet hat, während ich vor zwei Jahren die relevanten Gründe nicht gesehen habe und deshalb irrtümlicherweise davon ausgegangen war, dass es nicht regnet. Diese Auffassung von Transparenz scheint auf den ersten Blick die folgende Interpretation des Verhältnisses zwischen erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe und den entsprechenden Einstellungen erster Stufe nahezulegen: Für den Fall von erstpersonalem Wissen gilt unter epistemischen Normalbedingungen, dass ich eine Einstellung zweiter Stufe genau dann habe, wenn ich die entsprechende Einstellung erster Stufe habe. Oder für den Beispielfall der Meinung, dass es draußen regnet: ‘Ich glaube, dass es draußen regnet’ gdw. ‘Es regnet draußen’. Bei dieser Lesart würde man allerdings die Kernidee der Transparenz missverstehen.114 Die angedeutete Äquivalenzbeziehung zwischen meinen erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe und den entsprechenden Einstellungen erster Stufe

114 Zumindest würde man die Kernidee der Schlußfolgerung mißverstehen, die Moran aus dem Phänomen der Transparenz zieht. An dieser Stelle sollte allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass dies die einzige Weise ist, wie man das Phänomen der Transparenz interpretieren kann. Die weiter oben unter (iii) skizzierten konstitutivistischen Ansätze interpretieren Transparenz genau im Sinne eines bikonditionalen Zusammenhangs zwischen Einstellungen zweiter Stufe und Einstellungen erster Stufe. Für eine Theorie, die ganz andere Schlüsse aus Überlegungen zieht, welche Transparenz betreffen, vgl. Dretske (1994), wo die Auffassung verteidigt wird, dass

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 Der Standpunkt des rationalen Akteurs

darf nicht in dem Sinne verstanden werden, dass das Haben von erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe nichts anderes ist, als das Haben der entsprechenden Einstellungen erster Stufe. Einer solchen Interpretation zufolge würde die erstpersonale Zuschreibung ‘Ich glaube, dass es regnet’ keine erstpersonale Zuschreibung zweiter Stufe sein, sondern lediglich eine bestimmte Weise, die Meinung, dass es draußen regnet, auszudrücken. Und diese Interpretation würde wiederum zu einer expressivistischen Position führen, nach der es sich bei erstpersonalen Zuschreibungen im Gegensatz zu drittpersonalen Zuschreibungen oder Fremdzuschreibungen mentaler Zustände nicht um einen genuinen Ausdruck des Wissens über die eigenen mentalen Zustände handelt.115 Wie muss die oben formulierte Äquivalenzbeziehung interpretiert werden, wenn sie nicht im Sinne einer kriteriellen Reduktion von erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe auf die entsprechenden Einstellungen erster Stufe zu verstehen ist? An dieser Stelle kommt ein für den weiteren Verlauf meiner Argumentation entscheidender Gedanke von Moran ins Spiel: Den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände einzunehmen, erschöpft sich nicht in einer Relation zwischen Einstellungen unterschiedlicher Stufen. Stattdessen ist das relevante Verhältnis ein Verhältnis zwischen der Person, die sich in einem mentalen Zustand befindet, und diesem mentalen Zustand selbst.116 Die entscheidende Frage lautet also nicht, wie die Beziehung zwischen Einstellungen zweiter Stufe und Einstellungen erster Stufe zu verstehen ist, sondern in welcher Beziehung ich mich zu einer meiner Einstellungen erster Stufe befinde, wenn ich ihr gegenüber den Standpunkt der ersten Person einnehme. Bei dem Verhältnis, in dem ich zu meinen eigenen mentalen Zuständen stehe, wenn ich ihnen gegenüber die Perspektive der ersten Person einnehme, handelt es sich aber um ein rationales Verhältnis. Es ist nämlich durchaus möglich, dass ich in einer Situation bin, in der ich eine bestimmte Einstellung zweiter Stufe habe, ohne die entsprechende Einstellung erster Stufe zu haben. Im Fall von Wahrnehmungsmeinungen wie ‘Es regnet draußen’ würde es sich dabei um moore-paradoxe Äußerungen wie ‘Ich glaube, dass es draußen regnet, aber es regnet nicht’ handeln, von denen zumindest unklar ist, in welchem Ausmaß sie psychologisch tatsächlich möglich sind. Auch ist nicht klar, inwiefern sich im Hinblick auf Wahr-

wir zum Wissen über einen unserer mentalen Zustände gelangen, indem wir einen inferentiellen Schritt von der Wahrnehmung eines nicht-mentalen Gegenstands machen. 115 Ähnliche Bedenken im Hinblick auf den kognitiven Status von erstpersonalen Zuschreibungen betreffen Morans Ablehnung der Interpretation des oben formulierten Bikonditionals im Sinne eines begrifflichen Zusammenhangs, wie ihn etwa der Ansatz von Wright konstruiert; vgl. Moran (2001), 22ff. 116 Vgl. Moran (2001), 48ff.



Der deliberative Standpunkt (Moran) 

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nehmungsmeinungen Morans These verstehen lässt, dass eine Einstellung ‘up to me’ ist bzw. dass ich ihr gegenüber einen deliberativen Standpunkt einnehme, sobald ich sie mir auf erstpersonale Weise zuschreibe. An dieser Stelle möchte ich deshalb den Spezialfall von Wahrnehmungsmeinungen zurückstellen und mich zunächst Einstellungen einer anderen Sorte zuwenden.117 Angenommen, es geht nicht darum, ob es draußen regnet, sondern um die Frage danach, wer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. Wenn ich wissen möchte, welcher Meinung Marie im Hinblick auf diese Frage ist, werde ich ähnlich wie in dem Fall, in dem ich wissen möchte, ob Marie glaubt, dass es draußen regnet, einiges an Interpretationsaufwand betreiben müssen, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Dieser Aufwand ist in meinem eigenen Fall nicht nötig. Im Unterschied zu dem Fall, in dem ich mich frage, welcher Meinung Marie hinsichtlich dieser Frage ist, werde ich mich nicht beobachten oder befragen müssen (was auch immer das bedeuten sollte), werde keine meiner Aufzeichnungen konsultieren oder Bekannte danach befragen müssen, welche Meinungen ich in der Vergangenheit bezüglich der Güte von Tennisspielern von mir gegeben habe. Die Frage, welcher Meinung ich hinsichtlich der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten bin, ist in dem Sinne ‘up to me’, dass es an mir ist, mich darauf festzulegen, wen ich für den besten Tennisspieler aller Zeiten halte. Die Frage, welcher Meinung ich in diesem Zusammenhang bin, ist zunächst zwar eine Frage nach einer Einstellung erster Stufe, und ihre Beantwortung erfolgt

117 In diesem Zusammenhang kann man ganz grundsätzlich Zweifel daran anmelden, dass es Einstellungen gibt, die ‘up to me’ sind. Auch im Kontext der Beispiele, die ich im Folgenden diskutiere, ist es doch – so der Einwand – keineswegs völlig ‘an mir’ oder ‘in meiner Hand’, was ich glaube, denn immerhin muss ich Gründe abwägen, die für oder gegen etwas sprechen, und mich dann an diese Abwägung halten, indem ich eine entsprechende Meinung ausbilde. Diesem Einwand zufolge werden mir Einstellungen von deliberativen Prozessen ‘aufgezwungen’, so dass nicht die Rede davon sein kann, dass es ‘an mir’ gewesen ist, mich auf diese oder jene Einstellung festzulegen.      Ich denke, dass man einen solchen Einwand aus zwei Gründen nicht ernst nehmen muss: Zum einen ist völlig unklar, welches Verständnis von ‘an mir sein’ ihm zugrunde liegt. Das Einzige, was gemeint sein kann, ist wohl, dass es ‘an mir’ wäre, welche Einstellung ich habe, wenn ich mich völlig willkürlich auf diese oder jene Einstellung festlegen könnte. Eine solche dezisionistische Lesart von Deliberation ist aber nicht gerade plausibel (siehe auch die folgende Fußnote). Zum anderen kann die Angemessenheit der ‘up to me’-Formulierung mit dem Hinweis darauf verteidigt werden, dass es sich bei den Gründen, die ich abwägen werde, bevor ich mich auf eine Einstellung festlege, in einem emphatischen Sinne um meine Gründe handeln muss, wenn die ganze Prozedur tatsächlich im Sinne des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person verstanden werden soll. Was es heißt, dass Gründe im emphatischen Sinn meine Gründe sind, ist an dieser Stelle meiner Argumentation noch nicht klar; genau diese Frage beschäftigt mich aber weiter unten im Zusammenhang mit der Rekonstruktion der Position von Burge.

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durch die Formulierung einer Selbstzuschreibung, die Ausdruck einer Einstellung zweiter Stufe ist (etwa: ‘Ich glaube, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist.’) Beantwortet wird sie von mir allerdings nicht, indem ich mir Gedanken über meine Meinung als einen Bestandteil meines psychologischen Haushalts mache – d.h. ich frage mich nicht, welche Einstellung erster Stufe ich habe – sondern indem ich an den Gegenstand einer möglichen Einstellung erster Stufe, in diesem Fall also etwa an die verschiedenen Kandidaten für den Titel des besten Tennisspielers aller Zeiten denke. Insofern wird in diesem Fall die Transparenzbedingung erfüllt. Doch was passiert, wenn ich in diesem Sinne an die verschiedenen Protagonisten der Geschichte des Tennissports denke? Ich kann beispielsweiese daran denken, dass Roger Federer weitaus mehr Grand-Slam-Titel gewonnen hat als Björn Borg. Vielleicht denke ich, dass Björn Borg ästhetisch anspruchsvolleres Tennis gespielt hat als Federer. Möglicherweise ziehe ich in Betracht, dass Borg bereits im Alter von 26 Jahren seine Karriere beendet hat. Oder ich berücksichtige die Tatsache, dass Federer ein technischer Allrounder mit größerem strategischen Spielverständnis ist. Auf diese Weise wäge ich Gründe für die Meinung ab, dass ein bestimmter Spieler als der beste Tennisspieler aller Zeiten gelten kann. Manche Gründe werden einander entgegenstehen, so dass ich sie nach ihrer Wichtigkeit werde klassifizieren müssen. Manche Gründe werden mir unterwegs abhanden kommen, weil sie sich als Scheingründe herausstellen. Möglicherweise werde ich zusätzliche Informationen einholen müssen, vielleicht werde ich meine Prioritäten mehrmals ändern oder das Gewicht, das ich einzelnen Überlegungen verleihe, im Lichte neu erworbenen Wissens verändern. Wie auch immer man sich diesen Prozess genauer vorzustellen hat, so gilt doch, dass meine Meinung im Hinblick auf die Frage, wer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, nicht etwas ist, was ich lediglich passiv zu registrieren hätte. Ich mache mir eine Meinung, indem ich die verschiedenen Gründe für oder gegen die einzelnen Kandidaten betrachte und sie gegeneinander abwäge. In diesem Sinne kann es ‘up to me’ sein, zu welcher Meinung ich letzten Endes gelange.118

118 Es gibt allerdings einen noch stärkeren Sinn, in dem zutreffen kann, dass es ‘up to me’ ist, welcher Meinung ich bin, und dieser Sinn darf nicht mit der obigen Interpretation verwechselt werden. Gar nicht abwegig ist nämlich die Idee, dass ich in dem geschilderten Fall lange überlegen und Gründe abwägen werde, ohne zu einer endgültigen Meinung zu gelangen. Vielleicht werden sich mehrere Gründe gleichwertig gegenüberstehen, so dass ich mich hinter keinen bestimmten dieser Gründe stellen kann und unentschieden bleibe. Das ist nicht schlimm, solange ich mich durch nichts gezwungen glaube, mir eine endgültige Meinung in dieser Sache zu bilden. Wenn allerdings eine Situation entsteht, in der ich mich entscheiden muss, kann es dazu kommen, dass ich mich auf die Wahrheit einer Meinung festlege, ohne dass diese Festlegung



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Die Zuschreibung ‘Ich bin der Meinung, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist’ kann demnach als eine erstpersonale Zuschreibung gelten, wenn sie in dem Sinne auf der Grundlage der Beantwortung der deliberativen Frage ‘Was soll ich glauben?’ zustandegekommen ist, dass ich zu der entsprechenden Meinung auf dem Weg der Abwägung von Gründen gelangt bin. An dieser Stelle läßt sich die Redeweise vom ‘rationalen Verhältnis’, in dem ich zu meinen mentalen Einstellungen stehe, wenn ich ihnen gegenüber die Perspektive der ersten Person einnehme, besser verständlich machen. Wenn ich den Standpunkt der ersten Person einnehme, stehe ich unter der rationalen Anforderung, Einstellungen auf der Grundlage der Abwägung von Gründen auszubilden. Diese Anforderung kann insofern verletzt werden, als der Fall eintreten kann, dass ich zwar einen Abwägungsprozeß durchlaufen habe, der im Ergebnis die Wahrheit einer bestimmten Auffassung nahelegt, mich aber dennoch nicht dazu bringen kann, mich auf die Wahrheit dieser Auffassung festzulegen, indem ich die entsprechende Meinung ausbilde. So kann es zwar sein, dass die Gründe, die ich hinsichtlich der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten abgewogen habe, dafür sprechen werden, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, ich aber trotz der Einsicht in die Gültigkeit dieser Gründe die im Lichte meines Überlegensprozesses nicht gerechtfertigte Meinung haben werde, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. In so einem Fall werde ich daran scheitern, die Perspektive der ersten Person einzunehmen, indem ich die für diese Perspektive charakteristische Anforderung verletze, in dem Sinne Urheber meiner Einstellungen zu sein, dass ich mich auf sie festlege, weil ich denke, dass hinreichend gute Gründe dafür sprechen. Der Zustand, in dem ich mich befinde, wenn ich es auf diese Weise versäume, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, ist ein paradoxer Zustand, in dem ich glaube, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, obwohl ich gleichzeitig denke, dass alles dafür spricht, dass Roger Federer

etwas mit den Gründen zu tun hat, die für oder gegen die Wahrheit der betreffenden Meinung sprechen.      Man könnte die Auffassung vertreten, dass es in diesem Fall in einem stärkeren Sinne ‘up to me’ ist, welcher Meinung ich bin. Allerdings wird es sich in so einem Fall um einen pervertierten Sinn von Deliberation handeln, der nichts mehr mit dem ursprünglichen Vorschlag von Moran zu tun hat. Nach einer solchen dezisionistischen Lesart von Deliberation, wäre meine Entscheidung vollkommen willkürlich. Bezeichnenderweise würde das Wissen, das mir von der Meinung, zu der ich auf diesem Wege gelangt bin, zur Verfügung steht, sich nicht mehr als erstpersonales Wissen qualifizieren – ich müsste mich, ähnlich wie im Fall einer Fremdzuschreibung, gewissermaßen von außen dabei beobachten, welche Antwort ich gebe oder an welcher Stelle ich in einer Umfrage ein Kreuz mache.

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der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. Der paradoxe Charakter dieses Zustandes besteht darin, dass ich es nicht schaffe, die psychologische Dimension des in Frage stehenden Meinungsbildungsprozesses mit seiner normativen Dimension in Einklang zu bringen. Auch in diesem Fall werde ich zwar wissen können, welcher Meinung ich hinsichtlich der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten bin, aber es wird sich hierbei um ein Wissen handeln, das charakteristisch für den Standpunkt der dritten Person ist. So werde ich vielleicht feststellen, dass ich nur zögerlich antworte, wenn man mich danach fragt, welchen Tennisspieler ich für den besten Tennisspieler aller Zeiten halte, dass ich immer wieder in der Biographie von Björn Borg nach Gründen suche, die dafür sprechen könnten, dass er ein besserer Tennisspieler als Federer war, oder dass ich bei einer OnlineAbstimmung mein Kreuz bei Borg und nicht bei Federer mache, obwohl mir klar ist, dass ich dies im Rahmen einer ernsthaften Abstimmung nicht legitimerweise hätte tun dürfen. Eine Folge dieses Zustandes wird sein, dass mir die Meinung, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, auf eine spezifische Weise fremd bleiben wird, solange ich ihr gegenüber lediglich den Standpunkt der dritten Person einnehme. Tatsächlich ist diese Charaktersierung ein wichtiger Bestandteil von Morans Strategie, den Unterschied zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person zu bestimmen.119 Sobald ich die Perspektive der ersten Person einnehme und mich darum bemühe, mich hinsichtlich einer bestimmten Frage auf eine Einstellung festzulegen, befinde ich mich Moran zufolge in dem Prozeß der Aneignung eines mentalen Zustandes. Sich erstpersonal auf die Wahrheit einer Aussage wie ‘Roger Federer ist der beste Tennisspieler aller Zeiten’ festzulegen, ist nichts anderes, als sich eine Meinung im Hinblick auf die Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten zu eigen zu machen. Die betreffende Meinung kann als im emphatischen Sinne meine Meinung bezeichnet werden, weil ich selbst ihr Urheber bin; ihr Urheber bin ich wiederum insofern, als ich zu ihr auf der Basis der Abwägung von Gründen gelangt bin. Eine Meinung, von der ich auf drittpersonale Weise weiß, dass ich sie habe, wird mir dagegen fremd sein, weil ich mich nicht auf sie festgelegt habe; um dies zu tun, hätte im Hinblick auf meine Einstellung dieser Meinung gegenüber die Transparenzbedingung erfüllt sein müssen, so dass ich mich dieser Meinung gegenüber insofern in einem rationalen Verhältnis befinde, als ich mich von der normativen

119 Vgl. Moran (2001), 37: „What is left out of the Spectator’s view is the fact that I not only have special access to someone’s mental life, but that it is mine, expressive of my relation to the world, subject to my evaluation, correction, doubts, and tensions.“ Zum verwandten Thema der eigenen Gründe vgl. Budnik (2012).



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Kraft von Überlegungen betroffen sehe, die für oder gegen diese Meinung sprechen. Zugegebenermaßen kann das bislang verwendete Beispiel einer Meinung über den tennishistorischen Rang von Roger Federer und Björn Borg in dem vorliegenden Kontext etwas bemüht wirken.120 Wider besseren Wissens daran festzuhalten, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, als einen Fall zu beschreiben, in dem ich eine ‘mir fremde’ Meinung habe, mag allzu dramatisch klingen. Tatsächlich sind Fälle dieser Art im Alltag eher selten. In der Regel würde ich in der bemühten Situation die bestehende Spannung zwischen einem Bestandteil meines psychologischen Haushalts und den Anforderungen des Standpunkts der ersten Person leicht auflösen können, indem ich mir die Frage stelle, warum ich etwa in einer Situation, in der ich nach meiner Meinung bezüglich des besten Tennisspielers aller Zeiten gefragt werde, nur ungern den Namen von Roger Federer nenne. Mögliche Antworten wären, dass ich Roger Federer unsympathisch finde, dass ich von der übertriebenen Dynamik des modernen Power-Tennis angewidert bin oder ganz generell Björn Borg für den netteren Zeitgenossen halte. Auf diese Weise könnte ich mir mühelos klar machen, dass ich nicht ernsthaft der Meinung bin, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, sondern lediglich, dass ich ihn für sympathischer halte, dass meine Erinnerungen an Borgs Tennispartien mir aus bestimmten Gründen wichtiger sind als die Erinnerungen an Federers Spiele oder Ähnliches. Dies wäre eine Maßnahme, um wiederum den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, diesmal allerdings im Hinblick auf die weitaus schwächere Meinung, dass Björn Borg für mich der tollste Tennisspieler aller Zeiten ist, eine Meinung, die durchaus kompatibel mit der Meinung ist, dass ein anderer Spieler objektiv betrachtet der beste Tennisspieler aller Zeiten ist.

120 Standardmässig werden in diesem Zusammenhang Beispiele herangezogen, in denen eine Person etwa im Rahmen einer Psychoanalyse Einsicht in die Mechanismen erlangt, die es mit sich bringen, dass sie einer bestimmten Meinung ist, ohne dass diese Meinung aus der Perspektive der betreffenden Person durch Gründe gestützt ist (vgl. etwa Burge (1996), 112f. oder Moran (2001), 89ff.). So kann jemand aufgrund von traumatischen Kindheitserfahrungen im Erwachsenenalter der festen Überzeugung sein, dass alle anderen Personen Außerirdische sind, und gleichzeitig wissen, dass es für diese – auch aus der Perspektive der betreffenden Person – bizarre Annahme keinerlei Anhaltspunkte gibt. Solche Fälle mag es geben, und weiter unten werde ich auch einen ähnlichen Fall diskutieren. An dieser Stelle verwende ich aber bewußt ein weniger exotisches Beispiel, weil es mir darum geht, zu zeigen, dass die Tatsache, dass eine Person den Standpunkt der ersten Person bezieht, in jedem Fall dazu führt, dass die betreffende Person unter den rationalen Druck gerät, ihr Meinungssystem im Lichte von Gründen anzupassen.

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 Der Standpunkt des rationalen Akteurs

Dass Aneignungsprozesse dieser Art in unserem epistemischen Alltag die Regel sind, spricht allerdings nicht gegen die Möglichkeit von Situationen, in denen wir Einstellungen annehmen oder beibehalten, obwohl wir der Auffassung sind, dass die besten oder auch nur gute Gründe gegen sie sprechen. Ganz generell scheint zu gelten, dass die Formen epistemischer Irrationalität, wie ich sie im Blick habe, in dem Maße seltener auftreten, in dem weniger Gründe für die Rechtfertigung einer Einstellung notwendig sind. Den Extremfall stellen in diesem Zusammenhang Fälle von Wahrnehmungswissen dar, weil dieses Wissen auf nicht-inferentielle Weise zustande kommt: Eben weil ich dazu befugt bin, Wahrnehmungsmeinungen für wahr zu halten, ohne Gründe abwägen zu müssen, werde ich unter epistemischen Normalbedingungen kaum in eine Situation geraten, in der ich der Meinung bin, dass ich Regen sehe, obwohl nichts dafür spricht, dass es regnet. An dieser Stelle ließen sich Argumente für die These anführen, dass es im Bereich des Theoretischen gar nicht zu den von mir skizzierten Fällen kommen kann, in denen ich einen abschließenden Grund habe, eine Einstellung zu haben, ohne dass ich die entsprechende Einstellung auch tatsächlich habe. Sich auf diese Argumente einzulassen, bedeutet in der Regel, dass man darüber streitet, was als eine Meinung gelten kann. Für die Belange meiner Argumentation ist es allerdings nicht entscheidend, ob man bereit ist, von einer Person, die etwas ‘glaubt’, obwohl es aus ihrer Perspektive Gründe gibt, es nicht zu ‘glauben’, als von jemandem zu reden der eine Meinung hat.121 Entscheidend ist vielmehr Morans Einsicht darin, dass das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person einen in die Position eines rationalen Akteurs hineinversetzt und zwar in dem Sinne, dass eine Person, die diesen Standpunkt einnimmt, anderes zu tun hat, als lediglich herauszufinden, in welchem mentalen Zustand sie sich befindet, so wie sie es tun müsste, um eine Fremdzuschreibung zu formulieren. Im Fall des Wissens von den eigenen Wahrnehmungsmeinungen wird sie wahrnehmen müssen; im Fall von Meinungen, die komplexere Gegenstände betreffen, wird sie

121 Zudem glaube ich nicht, dass sich eine trennscharfe Linie zwischen Fällen von theoretischer und praktischer Rationalität bzw. Irrationalität ziehen lässt, etwa anhand der Unterscheidung zwischen kognitiven Einstellungen wie Meinungen und konativen Einstellungen wie Absichten. Immerhin lassen sich eine ganze Reihe von Meinungen vorstellen, die evaluative Komponenten enthalten, so dass zumindest unklar ist, ob man sie eher dem Bereich des Kognitiven oder dem des Konativen zurechnen soll, etwa die Meinung einer wahlberechtigten Person, dass eine bestimmte Partei es verdient hätte bei den Wahlen als Siegerin hervorzugehen oder in abgeschwächter Form auch das betrachtete Beispiel der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten.



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über diese Gegenstände nachdenken und Gründe berücksichtigen müssen, die für die eine oder andere Auffassung des betreffenden Gegenstands sprechen. Im Hinblick auf Meinungen, die Wissen konstitutieren können, ohne dass wir Gründe für diese Meinungen abzuwägen hätten, wie es etwa im Fall von Wahrnehmungsmeinungen wie ‘Es regnet draußen’ der Fall ist, lässt sich zudem Folgendes behaupten: Zwar stimmt es, dass wir zu einer Vielzahl von Meinungen nicht auf dem Wege eines Prozesses der expliziten Abwägung von Gründen gelangen, doch müssen wir für den Fall, dass diese Meinungen hinterfragt werden, in der Lage sein, eine Begründung für sie zu geben. Als epistemische Akteure tragen wir Verantwortung für die Meinungen, die wir haben – seien es Meinungen, zu denen wir auf der Basis der Abwägung von Gründen gelangt sind, oder solche, für die dies nicht gilt – und in diesem Sinne kann gesagt werden, dass auch im Fall von Meinungen, zu denen wir ohne Abwägung von Gründen gelangt sind, der deliberative Standpunkt – verstanden als der Standpunkt der epistemischen Verantwortlichkeit – nicht verlassen wird. Den deliberativen Standpunkt im Hinblick auf Meinungen einzunehmen, bedeutet auf diese Weise, dafür einzustehen, dass die Meinung, die man hat, wahr ist. Festlegungen dieser Art werden so zu einem konstitutiven Merkmal der erstpersonalen Zuschreibung von Meinungen, unabhängig davon, wie die Person, die diese Meinung hat, zu ihr gelangt ist.122 Im Hinblick auf (1), die Frage nach Rechtfertigung, liefert Morans Theorie demnach die folgende Antwort: Erstpersonale Zuschreibungen lassen sich als Ausdruck von Wissen über die eigenen mentalen Zustände verstehen, weil das Verhältnis, das zwischen erstpersonalen Einstellungen zweiter Stufe und den entsprechenden Einstellungen erster Stufe besteht, das rationale Verhältnis ausdrückt, in dem wir zu unseren Einstellungen erster Stufe stehen.123

122 Vgl. z.B. Moran (2001), 84: „But, as I conceive of myself as a rational agent, my awareness of my belief is awareness of my commitment to its truth, a commitment to something that transcends any description of my psychological state.“ Die Tatsache, dass die Genese der Einstellungen keinen entscheidenden Faktor dafür spielt, ob sie erstpersonal zugeschrieben werden, wird mich auch weiter unten im Zusammenhang mit der Theorie von Burge beschäftigen (vgl. S. 94ff.). 123 Die Redeweise von Einstellungen erster Stufe und Einstellungen zweiter Stufe mag im Zusammenhang mit der Theorie von Moran schief wirken. Das liegt daran, dass eine Formulierung des Rechtfertigungsproblems als der Frage nach dem Verhältnis von Einstellungen zweiter Stufe zu Einstellungen erster Stufe, auf Theorien zugeschnitten ist, welche den Unterschied zwischen dem Standpunkt der ersten Person und dem Standpunkt der dritten Person exklusiv in epistemischen Kontexten situieren. So bestimmt etwa das Beobachtungsmodell die erstpersonale Beziehung zu den eigenen mentalen Einstellungen als eine kausale Relation zwischen Einstellungen zweiter Stufe und Einstellungen erster Stufe. Einer der Kernideen von Moran ist aber, dass ich mich nicht nur in einem epistemischen Verhältnis zu meinen Einstellungen befinde, sobald ich ihnen gegenüber den Standpunkt der ersten Person einnehme, sondern stattdessen in einem

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Die Frage danach, in welchem mentalen Zustand ich mich befinde, wird vom Standpunkt der ersten Person beantwortet, indem ich den deliberativen Standpunkt einnehme und an den Gegenstand der Einstellung erster Stufe denke. In vielen Fällen werde ich hierbei Gründe abwägen müssen, und die Abwägung wird letztlich in einer Festlegung münden, mit der ich die betreffende Einstellung zu meiner eigenen Einstellung mache. Dieser Festlegungscharakter ist auch bei Einstellungen gegeben, zu denen ich nicht auf dem Wege der Abwägung von Gründen komme – er äußert sich in der epistemischen Verantwortung, die ich für das Haben dieser Einstellungen trage. Wenn diese Antwort auf (1) richtig ist,124 dann liefert Morans Ansatz auch eine plausible Antwort auf (2), d.h. die Frage danach, inwiefern unseren erstpersonalen Zuschreibungen eine besondere Autorität zukommt. Diese Autorität sollte im Rahmen von Morans Theorie nicht dadurch erklärt werden, dass ich mit meinen erstpersonalen Zuschreibungen eine besondere Weise, von diesen Einstellungen zu wissen, ausdrücke. Stattdessen kann sie mit dem Verweis darauf, dass ich mit erstpersonalen Zuschreibungen bestimmte Festlegungen eingehe, in dem Sinne interpretiert werden, dass es an mir ist, bestimmte Einstellungen erster Stufe auszubilden. Nach dieser Auffassung wäre die Autorität, mit der ich mir Einstellungen auf erstpersonale Weise zuschreibe, nicht die Folge eines epistemischen Vorteils, sondern der Ausdruck meiner Zuständigkeit für die Einstellungen, die ich habe. Mit einer Bemerkung wie ‘Du glaubst nicht, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist’ konfrontiert, müsste meine Reaktion dementspre-

rationalen Verhätnis. Und dieses rationale Verhältnis ist genau genommen ein Verhältnis zwischen einer Einstellung und dem Subjekt dieser Einstellung, d.h. nicht zwischen einer Einstellung zweiter Stufe und einer Einstellung erster Stufe.  Dass ich dennoch im Zusammenhang mit der Theorie von Moran das Idiom der Höherstufigkeit von Einstellungen nicht aufgebe, liegt daran, dass er das erstpersonale Verhältnis zu den eigenen Einstellungen zwar nicht nur, aber durchaus auch als ein epistemisches Verhältnis versteht. Anders gesagt: Seine Theorie tritt auch mit dem Anspruch auf, eine Erklärung der Tatsache vorzulegen, wie wir vom Standpunkt der ersten Person Wissen von den eigenen Einstellungen haben, und lässt sich insofern auch als eine Antwort auf das Rechtfertigungsproblem lesen. Der entscheidende Punkt von Moran besteht hierbei in der Einsicht, dass wir nicht in erster Linie in einem epistemischen Verhältnis zu den eigenen Einstellungen stehen, weil wir uns ihnen gegenüber zunächst deliberativ zu verhalten haben. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass auch Moran nicht bestreiten würde, dass ein Ergebnis des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person – verstanden als deliberativer Standpunkt – darin besteht, dass ich Wissen von meinen Einstellungen erwerbe. Und weil für dieses Wissen gilt, dass es aus einer Einstellung besteht, die ihrerseits eine Einstellung zum Gegenstand hat, ist die Bezugnahme auf Höherstufigkeit auch im Rahmen seiner Theorie gerechtfertigt. 124 Zur Kritik an Morans Theorie vgl. etwa Shoemaker (2003), O’Brien (2003) oder Buss (2003).



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chend weniger ‘Ich kenne meine Meinungen besser als du’ lauten, als vielmehr ‘Es ist meine Sache, mir eine Meinung zu diesem Thema zu machen’.125 Wie eingangs angedeutet, geht es mir im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht primär darum, eine erschöpfende Lösung des Rechtfertigungsproblems bzw. des Autoritätsproblems zu verteidigen. Im Kontext der Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist mir Morans Ansatz insofern wichtig, als man anhand der Argumente, die Moran zur Lösung des Rechtfertigungsproblems und des Autoritätsproblems vorbringt, eine genauere Bestimmung der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person vornehmen kann. In diesem Zusammenhang kommt es mir auf die folgenden vier miteinander zusammenhängenden Charakteristika des Standpunkts der ersten Person an: 1. Dynamisch: Das Einnehmen der Perspektive der ersten Person im Hinblick auf mentale Zustände ist in dem Sinne wesentlich ein aktiver Vorgang, als die Person, die diese Perspektive einnimmt, sich auf einen deliberativen Standpunkt stellt, von dem aus sie ihre Einstellungen erster Stufe zu bestimmen versucht. Im Gegensatz dazu ist das Einnehmen der Perspektive der dritten Person hinsichtlich der eigenen mentalen Zustände – analog zu dem Fall von Fremdzuschreibungen – statisch, indem mentale Zustände als Gegebenheiten des mentalen Haushalts der betreffenden Person aufgefasst werden, die es unter Einsatz von Beobachtung und Interpretation zu bestimmen gilt. 2. Rational: In dem Fall, in dem wir die Perspektive der ersten Person einnehmen, ist das Verhältnis zwischen uns und unseren mentalen Zuständen ein rationales Verhältnis; es äußert sich in der Anforderung, unsere Einstellungen erster Stufe auf dem Wege der Abwägung von Gründen auszubilden. Im Gegensatz dazu stehen wir – wiederum analog zu dem Fall von Fremdzuschreibungen – in einem kontingenten bzw. empirischen Verhältnis zu unseren eigenen mentalen Zuständen, wenn wir ihnen gegenüber die Perspektive der dritten Person einnehmen und auf dem Weg von Beobachtung und Interpretation zu bestimmen versuchen, in welchen mentalen Zuständen wir uns befinden. 3. Transparent: Die Perspektive der ersten Person im Hinblick auf einen mentalen Zustand einzunehmen, ist gleichbedeutend damit, dass man an den intentionalen Gegenstand dieses mentalen Zustandes denkt – dasjenige,

125 Vgl. Moran (2001), 123: „This suggests that the primary thought gaining expression in the idea of „first-person authority“ may not be that the person himself must always „know best“ what he thinks about something, but rather that it is his business what he thinks about something, that it is up to him.“

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 Der Standpunkt des rationalen Akteurs

worauf wir uns beziehen, wenn wir etwas meinen, hoffen oder beabsichtigen. Auf diese Weise rücken die Gehalte unserer mentalen Zustände in den Fokus der Betrachtung, und sie sind es auch, die entscheidend für den Prozeß der Abwägung von Gründen sind. Im Gegensatz dazu spielen die Gehalte unserer Einstellungen bei einer Betrachtung aus der Perspektive der dritten Person eine untergeordnete Rolle; von diesem Standunkt aus werden Einstellungen als lediglich kausal miteinander verbunden verstanden. 4. Selbstkonstitutiv: Der Standpunkt der ersten Person ist derjenige Standpunkt, von dem aus Personen sich mentale Zustände zueigen machen, indem sie Festlegungen treffen. Sich auf etwas festzulegen, bedeutet, dass man es als etwas betrachtet, dass in einem tieferen Sinn zu einem selbst gehört. Vom Standpunkt der dritten Person ist dieser Aspekt nicht einzufangen, weil dieser Standpunkt nicht den prozesshaften bzw. dynamischen Charakter des Verhältnisses, in dem wir zu den eigenen mentalen Zuständen stehen können, einfängt. Stehen wir zu unseren mentalen Zuständen in einem statischen und nicht-rationalen Verhätnis, welches zudem Transparenz verhindert, werden diese mentalen Zustände uns fremd bleiben. Bis auf (3) bleiben alle der genannten Aspekte klärungsbedürftig. Insbesondere würde man gerne wissen wollen, wie das Verhältnis zu verstehen ist, in dem wir zu unseren Gründen stehen, wenn wir die Perspektive der ersten Person einnehmen. Morans Ansatz legt den Fokus auf unser Verhältnis zu Einstellungen, die das Ergebnis von Prozessen des Abwägens von Gründen sind; die Antwort auf die Frage, was es genauer heißt, auf diese Weise in einem rationalen Verhältnis zu den eigenen Einstellungen zu stehen, bleibt an dieser Stelle noch recht vorläufig. Von besonderem Interesse für die vorliegende Arbeit ist auch die Frage, wie (4) genau zu verstehen ist. In welchem Sinne lege ich mich fest, wenn ich den Standpunkt der ersten Person einnehme? Wie ist die Redeweise von ‘meinen’ im Gegensatz zu ‘fremden’ mentalen Zuständen genauer zu verstehen? Um diese Fragen zu verfolgen, wende ich mich im Folgenden der Position zu, die Tyler Burge im Kontext der Frage nach dem Wissen von den eigenen mentalen Zuständen und dem Standpunkt der ersten Person entwickelt hat.

6.2 Netzwerke von Gründen (Burge) Wie im Fall der Moran-Rekonstruktion geht es mir auch im Zusammenhang der Diskussion von Burges Theorie nicht darum, die Argumente, die er im Hinblick auf das Rechtfertigungs- und das Autoritätsproblem vorbringt, in jeder Hinsicht gegen mögliche Einwände zu verteidigen. Gerade im Hinblick auf die Frage nach



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Autorität ist auch extrem unklar, ob Burge überhaupt eine Antwort formulieren möchte bzw. wie eine solche Antwort im Rahmen seiner Theorie lauten müsste. In der Frage nach Rechtfertigung bezieht Burge eine Position, deren Details für die Belange dieser Arbeit zu weit in die epistemologische Internalismus-Externalismus-Debatte führen würden.126 Auch werde ich nichts zum Thema der ‘cogito-like judgements’127 oder dem Thema unseres Wissens von den mentalen Zuständen anderer Personen128 sagen, die beide eine prominente Rolle in Burges Argumentation spielen. Stattdessen möchte ich selektiv einen Argumentationsstrang von Burge betrachten, der meiner Ansicht nach wichtige Präzisierungen der bislang formulierten Bestimmung davon enthält, was es bedeutet, die Perspektive der ersten Person einzunehmen. Burges Reaktion auf (1), das Problem der Rechtfertigung, nimmt auf den Begriff der Berechtigung (‘warrant’) Bezug.129 Burge zufolge muß der Begriff der Berechtigung weiter verstanden werden als der Begriff der Rechtfertigung. Während es durchaus der Fall sein kann, dass es den Einstellungen zweiter Stufe, die wir hinsichtlich unserer Einstellungen erster Stufe haben, in dem eingangs angesprochenen Sinne an einer Rechtfertigung mangelt, dass sie auf nicht-inferentielle Weise und ohne Beobachtung zustande kommen, folgt Burge zufolge doch nicht zwangsläufig, dass wir nicht dazu berechtigt sind, diese Einstellungen zu haben, denn wir können immer noch einen Anspruch (‘entitlement’) auf das Wissen von diesen Einstellungen haben. Im Gegensatz zum Fall der Rechtfertigung muß eine Person, die Anspruch auf Wissen von etwas hat, nicht mit der Natur des in Frage stehenden Anspruchs vertraut sein. Wie bereits zu sehen war, kann die Meinung, die eine Person über eine meiner Meinungen hat, nur dann als gerechtfertigt betrachtet werden, wenn diese Person auch in der Lage ist, eine Rechtfertigung für ihre Meinung über meine Meinung anzugeben, indem sie auf die Gründe aufmerksam macht, die ihrer Ansicht nach dafür sprechen, dass ich dieser Meinung bin. Wie ebenfalls zu sehen war, kann diese Bedingung im Fall von erstpersonalen Zuschreibungen nicht erfüllt werden, weil diese unmittelbar zustande kommen. Typischerweise wüßte ich nicht, was ich sagen sollte, wenn man mich danach fragen würde, worin meine Berechtigung dafür besteht, von den eigenen mentalen Zuständen zu wissen. Das heißt Burge zufolge allerdings nicht, dass ich zu einem solchen Wissen nicht berechtigt bin, weil es auch sein

126 Zur externalistischen Position von Burge vgl. neben den weiter unten zitierten Texten auch Burge (1979) und Burge (1988). 127 Vgl. Burge (1996), 91ff. 128 Vgl. Burge (1998). 129 Vgl. Burge (1996), 93f.

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kann, dass ich einen Anspruch auf dieses Wissen habe, von dem ich möglicherweise selbst nichts weiß. Dass auf diese Weise Raum für die begriffliche Möglichkeit einer epistemischen Berechtigung geschaffen wird, die nichts mit Rechtfertigung zu tun hat, indem der Begriff des epistemischen Anspruchs eingeführt wird, beweist allerdings noch nicht, dass wir im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände auch wirklich einen solchen Anspruch auf Wissen haben. Burges Ziel besteht in der Folge darin, zu zeigen, das es sich so verhält. Im Zentrum seiner Argumentation steht der Begriff des kritischen Überlegens (‘critical reasoning’).130 Beim kritischen Überlegen spielen propositionale Einstellungen wie Meinungen, Wünsche oder Absichten die Rolle von Gründen.131 So kann etwa meine Meinung, dass Roger Federer mehr Grand-Slam-Turniere als Björn Borg gewonnen hat, ein Grund für meine Meinung sein, dass er der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. Charakteristisch für Prozesse kritischen Überlegens ist Burge zufolge, dass wir, sobald wir uns in einem solchen Prozeß befinden, die Gründe als Gründe verstehen. Im Gegensatz zu Fällen nicht-kritischen Überlegens, wie sie etwa bei Tieren und kleinen Kindern vorkommen, findet im Fall des kritischen Überlegens kein einfacher Übergang von einer Einstellung zur anderen statt;132 als eine Person, die kritisch überlegt, bin ich stattdessen in der Lage, meine Gründe und die Schlüsse, die aus ihnen folgen, gemäß Gültigkeitsnormen zu evaluieren. Auf diese Weise kann ich zwischen besseren und schlechteren Gründen unterscheiden, und genau diese Tatsache ist es, welche die Gesamtprozedur des Abwägens

130 Vgl. Burge (1996), 98‒101. 131 In dieser Hinsicht – d.h. im Hinblick auf die Frage, was Gründe sind – müsste man Burge also eine internalistische Position zuschreiben. Wie sich Burges Gründe-Internalismus zu Morans Theorie – insbesondere zur Transparenzbedingung – verhält, werde ich weiter unten diskutieren (vgl. S. 102ff.). An dieser Stelle sei lediglich angedeutet, dass ich mich, obwohl ich Aspekte von Burges Theorie zu einer positven Bestimmung erstpersonalen Selbstbezugs verwende, keinesfalls auf den in seiner Theorie implizierten Gründe-Internalismus festlegen möchte. 132 Hier stellt sich für Burge selbstverständlich das Problem, dass unklar ist, in welchem Sinne man Tieren und Kleinkindern propositionale Einstellungen wie Meinungen zuschreiben kann (vgl. etwa Davidson (1982)). An dieser Stelle will ich aber akzeptieren, dass es einen Begriff propositionaler Einstellung gibt, der kompatibel damit ist, dass auch Tiere und Kleinkinder Subjekte solcher Einstellungen sind. Ein Fall nicht-kritischen Überlegens könnte etwa folgendermaßen beschaffen sein: Ein Hund kratzt an einer Schranktür, verlässt aber den Raum, sobald seine Besitzerin den Raum betreten, sich am Schrank zu schaffen gemacht und den Raum wieder verlassen hat. Das Verhalten des Hundes könnte durch die Annahme erklärt werden, dass er zunächst der Meinung war, dass im Schrank Hundefutter zu finden ist, um dann diese Meinung zugunsten der Meinung aufzugeben, dass seine Besitzerin das Futter aus dem Schrank genommen und in den anderen Raum getragen hat.



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von Gründen133 rational bzw. vernünftig (‘reasonable’) macht.134 Die entscheidenden Schritte in der Argumentation von Burge sind also: (a) Wenn wir Gründe abwägen, befinden wir uns in einem besonderen epistemischen Verhältnis zu unseren eigenen mentalen Einstellungen. (b) Um den rationalen bzw. vernüftigen Charakter des Abwägens von Gründen zu wahren, muss es sich bei diesem Verhältnis um ein berechtigtes Verhältnis handeln, d.h. ich muss einen Anspruch darauf haben, von den betreffenden Einstellungen zu wissen. Im Hinblick auf (b) geht Burge von der, wie ich denke, unstrittigen Annahme aus, dass Personen tatsächlich in der Lage sind, Gründe abzwägen und dies manchmal auch tun, sowie von der Annahme, dass dieser Prozeß, insgesamt betrachtet, rational bzw. vernünftig ist. Hinsichtlich der letzten Annahme ließe sich nachfragen, welchen Sinn von ‘rational’ Burge hier zugrunde legt. Allerdings würde so eine Nachfrage an dieser Stelle nicht sehr weit führen. Burge benötigt hier noch keinen besonders raffinierten Rationalitätsbegriff, denn es geht ihm lediglich um den folgenden Punkt: Prozesse der Abwägung von Gründen sind insofern ‘rational’, als ich, wenn ich Gründe abwäge, Wissen davon habe, was ich überhaupt gegeneinander abwäge. Auch diese Annahme lässt sich nur schwer bestreiten, denn es ist nicht klar, was es heißen sollte, dass eine Person Gründe abwägt – etwa im Hinblick auf die Frage, wer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist – während es gleichzeitig eine offene Frage für sie darstellt, ob sie einen Grund, der Bestandteil des Abwägungsprozesses ist, überhaupt hat. In unserem Beispielfall würde das zu einem ‘irrationalen’ Zustand führen, den die betreffende Person folgendermaßen artikulieren müsste: ‘Roger Federer ist der beste Tennisspieler aller Zeiten, weil er die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich der Meinung bin, dass er die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat.’135 Im Rahmen der Debatte um den Status des Wissens von den

133 Hier und im Folgenden werde ich die Terminologie des vorangegangenen Abschnitts wiederaufgreifen und statt vom ‘kritischen Überlegen’ vom Prozeß der Abwägung von Gründen sprechen. Auch wenn im Zuge meiner Moran-Rekonstruktion nicht explizit vom ‘kritischen Überlegen’ die Rede war, ist es einigermaßen offensichtlich, dass Morans Argumentation keinen Sinn machen würde, wenn er auch nicht-kritische Formen des Überlegens zulassen würde. 134 Vgl. Burge (1996), 101: „[S]ince one’s beliefs or judgements about one’s thoughts, reasons, and reasoning are an integral part of the overall procedures of critical reasoning, one must have an epistemic right to those beliefs or judgements. To be reasonable in the whole enterprise, one must be reasonable in that essential aspect of it.“ 135 An dieser Stelle soll selbstverständlich nicht behauptet werden, dass es niemals zu Situationen kommt, in denen wir im Hinblick auf einen potentiellen Grund unsicher sind – etwa wenn wir hypothetische Annahmen der folgenden Art machen: ‘Wenn Roger Federer mehr GrandSlam-Titel als alle anderen Tennisspieler gewonnen hat, dann ist er der beste Tennisspieler aller Zeiten, allerdings weiß ich nicht sicher, ob er tatsächlich die meisten Grand-Slam-Titel gewon-

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eigenen mentalen Zuständen ist insbesondere die ebenfalls in (b) implizierte Annahme von Burge diskutiert worden, nach der es möglich ist, dass Personen zu Wissen berechtigt sind, auch ohne dass sie selbst die Natur ihrer epistemischen Berechtigung explizieren können. Hier geht es um die Herausforderung des Internalismus, mit der Positionen wie diejenige von Burge umgehen müssen, die mich im Rahmen der vorliegenden Arbeit aber, wie angedeutet, nicht weiter beschäftigen wird.136 Stattdessen möchte ich mich im Folgenden ausführlicher mit (a) befassen, insbesondere mit der Frage, wie man das ‘besondere Verhältnis’ genauer zu verstehen hat, in dem wir uns zu den eigenen mentalen Einstellungen befinden, wenn wir Gründe abwägen. In diesem Zusammenhang ist ein Argumentationsstrang der Theorie von Burge aufschlussreich, in dem er sich gegen das Beobachtungsmodell des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen wendet, wie ich es weiter oben skizziert habe. Wie dort zu sehen war, modelliert das Beobachtungsmodell den Fall unseres Wissens von den eigenen mentalen Zuständen analog zum Fall unseres Wissens von der Außenwelt, weil beiden Fällen der Aspekt der Unmittelbarkeit zukommt: Weder in dem Fall, in dem ich weiß, dass ich etwas glaube, noch in dem Fall, in dem ich weiß, dass vor mir ein Baum steht, weil ich einen Baum vor mir sehe, muss ich Schlüsse aus gegenwärtigen oder vergangenen Beobachtungen oder anderen Prämissen ziehen, und es ist auch ansonsten in keinem der beiden Fälle ein besonderer interpretativer Aufwand nötig, um zu dem jeweiligen Wissen zu gelangen. Vertreter des Beobachtungsmodells verteidigen deshalb die Ansicht, dass es sich in dem Fall, in dem eine Person von den eigenen mentalen Zuständen auf erstpersonale Weise weiß, bei der Relation zwischen der Person, die Wissen hat, und den mentalen Zuständen, von denen sie weiß – ebenso wie im Fall von gewöhnlichem Erfahrungswissen – um eine kontingente bzw. kausale Relation handelt.137 Genau gegen diese These richtet sich das Argument von Burge. Sein Ziel besteht darin, zu zeigen, dass – zumindest in dem Fall, in dem

nen hat, also muß ich erst im Hinblick auf diese Frage zu einer gesicherten Erkenntnis gelangen, bevor ich mich hinsichtlich der ursprünglichen Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten auf eine bestimmte Antwort festlege.’ Es ist allerdings klar, dass solche Situationen unsere Fähigkeiten zum Abwägen von Gründen nicht erschöpfen und wir manchmal auch zu einem Abschluß des Abwägungsprozesses gelangen. Für solche ‘gelungenen’ Abwägungsprozesse scheint Burges Behauptung zuzutreffen, dass unser Verhältnis zu den Gründen, die Bestandteile des Abwägungsprozesses sind, ein epistemisches berechtigtes Verhältnis sein muss. 136 Zur (umfassenden) Externalismus-Internalismus-Debatte im Kontext der Frage nach dem Wissen von den eigenen mentalen Zuständen vgl. etwa Davidson (1987) und Boghossian (1998). 137 Genau genommen müsste ich an dieser Stelle erneut das auf eine rein epistemische Lesart des Problems zugeschnittene Idiom der Höherstufigkeit mentaler Zustände aufgreifen und von



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Personen Gründe abwägen – die betreffende Relation als nicht-kausal bzw. rational verstanden werden muss. Was heißt es aber, in einem rationalen Verhältnis zu den eigenen mentalen Zuständen zu stehen? Burges Argumentation in diesem Zusammenhang kreist um den Begriff der kognitiven Überprüfung (‘cognitive review’).138 Kognitive Überprüfung stellt ein zentrales Element im Prozeß der Abwägung von Gründen dar. Es handelt sich hierbei um den Vorgang, bei dem eine Person eine ihrer Einstellungen erster Stufe anhand von Gründen als gerechtfertigt bzw. nicht gerechtfertigt auszeichnet und entsprechend dieser Evaluierung diese Einstellung beibehält oder aber aufgibt. Eine Voraussetzung dafür, dass eine Person eine ihrer Einstellungen erster Stufe kognitiv überprüft und auf der Grundlage dieser Überprüfung diese Einstellung beibehält oder revidiert, besteht darin, dass diese Person über den Begriff des Grundes verfügt. Dies wiederum impliziert, dass diese Person den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Grund versteht, was daran liegt, dass der Prozeß des Abwägens von Gründen von evaluativen Normen geleitet wird, welche die Maßstäbe für die Güte von Gründen bestimmen.139 Doch allein den Unterschied zwischen guten und schlechten Gründen zu verstehen, ist noch nicht hinreichend dafür, um einsehen zu können, was einen Grund für einen selbst darstellt, denn außer der evaluativen Komponente haben Gründe auch einen motivationalen Aspekt.140 Der motivationale Aspekt besteht darin, dass eine Person, die einsieht, dass sie einen Grund hat, eine bestimmte Einstellung

dem Verhältnis zwischen Einstellungen zweiter Stufe und Einstellungen erster Stufe sprechen, das im Rahmen des Beobachtungsmodells als ein kausales Verhältnis interpretiert wird. 138 Vgl. zum Folgenden Burge (1996), 108ff. und Burge (1998), 249ff. 139 Gerade zu diesem Aspekt des Abwägens von Gründen gäbe es weitaus mehr zu sagen, als Burge es tut oder ich es im Rahmen der vorliegenden Rekonstruktion tun werde; im Hinblick auf meine Gesamtargumentation kommt es mir nicht darauf an, was es genauer heißt, den Unterschied zwischen guten und schlechten Gründen zu verstehen. Die Charakteristika des Standpunkts der ersten Person, die für meine Belange besonders interessant sind, liegen auch in Fällen vor, in denen eine Person sich darin täuscht, dass etwas ein guter Grund für sie ist. 140 Vgl. Burge (1998), 257f. (meine Herv.): „To fully understand basic features of the concept of reason, it is not enough to understand the concept in the abstract. It is not enough to understand the evaluation of attitudes or thoughts as being reasonable or unreasonable. And it is not enough to understand, in the abstract, that reasons enjoin and normally motivate thinking or acting in accordance with the normative standards they set. Fully understanding the concept of reason also requires engaging in reasoning, and understanding basic features of such reasoning. Engaging in reasoning requires implementing reasons or rational evaluations immediately in the attitudes to which the reasons or rational evaluations apply – being moved to think in accordance with one’s reasons. Understanding basic features of such reasoning requires understanding such implementation.“

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erster Stufe zu revidieren, auch unmittelbar dazu bewegt wird, diese Einstellung zu revidieren. So wird eine Person, die sich im Zuge der kognitiven Überprüfung ihrer Meinung befindet, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, den rationalen Druck verspüren, diese Meinung zugunsten einer anderen Meinung aufzugeben, sobald sie eingesehen hat, dass hinreichend gewichtige Gründe für eine andere Meinung sprechen, etwa die Meinung, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, weil er die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat und die Anzahl der gewonnenen Grand-Slam-Titel ein angemessenes Kriterium für die historische Wichtigkeit eines Tennisspielers darstellt. Den Zusammenhang zwischen der Angemessenheit des Grand-Slam-Kriteriums, der Anzahl der gewonnenen Grand-Slam-Titel von Roger Federer und seinem Status hinsichtlich der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten kann man zwar in einem abstrakten Sinn als einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Gehalten der beteiligten Meinungen verstehen, etwa indem man einsieht, dass eine Person, welche glaubt, dass Roger Federer die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat, und zusätzlich dazu der Meinung ist, dass die Anzahl der gewonnenen Grand-Slam-Turniere ein angemessenes Kriterium für den tennishistorischen Rang eines Spielers ist, einen Grund hätte, der Meinung zu sein, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, der sie auch unmittelbar dazu bewegt, ihre alte Meinung, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, zugunsten dieser neuen Meinung aufzugeben. Den rationalen Druck, der sich darin äußert, dass ich unmittelbar zu einer Einstellungsrevision bewegt werde, werde ich aber nur dann spüren, wenn ich die Einstellungen, die Bestandteil des Abwägungsprozesses sind, als in einem emphatischen Sinn meine Einstellungen begreife oder, anders ausgedrückt, wenn ich es bin, der das in Frage stehende Abwägen besorgt. Wie soll man sich aber eine Situation vorstellen, in der ich nicht auf diese Weise in einem rationalen Verhältnis zu meinen Einstellungen stehe? Was soll es heißen, dass ich in einem nicht-rationalen bzw. kontingenten Verhältnis zu meinen Einstellungen stehe, so dass sie von mir nicht als im emphatischen Sinn meine Einstellungen betrachtet werden können? An dieser Stelle denke man etwa an Marie, eine erfahrene und erfolgreiche Evolutionsbiologin, die es im Verlaufe ihres Lebens nicht geschafft hat, sich hinreichend von den prägenden Einflüssen zu distanzieren, die ihre Kindheit in einem kleinen katholischen Dorf auf sie hatte. Marie weiß, dass sie keinen Grund hat, an die Schöpfungsgeschichte, von der sie im Religionsunterricht gehört hat, zu glauben, und im beruflichen Kontext vertritt sie auch Ansichten, die im radikalen Gegensatz zu den Lehren der katholischen Kirche stehen, mit denen sie als Kind konfrontiert wurde. Dennoch erfasst sie, immer wenn es um besonders heikle Fragen geht, wie etwa die Frage danach,



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wie es zur Entstehung der Spezies Homo sapiens gekommen ist, ein Gefühl der inneren Unruhe. Schließlich erkennt Marie im Zuge einer Psychotherapie, dass sie nach all den Jahren immer noch der Meinung ist, dass es Gott ist, der den Menschen erschaffen hat. Zu einem bestimmten Zeitpunkt ihres Lebens ist diese Meinung zwar von Marie einer kognitiven Überprüfung unterzogen worden, und sie hat auch den rationalen Druck verspürt, sie aufzugeben, einen Druck, der von den Einsichten ausgegangen ist, zu denen sie etwa im Verlaufe ihres Biologiestudiums gelangt ist; dennoch ist es nie zu einer vollständigen Einstellungsrevision gekommen, und Marie ist über die Jahre hinweg weiterhin der Meinung geblieben, dass Gott den Menschen erschaffen hat, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sie immer noch dieser Meinung ist. Im Verlaufe der Therapie ändert sich die Situation insofern, als Marie klar wird, dass sie immer noch der Meinung ist, dass Gott die Welt erschaffen hat. Sie erlangt auf diese Weise Wissen von einem ihrer eigenen mentalen Zustände. Das Verhältnis zwischen Marie und ihrer Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, unterscheidet sich aber radikal von dem Verhältnis, das etwa David zu seiner Meinung hat, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, wenn er zu ihr auf dem Weg der Abwägung von Gründen gelangt ist. Die Art und Weise, wie Marie von ihrer Meinung erfährt, unterscheidet sich dagegen nicht wesentlich von der Weise, wie sie von den Meinungen anderer Leute weiß. Sie kann sich diese Meinung zuschreiben, aber es handelt sich dabei um eine drittpersonale Zuschreibung, und das Verhältnis, das sie zu der Einstellung hat, die sie sich auf diese Weise zuschreibt, ist ebenso ein kontingentes Verhältnis, wie das Verhältnis, das Marie zu den Einstellungen anderer Personen haben kann, wenn sie Fremdzuschreibungen formuliert. Bezeichnenderweise wird der Versuch einer erneuten kritischen Überprüfung der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, wiederum nicht dazu führen, dass Marie diese Meinung unmittelbar revidiert. Burge zufolge liegt das eben daran, dass das Verhältnis, das Marie zu dieser Meinung hat, kein rationales Verhältnis ist. Im Gegensatz dazu kann das Verhältnis, das David etwa zu der Meinung hat, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, insofern als ein rationales Verhältnis bezeichnet werden, als er zu dieser Meinung auf der Basis der Abwägung von Gründen gelangt ist; weil es sich hierbei um ein rationales Verhältnis handelt, wird eine kognitive Überprüfung dieser Meinung dazu führen, dass David sie unmittelbar zu Gunsten einer neuen Meinung wird aufgeben können, sollte er zu der Erkenntnis kommen, das bessere Gründe für diese neue Meinung sprechen. Burges Position im Hinblick auf die beiden Fälle läuft also auf die folgenden beiden Behauptungen hinaus: Weil das Verhältnis zwischen Marie und einer ihrer Einstellungen ein kontingentes Verhältnis ist, kann der Prozeß der kognitiven Überprüfung nicht unmittelbar in einer Einstellungsrevision münden. Im

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Gegensatz dazu gelingt David eine unmittelbare Einstellungsrevision im Zuge der kognitiven Überprüfung einer seiner Einstellungen, weil sein Verhältnis zu dieser Einstellung ein rationales Verhältnis ist. Zusammengenommen deuten beide Behauptungen auf ein bikonditionales Verhältnis zwischen dem rationalen Status meines Verhältnisses zu einer meiner Einstellungen und der Unmittelbarkeit, mit der diese Einstellung im Rahmen einer kognitiven Überprüfung revidierbar ist: In einem rationalen Verhältnis zu einer meiner Einstellungen zu stehen, ist dieser Lesart zufolge notwendig und hireichend dafür, dass diese Einstellung im Zuge einer kognitiven Überprüfung unmittelbar revidiert werden kann. Wenn es stimmt, dass der Prozeß des Abwägens von Gründen zumindest manchmal zu einer unmittelbaren Einstellungsrevision führt, und wenn angenommen werden kann, dass wir tatsächlich in der Lage sind, Abwägungsprozesse zu einem solchen Ende zu bringen, dann kann sich unser Verhältnis zu unseren Einstellungen erster Stufe nicht in einem kontingenten Verhältnis erschöpfen.141 Was könnte es aber abgesehen von diesem Hinweis heißen, dass David in einem rationalen Verhältnis zu einer seiner Einstellungen steht, während dies bei Marie nicht der Fall ist? Ein auf den ersten Blick naheliegender Vorschlag könnte lauten, dass die Frage, ob wir in einem rationalen oder einem kontingenten Verhältnis zu einer unserer Einstellungen stehen, eine Frage davon ist, wie wir zu diesen Einstellungen gekommen sind. Gemäß dieser ‘historischen’ Lesart liegt im Fall von Marie ein kontingentes Verhältnis vor, weil ihre Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, nicht auf dem Wege der Abwägung von Gründen ent-

141 Die im Rahmen von Burges Argumentation zentrale Schlußfolgerung aus diesem Befund ist, dass das Beobachtungsmodell falsch sein muss. (Vgl. Burge (1996): 108: „Not all one’s knowledge of one’s propositional attitudes can fit the simple observational model. For general application of the model is incompatible with the function of knowledge of one’s own attitudes in critical reasoning.“) Wenn tatsächlich angenommen werden kann, dass Parfits Theorie von ähnlichen Annahmen durchzogen ist wie das Beobachtungsmodell, dann ist dieser Befund auch für die Belange der vorliegenden Arbeit interessant, allerdings nur in negativer Hinsicht, weil er lediglich darauf hinausläuft, dass Parfits Theorie in einer weiteren Hinsicht problematisch ist.  Zudem zeigt das Argument von Burge – falls es schlüssig ist – keinesfalls, dass wir niemals in einem kontingenten Verhältnis zu unseren Einstellungen stehen; das wäre auch eine ziemlich unplausible Arbeitshypothese. Vertreter psychologischer Theorien personaler Identität könnten deshalb darauf bestehen, dass es völlig hinreichend ist, im Rahmen eines psychologischen Kriteriums lediglich diejenigen mentalen Zustände zu berücksichtigen, zu denen wir in einem kontingenten Verhältnis stehen. Die naheliegende Reaktion auf eine solche Strategie müsste in dem Nachweis bestehen, dass entscheidende Aspekte personalen Lebens unberücksichtigt blieben, würde man sich nur auf diejenigen Einstellungen beschränken, zu denen wir in einem kontingenten Verhältnis stehen. Dazu braucht es allerdings eine positiven Bestimmung dessen, was es heißt, den eigenen Einstellungen gegenüber einen rationalen Standpunkt einzunehmen.



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standen ist, sondern stattdessen etwa durch kirchliche Indoktrination. Im Gegensatz dazu kann Davids Verhältnis zu der Meinung, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, als rational betrachtet werden, weil er zu dieser Meinung gekommen ist, indem er Gründe hinsichtlich der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten abgewogen hat, aber etwa noch nicht der Meinung war, dass die Anzahl der gewonnenen Grand-Slam-Titel ein angemessenes Entscheidungskriterium für diese Frage darstellt.142 Ist diese Interpretation kompatibel mit Burges Auffassung vom Zusammenhang zwischen dem rationalen Verhältnis, in dem wir zu unseren Einstellungen erster Stufe stehen und der Unmittelbarkeit, mit der Einstellungsrevisionen stattfinden? Sie würde ihn auf die folgenden beiden Behauptungen festlegen: Weil Maries Meinung nicht auf der Basis der Abwägung von Gründen zustande gekommen ist, kann sie diese Meinung nicht unmittelbar revidieren. Im Gegensatz dazu kann David seine Meinung unmittelbar revidieren, weil diese Meinung dadurch entstanden ist, dass er Gründe für diese Meinung abgewogen hat. Leider können beide Behauptungen nicht stimmen. Eine Konsequenz aus der ersten Behauptung wäre, dass es uns unmöglich ist, Einstellungen unmittelbar zu revidieren, die anders als auf dem Wege der Abwägung von Gründen zustande gekommen sind. Das scheint aber standardmässig zu passieren, etwa in dem Fall eines Evolutionsbiologen, der in ähnlichen Umständen wie Marie aufgewachsen ist, bei dem die kirchliche Indoktrination aber weniger starke Wurzeln geschlagen hat. Er mag zu einem Zeitpunkt seines Lebens durchaus der Meinung sein, dass Gott den Menschen erschaffen hat – d.h. er hat eine Einstellung, die nicht Ergebnis der Abwägung von Gründen ist – und dennoch in der Lage sein, diese Meinung unmittelbar zu revidieren, sobald er mit Gründen konfrontiert wird, die gegen diese Meinung sprechen, etwa einer plausiblen Theorie, nach der wir von Affen abstammen. Auch im Hinblick auf die zweite Behauptung lassen sich Gegenbeispiele denken. So kann David zu der Meinung, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, durchaus auf dem Weg der Abwägung von Gründen gelangt sein und dennoch daran scheitern, diese Meinung unmittelbar zu revidieren, sobald ihm klar wird, dass keine Gründe mehr für diese Meinung vorliegen, etwa in dem Fall, in dem Rafael Nadal es schafft, mehr Grand-Slam-Titel als Roger Federer zu gewinnen. Sein ‘Festhalten’ an der Meinung, dass Roger Federer der

142 Oder er war sich über die Angemessenheit dieses Kriteriums im Klaren, aber die Abwägung fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem Roger Federer noch nicht die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat; oder er täuschte sich zum Zeitpunkt der Abwägung darin, dass Björn Borg und nicht Roger Federer die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat etc.

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beste Tennisspieler aller Zeiten ist, wird dann dazu führen, dass er in einem Verhältnis zu dieser Meinung steht, das genauso kontingent ist, wie Maries Verhältnis zu der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, und das obwohl Davids Meinung im Gegensatz zu Maries Meinung ursprünglich das Ergebnis eines Prozesses der Abwägung von Gründen gewesen ist. Dieser letzte Punkt spricht keinesfalls gegen Morans weiter oben thematisierte Analyse, nach der wir uns in einem rationalen Verhältnis zu einer unserer Einstellungen befinden, direkt nachdem wir zu ihr auf dem Weg der Abwägung von Gründen gelangt sind. Er nimmt lediglich die temporale Dimension unseres Verhältnisses zu den eigenen mentalen Zuständen in den Blick, indem behauptet wird, dass die Tatsache, dass ich auf bestimmte Weise zu einem meiner mentalen Zustände gelangt bin, nicht für den Rest der Zeit dafür spricht, dass ich ein rationales Verhältnis diesem Zustand gegenüber beibehalte. In diesem Sinne beinhaltet die Kritik an einer historischen Interpretation dessen, was Burge mit einem rationalen Verhältnis zu unseren eigenen mentalen Einstellungen meint, eine Ausweitung davon, was ich weiter oben als den dynamischen Aspekt des Standpunkts der ersten Person bezeichnet habe: Wenn wir diesen Standpunkt einnehmen, dann heißt das nicht, dass wir lediglich zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas mit einer unserer Einstellung machen müssen, sondern vielmehr, dass wir diesen Standpunkt auch über die Zeit aufrechtzuerhalten haben, indem wir in einem ‘aktiven’ Verhältnis zu unseren Einstellungen bleiben. Was heißt es aber in diesem Fall, dass man ein rationales bzw. aktives Verhältnis zu den eigenen Einstellungen erster Stufe hat? Im Fall von Marie bestand die Kritik an der historischen Antwort auf diese Frage in dem Hinweis darauf, dass die bloße Tatsache, dass eine Person zu ihrer Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, nicht auf dem Weg der Abwägung von Gründen gelangt ist, es per se nicht verhindert, dass diese Meinung im Zuge einer kritischen Überprüfung unmittelbar revidiert wird. Wie unterscheidet sich der Fall, in dem Marie im Zuge einer Therapie von ihrer Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, erfährt, von dem Fall des weniger indoktrinierten Evolutionsbiologen, dessen Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, zum ersten Mal mit den evolutionstheoretischen Gründen konfrontiert wird, die gegen diese Meinung sprechen? Der entscheidende Unterschied lässt sich in einem ersten Schritt folgendermaßen formulieren: Die Meinung des weniger indoktrinierten Evolutionsbiologen befindet sich zum Zeitpunkt ihrer kritischen Überprüfung noch im Wirkungsbereich der Gründe des Evolutionsbiologen, während Maries enstprechende Meinung außerhalb eines solchen Wirkungsbereiches vorliegt. Was ist aber mit der metaphorischen Redeweise vom Wirkungsbereich von Gründen gemeint? An dieser



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Stelle kommen Burges Bemerkungen ins Spiel, in denen er den Begriff der Perspektive (‘point of view’) verwendet.143 Burge liefert zwar keine explizite Bestimmung dessen, was er mit einer Perspektive meint, aber aus seinen Ausführungen lässt sich das folgende Bild rekonstruieren: Bestandteile einer Perspektive sind propositionale Einstellungen wie Meinungen, Hoffnungen, Wünsche oder Absichten. Entscheidend ist, dass diese Einstellungen im Rahmen einer Perspektive nicht unabhängig voneinander vorliegen, sie müssen vielmehr in dem Maße miteinander kompatibel sein, dass sie insgesamt ein kohärentes Ganzes bilden. Was heißt es, dass Einstellungen kohärent miteinander sind? Im Fall von Meinungssystemen bedeutet es beispielsweise, dass keine Meinungen vorliegen, die einander widersprechen. So widerspricht etwa die Meinung, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, der Meinung, dass Björn Borg der beste Tennisspieler aller Zeiten ist – dies allerdings unter der weiteren Annahme, dass Roger Federer und Björn Borg zwei unterschiedliche Personen sind, sowie der Einsicht darin, dass der Begriff des ‘besten Tennisspielers aller Zeiten’ impliziert, dass nur eine Person zu einem Zeitpunkt unter ihn fallen kann. Eine Perspektive in Burges Sinne kann nicht all diese Meinungen enthalten, ohne dass sie aufhört, eine einheitliche Perspektive zu sein. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als ob das Identitätskriterium für Perspektiven mit dem Kriterium der synchronen Identität von Personen zusammenfallen würde, denn es besteht prima facie kein Anspruch auf Kohärenz zwischen meinen Einstellungen und den Einstellungen einer von mir unterschiedenen Person.144 Dass David der Meinung ist, dass Roger Federer die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat, muss ebensowenig eine Auswirkung auf

143 Vgl. zum Folgenden Burge (1996), 108ff., etwa: „Rational evaluation of attitudes commonly applies to and within a perspective or point of view.“ (108) 144 An dieser Stelle mache ich die Einschränkung, weil es selbstverständlich zu Situationen kommen kann, in denen die Tatsache, dass eine Person einer bestimmten Meinung ist, durchaus von Relevanz für das Meinungssystem einer anderen Person ist, etwa dann, wenn Marie und David sich darüber zu verständigen versuchen, ob Gott den Menschen erschaffen hat. Von zentraler Bedeutung wird hier sein, welche Begründung die jeweils andere Person für ihre Ansicht geben kann. Situationen der rationalen Überzeugung als einen Versuch des Kohärentmachens von Perspektiven voneinander unterschiedener Personen zu interpretieren, ist möglicherweise ein interessantes Projekt, aber in der Folge kommt es mir nicht auf solche Zusammenhänge an. Ein Kontext, in dem die Meinung einer anderen Person von unmittelbarer Relevanz für mein eigenes Meinungssystem sein wird, betrifft Wissen, das ich vom Hörensagen erwerbe, weil ich weiß, dass ich einen vertrauenswürdigen Informationspartner vor mir habe; auch dieser Zusammenhang würde mich zu weit von meiner eigentlichen Fragestellung wegführen.

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Maries Meinungssystem haben, wie umgekehrt Maries Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, für Davids Meinungssystem relevant ist.145 Dass Perspektiven sich nicht über die Personen, welche sie einnehmen, individuieren lassen, sieht man allerdings daran, dass es möglich ist, dass eine einzige Person zwei oder mehrere Perspektiven einnimmt. Genau dies ist in der Situation von Marie der Fall. Es stehen sich hier zwei Perspektiven gegenüber – einerseits die Perspektive der Evolutionsbiologin, die ein kohärentes System von wissenschaftlich fundierten Meinungen über die Enstehungsgeschichte der Arten darstellt, andererseits die Perspektive des katholischen Schulmädchens, welche mindestens aus der Meinung besteht, dass Gott den Menschen erschaffen hat.146 Das Verhältnis, in dem Marie zu der Meinung steht, dass Gott den Menschen erschaffen hat, wenn sie im Rahmen ihrer Therapie den Versuch unternimmt, diese Meinung einer kognitiven Überprüfung zu unterziehen, ist insofern kein rationales Verhältnis, als es sich bei der Perspektive, von der aus die Überprüfung stattfindet, und der Perspektive, zu der die zu überprüfende Meinung gehört, um zwei unterschiedliche Perspektiven handelt. Das heißt zwar nicht, dass es Marie niemals möglich sein wird, die Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, zu revidieren, aber diese Revision wird nicht unmittelbar erfolgen, weil das Verhältnis, in dem Marie zu dieser Meinung steht, ein kontingentes Verhältnis ist.147 Im Gegensatz dazu kommt es im Fall des weniger indoktrinierten Evolutionsbiologen zu einer unmittelbaren Einstellungsrevision, weil das Verhältnis, in dem dieser zu der zu überprüfenden Einstellung steht, insofern ein rationales Verhältnis ist, als diese Einstellung Bestandteil einer einzigen Perspektive ist. In diesem Sinne unterscheidet sich der Fall des weniger indoktrinierten Evolutionsbiologen nicht wesentlich von der Situation, in der David seine Meinung, dass Björn Borg

145 Vgl. Burge (1996), 108: „My judgement that your beliefs are irrational may be reasonable from my point of view. But it does not follow that there is reason from your perspective to change your beliefs.“ 146 Manchmal wird es sich in Situationen, in denen es zu einem drastischen Perspektivenkonflikt innerhalb einer Person kommt, nicht nur um vereinzelte Einstellungen handeln, die von der betroffenen Person als fremd empfunden werden, und zu denen sie in einem kontingenten Verhältnis steht. Man denke etwa an Personen, die unter Verfolgungswahn leiden und ganze Theorien entwerfen, um ihre bizarren Überzeugungen zu stützen. 147 Vgl. Burge (1996), 110: „It would be reasonable for the person from the point of view of the review that a change in the reviewed material be made. But this reason would not necessarily transfer to within the point of view of the attitudes under review, even though that is a point of view of the same person. Its transferring would depend on brute, contingent, non-rational relations between the two points of view.“



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der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, revidiert, nachdem er eingesehen hat, dass es Gründe gibt, die gegen diese Meinung sprechen. Was macht also eine Perspektive zu einer einzigen Perspektive, wenn es nicht der Umstand sein kann, dass sie von einer einzigen Person eingenommen wird? Die Antwort auf diese Frage lautet, dass die Einheit einer Perspektive eben dadurch gewährleistet wird, dass es sich bei den Einstellungen, die ihre Bestandteile sind, um Einstellungen handelt, die insofern unter einer Anforderung, miteinander kohärent zu sein, stehen, als diejenigen Einstellungen, die sich inkompatibel mit anderen Einstellungen erweisen, unmittelbar revidiert werden. Oder plakativer formuliert: Perspektiven sind Einstellungssysteme, die nach interner Kohärenz streben, und eine Perspektive einzunehmen, heißt nichts anderes, als sich insofern in eine rationale Position den eigenen Einstellungen gegenüber zu bringen, als man dieses Streben nach Kohärenz als den rationalen Druck erfährt, die zu überprüfenden Einstellungen gemäß der Einsicht in Gründe, d.h. im Lichte all der anderen Einstellungen, welche die Perspektive ausmachen, anzupassen. Eine Folge dieser Interpretation ist, dass die bloße Tatsache, dass es sich bei einer Menge von Einstellungen erster Stufe um ein kohärentes Einstellungssystem handelt, zwar dafür spricht, dass es sich um eine einzelne Perspektive handelt, aber noch nicht hinreichend dafür ist, diese Perspektive als die Perspektive der ersten Person zu betrachten. Denken wir wieder an den Fall von Marie. Bislang habe ich die Situation so beschrieben, als ob klar wäre, dass es sich bei der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, um eine Meinung handelt, die Marie insofern fremd ist, als sie sich weder in das Meinungssystem integrieren lässt, das die Perspektive ausmacht, welche Marie einnimmt, solange sie sich als Evolutionsbiologin versteht, noch einer unmittelbaren Revision unterzogen werden kann. Das betrachtete Beispiel lässt sich aber auch so beschreiben, dass Marie nicht nur eine vereinzelte Meinung darüber hat, dass Gott den Menschen erschaffen hat, sondern stattdessen eine ganze Reihe von Einstellungen, die diese Meinung stützen und insgesamt ein kohärentes Einstellungssystem bilden. So kann man sich durchaus vorstellen, dass Marie auch zu der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, auf dem Weg der Abwägung von Gründen gekommen ist – nur wird es sich dabei um Überlegungen handeln, die aus der Perspektive der Evolutionsbiologie keine Gründe darstellen. In so einer Situation wird es zumindest eine offene Frage darstellen, ob es sich bei dem religiösem Einstellungssystem oder aber bei dem Meinungssystem der modernen Evolutionstheorie um diejenige Perspektive handelt, die von Marie als die ‘fremde’ Perspektive betrachtet werden wird. In der Regel wird es sich bei Einstellungen, die wir uns nur drittpersonal zuschreiben können, vielleicht tatsächlich lediglich um vereinzelte mentale Vorkommnisse, wie den irrationalen Glauben an Gespenster oder einen unterdrückten Wunsch danach, einem Ver-

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wandten zu schaden, handeln, und wo nur eine Einstellung vorliegt, wird die Bezugnahme auf Kohärenz keinen Sinn haben. Das spricht allerdings nicht dafür, das Einnehmen der Perspektive der ersten Person damit zu identifizieren, dass man sich in einem kohärenten Einstellungssystem verortet. Die Tatsache, dass Einstellungen ein kohärentes Ganzes bilden, ist nicht gleichbedeutend mit der Tatsache, dass es sich bei diesem Ganzen um das Einstellungssystem handelt, mit dem das Subjekt dieser Einstellungen identifiziert werden kann. Das Streben nach Kohärenz ist lediglich eine notwendige Bedingung dafür, dass es sich dabei um meine Perspektive handelt. Was muss also hinzukommen, um eine Perspektive zu meiner Perspektive zu machen? Ein naheliegender, wenn auch nicht besonders befriedigender Vorschlag lautet, dass ich mich mit einer Perspektive identifizieren muss. Marie empfindet die Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, als eine fremde Meinung, weil sie sich mit derjenigen Perspektive identifiziert, die von der modernen Evolutionstheorie informiert wird – sie versteht sich als Evolutionsbiologin, als Naturwissenschaftlerin, als ein aufgeklärter Mensch oder Ähnliches.148 Unbefriedigend ist dieser Vorschlag, weil sich sofort kritisch nachfragen lässt, worin denn eine solche Identifikation besteht bzw. auf welcher Grundlage sie stattfindet. Diese Frage wird mich im folgenden Kapitel beschäftigen. Die Lehre, die ich aus dem letzten Punkt für den weiteren Verlauf meiner Argumentation ziehen möchte, besteht fürs Erste lediglich in der Einsicht, dass das bloße Vorliegen von Kohärenz noch nicht dafür garantiert, dass es sich bei einem Einstellungssystem um das genuin eigene Einstellungssystem handelt, sowie – weitaus wichtiger – dass Identifikationsprozesse in dem Sinn global zu verstehen sind, dass es sich dabei nicht lediglich um Identifikation mit einzelnen Vorkommnissen des eigenen Lebens, sondern mit Netzwerken solcher Vorkommnisse handelt.

148 An dieser Stelle muss wiederum betont werden, dass es für den vorliegenden Zusammenhang keinen Unterscheid macht, dass die Evolutionstheorie ‘wahr’, zutreffend, angemessen oder explanatorisch leistungsfähiger als die Lehre der katholischen Kirche ist. An keiner Stelle des vorliegenden Teils der Arbeit geht es mir um die objektive Güte von Gründen. Die Perspektive der ersten Person im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände kann auch von einer Person eingenommen werden, die ein vollkommen verzerrtes Bild davon hat, was der Fall ist.

7 Verständlichkeit und Identifikation Mit der vorliegenden Rekonstruktion der Theorien von Moran und Burge verbinde ich keinesfalls den Anspruch, beiden Autoren in jedem Detail ihrer Argumentation gerecht geworden zu sein. Insbesondere die zuletzt getroffenen Bestimmungen zur Einheit von Einstellungssystemen und der Notwendigkeit eines Identifikationsaktes mit solchen Einstellungssystemen gehen darüber hinaus, was Burge selbst im Rahmen seiner Theorie explizit behauptet. Im Rahmen des vorliegenden Teils der Arbeit bestand mein Ziel darin, zentrale Merkmale der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person herauszuarbeiten, um den argumentativen Boden für die Diskussion des nächsten Teils zu bereiten, in dem es um die Frage geht, was es heißt, sich erstpersonal auf die eigene Vergangenheit und Zukunft zu beziehen. In diesem Zusammenhang ergab sich das folgende Bild: Wenn ich die Perspektive der ersten Person bezüglich meiner mentalen Einstellungen einnehme, dann werden diese Einstellungen in dem Sinn transparent, dass ich mich damit beschäftige, was der Inhalt dieser Einstellungen ist. Das Merkmal der Transparenz macht Raum für den dynamischen Charakter dessen, was passiert, wenn ich die Perspektive der ersten Person einnehme: Anstatt darüber nachzudenken, in welchen mentalen Zuständen ich mich befinde, geht es vom Standpunkt der ersten Person aus darum, in einem angemessenen Verhältnis zu den eigenen Einstellungen zu stehen. Die Angemessenheit dieses Verhältnisses besteht darin, dass dieses Verhältnis rational ist, und zwar in einem doppelten Sinne: Zum einen geht es darum, meine Einstellungen erster Stufe als etwas zu begreifen, das normative Kraft hat, d.h. es geht darum, sie als potentielle Gründe für andere Einstellungen zu sehen; zum anderen verbindet sich mit dem rationalen Charakter des Verhältnisses, in dem ich zu meinen Einstellungen stehe, die Forderung, diese Einstellungen gemäß der Einsicht in Gründe auzubilden oder aber zu revidieren. Plakativ formuliert: In einem rationalen Verhältnis zu meinen Einstellungen erster Stufe zu stehen, bedeutet, dass man sie als Gründe und als von Gründen abhängig betrachtet. Dies wiederum deutet auf den globalen Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person: In einem rationalen Verhältnis zu einer meiner Einstellungen zu stehen, heißt immer, dass man in einem rationalen Verhältnis zu ganzen Zusammenhängen von Einstellungen steht. Eine Perspektive ist ein solches Netzwerk von Einstellungen; sie einzunehmen bedeutet, dass man sich um die Kohärenz dieses Netzwerks kümmert, indem man auf rationalem Weg Einstellungen ausbildet und revidiert. Das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person ist hierbei noch in einem weiteren Sinn dynamisch zu nennen: Wenn ich diesen Standpunkt beziehe, identifiziere ich mich mit dem Netzwerk der Einstellungen, zu denen ich in einem rationalen Verhältnis stehe; in diesem

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 Verständlichkeit und Identifikation

Sinn mache ich mir Einstellungen zu eigen, sobald ich vom Standpunkt der ersten Person Einstellungen ausbilde oder revidiere.

7.1 Internalismus vs. Transparenz Eine Komplikation, die ich bislang nur angedeutet habe, ergibt sich hierbei aus meinem Versuch, die Theorien von Moran und Burge so zu lesen, dass sie einander ergänzen. Zumindest in einem Punkt ist allerdings unklar, ob sie überhaupt miteinander kompatibel sind. Beide Autoren eint zwar die Einsicht, dass der Standpunkt der ersten Person als der Standpunkt des rationalen Akteurs zu verstehen ist, allerdings richten beide ihr Augenmerk auf unterschiedliche Aspekte des rationalen Verhaltens unseren Einstellungen gegenüber, was man gut an dem im Verlauf meiner Rekonstruktion bemühten Beispiel von Davids Meinung, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, sehen kann. Moran verortet diesen rationalen Aspekt in dem Verhältnis, in dem David zu seiner Meinung steht, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist; Burge dagegen macht das Verhältnis zum Thema, in dem David zu den Gründen steht, die für diese Meinung sprechen, etwa dem Grund, der darin besteht, dass Roger Federer die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat. Auf den ersten Blick ist hier noch keine Inkompatibilität zu sehen: In einem rationalen Verhältnis zu der Meinung zu stehen, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, muss auch im Rahmen von Morans Theorie heißen, dass man diese Meinung als abhängig von relevanten Gründen betrachtet. Um eine Antwort auf das Rechtfertigungsproblem zu geben, ist Burge aber im Rahmen seiner Argumentation gezwungen, die Gründe, die aus Davids Perspektive dafür sprechen, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, ihrerseits als mentale Einstellungen von David zu verstehen: David weiß von seiner Meinung, dass Roger Federer die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat – so die Struktur von Burges Argument – weil diese Meinung die Rolle eines Grundes in dem Abwägungsprozeß spielt, der ihn dazu bringt, die Meinung auszubilden, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist; und könnte man von David nicht sagen, dass er weiß, dass er der Meinung ist, dass Federer die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat, ließe sich der gesamte Abwägungsprozeß nicht mehr als ein rationaler bzw. vernünftiger Prozeß verstehen. Sollten Gründe tatsächlich nichts anderes als mentale Einstellungen sein, ist allerdings Morans zentrale These nicht mehr zu verstehen, nach der wir, wenn wir uns auf den deliberativen Standpunkt stellen, um Gründe abzuwägen, die für bzw. gegen eine Meinung sprechen, in einen Prozeß eintreten, der mit der Welt und nicht mit unseren Einstellungen zu tun hat. Kurz: Es ist alles andere als klar, ob die



Internalismus vs. Transparenz 

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Erfüllung der Transparenzbedingung mit einer internalistischen Auffassung von Gründen kompatibel ist. Ich denke, sie ist es nicht,149 aber gleichzeitig glaube ich auch, dass man den Teil der Argumentation von Burge, der für das Thema der vorliegenden Arbeit relevant ist, auf externalistische, d.h. mit der Transparenzbedingung vereinbare Weise lesen kann. Burge ist mit seiner Behauptung, dass Gründe nichts anderes als mentale Einstellungen sind, darauf festgelegt, den David-Beispielfall folgendermaßen zu beschreiben: David glaubt, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, weil er glaubt, dass Federer die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat. Gegen diese Beschreibung ist zunächst auch dann nichts einzuwenden, wenn man Transparenz für eine notwendige Bedingung des Einnehmens der Perspektive der ersten Person hält. Das liegt daran, dass es sich bei dieser Beschreibung um die Beschreibung einer Person handelt, die von der Person unterschieden ist, welche diese Beschreibung formuliert, wodurch die Beschreibung trivialerweise als eine Beschreibung verstanden werden muss, die aus der Perspektive der dritten Person erfolgt. Aus der Tatsache, dass man, sobald man sich auf einen theoretischen Standpunkt stellt, dazu gezwungen ist, Formulierungen zu verwenden, die einen auf den Standpunkt der dritten Person festlegen, darf allerdings nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, dass sich die Dimension dessen, was man beschreibt – in dem vorliegenden Fall also beispielsweise die Dimension eines rationalen Abwägungsprozesses – vom Standpunkt der dritten Person erschöpfend erfassen lässt. Genau das ist aber der Punkt, den Moran mit der Einführung der Transparenzbedingung als einem Unterscheidungskriterium zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person zu formulieren versucht: Aus der Tatsache, dass es völlig natürlich und angemessen ist, davon zu reden, dass David der Meinung ist, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, weil er der weiteren Meinung ist, dass Federer die meisten Grand-SlamTurniere gewonnen hat, folgt keinesfalls, dass es aus der Perspektive von David die Meinung ist, dass Federer die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat, welche entscheidend dafür ist, dass David der Meinung ist, dass Federer der beste

149 Zumindest kann die Lesart der Transparenzbedingung, die ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit entwickelt habe, nicht mit einer internalistischen Auffassung von Gründen versöhnt werden. Allerdings ist eine Position denkbar, nach der die Frage danach, welcher Meinung ich bin, von mir beantwortet wird, indem ich mir die Frage stelle, welcher Meinung ich sein sollte, während die Gründe, welche ich bemühen werde, um letztere Frage zu beantworten im Sinne einer internalistischen Position als mentale Einstellungen konstruiert werden. Der ‘Witz’ von Morans Ansatz würde im Rahmen einer solchen Argumentation verloren gehen, weil sie im Ergebnis wiederum darauf hinausläuft, dass man seinen Blick ‘nach innen’ richten muss.

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 Verständlichkeit und Identifikation

Tennisspieler aller Zeiten ist. Die Perspektive der ersten Person im Hinblick auf die Meinung, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, einzunehmen, heißt für David, sich im Hinblick auf diese Meinung von Überlegungen leiten zu lassen, welche die Welt – in diesem Fall also Roger Federers Grand-Slam-Bilanz – und nicht seinen mentalen Haushalt zum Gegenstand haben. Im Zentrum von Davids Interesse steht die Frage danach, wer als der beste Tennisspieler aller Zeiten betrachtet werden kann. Aus der Perspektive einer Person, die sich – wie David – diese Frage stellt, spielt der eigene mentale Haushalt ebensowenig eine Rolle wie der mentale Haushalt von David eine Rolle für mich spielt, wenn ich mir selbst Gedanken darüber mache, wer als der beste Tennisspieler aller Zeiten gelten kann.150 Die Behauptung von Burge, dass Gründe mentale Einstellungen sind, kann in diesem Sinn als kompatibel mit der Transparenzbedingung verstanden werden, solange sie mit dem Zusatz versehen wird, dass dies nur aus der Perspektive der dritten Person der Fall ist. Allerdings bliebe die Beschreibung auch unter Berücksichtigung dieses Zusatzes noch missverständlich. Von der Warte eines Verfechters der Transparenzbedingung müsste eine angemessene Formulierung daran festhalten, dass eine Person, die Gründe abwägt, sich auf Dinge in der Welt bezieht. Diese Behauptung ist durchaus vereinbar mit der Auffassung, dass eine Person, die sich im Prozeß der Abwägung von Gründen mit der Welt beschäftigt, dies nur tun kann, indem sie mentale Einstellungen hat. Etwas als einen Grund zu sehen, kann dieser Interpretation nach tatsächlich als identisch damit betrachtet werden, dass man sich in einem mentalen Zustand befindet, ohne dass man gleichzeitig gezwungen wird, die Transparenzbedingung aufzugeben. Die Auffassung, dass unser Zugang zu Gründen darin besteht, dass wir uns in mentalen Zuständen befinden, spricht gerade gegen die internalistische Gleichsetzung von

150 Auch in diesem Zusammenhang gibt es viel Raum für Mißverständnisse: Danach gefragt, warum ich denke, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, könnte eine völlig angemessene Antwort ‘Weil ich glaube, dass er die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat’ lauten. Das heißt aber wiederum keinesfalls, dass ich der bizarren Auffassung bin, dass die Verfasstheit meiner mentalen Einstellungen eine Relevanz für die Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten hat. Fälle, in denen wir uns bei der Rechtfertigung unserer Einstellungen explizit auf andere unserer Einstellungen beziehen, sind im Alltag vielleicht gar nicht selten. Das kann einerseits daran liegen, dass wir uns von Fall zu Fall nicht ganz sicher sind, ob das, was wir für einen guten Grund halten, auch tatsächlich der Fall ist. Viel öfter – und damit zusammenhängend – folgen wir dabei aber einer bloßen Höflichkeitskonvention, die in dem Maße einschlägiger ist, in dem es sich bei den in Frage stehenden Sachverhalten um ‘strittige Punkte’ handelt. (Man denke etwa an ‘Weil Bob Dylan seit Jahrzehnten nur noch langweilige Songs schreibt’ als unhöfliche Antwort auf die Frage, warum man ein Dylan-Konzert ausgelassen hat.)



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Gründen mit mentalen Zuständen und lässt Raum für die Erfüllung der Transparenzbedingung im Fall des Einnehmens der Perspektive der ersten Person. Dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, weil er die meisten GrandSlam-Turniere gewonnen hat, wird David nur dann einsehen, wenn er tatsächlich der Meinung ist, dass Federer die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat. Das heißt aber nicht, dass dasjenige, was aus Davids Perspektive dafür spricht, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, wenn er denkt, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, die eigene Meinung ist, dass Federer die meisten Grand-Slam-Turniere gewonnen hat.151

7.2 Kohärenz vs. Verständlichkeit Ein ähnlich gelagertes Problem betrifft Burges Versuch, die Metapher des rationalen Drucks, der eine Person dazu bewegt, Einstellungen im Zuge einer kognitiven Überprüfung unmittelbar zu revidieren, durch den Hinweis auf das ‘KohärenzStreben’ von Einstellungssystemen zu explizieren. Ähnlich wie im Fall der Identifikation von Gründen mit Einstellungen, droht auch in diesem Zusammenhang der eigentliche ‘Witz’ der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person verloren zu gehen, solange man die Redeweise von Einstellungssystemen und Kohärenz nicht mit einer zusätzlichen Erklärung versieht. Der Punkt lässt sich folgendermaßen formulieren: Eine der zentralen Einsichten von Moran und von Burge lautet, dass eine Person, die den Standpunkt der ersten Person bezieht, mehr zu tun hat, als lediglich das Vorhandensein ihrer mentalen Zustände zu registrieren. Weiter oben habe ich dies als den dynamischen Aspekt des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person bezeichnet: Sobald ich diesen Standpunkt beziehe, befinde ich mich in der Position eines

151 Wenn es stimmt, dass Gründe etwas ‘in der Welt’ Bestehendes sind, zu dem wir immer dann Zugang finden, wenn wir uns auf den Standpunkt der ersten Person stellen, indem wir die Transparenzbedingung erfüllen, dann würde das gleichermaßen bedeuten, dass sich drittpersonal keine erschöpfende Beschreibung eines Grundes formulieren lässt bzw. dass der Begriff des Grundes vom Standpunkt der dritten Person nicht vollständig zu verstehen ist. Gründe wären dieser Auffassung nach ‘irreduzibel erstpersonal’. Dass Burge einer solchen Auffassung nicht abgeneigt sein könnte, obwohl er stellenweise Gründe mit mentalen Einstellungen zu identifizieren scheint, belegt etwa die folgende Stelle: „The notions of reason and first-personhood are, at the deepest levels, necessarily and apriori involved in understanding eachother.“ (Burge (1998), 250; an dieser Stelle muss allerdings die notorische Mehrdeutigkeit des englischen Ausdrucks ‘reason’ beachtet werden, welche die gesamte Burge-Argumentation durchzieht.)

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 Verständlichkeit und Identifikation

rationalen Akteurs, dessen Aufgabe darin besteht, auf der Basis der Abwägung von Gründen die eigenen Einstellungen zu revidieren bzw. beizubehalten. Dieses rationale Tätigsein auf eine Weise zu beschreiben, die auf Einstellungssysteme abhebt, welche nach Kohärenz streben, birgt allerdings die Gefahr in sich, das Einnehmen der Perspektive der ersten Person seines dynamischen Charakters zu berauben. Wenn ‘rational sein’ nichts anderes bedeuten sollte, als dass Systeme von Einstellungen nach Kohärenz streben, ist nicht mehr zu sehen, welche Rolle die Person, welche diese Einstellungen hat, im Prozeß des Abwägens von Gründen spielen sollte. Grob gesprochen: Die Bezugnahme auf nach Kohärenz strebende Einstellungssysteme legt eine Interpretation ‘rationalen Tätigseins’ nahe, nach der dieses Tätigsein sich darin erschöpft, dass Einstellungen sich gegenseitig abwägen; der Person, die Subjekt dieser Einstellungen ist und gemäß der dynamischen Interpretation des Standpunkts der ersten Person eine entscheidende Rolle im Prozeß der Ausbildung und Revision von Einstellungen spielen sollte, bleibt nichts mehr zu tun übrig, als ‘abzuwarten’, zu welchem Ergebnis das Kohärenzstreben ihres Einstellungssystems führen wird. Ich denke, es ist deutlich, dass ein solches Verständnis von ‘rational sein’ nichts mehr damit zu tun hätte, was ich im Verlaufe des vorliegenden Teils meiner Arbeit als den Standpunkt der ersten Person zu bestimmen versucht habe. Burges Ausführungen zum Thema von Einstellungssystemen und Kohärenz haben im Verlaufe meiner Rekonstruktion insofern eine wichtige Rolle gespielt, als sie mir einerseits eine genauere Bestimmung des rationalen Verhältnisses ermöglicht haben, in dem eine Person zu ihren eigenen Einstellungen steht, wenn sie den Standpunkt der ersten Person einnimmt, und andererseits auf den globalen Charakter dessen hingedeutet haben, was es bedeutet, überhaupt eine Perspektive zu haben. Gleichzeitig droht die Bezugnahme auf Einstellungssysteme, die nach Kohärenz streben, alle anderen zentralen Aspekte des Einnehmens der Perspektive der ersten Person, die ich bislang herausgearbeitet habe, zu unterminieren. Ich denke, es gibt einen Ausweg aus diesem Problem. Er besteht wiederum darin, dass man die drittpersonale Konnotationen weckende Redeweise von Einstellungssystemen und Kohärenz zulässt, gleichzeitig aber daran festhält, dass sie leidglich die abkürzende Formulierung eines im Grunde erstpersonalen Phänomens darstellt. Wie läßt sich das Streben nach Kohärenz als ein erstpersonales Phänomen verstehen? Zunächst ist festzuhalten, dass die Weise, in der ich bislang von Einstellungssystemen gesprochen haben, die nach Kohärenz streben, in weitaus stärkerem Maße explikationsbedürftig ist, als die Behauptung, dass Kohärenz etwas mit dem Standpunkt der ersten Person zu tun hat: Von Einstellungsystemen zu behaupten, dass sie nach Kohärenz ‘streben’, ist nicht entscheidend weniger mißverständlich, wie davon zu reden, dass eine Dampfmaschine



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nach Druckausgleich oder ein Ökosystem nach Gleichgewicht strebt. Wenn überhaupt, dann sind es Personen, die nach Kohärenz streben. Warum sollte man aber um Kohärenz der eigenen Einstellungen bemüht sein? An dieser Stelle bietet sich die Einführung eines Begriffs an, den ich im Zuge der Rekonstruktion der Theorien von Burge und Moran vermieden habe, der aber die hinter dem Begriff der Kohärenz stehenden Intuitionen einzufangen in der Lage ist, ohne dass dabei die zentralen Aspekte dessen, was es heißt, die Perspektive der ersten Person einzunehmen, verloren gehen würden. Wenn ich die Perspektive der ersten Person einnehme – so der Vorschlag – dann stelle ich mich damit auf einen Standpunkt, der einen Anspruch auf die Verständlichkeit dessen mit sich führt, was Gegenstand meiner Einstellungen ist. Kehren wir noch einmal zum Beispielfall von David zurück. Dass David im Hinblick auf seine Meinung, dass Federer der beste Tennisspieler der Welt ist, den Standpunkt der ersten Person einnimmt, bedeutet zum einen, dass er, indem er diese Meinung ausbildet oder beibehält, an einen Sachverhalt in der Welt – nämlich Roger Federers Erfolgsbilanz oder Ähnliches – denkt und sich im Zuge dieses Nachdenkens von den für die Frage nach dem besten Tennisspieler der Welt einschlägigen Gründen leiten lässt bzw. für diese Gründe empfänglich ist; auf der anderen Seite heißt das aber auch, dass er sich diese Meinung in dem Sinne aneignet, dass dasjenige, woran er denkt, wenn er der Meinung ist, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, verständlich für ihn wird.152 Der globale Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person, der im Rahmen der Rekonstruktion von Burges Ansatz in der Forderung nach Kohärenz von Einstellungssystemen zum Ausdruck kommt, wird durch die Bezugnahme auf Verständlichkeit insofern aufgefangen, als etwas immer nur im Lichte von etwas anderem verständlich sein kann. Dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, stellt für sich genommen nichts dar, was eine Person, welche die entsprechende Meinung hat, verständlich oder unverständlich finden könnte. Es ist erst im Lichte der Auffassung, dass Federer die meisten Grand-Slam-Titel gewonnen hat oder über ein beeindruckendes taktisches Spielverständnis verfügt, dass eine Person ihre Meinung verständlich finden wird, dass es sich bei Federer um den besten Tennisspieler aller Zeiten handelt. Die mit dem Einnehmen der Perspektive der ersten Person einhergehende Forderung, den eigenen mentalen Zuständen gegenüber einen rationalen Standpunkt einzunehmen, läßt sich auf diese Weise als der Anspruch der diese Per-

152 An dieser Stelle habe ich nur subjektive Verständlichkeit im Sinn; ob der Begriff der Verständlichkeit auch Aspekte umfasst, die mit dem Anspruch auf Verständlichkeit zusammenhängen, den andere Personen an mich richten können, soll hier noch offen gelassen werden.

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spektive einnehmenden Person verstehen, dasjenige, was den Gegenstand der in Frage stehenden Einstellung darstellt, in einem für die betreffende Person verständlichen Zusammenhang aufzufassen. Umgekehrt kann von einer Person, welche auf drittpersonale Weise von einer ihrer mentalen Einstellungen weiß, gesagt werden, dass diese Einstellung ihr insofern fremd ist, als sie im Lichte der für den Gegenstand der Einstellung relevanten Überlegungen keinen Sinn macht. So wird etwa Marie in der weiter oben diskutierten Situation ihre Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, nicht nur als fremd empfinden – sie wird sie genau deshalb als fremd empfinden, weil das, worum es in der Meinung geht, Marie im Lichte der anderen Meinungen, die sie hat, unverständlich sein wird, etwa im Lichte von Einstellungen, die sie im Zuge ihrer Karriere als Evolutionsbiologin ausgebildet hat. An dieser Stelle ist erneut von besonderer Wichtigkeit, dass man die Erfüllung der Transparenzbedingung im Hinterkopf behält: Bei dem Anspruch auf Verständlichkeit geht es vom Standpunkt der ersten Person aus nicht primär um die Verständlichkeit der Tatsache, dass man sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, sondern um die Verständlichkeit dessen, worum es in dem betreffenden mentalen Zustand geht. Immerhin kann Marie sich etwa im Rahmen einer Therapiesitzung verständlich machen, warum sie ‘wider besseren Wissens’ der Meinung ist, dass Gott den Menschen erschaffen hat – etwa indem sie Einsicht in die tiefverwurzelten Spuren kirchlicher Indoktrination erlangt; das heißt aber keinesfalls, dass sie sich diese Meinung in dem für den Standpunkt der ersten Person relevanten Sinne aneignet. Um dies tun zu können, müsste Marie der Gehalt der Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, im Lichte der anderen Meinungen, die sie hat, verständlich sein. Das heißt, sie müsste das Einstellungssystem der Evolutionsbiologie aufgeben und um ihre Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, ein Einstellungssystem der katholischen Schöpfungslehre ‘bauen’, in dessen Lichte diese Meinung zu einer ihr verständlichen Meinung wird.

7.3 Identifikation Der Vorteil, der sich damit verbindet, dass man den Anspruch auf Verständlichkeit als einen zentralen Aspekt des Einnehmens der Perspektive der ersten Person versteht, besteht darin, das man mit diesem Manöver das oben angedeutete Mißverständnis ausschließt, dem zufolge die Person, welche den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigenen Einstellungen einnimmt, nicht mehr zu tun hat, als passiv zu registrieren, wie sich ihre Einstellungen zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen. Das liegt daran, dass ‘verständlich sein’ im Gegen-

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satz zu ‘kohärent sein’ eine dreistellige Relation ist: Etwas kann kohärent im Hinblick auf etwas anderes sein; verständlich kann dagegen nur etwas im Lichte von etwas anderem für jemanden sein. An dieser Stelle taucht aber ein weiteres Problem auf, denn trotz der eben getroffenen Bestimmung läßt sich dafür argumentieren, dass der Begriff der Verständlichkeit von Einstellungsinhalten mit dem Begriff der Kohärenz von Einstellungen zusammenfällt. Es kann wohl sein – so der Einwand – dass es aus der Perspektive der Person, welche sich in einem rationalen Verhältnis zu ihren Einstellungen befindet, darum geht, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen; diese Situation lässt sich aber ohne theoretischen Verlust beschreiben, indem man darauf abhebt, dass das Einstellungssystem dieser Person nach Kohärenz strebt. Anders gesagt: Der Hinweis auf das Bemühen um Verständlichkeit bringt zwar einen erstpersonalen Aspekt in die Beschreibung der Situation, aber dieser Aspekt sei nicht relevant genug, um die Möglichkeit einer Reduktion der erstpersonalen Beschreibung der Situation auf eine drittpersonale Beschreibung auszuschließen: Eine Person, die den Standpunkt der ersten Person einnimmt, ist um Verständlichkeit ihrer Einstellungsinhalte bemüht, aber sie hat wiederum nur wenig mehr selbst zu tun, als ‘abzuwarten’, bis ihre Einstellungen sich zu einem kohärenten Ganzen zusammenfügen, das aus der Perspektive dieser Person verständlich erscheinen wird. So kann es zwar sein, dass Marie bezüglich der Frage danach, wie Menschen entstanden sind, um Verständlichkeit bemüht sein wird; es kann sein, dass sie deswegen Gründe abwägen wird, um letztlich zu der Meinung zu gelangen, dass wir von einer anderen Spezies abstammen; was aber – so der Einwand – spricht dagegen, diesen Prozeß so zu beschreiben, dass man lediglich die verschiedenen Einstellungen erwähnt, in denen Marie sich befindet, wenn sie Gründe für die Ansicht registriert, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, sowie die internen Beziehungen, die zwischen diesen Einstellungen bestehen und letztlich dazu führen, dass Marie zu der Meinung gelangt, dass wir von einer anderen Spezies abstammen? Vertreter der Ansicht, dass es einen relevanten Unterschied zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person gibt, sind auf die Behauptung festgelegt, dass es jenseits einer solchen Beschreibung, die sich lediglich auf Mentales bezieht, noch eine relevante Aufgabe für die Person gibt, um deren Mentales es sich handelt. Aber stimmt diese Behauptung? Gibt es für Marie in der skizzierten Situation überhaupt noch eine eigene Aufgabe? Bei der skizzierten Herausforderung steht wiederum der dynamische Aspekt des Einnehmens der Perspektive der ersten Person auf dem Spiel. Wie kann der Herausforderung begegnet werden? In diesem Zusammenhang muss wiederum an zwei Typen des rationalen Tätigseins gedacht werden, die im Rahmen einer

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reduktiven Beschreibung rationaler Prozesse keine Berücksichtigung finden: Festlegung und Identifikation. Wie im Zusammenhang der Rekonstruktion des Ansatzes von Burge zu sehen war, ist Kohärenz von Einstellungen unter Umständen nicht hinreichend dafür, dass die Person, welche diese Einstellungen hat, in dem Sinne den Standpunkt der ersten Person ihnen gegenüber bezieht, dass man sagen könnte, dass es sich dabei um Einstellungen handelt, die von dieser Person nicht als fremd empfunden werden. Dies ist immer dann der Fall, wenn es zu einem Konflikt von Einstellungssystemen kommt, die jeweils für sich das Merkmal der Kohärenz aufweisen, so dass sich von den einzelnen Einstellungen, die Bestandteile des jeweiligen Einstellungssystems sind, sagen lässt, dass die Person, welche die Einstellungen hat, diesen Einstellungen gegenüber einen rationalen Standpunkt einnimmt. Im Fall von Marie kann es dementsprechend zu einer Situation kommen, in der es ihr im Lichte von Überlegungen, welche die christliche Schöpfungsgeschichte betreffen, verständlich erscheint, dass Gott den Menschen erschaffen hat, während es ihr zugleich im Lichte von evolutionsbiologischen Überlegungen verständlich erscheint, dass wir von einer anderen Spezies abstammen. Solange man mit dem Standpunkt der ersten Person den Anspruch verbindet, dass es sich bei dem Einnehmen dieses Standpunkts um einen Prozeß der Aneignung von Einstellungen handelt, ist klar, dass sich Maries Situation nicht als eine Situation wird beschreiben lassen, in der sie den Standpunkt der ersten Person bezieht: Gegeben dass die Situation einigermaßen symmetrisch konstruiert wird, wird Marie vielleicht nicht beide Einstellungszusammenhänge gleichzeitig als fremd empfinden, sondern jeweils nur den Einstellungszusammenhang, in dem sie sich gerade befindet;153 aber die Situation als Ganze wird es ihr unmöglich machen, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen und sich eine Perspektive mitsamt der darin enthaltenen Einstellungen zu eigen zu machen.154 Die Antwort auf die Frage, welche Aufgabe Marie zukommt, wenn sie den Standpunkt der ersten Person einnimmt, liegt an dieser Stelle auf der Hand: Sie muss sich identifizieren, indem sie sich entscheidet, ob sie sich als Evolutionsbiologin oder als Christin versteht.155 Den Standpunkt der ersten Person einzu-

153 Plakativ formuliert: In der Kirchenbank wird sie sich fragen, was sie denn eigentlich an der Universität treibt, während sie sich umgekehrt bei Vorlesungen dafür schämen wird, am Tag zuvor der Messe beigewohnt zu haben. 154 In diesem Sinne könnte man den Standpunkt der ersten Person als einen Standpunkt verstehen, mit dem ein Anspruch auf ‘globale Kohärenz’ bzw. ‘globale Verständlichkeit’ einhergeht. 155 An dieser Stelle soll selbstverständlich nicht behauptet werden, dass es keine Möglichkeit gibt, den Konflikt, in dem Marie sich befindet, zu entschärfen, um die dramatische Forderung nach Identifikation zu umgehen. Dass Personen sehr geschickt darin sind, Konstrukte zum Ver-

Identifikation 

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nehmen, heißt demzufolge nicht nur, dass man sich auf die Wahrheit einzelner Propositionen wie ‘Der Mensch stammt von einer anderen Spezies ab’ festlegt, weil bestimmte Gründe dafür sprechen, dass diese Propositionen wahr sind, sondern darüber hinaus, dass solche Festlegungen im Lichte der Frage erfolgen, welchem Standpunkt ich im Rahmen meiner Überlegungen Priorität verleihe. Indem ich mich erstpersonal auf etwas festlege, bekräftige ich meine Identifikation mit einer bestimmten Perspektive. Identifikation und Festlegung müssen auf diese Weise als zwei aufeinander bezogene Typen des Tätigseins von Personen verstanden werden, welche charakteristisch dafür sind, dass diese Personen sich auf den Standpunkt der ersten Person stellen. Worauf legt sich aber eine Person fest bzw. womit identifiziert sie sich, wenn sie auf diese Weise den Standpunkt der ersten Person bezieht? Der Standpunkt eines Theoretikers verleitet einen an dieser Stelle wiederum zu mißverständlichen Formulierungen. Wenn im Rahmen dieser Arbeit beispielsweise von Marie die Rede ist, liegt es nahe, davon zu sprechen, dass sie sich auf eine Meinung festlegt und sich dadurch mit einem bestimmten Netzwerk von Einstellungen identifiziert. Mit einer solchen Bestimmung würde man allerdings wiederum unkenntlich machen, dass aus der Perspektive von Marie die Transparenzbedingung erfüllt sein muss, wenn es sich tatsächlich um eine Situation handeln soll, in der Marie den Standpunkt der ersten Person bezieht. Es ist durchaus legitim die ‘handliche’ Redeweise zu verwenden, nach der Marie sich auf eine Meinung festlegt und mit einem Einstellungssystem identifiziert, solange man gleichzeitig immer im Hinterkopf behält, dass es sich dabei eben um eine verkürzende Redeweise handelt. Wenn Marie sich festlegt, dann legt sie sich nämlich gerade nicht auf eine Meinung fest, weil ihre Meinung nicht der Gegenstand des Prozesses ist, der zu der betreffenden Festlegung führt, sondern eben dasjenige, was Gegenstand der Meinung ist. Sie legt sich darauf fest, dass die Welt – oder zumindest das, was der Gegenstand der in Frage stehenden Meinung ist – auf eine bestimmte Weise beschaffen ist; sie legt sich darauf fest, dass etwas der Fall ist; sie legt sich darauf fest, dass eine bestimmte Proposition wahr ist. Wenn Marie sich identifiziert, dann identifiziert sie sich aus denselben Gründen gerade nicht mit einem bestimmten Netzwerk von Einstellungen, indem ihre Einstellungen auch in diesem Fall nicht der Gegenstand des Prozesses sind, der zu der Identifikation führt. Marie identifiziert sich als Christin oder als Naturwissenschaftlerin; sie kann sich ebenso gut als Anhängerin von Esoterik oder Marxistin identifizie-

schleiern von Konflikten zu erstellen, ist allerdings ein anderes Thema und spricht zumindest nicht gegen die Möglichkeit, dass solche Konflikte unter Umständen sehr real werden können.

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 Verständlichkeit und Identifikation

ren. Auf diese Weise identifiziert sie sich mit einer Person, die in bestimmter Hinsicht eine bestimmte Sicht von den Dingen in der Welt hat.156 Das ist der eigentliche Sinn der Redeweise davon, dass Personen sich festlegen bzw. sich identifizieren. Dieser Sinn besteht keinesfalls darin, dass ich etwa in einem metaphysischen Sinn bestimme, um was für eine Art von Entität es sich bei mir handelt, sondern stattdessen darin, dass ich einen für mich gültigen Interpretationsrahmen bestimme – einen Rahmen dafür, was ich als verständlich zu akzeptieren bereit bin. Der Gegenstand des Verstehens bzw. der Interpretation ist hier – ganz im Einklang mit der Transparenzbedingung – die Welt. Mein Zugang zur Welt erfolgt zwar darüber, dass ich mich in mentalen Zuständen befinde, aber er erschöpft sich nicht in dem bloßen Vorliegen von mentalen Zuständen, weil es an mir ist, mich auf die Art und Weise festzulegen, wie ich die Welt sehe. In dieser Hinsicht lege ich mich aber gleichzeitig darauf fest, als was für eine Person ich mich verstehe, weil für die Frage, welche Art von Person man ist, auch – aber nicht nur – relevant ist, auf welche Weise man die Welt zu sehen geneigt ist. An dieser Stelle kommt ein Identitätsbegriff ins Spiel, der von dem Identitätsbegriff unterschieden werden muss, wie er im Rahmen der im ersten Teil dieser Arbeit thematisierten Theorien personaler Identität verhandelt wird, auch wenn beide Identitätsbegriffe, wie ich ganz am Ende der Arbeit argumentieren werde, eng miteinander zusammenhängen. Indem Marie die Meinung aufgibt, dass Gott den Menschen erschaffen hat, vollzieht sie einen Akt der Identifikation mit

156 Das alles heißt wiederum nicht, dass wir in jedem Fall von Festlegung vor Augen haben müssen, als was für eine Art von Person wir uns in einem globalen Sinn verstehen. Wenn Marie sich darauf festlegt, dass Bob Dylan schönere Musik gemacht hat als Mozart, wird sie dies klarerweise nicht im Lichte ihres Selbstverständnisses als Naturwissenschaftlerin machen müssen. Ihre diesbezügliche Festlegung wird vielmehr auf die Identifikation mit einem untergeordneten Einstellungssystem hinauslaufen – sie wird sich in diesem Fall etwa als Liebhaberin von FolkMusik verstehen. Diese Identifikation darf aber wiederum nicht im Widerspruch mit der übergeordneten Identifikation als Naturwissenschaftlerin stehen, und es spricht ja auch nichts dagegen, sich gleichzeitig als Liebhaberin von Folk-Musik und Naturwissenschaftlerin zu verstehen.  Anders würde die Situation aussehen, wenn Marie sich etwa darauf festlegen würde, das homöopathische Präparate ein geeignetes Mittel gegen Krankheiten darstellen. In diesem Fall würde sie sich sowohl als Anhängerin der Homöopathie als auch als Naturwissenschaftlerin verstehen müssen; unter der Annhame, dass ihr klar ist, dass von einem naturwissenschaftlichen Standpunkt alles dagegen spricht, dass homöopathische Präparate ein geeignetes Mittel gegen Krankheiten darstellen, würde es Marie unmöglich sein, die Perspektive der ersten Person auf beide Einstellungssysteme einzunehmen, d.h. sich mit beiden Einstellungssystemen zu identifizieren. Den Standpunkt der ersten Person einzunehmen hiesse in diesem Fall wiederum, dass Marie die Inkohärenz beseitigt bzw. sich selbst wieder verständlich wird, indem sie bestimmte Einstellungen aufgibt, etwa die Meinung, dass homöopathische Präparate heilsame Wirkung haben.

Identifikation 

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einem bestimmten Typus von Person und bestimmt dadurch auf eine bestimmte Weise, wer sie ist, indem sie ein bestimmtes, qualitatives Verständnis von sich selbst bekräftigt. Dieser Akt ist insofern normativ, als er den rationalen Rahmen für weitere Akte der Festlegung bestimmt. Im Folgenden werde ich deshalb davon reden, dass Personen, die den Standpunkt der ersten Person einnehmen, in einen Prozeß der Konstitution von normativer Identität eintreten. In dieser normativen Lesart ist Identität keine Relation, in der sich Objekte zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Existenz befinden können; der Ausdruck bezeichnet vielmehr das Verständnis, das Personen von sich selbst haben, wenn sie den Standpunkt der ersten Person einnehmen. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellen lässt, ist dementsprechend nicht die Frage nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen der Tatsache, dass es sich bei Personen zu unterscheidlichen Zeitpunkten der Identifikation um ein und dieselbe Person handelt, sondern vielmehr die Frage, welche Vorkommnisse im Leben einer Person von dieser Person als ihr zugehörig verstanden werden. In dem Maße, in dem eine Person etwas als fremd empfinden wird, wird es ihr an normativer Identität mangeln. Akte der Festlegung, die eine bestimmte Identifikation bekräftigen, tragen im Gegensatz dazu bei, dass sich die normative Identität einer Person verfestigt bzw. überhaupt erst konstituiert. Marie hat demzufolge in dem Maße eine normative Identität, in dem sie sich als Naturwissenschaftlerin identifiziert; ihre Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, stellt in dieser Hinsicht insofern eine Bedrohung von Maries normativer Identität dar, als sie das Verständnis, das Marie von sich selbst hat, in Frage stellt. Diese Form des evaluativen Selbstverhältnisses ist allerdings nicht zu verstehen, wenn man nicht die Tatsache berücksichtigt, dass Marie den Standpunkt der ersten Person bezieht, sobald sie sich die Frage stellt, was in einem emphatischen Sinn ein Bestandteil ihrer normativen Identität ist. Das Zwischenfazit, das sich an dieser Stelle mit Blick auf Theorien der Identität von Personen ziehen lässt, hat zwei Seiten. Zum einen muss festgestellt werden, dass psychologische Theorien personaler Identität – ähnlich wie biologische Theorien, denen sie dies zum Vorwurf machen – die Dimension des Standpunkts der ersten Person nicht berücksichtigen können und im Grunde eine drittpersonale Interpretation des Mentalen implizieren; zum anderen deutet eine angemessene Berücksichtigung dessen, was es heißt, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, auf Aspekte personalen Lebens, die mit einem Identitätsbegriff zu tun haben, der auf den ersten Blick nichts mit dem Identitätsbegriff zu tun hat, der den Ausgangspunkt der Theorien personaler Identität darstellt, wie ich sie im ersten Teil dieser Arbeit rekonstruiert habe. Letzteres wird mich im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit beschäftigen. Inwiefern der Standpunkt der ersten Person im Rahmen des psychologischen

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 Verständlichkeit und Identifikation

Reduktionismus unberücksichtigt bleibt, lässt sich gut daran sehen, wie das von mir diskutierte Beispiel von Maries Meinung, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, von solchen Theorien interpretiert werden müsste. Wie im Zuge der Parfit-Rekonstruktion im ersten Teil der Arbeit zu sehen war, ist es im Rahmen von psychologischen Theorien durchaus vorstellbar, dass diese Meinung aus Maries mentalem Haushalt in den mentalen Haushalt von David verpflanzt wird, ohne dass im Zuge dieses Prozesses etwas Entscheidendes verloren gehen würde. Nach dem imaginierten Eingriff – so Vertreter psychologischer Theorien – wird Davids mentaler Haushalt insofern eine Veränderung erfahren haben, als er der Quasi-Meinung sein wird, dass wir von einer anderen Spezies abstammen. Diese Auffassung ergibt sich daraus, dass Vertreter des psychologischen Reduktionismus davon ausgehen, dass das relevante Verhältnis, in dem wir zu unseren mentalen Einstellungen stehen, ein kausales Verhältnis ist. Der imaginierte Fall ist dementsprechend so konstruiert, dass David nach dem Eingriff in einem kausal angemessenen Verhältnis zu Maries Meinung steht, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, etwa indem angenommen wird, dass in Davids Gehirn eine Struktur erzeugt wird, die derjenigen Struktur in Maries Gehirn entspricht, welche kausal dafür verantwortlich ist, dass Marie der Meinung ist, dass wir von einer anderen Spezies abstammen. Es ist leicht zu sehen, dass – ganz im Gegensatz zu der Annahme psychologischer Theorien – entscheidende Aspekte des Verhältnisses, in dem Marie zu ihrer Meinung steht, das wir von einer anderen Spezies abstammen, in der vorgestellten Situation, in der David der entsprechenden Quasi-Meinung ist, nicht vorliegen. So kann etwa angenommen werden, dass David sich noch nie auf den deliberativen Standpunkt bezüglich der Frage danach, wie Menschen entstanden sind, gestellt hat, dass er also niemals Gründe abgewogen hat, die für diese oder jene Antwort auf diese Frage sprechen – dennoch der Meinung zu sein, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, wird für David unverständlich sein, und diese Meinung wird ihm auch entsprechend fremd vorkommen. In einem noch stärkeren Maße wird dies der Fall sein, wenn angenommen wird, dass die Frage nach der Enstehung von Menschen durchaus der Gegenstand von Davids Überlegungen gewesen ist, dass er aber im Gegensatz zu Marie zu dem Entschluß gelangt ist, dass wir nicht von einer anderen Spezies abstammen, sondern von Gott geschaffen wurden, etwa weil er sich im Hinblick auf Fragen dieser Tragweite als ein gläubiger und nicht als ein aufgeklärter Mensch oder wie Marie als Naturwissenschaftlerin versteht. Davids Verhältnis zu seiner Quasi-Meinung, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, wird sich in dem vorgestellten Szenario nicht entscheidend von dem Verhältnis unterscheiden, dass Marie zu ihrer Meinung hat, dass Gott den Menschen erschaffen hat, nachdem sie von ihr im Rahmen einer Therapiesitzung erfahren hat.

Identifikation 

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Es ist unstritig, dass wir uns in einem Verhältnis zu unseren Einstellungen befinden können, in dem wir diese Einstellungen als auf diese Weise fremd empfinden. Der Fehler psychologischer Theorien besteht darin, solche Situationen der Entfremdung von den eigenen Einstellungen zur Regel zu erklären. Anders gesagt: Der Aspekt des Fremdseins von Einstellungen kann von psychologischen Theorien personaler Identität gar nicht erst ins Auge gefasst werden, und das liegt daran, dass in ihrem Rahmen das relevante Verhältnis, in dem wir zu unseren Einstellungen stehen, sich in einem Verhältnis erschöpft, das insofern drittpersonal ist, als es lediglich in dem Vorliegen einer kausalen Relation besteht. Dieses Problem für den psychologischen Reduktionismus kann auch dadurch nicht aus der Welt geschaffen werden, dass man auf Situationen hinweist, in denen ganze Komplexe von Einstellungen verpflanzt werden. Immerhin – so mag von der Warte psychologischer Theorien argumentiert werden – ist es vorstellbar, dass David nicht nur die isolierte Meinung, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, eingepflanzt wird, sondern das ganze evolutionsbiologische Netzwerk an Einstellungen, das dafür sorgt, dass Marie den Gehalt der Meinung, dass wir von einer anderen Spezies abstammen, für verständlich hält. Es mag zwar sein, dass David in dem Szenario, in dem ihm eine evolutionsbiologische QuasiPerspektive eingepflanzt wird, die in Frage stehende Meinung in dem Sinne weniger befremdlich finden wird, dass er in der Lage sein wird, die ‘Gründe zu sehen’, die Marie dazu bewogen haben, der Meinung zu sein, dass wir von einer anderen Spezies abstammen. Was allerdings in der Beschreibung des Szenarios nicht einzufangen sein wird, ist Maries Identifikation als Naturwissenschaftlerin, die keinesfalls als ein einzelnes und verpflanzbares Vorkommnis ihres mentalen Haushalts verstanden werden darf, sondern als eine für die Perspektive der ersten Person charakteristische Form des Tätigseins, das sich in jedem einzelnen von Maries Akten der Festlegung manifestiert. Identifikation und um Verständlichkeit bemühte Aneignung stellen somit zentrale Aspekte dessen dar, was es bedeutet, den Standpunkt der ersten Person zu beziehen. Beide Aspekte können im Rahmen des psychologischen Reduktionismus nicht berücksichtigt werden. Genau das macht den Vorteil zunichte, den diese Theorie für sich gegenüber dem biologischen Reduktionismus beansprucht. Das Fazit, das sich an dieser Stelle ziehen lässt, lautet also, dass beide Theorien dem Standpunkt der ersten Person nicht gerecht werden können; die Richtung, in die dieses Fazit deutet, ist dass dies möglicherweise daran liegt, dass es sich in beiden Fällen um reduktionistische Theorien handelt. Inwiefern eine angemessene Berücksichtigung des Standpunkts der ersten Person eine nicht-reduktionistische Antwort auf die Identitätsfrage nahelegen kann, wird allerdings erst abzusehen sein, wenn die diachrone Dimension des Lebens von Personen zum Thema gemacht wird. Diese Dimension ist bislang nicht explizit zur Sprache

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 Verständlichkeit und Identifikation

gekommen, weil ich mich im Rahmen dieses Teils der Arbeit auf den Sonderfall unseres Verhältnisses zu unseren Meinungen konzentriert habe. Im folgenden Teil der Arbeit werde ich mich deshalb der Frage zuwenden, was es heißt, sich auf erstpersonale Weise auf die explizit diachrone Dimension des eigenen Lebens zu beziehen. In diesem Zusammenhang werde ich dafür argumentieren, dass die erstpersonale Frage nach normativer Identität in diachronen Zusammenhängen nur vor dem Hintegrund einer nicht-reduktionistischen Antwort auf die metaphysische Frage zu verstehen ist.

Teil III: Normative Identität

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 Teil III: Normative Identität

Im Rahmen der Rekonstruktion der Theorien personaler Identität im ersten Teil der vorliegenden Arbeit ist deutlich geworden, dass die größte Schwäche der biologisch-reduktionistischen Theorien der Identität von Personen darin besteht, dass sie nicht der Tatsache gerecht werden, dass Personen die Perspektive der ersten Person einzunehmen in der Lage sind. Im Gegensatz dazu glauben Vertreter von psychologisch-reduktionistischen Theorien personaler Identität, dass sie im Rahmen der Formulierung eines psychologischen Kriteriums der Intuition entsprechen, nach der personales Leben einen ‘inneren’ bzw. erstpersonalen Aspekt hat. Wie im Zuge meiner Argumentation im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit deutlich geworden sein sollte, ist die Bezugnahme auf mentale Zustände alleine allerdings noch nicht hinreichend dafür, um von einer angemessenen Berücksichtigung des Standpunkts der ersten Person zu reden, weil es durchaus möglich ist, dass man im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände die Perspektive der dritten Person einnimmt. Das Hauptziel des vorangegangenen Teils dieser Arbeit bestand deshalb darin, eine Unterscheidung zwischen dem Standpunkt der ersten Person und dem Standpunkt der dritten Person herauszuarbeiten, die diesem Aspekt Rechnung trägt und insgesamt genauer ausfällt als die metaphorische Redeweise vom ‘inneren Aspekt’ personalen Lebens, wie sie im Rahmen der Motivierung psychologischer Theorien personaler Identität verwendet wird. Die Bestimmung der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person, die ich in den vorangegangenen Kapiteln vorgenommen habe, hat sich zunächst am Beispielfall des Verhältnisses orientiert, in dem Personen zu ihren eigenen Meinungen stehen können. Hierbei hat sich gezeigt, dass die Tatsache, dass man im Hinblick auf die eigenen Meinungen die Perspektive der ersten Person einnimmt, darin besteht, dass man sich hinsichtlich dieser Meinungen auf einen deliberativen Standpunkt stellt, von dem aus nicht nur der Gegenstand der betreffenden Meinung zum Thema wird, sondern – damit zusammenhängend – auch das Verständnis, das man als Person von sich selbst hat. Das Einnehmen der Perspektive der ersten Person habe ich in diesem Zusammenhang als das Eintreten in einen Prozess der SelbstKonstitution bzw. als der Arbeit an der eigenen Identität interpretiert, wobei ich den in diesem Kontext einschlägigen Identitätsbegriff von dem Identitätsbegriff unterschieden habe, wie er im Rahmen von Theorien personaler Identität verhandelt wird. Normative Identität ist keine Relation wie metaphysische Identität; man hat sie in dem Maße, in dem man sich selbst als Person verständlich ist bzw. in dem Maße, in dem man die Vorkommnisse des eigenen Lebens als eigene Vorkommnisse betrachten kann, weil sie dem Bild von der Person entsprechen, mit der man sich identifiziert. Der Standpunkt der ersten Person ist hierbei derjenige Standpunkt, von dem aus normative Identität in dem Sinne erst zum Thema wird,



Teil III: Normative Identität 

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als das Beziehen dieses Standpunkts mit dem Anspruch auf Verständlichkeit und Aneignung einhergeht. Wie ich im Rahmen des vorangegangenen Teils dieser Arbeit argumentiert habe, können psychologisch-reduktionistische Theorien personaler Identität dieser Dimension des Lebens von Personen nicht gerecht werden, weil sie das Verhältnis, in dem Personen zu ihrem Mentalen stehen, ähnlich wie das Beobachtungsmodell des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen, im Sinne eines kontingenten, kausalen Verhältnisses interpretieren müssen und auf diese Weise einer drittpersonalen Beschreibung personalen Lebens verhaftet bleiben, die sich nur insofern von der Auffassung unterscheidet, die von biologisch-reduktionistschen Theorien vertreten wird, als sie auf die Tatsache Bezug nimmt, dass Personen sich in mentalen Zuständen befinden können. Diese Diagnose spricht zwar dafür, den psychologischen Reduktionismus als Theorie der Identität von Personen aufzugeben, allerdings ist damit noch nicht viel im Hinblick auf die Verteidigung einer nicht-reduktionistischen Position geleistet, nach der es sich bei Personen um rationale Lebewesen handelt, deren biologische Einheit nicht von der mentalen getrennt werden kann. Das liegt zum einen daran, dass ich mich im Rahmen des zweiten Teils der Arbeit auf den Fall konzentriert habe, in dem Personen im Hinblick auf ihre Meinungen den Standpunkt der ersten oder aber der dritten Person beziehen. Vertreter psychologischer Theorien etwa würden daran festhalten, dass Meinungen zu den mentalen Zuständen gehören, die im Rahmen der Formulierung eines psychologischen Kriteriums eine wichtige Rolle zu spielen haben, gleichzeitig aber immer auch darauf hinweisen, dass für die Frage nach einem Kriterium diachroner Identität diejenigen mentalen Zustände von besonderer Relevanz sind, in welchen die temporale Dimension des Lebens von Personen explizit zum Ausdruck kommt. Eine andere Weise, diesen Punkt zu formulieren, besteht in dem Hinweis darauf, dass meine Bestimmung der relevanten Aspekte, die sich mit dem Einnehmen der Perspektive der ersten Person verbinden, in einer bestimmten Hinsicht unvollständig geblieben ist. Ich habe dafür argumentiert, dass wir, sobald wir uns auf den Standpunkt der ersten Person stellen, in einen Prozess der Selbst-Konstitution eintreten bzw. an der eigenen normativen Identität arbeiten; allerdings habe ich das bislang nur mit Bezug auf Einstellungen getan, die lediglich indirekt mit der Person zu tun haben, die den Standpunkt der ersten Person bezieht. So handelte es sich bei den Beispielfällen, die ich im Rahmen des zweiten Teils der Arbeit diskutiert habe, um Meinungen, die zwar Meinungen der Person waren, die im Hinblick auf diese Meinungen den Standpunkt der ersten Person bzw. dritten Person einnehmen kann – aber der Gegenstand dieser Meinungen hatte in jedem Fall nichts mit der betreffenden Person zu tun, sondern

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 Teil III: Normative Identität

etwa mit der Frage nach Entstehung der Spezies Homo sapiens oder der Frage nach dem besten Tennisspieler aller Zeiten. Wenn es stimmt, dass der Standpunkt der ersten Person der Standpunkt ist, von dem aus Personen im Sinne des normativen Identitätsbegriffes darüber bestimmen, wer sie sind, dann ist zu erwarten, dass dieser selbst-konstitutive Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person paradigmatisch in Fällen zum Ausdruck kommen wird, in denen Personen sich selbst zum Thema machen. Aus diesem Grund werde ich mich im vorliegenden Teil der Arbeit mit der Frage beschäftigen, was es heißt, sich erstpersonal auf die eigene Vergangenheit und Zukunft zu beziehen. Es wird sich in diesem Zusammenhang zeigen, dass das Einnehmen der Perspektive der ersten Person auch im Hinblick auf die eigene Vergangenheit und Zukunft in dem Sinne in einem Anspruch auf Aneignung besteht, dass Personen, die diese Perspektive einnehmen, sich darum bemühen, eine eigene Vergangenheit und Zukunft zu haben bzw. ein eigenes Leben zu führen. Ein eigenes Leben zu führen, werde ich hierbei in dem Sinn interpretieren, dass vergangene oder zukünftige Vorkommnisse einer Lebensgeschichte von der Person, um deren Lebensgeschichte es sich handelt, in dem Maße als eigene Vorkommnisse, d.h. Vorkommnisse, die eine eigene Lebensgeschichte kon­sti­ tu­ieren, betrachtet werden, in dem sie ihr verständlich erscheinen. Von einer Person, die den Standpunkt der ersten Person bezieht, wird dementsprechend in dem Sinne behauptet werden können, dass sie an ihrer eigenen normativen Identität arbeitet, als sie ein verständliches Leben zu führen versucht. Gleichzeitig soll sowohl im Hinblick auf die Frage nach dem erstpersonalen Verhältnis, in dem Personen zu der eigenen Vergangenheit stehen, als auch bezüglich der Frage nach der erstpersonalen Einstellung, die sie der eigenen Zukunft gegenüber haben, deutlich werden, dass die Arbeit an der eigenen Identität – verstanden als normative Identität – nur unter der Voraussetzung zu leisten ist, dass die Personen, um deren normative Identität es geht, sich als rationale Lebewesen im Sinne der nicht-reduktionistischen Antwort auf die metaphysische Frage nach der Identität von Personen verstehen.

8 Die eigene Vergangenheit Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, die Einsichten des zweiten Teils der Arbeit auf den Fall anzuwenden, in dem Personen sich auf die für den Standpunkt der ersten Person charakteristische Weise auf die eigene Vergangenheit beziehen. Eine der entscheidenden Lehren aus den Überlegungen des zweiten Teils der Arbeit bestand in der Einsicht, dass das relevante Verhältnis, in das Personen eintreten, sobald sie den Standpunkt der ersten Person beziehen, nicht das Verhältnis zu den eigenen mentalen Einstellungen ist, sondern zu dem Gegenstand dieser Einstellungen: Den Standpunkt der ersten Person zu beziehen, besteht zwar darin, dass man eine bestimmte mentale Einstellung ausbildet oder überdenkt, bestätigt oder aufgibt, aber der Prozess, der dazu führt, muss als ein Prozess verstanden werden, der insofern deliberativer Natur ist, als die Person, um deren Einstellungen es sich handelt, im Zuge dieses Prozesses daran denkt, was der Inhalt der betreffenden Einstellung ist. Wenn im Folgenden von Erinnerungen die Rede sein wird,157 ist deshalb immer daran zu denken, dass es sich bei der Frage, die mich im Verlaufe dieses Kapitels beschäftigt, um die Frage nach dem erstpersonalen Verhältnis handelt, in dem Personen zu dem Gegenstand ihrer Erinnerungen – d.h. zu bestimmten Aspekten der eigenen Vergangenheit – stehen, und nicht primär um die Frage nach dem Verhältnis, in dem sie zu ihren Erinnerungen stehen. Auf eine bestimmte Weise zu der eigenen Vergangenheit zu stehen, impliziert zwar ein bestimmtes Verhältnis zu den eigenen Erinnerungen – so wird es sich etwa bei Erinnerungen an Aspekte meiner Vergangenheit, die mir fremd sind, ebenfalls um mir fremde Erinnerungen handeln. Allerdings würden – ähnlich wie in dem im Rahmen des zweiten Teils diskutierten Fall von Meinungen, die nicht die Person zum Gegen-

157 Im Kontext dieses Kapitels werde ich mich auf den Fall von Erinnerungen konzentrieren, obwohl sie weder die einzige Form des Bezugs auf die eigene Vergangenheit sind, noch die einzige erstpersonale Form eines solchen Bezugs darstellen. Beispiele für Formen nicht-erstpersonalen Bezugs auf die eigene Vergangenheit wären etwa Fotos, Filmaufnahmen oder schriftliche Aufzeichnungen, welche die Person zum Gegenstand haben, die sich durch sie auf die eigene Vergangenheit bezieht. Formen erstpersonalen Bezugs auf die eigene Vergangenheit, die nicht Erinnerungen sind, wären etwa Einstellungen wie Reue, Scham oder Stolz. Dass ich solchen Formen des erstpersonalen Vergangenheitsbezugs keine Aufmerksamkeit schenke und mich stattdessen auf den Fall der Erinnerung konzentriere, liegt daran, dass der Begriff der Erinnerung insofern paradigmatisch für den erstpersonalen Vergangenheitsbezug ist, als die anderen Formen erstpersonalen Bezugs auf die eigene Vergangenheit das Erinnern zur Voraussetzung haben. So werde ich im Hinblick auf eine Episode meiner Vergangenheit nur dann Scham empfinden, wenn ich mich an die betreffende Episode erinnere.

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 Die eigene Vergangenheit

stand haben, welche die entsprechende Meinung hat – entscheidende Aspekte dessen, was es heißt, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, verloren gehen, wenn man das, was von diesem Standpunkt aus passiert, auf das Verhältnis reduzieren würde, in dem die Person, die diesen Standpunkt bezieht, zu ihren eigenen mentalen Einstellungen steht.158 Um herauszuarbeiten, was mit einem erstpersonalen Bezug auf die eigene Vergangenheit gemeint sein könnte, möchte ich zunächst die Strategie einschlagen, danach zu fragen, was es umgekehrt heißt, dass Personen die eigene Vergangenheit nicht als eine im emphatischen Sinne eigene Vergangenheit betrachten. Was heißt es, dass Aspekte der eigenen Vergangenheit einer Person fremd sein können? An dieser Stelle ist es hilfreich, eine Facette dessen, was ich bislang als normative Identität bezeichnet habe, explizit zu machen, die ich in meinen bisherigen Ausführungen nur am Rande erwähnt habe: Als Ergebnis der Argumentation im zweiten Teil dieser Arbeit habe ich festgehalten, dass der Standpunkt der ersten Person derjenige Standpunkt ist, von dem aus die Person, die diesen Standpunkt bezieht, einen Anspruch auf Verständlichkeit stellt. Eine alternative Formulierung dieses Sachverhalts, die ich weiter oben aufgegeben habe, weil sie zu einer rein drittpersonalen Lesart des Phänomens verleitet, macht darauf aufmerksam, dass Personen, die den Standpunkt der ersten Person beziehen, sich in einem Einstellungssystem verorten, das nach Kohärenz strebt. Sowohl Verständlichkeit als auch ihr (in der Tendenz drittpersonales) Gegenstück Kohärenz sind Eigenschaften, die eine graduelle Abstufung erlauben. Etwas kann mehr oder weniger verständlich bzw. mehr oder weniger kohärent sein. Eine wissenschaftliche Theorie wird etwa in dem Maße Kohärenz aufweisen, in dem ihre Bestandteile einander gegenseitig stützen, während beispielsweise eine Reisebeschreibung in dem Maße verständlich sein wird, in dem die Beschreibungen der einzelnen Episoden, aus denen die Reise bestanden hat, aufeinander verweisen und ein sinnvolles Ganzes ergeben. Wenn Verständlichkeit aber – wie ich zu argumentieren versucht habe – das Kriterium dafür darstellt, ob ich etwas vom Standpunkt der ersten Person als im emphatischen Sinn zu mir zugehörig betrachten kann, dann muss es sich auch bei diesem Aspekt des Zugehörigseins um einen graduellen Aspekt handeln. Anders gesagt: Wenn davon die Rede ist, dass ich mich vom Standpunkt der ersten Person um Aneignung bemühe, dann muss Aneignung in einem Sinn verstanden werden, der graduelle Abstufungen erlaubt. In diesem Sinn kann ein Aspekt meiner Vergangenheit nicht nur als

158 Zum Folgenden, insbesondere dem Fall sog. episodischer Erinnerungen, wie sie mich im Rahmen dieses Kapitels interessieren vgl. etwa Tulving (1993), Brewer (1996), Campbell (1997), Hamilton (1999) und Hoerl (1999).



Die eigene Vergangenheit 

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fremd oder im emphatischen Sinn mir zugehörig verstanden werden, sondern es wird möglich sein, ihn als mehr oder weniger fremd bzw. mehr oder weniger mir zugehörig zu betrachten. In diesem Sinne wird es sich bei normativer Identität um eine Eigenschaft von Personen handeln, die graduelle Abstufungen erlaubt.159 Daran ist, intuitiv betrachtet, auch nichts besonders bemerkenswert. Bereits im Zusammenhang mit den Beispielen, die ich im vorangegangenen Teil der Arbeit bemüht habe, ist leicht zu sehen, dass eine Meinung, zu der ich nicht in einem rationalen Verhältnis stehe, mir mehr oder weniger fremd sein kann, je nachdem, um was für eine Meinung es sich handelt. So wird Marie ihre Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, für fremder halten, wenn sie von ihr im Rahmen einer Therapiesitzung erfährt, als etwa die Meinung, dass es sich bei Erdbeeren um das beste Obst handelt, auch wenn die letztere Meinung für sie in dem Sinne eine fremde Meinung sein wird, dass Marie eigentlich – d.h. vom Standpunkt der ersten Person bzw. nach Berücksichtigung aller für den Gegenstand dieser Meinung relevanten Gründe – der Auffassung ist, dass Äpfel das beste Obst sind. Die Meinung, dass Erdbeeren das beste Obst sind, wird Marie zwar für fremd halten, aber es wird sich dabei um eine weniger fremde Meinung handeln als die Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, weil die Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, in rational problematischen Beziehungen zu weitaus mehr anderen Meinungen steht, die Marie hat.160

159 An dieser Stelle könnte der folgende Vorschlag ins Spiel gebracht werden: Wenn es stimmt, dass Aneignung graduelle Abstufungen erlaubt, weil Verständlichkeit ein gradueller Begriff ist, und wenn gleichzeitig behauptet wird, dass um Verständlichkeit bemühte Aneignung charakteristisch für den Standpunkt der ersten Person ist, dann muss es sich auch bei dem Standpunkt der ersten Person in dem Sinne um einen graduellen Begriff handeln, dass es möglich ist, diesen Standpunkt in einem mehr oder weniger großen Ausmaß zu beziehen.  Ich denke nicht, dass es für meine Argumentation entscheidend wäre, ob man auf diese Weise die Redeweise davon zulässt, dass man sich im Hinblick auf etwas erstpersonaler bzw. drittpersonaler verhält. An diesem Punkt würde das Beharren darauf, dass man entweder den Standpunkt der ersten Person bezieht oder nicht, in einen Streit um Worte münden. Dass ich an einer Terminologie festhalte, nach der es sich beim Einnehmen des Standpunkts der ersten Person um ein ‘absolutes’ Phänomen handelt, liegt daran, dass ich glaube, dass auf diese Weise der für das Einnehmen dieses Standpunkts charakteristische Anforderungscharakter deutlicher gemacht wird, wie er bereits im Zuge der Diskussion der Ansätze von Moran und Burge zum Vorschein gekommen ist: Den Standpunkt der ersten Person zu beziehen, stellt eine Person unter den rationalen Druck, Einstellungen auszubilden, durch die dasjenige, was Gegenstand dieser Einstellungen wird, verständlich wird. Ob und in welchem Maße eine Person diesem rationalen Druck tatsächlich nachgibt, ist eine ganz andere weil nachgeordnete Frage. 160 Zudem steht die Meinung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, nicht nur in problematischen Beziehungen zu ganz vielen anderen Meinungen von Marie, sondern darüber hinaus auch im Widerspruch zu einem ganzen Meinungssystem, mit dem Marie sich identifiziert; außerdem

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 Die eigene Vergangenheit

Der einheitliche Charakter von Maries Weltverständnis – und dadurch vermittelt auch das Verständnis, das sie von sich selbst als eine um Verständnis bemühte Person hat – wird in weitaus stärkerem Maße von der einen als von der anderen Meinung bedroht sein, und in diesem Sinne kann davon die Rede sein, dass die eine Meinung für Marie fremder als die andere Meinung sein wird. Umgekehrt wird es sich bei Einstellungen, die von besonderer Relevanz für die Perspektive sind, mit der Marie sich identifiziert – d.h. von besonderer Relevanz für die Frage danach, als was für eine Person Marie sich versteht – um Einstellungen handeln, welche in einem stärkeren Ausmaß als Einstellungen zu betrachten sind, die in einem emphatischen Sinn Marie zugehörig sind, als Einstellungen, für die das nicht gilt. So wird es sich etwa bei der Meinung, dass jede Ursache eine Wirkung hat, um eine Meinung handeln, die in einem stärkeren Sinne Maries Meinung ist, als etwa die Meinung, dass Äpfel das beste Obst sind, weil die Meinung, dass jede Ursache eine Wirkung hat, in einem weitaus stärkeren Ausmaß Maries Selbstverständnis als Wissenschaftlerin betrifft als die entsprechende Obstpräferenz.

8.1 Raumzeitliche Wege Im Folgenden werde ich dementsprechend bei der Frage danach, was es heißt, dass ein Aspekt der eigenen Vergangenheit einer Person fremd ist, davon ausgehen, dass dies mehr oder weniger der Fall sein kann. Den ersten Schritt zur Beantwortung dieser Frage möchte ich hierbei machen, indem ich Situationen in den Blick nehme, die insofern an einem Ende des Fremdheits- bzw. Zugehörigkeitskontinuums angesiedelt sind, als es sich dabei um Situationen handelt, in denen Personen die eigene Vergangenheit in der extremst möglichen Weise fremd ist. Wie kann man sich solche Situationen vorstellen? Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten, die Situationen, die ich im Blick habe, zu beschreiben. Die eine von ihnen macht vom Begriff der Erinnerung Gebrauch, ohne dass sich dabei auf die eigene Vergangenheit bezogen wird, während die andere auf Formen des Bezugs auf die eigene Vergangenheit aufmerksam macht, die ohne Erinnerung zustande kommen. Ich beginne mit der zweiten Möglichkeit.

hat die Tatsache, dass Marie dieser Meinung ist, unter Umständen auch Konsequenzen für eine ganze Reihe von wichtigen Einstellungen, die nicht der Klasse der Meinungen zuzurechnen sind – so ist davon auszugehen, dass das, was Marie fühlt oder tut, in einem stärkeren Maße von der ‘fremden’ Meinung betroffen sein wird, dass Gott den Menschen erschaffen hat, als von der ‘fremden’ Meinung, dass Erdbeeren das beste Obst sind.



Raumzeitliche Wege 

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Hier handelt es sich um Situationen, in denen Personen von Aspekten der eigenen Vergangenheit erfahren, ohne dass sie in der Lage wären, sich an die Situationen zu erinnern, in denen diese Aspekte von ihnen erlebt worden sind.161 Die gewöhnliche Variante eines solchen Bezugs auf die eigene Vergangenheit stellt das Wissen dar, das wir von der eigenen frühen Kindheit haben: Ich kann davon wissen, dass ich im Alter von achtzehn Monaten am liebsten Bananen gegessen habe, ohne dass ich in der Lage bin, mich daran zu erinnern, wie ich im Alter von achtzehn Monaten eine Banane gegessen habe oder Lust darauf hatte, eine Banane zu essen, wenn mir etwa – wie es oft der Fall ist – Berichte von verlässlichen Zeugen und Interpreten meines frühkindlichen Verhaltens zur Verfügung stehen. Diesen Aspekt meiner Vergangenheit als einen mir besonders fremden Aspekt zu bezeichnen, mag an dieser Stelle allerdings etwas bemüht wirken,162 deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang ein anderes Beispiel betrachten,

161 Zu verschiedenen Formen der Abweichung vom normalen Vergangenheitsbezug vgl. etwa Hacking (1995). 162 Das ändert allerdings nichts daran, dass ich daran festhalten würde, dass die eigene Kindheit bis etwa zu dem Zeitpunkt, an dem die ersten Erinnerungen einsetzen, die man an die eigene Vergangenheit hat, einen fremden Aspekt des eigenen Lebens darstellt: Die Art und Weise, wie ich von meiner eigenen Vergangenheit im Alter von achtzehn Monaten weiß, unterscheidet sich nicht in wesentlicher Hinsicht von der Art und Weise, wie ich von der Vergangenheit einer jeden beliebigen Person im Alter von achtzehn Monaten wissen kann.  Dass es bemüht wirkt, in diesem Zusammenhang von einem fremden Aspekt der eigenen Vergangenheit zu reden, liegt daran, dass die Redeweise von ‘fremd’ – ähnlich wie die Redweise von ‘unverständlich’ – in dem Sinne evaluativ aufgeladen ist, als man dazu neigt, die Tatsache, dass etwas einer Person fremd oder unverständlich vorkommt, für schlecht, defizitär oder dem Wohlergehen dieser Person abträglich zu betrachten. Im Zusammenhang mit der eigenen frühen Kindheit fällt es dementsprechend schwer, eine These überhaupt verständlich zu finden, der zufolge es ‘schlecht’ sein würde, dass wir uns nicht von Geburt an an alles zu erinnern in der Lage sind. Ein solches Verständnis der Unterscheidung zwischen fremden und genuin eigenen Aspekten der eigenen Vergangenheit würde mich allerdings in einem weitaus stärkeren Maße auf eine normative Lesart der korrespondierenden Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person festlegen, als ich es im Verlaufe meiner gesamten bisherigen Argumentation beabsichtigt habe.  An dieser Stelle geht es mir – genauso wie im Rahmen der Argumentation im zweiten Teil dieser Arbeit – keinesfalls darum, den Standpunkt der ersten Person als einen Standpunkt auszuzeichnen, den wir aus irgendwelchen Gründen einnehmen sollten. bzw. darum, den Standpunkt der ersten Person als den gegenüber dem Standpunkt der dritten Person besseren Standpunkt auszuzeichnen. Auch wenn die Beispiele, die ich im Zuge der Diskussion im zweiten Teil der Arbeit bemüht habe, und im Folgenden bemühen werde, diese Schlussfolgerung nahe legen sollten, glaube ich nicht, dass sie zwingend ist. Kurz: Es geht mir lediglich darum, die Unterscheidung zu präzisieren und dabei daran festzuhalten, dass Personen den Standpunkt der ersten

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 Die eigene Vergangenheit

das dieselbe Struktur aufweist. Man stelle sich etwa eine Situation vor, in der Marie nach dem Aufwachen feststellt, dass sie sich in der Wohnung einer Freundin befindet, ohne sich daran zu erinnern, wie sie in diese Wohnung gekommen ist oder was sie überhaupt im Verlaufe des vergangenen Tages getan hat; sie zieht bei ihren Freunden und Arbeitskollegen Erkundigungen ein und erfährt auf diese Weise davon, dass sie offenbar einen völlig gewöhnlichen Arbeitstag verbracht hat, abends bei einer Freundin zum Essen eingeladen war und länger geblieben ist, als sie es geplant hatte, so dass sie schließlich das Angebot der Freundin angenommen hat, im Gästezimmer zu übernachten. An keine dieser Episoden kann sie sich allerdings erinnern; von der Situation beunruhigt – so das Szenario weiter – sucht Marie ihre Hausärztin auf, die sie nach eingehender Untersuchung darüber informiert, dass sie am Tag zuvor in Kontakt mit einem ansonsten unschädlichen Virus gekommen ist, das bewirkt hat, dass sie sich an diesen Tag nicht erinnern kann. Obwohl an diesem Tag offenbar nichts Dramatisches passiert ist und obwohl Marie eine beruhigende Erklärung für ihre Erinnerungslücke zur Verfügung steht, wird ihr dieser Aspekt der eigenen Vergangenheit zunächst fremd bleiben.163 Bevor ich zu der Frage übergehe, worin dieses Fremdsein von Maries Verhältnis zur eigenen Vergangenheit besteht, möchte ich ein zweites Fallbeispiel ins Spiel bringen, das meiner Ansicht nach dieselbe Dimension des Fremdseins aufweist, sich im Gegensatz zum Marie-Beispiel allerdings in keiner Hinsicht mehr als ein noch so entfremdeter Bezug auf die eigene Vergangenheit verstehen lässt, obwohl diese Situation – wiederum im Gegensatz zum Marie-Beispiel – einen mentalen Zustand beinhaltet, der in bestimmter Hinsicht als die ‘Erinnerung’ an eine vergangene Situation betrachtet werden kann. An dieser Stelle mache ich Gebrauch von der Auffassung, die psychologische Theorien personaler Identität von Erinnerung haben. Diese Auffassung ist, wie im ersten Teil der Arbeit bereits angedeutet, höchst problematisch, allerdings geht es mir an dieser Stelle nicht

Person einnehmen können. Auf die Fragen, ob das überhaupt eine gute Sache ist bzw. wie man die These verstehen könnte, dass sie es ist, gehe ich in diesem Rahmen nicht ein. 163 An dieser Stelle mache ich die Einschränkung, weil es anzunehmen ist, dass Maries Erinnerungslücke mit der Zeit einen ähnlichen Status gewinnen wird, wie die gewöhnlichen Fälle, in denen unsere Erinnerungen an Details einzelner Tagesabläufe mit der Zeit verblassen. Um genau zu sein, wird der relevante Zustand, in dem Marie sich befindet, also etwa direkt nach dem Aufwachen vorliegen. Alternativ könnte man sich etwa Situationen vorstellen, in denen man nach einem Ohnmachtsanfall zu Bewusstsein kommt; allerdings sind solche Situationen insofern problematischer als das skizzierte Marie-Szenario, als sie mit einem Kontrollverlust einhergehen. Das Marie-Szenario ist von mir absichtlich so konstruiert, dass diese Dimension der Entfremdung noch nicht thematisiert wird.



Raumzeitliche Wege 

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darum, den im Rahmen des Fallbeispiels, das ich betrachten möchte, implizierten Erinnerungsbegriff zu einer positiven Bestimmung dessen zu verwenden, was es heißen könnte, eine im emphatischen Sinne eigene Vergangenheit zu haben, sondern – ganz im Gegenteil – die extreme Form der Entfremdung von der eigenen Vergangenheit, wie sie bereits im Marie-Beispiel zum Ausdruck kommt, genauer in den Blick zu bekommen. Nehmen wir also an, dass David eines Tages beginnt, sich an den Anblick der Freiheitsstatue an einem verregneten Herbstnachmittag zu erinnern: Er sieht die Freiheitsstatue vor seinem ‘geistigen Auge’, das Bild, das sich ihm ‘präsentiert’, hat eine perspektivische Ausrichtung, die auf den Ort deutet, von dem aus David die Freiheitsstatue gesehen haben muss, David ‘sieht’ den Regen und die Wolken, alles ist so ‘lebhaft’, wie man es von einer Erfahrungserinnerung erwarten würde, und – dies die entscheidende, wenn auch problematische Annahme – es fühlt sich insgesamt unabweisbar nach einer Erinnerung an.164 Das Problem besteht aber darin, dass David weiß, dass er noch nie in New York gewesen ist. Eine nahe liegende Interpretation dieser Situation würde davon ausgehen, dass David sich in diesem Fall darin täuscht, eine Erinnerung zu haben, so dass die ganze Situation gar nicht erst ein Beispiel für einen Vergangenheitsbezug sondern eher für eine Täuschung darstellen würde.165 Allerdings ließe sich – wiederum im Anschluss an Vertreter psychologischer Theorien wie Parfit – die weitere Annahme machen, dass der mentale Zustand, in dem David sich befindet, keine Täuschung ist, sondern eine Quasi-Erinnerung an eine Erfahrung, die nicht David sondern Marie in New York gehabt hat. Wie ich im ersten Teil der Arbeit argumentiert habe, verbinden sich mit Situationen wie diesen epistemische Probleme, welche die Einführung des Begriffs der QuasiErinnerung insgesamt in ein zweifelhaftes Licht rücken. Der Punkt, auf den ich

164 Vgl. Parfits Formulierung einer notwendigen Bedingung dafür, dass ich mich an eine Erfahrung erinnere: „(1) I seem to remember having an experience.“ (Parfit (1984), 207). Die Annahme, die Parfit an dieser Stelle macht – und im Rahmen seiner Argumentation auch machen muss – ist, dass die Tatsache, dass eine Person sich an eine Erfahrung erinnert, darin besteht, dass diese Person sich in einem mentalen Zustand befindet, für den es charakteristisch ist, dass er sich als eine Erfahrungserinnerung ‘ankündigt’ oder – wie ich es oben formuliere – sich wie eine Erinnerung ‘anfühlt’. Die Person, die auf diese Weise glaubt, sich an eine Erfahrung zu erinnern, kann zwar falsch liegen, d.h. es kann sein, dass es sich bei dem mentalen Zustand, in dem sie sich befindet, um eine bloß scheinbare Erinnerung handelt, allerdings ist der veridische Charakter des betreffenden mentalen Zustands Parfit zufolge lediglich eine Frage der angemessenen kausalen Verbindung zwischen dem mentalen Zustand der Erfahrung und dem Zustand, in dem eine Person sich befindet, wenn sie glaubt, sich an diese Erfahrung zu erinnern. 165 Vgl. dazu McDowell (1997), 241.

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 Die eigene Vergangenheit

an dieser Stelle hinaus möchte, ist allerdings ein anderer. Wenn angenommen werden kann, dass David sich auf die skizzierte Weise an eine Erfahrung quasierinnern kann, die tatsächlich stattgefunden hat, dann lässt sich das Szenario als eine Form des Bezugs auf die Vergangenheit interpretieren, nur eben nicht als eine Form des Bezugs auf die eigene Vergangenheit, und zwar nicht nur vom drittpersonalen Standpunkt eines Beobachters der Situation, sondern auch aus der Perspektive von David selbst. Was ist es aber, das David daran hindert, den mentalen Zustand, in dem er sich befindet, als eine Erinnerung zu akzeptieren? Was lässt David stutzig werden, sobald er glaubt, sich daran zu erinnern, die Freiheitsstatue gesehen zu haben? Diese Fragen deuten zwar in die richtige Richtung, aber sie sind insofern falsch gestellt, als sie die problematische Annahme enthalten, dass David tatsächlich glauben würde, sich an die entsprechende Erfahrung zu erinnern, um erst daraufhin stutzig zu werden bzw. Hemmungen an den Tag zu legen, den mentalen Zustand, in dem er sich befindet, als eine Erinnerung zu akzeptieren. Um überhaupt erst zu einem Kandidaten für eine Erinnerung zu werden, muss Davids Verhältnis zu dem Inhalt des mentalen Zustandes, in dem er sich befindet, wenn er glaubt, sich an eine Erfahrung zu erinnern, eine bestimmte Minimalbedingung erfüllen. Diese Minimalbedingung besteht in dem skizzierten Fall darin, dass David den Standort der Person, auf den die perspektivische Ausrichtung des ‘Bildes’ deutet, das er vor seinem ‘inneren Auge’ hat, in Einklang mit dem raumzeitlichen Weg des menschlichen Lebewesens bringt, das er ist. Eben das kann er nicht, und aus diesem Grund wird es gar nicht erst dazu kommen, dass er glaubt, sich daran zu erinnern, an einem verregneten Herbstnachmittag die Freiheitsstatue in New York betrachtet zu haben. Diese Interpretation macht darauf aufmerksam, dass es sich bei Erinnerungen als einer Form des Bezugs auf die eigene Vergangenheit um ein genuin erstpersonales Phänomen handelt. Gleichzeitig steht sie im Einklang mit meiner bisherigen Bestimmung dessen, was es heißt, die Perspektive der ersten Person einzunehmen. Im Hinblick auf Erinnerungen heißt das nicht etwa, dass man sich in einem mentalen Zustand befindet, der perspektivisch strukturiert ist oder besonders ‘lebhaft’ ausfällt.166 Eine Person verhält sich vielmehr zu Aspekten ihrer Vergangenheit, indem sie diese Aspekte im Rahmen der Geschichte zu integrieren versucht, die sie als die eigene Geschichte versteht.167 Das heißt keinesfalls, dass

166 Vgl. Parfit (1984), 221; zur perspektivischen Ausrichtung als einem Kriterium für das Einnehmen der Perspektive der ersten Person vgl. auch Velleman (1996). 167 An dieser Stelle habe ich noch keinen besonderen Begriff von ‘Geschichte’ im Sinn, wie er etwa im Rahmen von narrativen Theorien vorkommt; wenn ich mich hier und im Folgenden



Raumzeitliche Wege 

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eine Person, die sich erinnert, in einem starken Sinn den deliberativen Standpunkt hinsichtlich der eigenen Vergangenheit beziehen muss, etwa indem sie Gründe hinsichtlich der Frage abwägt, ob sie dies oder jenes erlebt hat. Wissen von der eigenen Vergangenheit, das uns in Form des Erinnerns zur Verfügung steht, kommt typischerweise – ähnlich wie Wahrnehmungswissen – auf nichtinferentielle Weise zustande. Allerdings ist eine sich erinnernde Person insofern nicht lediglich das passive Subjekt eines bestimmten mentalen Zustandes, als es an dieser Person ist, eine bestimmte Episode der Vergangenheit überhaupt erst zu einem möglichen Kandidaten für eine Episode der eigenen Vergangenheit zu machen. Egal, wie man die metaphorische Redeweise von ‘mentalen Bilden’ philosophisch bewerten mag, so gilt doch, dass ich nicht von jedem beliebigen mentalen Zustand, in dem sich mir ein solches ‘mentales Bild’ ‘präsentiert’, annehmen werde, dass es sich dabei um eine Erinnerung handeln könnte. Ebenso wird David nicht einfach davon ausgehen, dass er sich daran erinnert, die Freiheitsstatue gesehen zu haben, nur weil er sich in einem mentalen Zustand befindet, in dem sich ihm ein entsprechendes mentales Bild präsentiert. Um dies tun zu können, müsste die Vorstellung, die er von seiner eigenen Vergangenheit zu dem Zeitpunkt hat, da er sich in dem fraglichen mentalen Zustand befindet, so beschaffen sein, dass es David überhaupt erst möglich vorkommt, dass er irgendwann an einem verregneten Herbstnachmittag in New York gewesen ist. Hier kommt das zum Vorschein, was ich weiter oben als den globalen Charakter des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person bezeichnet habe. Die Situation lässt sich nämlich auch folgendermaßen interpretieren: Um überhaupt erst zu einem Kandidaten für einen Fall zu werden, in dem David sich an etwas erinnert, müsste der Gehalt des mentalen Zustandes, in dem er sich befindet, von David in einen sinnvollen, und das heißt kohärenten Zusammenhang mit dem Gehalt der anderen Einstellungen gebracht werden können, die er zum betreffenden Zeitpunkt hat. Die mentalen Zustände, in denen Personen sich befinden, wenn sie sich erinnernd auf die eigene Vergangenheit beziehen, stellen in diesem Sinn keine isolierten Vorkommnisse innerhalb des mentalen Gesamtzustandes dieser Personen dar, sondern es ist an der betreffenden Person, die den Standpunkt der ersten Person einnimmt, sie auf eine Weise auszubilden, die kompatibel damit ist, worauf sie sich bereits im Hinblick auf die eigene Vergangenheit festgelegt hat. In dem Fall von Erinnerungen, den ich an dieser Stelle im Blick

darauf beziehe, dass eine Person eine Geschichte hat, so meine ich mit ‘Geschichte’ lediglich die Abfolge von Ereignissen, an denen die betreffende Person beteiligt ist. Eine Geschichte zu haben, ist in diesem Sinne nichts, was charakteristisch für Personen oder für den Standpunkt der ersten Person wäre; jedes materielle Objekt hat eine Geschichte.

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 Die eigene Vergangenheit

habe, bedeutet dies, dass Erinnerungen immer bereits im Kontext anderer Erinnerungen stehen und ausgebildet werden, die ich an die eigene Vergangenheit habe, und die insgesamt ein für mich verständliches Bild dessen ergeben, was ich als die eigene Geschichte betrachte.168 Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die Interpretation dessen, was für eine Person als die ‘eigene Geschichte’ gelten kann. An dieser Stelle geht es nicht darum, ob die eigene Geschichte von mir im emphatischen Sinn des Wortes als eine Geschichte verstanden wird, die ich als eigene Geschichte verstehen kann, sondern darum, die Minimalbedingung dafür zu bestimmen, dass es sich überhaupt um eine Geschichte handeln kann, die ich als genuin eigene Geschichte betrachten kann. Diese Minimalbedingung besteht darin, dass sich ein Aspekt der Vergangenheit als Strecke des raumzeitlichen Weges verstehen lässt, den das menschliche Lebewesen, das ich bin, zurückgelegt hat. Ganz abgesehen von allen anderen, in der Folge noch zu thematisierenden Gesichtspunkten, die dafür relevant sein mögen, dass ich einen Aspekt meines Lebens als genuin zu mir zugehörig verstehen kann, ist es in der von mir skizzierten Situation gerade Davids Selbstverständnis als ein bestimmtes menschliches Lebewesen, das sich auf eine für die Spezies Homo sapiens charakteristische Weise durch Raum und Zeit bewegt, welches es ihm unmöglich macht, die mentale New-York-Episode als Bestandteil der eigenen Geschichte zu betrachten. Das alles heißt keinesfalls, dass die Geschichte von der eigenen Vergangenheit, vor deren Hintergrund wir uns an einzelne Vorkommnisse dieser Vergangenheit erinnern, vollständig zu sein hat. Es gibt wohl nur wenige Personen, die

168 Eine aus dem Alltag vertraute Variante dieser Überlegungen liegt immer dann vor, wenn wir nicht genau wissen, ob etwas, woran wir denken, eine Erinnerung oder eine bloße (wie auch immer zustande gekommene) ‘imagination’ darstellt (vgl. Williams (1973b) und Velleman (1996)). So kann ich etwa an ein zweistöckiges Haus mit grünen Fensterläden denken und mich fragen, ob ich schon einmal vor diesem Haus gestanden habe; es wäre allerdings missverständlich, den Zustand, in dem ich mich befinde, wenn ich an das Haus mit den grünen Fensterläden denke, als eine Erinnerung zu beschreiben, auch wenn ich mit der Zeit darauf kommen sollte, dass ich tatsächlich einmal vor diesem Haus gestanden habe. Erst wenn ich mir auf diese Weise klar machen kann, wie das Haus, an das ich denke, im Rahmen der Geschichte, die ich von mir kenne, zu verorten ist, werde ich sagen können, dass ich mich daran erinnere, das betreffende Haus gesehen zu haben.  Für die folgenden Überlegungen ist hierbei von besonderem Interesse, auf welche Weise ich dazu kommen kann, ein ‘mentales Bild’, das ich habe, für eine Erinnerung zu halten. Typischerweise werde ich herauszufinden versuchen, wo ein solches Haus stehen könnte, um dann in einem zweiten Schritt zu überlegen, ob ich mich an diesem Ort befunden haben kann. Auf diese Weise mache ich mir einen Aspekt meiner Vergangenheit vor dem Hintergrund der Geschichte des menschlichen Lebewesens, das ich bin, verständlich.



Raumzeitliche Wege 

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von sich behaupten können, dass sie wissen, wo sich das menschliche Lebewesen, das sie sind, zu jedem beliebigen Zeitpunkt ihres Lebens aufgehalten hat. Dass die Vorstellung des raumzeitlichen Weges, den man im Verlaufe seines Lebens zurückgelegt hat, unvollständig ist, spricht allerdings nicht dafür, dass die Geschichte kompatibel mit allen vorstellbaren Variationen dieser Geschichte ist: Auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern kann, an welchem Ort ich vor genau einem Jahr gewesen bin, kann ich sehr wohl wissen, dass ich niemals in New York gewesen bin und deshalb vor genau einem Jahr nicht in New York gewesen sein kann. Dass ich das weiß, liegt aber auch daran, dass ich weiß, dass ich mich daran erinnern würde, in New York gewesen zu sein, weil mir klar ist, dass ein solcher Aufenthalt in New York keinesfall zu den Vorkommnissen meines Lebens zählt, die ich einfach vergessen könnte, so wie ich vergessen habe, was ich vor zwei Wochen zu Abend gegessen habe. Das Verständnis meiner eigenen Vergangenheit als einer sinnvollen Vergangenheit setzt auf diese Weise sowohl voraus, dass ich mich als ein Wesen verstehe, das einen objektiven Bestandteil der Welt darstellt, als auch, dass ich dieses Wesen als etwas vertstehe, das einheitliches Subjekt mentaler Zustände ist. Der Punkt, den ich an dieser Stelle im Blick habe, lässt sich auch folgendermaßen fassen: Wenn wir im Hinblick auf die eigene Vergangenheit die Perspektive der ersten Person einnehmen, dann heißt das, dass wir uns innerhalb der Geschichte der Person verorten, die wir sind. Um aber überhaupt die Geschichte von jemandem zu sein, muss diese Bezugnahme auf Vergangenes eine Verankerung haben – die Geschichte braucht einen ‘Träger’, als dessen Geschichte sie sich verstehen lässt. Diese Rolle wird von dem jeweiligen rationalen Lebewesen gespielt, als das sich eine Person, die sich auf die eigene Vergangenheit bezieht, versteht.169 Ein weiterer Punkt, der damit zusammenhängt, dass wir uns als rationale Lebewesen verstehen müssen, um überhaupt erst in den Prozess des erinnernden Bezugs auf die eigene Vergangenheit zu treten, hat mit der Tatsache zu tun, dass rationale Lebewesen – wie viele andere Lebewesen auch – raumzeitliche Wege zurücklegen, die kontinuierlich sind. Die Geschichte, an die ich vom Standpunkt der ersten Person denke, wenn ich mich auf die eigene Geschichte zu beziehen versuche, muss deshalb auch in dem Sinn eine verständliche Geschichte sein, dass sie keine unerklärlichen Lücken aufweist. Ich habe bereits angemerkt, dass die Geschichten, die den meisten von uns von der Vergangenheit des menschlichen Lebewesens zur Verfügung stehen, das wir jeweils sind, keinesfalls vollständig sind: Erstpersonaler Bezug auf die eigene Vergangenheit funktioniert nicht

169 Vgl. zu diesem Punkt insb. Cassam (1989).

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 Die eigene Vergangenheit

nach dem Vorbild einer Überwachungskamera, die lückenlos die Ereignisse im Leben eines bestimmten Menschen aufzeichnet. Dass die Geschichten, die uns von der eigenen Vergangenheit zur Verfügung stehen, auf diese Weise nicht das Merkmal der Kontinuität aufweisen, heißt aber nicht, dass wir nicht denken würden, dass sie es im besten Fall tun müssten. Auch wenn ich heute nicht mehr genau sagen könnte, wie ich vor etwa zwei Monaten in die Stadt gekommen bin, in der ich mich befinde, weil ich vergessen habe, ob ich den Zug oder ein Flugzeug genommen habe, so weiß ich doch, dass es irgendeine Art von kontinuierlichem Weg gibt, den das rationale Lebewesen zurückgelegt haben muss, das ich bin, um heute an dem Ort zu sein, an dem ich mich gerade befinde; gleichzeitig weiß ich aber auch, dass ich mich vor etwa zwei Monaten noch daran erinnern konnte, ob ich den Zug oder das Flugzeug genommen habe, und dieses Wissen ermöglicht mir, insgesamt betrachtet, meine Geschichte als die Geschichte eines kontinuierlich existierenden Lebewesens zu betrachten, auch wenn diese Geschichte selbst nicht in dem Sinne kontinuierlich zu nennen ist, dass ich eine lückenlose Beschreibung der Ereignisse geben könnte, an denen ich in dem Zeitraum der letzten zwei Monate beteiligt gewesen bin, sondern in dem Sinn, dass es es sich um eine mir verständliche Geschichte handelt.170 Es ist genau dieser Sachverhalt, der erklärt, inwiefern es sich in der eingangs skizzierten Situation von Marie um einen Bezug auf die eigene Vergangenheit handelt, der im Sinne eines extrem fremden Verhältnisses zur eigenen Vergangenheit interpretiert werden muss. Direkt nach dem Aufwachen im Gästezimmer ihrer Freundin ist Marie nämlich nicht in der Lage, an die eigene Vergangenheit als die kontinuierliche Geschichte des rationalen Lebewesens zu denken, als das sie sich versteht. Die eigene unmittelbare Geschichte ist Marie insofern unverständlich und fremd, als die Vorstellung des raumzeitlichen Weges, den

170 Der entscheidende Unterschied dieser Auffassung zu dem Bild, das psychologische Reduktionisten vom Bezug auf die eigenen Vergangenheit zeichnen, besteht also darin, dass die Einheit des mentalen Lebens einer Person meinem Ansatz zufolge als die Leistung eines um Selbstverstehen bemühten Subjekts und insofern als rationale Einheit verstanden werden muss, während psychologische Reduktionisten daran gebunden sind, die Einheit des mentalen Lebens von Personen in dem Sinn als einen Aspekt ihres Lebens zu betrachten, dem diese Personen gegenüber passiv sind, dass es bei dieser Einheit lediglich auf das Vorliegen von angemessenen Kausalketten ankommt. Mir geht es an dieser Stelle dagegen zunächst um den erstpersonalen Bezug auf die eigene Vergangenheit und insofern nicht direkt um die Frage nach der Identität der Personen, deren Vergangenheit thematisiert wird, sondern um die Geschichte, die diesen Personen zur Verfügung stehen muss, wenn sie sich erstpersonal auf die eigene Vergangenheit beziehen. Personen haben eine Geschichte, und sie können von dieser Geschichte auf spezifisch erstpersonale Weise wissen; das heißt aber nicht, dass Personen selbst Geschichten sind, die sie von der eigenen Vergangenheit haben.



Raumzeitliche Wege 

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sie zurückgelegt hat, um schließlich im Gästezimmer ihrer Freundin aufzuwachen, eine Lücke aufweist, die Marie sich nicht erklären kann, und die sich in dieser Hinsicht von den anderen ‘gewöhnlichen’ Lücken unterscheidet, welche in Maries Vorstellung von der eigenen Vergangenheit enthalten sein mögen. Die Beunruhigung, die Marie bei der Frage ‘Wie bin ich hier gelandet?’ erfährt, weist auf den um Verständnis bemühten Charakter des Standpunkts der ersten Person hin, den Marie nach dem Aufwachen bezieht. Dieses Verständnis ist – das zeigt Maries Fall ex negativo – von der Vorstellung an den raumzeitlichen Weg strukturiert, den das rationale Lebewesen, als das man sich versteht, zurückgelegt hat. Auf diese Weise stellt ein rudimentäres Verständnis davon, was es für ein rationales Lebewesen bedeutet, kontinuierlich in Raum und Zeit zu existieren, die Minimalbedingung dafür dar, dass Personen überhaupt eine Vorstellung von der eigenen Geschichte haben können. Sich auf den Standpunkt der ersten Person bezüglich der eigenen Vergangenheit zu stellen, bedeutet dementsprechend, dass man sich mindestens in dem Sinne darum bemüht, die eigene Vergangenheit zu verstehen, als man daran interessiert ist, sie als die Vergangenheit eines rationalen Lebewesens zu betrachten, das nicht willkürlich zu verschiedenen Zeitpunkten an beliebigen Orten vorgelegen hat, sondern einen kontinuierlichen Weg zurückgelegt hat, der kompatibel mit den für rationale Lebewesen einschlägigen Erhaltensbedingungen ist.171 Für Marie wird es umso leichter sein, die ihr fremde Episode in den Gesamtzusammenhang der Geschichte zu integrieren, an die sie denkt, wenn sie sich vom Standpunkt der ersten Person auf die eigene Vergangenheit bezieht, wenn sie einerseits davon erfährt, wie es dazu gekommen ist, dass sie sich an den betreffenden Tag nicht erinnern kann, und gleichzeitig davon ausgehen kann, dass das fatale Virus lediglich Auswirkungen auf ihr Erinnerungsvermögen gehabt und nicht etwa die Art und Weise beeinflusst hat, wie sie den Tag, an den sie sich nicht erinnern kann, verbracht hat. Im Hinblick auf das Verhältnis, das Marie zu der eigenen Vergangenheit hat, würde sich die Situation ganz anders gestalten, wenn etwa angenommen würde, dass Marie unter der Virus-Wirkung Dinge getan hätte, die sie ansonsten nicht tun würde. Diese Überlegung führt mich zu einer weiteren Dimension dessen, was es heißen kann, dass ein Aspekt der eigenen Vergangenheit einer Person fremd ist.

171 Das ist genau der Punkt, der im Hintergrund von McDowells Kritik an Parfits Einführung des Begriffs der Quasi-Erinnerung steht; vgl. McDowell (1997), 239ff.

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 Die eigene Vergangenheit

8.2 Vergangene Handlungen Die Form der Entfremdung von der eigenen Vergangenheit, die ich an dieser Stelle im Blick habe, unterscheidet sich insofern von der im letzten Abschnitt thematisierten Entfremdung, als die Minimalbedingung für erstpersonale Bezugnahme auf die eigene Vergangenheit zwar in dem Sinne vorliegt, dass eine Person in der Lage ist, einen bestimmten Aspekt der Vergangenheit im Kontext der kontinuierlichen Geschichte des rationalen Lebewesens, als das sie sich versteht, zu situieren, allerdings ohne dass sie diesen Aspekt der eigenen Vergangenheit als einen ihr genuin zugehörigen Aspekt betrachten könnte. Solche Situationen liegen immer dann vor, wenn Personen sich an Ereignisse erinnern, an denen sie in dem Sinne beteiligt waren, dass davon die Rede sein kann, dass sie etwas getan haben, dies aber auf eine Weise, die nicht kompatibel damit ist, diese Ereignisse als im emphatischen Sinn eigene Handlungen zu betrachten. Ein extremes Beispiel für eine solche Situation würde vorliegen, wenn Marie in dem oben skizzierten Szenario unter dem Einfluss des Virus nicht ihr Erinnerungsvermögen verlieren, sondern etwa einen Hörsaal zu Kleinholz schlagen würde; weniger extreme Beispiele wären etwa die Situation, in der Marie ins Kino geht, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hat, an einer Vorlesung zu arbeiten oder die Situation, in der sie von einem Tag auf den anderen ihre Karriere als Evolutionsbiologin aufgibt. Die entscheidende Frage, was solche Situationen zu Fällen macht, in denen Marie sich der eigenen Zukunft gegenüber nicht auf eine für den Standpunkt der ersten Person charakteristische Weise verhält, möchte ich im Kontext der vorliegenden Überlegungen zurückstellen, weil sie mich im folgenden Kapitel beschäftigen wird. An dieser Stelle kommt es mir lediglich auf den Hinweis an, dass sich die mit dem Zukunftsbezug einhergehende Fremdheit auch auf die Weise übertragen kann, wie ich mich auf die eigene Vergangenheit beziehe. So wird mir eine Handlung, die auszuführen aus meiner Perspektive keinen Sinn hat – etwa ins Kino zu gehen, obwohl ich weiß, dass ich dringend eine andere Aufgabe erledigen müsste – nach ihrer Ausführung immer noch sinnlos vorkommen.172

172 Es sei denn, es tauchen neue Gesichtspunkte auf, die ich vor der Ausführung der Handlung nicht kannte, etwa indem sich herausstellt, dass der Kinofilm, den ich gesehen habe, anstatt mich meiner Arbeit zu widmen, tatsächlich von ganz besonderer Wichtigkeit für das, woran ich arbeite, gewesen ist oder Ähnliches. Dann hätte ich bei der Festlegung darauf, meine Arbeit voranzutreiben, einfach einen relevanten Faktor übersehen. Auf diese Weise könnte ich zwar der Gesamtsituation im Nachhinein ‘einen Sinn abgewinnen’, aber die Tatsache, dass ich ins Kino gegangen bin, obwohl ich diesem Zeitpunkt noch dachte, dass ich zuhause weiterarbeiten würde, würde mir immer noch unverständlich bzw. fremd erscheinen.



Vergangene Handlungen 

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Den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigene Vergangenheit zu beziehen, heißt in diesem Sinne wiederum, dass ich mich um die Verständlichkeit der eigenen Geschichte bemühe, wobei es in dem vorliegenden Fall aber nicht um Verständlichkeit im Sinn einer Situierung innerhalb des raumzeitlichen Weges geht, den das rationale Lebewesen, als das ich mich verstehe, zurückgelegt hat, sondern um die Verständlichkeit der vergangenen Handlungen dieses rationalen Lebewesens. Auf den ersten Blick mag das Einnehmen der Perspektive der ersten Person in diesem Zusammenhang müßig wirken: Wie bereits erwähnt, wird eine Handlung, die mir zum Zeitpunkt ihrer Ausführung unverständlich erscheint, nicht alleine dadurch verständlicher, dass ich mich in Form von Erinnerungen rückblickend auf sie beziehe. An dieser Stelle muss allerdings wiederum bedacht werden, dass der Standpunkt der ersten Person keinesfalls ein Standpunkt ist, von dem aus mir alles, woran ich denken könnte – egal ob es um die Frage nach der Entstehung der Spezies Homo sapiens geht oder um die eigene Vergangenheit – tatsächlich verständlich ist, sondern ein Standpunkt, der mit dem Anspruch auf Verständlichkeit einhergeht. Im Hinblick auf vergangene Handlungen den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, bedeutet deshalb zweierlei: Zum einen geht es darum, die Handlungen, die einem zum Zeitpunkt der Ausführung sinnvoll vorkamen, auch im Rückblick in einen um Verständnis bemühten Kontext zu situieren, indem man sie als Bestandteile der eigenen Geschichte betrachtet, die dafür sorgen, dass es sich um eine insgesamt sinnvolle Geschichte handelt. Zum anderen bedeutet das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person aber auch, dass man die Unverständlichkeit von Handlungen, die einem zum Zeitpunkt ihrer Ausführung unverständlich waren, auch im Rückblick als problematisch betrachtet.173 Dass Letzteres keinesfalls müßig ist, sieht man daran, dass Personen, denen die Verständlichkeit der eigenen Vergangenheit wichtig ist, zwar nicht in der Lage sein werden, aus unverständlichen Handlungen, die sie ausgeführt haben, in dem Sinn verständliche Handlungen zu machen, dass die Vorstellung, die sie von sich haben, das Ideal der maximalen Verständlichkeit erreicht, möglicherweise aber zu einem alternativen Verständnis der eigenen vergangenen Handlungen gelangen, das es ihnen in der Zukunft eher erlaubt, unverständliche Handlungen nicht

173 In diesem Sinne könnte von Personen, die etwa nach einer willensschwachen Handlung einfach mit den Schultern zucken und mit ihrem Leben weitermachen, als ob nichts passiert wäre, gesagt werden, dass sie den Anforderungen des Standpunkts der ersten Person nicht gerecht werden und sich im Hinblick auf die betreffende Episode ihrer Vergangenheit drittpersonal verhalten.

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 Die eigene Vergangenheit

auszuführen, als Personen, denen die Verständlichkeit der eigenen Vergangenheit nichts bedeutet.174 Der zuletzt genannte Punkt deutet auf einen grundsätzlichen Aspekt dessen, was es bedeutet die Perspektive der ersten Person auf das eigene Leben einzunehmen. Mein Vorgehen im Rahmen dieses Teils der Arbeit mag den Eindruck erwecken, als ob es sich beim Einnehmen dieser Perspektive auf die eigene Vergangenheit und auf die eigene Zukunft um getrennte Phänomene handeln würde; dies darf allerdings nicht auf eine Weise verstanden werden, nach der diese Phänomene unabhängig voneinander zu verstehen wären. Wie zu sehen war, ist der erstpersonale Bezug auf die eigene Vergangenheit zum Teil massiv davon betroffen, wie man sich auf die eigene Zukunft bezogen hat; umgekehrt ist davon auszugehen, dass sich die Weise, wie man sich vom Standpunkt der ersten Person auf die eigene Zukunft bezieht, davon abhängen wird, auf welche Weise man sich auf die eigene Vergangenheit bezieht. Wenn es sich beim Einnehmen des Standpunkts der ersten Person – wie ich zu zeigen versuche – tatsächlich in dem Sinne um einen Prozess der Konstitution normativer Identität handelt, dass Personen, die diesen Standpunkt einnehmen, darum bemüht sind, ein verständliches Leben zu haben, dann wird es sich bei normativer Identität trotz der unterschiedlichen temporalen Ausrichtung dieses Prozesses um ein einheitliches Phänomen handeln. Anders gesagt: Eine normative Identität zu haben, wird gleichermaßen – und miteinander zusammenhängend – damit zu tun haben, wer man war und wer man sein wird.

8.3 Erinnern im Kontext Der letzte Aspekt, auf den ich im Zusammenhang mit der Frage nach dem erstpersonalen Verhältnis zur eigenen Vergangenheit hinweisen möchte, hat gewisse Ähnlichkeiten zu dem Punkt, auf den ich weiter oben hingewiesen habe, als ich plausibel zu machen versuchte, dass Erinnerungen insofern nicht als isolierbare Elemente des mentalen Haushalts von Personen zu verstehen sind, als sie nur im Kontext von anderen Erinnerungen verständlich sind, die insgesamt die Vorstellung eines einheitlichen raumzeitlichen Weges ergeben, der von dem rationalen

174 So wird Marie eher lernen, ihrem Vorsatz treu zu bleiben und an ihren Vorlesungen zu arbeiten, anstatt immer ins Kino zu gehen, sobald sie der Drang danach ‘überfällt’, wenn ihr die Episoden, in denen sie ihrem Vorsatz nicht treu bleiben konnte, als Bestandteile der eigenen Vergangenheit vor Augen stehen.



Erinnern im Kontext 

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Lebewesen zurückgelegt wurde, als das sich die erinnernde Person versteht.175 Selbst wenn diese Minimalbedingung erfüllt ist, und auch wenn angenommen werden kann, dass eine Person sich auf Aspekte ihrer Vergangenheit bezieht, die keine ihr unverständlichen Handlungen beinhalten, gibt es einen Sinn, in dem von dieser Person gesagt werden kann, dass sie im Bezug auf die eigene Vergangenheit den Anforderungen des Standpunkts der ersten Person nicht ganz gerecht wird. An dieser Stelle wähle ich ganz bewusst eine abgeschwächte Formulierung, weil die Abwesenheit des Zusammenhangs, auf den ich im Rahmen dieses Abschnitts hinaus möchte – im Gegensatz zu den weiter oben diskutierten Zusammenhängen – keine extremen Formen der Entfremdung oder Unverständlichkeit nach sich zieht. Man stelle sich etwa die Situation vor, in der Roger daran denkt, wie er seinen fünfzehnten Grand-Slam-Titel gewonnen hat, der ihm den Rang des erfolgreichsten Tennisspielers aller Zeiten sicherte, sich allerdings lediglich daran erinnert, an einem bestimmten Tag im Jahr 2009 in Wimbledon ein weiteres Finale gewonnen zu haben. Für sich genommen ist an dieser Situation eines Bezugs auf die eigene Vergangenheit nichts besonders bemerkenswert. Zum einen kann angenommen werden, dass Roger in etwa weiß, wie er nach London gekommen und wieder abgereist ist, d.h. es kann angenommen werden, dass er die Episode des Finalsiegs in den Rahmen des raumzeitlichen Weges des menschlichen Lebewesens integrieren kann, als das er sich versteht; zudem kann angenommen werden, dass es sich bei Rogers Handlungen auf dem Centre Court um Handlungen gehandelt hat, die Roger verständlich waren, und die er zum Zeitpunkt der Ausführung als genuin eigene Handlungen betrachtet hat. Zum anderen ist prima facie nichts dagegen zu sagen, dass die Erinnerungen, die wir an die eigene Vergangenheit haben, unvollständig sind. Wie oben bereits angemerkt, sind Personen weit davon entfernt, sich an jedes einzelne Detail ihrer Vergangenheit zu erinnern; stattdessen gehen wir, immer wenn wir an die eigene Vergangenheit denken, selektiv vor.176 Dass wir als Erinnerungssubjekte selektiv vorgehen, heißt allerdings nicht, dass die Selektion, die wir vom Standpunkt der ersten Person vornehmen, willkürlich auszufallen hat. Im Rahmen des von mir skizzierten Beispiels sieht man dies daran, dass Roger sich tatsächlich nicht nur an die Tatsache erinnern würde, ein weiteres Finale gewonnen zu haben, sondern dass diese

175 Ein ähnlicher Punkt findet sich in Slors (2001), 190f. 176 Dass Erinnerung auf diese Weise selektiv funktioniert, ist ein Gemeinplatz, der nicht nur von philosophischer Seite, sondern gerade auch im Rahmen von empirischen Wissenschaften hinreichend detailliert beschrieben und analysiert worden ist; vgl. etwa die Beiträge in Neisser/ Fivush (1994).

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 Die eigene Vergangenheit

Erinnerung stattdessen in den Kontext anderer Erinnerungen und weiterer Einstellungen eingebettet sein würde. Ein Erinnerungsbericht, den wir in der skizzierten Situation erwarten, könnte etwa folgendermaßen lauten: Am Samstag vor dem Finale wurde ich immer nervöser, weil mir klar war, dass Andy sich nicht leicht geschlagen geben würde. Gleichzeitig wusste ich, dass das Match mir die Gelegenheit geben würde, in der Liste der Grand-Slam-Gewinner an Pete vorbeizuziehen. Dass er sich für den nächsten Tag als Zuschauer angekündigt hatte, machte mich noch angespannter. Ich weiß noch, wie ich am Sonntag den Centre-Court-Rasen betreten habe. Ein vertrauter Anblick, aber an diesem Tag kam mir alles vor, als ob ich es mit leicht veränderten Augen sehen würde. Schon nach dem ersten Satz war klar, dass Andy einen guten Tag erwischt hatte. Sein Aufschlagspiel war fast perfekt. Ich konnte nur darauf hoffen, dass ihm später Fehler unterlaufen würden. Die viereinhalb Stunden vergingen letztlich wie im Fluge. Immer wieder musste ich daran denken, dass alle auf den ‘Rekord für die Ewigkeit’ warten, und zwischendurch kämpfte ich immer wieder gegen die Befürchtung an, ausgerechnet an diesem Tag und ausgerechnet in Wimbledon zu scheitern. Spätestens nach den zwei abgewehrten Bällen im fünften Satz dachte ich aber nur noch an den Sieg, und ich wusste, dass er in unmittelbarer Reichweite war. Ich erinnere mich noch genau, wie ich schließlich Andys zweiten Aufschlag mit der Rückhand retournierte, dann noch einmal die Rückhand, und wie Andy dann den Ball in den Himmel schickte. Das war einer der besten Momente meines Lebens. Wenn ich daran zurückdenke, bin ich immer noch aufgeregt und auch ein bisschen stolz darauf, es an diesem Tag geschafft zu haben.

An dieser Stelle möchte ich nicht behaupten, dass Erinnerungen in jedem Fall auf eine Weise ausfallen, die diesem Erinnerungsbericht ähneln würde. Manchmal erinnern wir uns tatsächlich nur an ausgewählte Details bestimmter Aspekte unserer Vergangenheit, ohne dass dies weiter problematisch wäre. Der entscheidende Punkt ist aber, dass solchermaßen ‘verkürzte’ Erinnerungen nicht den Regelfall des erstpersonalen Bezugs auf die eigene Vergangenheit darstellen. Dieser Eindruck wird allerdings von Vertretern psychologischer Theorien wie Parfit erweckt, indem als Beispielfälle für Situationen, in denen Personen sich an etwas erinnern, Erinnerungen an Momentaufnahmen formuliert werden, deren Dramaturgie weder darauf Rücksicht zu nehmen hat, um was für eine Person es sich bei dem Subjekt der entsprechenden Erfahrung handelt, noch darauf, wer das Subjekt der Erinnerung an diese Erfahrung ist. In diesem Sinne ist etwa das im ersten Teil der Arbeit erwähnte Parfit-Beispiel von Paul, der sich an einen Blitzeinschlag in einer Kirche in Venedig erinnert, tendenziös zu nennen. Sich daran zu erinnern, wie man von weitem gesehen hat, dass in eine Kirche ein Blitz einschlägt, ist tatsächlich keine Erinnerung, von der wir erwarten würden, dass sie in einen weiteren Kontext eingebettet sein muss. Das liegt daran, dass in dem von Parfit bemühten Szenario Paul passiver Beobachter der Situation ist, jede beliebige andere Person nahezu dieselbe Erfahrung an Pauls Stelle haben könnte und ein Blitzeinschlag eine Situation darstellt, in



Erinnern im Kontext 

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der alles andere, was man zu dem fraglichen Zeitpunkt hätte tun oder denken können, in den Hintergrund rückt.177 Gleichzeitig würden die meisten von uns intuitiv urteilen, dass es eher komplex eingebettete Erinnerungen wie Rogers Erinnerung an den Wimbledon-Sieg sind – Erinnerungen wie ‘mein erster Kuss’ oder ‘damals, als ich Krebs hatte’ – die relevant für die Identität der sich erinnernden Person sind – und zwar zunächst sowohl, ob man an Identität im Sinne der metaphysischen Relation oder, wie ich an dieser Stelle, an den normativen Identitätsbegriff denkt. Rogers Erinnerung an seinen Erfolg im Wimbledon-Finale unterscheidet sich in mehreren Hinsichten von Pauls Erinnerung an den Blitzeinschlag in Venedig. Roger erinnert sich nicht nur daran, dass er das Wimbledon-Finale gewonnen hat, sondern gleichzeitig auch noch an seinen emotionalen Zustand am Vortag des Matches, an seine Vermutungen über die Form, in der sein Gegner das Finale antreten würde, an seine Meinungen im Hinblick auf die tennishistorische Relevanz des Finales, an Personen, die direkt oder indirekt mit dem Match zu tun hatten, an seine Gefühle angesichts der Anwesenheit dieser Personen, an eine geänderte Wahrnehmung beim Betreten des Spielfelds, an seine Hoffnung, dem Gegner mögen Fehler unterlaufen, an die veränderte Zeitwahrnehmung während des Spiels, an die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, sowie an die Befürchtung, er könnte diesen Erwartungen nicht gerecht werden, er erinnert sich an die Abläufe einzelner Spielphasen, schließlich an den entscheidenden Ballwechsel, sowie an sein Gefühl im Moment des Sieges. Auf diese Weise ist Rogers Erinnerung daran, dass er das Wimbledon-Finale gewonnen hat, in den Kontext einer ganzen Reihe anderer Einstellungen eingebettet. Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle, dass es sich keinesfalls um eine willkürliche Tatsache handelt, dass Rogers Erinnerung ausgerechnet im Kontext dieser und nicht anderer Einstellungen steht. Aus der Perspektive von Roger macht es Sinn, sich im Zuge der Erinnerung an den Wimbledon-Sieg etwa an die Befürchtung zu erinnern, er könnte das Finale verlieren oder auch nur daran, in welcher Form sein Gegner an diesem Tag war. Weniger verständlich wäre es, wenn Roger sich nicht an seine Emotionen

177 Es verwundert insofern nicht, dass Parfit ausgerechnet dieses Szenario bemüht, um für die Plausibilität des Konzepts der Quasi-Erinnerung zu argumentieren; immerhin handelt es sich bei Pauls Erinnerung um einen mentalen Zustand, von dem Parfit behaupten muss, dass er in den mentalen Haushalt von Jane ‘verpflanzt’ werden könnte, so dass Jane sich an das von Paul erlebte Ereignis quasi-erinnert. Es ist schwierig sich vorzustellen, wie eine solche ‘Verpflanzung’ im Fall von Rogers Erinnerung an seinen Wimbledon-Sieg vonstatten gehen könnte. Auf diesen Punkt macht Schechtman unter Berücksichtigung eines ähnlichen Erinnerungsberichts, wie ich ihn skizziert habe, aufmerksam; vgl. Schechtman (1990), 79ff.

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während des Spiels, dafür aber etwa an das Gesicht eines ihm ansonsten fremden Zuschauers in der dritten Reihe erinnern würde. Auch wenn es an dieser Stelle wiederum nicht angebracht ist, davon zu reden, dass Roger im Hinblick auf diese Episode der eigenen Vergangenheit insofern einen deliberativen Standpunkt einnimmt, als er Gründe abwägen würde, sich an dies oder jenes zu erinnern, kann doch behauptet werden, dass es rational von Roger ist, sich an seine Befürchtung, er könnte das Spiel verlieren oder an sein Gefühl im Augenblick des Sieges zu erinnern. Roger wäre rational kritisierbar, wenn er sich an seinen Sieg in Wimbledon erinnern würde, ohne dass er sich etwa an solche Emotionen erinnert.178 Der rationale Charakter der Einstellungen, in denen Roger sich befindet, wenn er auf die skizzierte Weise an das WimbledonFinale denkt, speist sich zum einen aus dem Zusammenhang der Episode, um die es geht – d.h. der Episode des Wimbledon-Finales mit ihrer ganzen Dramaturgie von Zweifel am Vorabend, langwierigem Spielablauf mit Höhen und Tiefen bis hin zum erlösenden Ballwechsel – zum anderen aber aus der Stellung, die diese Episode im Gesamtzusammenhang von Rogers Bezug auf die eigene Vergangenheit hat. Die Tatsache, dass Roger sich etwa an seine Furcht erinnert, den an ihn gestellten Erwartungen nicht gerecht werden zu können, erhält ihren Sinn nur vor dem Hintergrund von Rogers Selbstverständnis als Tennisspieler, sowie unter Zuhilfenahme von zusätzlichen Annahmen, die etwa Rogers Auffassung von der tennishistorischen Bedeutung des Matches betreffen. Dass etwa die Hoffnung, das Wimbledon-Finale zu gewinnen, für Roger einen verständlichen Aspekt der eigenen Vergangenheit darstellt, liegt wiederum daran, dass er seine Vergangenheit und auf diese Weise sich selbst in einem bestimmten Licht sieht, nämlich etwa als ein Weltklasse-Tennisspieler, der einen bestimmten Karriereablauf hinter sich gebracht hat, vor dessen Hintergrund das in Frage stehende Finale als eine Art Kulminationspunkt verstanden werden kann, was wiederum die Rele-

178 Dass Emotionen auf diese Weise in rationalen Zusammenhängen stehen können, wird mich weiter unten im Zusammenhang Betzlers Theorie der persönlichen Projekte beschäftigen (vgl. S. 165f.). Der Punkt, um den es dann gehen wird, könnte im Rahmen des an dieser Stelle diskutierten Beispiels folgendermaßen aufgegriffen werden: Es ist rational von Roger, sich im Augenblick des Sieges über seinen Erfolg zu freuen, weil er das Projekt verfolgt, ein möglichst guter Tennisspieler zu sein und weil dieses Projekt Gründe generiert, welche unter anderem auch Gründe für Emotionen sind; vgl. Betzler (2012), Abschn. 2. Dieser rationale Charakter könnte insofern auf den Fall der Erinnerung übertragen werden, als man die These verteidigen könnte, dass Projekte auch Gründe dafür generieren, sich über einen längeren Zeitraum an projektrelevante Ereignisse und die damit verbundenen Emotionen zu erinnern; vgl. dazu auch Helm (2001).



Erinnern im Kontext 

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vanz des in Frage stehenden Finales und damit auch die Hoffnung, dieses Finale zu gewinnen, in ein verständliches Licht rückt.179 An dieser Stelle kommt erneut der globale Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person zum Vorschein: Wenn ich den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigene Vergangenheit einnehme, dann bin ich in dem Maße um Verständlichkeit dieser Vergangenheit bemüht, in dem ich weniger an einzelne Episoden als an komplexe Zusammenhänge von Aspekten der eigenen Vergangenheit denke. Auf diese Weise mache ich mir einzelne Aspekte der eigenen Vergangenheit in einem emphatischen Sinn zu eigen, indem ich sie im Kontext ganzer Verstehenszusammenhänge situiere. Wenn ich auf diese Weise an die eigene Vergangenheit denke, setze ich mich nicht etwa mit meinen Erinnerungen auseinander, sondern damit, was der Gegenstand dieser Erinnerungen ist, d.h. ich beschäftige mich mit der Vergangenheit der Person, als die ich mich verstehe, und insofern ist in diesem Fall auch der transparente Charakter dessen gewahrt, was es heißt, die Perspektive der ersten Person einzunehmen. Auf welche Weise verstehe ich mich aber als eine Person, wenn ich mich auf diese Weise auf die eigene Vergangenheit beziehe? Ich denke, an dieser Stelle ist deutlich, dass ich mich weder als ein rein biologisch exisitierendes Wesen, noch als eine bloße Sequenz von mentalen Zuständen verstehen kann, sondern als ein rationales Lebewesen, d.h. ein Wesen, für das charakteristische biologische Kontinuitätsbedingungen gelten, und für das es charakteristisch ist, Dinge zu tun und Subjekt von mentalen Einstellungen zu sein. Wenn es stimmt, dass ich im erstpersonalen Bezug auf die eigene Vergangenheit in dem Sinne an der

179 Ein nicht ganz unwichtiger Aspekt an dem Erinnerungsbericht, den ich oben formuliert habe, findet sich ganz an seinem Ende: Roger erinnert sich nicht nur daran, bestimmte Emotionen gehabt zu haben, sondern er hat diese Emotionen im Zuge des Erinnerns an die in Frage stehende Situation, obwohl der ursprüngliche Anlass für diese Emotionen zum Teil nicht mehr gegeben ist. Es ist öfter der Fall, dass wir uns auf diese Weise ‘mit Schrecken’ an eine schreckliche Situation oder ‘mit zärtlichen Gefühlen’ an etwas Schönes erinnern, das uns passiert ist. Dieser Aspekt ist insofern wichtig, als er darauf hindeutet, dass die Identifikation mit dem Verständniszusammenhang, in dem die ursprüngliche Emotion gestanden hat, zum Zeitpunkt des Erinnerns immer noch vorliegen kann. Des Weiteren kann es sein, das der Verständniszusammenhang, in dem eine Person sich auf die eigene Vergangenheit bezieht, zum Zeitpunkt des Erinnerns das Einnehmen von Einstellungen rational macht, welche zu dem Zeitpunkt, an den sich die betreffende Person erinnert, noch nicht vorgelegen haben. So kann es sein, dass Roger den Stolz, den er beim Formulieren seines Erinnerungsberichts empfindet, zum Zeitpunkt seines Wimbledon-Sieges noch nicht empfunden hat. Dass er ihn im Rückblick empfindet, ist für Roger wiederum nur dadurch verständlich, dass sich diese Weise, sich erstpersonal auf die eigene Vergangenheit zu beziehen, in den Verständniszusammenhang integrieren lässt, der durch Rogers Erinnerungsbericht zum Ausdruck kommt.

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eigenen normativen Identität arbeite, dass ich mich um eine verständliche Interpretation dieser Vergangenheit beziehe, dann muss gesagt werden, dass dieser erstpersonale Bezug nur unter der Voraussetzung eines Selbstverständnisses als rationales Lebewesen möglich ist. Normative Identität würde auf diese Weise ein Verständnis metaphysischer Identität zur Voraussetzung haben, nach der es sich bei Personen wesentlich um rationale Lebewesen in Wiggins’ Sinne handelt. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen normativer Identität und metaphysischer Identität wird mich noch am Schluß dieser Arbeit beschäftigen. Bevor ich mich ihr widme, möchte ich allerdings zunächst der Frage nachgehen, was es bedeutet, im Hinblick auf die eigene Zukunft den Standpunkt der ersten Person einzunehmen.

9 Die eigene Zukunft Ganz ähnlich wie sich von Erinnerungen weder behaupten lässt, dass sie die einzige Form des Bezugs auf die eigene Vergangenheit sind, noch dass sie die einzige erstpersonale Form eines solchen Bezugs darstellen, gilt für den Fall, in dem Personen sich auf die eigene Zukunft beziehen, dass sie dies auf unterschiedliche Weise tun können. Personen können befürchten, dass eine sie betreffende Situation eintreffen wird oder darauf hoffen, dass etwas Bestimmtes mit ihnen passiert, sie können sich angesichts einer bestimmten Aussicht darauf freuen, dass sie etwas erleben werden oder verzweifelt darüber sein, dass ihnen etwas in der Zukunft unmöglich sein wird. Im Zuge meiner Argumentation im letzten Kapitel habe ich mich auf den Fall von Erinnerungen konzentriert und andere Formen des erstpersonalen Vergangenheitsbezugs mit dem Hinweis vernachlässigt, dass es sich bei Erinnerungen insofern um paradigmatische Fälle des erstpersonalen Bezugs auf die eigene Vergangenheit handelt, als die anderen Formen eines solchen Bezugs Erinnerungen zur Voraussetzung haben. Auch im Rahmen dieses Kapitels werde ich mich auf eine bestimmte Form des erstpersonalen Zukunftsbezugs konzentrieren. Dabei handelt es sich um den Fall, in dem Personen sich dazu entschließen, etwas zu tun. Den Schwerpunkt auf Handlungen zu setzen, halte ich einerseits insofern für gerechtfertigt, als Personen sich durch Handlungen in einem weitaus stärkeren Sinn selbst zum Thema machen, als dies etwa bei Hoffnungen oder Befürchtungen der Fall ist. Andererseits ist der mit dem Zukunftsbezug einhergehende konative Charakter der Selbstbezugnahme im Zusammenhang mit Handlungen viel deutlicher ausgeprägt als etwa bei Hoffnungen oder Befürchtungen.180 Mein Vorgehen im Rahmen dieses Kapitels wird allerdings insofern anders als das Vorgehen des vorangegangenen Kapitels ausfallen, als ich zunächst direkt die Überlegungen des zweiten Teils der Arbeit auf die Frage nach dem erstpersonalen Zukunftsbezug anwenden werde, um die zentralen Unterschiede zu dem

180 So liegt etwa bei Hoffungen zwar in dem Sinn eine konative Komponente vor, als eine Person, die auf das Eintreten von etwas hofft, eine Pro-Einstellung diesem Eintreten gegenüber haben muss; gleichzeitig steht aber eine kognitive Komponente im Vordergrund, indem die hoffende Person bestimmte Einstellungen im Hinblick darauf, was wahrscheinlich der Fall sein wird, haben muss. Die Unterscheidung zwischen konativen und kognitiven Einstellungen sollte weder allzu starr verstanden werden, noch sollte davon ausgegangen werden, dass sie etwa deckungsgleich mit der Unterscheidung zwischen vergangenheits- und zukunftsbezogenen Einstellungen ist. So wird etwa eine vergangenheitsbezogene Einstellung wie Stolz in dem Sinn auch eine konative Komponente enthalten, dass die Person, die darauf stolz ist, etwas getan zu haben, eine Pro-Einstellung hinsichtlich dessen, worauf sie stolz ist, haben muss.

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Bild herauszuarbeiten, das psychologische Theorien personaler Identität davon zeichnen, was es heißt, dass Personen sich auf die eigene Zukunft beziehen. In einem zweiten Schritt werde ich diese Opposition weiter anreichern, indem ich mich auf den handlungstheoretischen Debattenkontext seit der Formulierung des sog. Wunsch-Meinung-Modells beziehen werde. Dieses Vorgehen halte ich zum einen für sinnvoll, weil sich durch die systematische Nähe, die zwischen dem Wunsch-Meinung-Modell und psychologischen Theorien personaler Identität besteht, ein besseres Verständnis dafür gewinnen lässt, inwiefern Letztere nicht in der Lage sind, den genuin erstpersonalen Charakter des mit Handeln einhergehenden Zukunftsbezugs zu fassen. Zum anderen wird mir die Thematisierung der in Abgrenzung zum Wunsch-Meinung-Modell vertretenen Positionen dabei helfen, eine präzisere positive Bestimmung des erstpersonalen Zukunftsbezugs zu formulieren.

9.1 Die Perspektive der ersten Person und Handeln Eines der zentralen Ergebnisse des zweiten Teils dieser Arbeit bestand in der Einsicht, dass das Einnehmen der Perspektive der ersten Person in dem Sinne mit dem Merkmal der Transparenz einhergeht, dass eine Person, die diese Perspektive im Hinblick auf einen ihrer mentalen Zustände einnimmt, sich nicht mit diesem mentalen Zustand beschäftigt, sondern mit der Welt bzw. damit, was der Gegenstand dieses mentalen Zustandes ist. Wenn es um Handlungen geht, ist die Transparenzbedingung schon insofern erfüllt, als Handlungen Bestandteile der Welt sind bzw. Gegenstand von Einstellungen sein können. Als bester Kandidat für den relevanten mentalen Zustand, in dem Personen sich befinden, wenn sie sich auf die eigenen Handlungen beziehen, kommen Absichten in Frage. Zwar kann ich mich auf zukünftige Handlungen beziehen, ohne Subjekt von Absichten zu sein – etwa indem ich bestimmte Handlungen gutheiße oder befürchte – aber in solchen Fällen wird es mir nicht notwendig um meine eigenen Handlungen gehen. Umgekehrt kann ich mich auf Aspekte meiner Zukunft beziehen, ohne dass diese Aspekte im Gehalt meiner Absichten auftauchen – etwa indem ich Vermutungen darüber anstelle, was mir in der Zukunft passieren wird – aber das, worauf ich mich auf diese Weise beziehe, wird nicht notwendig einen Bezug auf die eigenen Handlungen darstellen. An dieser Stelle geht es mir nicht darum, eine substantielle handlungstheoretische Position im Hinblick auf die Frage nach dem genauen Zusammenhang von Absichten und Handlungen oder im Hinblick auf die Frage danach, was Absichten sind, zu beziehen, sondern lediglich darum, Absichten als den einschlägigen Typ von mentaler Einstellung zu identifizieren, in dem ich mich befinde, wenn ich mich auf die eigene Zukunft als Hand-



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lungssubjekt beziehe. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet dementsprechend, was es heißt, den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigenen Absichten einzunehmen. Wenn die Ergebnisse des zweiten Teils dieser Arbeit richtig sind, muss eine Antwort auf diese Frage fünf Dimensionen des Einnehmens der Perspektive der ersten Person berücksichtigen: 1. Bei meiner Einstellung den eigenen Absichten gegenüber muss die Transparenzbedingung in dem Sinn gewahrt sein, dass die Frage nach der Absicht, in der ich mich befinde auf eine Frage verweist, welche die Welt bzw. den Gehalt der Absicht betrifft. 2. Auf diese Weise wird der dynamische Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person gewahrt, indem die Person, die diese Perspektive einnimmt, sich auf einen deliberativen Standpunkt stellt und Absichten ausbildet, anstatt passiv zu registrieren, welche Absichten Bestandteil ihres mentalen Haushalts sind. 3. Dieser Prozess wird insofern einen rationalen Charakter haben, als der deliberative Standpunkt mit der Forderung einhergeht, Absichten auf dem Weg der Abwägung von Gründen auszubilden. 4. Dem globalen Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person gerecht zu werden, heißt hierbei, dass ich meine Absicht so ausbilde, dass sie innerhalb eines Gründe-Netzwerks mit Rücksicht auf die Kohärenz dieses Netzwerks integriert werden kann. 5. Das selbst-konstitutive Merkmal des Einnehmens der Perspektive der ersten Person im Hinblick auf Absichten besteht schließlich darin, dass ich durch die Festlegung auf eine bestimmte Absicht die Identifikation mit einem bestimmten Gründe-Netzwerk bestätige. Im Folgenden möchte ich diese fünf Merkmale erläutern, indem ich eine Beispielsituation betrachte, in der eine Person sich erstpersonal auf die eigene Zukunft bezieht, indem sie auf die skizzierte Weise mit einer ihrer Absichten umgeht. Nehmen wir an, es geht um Roger und um die Absicht, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren. Die Transparenzbedingung wird in dieser Situation insofern erfüllt, als Roger sich nicht die seinen mentalen Haushalt betreffende Frage stellt, ob unter den mentalen Zuständen, in denen er sich befindet, auch die Absicht zu finden ist, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren. Weil eine solche Frage vom Standpunkt der ersten Person transparent ist, verweist sie auf eine andere Frage, und zwar auf eine Frage, die den Gehalt der Absicht, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren, betrifft: Anstatt sich mit der Frage ‘Liegt in meinem mentalen Haushalt die Absicht vor, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren?’ zu befassen, befasst sich Roger, sobald er den Stand-

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punkt der ersten Person – verstanden als deliberativer Standpunkt – einnimmt, mit der Frage ‘Soll ich nach London fahren?’. An dieser Stelle taucht eine Komplikation auf, die ich im Rahmen des zweiten Teils dieser Arbeit, in dem es um den Spezialfall des erstpersonalen Verhältnisses zu den eigenen Meinungen gegangen ist, bewusst zurückgestellt habe. Diese Komplikation besteht darin, dass es sich bei Absichten im Gegensatz zu Meinungen um Einstellungen handelt, die eine konative Komponente haben; während es bei Meinungen leicht einzusehen ist, inwiefern es überhaupt möglich ist, das man im Hinblick auf sie die Transparenzbedingung dadurch erfüllt, dass man an die Welt denkt, ist dies im Zusammenhang mit Absichten nicht so klar. Was soll es heißen, dass man bei der Frage danach, ob man etwas Bestimmtes tun sollte, den eigenen Blick auf die Welt richtet? Die konative Komponente wird im Rahmen des handlungstheoretischen Ansatzes, den ich im nächsten Abschnitt thematisieren werde, dadurch gefasst, dass man annimmt, dass die Tatsache, dass eine Person eine Absicht hat, darin besteht, dass diese Person neben einer bestimmten Meinung auch eine ProEinstellung bzw. einen Wunsch haben muss, der das zum Gegenstand hat, was Gegenstand der entsprechenden Absicht ist. Mit Rücksicht auf das Problem, das mich an dieser Stelle beschäftigt, möchte ich diese Annahme übernehmen, obwohl ich – wie in der Folge zu sehen sein wird – davon ausgehe, dass sich mit dem Wunsch-Meinung-Modell ähnlich gravierende Probleme verbinden wie mit psychologischen Theorien personaler Identität. Was kann es also heißen, dass ich mich im Hinblick auf einen meiner Wünsche deliberativ verhalte, indem ich mir im Hinblick auf diesen Wunsch eine die Welt betreffende Frage stelle? Prima facie scheint die Frage, ob ich mir etwas wünsche oder nicht wünsche, eine Frage zu sein, die mich – die Person, die den Standpunkt der ersten Person einnimmt – betrifft, und nicht etwa Aspekte der Welt. Außerdem – und damit zusammenhängend – scheint im Zusammenhang mit Wünschen die Redeweise, dass man ihnen gegenüber den deliberativen Standpunkt einnimmt, einfach keinen Sinn zu haben: Wünsche hat man, oder man hat sie nicht. Wenn diese Auffassung von Wünschen zutreffen und sich möglicherweise sogar auf alle Einstellungen übertragen lassen sollte, die eine konative Komponente enthalten, dann wäre es schwierig, meine Interpretation davon, was es heißt, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, in einen Zusammenhang mit solchen Einstellungen zu bringen. Wir könnten dann zwar den eigenen Meinungen gegenüber den Standpunkt der ersten Person einnehmen, aber im Hinblick auf die eigenen Pro-Einstellungen wären wir zur drittpersonalen Passivität verdammt. Während es aber durchaus sein kann, dass einige der Pro-Einstellungen, in denen wir uns befinden können – Einstellungen wie Hunger oder Müdigkeit – in dem Sinne bloße Vorkommnisse unserer mentalen Haushalte darstellen, dass sie



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in keinerlei rationalen Verbindungen zu anderen unserer Einstellungen stehen und wir uns nicht dazu entscheiden können, diese Einstellungen zu haben oder nicht zu haben, so gilt dies doch nicht für alle Pro-Einstellungen.181 So kann es Wünsche geben, die in dem Sinne gerechtfertigt werden können, dass man auf Überzeugungen hinweist, die mit diesen Wünschen zusammenhängen. Diese Überzeugungen werden wiederum etwas mit der Welt zu tun haben. In diesem Sinne kann ich die Tatsache, dass ich mich in dem Zustand des Wunsches danach befinde, ein Eis zu essen, durch den Hinweis darauf rechtfertigen, dass das Eisessen – ein in der Zukunft liegender Sachverhalt in der Welt – etwas Erstrebenswertes darstellt.182 Einen Wunsch zu haben, bedeutet demzufolge, dass man sich in einer Einstellung befindet, deren Gegenstand ein erstrebenswerter Sachverhalt der Welt ist. Ob ich diesen Sachverhalt tatsächlich für erstrebenswert halten werde, hängt dabei davon ab, wie ich andere relevante Sachverhalte einschätze. Sollte ich im Verlaufe meines Deliberationsprozesses feststellen, dass Eisessen in der in Frage stehenden Situation etwa mit weniger erstrebenswerten Folgen verbunden ist, werde ich es für weniger erstrebenswert halten. Sollte ich feststellen, dass am Eisessen eigentlich gar nichts erstrebenswert ist, wird es entsprechend dazu kommen, dass ich mich gar nicht mehr in der Einstellung des Wunsches befinde, ein Eis zu essen.183 In diesem Sinn wird im Fall von Roger insofern die Transparenzbedingung gewahrt, als er sich in der Situation, in der er den Standpunkt der ersten Person einnimmt, nicht mit der Frage beschäftigen wird, ob er sich in dem Zustand der

181 In diesem Zusammenhang ist Nagels Unterscheidung zwischen Wünschen, die ‘motivated’ und solchen die ‘unmotivated’ sind, von zentraler Bedeutung gewesen; vgl. Nagel (1970), 29ff. Für einen weiteren prominenten Ansatz, dem zufolge manche Wünsche eine ‘urteilssensitive’ Komponente haben vgl. Scanlon (1998), 18ff. 182 Zu der folgenden Interpretation vgl. Moran (2001), 116ff. Der in diesem Kontext von Moran verwendete Terminus, auf den ich mich mit ‘erstrebenswert’ beziehe, ist ‘desirable’. Vgl. zu diesem Thema auch die Arbeiten in Raz (1999) und Quinn (1993). 183 Selbstverständlich sind Situationen vorstellbar, in denen eine Person zu dem Urteil gelangt, dass ein bestimmter Sachverhalt nicht erstrebenswert ist, d.h. zu dem Urteil, dass aus ihrer Perspektive nichts dafür spricht, dass dieser Sachverhalt eintritt, ohne dass sie gleichzeitig aufhört, die entsprechende Pro-Einstellung zu haben. In so einem Fall wird die Person dem Anspruch, der mit dem Einnehmen der Perspektive der ersten Person einhergeht, nicht gerecht; diese Perspektive einzunehmen, heißt allerdings wiederum nicht, dass man es in jedem Fall schafft, die psychologische Dimension in Einklang mit der normativen Dimension zu bringen, sondern dass der normative Charakter der Einsicht darin, dass der betreffende Sachverhalt nicht erstrebenswert ist, insofern vorhanden ist, als die Person den rationalen Druck verspürt, ihren psychologischen Haushalt gemäß der Einsicht in den Status des betreffenden Sachverhalts als eines nicht erstrebenswerten Sachverhalts anzupassen.

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Absicht befindet, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren, sondern mit der die Welt betreffenden Frage, ob daran, dass er an einem bestimmten Tag nach London fährt, etwas erstrebenswert ist. Um zu einer Antwort auf diese Frage zu gelangen, wird Roger in dem Sinn tätig werden müssen, dass er die für diese Frage einschlägigen Aspekte der Welt – Aspekte zu denen auch diejenigen Aspekte gehören, die das rationale Lebwesen betreffen, als das Roger sich versteht – in Betracht zieht. Sobald er das tut, befindet er sich in dem Prozess der Abwägung von Gründen. Gemäß der in dem zweiten Teil der Arbeit formulierten Interpretation davon, was es bedeutet, Gründe abzuwägen, wird es sich bei den Gründen, die Roger abwägt, wiederum nicht um mentale Einstellungen handeln, in denen er sich befindet, sondern um Aspekte der Welt, zu denen Roger einen bestimmten, für den Standpunkt der ersten Person charakteristischen Zugang haben wird. Diesen Zugang zu haben, ist zwar aus der Perspektive eines Beobachters gleichbedeutend damit, dass Roger sich in mentalen Zuständen befindet, aber aus der Perspektive von Roger geht es bei der Frage nach den Gründen, die dafür oder dagegen sprechen, dass es erstrebenswert ist, nach London zu fahren, nicht um die eigenen Einstellungen. Ein Grund kann in diesem Sinne für Roger etwa darin bestehen, dass an dem betreffenden Tag das Turnier in Wimbledon beginnt oder darin, dass es erstrebenswert ist, an dem Tag, an dem das Wimbledon-Turnier beginnt, in London zu sein. In einer Situation, in der Roger diese beiden Gründe als Gründe berücksichtigt, wird er sich keinesfalls auf die eigenen mentalen Zustände als Gründe beziehen, sondern auf Sachverhalte in der Welt. Der globale Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person wird sich gleichzeitig darin manifestieren, dass die bloße Einsicht darin, dass an einem bestimmten Tag das Turnier in Wimbledon beginnt, Roger alleine noch nicht bei der Frage helfen wird, ob etwas so erstrebenswert an einer Reise nach London ist, dass er sich darauf festlegt, es tatsächlich zu tun. In dieser Situation muss Roger eine ganze Reihe weiterer relevanter Gründe erwägen, um im Lichte dieser Gründe eine Festlegung treffen zu können, die aus seiner Perspektive ein sinnvolles Bild der eigenen im Rahmen dieser Situation in Frage stehenden Zukunft ergibt. Wenn es stimmt, dass das Bemühen um Verständlichkeit (bzw. um die Kohärenz der eigenen Einstellungen) charakteristisch für das Einnehmen der Perspektive der ersten Person ist, dann wird Roger sich auf die Ausführung derjenigen Handlung festlegen, die im Lichte der relevanten Gründe am meisten Sinn hat. Wenn es Roger darum geht, im Rahmen der deliberativen Prozesse, an denen er teilnimmt, sobald er den Standpunkt der ersten Person bezieht, eine verständliche Vorstellung von der eigenen Zukunft zu haben, dann wird er dies aber kaum dadurch erreichen, dass er sich lediglich klarmacht, dass an den betreffenden Tag das Tennisturnier in Wimbledon beginnt. Die Aussicht, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren, bloß weil an diesem Tag in Wimb-



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ledon das Tennisturnier beginnt, ist – sollte dies wirklich alles sein, was zu einer entsprechenden Festlegung geführt hat – eher verwirrend denn verständlich. Die Situation wird allerdings nicht dadurch besser, dass man sich klar macht, dass man Subjekt eines bestimmten mentalen Zustandes ist – etwa des Wunsches, zu Beginn des Tennisturniers in Wimbledon in London zu sein. Den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, bedeutet für Roger, dass er sich klarmacht, inwiefern es unter der Voraussetzung, dass an einem bestimmten Tag das Turnier in Wimbledon beginnt, erstrebenswert ist, dass er nach London fährt – dies muss er aber tun, indem er sich klarzumachen versucht, inwiefern es erstrebenswert ist, dass er an dem betreffenden Tag in London ist. Auf diese Weise wird Roger eine ganze Reihe von rationalen Verbindungen zwischen Sachverhalten der Welt – Sachverhalten, die im entscheidenden Ausmaß auch ihn selbst als Bestandteil dieser Welt betreffen – herstellen müssen, um letztlich zu einer Festlegung zu gelangen, die sich, insgesamt betrachtet, zu einer für ihn verständlichen Vorstellung der eigenen Zukunft zusammenfügen wird. In welchem Sinn lässt sich behaupten, dass eine Person, die sich auf diese Weise erstpersonal der eigenen Zukunft gegenüber verhält, an ihrer eigenen normativen Identität arbeitet? In dem Fall von Rogers Absicht, nach London zu fahren, kann es sein, dass eine Festlegung auf diese Absicht für Roger insofern ein geeigneter Beitrag dazu ist, die eigene Zukunft verständlich zu gestalten, als diese Absicht von übergeordneten Absichten, auf die Roger sich festgelegt hat, rational gefordert wird. So kann es sein, dass es für Roger naheliegt, an dem in Frage stehenden Tag nach London zu reisen, weil er die Absicht hat, das Turnier in Wimbledon zu gewinnen, und weil der in Frage stehende Tag der Tag ist, an dem Roger spätestens in London eintreffen sollte, um rechtzeitig an seinem ersten Match teilnehmen zu können. Diese Absicht kann wiederum im Kontext weiter gefasster Überlegungen stehen, etwa der Überlegung, dass er mit einem Sieg in Wimbledon zum besten Tennisspieler aller Zeiten werden könnte, und der Absicht, tatsächlich der beste Tennisspieler aller Zeiten zu werden. Die Annahmen und Überlegungen, durch welche die Absicht, nach London zu reisen, mit der Absicht, der beste Tennisspieler aller Zeiten zu werden, verbunden wird, werden unter Umständen kompliziert sein und in dem Kontext verschiedener anderer Einstellungen stehen, auch Einstellungen, die Rogers Vergangenheit betreffen – entscheidend ist in dieser Situation, dass Rogers Festlegung darauf, nach London zu fahren, in einem bestimmten Sinn seine Identifikation mit einem weiter gefassten Gründe-Netzwerk zum Ausdruck bringt und bekräftigt. Weiter oben habe ich die drittpersonale Redeweise von der Identifikation mit einem Netzwerk an Gründen nur unter der Bedingung zugelassen, dass gleichzeitig daran gedacht wird, dass im Fall eines erstpersonalen Bezugs die Transparenzbedingung erfüllt sein muss. In diesem Sinne sollte der Gedanke besser

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auf die folgende Weise verstanden werden: Indem sich Roger darauf festlegt, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren, bekräftigt er die Tatsache, dass er sich als eine bestimmte Person versteht. An dieser Stelle besteht die entscheidende Einsicht darin, dass Rogers Absichten nicht nur in weiter gefasste Absichten oder Pläne eingebettet sind, sondern darüber hinaus in die Vorstellung, die Roger von seinem Leben als Ganzem hat. In diesem Sinne bekräftigt Roger durch seine Absicht, nach London zu fahren, seine Identifikation als Tennisspieler, Weltklasse-Sportler oder Ähnliches. Es ist vor dem Hintergrund eines solchen globalen Selbstverständnisses, dass Roger bestimmte Optionen des eigenen zukünftigen Handelns verständlicher finden wird als andere, und in diesem Sinn wird es sich bei einer Zukunft, die Roger verständlich findet, um eine Zukunft handeln, die Roger als eine im emphatischen Sinn eigene Zukunft wird betrachten können. Dieses Selbstverständnis als eine bestimmte Person impliziert allerdings wiederum, dass Roger sich bei der metaphysischen Frage danach, welche Art von Entität er grundlegend ist, nicht lediglich im Sinne des biologischen oder des psychologischen Reduktionismus verstehen kann. Ähnlich wie im Zusammenhang meiner Ausführungen zum Thema des erstpersonalen Vergangenheitsbezugs, scheint für den Zukunftsbezug zu gelten, dass eine Person, die in dem Sinne an der eigenen normativen Identität arbeitet, dass sie sich als eine bestimmte Person zu verstehen versucht, sich in metaphysischer Hinsicht irreduzibel als ein rationales Lebewesen begreifen muss. Mit meinen Bemerkungen zur Konstitution der eigenen normativen Identität soll selbstverständlich nicht behauptet werden, dass jede einzelne von Rogers Entscheidungen, etwas in der Zukunft zu tun, in einem so eindeutigen Zusammenhang zu seinem Selbstverständnis als Tennisspieler stehen wird, wie es in der von mir konstruierten Situation der Fall ist. Eine ganze Reihe von Entscheidungssituationen wird keinen direkten Bezug zu der Frage haben, als was für eine Person Roger sich versteht – etwa die Entscheidung, welches T-Shirt er auf der Reise nach London tragen wird. Wichtig ist in diesem Zusammenhang lediglich, dass Roger, sobald er den Standpunkt der ersten Person bezieht, unter dem rationalen Druck steht, keine Festlegungen zu treffen, die in dem Sinn im Widerspruch zu seiner übergeordneten Identifikation stehen, dass Roger sie im Licht dieser Identifikation unverständlich finden würde. Ein blaues T-Shirt einem roten vorzuziehen, wird Roger im Hinblick auf sein Selbstverständnis kaum verständlicher erscheinen, allerdings wird es eben auch keine unverständliche Handlung darstellen, und darauf kommt es vom Standpunkt der ersten Person an.184

184 Weiter oben habe ich angedeutet, dass Verständlichkeit eine Relation ist, die graduelle Abstufungen erlaubt. In diesem Sinn kann behauptet werden, dass Rogers Entscheidung, auf



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Weiterhin ist zu bedenken, dass das Selbstverständnis von Personen sich meist nicht in einem einzelnen Aspekt erschöpfen wird. So kann es sein, dass Roger sich als Weltklasse-Tennisspieler, Familienvater und Vegetarier versteht. Jede der hier beteiligten Identifikationen wird für Roger eine ganze Reihe an Gründen nach sich ziehen, und sie werden nicht zwangsläufig im Widerspruch zueinander stehen. Den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, bedeutet aber auch im Hinblick auf diese globalen Selbstverständnisse, darum bemüht zu sein, dass sie miteinander kompatibel bleiben. Eine Person, die sich zur gleichen Zeit als professioneller Sportler und als Lebemann versteht, wird vom Standpunkt der ersten Person aus Schwierigkeiten haben, ein verständliches Leben zu führen, und in diesem Sinn wird es ihr auch an normativer Identität mangeln. Wenn Personen den Standpunkt der ersten Person auf die eigene Zukunft einnehmen, dann heißt das also, dass sie um die Verständlichkeit der Geschichte des Lebens bemüht sind, das sie führen. Insofern müssen sie sich als rational verstehen. Inwiefern muss es sich bei ihnen um rationale Lebewesen handeln? An dieser Stelle lässt sich eine Antwort geben, die analog zu der Minimalbedingung ist, die ich im Zusammenhang mit dem Bezug auf die eigene Vergangenheit formuliert habe: Um überhaupt erst in einen Prozess eintreten zu können, der darin besteht, dass man durch seine zukunftsbezogenen Festlegungen an der Verständlichkeit einer Lebensgeschichte arbeitet, muss man wissen, um wessen potentielle Geschichte es sich dabei handelt. Um mich zwischen zwei Optionen für den morgigen Tag entscheiden zu können, muss mir beispielsweise klar sein, was es bedeutet, dass ich morgen dies oder jenes tun kann. In diesem Zusammenhang kommt nicht alles in Frage. Eine mir im maximalen Sinn unverständliche Vorstellung von der eigenen Zukunft, würde etwa dann vorliegen, wenn ich die Absicht fasse, morgen auf dem Mond zu frühstücken oder, gegeben dass ich mich in Europa aufhalte, in fünf Minuten in New York ein Eis zu essen. Würde es für mich eine offene Frage darstellen, ob ich im metaphysischen Sinn ein Lebewesen bin, für das bestimmte Kontinuitäts- und Erhaltensbedingungen einschlägig sind, könnte ich im Rahmen der deliberativen Prozesse, die mit dem Einnehmen des Standpunkts der ersten Person einhergehen, solche Möglichkeiten nicht ausschließen, und ich wäre auf diese Weise nicht einmal in der Lage, die Frage zu stellen, welche der mir in der

der Reise nach London ein blaues T-Shirt zu tragen, für Roger minimal verständlich ist. Entsprechend wird es sich bei diesem Aspekt seines Lebens um einen Aspekt handeln, bei dem die Redeweise von ‘genuiner Zugehörigkeit’ nur in einem sehr abgeschwächten Sinn zu verstehen ist. Anders würde die Situation für eine Person aussehen, die sich etwa als eine Person versteht, der Mode wichtig ist.

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Zukunft offen stehenden Handlungsalternativen mehr oder weniger verständlich für mich ist. Eine andere Form extremer Unverständlichkeit könnte darin bestehen, dass ich die Absicht fasse, zur selben Zeit zwei unterschiedliche und miteinander inkompatible Handlungen auszuführen, etwa indem ich mich darauf festlege, morgen sowohl in London Tennis zu spielen, als auch in New York ein Eis zu essen. Wenn ich diese Form der extremen Unverständlichkeit nicht ausschließen kann, ist aber wiederum nicht klar, in welchem Sinne noch von mir behauptet werden kann, dass ich in der Lage bin, mich deliberativ auf die eigene Zukunft zu beziehen.185 Damit zusammenhängend gilt, dass ich nur unter der Voraussetzung, dass ich ein endliches Lebewesen bin, den rationalen Druck verspüren werde, die geeigneten Schritte zur Verwirklichung von weiter gefassten Absichten zu unternehmen.186 So ist Roger nur dadurch überhaupt in der Lage, zu verstehen, dass es im Rahmen seiner Absicht, Wimbledon zu gewinnen, notwendig ist, an einem bestimmten Tag nach London zu reisen, dass er sich als ein Lebewesen versteht, das sich auf spezifische Weisen durch Raum und Zeit bewegen kann. Schließlich lässt sich von der Frage danach, als was für eine Person ich mich identifiziere, behaupten, dass sie sich nur unter der Voraussetzung stellen lässt, dass ich mich mit Blick auf die Frage nach metaphysischer Identität als ein Lebewesen verstehe, dem im Verlaufe seiner Existenz nur beschränkte Ressourcen zur Gestaltung dieses Lebens zur Verfügung stehen. Das liegt daran, dass eine Identifikation mit einer bestimmten Geschichte des eigenen Lebens notwendig einen ausschließenden Charakter hat. Von einer Person, die sich mit allen möglichen Vorstellungen des eigenen Lebens oder zumindest mit mehreren inkompatiblen solcher Vorstellungen identifizieren würde, würden wir gar nicht erst sagen, dass sie sich identifiziert. Die Notwendigkeit von dergestalt ausschließender Identifikation vom Standpunkt der ersten Person ist aber nur unter der Voraussetzung der eigenen Endlichkeit zu verstehen.187 Die mit Identifikation einhergehende Redeweise davon, dass eine Person, die sich identifiziert, an der eigenen norma-

185 Das ist eine Variante des Punkts, den Korsgaard in ihrer Parfit-Kritik geltend macht, indem sie darauf hinweist, dass die ‘Einheit des Bewusstseins’ eine notwendige Bedingung dafür ist, dass wir uns als Akteure verstehen; vgl. Korsgaard (1989), 112: „[T]he need for identification with some unifying principle or way of choosing is imposed on us by the necessity of making deliberative choices.“ Auch wenn Korsgaards Ansatz in dieser Hinsicht kompatibel damit ist, was ich als die Arbeit an der normativen Identität bezeichne, würde ich ihr nicht in der an Kant orientierten anspruchsvollen Weiterentwicklung dieser Idee folgen; vgl. auch Korsgaard (1999). 186 Vgl. etwa die Weise, in der Bratman die Einführung seiner ‘demands on plans’ motiviert in Bratman (1987), 30ff. 187 Vgl. dazu Williams’ Ausführungen zur Sinnlosigkeit von Unsterblichkeit in Williams (1973).



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tiven Identität arbeitet, ist dementsprechend nur dann sinnvoll, wenn die Identifikation mit einem bestimmten Lebensentwurf gleichbedeutend damit ist, dass man sich mit anderen Lebensentwürfen nicht identifiziert. Im normativen Sinne jemand zu sein bzw. eine Identität zu haben, ist gleichbedeutend damit, dass man eine bestimmte Person ist bzw. eine bestimmte Identität hat, die sich von anderen möglichen Identitäten bzw. Selbstverständnissen unterscheidet. Ganz anders sieht die Situation von der Warte psychologischer Theorien aus. Das Verhältnis, in dem Personen zur eigenen Zukunft stehen, wird im Rahmen solcher Theorien lediglich im Sinne einer kausalen Verbindung zwischen einer isolierten Absicht und ihrer Ausführung verstanden. Dass die Prozesse der Festlegung auf eine bestimmte zukünftige Handlung, die vom Standpunkt der ersten Person stattfinden, auf die beschriebene Weise komplex sind und im Kontext weiter gefasster Überlegungen stehen, ist im Rahmen eines solchen Ansatzes nicht zu erfassen. Weil Absichten – genauso wie Erinnerungen – im Rahmen solcher Ansätze Bestandteil des psychologischen Kriteriums sind, sind Vertreter psychologischer Theorien auf die These festgelegt, dass sich das Haben einer Absicht ‘unpersönlich’ beschreiben lässt. Das bedeutet, dass Vertreter psychologischer Theorien von einer Person, die etwas beabsichtigt, behaupten müssen, dass sie nicht notwendig die Absicht hat, etwas selbst zu tun. Wenn es sich aber aus der Perspektive einer Person, die dabei ist, sich auf eine zukünftige Handlung festzulegen, um eine offene Frage handelt, wer diese Handlung ausführen wird, ist nicht zu verstehen, auf welcher Grundlage diese Person überhaupt zu einer rationalen Festlegung gelangen soll. Besonders deutlich wird dies wiederum bei der Betrachtung von Szenarien, die nicht nur kompatibel mit dem psychologischen Kriterium sind, sondern zum Teil vorgebracht werden, um für seine Plausibilität zu argumentieren. Ein solches Szenario könnte darin bestehen, dass man Rogers Absicht, an einem bestimmten Tag nach London zu fahren, in den mentalen Haushalt von Marie ‘verpflanzt’, die dann zu dem betreffenden Zeitpunkt ihre Quasi-Absicht, nach London zu fahren ausführen wird, indem sie nach London fährt. Vertreter psychologischer Theorien sind auf die Behauptung festgelegt, dass in so einem Fall alle entscheidenden Aspekte des Bezugs auf die eigene Zukunft vorliegen, weil es beim Zukunftsbezug ihrer Ansicht nach – wiederum analog zu dem Fall, in dem Personen sich erinnernd auf die Vergangenheit beziehen – lediglich auf die Angemessenheit der kausalen Verbindung zwischen einer Absicht und ihrer Ausführung ankommt. In dem Fall aber, in dem Marie tatsächlich die Quasi-Absicht ausgeführt haben wird, indem sie nach London fährt, wird die Tatsache, dass sie nach London gefahren ist, für Marie einen unverständlichen Aspekt der eigenen Vergangenheit darstellen. Umgekehrt kann nicht verständlich gemacht werden, auf welche Weise Roger zu der Entscheidung gelangt, eine entsprechende Absicht auszubilden, wenn es

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 Die eigene Zukunft

aus seiner Perspektive nicht zwangsläufig er selbst – dasselbe rationale Lebewesen – sein wird, welches die auszubildende Absicht wird ausführen müssen. Selbst eine einfache, die eigene Zukunft betreffende Überlegung wie etwa die Überlegung, dass er an einem bestimmten Tag nach London reisen muss, weil er sich darauf festgelegt hat, am Turnier in Wimbledon teilzunehmen, wird aus der Perspektive von Roger keinen Sinn machen, wenn er nicht bereits voraussetzen kann, dass es sich bei der Entität, die an einem bestimmten Tag in London zu sein hat, und bei der Entität, welche die Option erwägt, sich darauf festzulegen, an diesem Tag nach London zu reisen, um ein und dieselbe Entität handelt. Dass psychologische Theorien in einem noch tieferen Sinn unvereinbar mit einer Interpretation erstpersonalen Zukunftsbezugs sind, wie ich sie im Rahmen dieses Abschnitts vorgeschlagen habe, ist deutlich zu erkennen, wenn man andere Sorten von fiktionalen Szenarien betrachtet, die im Rahmen von psychologischen Ansätzen eine wichtige Rolle spielen. An dieser Stelle denke ich an Teilungsszenarien, wie ich sie im ersten Teil der Arbeit skizziert habe – Szenarien also, in denen der mentale Haushalt einer Person auf zwei lebende Organismen übertragen wird, so dass zwischen der ursprünglich vorliegenden Person und den beiden nach dem imaginierten Eingriff vorliegenden Personen psychologische Kontinuität vorliegt. In einer Situation, in der ich erfahre, dass es nächste Woche auf diese Weise zwei ‘Exemplare’ von mir geben wird, werde ich massive Probleme haben, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen und mich auf zukünftige Handlungen so festzulegen, dass diese Handlungen meine Identifikation mit der Person, als die ich mich verstehe, bekräftigen. Die Frage, mit welcher Vorstellung vom eigenen Leben ich mich identifiziere, hat aus der Perspektive einer Person, die kurz vor einer Reduplikation steht, einen verwirrenden Charakter. Sollte ich mich entscheiden, in beiden Fällen ein Leben als Tennisspieler zu führen? Oder wäre es nicht besser, diejenigen Lebensentwürfe, die potentiell miteinander im Konflikt stehen könnten, sinnvoll auf die in der Zukunft vorliegenden Personen aufzuteilen, so dass ‘ich’ ohne interne Konflikte sowohl ein Leben als Tennisspieler als auch eines als Lebemann führen kann? Solche Fragen lassen sich im Rahmen einzelner Gedankenexperimente vielleicht noch einigermaßen verständlich formulieren; das eigentliche Problem ist aber darin begründet, dass es in einer Welt, in der wir nicht davon ausgehen, dass wir lediglich das eine endliche Leben des rationalen Lebewesens, das wir jeweils sind, zu führen haben, sondern stattdessen möglicherweise mehrere ‘Lebensstränge’ vor uns haben, gar nicht erst den Anlass sehen würden, uns mit partikularen Lebensinhalten zu identifizieren und andere zu vernachlässigen.188 In einer

188 Parfit sieht in solchen Szenarien kein grundsätzliches Problem gegeben; vgl. Parfit (1984),



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Welt wie Parfit sie von der Warte eines revisionären Metaphysikers einfordert,189 würden wir den Gedanken daran, dass es sich bei der Person, die wir sind, wenn wir eine Absicht fassen, und der Person, die diese Absicht ausführen wird, um ein und dieselbe Person handelt, als irrational aufgegeben haben. Ohne diese Voraussetzung ist allerdings nicht klar, ob wir uns überhaupt auf eine Zukunft beziehen könnten, denn immerhin wüssten wir in keinem einzigen Fall, in dem wir vor einer entsprechenden Entscheidung stehen, um wessen Zukunft es sich überhaupt handelt.

9.2 Psychologische Theorien und Naturalismus Bevor ich dazu übergehe, die Ergebnisse der bisherigen Betrachtungen im Rahmen der Frage nach dem Zusammenhang von normativer Identität und Nicht-Reduktionismus zusammenzufügen, möchte ich mich für den Rest des vorliegenden Kapitels der Frage widmen, worin die tiefergehende Motivation dafür bestehen könnte, eine psychologisch-reduktionistische Theorie personaler Identität zu vertreten. Wie zu sehen war, sind solche Theorien mit Annahmen verbunden, die alles andere als unproblematisch sind, und gleichzeitig haben solche Theorien Konsequenzen, die sich nur schwer mit unserem intuitiven Verständnis von Personen und ihrem Leben vereinbaren lassen. Was kann – abgesehen von den Argumenten, die man für diese Position ins Feld führen mag – attraktiv an einer philosophischen Theorie sein, nach der es sich bei Personen um ‘unpersönliche’ Bündel von mentalen Einstellungen handelt, die lediglich durch Kausalrelationen zusammengehalten werden? Ich denke, dass sich ein plausibler Antwortvorschlag auf diese Frage formulieren lässt, indem man die Debatte um personale Identität vor dem Hintergrund der Entwicklung im handlungstheoretischen Debattenkontext betrachtet. Es geht mir hierbei nicht darum, eine substantielle handlungstheoretische Position zu verteidigen, sondern darum, auf eine Tendenz in der Handlungstheorie hinzuweisen, von der ich glaube, dass sie aufschlussreich für das Verständnis der hinter psychologischen Theorien personaler Identität stehenden Motivation ist.

264: „Instead of regarding my division as being somewhat worse than ordinary survival, I might regard it as being better. The simplest reason would be the one just given: the doubling of the years to be lived. I might have more particular reasons. Thus there might be two life-long careers both of which I strongly want to pursue. I might strongly want to be both a novelist and to be a philosopher. If I divide, each of the resulting people could pursue one of these careers. And each would be glad if the other succeeds.“ 189 Vgl. etwa Parfit (1984), 279ff., sowie ch. 14‒15.

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 Die eigene Zukunft

Der handlungstheoretische Ansatz, der am ehesten mit der Auffassung vereinbar ist, die psychologische Theorien personaler Identität von der Art und Weise vertreten, wie Personen sich mit ihren Absichten auf die Zukunft beziehen, ist eine bestimmte Version des in der handlungstheoretischen Debatte über lange Zeit vorherrschenden Wunsch-Meinung-Modells. Mit ‘einer bestimmten Version’ dieses Modells meine ich diejenige Version, deren Ausgangsfrage das Problem von Handlungserklärung darstellt. Inwiefern stellt aber die Erklärung von Handlungen überhaupt ein Problem dar? Das Bild von der Welt, in der wir leben, ist insofern ein verständliches Bild, als wir alles, was in der Welt passiert, verstehen oder zumindest davon ausgehen, dass wir es verstehen könnten, wenn wir uns die entsprechende Mühe machen würden. Einen Aspekt der Welt zu verstehen, heißt hierbei, dass man in der Lage ist, für diesen Aspekt eine Erklärung zu geben. In diesem Sinne gibt es in der Welt nichts, was für uns in einem tieferen Sinn unverständlich wäre: Wir denken, dass eine Brücke eingestürzt ist, weil an einem ihrer Pfeiler eine Sprengladung explodiert ist; wir können uns klar machen, wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird; oder wir glauben, dass sich das Erdklima erwärmt, weil der Treibhauseffekt stattfindet. Der Sinn von ‘Erklärung’, der an dieser Stelle ins Spiel kommt, ist der einer Kausalerklärung. Kausale Relationen bestehen typischerweise zwischen Ereignissen, und eine Erklärung für etwas zu geben, ist in diesem Sinn immer gleichbedeutend damit, dass man ein Ereignis erklärt, indem man es als die Wirkung einer bestimmten Ursache betrachtet, die wiederum als das Ereignis verstanden wird, das kausal hinreichend dafür war, dass das zu erklärende Ereignis eintritt. Die Auffassung, dass alles, was passiert, von etwas anderem, das passiert ist, verursacht sein muss, wird oft als Naturalismus bezeichnet.190 Im Rahmen dieses Abschnitts geht es mir nicht darum, auf die kontroversen Aspekte dessen einzugehen, was man im einzelnen zum Begriff des Ereignisses oder dem Begriff der Kausalität von philosophischer Warte sagen könnte; auch möchte ich mit dem Schlagwort des Naturalismus keine bestimmte philosophische Position ettiketieren und die Argumente erwägen, die man für oder gegen diese Position ins Feld führen könnte. In der rudimentären Form, die ich an dieser Stelle im Sinn habe, stellt eine naturalistische Auffassung von der Welt nicht nur eine basale Hintergrundannahme im Rahmen von Wissenschaften dar, sondern sie bildet auch das Fundament der alltäglichen Weise, wie sich aufgeklärte Personen inter-

190 In meiner Charakterisierung des Naturalismus beziehe ich mich hauptsächlich auf Velleman (1992), 129ff.; zum Problem der Interpretation von Handlungen in einer kausalen Weltordnung vgl. auch Alvarez/Hyman (1998) oder Hornsby (1994) und Hornsby (2004).



Psychologische Theorien und Naturalismus 

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pretativ mit der Welt auseinandersetzen. Zwar mögen wir manchmal denken, dass es ‘zwischen Himmel und Erde’ mehr gibt, als wir uns im Rahmen unserer ‘Schulweisheit’ erklären können, aber solchen Gedanken geben wir uns auf eine eher spielerische Weise hin und nehmen Personen, die vollen Ernstes an Wunder oder Geistererscheinungen glauben, nicht ernst. Die Kernauffassung des Naturalismus – die Idee, dass sich alles, was passiert, kausal erklären lässt – ist eine Auffassung, die wir nicht leicht aufgeben wollten – weder im Alltag noch als Philosophen. Erste Schwierigkeiten tauchen auf, sobald man sich der Tatsache zuwendet, dass zu den Ereignissen, die der naturalistischen Auffassung zufolge kausal erklärbar sein müssen, auch Ereignisse gehören, an denen Personen beteiligt sind. Nicht jedes Ereignis, an dem eine Person beteiligt sein kann, stellt einen hierbei vor besondere Probleme. Wenn Roger zu Boden fällt, weil ihn ein Steinbrocken trifft, der sich von der Felswand gelöst hat, wird die Erklärung dieses Ereignisses kaum mehr Probleme bereiten, als die Erklärung eines ähnlichen Ereignisses, an dem keine Person sondern etwa ein Baum beteiligt war. Im Gegensatz zu Bäumen wird von Personen allerdings behauptet werden können, dass sie zu mehr in der Lage sind, als auf diese Weise Subjekte ‘externer’ Kräfte zu sein: Personen sind nicht nur Bestandteile der Welt, sondern sie können sich auch auf diese Welt beziehen; ihr Leben hat einen ‘inneren’ Aspekt, der es möglich macht, dass sie nicht nur passive Subjekte von Kräften sind, die ihnen äußerlich sind, sondern dass sie selbst etwas tun. Ähnlich wie im Fall des Problems der Identität von Personen ist es der Hinweis darauf, dass wir im Hinblick auf die Ereignisse, an denen wir beteiligt sind, die Perspektive der ersten Person einzunehmen in der Lage sind, mit dem das spezifisch philosophische Problem beginnt, das sich mit Handlungen verbindet. Eine Weise, die Intuition zu fassen, dass es sich beim Handeln um ein Phänomen handelt, das einen ‘inneren Aspekt’ hat, besteht in dem Hinweis darauf, dass eine Handlung – im Gegensatz zu anderen Ereignissen in der Welt – ein Ereignis darstellt, dass sich als absichtlich beschreiben lässt; eine andere Weise, diesen Aspekt zu fassen, macht darauf aufmerksam, dass eine Person, die gehandelt hat, vor dieser Handlung etwas gesehen haben muss, was für diese Handlung gesprochen hat – sie muss einen Grund für diese Handlung gehabt haben, der dafür verantwortlich war, dass sie so und nicht anders gehandelt hat. Wenn es sich bei der Bezugnahme auf ‘verantwortlich sein’ um ein kausales verantwortlich sein handelt, dann muss eine Erklärung der Ereignisse, die Handlungen

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 Die eigene Zukunft

sind, sich auf die Gründe beziehen, die eine Person dazu bewogen haben, so und nicht anders zu handeln.191 Möchte man sowohl der Intuition gerecht werden, dass Handeln einen erstpersonalen Aspekt hat, als auch an der naturalistischen Kernüberzeugung festhalten, dass alles in der Welt dadurch erklärbar ist, dass man auf Kausalverhältnisse zwischen Ereignissen hinweist, dann ergibt sich an dieser Stelle das Problem, dass nicht klar ist, inwiefern es sich bei Handlungsgründen um kausale Ursachen von Handlungen handeln könnte. Die Schritte zur Lösung dieses Problems sind bekannt. Sie bestehen darin, dass man Gründe mit bestimmten mentalen Zuständen der handelnden Person identifiziert und dafür argumentiert, dass diese mentalen Zustände sich als kausale Ursachen von Handlungen verstehen lassen. In seiner basalen Form geht das Wunsch-Meinung-Modell davon aus, dass sich eine Handlung dadurch erklären lässt, dass man darauf hinweist, dass sich die handelnde Person sowohl in einem konativen Zustand192 befunden hat, der einen bestimmten zukünftigen Sachverhalt zum Gegenstand hat, als auch in einem kognitiven Zustand darüber, welches Verhalten dazu führt, das dieser Sachverhalt eintritt.193 Diesem Bild zufolge sind die mentalen Zustände, in denen Personen sich befinden, kausal dafür verantwortlich, dass es zu einer Handlung der betreffenden Person kommt. Eine Absicht zu haben, besteht einem solchen Ansatz zufolge in nichts anderem, als dass man einen Wunsch und eine Meinung hat.

191 In der Terminologie von Davidson handelt es sich bei einer solchen Erklärung, die auf Gründe hinweist, um eine ‘rationalization’; vgl. Davidson (1963), 3. 192 Davidson spricht an dieser Stelle von ‘pro-attitudes’, die eine ganze Reihe unterschiedlicher Einstellungen umfassen, etwa „desires, wantings, urges, promtings, and a great variety of moral views, aesthetic principles, economic prejudices, social conventions, and public and private goals and values“ (Davidson (1963), 4). Mit dieser Einschränkung im Hinterkopf werde ich im Folgenden der Terminologie folgen, die sich inzwischen eingebürgert hat, und im Zusammenhang mit solchen ‘pro-attitudes’ einfach von Wünschen sprechen. 193 Auf diese Weise formuliert man das, was Davidson einen ‘primary reason’ nennt, wobei Davidsons Formulierung insofern subtiler ist, als er zum einen davon ausgeht, dass sich Handlungen nur unter bestimmten Beschreibungen erklären lassen und zum anderen von Pro-Einstellungen des Handelnden gegenüber Handlungen mit bestimmten Eigenschaften spricht, sowie von Überzeugungen darüber, dass die zu erklärende Handlung genau diese Eigenschaften aufweist; vgl. Davidson (1963), 5. Für eine weitere Alternative, wie die Meinungskomponente im Rahmen eines Wunsch-Meinung-Modells gefasst werden kann, vgl. etwa Davis (1984), 54: „S intends that p iff S believes that p because he desires that p and believes his desire will motivate him to act in such a way that p.“ Die Meinung betrifft hier nicht dasjenige, was zur Erfüllung des Wunsches beiträgt. Sie ist stattdessen eine Meinung darüber, dass der entsprechende Wunsch erfüllt wird.



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An dieser Stelle kann es mir weder darum gehen, die verschiedenen Probleme zu diskutieren, die sich mit dem Wunsch-Meinung-Modell als Ansatz zur kausalen Erklärung von Handlungen verbinden, noch auf die Modifikationen dieses Modells hinzuweisen, zu denen die Thematisierung dieser Probleme geführt hat.194 Stattdessen möchte ich lediglich darauf aufmerksam machen, dass eine einfache naturalistische Grundüberzeugung wie die Überzeugung, dass jedes Ereignis dadurch erklärbar sein muss, dass es von einem anderen Ereignis verursacht wurde, im Kontext von Fragestellungen, die mit der Perspektive der ersten Person zu tun haben – Fragen also wie die nach der Identität von Personen oder nach der Erklärung von Handlungen – zu einer zweifachen Fokussierung führen kann: Zum einen verleitet sie dazu, dass der Fokus der Betrachtung einseitig auf kausale Phänomene gerichtet wird; und zum anderen führt sie dazu, dass das Hauptaugenmerk auf mentale Zustände gerichtet wird. Im Kontext der Debatte um personale Identität ist diese zweifache Tendenz bei psychologischen Theorien besonders deutlich: Das psychologische Kriterium, wie ich es im ersten Teil der Arbeit rekonstruiert habe, nimmt lediglich auf einzelne mentale Zustände Bezug, die über kausale Relationen miteinander verbunden sind. Im Fall der temporalen Ausrichtung auf die Zukunft schlägt sich dies insofern nieder, als die Identität einer Person im Kern davon abhängig gemacht wird, dass ein bestimmter mentaler Zustand auf angemessene Weise mit einer Handlung kausal verbunden ist. Bei dem Wunsch-Meinung-Modell und bei psychologischen Theorien personaler Identität handelt es sich zwar in dem trivialen Sinne um unterschiedliche (und keinesfalls einheitliche) Theorien, als sie jeweils unterschiedliche Fragestellungen verfolgen; ihre Gemeinsamkeit besteht allerdings darin, dass sie beide ein im Grunde erstpersonales Phänomen zu erfassen versuchen und dabei auf gleichermaßen eingeschränkte Ressourcen zurückgreifen. Bei den Fragen, worin die Tatsache besteht, dass Roger und eine in der Zukunft vorliegende Person ein und dieselbe Person sind bzw. was eine von

194 Ein erheblicher Teil der handlungstheoretischen Diskussion ist von den Fragen beherrscht worden, inwiefern Handlungen als Wirkungen von etwas betrachtet werden können und inwiefern mentale Zustände wie Absichten Ursachen von Handlungen sein können. So ist beispielsweise nicht klar, ob mentale Zustände überhaupt als Ereignisse anzusehen sind. Als besonders langwierig hat sich zudem das Problem erwiesen, das aus der Einsicht entsteht, dass Kausalerklärungen üblicherweise gesetzesmäßig sind. Die einzigen Gesetze, die hier in Frage kommen sind allerdings (physische) Naturgesetze, von denen mentale Verursachung nicht abgedeckt wird. Wie kann es sein – so die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt – dass Absichten Ursachen von Handlungen sind, wenn unser Weltbild nur physische Verursachung zulässt? Diese Frage hat beispielsweise bei Davidson zur Position des ‘anomalen Monismus’ geführt (vgl. Davidson (1970), sowie etwa die Kritik in Kim (1985) oder McDowell (1985)).

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 Die eigene Zukunft

Rogers Handlungen erklärt, würden beide Theorien jeweils Antworten formulieren, die auf dieselben Sachverhalte Bezug nehmen: Psychologischen Ansätzen zufolge ist Roger genau dann identisch mit einer in der Zukunft vorliegenden Person, wenn er sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, der kausal dafür verantwortlich ist, dass die in der Zukunft vorliegende Person etwas tut.195 Dem Wunsch-Meinung-Modell zufolge muss Rogers Handlung dadurch erklärt werden, dass Roger sich in einem bestimmten mentalen Zustand befunden hat, der kausal dafür verantwortlich war, dass er so und nicht anders gehandelt hat. Wenn ich mit der Behauptung Recht habe, dass ein Teil der Motivation für Positionen wie das Wunsch-Meinung-Modell in einer naturalistischen Grundüberzeugung besteht, dann lässt sich auch für reduktionistische Theorien personaler Identität behaupten, dass sie – wiederum abgesehen von den Argumenten, die direkt für sie sprechen mögen – in den Augen ihrer Vertreter insofern attraktive Positionen darstellen, als sie kompatibel mit einer naturalistischen Auffassung der Welt bleiben.196 Wie ich im zweiten Teil dieser Arbeit zu argumentieren versucht habe, ist allerdings der Hinweis auf das Vorliegen von mentalen Zuständen und den kausalen Verhältnissen, in denen sie zueinander stehen, nicht hinreichend dafür, um von einer angemessenen Interpretation der Tatsache zu sprechen, dass der Standpunkt der ersten Person eingenommen wird, weil auf diese Weise gleich mehrere Dimensionen dessen, was es bedeutet, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, unberücksichtigt bleiben. Es ist bezeichnend, dass die Dimensionen, auf die ich in diesem Zusammenhang hingewiesen habe, sich in Ansätzen wiederfinden lassen, die zum Teil in Abgrenzung zum Wunsch-Meinung-Modell vertreten worden sind.197

195 An dieser Stelle handelt es sich selbstverständlich insofern um eine verkürzende Formulierung, als Roger sich in mehreren solcher Zustände befinden müsste, diese Zustände einander überlappen könnten, etc. Die Details der Formulierung eines psychologischen Kriteriums, wie ich sie im ersten Teil diskutiert habe, können an dieser Stelle vernachlässigt werden, weil es psychologischen Theorien im Kern auf das Vorliegen von kausal verbundenen mentalen Zuständen ankommt. 196 Diese Diagnose würde etwa Parfits ansonsten nicht gut nachvollziehbares Festhalten an dem Terminus ‘mental event’ erklären (vgl. Parfit (1984), 211), aber auch die Nähe, die psychologische Theorien zu vierdimensionalistischen Ereignisontologien aufweisen. An dieser Stelle stehe ich in Übereinstimmung mit der Diagnose von Wiggins; vgl. Wiggins (2001), 181 (m. Herv.): „[T]he contention is that questions about continuants are transposable into problems about scientifically palpable items that are to be discovered at (more or less) the same adresses in space and time.“ 197 Das soll nicht bedeuten, dass ich mit allen der in der Folge erwähnten Positionen übereinstimme. Zum einen möchte ich im Rahmen dieser Arbeit im Hinblick auf die Frage nach Handlungserklärung oder das Problem der personalen Autonomie keine Position vertreten. Zum



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So lässt sich etwa die Autonomiedebatte, die im Anschluss an Frankfurts erste Formulierung des hierarchischen Modells geführt worden ist, als ein Ver­such verstehen, den dynamischen Aspekt des Einnehmens der Perspektive der ersten Person zu berücksichtigen. Im Rahmen dieser Debatte wird auf Fälle hingewiesen, in denen eine Person einen bestimmten Wunsch und eine bestimmte Meinung hat, die zwar kausal dafür verantwortlich sind, dass sie sich auf eine bestimmte Weise verhält, allerdings ohne dass sich dieses Verhalten in dem Sinne als eine Handlung ‘im vollen Sinne des Wortes’198 beschreiben ließe, dass die betreffende Person an dem vorliegenden Prozess in einem relevanten Sinn beteiligt gewesen ist.199 Frankfurts ursprüngliche Reaktion auf dieses Problem bestand darin, die relevante Beteiligung des Handelnden im Sinne des Vorliegens von handlungswirksamen Wünschen zweiter Stufe zu interpretieren. Wie frühe Reaktionen auf diese Strategie allerdings gezeigt haben,200 ist nicht klar, wie solche Volitionen die ihnen von Frankfurt zugewiesene Rolle spielen können, weil es sein kann, dass

anderen denke ich, dass die Positionen, die im Folgenden zum Thema werden, jeweils nur einzelne Aspekte dessen aufgreifen, was ich als das Einnehmen der Perspektive der ersten Person betrachte. So kann man mindestens im Fall von Frankfurt, Bratman und Velleman gute Gründe dafür ins Feld führen, dass ihre Positionen im Grunde der oben angesprochenen mentalistischen Tendenz des Wunsch-Meinung-Modells und auf diese Weise letztlich einer drittpersonalen Beschreibung des Mentalen verhaftet bleiben, obwohl sie in jeweils anderer Hinsicht erstpersonale Aspekte aufgreifen, die das Wunsch-Meinung-Modell nicht erfassen kann. 198 Velleman spricht in diesem Zusammenhang von einer „full-blooded action“ bzw. von „human action par excellence“ (Velleman (1992), 124). 199 Frankfurt bemüht in diesem Zusammenhang das Beispiel des ‘unwilling addict’, dessen Wunsch danach, eine Droge einzunehmen, zusammen mit der Meinung darüber, wie er diesen Wunsch am besten befriedigen kann, zwar kausal dafür verantwortlich ist, dass er tatsächlich die Droge einnimmt, was allerdings dennoch dazu führt, dass der Drogensüchtige sich als ein „helpless bystander to the forces that move him“ (Frankfurt (1971), 18) fühlt. Vertreter des Wunsch-Meinung-Modells können zwar in Erwiderung auf solche Beispiele behaupten, dass die Art der kausalen Verursachung in solchen Fällen nicht angemessen gewesen ist (vgl. etwa die Diskussion der ‘deviant causal chain’-Szenarien in Harman (1976)), allerdings argumentiert Velleman plausibel dafür, dass Fälle, wie Frankfurt sie im Blick hat, durchaus auch in Situationen vorliegen können, in denen außer Frage steht, dass die mentalen Zustände einer Person auf angemessene Weise Verhalten verursachen (vgl. sein Beispiel in Velleman (1992), 126). 200 Vgl. Watson (1982); Watsons eigener positiver Vorschlag besteht darin, die Beteiligung einer Person an den eigenen Handlungen im Sinne der Beteiligung ihrer Werte zu bestimmen. Im Rahmen meiner Interpretation des Standpunkts der ersten Person im zweiten Teil dieser Arbeit habe ich nichts zu der wichtigen Dimension der Werte gesagt, weil sich damit Fragen verbinden, die mich wiederum weiter weg von dem eigentlichen Thema der Arbeit führen würden. Je nachdem, was man darunter versteht, dass Personen Werte haben, spricht prima facie nichts von dem, was ich im Hinblick auf das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person gesagt habe, gegen die Auffassung, dass eine Person, die diesen Standpunkt einnimmt, sich auch von Werten leiten

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 Die eigene Zukunft

man ihnen gegenüber ebenso in der Rolle eines passiven Beobachters verbleibt wie gegenüber Wünschen erster Stufe. In der Folge wurde deshalb von verschiedenen Seiten der Versuch unternommen, Frankfurts Einsicht in die hierarchische Struktur des Willens auf eine Weise zu interpretieren, welche die Beteiligung der handelnden Person zu berücksichtigen erlaubt. So macht sich etwa David Velleman im Rahmen seiner Theorie zur Aufgabe, denjenigen mentalen Zustand zu identifizieren, der ‘funktional identisch’ mit der handelnden Person ist, so dass sie sich von ihm nicht distanzieren kann, ohne dass sie aufhört, eine handelnde Person zu sein.201 Als einen Zustand, der auf diese Weise konstitutiv für die handelnde Person ist, bestimmt Velleman den Wunsch danach, auf eine Weise zu handeln, welche die eigene Zukunft in einem verständlichen Licht erscheinen lässt.202 Die Verbindung, die Velleman auf diese Weise zwischen der Frage nach der Beteiligung der Person an den eigenen Handlungen und dem Aspekt der Verständlichkeit herstellt, entspricht meinem Hinweis auf die Tatsache, dass eine Person, die den Standpunkt der ersten Person bezüglich der eigenen Zukunft einnimmt, in dem Sinn mehr zu tun hat, als lediglich die mentalen Absichten zu registrieren, in denen sie sich befindet, dass sie sich auf zukünftige Handlungen so festlegt, dass es bei der Vorstellung von der eigenen Zukunft, die sie durch diese Festlegungen haben wird, um eine verständliche Vorstellung handelt.203 Eine andere Weise, die Beteiligung des Akteurs an den eigenen Handlungen zu berücksichtigen, findet sich in den neueren Arbeiten von Michael Bratman;

lässt. Zu der Dimension von Werten vgl. auch im Folgenden meine Bemerkungen zu der Position von Betzler, sowie Wolf (1990), ch. 2. 201 Vgl. Velleman (1992), insbes. 137ff. 202 Vgl. Velleman (1992), 141: „[R]ational agents have a desire to do what makes sense, or what’s intelligible to them, in the sense that they could explain it.“ Vgl. auch Raz (1999), 19: „We do so [lead our own lives] to the extent that we believe that our thoughts, beliefs, emotions, and desires are properly responsive to reason.“ 203 Während Velleman dieses Merkmal in einem Wunsch nach Verständlichkeit verortet, würde ich allerdings davon sprechen, dass es sich hier um ein strukturelles Merkmal handelt, das mit dem Einnehmen der Perspektive der ersten Person einhergeht. Damit bestreite ich nicht zwangsläufig, dass so ein Wunsch immer ‘im Hintergrund’ wirksam ist, sobald Personen den Standpunkt der ersten Person einnehmen, sondern halte lediglich an dem Punkt fest, dass auch dieser Wunsch nicht im Fokus der Person steht, die sich vom Standpunkt der ersten Person auf die eigene Zukunft bezieht. Die Weise, in der Velleman den Wunsch nach Selbstverständnis ‘postuliert’, legt nahe, dass seine Auffassung gar nicht so weit von meiner Interpretation des Standpunkts der ersten Person entfernt ist, wie es auf den ersten Blick wirken mag (vgl. Velleman (1992), 140ff.); plakativ könnte man sagen, dass er den Standpunkt der ersten Person so weit berücksichtigt, wie es gerade noch damit vereinbar ist, dass seine Position als eine naturalistische Position verstanden werden kann.



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sein Ansatz ist an dieser Stelle insofern interessant, als in ihm das Bemühen zum Ausdruck kommt, den selbst-konstitutiven Charakter des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person zu betonen. Bratman zufolge verstehen Personen sich nicht nur als über die Zeit identisch, sondern sie sind außerdem auch in der Lage, gestaltend Einfluss auf die eigene Identität zu haben und in diesem Sinn zu bestimmen, wer sie sind.204 Eine zentrale Weise, wie eine Person ihre eigene zukünftige Identität bestimmen kann, besteht darin, ‘self-governing policies’ auszubilden.205 Als ‘self-governing policies’ versteht Bratman mentale Zustände, die in dem Sinne den Volitionen von Frankfurt ähneln, dass sie sich auf Wünsche erster Stufe richten; sie unterscheiden sich von ihnen allerdings dadurch, dass es sich bei ‘policies’ um mentale Zustände handelt, die man immer hat, und die in diesem Sinne entscheidend dafür sind, dass man über die Zeit identisch bleibt. Bratman zufolge kann ich mich etwa dazu entschließen, immer wenn mich der Wunsch nach einer Zigarette überkommt, diesem Wunsch nicht nachzugeben. Dadurch dass ich eine solche ‘policy’ ausbilde, werde ich mich in einem mentalen Zustand befinden, der auf relevante Weise einer Volition ähnelt, von dem ich mich allerdings im Gegensatz zu einer Volition nicht distanzieren kann. Letzteres glaubt Bratman deshalb behaupten zu können, weil es sich etwa bei der ‘policy’, niemals dem Wunsch nach einer Zigarette nachzugeben, um einen mentalen Zustand handelt, der konstitutiv für die Identität einer Person sein kann. Die Beteiligung der handelnden Person wird also insofern auf das Vorliegen von ‘policies’ zurückgeführt, als es sich bei dieser Klasse mentaler Zustände um Zustände handelt, welche die diachrone Identität der betreffenden Person konstituieren. Auf diese Weise bestätigt Bratmans Ansatz einen wichtigen Aspekt meiner Interpretation, nach der eine Person, die den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigene Zukunft einnimmt, in dem Sinn aktiv zu sein hat, als es an ihr ist, die eigene Identität zu bestimmen bzw. zu bekräftigen.206

204 Vgl. Bratman (2000), 30. 205 Vgl. Bratman (2000), 32. 206 Bemerkenswert sind allerdings die Unterschiede zwischen Bratmans Vorschlag und dem Ansatz, den ich zu verteidigen versuche. Immer wenn Bratman im Zusammenhang mit seiner Theorie der ‘self-governing policies’ von Identität redet, hat er Parfits psychologische Theorie personaler Identität im Sinn. (vgl. Bratman (2000), 29ff.). Das hat zur Folge, dass er auf die Behauptung festgelegt ist, dass es sich bei Personen um „overlapping strands of psychological connectedness“ (Bratman (2000), 29) handelt, und es ist auch nur unter dieser Voraussetzung, dass seine Gleichsetzung der handelnden Person mit ihren ‘higher-order policies’ funktioniert. Abgesehen davon, dass sich auf diese Weise die meisten der Folgeprobleme von Parfits Theorie – etwa das Zirkularitätsproblem – auf Bratmans Ansatz übertragen, bleibt unklar, in welchem Sinn der dynamische Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person unter der Vorausset-

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 Die eigene Zukunft

Der globale Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person wird besonders gut an der Kritik deutlich, die Bratman im Zuge der Formulierung seiner ‘planning theory’ am Wunsch-Meinung-Modell übt. Seine zentrale Einsicht lautet, dass sich Absichten nicht auf das Vorliegen von isolierten Wunsch-Meinung-Paaren reduzieren lassen, die kausal dafür verantwortlich sind, dass eine Handlung als absichtliche Handlung verstanden werden kann. Den für Bratman paradigmatischen Fall einer irreduziblen Absicht stellt ein Plan dar, d.h. es ist nur vor dem Hintergrund solcher „intentions writ large“,207 dass wir verstehen können, was es überhaupt heißt, eine Absicht zu haben. Ganz im Einklang mit meiner Erläuterung des globalen Charakters, den der erstpersonale Zukunftsbezug hat, stellt das Haben eines Plans die handelnde Person unter eine Reihe von rationalen Anforderungen: Neben der Tatsache, dass Pläne durch ihren Festlegungscharakter eine gewisse Stabilität aufweisen, müssen sie – ähnlich wie etwa in dem weiter oben diskutierten Fall von Rogers Absicht, der beste Tennisspieler aller Zeiten zu werden – kohärent im Hinblick auf Mittel-Zweck-Überlegungen und konsistent im Hinblick auf andere Einstellungen der handelnden Person sein.208 Sich planend auf die eigene Zukunft zu beziehen, generiert auf diese Weise eine ganze Reihe von Gründen, die eine Person, welche sich auf den deliberativen Standpunkt der ersten Person ihrer Zukunft gegenüber stellt, im Rahmen ihrer Abwägungsprozesse zu berücksichtigen hat. Während Bratman im Rahmen seiner ‘planning theory’ in diesem Sinn entscheidende Merkmale dessen formuliert, was ich weiter oben als die globale Dimension des Einnehmens der Perspektive der ersten Person bezeichnet habe, bleibt seine Theorie im Hinblick auf den selbst-konstitutiven Charakter erstpersonalen Zukunftsbezugs auf spezifische Weise unergiebig.209 Immerhin können Personen ganz unterschiedliche Pläne

zung von ‘higher-order policies’ gewahrt bleibt; hat eine Person erst einmal eine solche ‘policy’, bleibt ihr nicht viel mehr übrig, als die entsprechenden Wünsche erster Stufe auszubilden.  Dass der dynamische Charakter auf diese Weise wiederum in den Hintergrund rückt, hat mit der Tatsache zu tun, dass auch Bratman sich als Naturalist versteht und die transparente Dimension unseres Verhältnisses zu den eigenen Einstellungen nicht erfassen kann. Den hinter seinem Manöver der Einführung von ‘higher-order policies’ stehenden Gedanken der Selbst-Regulierung kann ich im Rahmen meines Vorschlags fassen, indem ich darauf hinweise, dass Personen, die sich vom Standpunkt der ersten Person auf die eigene Zukunft beziehen, ihre Festlegungen vor dem Hintergrund eines Selbstverständnisses als eine bestimmte Person treffen – sei es als Nichtraucherin oder als ein sanftmütiger Mensch – und insofern tatsächlich an ihrer Identität – verstanden als normative Identität – arbeiten. 207 Bratman (1989), 8. 208 Vgl. Bratman (1989), 31f. 209 Das hat wiederum damit zu tun, dass er insofern den hinter dem Wunsch-Meinung-Modell stehenden naturalistischen Intuitionen verhaftet bleibt, als er die relevante Dimension des Han-



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verfolgen, unter anderem auch Pläne, die gar nichts mit ihnen selbst oder ihrer Vorstellung vom eigenen Leben zu tun haben. Die bloße Tatsache, dass es sich bei etwas, das ich tun werde, um den Bestandteil eines Plans handelt, wird nicht notwendig dazu führen, dass mir meine eigene Zukunft verständlich sein wird bzw. dass ich sie als genuin eigene Zukunft werde betrachten können. So kann ich mich planend auf die eigene Zukunft beziehen, indem ich einen Plan verfolge, der mir von anderen Person auferlegt worden ist – man denke z.B. an eine bestimmte Berufswahl, die meine Eltern für mich getroffen haben – ohne dass ich verstehe, warum ich mich überhaupt darum kümmern sollte, was diese anderen Personen im Hinblick auf meine Zukunft zu sagen haben. Im Hinblick auf die Frage nach dem Zusammenhang des globalen und des selbst-konstitutiven Aspekts erstpersonalen Zukunftsbezugs ist der Vorschlag, den Monika Betzler zuletzt formuliert hat, von besonderer Bedeutung. In ihrer Theorie bezieht sie sich auf persönliche Projekte als „nicht reduzierbare Quelle praktischer Gründe.“210 Persönliche Projekte teilen mit Plänen die Eigenschaften, die ich zu der globalen Dimension des Einnehmens der Perspektive der ersten Person gezählt habe, indem sie typischerweise stabil sind und durch die Gründe, die sie generieren, unser Handeln auch über längere Zeitstrecken koordinieren. Wie Betzler zeigt, unterscheiden sich allerdings die Gründe, die von persönlichen Projekten generiert werden, entscheidend von den Gründen, die einer Person von ihren Plänen vorgegeben werden: Die Gründe, die ich habe, wenn ich einen Plan verfolge, sind letztlich darauf gerichtet, diesen Plan zu erfüllen, während von projektabhängigen Gründen gilt, dass eine Person durch sie wertend an ihr Projekt gebunden wird, ohne dass dessen Abschluss im Fokus ihrer Überlegungen steht.211

delns letztlich auf einen – wenn auch sehr weit gefassten – mentalen Zustand zurückführt und auf diese Weise dem für erstpersonalen Zukunftsbezug wichtigen Aspekt der Transparenz nicht gerecht werden kann. Einen Plan zu fassen, indem man sich etwa dazu entschließt, der beste Tennisspieler aller Zeiten zu werden, hat vom Standpunkt der ersten Person nichts damit zu tun, dass man sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, sondern damit, dass man darüber nachdenkt, was für eine Person man ist, welche Fähigkeiten man hat und zu welcher Person man werden möchte. Dass in so einem Prozess die eigenen mentalen Zustände, Charakterzüge, Dispositionen oder Ähnliches eine Rolle spielen können, ist eine Sache; eine andere ist die Behauptung, dass es meine mentalen Zustände sind, die mich dazu veranlassen, mich auf eine bestimmte Zukunft festzulegen. 210 Betzler (2012), Abschn. 1; zum Folgenden vgl. auch Betzler (in Vorb.). 211 Vgl. Betzler (2012). Abschn. 6. Ein im Rahmen dieser Arbeit besonders interessanter Aspekt der Art und Weise, wie wir uns durch persönliche Projekte auf die eigene Zukunft beziehen, auf den Betzler im Rahmen ihres Ansatzes aufmerksam macht, besteht in der zeitlichen Ausrichtung der Perspektive, die im Fall von persönlichen Projekten ganz anders ist als im Fall von Plänen.

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Es ist diese Dimension der Wertschätzung, durch die persönliche Projekte eine Relevanz im Hinblick auf die normative Identität der Personen, die sie verfolgen, erlangen: Wenn Roger das Projekt verfolgt, ein Weltklasse-Tennisspieler zu werden, dann wird er die Handlungen, die er im Rahmen dieses Projekts ausführt, auch unabhängig von dem Resultat, zu dem sie führen sollen, wertschätzen und Handlungsoptionen, die potentiell im Konflikt mit seinem Projekt stehen, gar nicht erst erwägen, weil sie ihm im Rahmen des Selbstverständnisses das er von sich hat, unverständlich erscheinen würden. Es ist in diesem Sinn, dass von ihm gesagt werden kann, dass sein Projekt, ein Weltklasse-Tennisspieler zu werden, eher das Projekt ist, ein Weltklasse-Tennisspieler zu sein: Durch die Tatsache des Verfolgens seines Projekts macht sich Roger zu der Person, die er sein möchte und arbeitet in diesem Sinn an der eigenen normativen Identität. Ein mit der Identitätsrelevanz eng zusammenhängender Aspekt der Theorie von Betzler, durch den meine Interpretation des erstpersonalen Zukunftsbezugs angereichert werden kann, besteht in dem Hinweis darauf, dass persönliche Projekte nicht nur Gründe für bestimmte Handlungstypen und Gründe für die Wertschätzung des jeweiligen Projekts generieren, sondern darüber hinaus auch Gründe für eine Reihe von emotionalen Einstellungen, welche diese Wertschätzung des jeweiligen Projekts ausdrücken.212 So wird von Roger nicht behauptet werden können, dass er tatsächlich das Projekt verfolgt, ein Weltklasse-Tennisspieler zu sein, wenn er in Situationen, in denen sein Projekt bedroht ist – etwa nach einer schweren Verletzung – nicht frustriert oder traurig ist bzw. in Situationen, in denen sein Projekt besonders gut fortschreitet – etwa nach einem Sieg in Wimbledon – keine Gefühle wie Freude oder Stolz an den Tag legt. Eine Identität zu haben bzw. jemand zu sein, bedeutet demzufolge nicht nur, dass man auf eine Weise handelt, die einem vor dem Hintergrund der Vorstellung vom eigenen Leben verständlich vorkommt, sondern auch, dass man sich insofern als ganze Person von den Vorkommnissen des eigenen Lebens betroffen sieht, als man auf angemessene Weise darauf emotional zu reagieren in der Lage ist.213

Während eine Person, die sich planend auf die eigene Zukunft bezieht und dabei das Resultat ihres Plans vor Augen hat, sich gewissermaßen von der Zukunft aus denkend in ihrem gegenwärtigen Handeln bestimmt und dadurch auf eine bestimmte Weise passiv dem anvisierten Resultat ihres Plans gegenüber verbleibt, ist das Verfolgen eines persönlichen Projekts insofern als ein genuin dynamischer Prozess zu betrachten, als die Person, die ein solches persönliches Projekt verfolgt, sich von ihrer jeweils gegenwärtigen Wertschätzung des eigenen Projekts in die Zukunft entwirft. 212 Vgl. Betzler (2012), Abschn. 2. 213 Ein Punkt, in dem der Ansatz von Betzler möglicherweise inkompatibel mit meiner Interpretation des erstpersonalen Zukunftsbezugs ist, betrifft die Abgrenzung zwischen persönlichen



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Die letzte Position, auf die ich hinweisen möchte, betrifft den Aspekt der Transparenz, der im Rahmen meiner Interpretation dessen, was es bedeutet, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, eine zentrale Rolle spielt. Im handlungstheoretischen Kontext ist dieser Aspekt von besonderer Brisanz, weil sich mit ihm die Problematik der Vereinbarkeit des Naturalismus mit einer angemessenen Berücksichtigung der Perspektive der ersten Person verbindet. Weiter oben habe ich eine Auffassung vertreten, nach der die Gründe, die eine Person vom Standpunkt der ersten Person – in theoretischer wie in praktischer Hinsicht – abwägt, nicht mit den mentalen Zuständen identifiziert werden dürfen, in denen sie sich befindet, sondern Aspekte der Welt darstellen, deren normative Kraft die Person anerkennt, indem sie einen mentalen Zustand ausbildet. Etwas als einen Grund zu sehen, ist demzufolge gleichbedeutend damit, dass man sich in einem mentalen Zustand befindet, und der mentale Zustand, in dem man sich auf diese Weise befindet, kann insofern selbst nicht als ein Grund betrachtet werden. Gleichzeitig habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass sich

Projekten und persönlichen Idealen, die sie vornimmt (vgl. Betzler (2012)). Die Lesart von ‘persönliches Ideal’, die Betzler hierbei zugrunde liegt, ist nicht besonders aufgeladen, indem solche Ideale im Sinne der Selbst-Konzeption verstanden werden, von der sich Personen in ihrem Handeln leiten lassen. Es ist allerdings gerade eine normative Selbst-Konzeption, die ich für den entscheidenden Aspekt am Einnehmen der Perspektive der ersten Person halte: Wenn ich diese Perspektive einnehme, dann heißt das, dass ich mich mit einer bestimmten Person identifiziere, indem ich eine Vorstellung von meinem vergangenen und zukünftigen Leben als einem sinnvollen Leben entwickle. In diesem Sinn kann zu jedem Zeitpunkt, an dem ich die Perspektive der ersten Person einnehme, von mir behauptet werden, dass ich mich sowohl an einer Selbst-Konzeption orientiere, als auch an ihrer Konstitution bzw. Verfestigung arbeite. Die Opposition, die Betzler zwischen persönlichen Projekten und persönlichen Idealen sieht, scheint darin begründet, dass ich – um als jemand gelten zu können, der ein persönliches Projekt verfolgt – immer auch etwas tun muss, was sich als das Verfolgen des Projekts beschreiben lässt, während man durchaus ein Ideal von sich haben kann, ohne irgendwelche Schritte zu unternehmen, um es zu erreichen.  Ich bin mir nicht sicher, ob man Letzteres tatsächlich von einer Selbst-Konzeption sagen kann, wie ich sie im Blick habe: Von einer Person, die keinerlei Schritte dazu unternimmt, überhaupt Tennis zu spielen, würde man kaum sagen, dass sie sich als Weltklasse-Tennisspielerin versteht, auch wenn sie möglicherweise eine entsprechende Idealvorstellung von sich hat. Ein Argument, das Betzler formuliert, um die Unterscheidung zwischen persönlichen Projekten und persönlichen Idealen weiter zu untermauern, macht auf die Möglichkeit von Situationen aufmerksam, in denen man ein Projekt verfolgt, ohne ein entsprechendes Idealbild von sich zu haben. Wenn es sich dabei aber tatsächlich insofern um Situationen des Verfolgens von einem persönlichen Projekt handeln soll, als das, was von der betreffenden Person getan wird, identitätskonstituierend für sie ist, und wenn mit ‘Ideal’ gleichzeitig nicht mehr gemeint ist, als eine Selbst-Konzeption, dann ist nicht zu verstehen, wie solche Situationen tatsächlich möglich sein sollen.

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das Verhältnis, in dem Personen zu ihren Gründen stehen, wenn sie den Standpunkt der ersten Person einnehmen, nicht im Sinne eines kontingent-kausalen Verhältnisses verstehen lässt. Von der Warte der naturalistischen Grundüberzeugung, die ich am Anfang dieses Abschnitts skizziert habe, ließe sich an dieser Stelle behaupten, dass ich mit dieser Interpretation das Phänomen des menschlichen Handelns zu einem unerklärlichen Phänomen gemacht habe. Wenn Handlungsgründe keine mentalen Zustände sind und keine kausale Kraft haben, ist eine ‘Rationalisierung’, die auf sie Bezug nimmt, im Rahmen eines naturalistischen Weltbildes explanatorisch wertlos. Der Ansatz, den ich bezüglich der Frage nach dem erstpersonalen Zukunftsbezug vorschlage, mag aus diesem Grund auf den ersten Blick wie eine implizite Verteidigung der Positionen aussehen, die in der handlungstheoretischen Debatte unter dem Schlagwort der ‘agent causation’ subsumiert werden.214 Wie Jay Wallace im Rahmen der Verteidigung seiner ‘volitionalistischen’ Position zeigt,215 sind solche Bedenken allerdings keinesfalls zwangsläufig. Zum einen kann mit Bezug auf externalistische Theorien praktischer Rationalität gezeigt werden, dass Kausalerklärungen nicht die einzige Weise darstellen, wie etwas erklärt werden kann.216 Zum anderen handelt es sich bei der drittpersonalen Perspektive der kausalen Verursachung und der erstpersonalen Perspektive der Normativität zwar in dem Sinn um Perspektiven, die einander ausschließen, dass man nicht beide zur gleichen Zeit einnehmen kann, allerdings nicht in dem Sinne um unvereinbare Perspektiven, dass eine Person, die eine von ihnen einnimmt, dazu gezwungen wäre, gleichzeitig eine Position im Hinblick auf Sachverhalte zu beziehen, die aus der jeweils anderen Perspektive eine Rolle spielen.217 Wenn ich mich vom Standpunkt der ersten Person auf die eigene Zukunft beziehe, indem ich mich bei den Festlegungen, die ich im Hinblick auf zukünftige Handlungen treffe, von Aspekten der Welt leiten lasse, interessiere ich mich nicht für die Art und Weise, in der sich diese Handlungen als kausale Wirkun-

214 Die prominenteste Version einer solchen Theorie findet sich in Chisholm (1976); für einen aktuelleren Versuch, das Konzept der ‘agent causation’ zu verteidigen vgl. O’Connor (2000). 215 Vgl. vor allem Wallace (2000). 216 Vgl. etwa Dancy (2000). 217 Vgl. Wallace (2000), 153: „Alternatively, we could attempt to rescue the volitionalist conception by removing it from the context of theoretical reasons and placing it within the normative framework of practical reason. Viewed in this new light, the power of choice is not understood as a causal force in competition with other forms of causality, something for which a space would need to be cleared in the order of the nature. Rather it speaks to the normative interests regulative of the practical point of view, a standpoint into which we project ourselves when we deliberate about what we ought to do.“



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gen von irgendetwas beschreiben lassen. Das impliziert, dass ich auch nicht etwa daran denke, dass ich die unverursachte Ursache meines zukünftigen Handelns bin. Wenn ich Gründe abwäge, spielt die Frage nach Verursachung einfach keine Rolle. Das bedeutet allerdings nicht, dass Personen sich selbst gegenüber nicht manchmal die Perspektive der dritten Person ‘einnehmen’ und dabei von der kausalen Kraft ihrer mentalen Zustände erfasst werden. Sie können sogar die kausale Dimension des eigenen Handelns vom Standpunkt der ersten Person wieder zum Thema zu machen, etwa indem sie sich rückblickend unverständliche Formen des eigenen Verhaltens zu erklären versuchen oder im Hinblick auf die eigene Zukunft registrieren, dass sie dabei sind, sich auf eine Weise zu verhalten, die ihnen unverständlich erscheint. In diesem Sinn ist es genauso wichtig, dass es sich bei der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person um unterschiedliche Perspektiven handelt, wie dass wir in der Lage sind, beide Perspektiven auf uns selbst einzunehmen. Psychologische Theorien personaler Identität unternehmen – ähnlich wie handlungstheoretische Positionen im Gefolge des Wunsch-Meinung-Modells – den Versuch, die Perspektive der ersten Person in der Perspektive der dritten Person aufgehen zu lassen und versäumen es auf diese Weise, entscheidende Aspekte personalen Lebens zu berücksichtigen.

10 Normative Identität und personale Identität Ausgehend von den Ergebnissen des zweiten Teils dieser Arbeit, in dem ich am Beispiel des Verhältnisses, in dem wir zu den eigenen Meinungen stehen, charakteristische Merkmale dessen bestimmt habe, was es bedeutet, dass Personen den Standpunkt der ersten Person einnehmen, habe ich im vorliegenden Teil die temporale Dimension dieses Standpunkts zu bestimmen versucht, indem ich mich den Fragen nach dem erstpersonalen Vergangenheitsbezug und dem erstpersonalen Zukunftsbezug zuwandte. Hierbei hat sich gezeigt, dass Personen, die den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigene Vergangenheit und Gegenwart einnehmen, in einen Prozess der Konstitution und Bestätigung der eigenen Identität eintreten. Mit ‘Identität’ ist an dieser Stelle allerdings nicht die metaphysische Relation gemeint, von der im Zusammenhang mit den im ersten Teil der Arbeit vorgestellten Theorietypen die Rede war, sondern eine Eigenschaft, die Personen in dem Maße aufweisen, in dem sie eine verständliche Repräsentation von ihrem eigenen – vergangenen und zukünftigen – Leben haben. Diese Eigenschaft ist insofern als normativ zu bezeichnen, als sie auf Gründen basiert und gleichermaßen Gründe generiert. Bei diesen Gründen kann es sich sowohl um praktische Gründe, d.h. Gründe, etwas zu tun, handeln, als auch um Gründe für eine bestimmte Auffassung von der Welt und einem selbst als Bestandteil dieser Welt. Wenn ich mich demzufolge als eine bestimmte Person verstehe, dann bedeutet das, dass ich durch dieses Selbstverständnis sowohl einen Rahmen dafür abstecke, was ich tun werde, als auch dafür, was ich glauben werde. In diesem Sinne handelt es sich bei der normativen Identität um einen Begriff, der umfassender ist, als der Begriff von praktischer Identität, der zuletzt in verschiedenen Kontexten der praktischen Philosophie an Popularität gewonnen hat. Eine besondere Nähe hat mein Begriff der normativen Identität zu dem, was Korsgaard als ‘practical identity’ bezeichnet. Ich stimme mit Korsgaard Bestimmung von praktischer Identität in drei Punkten überein.218 Zum einen denke auch ich, dass es sich bei normativer Identität um eine kontingente Eigenschaft von Personen handelt, und dass Personen in unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedliche normative Identitäten ausbilden können. Zum anderen gehe ich wie Korsgaard davon aus, dass normative Identität nicht etwas ist, das Personen lediglich passiv zu erkennen haben, sondern stattdessen etwas, an dessen Konstitution sie aktiv beteiligt sind. Schließlich sollte aus meiner Argumentation in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden sein, dass ich, ähnlich wie

218 Vgl. zum Folgenden Korsgaard (2009), 18‒26.



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Korsgaard, normative Identität als etwas betrachte, das Gründe generiert und auf diese Weise eine Zuschreibung von Lebensaspekten als im emphatischen Sinne meine Lebensaspekte bzw. als Aspekte meines Lebens erlaubt. Der Unterscheid zwischen dem von mir in den Mittelpunkt gestellten Begriff der normativen Identität und Korsgaards Begriff der praktischen Identität besteht zum einen darin, dass ich keinesfalls die Auffassung vertreten möchte, dass normative Identität mit personaler Identität zusammenfällt.219 Ganz im Gegenteil denke ich, dass der metaphysische Begriff von personaler Identität und der praktische oder deliberative Begriff von normativer Identität unterschiedliche Begriffe sind, weil sie Unterschiedliches bezeichnen – in dem einen Fall eine Relation von Personen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in dem anderen Fall das Verhältnis, das Personen zu sich selbst haben, wenn sie sich um eine verständliche Vorstellung ihres eigenen Lebens bemühen. Zum anderen halte ich Korsgaards Bestimmung von praktischer Identität als “the description under which you value yourself and find your life to be worth living and your actions to be worth undertaking“220 für viel zu anspruchsvoll. Es kann zwar sein, dass Personen eine normative Identität haben, die umfassend genug ist und von ihnen auf eine spezifische Weise wertgeschätzt wird, so dass diese normative Identität insgesamt dazu beiträgt, dass die betreffende Person ihr Leben als Ganzes wertoder sinnvoll findet. Allerdings ist das kein notwendiger Aspekt dessen, was es heisst, eine normative Identität zu haben. Mit dem Einnehmen des Standpunkts der ersten Person, von dem aus wir an normativer Identität arbeiten, verbindet sich nämlich lediglich der schwächere Anspruch darauf, das eigene Leben zu verstehen. Etwas verstehen oder verständlich finden, ist aber ein Zustand, der zunächst unabhängig davon ist, dass man das, was man versteht, auch wertvoll findet oder auch nur wertschätzt.221

219 Vgl. Korsgaard (2009), 19f.: „So we are each faced with the task of constructing a peculiar, individual kind of identity – personal or practical identity – that the other animals lack.“ 220 Korsgaard (1996), 102. 221 Zum Begriff des Wertschätzens vgl. Scheffler (2010). Auf ganz ähnliche Weise problematisch halte ich die Nähe, die Korsgaard zwischen dem Begriff der Identität und dem Haben von Prinzipien herstellt (vgl. etwa Korsgaard (2009), 21). Wie im Fall von Bratmans Begriff des Plans oder Betzlers Begriff des persönlichen Projekts kann es zwar sein, dass Prinzipien zu den Elementen gehören, mit denen wir unsere diachrone Existenz strukturieren – insofern steht Korsgaards Hinweis auf sie in Übereinstimmung damit, was ich weiter oben als den globalen Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person bezeichnet habe – alleine ist nicht davon auszugehen, dass jeder Versuch, eine normative Identität zu bekräftigen, indem man sich um das Verständnis eines bestimmten Aspektes des eigenen Lebens bemüht, darauf angewiesen ist, dass man auf Prinzipien oder Maximen zurückgreifen kann.

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Während ich in den vorangegangenen Kapiteln dafür plädiert habe, das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person insofern in einen engen Zusammenhang mit dem Begriff der normativen Identität zu stellen, als eine Person, die sich erstpersonal auf Aspekte ihres Lebens und der Welt um sie herum bezieht, um größtmögliche Verständlichkeit dieser Aspekte bemüht ist, habe ich – abgesehen von den indirekten Hinweisen, die sich durch die von mir bemühten Beispiele ergeben haben – nichts zu der Frage zu sagen versucht, wie ein solches Verständnis konkret beschaffen sein müsste. In diesem Sinne ist der Begriff der normativen Identität, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgeschlagen wird, abstrakter als etwa das, was Schechtman unter narrativer Identität versteht: Wenn Personen an ihrer normativen Identität arbeiten, dann sind sie an der Verständlichkeit des eigenen Lebens interessiert; ob diese Verständlichkeit am Besten im Rahmen eines Selbst-Narrativs zu erreichen ist, ist eine andere Frage, die ich an dieser Stelle nicht verfolge.222 Eine normative Identität zu haben, bedeutet meiner Argumentation zufolge auch, das eigene Leben verstehen zu wollen. Auf diese Weise handelt es sich bei normativer Identität nicht nur um ein Produkt im Sinne einer mehr oder weniger vollständigen Repräsentation der einzelnen Lebensvorkommnisse einer Person bzw. einer Vorstellung ihres Lebens und seiner Teile, sondern vielmehr um ein Tätigsein, das auf Verständlichkeit ausgerichtet ist und insbesondere im handlungsorientierten Zukunftsbezug zum Ausdruck kommt.223 Der Beitrag, den ein Lebensvorkommnis zur Gesamtverständlichkeit des Lebens einer Person leistet, kann hierbei, je nach dem Verständniszusammenhang, in dessen Lichte die betreffende Person sich interpretiert, mehr oder weniger groß ausfallen: So wird von einer Person, die sich etwa als Wissenschaftlerin versteht, gesagt werden können, dass die Fortschritte, die sie im Rahmen ihrer Forschung macht, in

222 In gewisser Hinsicht besteht mein Vorgehen also darin, dasjenige, was Schechtman als die ‘characterization question’ bezeichnet (vgl. Schechtman (1996, 73ff.), auf einer systematisch soliden Basis – nämlich über die Struktur erstpersonalen Selbstbezugs – motiviert zu haben, ohne eine erschöpfende Antwort auf diese Frage zu geben. Dass ich gar nicht erst den Versuch unternehme, solch eine Antwort zu geben, liegt daran, dass ich nicht denke, dass sich in diesem Zusammenhang etwas Allgemeines sagen lässt, das über den Hinweis auf den Anspruch auf Verständlichkeit, wie ich ihn bislang thematisiert habe, hinausgehen würde. Zur Kritik an narrativen Theorien vgl. Strawson (2004); zu narrativen Theorien allgemein vgl. Christman (2004) und Henning (2009). 223 Dieser aktive Aspekt des Einnehmens der Perspektive der ersten Person bzw. der Arbeit an der eigenen normativen Identität unterscheidet meinen Ansatz auch von ‘statischen’ Identitätskonzeptionen, wie sie sich etwa bei Frankfurt finden lassen; vgl. etwa den an ‘wholeheartedness’ orientierten Identitätsbegriff in Frankfurt (1987).



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einem tieferen Sinn zu ihr gehören und ihre normative Identität prägen, als etwa die Leistungen, die sie bei einer sportlichen Freizeitbetätigung erzielt. Gleichzeitig habe ich sowohl im Hinblick auf den erstpersonalen Vergangenheitsbezug als auch im Hinblick auf den erstpersonalen Zukunftsbezug auf eine Minimalbedingung dafür hingewiesen, dass eine Person ein Vorkommnis überhaupt als ein Vorkommnis des eigenen Lebens verstehen kann. Diese Minimalbedingung besteht in der Forderung, dass sich ein Vorkommnis als Bestandteil des raumzeitlichen Weges verstehen lässt, der von dem rationalen Lebewesen zurückgelegt wird bzw. wurde, als das sich die betreffende Person versteht. Dieser Umstand deutet auf die Tatsache, dass Personen im Zuge der Konstitution der eigenen normativen Identität über ein metaphysisches Kriterium personaler Identität verfügen, das mit dem Kriterium zusammenfällt, welches von einer nicht-reduktionistischen Theorie, wie sie David Wiggins vertritt, formuliert wird: Vom Standpunkt der ersten Person verstehen wir uns grundlegend als rationale Lebewesen mit den für rationale Lebewesen charakteristischen ‘Prinzipien der Aktivität’. Eine angemessene Berücksichtigung des Umstandes, dass personales Leben einen ‘inneren Aspekt’ hat – dass Personen also in der Lage sind, die Perspektive der ersten Person einzunehmen – spricht demnach keinesfalls für ein psychologisch-reduktionistisches Kriterium als Antwort auf die metaphysische Frage nach personaler Identität, sondern für einen Ansatz, nach dem es sich bei Personen wesentlich um Entitäten handelt, deren biologische und psychologische Existenz in komplexen wechselseitigen Beziehungen zueinander stehen. Dass die Schlussfolgerung, die ich aus meiner Interpretation des Standpunkts der ersten Person gezogen habe, indem ich für eine nicht-reduktionistische Auffassung von Personen plädiert habe, dabei durchaus auch den Intuitionen gerecht wird, die wir im Hinblick auf die praktische Relevanz des Personenbegriffs haben, kann man gut daran sehen, dass die praktischen Interessen, von denen ich im Zusammenhang mit der Kritik am biologischen Reduktionismus gesprochen habe, keinesfalls im Widerspruch zu einer Auffassung stehen, nach der wir wesentlich rationale Lebewesen sind. Die nicht-reduktionistische Position, die ich vertrete, scheint ganz im Gegenteil sehr gut zu der Weise zu passen, in der wir den Begriff der Identität mit praktischen Belangen verbinden. In Situationen, in denen etwa moralische Verantwortung zugeschrieben werden soll, ist es nämlich keinesfalls so, dass wir rückhaltlos bereit sind, Verantwortung lediglich an das Vorliegen von mentaler Kontinuität zu knüpfen. Zwar steht der psychologische Aspekt bei Zuschreibungen moralischer Verantwortlichkeit in gewisser Hinsicht im Vordergrund, aber diese Tatsache lässt sich weitaus besser unter Rückgriff auf einen Ansatz, wie ich ihn entwickelt habe, einfangen, als etwa mit einem Kriterium personaler Identität wie es von den psychologischen Reduktionisten vorgeschlagen wird. Wenn wir an moralischer Verantwortung interessiert

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sind, sind wir nämlich keinesfalls an einer ‘entpersönlichten’ psychologischen Kontinuitätsrelation interessiert, sondern in dem Sinne an der Perspektive der handelnden Person, dass wir wissen wollen, welche Gründe sie für das gehabt hat, wofür wir sie unter Umständen verantwortlich machen werden.224 Psychologische Theorien sind im Grunde gar nicht in der Lage, eine angemessene Basis für die Zuschreibung von Verantwortung zur Verfügung zu stellen, weil sie Personen nicht als Akteure erfassen können. Das ist die eigentliche Pointe meiner Anstrengungen im zweiten Teil der Arbeit, wo ich zu zeigen versucht habe, inwiefern psychologische Reduktionisten die Perspektive der ersten Person unberücksichtigt lassen. Auf ähnliche Weise lässt sich etwa im Kontext der Frage nach dem Überleben behaupten, dass Personen zwar in dem Sinn ein Interesse an der Einheit ihres mentalen Lebens haben, als sie sich um die zukünftige Ausführung und Verwirklichung ihrer Pläne und Projekte sorgen oder an temporal stabilen Beziehungen zu anderen Personen interessiert sind, die nur unter der Voraussetzung einer solchen mentalen Einheit möglich sind. Allerdings wird sich dieses Interesse nicht in dem Wunsch danach erschöpfen, dass das eigene mentale Leben in dem Sinn weiterfliesst, den etwa David Lewis im Blick hat, wenn er schreibt: „When I consider various cases in between commonplace survival and commonplace death, I find that what I mostly want in wanting survival is that my mental life should flow on.“225 Diese Sorge ist im Rahmen des von mir entwickelten Ansatzes durch den Hinweis darauf zu erfassen, dass Personen sich um die eigene normative Identität kümmern, die allerdings bedroht wäre, wenn es zu drastischen Brüchen in ihrem mentalen Leben kommen würde. Gleichzeitig lässt sich unter Rückgriff auf den Begriff normativer Identität dafür plädieren, dass es nicht irrational ist, sich auch darum zu sorgen, dass man in biologischer Hinsicht ein kontinuierliches Leben führt. Wenn ich an der eigenen normativen Identität arbeite,

224 Selbst in Situationen, in denen wir mit Personen konfrontiert sind, die einen auf dramatische Weise gestörten mentalen Haushalt haben, indem sie sich etwa an gar nichts erinnern können, was sie getan haben, fallen unsere Intuitionen im Hinblick auf Verantwortung keinesfalls so eindeutig aus, wie es oft von Seiten der psychologischen Reduktionisten behauptet wird. Zumindest aus der Perspektive der Person, um deren Handlungen es in so einer Situation geht, sieht die Situation nicht klar aus: Eine Person, die zwar an totaler Amnesie leidet und erfährt, dass sie in ihrer Vergangenheit einen Mord begangen hat, wird sich vielleicht nicht in dem Maße verantwortlich fühlen, wie jemand, der sich noch daran erinnert, eine andere Person ermordet zu haben; allerdings wird sich die Situation für die betreffende Person auch nicht so darstellen, als ob eine von ihr unterschiedene Person, die mit dem Einsetzen der Amnesie zu existieren aufgehört hat, für den Mord verantwortlich wäre. 225 Lewis (1976), 17.



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dann verstehe ich mich immer auch als das spezielle Lebewesen, das ich bin, und dieses Selbstverständnis ermöglicht mir, ein Leben ‘im vollen Sinne des Wortes’ zu führen. Angesichts der Bedeutung, die diese Möglichkeit für uns hat – so mein Vorschlag – sollten wir uns im Rahmen der Betrachtung von fiktiven Szenarien nicht allzu bereitwillig dazu überreden lassen, eine reduktionistische Auffassung von Personen zu akzeptieren.226 Die letzte Bemerkung hat ihre Entsprechung in der methodischen Kritik am Vorgehen der psychologischen Reduktionisten, auf die ich weiter oben hingewiesen habe. Im Gegensatz zu Positionen, die eine solche Kritik formulieren, ist man im Rahmen eines nicht-reduktionistischen Ansatzes allerdings nicht dazu gezwungen, mit Vertretern des psychologischen Reduktionismus eine grundsätzliche Debatte über den methodischen Status von Gedankenexperimenten zu führen. Man kann zugestehen, dass die Szenarien, die von psychologischen Reduktionisten ins Feld geführt werden, in einem relevanten Sinne vorstellbar oder im Prinzip möglich sind; selbst wenn solche Szenarien tatsächlich eintreten würden, kann der Nicht-Reduktionist noch daran festhalten, dass jede Störung des gewöhnlichen Zustandes, in dem sich das Mentale von Personen befinden kann, nichts mehr als eben das ist – eine Störung, ein Abweichen von dem für rationale Lebewesen charaktersitischen Standardfall des ‘Prinzips der Aktivität’, das aber nichts im Hinblick auf seine Identität zu bedeuten hat. An dieser Stelle mag skeptisch eingewendet werden, wozu wir denn noch eine Theorie personaler Identität benötigen, wenn sie darauf hinausläuft, dass man von Personen, deren Mentales einer drastischen Veränderung unterworfen war, lediglich sagen kann, dass mit ihnen ‘irgendwas nicht in Ordnung’ ist. Auf diese Kritik kann man aber erstens erwidern, dass eine Position, wie ich sie vorschlage, gerade nicht dabei stehen bleibt, zu behaupten, dass in den skizzierten Fällen ‘irgendwas’ nicht in Ordnung ist, indem darauf hingewiesen werden kann, dass in Fällen, in denen etwa ein totaler Gedächtnisverlust stattgefunden hat, eine Person ihrer normativen Identität ‘beraubt’ bzw. in ihrer Fähigkeit eingeschränkt wurde, an der eigenen normativen Identität zu arbeiten.227 Zweitens ließe sich kritisch zurück-

226 Vgl. dazu insb. Wiggins (1979). 227 Wie im Rahmen der Diskussion in diesem Teil der Arbeit zu sehen war, bestehen beispielsweise enge wechselseitige Abhängigkeiten zwischen der Weise, wie Personen sich auf ihre Vergangenheit und Zukunft beziehen; deshalb wird es einer Person, die an totaler Amnesie leidet, zunächst schwer fallen, eine eigene Zukunft zu haben, obwohl möglicherweise nur ihre Erinnerungen von der Amnesie betroffen sind (und nicht etwa mentale Fähigkeiten). Das liegt daran, dass die Weise, wie wir uns erstpersonal auf die eigene Zukunft beziehen, von den Gründen abhängt, die unsere normative Identität konstituieren: Wenn ich mich als niemand verstehe, werde ich nicht im eigentlichen Sinn des Wortes wissen können, was ich mit mir und meinem

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fragen, wozu wir ein Kriterium der Identität von Personen brauchen sollten, das auf drastische und fiktive Szenarien reagieren kann, während wir doch im nichtphilosophischen Alltag ganz offensichtlich sehr gut mit einer Vorstellung von Personen zurechtkommen, die nicht-reduktionistisch ist. Damit zusammenhängend ließe sich auf meinen Vorschlag entgegnen, dass überhaupt nicht klar ist, inwiefern sich eine nicht-reduktionistische Position überhaupt als eine Antwort auf die Frage nach personaler Identität verstehen lässt. Ist die Frage nach Identität nicht die Frage nach einem Kriterium für Identität? Und worin soll ein nicht-reduktionistisches Kriterium bestehen? An dieser Stelle muss daran gedacht werden, wie ich den Nicht-Reduktionismus im Hinblick auf die Identitätsrelation im ersten Teil der Arbeit eingeführt habe. Ich habe dort dafür plädiert, ihn als eine Position zu verstehen, die davon ausgeht, dass man lediglich ein epistemisches Kriterium für das Vorliegen von Identität formulieren kann. Im Spezialfall der Identität von Personen bedeutet das zum einen, dass wir in unserer Praxis des Fällens von Wiedererkennungsurteilen nicht auf bloße Vermutungen angewiesen sind, die jeder rationalen Grundlage entbehren würden, und zum anderen, dass die Sachverhalte, auf die wir uns dabei beziehen, keine Sachverhalte sind, die unabhängig von einem vorgelagerten Verständnis davon wären, was es bedeutet, dass eine Person über die Zeit weiterexistiert. Wiggins’ Hinweis darauf, dass wir grundlegend Wesen sind, für die es charakteristisch ist, dass sie sowohl in biologischer als auch in mentaler Hinsicht kontinuierlich sind, lässt sich in diesem Sinne so verstehen, dass uns die Tatsache, dass wir über den komplexen Sortalbegriff der Person – verstanden als rationales Lebewesen – verfügen, in die Lage versetzt, zuverlässige Urteile darüber zu fällen, wann es sich bei einer Person um eine Person handelt, die identisch mit einer zu einem früheren Zeitpunkt identifizierten Person ist. Im Alltag folgen wir dabei typischerweise Kriterien, die zunächst den Eindruck erwecken, als ob wir uns in unseren die Identität von Personen betreffenden Überlegungen vom Kriterium des biologischen Reduktionismus leiten ließen. So denken wir etwa, dass es sich bei einem Mann auf der gegenüberliegenden Straßenseite um denselben Mann handelt, mit dem wir vor zwei Jahren Tennis gespielt haben, weil sein Aussehen kompatibel mit unseren Vorstellungen darüber ist, was es für ein menschliches Lebewesen eines bestimmten Alters bedeutet, um zwei Jahre gealtert zu sein. Daran ist auch nichts problematisch, solange aus dieser Beobachtung nicht die absurde Schlussfolgerung gezogen

Leben anfangen kann. In abgeschwächter Form lässt sich dieses Phänomen im Alltag etwa an der Weise beobachten, wie Kinder, die ja noch keine besonders ausgeprägte normative Identität vorzuweisen haben, sich auf die eigene Zukunft beziehen.



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wird, dass wir in solchen Situationen der Wiedererkennung völlig gleichgültig im Hinblick auf die Frage danach sind, ob es sich bei der wiedererkannten Person um eine Person handelt, die auch in einer psychologischen Verbindung zu der Person steht, die wir vor zwei Jahren gekannt haben. Einen solchen Schluss zu ziehen würde bedeuten, dass man die Tatsache des Vorliegens von biologischer Kontinuität für ein konstitutives Kriterium hält. Absurd wäre sie, weil wir in Situationen, in denen wir ein biologisches Wiedererkennungskriterium zum Einsatz bringen, auf selbstverständliche Weise davon ausgehen, dass es sich etwa bei dem wiedererkannten Mann auf der Straße nicht nur um ein menschliches Lebewesen handelt, sondern dass er auch in psychologischer Hinsicht noch mehr oder weniger mit der Person zu tun haben wird, die wir vor zwei Jahren gekannt haben. Umgekehrt orientieren wir uns aber mindestens genauso selbstverständlich an psychologischen Merkmalen, wenn es darum geht, die Identität einer Person festzustellen. Zu sehen ist das besonders gut an Situationen, in denen wir mit Personen zu tun haben, ohne dass wir etwaige biologische Kontinuitäten beobachten können oder dazu nur im eingeschränkten Maße in der Lage sind – so werde ich etwa bei einem Telefonat gut feststellen können, ob es sich am anderen Ende der Leitung um die Person handelt, die ich anrufen wollte, auch wenn ich sie nicht sehen kann und ihre Stimme nur verzerrt zu hören ist.228 Auch dieser Umstand bedeutet aber nicht, dass psychologische Zustände und Merkmale dasjenige darstellen, was wir ‘eigentlich’ meinen, wenn wir von Personen und ihrer kontinuierlichen Existenz reden. Zwar lässt sich in einem bestimmten Sinn sagen, dass uns die psychologische Dimension personalen Lebens wichtiger ist als die Tatsache, dass Personen biologisch kontinuierlich existieren, aber dieser Umstand hat nichts damit zu tun, dass es sich bei psychologischen Kontinuitäten um notwendige und hinreichende Bedingungen dafür handelt, dass dieselbe Person vorliegt. Mentales ist uns insofern wichtig, als wir Personen als Wesen verstehen, die den Standpunkt der ersten Person einnehmen und von diesem Standpunkt eine verständliche Vorstellung des eigenen Lebens zu entwickeln versuchen. In diesem Sinn mögen wir enttäuscht sein, wenn wir feststellen, dass eine Person, mit der wir vor zwei Jahren im engen Kontakt gestanden

228 Phänomene wie Stimme, Gestik oder Mimik stellen übrigens einen Bereich dar, in dem besonders schwer zwischen der psychologischen und der biologischen Dimension von Personen zu trennen ist. In diesem Sinn sind die Gedankenexperimente, in denen es zu einem ‘Körpertausch’ von Personen kommt, besonders schwierig zu bewerten; vgl. etwa Wiggins (2001), 236: „The high quality of the actors and mimics one sees on the stage should not lead one to think that the question of the fit of the brain to the physiognomy of the new body which is to receive it is as relatively simple as the transposition of music from one instrument to another.“

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haben, andere Ansichten hat oder andere Projekte verfolgt, als sie dies noch vor zwei Jahren getan hat, aber die Enttäuschung ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir im metaphysischen Sinn davon ausgehen würden, dass wir es mit einer anderen Person zu tun haben, sondern weil wir feststellen, dass die betreffende Person eine andere normative Identität hat, ohne dass wir uns diese Entwicklung im Rahmen unserer eigenen Perspektive verständlich machen könnten. Damit ist eine Dimension normativer Identität angedeutet, die ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit vollständig außen vor gelassen habe. Wenn wir uns auf den Standpunkt der ersten Person stellen und uns um eine verständliche Vorstellung des eigenen Lebens bemühen, dann wird das, worauf wir uns beziehen, in der Regel auch andere Personen beinhalten, von denen wir zum einen – ebenso wie in unserem eigenen Fall – annehmen, dass sie rationale Lebewesen sind, und von denen wir zum anderen glauben, dass sie uns ebenfalls als rationale Lebewesen betrachten, die an der eigenen normativen Identität arbeiten.229 Es ist in diesem Sinn zu erwarten, dass wir die Verständlichkeit des eigenen Lebens vor dem Hintergrund von Überlegungen sehen werden, welche das Ausmaß betreffen, in dem dieses Leben für andere Personen verständlich ist. In diesem Zusammenhang wird die Konzeption erstpersonalen Zukunfts- und Vergangenheitsbezugs, wie ich sie im Rahmen dieser Arbeit entwickelt habe, zu einer Theorie darüber erweitert werden müssen, was es bedeutet, ein eigenes Leben zu führen, das gleichzeitig als ein Leben unter anderen Personen verstanden wird, die ebenfalls ein eigenes Leben führen. Normative Identität wird in diesem Sinne als etwas verstanden werden müssen, das ich nicht ohne Berücksichtigung der Personen haben kann, mit denen ich zu tun habe. Überlegungen dieser Art werden im Kontext der Frage stehen müssen, was es heißt ein gutes Leben zu führen: Wenn normative Identität etwas ist, das zu einem guten Leben beiträgt, dann wird eine Person, von der gesagt werden soll, dass sie normative Identität hat, im Rahmen der Überlegungen, die sie vom Standpunkt der ersten Person anstellt, auch den Standpunkt der zweiten Person einnehmen müssen. Zu diesen Aspekten habe ich im Rahmen der vorliegenden Arbeit nichts gesagt, weil es mir lediglich um eine genaue Bestimmung des Einnehmens der Perspektive der ersten Person gegangen ist. Obwohl ich an mehreren Stellen meiner Argumentation positiv konnotierte Begriffe wie ‘Verständnis’ oder ‘Identifikation’ verwendet habe, um den Standpunkt der ersten Person zu charak-

229 So spricht Schechtman im Rahmen ihres narrativen Ansatzes davon, dass wir – wenn wir an einer verständlichen Geschichte des eigenen Lebens arbeiten – auch in dem Sinn um die Verständlichkeit dieser Geschichte bemüht sind, dass wir sie für andere Personen verständlich gestalten; vgl. Schechtman (1996), 101f.



Normative Identität und personale Identität 

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terisieren, und negativ besetzte Begriffe wie ‘Entfremdung’, um ihn mit dem Standpunkt der dritten Person zu kontrastieren, denke ich, dass es voreilig wäre, unabhängig von einer Theorie des guten Lebens vom Standpunkt der ersten Person zu behaupten, dass es gut ist, ihn einzunehmen. Wie im Rahmen dieser Arbeit zu sehen war, ist der Standpunkt der ersten Person derjenige Standpunkt, von dem aus wir in dem Sinn an der eigenen normativen Identität arbeiten, dass wir um die Verständlichkeit des eigenen Lebens bemüht sind, und als handelnde Wesen können wir in gewisser Hinsicht auch gar nicht umhin, in diesem Sinne um Selbstverständnis bemüht zu sein. Normative Identität und Selbstverständnis sind allerdings Begriffe, die graduelle Abstufungen erlauben. Die Frage danach, ob es gut ist, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen, kann deswegen durch die subtilere Frage ersetzt werden, in welchem Ausmaß wir ihn einnehmen sollten, d.h. in welchem Ausmaß wir uns um die Verständlichkeit des eigenen Lebens bemühen sollten. Sollte es stimmen, dass sich das eigene Leben nie ganz verstehen lässt,230 könnte sich der Anspruch auf maximales Selbstverständnis eher als Fluch denn als Segen erweisen.

230 In diesem Zusammenhang müssten Situationen in den Blick genommen werden, in denen eine Person aufgrund von jeweils unterschiedlichen und miteinander inkompatiblen Auffassungen von sich selbst und der Welt in einen internen Konflikt gerät, der sich als ein normativer Identitätskonflikt bezeichnen lässt. Die Wahl der Beispiele im Verlaufe meiner Argumentation mag nahegelegt haben, dass sich solche Konflikte vom Standpunkt der ersten Person immer lösen lassen. Um zu sehen, dass das, gelinde gesagt, eine naive Sicht der Dinge wäre, reicht etwa nur ein Blick in ein beliebiges Werk der Weltliteratur. In dem Maße, in dem wir als Personen ein Leben unter anderen Person führen, werden sich Fälle von solchen normativen Identitätskonflikten häufen. Dass manche Identitätskonflikte nicht nur unauflösbar sind, sondern, selbst wenn sie es nicht wären, gar nicht aufgelöst werden sollten, versucht etwa Cheshire Calhoun in ihren Ausführungen über Integrität zu zeigen; vgl. Calhoun (1995), 238ff.

Fazit Im Rahmen der vorliegenden Arbeit habe ich den Versuch unternommen, eine Position im Hinblick auf die Frage nach der Identität von Personen zu vertreten. Diese Frage wurde von mir in einem ersten Schritt als die Frage nach Kriterien für die Identität von zu unterschiedlichen Zeitpunkten identifizierten Personen formuliert. In einem zweiten Schritt habe ich auf zwei Lesarten dieser Frage hingewiesen, die jeweils zu unterschiedlichen Ansätzen führen, die man in der Debatte um personale Identität vertreten kann – zu reduktionistischen Positionen auf der einen und nicht-reduktionistischen Positionen auf der anderen Seite. In meiner Rekonstruktion der in der Debatte um personale Identität vertrete­ nen Positionen habe ich mit der reduktionistischen Variante begonnen, die davon ausgeht, dass sich das Vorliegen von Identität vollständig auf das V ­ orliegen von biologischer Kontinuität zurückführen lässt. Die Vorteile dieses Ansatzes bestehen darin, dass das Kriterium, das er formuliert, zum einen nicht-zirkulär ist und zum anderen eine naturgesetzliche Verankerung hat, die etwa problematische Teilungsfälle ausschließt. Der große Nachteil des biologischen Reduktionismus besteht allerdings darin, dass er in keiner Weise der zentralen Intuition gerecht zu werden vermag, nach der personales Leben wesentlich einen inneren, erstpersonalen Aspekt hat, der sich darin äußert, dass Personen Subjekte mentaler Zustände wie Absichten, Erinnerungen oder Meinungen sein können. Es ist diese Intuition, mit welcher der biologische Reduktionismus von der Warte der psychologischen Reduktionisten im Rahmen von sog. Locke-Szenarien herausgefordert werden kann. Die einzige Reaktionsmöglichkeit, die sich in diesem Zusammenhang für Vertreter des biologischen Reduktionismus anbietet, besteht in der unattraktiven Strategie, den Begriff der Person mitsamt der praktischen Interessen, die wir damit verbinden, aus ihrer Identitätstheorie auszuschließen. In einem weiteren Schritt habe ich mich der Betrachtung des psychologischen Reduktionismus zugewandt, dessen Vorgehen insofern aussichtsreicher als das des biologischen Reduktionismus zu verstehen ist, als er in seiner positiven Bestimmung eines Identitätskriteriums an der Beobachtung ansetzt, dass Personen den Standpunkt der ersten Person einzunehmen in der Lage sind. Die Rekonstruktion der von Derek Parfit vertretenen Theorie personaler Identität hat allerdings gezeigt, dass Theorien des psychologischen Reduktionismus zum Teil mit erheblichen Problemen konfrontiert sind und auf diese nur unter Rückgriff auf problematische Annahmen zu reagieren in der Lage sind. Die Einsicht, dass beide der bis zu diesem Punkt betrachteten Theorietypen letztlich unbefriedigend bleiben, hat meine Motivation dafür dargestellt, nach einer nicht-reduktionistischen Alternative zu suchen. Dabei habe ich mich von zwei Ideen leiten lassen: Zum einen von der im Rahmen des Ansatzes von Wiggins enthaltenen Idee, dass

Fazit 

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die psychologische und die biologische Dimension des Lebens von Personen nicht voneinander zu trennen sind; zum anderen von McDowells Beobachtung, dass der psychologische Reduktionismus auf spezifische Weise den Standpunkt der ersten Person nicht zu erfassen vermag. Die Idee von McDowell aufgreifend, habe ich im zweiten Teil der Arbeit zu bestimmen versucht, was es heißt, den Standpunkt der ersten Person einzunehmen. Zu diesem Zweck habe ich mich einer Debatte zugewandt, in der unser Verhältnis zu den eigenen mentalen Zuständen explizit zum Thema gemacht wird, und anhand von zwei Positionen, die in dieser Debatte vertreten werden – der Positionen von Moran und Burge – zu zeigen versucht, worin das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person besteht. Wenn ich den Standpunkt der ersten Person einnehme – so die Ergebnisse meiner Interpretation – dann stelle ich mich auf einen deliberativen Standpunkt, von dem aus die Welt und nicht meine eigenen mentalen Zustände zum Thema werden; dieser Standpunkt ist insofern aktiv zu nennen, als ich von ihm aus Einstellungen gemäß der Einsicht in Gründe herauszubilden habe; indem ich mich auf diese Weise als rationaler Akteur verstehe, bin ich um die Verständlichkeit dessen bemüht, was Gegenstand meiner Einstellungen ist, und ich eigne mir auf diese Weise die betreffenden Einstellungen an. Das rationale Verhältnis zu den eigenen Einstellungen habe ich in diesem Zusammenhang mit dem Verständnis des Mentalen kontrastiert, das in Theorien des psychologischen Reduktionismus zum Ausdruck kommt; im Gegensatz zu dem, was ich als Charakteristika des Standpunkts der ersten Person herausgearbeitet habe, gehen diese Theorien davon aus, das wir in einem wesentlich passiven, kausalen Verhältnis zu Einstellungen stehen, die sich der reduktionistischen Grundüberzeugung zufolge auch unpersönlich beschreiben lassen. Meine Ausführungen im zweiten Teil hatten insofern noch keinen direkten Bezug zu der Ausgangsfrage dieser Arbeit, als ich dort das relevante Verhältnis, in dem wir zum eigenen Mentalen stehen, am Beispielfall von Meinungen entwickelt habe. Die genuin diachrone Dimension des erstpersonalen Selbstbezugs kommt aber typischerweise in Einstellungen wie Erinnerungen oder Absichten zum Ausdruck. Aus diesem Grund habe ich mich im dritten Teil der Arbeit der Frage zugewandt, was es heißt, sich auf genuin erstpersonale Weise auf die eigene Vergangenheit und Zukunft zu beziehen. Im Zusammenhang mit Erinnerungen hat sich gezeigt, dass die für den Standpunkt der ersten Person charakteristische Weise, wie wir uns im Bezug auf die eigene Vergangenheit um Verständlichkeit bemühen, zur Voraussetzung hat, dass wir uns als rationale Lebewesen im Sinn des nicht-reduktionistischen Personenbegriffs von Wiggins verstehen. Auch im Hinblick auf den Zukunftsbezug musste festgestellt werden, dass eine um Selbstverständnis bemühte Ausbildung von Absichten nur unter der Voraussetzung einer Identität des rationalen Lebewesens zu leisten ist, als das man sich

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 Fazit

versteht: Um überhaupt ein sinnvolles Verständnis der Frage zu haben, was sie zu tun beabsichtigt, muss einer Person klar sein, welche Optionen ihr offenstehen; dies ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, dass sie weiß, welche Art von rationalem Lebewesen sie ist und was es bedeutet, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt als das rationale Lebewesen, das sie ist, existieren wird. In einem letzten Schritt habe ich anhand der Betrachtung der handlungstheoretischen Debatte anzudeuten versucht, inwiefern ein impliziter Naturalismus die Motivation hinter psychologischen Theorien personaler Identität darstellen könnte und durch den Hinweis auf handlungstheoretische Positionen, die den Standpunkt der ersten Person zu berücksichtigen versuchen, meine eigenen Ausführungen zum erstpersonalen Zukunftsbezug angereichert. Wenn wir den Standpunkt der ersten Person einnehmen, dann bedeutet das, dass wir uns um ein einheitliches Verständnis der eigenen Vergangenheit und Zukunft bemühen. In diesem Sinn arbeiten wir an dem, was ich als die eigene normative Identität bezeichnet habe. Diese Identität ist insofern als normativ zu bezeichnen, als es vor ihrem Hintergrund ist, dass wir überhaupt in das Geschäft der Abwägung von Gründen kommen. Sie ist in dem Sinn vom Begriff der metaphysischen Identität zu unterscheiden, als es sich bei dieser Identität nicht um die kontinuierliche Geschichte einer Entität handelt, sondern um das Verständnis, das diese Entität von der eigenen Geschichte hat. Wenn meine Ausführungen stimmen, dann setzt dieses Verständnis voraus, dass es sich bei Personen weder um rein biologisch zu fassende Entitäten im Sinn des biologischen Reduktionismus, noch um kontingent an Körper gebundene Sequenzen mentaler Zustände im Sinn des psychologischen Reduktionismus, sondern um rationale Lebewesen handelt. Eine solche Konzeption ist sowohl attraktiver als der biologische Reduktionismus, indem sie in der Lage ist, die praktischen Aspekte unseres Verständnisses von Personen zu erfassen; sie darf aber auch als dem psychologischen Reduktionsmus überlegen betrachtet werden – zum einen weil sie die Perspektive der ersten Person angemessen berücksichtigt und damit unserem Verständnis des Personenbegriffs als eines genuin praktischen Begriffs gerecht wird, und zum anderen weil sie – durch die nomologische Verankerung des Personenbegriffes – nicht mit den massiven Problemen konfrontiert ist, mit denen der psychologische Reduktionismus zu kämpfen hat. Der innovative Aspekt meiner Arbeit besteht hierbei darin, für die Angemessenheit einer nicht-reduktionistischen Theorie über eine Analyse des Standpunkts der ersten Person und der damit verbundenen Probleme argumentiert zu haben. Nicht-Reduktionistische Positionen haben es in philosophischen Debatten in gewisser Hinsicht immer etwas schwerer als reduktionistische Positionen, die eine in ihren Augen ‘saubere’ Bestimmung von notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen zu formulieren in der Lage sind. Im Zusammenhang

Fazit 

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mit der Frage nach der Identität von Personen hoffe ich, wenigstens in Ansätzen gezeigt zu haben, inwiefern sich der umständlichere Ansatz einer nicht-reduktionistischen Position philosophisch auszahlen kann. Personales Leben ist ein komplexes Phänomen; auch das liegt daran, dass Personen Wesen sind, die den Standpunkt der ersten Person einnehmen können.

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